Die neue Mitte?: Ideologie und Praxis der populistischen und extremen Rechten [1 ed.] 9783412522292, 9783412522278

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Die neue Mitte?: Ideologie und Praxis der populistischen und extremen Rechten [1 ed.]
 9783412522292, 9783412522278

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Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden herausgegeben von Susanne Illmer Band 14

Die neue Mitte? Ideologie und Praxis der populistischen und extremen Rechten Herausgegeben von

Johannes Schütz, Raj Kollmorgen und Steven Schäller

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN

Die Publikation wurde von der Hochschule Zittau/Görlitz (Institut für Transformation, Wohnen und soziale Raumentwicklung, TRAWOS) finanziell gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: pingungpong, Dresden Satz und Layout: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52229-2

Inhalt

Vorwort der Reihenherausgeberin  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Johannes Schütz, Raj Kollmorgen und Steven Schäller Einleitung Von komplexen Herausforderungen und herausfordernden Beobachtungen 

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Johannes Schütz Neue Rechte – Eine geschichtswissenschaftliche Vermessung von Begriffsfeldern und Diskursräumen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Alexander Häusler Von Rechtsaußen in die Mitte? Politische Gelegenheitsstrukturen des völkisch-autoritären Populismus in Deutschland  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Michael Nattke Der Schulterschluss zur Revolte Die Qualität einer neuen Zivilgesellschaft von rechts am Beispiel Sachsen  . . . . . . . . . . 

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Liane Bednarz/Steven Schäller Rechts und konservativ ist nicht dasselbe Ein Gespräch über Christen in der Politik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Sebastian Dümling Zeit-Politik Die alten Reiche der Neuen Rechten  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Teil I: Ideen und Ideologien Philipp Felsch/Danilo Scholz Nouvelle Droite/Neue Rechte Ein theoriegeschichtlicher Dialog 

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Claire Moulin-Doos Populismus Ein konzeptueller Klärungsversuch 

Inhalt

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Teil II: Akteure und Ideologien im gesellschaftlichen Kontext Silke van Dyk/Johannes Schütz Ökonomische Notwehr oder autoritäre Wende? Ein Interview zu den Kontroversen um das Erstarken der Neuen Rechten in Europa  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Raj Kollmorgen Rechtspopulismus in Ostdeutschland Sieben Thesen zu seiner Formierung, Attraktivität und Ausprägung aus historisch-soziologischer Perspektive  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Oliver Hidalgo Religion und Kirchen als Widersacher oder Komplizen des Rechtspopulismus?  . . . . 

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Rebecca Pates Die Wölfe sind zurück Biopolitische Figurationen von Zugehörigkeit  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Matthias Quent Was ist neu in der Mitte?  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Teil III: Zur (praktischen) Kritik extrem rechter Milieus, Ideologien und Aktionen Marius Hellwig Rechte Lebenswelten Völkischer Rechtsextremismus im ländlichen Raum 

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Jan Lohl „Leistungen unserer Vorfahren“? Zur Kritik des Rechtsextremismus aus transgenerationaler Perspektive 

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7

Inhalt

Cäcillia Schreiber und Lukas Kotzybik Protest gegen Rechtsextremismus im ländlichen Raum organisieren – Das Beispiel Ostritz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Andreas Speit Reaktionärer Klan Die Entwicklung der Identitären Bewegung in Deutschland 

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Andrea Hübler Politischer Klimawandel und seine Folgen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Teil IV: Kommunikative Strukturen und (Gegen-)Strategien Gerhard Vowe Wie verändert sich die politische Kommunikation in der Onlinewelt? Sieben Tendenzen des strukturellen Wandels der Öffentlichkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Fabian Virchow ‚Medienkrieg‘ Die populistische und extreme Rechte als mediale Akteurin 

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Andreas Tietze Die Aktion Zivilcourage e. V. und die sich wandelnde demokratische Bildungsarbeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Anna-Maria Schielicke, Cornelia Mothes und Antje Odermann (A)Soziale Medien Hasskommentare im Internet als Radikalisierungsmoment  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Simone Rafael Echokammern und Filterblasen Vernetzung über Social Media  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Sebastian Kurtenbach und Yann Rees Neue Normalität Gesellschaftliche Folgen des Rechtspopulismus 

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Inhalt

Stefan Heerdegen RechtsRockkonzerte in Thüringen Entwicklung, Funktionen und Herausforderungen für die Zivilgesellschaft – Erfahrungen aus elf Jahren Praxis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Teil V: Coda Steven Schäller, Raj Kollmorgen und Johannes Schütz Umkämpfte Mitte in den Krisen der Gegenwart Von der Nouvelle Droite zum Coronavirus-Protest  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Autor*innenverzeichnis 

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Vorwort der Reihenherausgeberin

Das Deutsche Hygiene-Museum stellt als Museum vom Menschen in seinen A ­ usstellungen, seinen Bildungs-, Vermittlungs- und Veranstaltungsangeboten aktuelle Gegenwartsthemen zur Diskussion. Es ist ein politischer Ort, ein Ort für Debatten und Kontroversen. Von Mai 2018 bis Januar 2019 zeigte das Museum eine große Sonderausstellung zum Thema Rassismus. Die Erfindung von Menschenrassen. Die Ausstellung ging der Geschichte und Aktualität von Rassekonstruktionen vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart auf den Grund. Sie wurde vorbereitet und begleitet durch zwei vom Deutschen Hygiene-Museum in Kooperation mit mehreren Partnern initiierten und organisierten Tagungen: Fokussierte die im Oktober 2015 veranstaltete Tagung Rasse. Geschichte und Aktualität eines gefährlichen Konzepts die historisch wandelbare Ideologie und Praxis konkret von Rassismus, so erweiterte die während der Laufzeit der Ausstellung im September 2018 durchgeführte Tagung Die neue Mitte? Rechte Ideologien und Bewegungen in Europa das Analysespektrum und den Gegenstandsbereich um weitere Versatzstücke rechter Ideologie, ihre immer vielfältiger werdenden Akteure, Strategien, Medien und Konzepte. In der Schriftenreihe erschien der Band zur ersten Tagung um zusätzliche Beiträge erweitert 2018 unter dem Titel Das Phantom ‚Rasse‘. Zu Geschichte und Wirkungsmacht von Rassismus, herausgegeben von Naika Foroutan, Christian Geulen, Susanne Illmer, Klaus Vogel und Susanne Wernsing. Nun liegt mit Band 14 der ebenfalls inhaltlich erweiterte Band zur zweiten Tagung unter dem Titel Die neue Mitte? Ideologie und Praxis der populistischen und extremen Rechten vor. Vor dem Hintergrund einer kritischen Diskussion von Konzepten wie der gesellschaftlichen Mitte, der Unterscheidbarkeit von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus versteht sich dieser Band durchaus als ein Debattenbeitrag zu der Frage, wie erfolgreich rechte Akteure dabei sind, ihre Ideologien anschlussfähig für immer breitere Bevölkerungsgruppen zu machen, Sagbarkeitsgrenzen zu verschieben, in die sogenannte Mitte der Gesellschaft vorzudringen und dort auch das Vertrauen in die repräsentative Demokratie zu erschüttern. Wir danken den Herausgebern Raj Kollmorgen, Steven Schäller und Johannes Schütz für die sorgfältige Auswahl und Redaktion der Beiträge, die auch von der Vielfalt der Formen – als wissenschaftlicher Essay, Interview, Praxisbericht oder Debattenbeitrag – überzeugen. Mit den genannten Herausgebern des Bandes sind zugleich drei Vertreter der insgesamt sieben institutionellen Partner benannt, die an der Vorbereitung, Konzeption und Umsetzung der Tagung beteiligt waren und sie auf eine breite Basis unterschiedlicher Zugänge und Perspektiven gestellt hatten. Die Tagung war ein Kooperationsprojekt des Deutschen

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Vorwort der Reihenherausgeberin

Hygiene-Museums mit der Bundeszentrale für politische Bildung, dem Mercator Forum Migration und Demokratie an der TU Dresden, dem Institut für Kommunikationswissenschaften der TU Dresden, dem TRAWOS-Institut der Hochschule Zittau/Görlitz, dem Kulturbüro Sachsen e. V. und der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen. Auch ihnen danken wir nochmals herzlich für die Umsetzung des Projekts und wir freuen uns, dass die Debatten und Ergebnisse der Tagung mit ­diesem Band einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich werden. Prof. Klaus Vogel und Dr. Susanne Illmer für das Deutsche Hygiene-Museum Dresden Dresden, im November 2020

Johannes Schütz, Raj Kollmorgen und Steven Schäller

Einleitung Von komplexen Herausforderungen und herausfordernden Beobachtungen

1. Von der Ausstellung zum Sammelband Der Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes 1 ist die Tagung Die neue Mitte? Rechte Ideologien und Bewegungen in Europa, die vom 17. bis 19. September 2018 am Deutschen ­HygieneMuseum Dresden (DHMD ) stattfand. Das DHMD ergreift zu kontroversen ­Themen regelmäßig das Wort, durch seine Sonderausstellungen hat es sich als Ort gesellschaftlicher Debatten und als Forum für nationale und internationale Diskussionen in Dresden e­ tabliert. Dementsprechend war die Tagung als begleitendes Forum zur Ausstellung „Rassismus. Die Erfindung von Menschenrassen“ konzipiert, die ihrerseits vom 19. Mai 2018 bis zum 6. Januar 2019 im DHMD zu sehen war. Der Tagung wie auch dem Band lag und liegt die Idee zugrunde, unter den Bedingungen einer polarisierten Gesellschaft, schärfster Kontroversen und permanenter Drohungen von Gesprächsabbrüchen und Diskursverweigerungen einen Austausch darüber herzustellen, wer liberal-demokratische Gesellschaften auf w ­ elche Weise bedroht und inwiefern sich an die Identifikation von Problemen auch Lösungen anschließen lassen. Dabei ging es den Tagungsorganisatoren, zu denen neben den drei Herausgebern d ­ ieses Bandes auch Thomas Arnold, Cornelia Mothes und Michael Nattke zählten, auch darum, mit dem wissenschaftlich wie publizistisch umstrittenen Konzept der ‚Mitte‘ nicht nur jenen politisch umkämpften Ort in den Blick zu nehmen, der die klassischen politischen Lager scheidet, sondern auch den immer wieder beschworenen politischen Raum zur Organisation demokratischer Mehrheiten zum Thema zu machen. Die Beiträge in dem vorliegenden Band wollen damit zum Verständnis der aktuellen gesellschaftlichen Konfliktlinien und deren Deutungen beitragen. Erkennbar wird dann etwa, dass die Akteure einer neurechten Metapolitik darauf 1 Bei der Zusammenstellung des Sammelbandes haben uns wesentlich Jonas Hauswald und bei der Transkription der Interviews Marissa Weigle unterstützt. Dafür danken wir ihnen sehr. Des Weiteren sind wir der Reihenherausgeberin Susanne Illmer und dem Deutschen Hygiene-Museum für die Aufnahme des Bandes in ihre Schriftenreihe dankbar verbunden.

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Johannes Schütz, Raj Kollmorgen und Steven Schäller

hinarbeiten, diesen Ort der ‚Mitte‘ zu besetzen. Allerdings geht es einigen Akteuren mit dem Zug in die ‚Mitte‘ auch darum, die Grundkoordinaten der Republik so zu verschieben, dass – gleichsam durch die Hintertür – verfassungspolitische und politisch-kulturelle Setzungen etwa mit Blick auf Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde disponibel erscheinen und umgeschrieben werden können.

2. Komplexe Herausforderungen und Fragen der Gegenwart Der vorliegende Band führt die Idee der Tagung fort und geht zugleich darüber hinaus. Zahlreiche weitere Autoren und Autorinnen konnten gewonnen und damit die Themenvielfalt des Bandes erweitert werden. Die hier versammelten Beiträge widmen sich einem spezifischen Ausschnitt rechter Strömungen und Bewegungen, die sich durch organisatorische und ideologische Innovationen auszeichnen und deren Ausgreifen vom populis­ tischen bis extremen rechten Rand in die imaginierte gesellschaftliche ‚Mitte‘ die öffentliche Aufmerksamkeit dominierte. Gefragt wird nach verbindenden wie auch unterscheidenden Merkmalen: Welche veränderten ideologischen Angebote z­ wischen Rechtsextremisten und Neuen Rechten, ­zwischen nationalistischen, völkischen und identitären, z­ wischen antikapitalistischen und neoliberalen, z­ wischen religiös verbrämten und säkularen Rechten wurden in den letzten Jahren entwickelt und waren warum erfolgreich? Welche neuen Akteure und Akteurstypen – von Parteien und Bewegungen bis hin zu (klandestinen) Kampfgruppen reichend – haben sich herausgebildet? Wer sind diese Akteure, wer unterstützt, wer toleriert sie? Welche Akteure agieren und reagieren wie zusammen? Wer tritt mit wem (neu) in Konkurrenz? Welche neuen Allianzen werden geschmiedet, w ­ elche Netzwerke geknüpft? Wo gibt es Überschneidungen und gemeinsame Weltdeutungen? Welche Ziele und Strategien verfolgen diese Gruppen und wie stehen sie zur demokratischen Verfassung der Bundesrepublik Deutschland? Handelt es sich allein um Verfassungsfeinde und Antidemokraten oder können wir Schattierungen und Grauzonen beobachten? Welche rechten Strömungen und Akteure bewegen sich im verfassungsrechtlichen und politisch-kulturellen Spektrum der freiheitlich-demokratischen Grundordnung – und w ­ elche nicht? Gab und gibt es hier neue Übergänge? Wo fängt das Ademokratische und wo das Antidemokratische an? Sind wir mit Akteuren konfrontiert, die zwar nationalistisch oder rassistisch argumentieren, vielleicht aber nicht (unmittelbar) das demokratische System in Frage stellen, zugleich aber keine Probleme haben, mit bekennenden Rechtsextremisten zusammenzuarbeiten? Was folgt daraus für den demokratischen Prozess? Die versammelten Beiträge greifen einzelne dieser Fragen auf und nehmen eine je spezifische Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand ein. Dabei sollen vor allem jene dynamischen Veränderungen in den Blick genommen werden, die rechtskonservative Milieus,

Einleitung

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rechtspopulistisch gesinnte Bewegungen wie auch rechtsextreme Strukturen erfasst haben.2 Zur Sprache kommen sollen damit auch möglichst viele Schattierungen organisatorischer, ideologischer sowie kultureller Art. Dabei ist es keine originelle Zeitdiagnose, neue Herausforderungen der demokratischen Gesellschaften durch den ‚rechten Rand‘ oder rechtspopulistische bis rechtsradikale Strömungen in und jenseits politischer Parteien zu behaupten.3 Allein schon episodisch zusammenzutragende Ereignisse, wie etwa die Ausrufung einer „Erinnerungspolitischen Wende“ durch Teile der Alternative für Deutschland (AfD), breite Erfolge der AfD bei Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen und nicht zuletzt Gewalthandlungen und Morde an (vermeintlich) ethnisch Fremden, an Geflüchteten oder antirassistisch und antinationalistisch Engagierten lassen eine s­ olche Diagnose als evident erscheinen. Die vielfältigen Veränderungen reichen über die Gründung und Mobilisierungserfolge neuer Parteien und Protestbewegungen weit hinaus und schließen ein, dass sich politische Konfliktlinien, öffentliche Diskurse und Debattenschwerpunkte sukzessive verändern. Geht es aber darum, diese Diagnose weiterzuführen und die Transformation der letzten fünf bis fünfzehn Jahre präzise zu beschreiben, dann zeigen sich schnell die Grenzen derzeitiger Begrifflichkeiten und Analyseinstrumente. Die Konturen und Beschreibungen der Ereignisse bleiben oft unscharf und unübersichtlich, die dahinter liegenden Strukturen und ihre sozialen Kontexte unklar und ambivalent, was nicht nur politische Verantwortungsträger, Ermittlungsbehörden oder zivilgesellschaftliche Initiativen, sondern mittlerweile die ganze Gesellschaft verunsichert. So gibt es nicht mehr – wenn das denn je der Fall war – den einen, parteiförmig organisierten Akteur der radikalen Rechten, der die öffentliche Aufmerksamkeit erregt, dessen Bekämpfung sich liberale und linke Bewegungen auf die Fahnen schreiben und dessen Verbot durch das Bundesverfassungsgericht die Gefahr zu bannen verspräche. Stattdessen finden sich zahlreiche Bewegungen, Netzwerke, Parteien, Aktivisten und Publizisten, die sich in Teilen austauschen und ihre Strategien und Aktionen koordinieren.4

2 Wir verwenden im Folgenden aus pragmatischen Gründen – namentlich wegen der heute verbreiteten öffentlichen Verwendung – die Bezeichnungen „rechtsextrem“ und „rechtsradikal“ synonym, obwohl es gute Argumente gibt, z­ wischen beiden zu unterscheiden. Zur sozialwissenschaftlichen Debatte darüber und deren Hintergründe: Neugebauer 2008 (https://www.bpb.de/politik/extremismus/linksextremismus/​ 33591/definitionen-und-probleme?p=all [29. 03. 2021]) sowie Richard Stöss 2007: Rechtsextremismus im Wandel, Friedrich-Ebert-Stiftung: Berlin. 3 Vgl. beispielsweise Frank Decker 2017: Rechtspopulismus und Rechtsextremismus als Herausforderungen der Demokratie in der Bundesrepublik. In: Gesellschaft. Wirtschaft. Politik 3, 381 – 391. Umfassender: Wilhelm Heitmeyer 2018: Autoritäre Versuchungen. Suhrkamp: Berlin. 4 Vgl. dazu die Beiträge von Alexander Häusler und Michael Nattke in ­diesem Band.

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Johannes Schütz, Raj Kollmorgen und Steven Schäller

In den letzten Jahren haben sich extreme Rechte, Neue Rechte, Rechtspopulisten, Radikal­nationalisten, Verschwörungsesoteriker, Reichsbürger deutlich sichtbarer gezeigt 5 und mal mit metapolitischer Theoriearbeit, mal mit enthemmter Sprache und Begriffszuspitzungen, aber auch mit gezielten Provokationen und Allianzbildungen darum bemüht, Diskurshegemonie zu erlangen. Sie würdigen den Parlamentarismus herab, verunsichern die demokratischen Parteien und unterwandern demokratische Strukturen wie auch Kulturen. Das geschieht durch zynische Verhöhnung demokratischer Kompromissfindungen, aggressive Polemik gegen politische Entscheidungen und Entscheidungsträger, aber auch durch Herabsetzung und Schmähung von Personen, Institutionen bis hin zum gesamten politischen System.6 Die veränderte Lage lässt sich auch durch die Nennung der in den letzten etwa zehn Jahren neu entstandenen politischen Parteien belegen: Alternative für Deutschland, Der dritte Weg, Die Rechte, Aufbruch deutscher Patrioten oder Die Blauen. Diese Parteien arbeiten – oft mit regionalen Eigenheiten und Schwerpunkten – an der Gewinnung politischer Aufmerksamkeiten, der Mobilisierung von Wählergruppen und Durchsetzung ihrer rechtspopulistischen und -radikalen Politiken, wobei sie teils alte rechtsradikale Parteien wie die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) oder die Deutsche Volksunion (DVU) ablösen, teils auch mit ihnen kooperieren. Dazu kommen die zahlreichen ‚Bürger­ initiativen‘ – wie ProChemnitz oder pro NRW – oder die ‚Demonstrationsunternehmen‘ wie Pegida, Vereine wie Ein Prozent, bewegungsförmige Gruppen wie die Identitäre Bewegung (IB) und terroristische Vereinigungen wie die Oldschool Society oder die Gruppe Freital. Gerade die letztgenannten Beispiele verweisen auch auf die veränderten Vernetzungsstrukturen dieser Gruppen, die sich vorrangig in WhatsApp- und Telegram-Kanälen fanden, radikalisierten und an der Umsetzung ihrer Anschlagspläne arbeiteten, als sie von den Ermittlungsbehörden aufgegriffen wurden.7 Darüber hinaus gibt es Facebook-Gruppen und neuartige Publikationsorgane wie Compact und Sezession, die nicht mehr verborgene Verabredungen anbahnen, sondern ganz offen in die Breite wirken und gesamtgesellschaftliche Veränderungen im Sinne der Metapolitik anstreben.8 Diese umfassenden Veränderungen und ihre medialen Beschreibungsversuche schaffen zuerst einmal eine neue Wahrnehmung für nationalistische, rechtspopulistische oder antidemokratische Politikentwürfe; von denen viele mal mehr, mal weniger offen die ‚Systemfrage‘ von rechts (außen) stellen.9

5 Auf die begrifflichen Probleme solcher Kennzeichnungen – wie rechtsradikal vs. alte oder Neue Rechte – gehen wir ­später noch ein. 6 Vgl. dazu den Beitrag von Liane Bednarz in ­diesem Band. 7 Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Speit in ­diesem Band. 8 Vgl. dazu den Beitrag von Gerhard Vowe in ­diesem Band. 9 Vgl. dazu den Beitrag von Fabian Virchow in ­diesem Band.

Einleitung

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3. ‚Rechts‘: Begriffe und Verwendungsweisen Die Skizze der aktuellen Lage sollte aber nicht dazu verführen, vorschnell anzunehmen, man habe mit ihr bereits einen gehaltvollen Begriff veränderter gesellschaftspolitischer Verhältnisse. Gerade weil es sich um plurale und unübersichtliche Akteure, Ideologien und Aktionsformen handelt, deren Konstellationen sich offenkundig im Fluss befinden, erscheint ein intensives und bisherige Selbstverständnisse kritisch-reflektierendes Fragen weitaus angemessener als eilfertige Subsumptionen unter vorliegende Begriffsangebote, theoretische Deutungsentwürfe und politische Bewertungen.10 Eine besondere Problematik bei dem Versuch, die aktuellen dynamischen Entwicklungen im rechten Teil des politischen Spektrums zu verstehen, liegt in den sprachlichen Heraus­forderungen. Worüber und über wen sprechen wir, wenn wir ‚die Rechte‘ oder ,rechte‘ Akteure adressieren? Einerseits ist die politische Rechte legitimer Teil des politischen Spektrums, ebenso wie es die politische Linke ist. Dennoch lassen sich bei (vermeintlichen) Vertretern wie Gegnern ,rechter‘ Politik Berührungsängste mit d ­ iesem kontaminierten Begriff beobachten. Dies zeigt sich etwa im Kontext der sogenannten politischen ‚Gesäßgeographie‘. Zuerst ist festzustellen, dass der Begriff der Mitte ebenfalls einen fluiden Bereich an Positionen und Verortungen stabilisieren soll, indem ein Punkt definiert wird, von dem ausgehend alle anderen Teile des politischen Spektrums bestimmt werden, wobei die Mitte als der Bereich mit dem größten Überschneidungspotenzial liberal-demokratischer Positionen vorgestellt wird und damit auch nicht frei von normativen Zuschreibungen bleibt. Aber als Hilfskonstruktion erfüllt er seine Zwecke. Denn von dieser Mitte ausgehend erstrecken sich die politischen Ideen und Positionen der demokratischen Parteien nach links und nach rechts. Wesentliche Teile der rechts von dieser Mitte angesiedelten politischen Parteien, worunter die Christliche Demokratische Union (CDU), die Christliche Soziale Union (CSU) oder die Freie Demokratische Partei (FDP) fallen, vermeiden heute eine Etikettierung als rechte Parteien tunlichst. Andererseits aber führt ein Rückzug vom Begriff zu dessen Aneignung durch jene ‚anderen‘ Rechten, die ihn in trotzigem Gestus gegenüber Konservativen positiv aufladen. So überbrücken sie eine demokratische Position und nähern sich dem Punkt der Mitte. Erst so können sich rechtsextreme Akteure als ,neue Mitte‘ verstehen, die der schweigenden Mehrheit eine Stimme verleihen. Diesen Dynamiken der diskursiven (Wieder-)Aneignung und metapolitischen Rekodierung widmet sich ein beachtlicher Teil der Beiträge des vorliegenden Bandes.11 10 Vgl. dazu den Beitrag von Claire Moulin-Doos in ­diesem Band. 11 So etwa die Beiträge von Johannes Schütz, Sebastian Dümling und von Philipp Felsch/Danilo Scholz in ­diesem Band.

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Johannes Schütz, Raj Kollmorgen und Steven Schäller

In jedem Fall scheinen unsere Begriffe von ‚rechts‘ und den ‚Rechten‘ nachhaltig durcheinandergeraten zu sein. Nicht nur ist der Begriff des oder der ‚Rechten‘ im nach wie vor hegemonialen linksliberalen Lager eine Vokabel aus dem Handbuch der erfolgversprechenden Schmähung des politischen Gegners. Wer als eindeutig rechts bezeichnet wird, bewegt sich in ­diesem Diskursraum bereits am Rand des demokratischen Spektrums. Zugleich erscheint der Begriff in der politischen Alltagssprache seltsam inhaltsleer und mit Blick auf die jeweilig grundsätzliche politische Standortbestimmung geradezu flimmernd: Rechte in der Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), Linke in der CDU. Um in der SPD als rechts zu gelten, reicht bereits das Bekenntnis zum Godesberger Programm (1957), eine unternehmerfreundliche Wirtschaftspolitik oder die deutliche Verteidigung der NATO und der USA als Bündnispartner. Umgekehrt gilt für Christdemokraten, dass sie bereits mit dem Etikett eines Linken konfrontiert werden, wenn sie sich für starke Arbeitnehmerrechte, den Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen oder die Ausweitung partizipativer Verfahren in der Partei aussprechen.12 In diesen Semantiken politischer Massen- und Alltagskommunikation ist im Regelfall mehr über einen imaginären Ort im zweidimensionalen Spektrum des Politischen zu lernen als über die so Bezeichneten. Analytisch ertragreicher ist es, die politische Position anhand jener ideologischen Dimensionen des politischen Feldes zu bestimmen, die sich ausgehend von der Französischen Revolution in der Moderne herausgebildet haben. Entlang der Leitunterscheidungen im Menschenbild, dem Verständnis und Sinn von Politik, ihrer Bezugsgröße sowie ihrem Ziel lassen sich rechtes Denken und Handeln von linkem unterscheiden. In d ­ iesem Sinne zeichnet sich eine rechte Ideologie dadurch aus, den Menschen im Rahmen einer pessimistischen Anthropologie als Mängelwesen vorzustellen, dem es an einem ausreichenden Instinktapparat oder Verstand zur kollektiv geordneten Bewältigung seiner alltäglichen Handlungen fehle und von dem insofern in erster Linie nichts Gutes zu erwarten sei. Dementsprechend müsse das Individuum institutionell eingehegt werden.13 Der Sinn von Politik bestehe mithin nicht darin, dass aufgeklärte Freie und Gleiche sich auf vernünftige Weise über die Angelegenheiten des Politischen verständigten. Stattdessen zeige sich der Sinn der Politik bereits bei Carl Schmitt in jenem Ausnahmezustand, in dem der Souverän über die Gestalt der politischen Körperschaft und ihre (staatliche) Verfasstheit auf der Basis von Macht entscheide.14 Folgerichtig erscheint als Bezugsgröße eines rechten politischen Denkens das Volk, dem als geschichtlichem Akteur bei allen existenziellen, das heißt politischen Fragen der Vorrang gegenüber 12 In ­diesem Kontext ist an Vertreter des Seeheimer Kreises in der SPD zu denken sowie an christdemokratische Politiker wie etwa Karl-Josef Laumann oder Norbert Blüm. 13 Diese Anthropologie geht im Wesentlichen zurück auf: Arnold Gehlen 2016: Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt. Klostermann: Frankfurt. Jedoch leiten sich daraus nicht selbstverständlich die Schlüsse der extremen Rechte ab. 14 Carl Schmitt 2015: Der Begriff des Politischen, Duncker & Humblot: Berlin.

Einleitung

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dem Individuum einzuräumen sei. Dieses ‚politische‘ Volk sei durch eine gemeinsame sprachliche, geschichtliche und kulturelle Herkunft, gegebenenfalls auch durch gemeinsames ,Blut‘ zu charakterisieren. Die identitäre Herkunft des Einzelnen aus dem Ethnos ist für Rechte ein nicht hintergehbares, ‚natürliches‘ Faktum, das sich spätestens im Moment der Krise als existenziell relevantes Kriterium der Gemeinschaft bemerkbar mache.15 Eine Zugehörigkeit zu einem Demos durch individuelle Willenserklärung erscheint Rechten dagegen als unpolitische und utopische Träumerei, die Herkünfte sowie traditionelle und geschichtlich bewährte Lebensweisen zu zerstören beabsichtige. Endlich besteht das Ziel rechter Politik darin, die ‚natürlichen‘ Unterschiede z­ wischen den Angehörigen eines Volkes als Basis seiner Lebensfähigkeit zu bewahren. Die Einebnung natürlicher Unterschiede, etwa z­ wischen den Geschlechtern wie auch z­ wischen jenen, die als Angehörige einer politischen, ökonomischen und kulturellen Elite zum Führen berufen s­ eien, und jenen, die der Führung bedürften, wird als ‚Gleichmacherei‘ oder als sogenannte weltumspannende Gleichheitsideologie abgelehnt. Gleichwohl ist ein solcher Versuch einer analytischen Ordnung einigermaßen hilflos gegenüber der beobachtbaren gesellschaftlichen Vielfalt im Umgang mit den skizzierten Leitunterscheidungen.16 Die Unübersichtlichkeit und Unschärfen im Diskurs- und Handlungsfeld der alten und neuen ‚rechten Ränder‘ hängen daher auch mit den Kategorien zusammen, die wir in ihrem Erschließen und Verstehen verwenden. Diese sind nicht nur aufgrund pluraler ­Theorie- und Problemgeschichten, politischer Verortungen und diskursiver Positionen uneinheitlich, sondern auch infolge differenter Praxisfelder und Bezeichnungszwecke. So setzen demokratisch orientierte Politiker andere Terminologien ein als polizeiliche Ermittlungsbehörden oder wissenschaftliche Beobachter, wobei es bekanntlich auch innerhalb dieser Gruppen breite Streuungen gibt. Daher finden sich so unterschiedliche Sammelbezeichnungen wie Rechtsextremisten, Rechtsradikale, Rechtspopulisten, Radikalnationalisten, Faschisten, autoritäre Rechte oder Neue Rechte, um die ,rechten‘ Gegner einer liberalen Demokratie auf den oder richtiger: die Begriffe zu bringen.17 15 So deutlich herausgestellt von Götz Kubitschek im Briefwechsel mit Armin Nassehi. Vgl. dazu Armin Nassehi 2015: Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss. Murmann: Hamburg, 296 – 330. 16 Das lässt sich etwa am Problem des Liberalismus und seiner Spielarten zeigen, der sich nur bedingt in das Links-Rechts-Schema einfügen lässt. Während der klassische Liberalismus das voluntaristisch handelnde Individuum (gegen jede Gemeinschaftsvereinnahmung) verteidigt und insofern als ,linke‘ Ideologie erscheint, beharrt er zugleich auf dem freien Spiel der (ungleichen) Talente und Kräfte und ist in dieser Hinsicht gegenüber linker sozialistischer Politik unzweideutig rechts positioniert – was für den Neoliberalismus des späten 20. Jahrhunderts (erinnert sei an Milton Friedmans Traktate) noch einmal gesteigert gilt. 17 Die umfangreiche Begriffsdiskussion kann hier keinesfalls abgebildet werden. Vgl. dazu jüngst: Fabian Virchow 2016: „Rechtsextremismus“: Begriffe – Forschungsfelder – Kontroversen. In: Fabian Virchow, Martin Langebach, Alexander Häusler (Hg.) 2016: Handbuch Rechtsextremismus. Springer: Wiesbaden, 5 – 41; Samuel Salzborn 2015: Rechtsextremismus. Erscheinungsformen und Erklärungsansätze, Nomos: Baden-Baden, 13 – 30.

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Johannes Schütz, Raj Kollmorgen und Steven Schäller

Dabei ist die ‚Rechte‘ analytisch gesehen – mehr noch als die ‚Linke‘ – in den vergangenen fünfzehn bis zwanzig Jahren ein äußerst dynamisches Feld des politisch-ideologischen Spektrums. Sowohl innerhalb der ‚Rechten‘ gab und gibt es ­Selbstdifferenzierungsbemühungen ­zwischen alten und Neuen Rechten, wie auch der Blick von außen auf die ‚Rechte(n)‘ viel Neues zu erkennen meint. Das betrifft neue Akteure, Aktions- und Organisationsformen oder ideologische Varianten und Strategieveränderungen. Dem Beobachter begegnet daher beispielsweise die sogenannte Neue Rechte als ein Begriff der Selbstverharmlosung,18 als politischer Kampfbegriff zur Markierung des Gegners,19 als vermeintlicher Retter eines vom Wandel bedrohten Sehnsuchtsortes – dem Abendland – oder zuletzt, jedoch nicht abschließend, als Fluchtbegriff vor der vermeintlich mittelmäßigen Wirklichkeit des liberal geprägten und auf Kompromisssuche ausgelegten Parlamentarismus. Wenn die ‚Rechte‘ z­ wischen neu und alt, extrem und radikal, elitär und antiparlamentarisch, konservativ und reaktionär eines ist, dann mit Sicherheit ein umstrittener und umkämpfter Begriff des Politischen. In ­diesem weiten Sinne kommt die ‚Neue Rechte‘ als eine Strömung auf der rechten Seite des politischen Spektrums im Band zur Sprache, mit neuen Akteuren, neuen Strategien, mit einem äußerst dynamischen Zug in die (vermeintlich) bürgerliche Mitte der politischen Gesellschaft, die ihrerseits krisengeschüttelt und verunsichert ist durch Reformen des Wohlfahrtsstaates, durch Finanz-, Euro-, und sogenannte Migrationskrisen sowie aktuell die Coronavirus-Pandemie, die auf der Suche ist nach ihrem eigenen institutionellen und kulturellen Kern und die mit ansehen muss, wie sich unter den Bedingungen von alternativlos erscheinender Pluralisierung, Individualisierung, Globalisierung und Techno­kratisierung des Politischen die Demokratie als kultureller Orientierungsrahmen und praktische Lebensform von der Demokratie als gesellschaftlichem Entscheidungs- und Steuerungssystem zunehmend entfernt und entfremdet.20 Schließlich wäre die Problembeschreibung einer semantisch nur schwer zu fassenden ‚Rechten‘ unvollständig, wenn nicht auch auf das Phänomen des Rechtspopulismus hingewiesen würde. Dieser Begriff wird häufig bemüht, um die Wahlerfolge schillernder ­Parteien und zuweilen auch Politiker in Italien, Österreich, Ungarn oder Polen zu fassen, um diese Personen und Gruppen zugleich von klassischen rechtsradikalen Strömungen und Parteien zu unterscheiden.21 Jedoch wird der rechte Populismus nicht selten auch als Äquivalenzbegriff für die Neue Rechte verwendet, wobei eigentümliche Aspekte herausgestellt werden, 18 Vgl. dazu den Beitrag von Johannes Schütz in ­diesem Band. 19 Vgl. Mathias Brodkorb 04. 12. 2009. „Ende des Vertrauens?“ – Die Neue Rechte zerlegt sich selbst. In: Endstation rechts. Online: https://www.endstation-rechts.de/news/ende-des-vertrauens-die-neue-rechtezerlegt-​sich-selbst.html [29. 10. 2020]. 20 Hans Vorländer 12. 07. 2011: Spiel ohne Bürger. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8; Wilhelm Heitmeyer 2018: Autoritäre Versuchungen. Suhrkamp: Berlin. 21 Jan-Werner Müller 2016: Was ist Populismus? Ein Essay. Suhrkamp: Berlin. Vgl. den Beitrag von Claire Moulin-Doos in ­diesem Band.

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etwa die allgegenwärtige Betonung eines unüberbrückbaren Konfliktes z­ wischen korrupten Eliten und (homogenem) Volk.22 Rechtspopulistische Strömungen und Parteien zeigen regelmäßig ein Changieren ­zwischen rechtsradikalen und damit auch antiparlamentarischen Orientierungen sowie rechtskonservativen und nationalistischen Einstellungen, die den Parlamentarismus und das gesamte repräsentativ-demokratische System verteidigen. Exem­plarisch kann hierfür auf die polnische Recht und Gerechtigkeit (PiS) oder die deutsche AfD verwiesen werden, bei denen relevante Teile über parlamentarisch-demokratische Verfahren substanzielle Reformen des politischen Systems, nicht aber dessen strukturellen Umbau in Richtung einer Autokratie anstreben. Zu diesen angestrebten Reformen zählen etwa die Stärkung der nationalen Souveränität und eine Anreicherung der parlamentarischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse durch direktdemokratische Verfahren. Letzteres ist unter Teilen der intellektuellen Neuen Rechten hingegen verpönt. Das Anliegen ­dieses Bandes ist es daher auch, unterschiedliche Begriffsfelder und Begriffsweisen auszuloten, um damit rechte politische Strömungen multiperspektivisch differenzieren zu können. Wie zum Beispiel sind jene zu bezeichnen, die zwar als Antidemokraten erkannt werden, sich aber vom historischen Nationalsozialismus abgrenzen? Sind das die ‚Neuen Rechten‘? Oder braucht es weitere Merkmale wie organisationale Novitäten, um sie von der traditionellen Rechten abzugrenzen? Zeichnet sich die Neue Rechte zwingend durch intellektuelle Reformulierungen älterer Programme und Ideologien aus? Und wie ließe sich dann – gleichsam umgekehrt – die Bewegung der „neuen Nazis“ einordnen, die sich zwar auf den historischen Nationalsozialismus beziehen, aber zugleich auf neue, teils von linken und linksradikalen Gruppen entliehene Mobilisierungs- und Protestformen sowie Bewegungskulturen setzen? 23

4. Neue Beobachtungen und kritische Reflexionsebenen: Zur Struktur des Bandes Der vorliegende Band ist ein Kooperationsprojekt verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und zivilgesellschaftlicher Expertisen; er verbindet soziologische, geschichtswissenschaftliche, politologische, kommunikationswissenschaftliche und ­psychoanalytische Deutungsperspektiven mit Erfahrungsberichten, Feldbeobachtungen und Handlungsberichten. Mittels dieser Perspektivenvielfalt kann der Band zahlreiche Aspekte der beschriebenen Komplexitäten herausgreifen, einzeln erörtern und zum Ende zu einem 22 Sebastian Dümling 2019: Volk durch Verfahren – Populismus als Diskurseffekt. In: Merkur 73, 87 – 93. 23 Raj Kollmorgen, Matthias Quent 2014: Innovation und Reziprozität. Zur Bedeutung von sozialen Innovationsbeziehungen in der Entwicklung des Rechtsextremismus. In: Berliner Debatte Initial 25 (1), 5 – 17.

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Bild zusammensetzen. Um das leisten zu können, schlüsselt er die skizzierten Problemdimensionen in vier thematischen Schwerpunktsetzungen auf, die zugleich die Struktur des Buches vorgeben. Zunächst werden im ersten Teil die dynamischen Veränderungen im Bereich der theoretischen Grundlagen der ‚Rechten‘ in den Blick genommen. Im zweiten Teil werden die gesellschaftlichen Kontexte für die aktuell beobachtbaren Wandlungsprozesse thematisiert. Der dritte Teil widmet sich der Lebenspraxis in rechten Gemeinschaften und Milieus, während der vierte Teil sich den medial vermittelten Öffentlichkeiten zuwendet, die einerseits Rahmenbedingung des Handelns rechter Akteure darstellen, andererseits aber auch zu deren Spielwiese werden können. Im letzten Beitrag werden diese disziplinären Einzelbilder zusammengesetzt und eine abschließende Gesamtschau angeboten, die auch einen umfangreichen Ausblick auf die gegenwärtigen Herausforderungen durch die Coronavirus-Pandemie erlaubt. Die vier thematischen Schwerpunktsetzungen umkreisen die Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge auf ihre je eigene fachspezifische Weise und beziehen dabei mal in Form eines Debattenbeitrages oder Interviews, mal in Form eines wissenschaftlich-analy­ tischen Beitrages, mal in Form eines Werkstatt- und Praxisberichts Stellung zu ihrem Untersuchungsgegenstand. Die unterschiedlichen Perspektiven und Textsorten sollen Überblicke erlauben, aber auch Differenzierungsmöglichkeiten eröffnen sowie Positionen, Wertungen und Handlungsbedarfe diskutieren. Uns ist aber bewusst, dass auch ein Buch wie das vorliegende nicht alle Details und Einzelfragen klären kann; auch wir sind auf Selektion und Komplexitätsreduktion verwiesen. Die wissenschaftlichen Aufsätze bilden in den jeweiligen Abschnitten des Bandes die thematische Hinführungen, Einleitungen und Konzeptionalisierungen der einzelnen Schwerpunktsetzungen des Bandes. Daran anknüpfend werden in Praxisberichten, Diskussionsprotokollen und Interviews einzelne Aspekte vertieft behandelt und in Bezug auf die Handlungsspielräume und Lösungsansätze diskutiert. Ziel dieser Beiträge ist es, die Brücke z­ wischen den wissenschaftlichen Bearbeitungen und den praktischen Herausforderungen durch rechte Akteure, Bewegungen und Ideologien zu schlagen und Lehrern, politischen Bildnern und anderen Multiplikatoren, Verwaltungsangestellten, Polizisten, Journalisten und überhaupt jedem, der auf irgendeine Art und Weise mit diesen Herausforderungen konfrontiert ist, gezielt Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Ziel des Bandes ist nicht zuletzt auch, die vielgestaltige, interdisziplinäre Diskussion z­ wischen Wissenschaft und Praxis abzubilden und diese Diskussion einem breiten Publikum zugänglich zu machen. In ­diesem Sinne bemüht sich der Band darum, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Spielarten von der populistischen bis zur extremen Rechten zu erkunden und zugleich analytisch zu hinterfragen. Erste Annäherungen an das Phänomen lassen sich dabei über historische Vergleiche herstellen. Auch die Neuen Rechten und gegenwärtigen Rechtsextremisten stehen in einer Tradition, und der Blick auf historische Verbindungen

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kann den Blick schärfen, Problemlösungen sichtbar werden lassen und Lernprozesse befördern.24 Wir wollen aber den historischen Vergleich nicht überstrapazieren und keinesfalls insinuieren, an einigen Ähnlichkeiten gegenüber den Weimarer Verhältnissen ließe sich die bevorstehende Zerstörung der Berliner Republik belegen. Richtig ist aber, dass vergleichende historische Analysen und Tiefenbohrungen die Perspektive für Entwicklungslinien und Verlaufsgeschichten öffnen können. Dazu werden ideengeschichtliche Entwicklungen Neuer Rechter verfolgt und nach ideologischen Querverbindungen untersucht. Lassen sich eventuell unter dem Schlagwort „Kulturkritik von rechts“ geteilte Ziele und Strategien feststellen? Wir gehen davon aus, dass ein Blick in ihre Ideologien und Weltbilder die politischen Ziele offenbaren und Rückschlüsse auf Aktionsfelder und Wirkungsformen zulassen. In einem ersten insgesamt analytischen Teil des Bandes arbeiten die einzelnen Autoren und Autorinnen heraus, w ­ elche Botschaften rechte Ränder in die Gesellschaft streuen und mit ­welchen Mitteln sie an ihrer politischen Agenda arbeiten, ­welche Zukunftsbilder sie entwerfen und mit ­welchen Vergangenheitsbezügen sie die Gegenwart beschreiben. Dieser Überblick gibt Aufschluss darüber, was die ideologischen und programmatischen Grundlagen der untersuchten Akteure sind und inwiefern sie eine Gefahr für die Demokratie darstellen. Durch die Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede sollen Angebote für eine gehaltvolle Beantwortung der Frage entwickelt werden: Handelt es sich bei d ­ iesem oder jenem Akteur um eine rechtspopulistische oder deutschnationale Bewegung bzw. Partei oder haben wir es mit einer neuen rechtsradikalen oder gegebenenfalls neofaschistischen Bewegung zu tun? Eine Feststellung zur theoretischen, aber auch begrifflichen Beschreibung der neuen Entwicklungen wollen wir aber doch noch in dieser Einleitung treffen: Rechtsradikale, autoritär-rechte und rechtspopulistische Akteure, Bewegungen und Ideologien repräsentieren Systemelemente liberaler Gesellschaften. Sie tauchen in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen seit deren Formierung immer wieder auf und markieren Positionen, die sich gegen die institutionelle und kulturelle Verfasstheit dieser Gesellschaften wenden. Zur Geschichte der liberal-demokratischen Gesellschaften gehört die antiliberale und antidemo­ kratische Fundamentalkritik.25 Das thematisiert der erste Beitrag des Bandes explizit, in dem diskutiert wird, weshalb es mit der und durch die Französische Revolution zur Entstehung der Gegenbewegung, der „Reaktion“ kam.26 Übergreifend ist festzuhalten, dass soziale 24 Vgl. dazu die Beiträge von Philipp Felsch und Danilo Scholz, Sebastian Dümling und Jan Lohl in d ­ iesem Band. 25 Volker Weiß 2017: Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes. KlettCotta: Stuttgart. 26 Vgl. dazu ausführlich das Gespräch ­zwischen Philipp Felsch und Danilo Scholz und den Beitrag von Matthias Quent in ­diesem Band.

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Wandlungsprozesse in modernen Gesellschaften immer auch vom Aufkommen oder der Stärkung populistischer, exklusionsorientierter und antidemokratischer Bewegungen und Politikprojekte begleitet waren. Gerade dann, wenn es substanzielle, beschleunigte oder disruptive Wandlungsprozesse sind, steigt die Wahrscheinlichkeit für politische Radikalismen, die ihrerseits die Wandlungsprozesse beeinflussen. Das heißt für diesen Band: Akteure können nicht losgelöst von ihrem gesellschaftlichen Kontext bestimmt und verstanden werden – der zweite Teil des Bandes nimmt daher die Kontexte unserer Gegenwartsgesellschaft in den Blick und fragt danach, worauf die Akteure mit ihren Ideologien reagieren. Welche sozialen Wandlungsprozesse, politischen Verschiebungen und kulturellen Veränderungen bedingen und bestimmen die Wirksamkeit und Gestaltung der extremen, radikalen und Neuen Rechten? In den letzten Jahrzehnten hat sich unsere Gesellschaft wesentlich verändert und diese Veränderungen – die Stichworte hier sind unter anderem: Ende des real existierenden Sozialismus, Globalisierung und Migration, Hegemonie des Marktprinzips, Digitalisierung der Lebenswelten, Rückzug und Wiederkehr der Religionen – waren und sind Hintergrund sowie Anlass für zahlreiche antidemokratische und antimoderne Reflexe.27 Die rechtsex­ tremen, rechtspopulistischen und neurechten Bewegungen und vor allem auch die Zustimmungen zu ihnen lassen sich nur verstehen, wenn sie in diese dynamischen Rahmenbedingungen eingeordnet werden.28 Akteure (Bewegungen, Organisationen, einzelne Individuen) beziehen sich auf die sich verändernden Umwelten und deuten sie in ihrer Weltaneignung. Daher geht der Band den gesellschaftlichen Ursachen nach und fragt, was der Zusammenbruch der DDR und die deutsche Vereinigung, was Kapitalismus und Neoliberalismus, was Globalisierung und neue Migrationsbewegungen mit Menschen, ihren Arbeits- und Lebenswelten gemacht haben, so dass sie etwa xenophob eingestellt sind, völkisch denken und rassistisch handeln.29 Im dritten Teil des Buches nehmen daran anschließend einzelne Autorinnen und Autoren in den Blick, wie sich die verschiedenen extrem rechten Gemeinschaften in unserer Gesellschaft verstetigen konnten. Dabei sind folgende Fragen leitend: Wie werden diese Deutungen von Generation zu Generation weitergegeben?30 Unter ­welchen sozialen Bedingungen erlangen sie vielleicht sogar Deutungshoheiten?31 Und: Wie können sie an strukturelle, soziale Ordnungsmuster anknüpfen und diese überbieten? Die Antworten auf diese Fragen bieten die verschiedenen Beiträge, die sich unter anderem mit der innerfamiliären Sozialisation, der Bedeutung von sozialen Ordnungskategorien – wie Geschlecht oder Klasse – bis hin 27 28 29 30 31

Vgl. dazu den Beitrag von Oliver Hidalgo in ­diesem Band. Vgl. dazu das Interview mit Silke van Dyk und den Beitrag von Matthias Quent in ­diesem Band. Vgl. die Beiträge von Raj Kollmorgen und Rebecca Pates in ­diesem Band. Vgl. den Beitrag von Jan Lohl in ­diesem Band. Vgl. den Beitrag von Sebastian Kurtenbach und Yan Rees in ­diesem Band.

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zu ganz praktischen Fragen des Umgangs mit rechten Akteuren unter lokalen Bedingungen beschäftigen werden.32 Nachdem der Band sich damit von der Mikroebene – einzelnen rechten Bewegungen und Akteuren – zur Makroebene – den sozialen Kontexten – bewegt hat, wird er im vierten Teil die Verbindung z­ wischen beiden Ebenen fokussieren; und das sind die Medien in den politischen Auseinandersetzungen. Im letzten Teil des Bandes blicken die Beiträge daher auf die Verbindungen ­zwischen Gesellschaft und politischen Akteuren. Es geht dabei sowohl um die Frage: Wie verbinden sich die verschiedenen rechten Akteure im Netz?33 Wie knüpfen sie hier ihre Netzwerke und ­welche Kanäle ­nutzen sie zur Verbreitung ihrer Botschaften? Und wie schaffen sie es, innerhalb weniger Stunden mehrere tausend Menschen zu einer Demonstration zu mobilisieren? Zugleich schauen wir aber auch auf die Bedingungen für soziale Kommunikation im digitalen Zeitalter: Wie verändern sich kommunikative Praktiken und Netzwerke durch digitale Kommunikationsstrukturen?34 Hat die Digitalisierung unserer Kommunikationen einen Anteil an der gesellschaftlichen Wandlung und der Zuspitzung von politischen Auseinandersetzungen? Wie lassen sich die Radikalisierungsphänomene im Internet von Hate Speech bis zum Aufruf zum Mord verstehen und einordnen?35 Und wie kann eine demokratische Gesellschaft diese Kommunikationstechniken einhegen und nutzbar machen? Bei allen diesen ­Themen haben wir nicht nur die Beschreibung dieser Aspekte im Kopf, sondern es soll vielmehr auch immer um Handlungsperspektiven gehen. Wie kann eine demokratische Gesellschaft auf diese Herausforderungen reagieren?36 Diese Herausforderungen, die an den Grundprinzipien der gesellschaftlichen Verfasstheit rütteln, die neue Prinzipien des Zusammenlebens etablieren wollen. Die Beiträge zeichnen sich dabei durch verschiedene Perspektiven auf die jeweiligen Ebenen (Makro-, Meso-, Mikro-) aus und greifen unterschiedliche Handlungsebenen auf: die Aufgabe der gesamten Gesellschaft, die Aufgabe lokaler Gruppen und Verbände und die Möglichkeiten, individuell zu reagieren. Dass eine demokratische Antwort dringlich ist, ist offensichtlich. Dieser Band möchte erste Antworten vorschlagen. Er bietet sowohl Wissensvermittlung und Handlungsanweisungen, er will zum demokratischen Wortergreifen einladen und ermutigen, er will den Kampf um die Freiheiten, ob individuell oder für Gruppen, in unserer Gesellschaft stärken.

32 Vgl. dazu die Beiträge von Andrea Hübler, von Cäcillia Schreiber/Lukas Kotzybik sowie von Marius Hellwig in ­diesem Band. 33 Vgl. dazu den Beitrag von Fabian Virchow in ­diesem Band. 34 Vgl. dazu den Beitrag von Gerhard Vowe in ­diesem Band. 35 Vgl. dazu die Beiträge von Simone Rafael sowie von Cornelia Mothes/Antje Odermann/Anna-Maria Schielicke in ­diesem Band. 36 Vgl. dazu die Beiträge von Klaas Andreas Tietze und von Steffen Heerdegen in ­diesem Band.

TEIL I: IDEEN UND IDEOLOGIEN

Phillipp Felsch/Danilo Scholz

Nouvelle Droite/Neue Rechte Ein theoriegeschichtlicher Dialog

Der vorliegende Text ist eine überarbeitete Fassung eines Gesprächs, das am 19. März 2019 unter

dem Titel Th ­ eorie(n) der Neuen Rechten im Rahmen der von Philipp Felsch moderierten Veran-

staltungsreihe Theorien zur Praxis im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden stattfand. Philipp

Felsch, Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, unterhält sich mit

dem Ideenhistoriker Danilo Scholz, der zum Zeitpunkt des Gesprächs an der Columbia Univer-

sity in New York City forschte, über die Entstehung und Entwicklung der antiliberalen Reaktion.

Philipp Felsch: Wir haben 2018 das fünfzigste Jubiläum von ’68 gefeiert. Mein Eindruck war, das Jubiläum ist relativ blass geblieben. Man hatte fast das Gefühl, ’68 ist mittlerweile im Museum gelandet. Als Ausgangspunkt für tagesaktuelle Debatten hat sich das Thema im Jahr 2018 jedenfalls nur in Ausnahmefällen erwiesen. Debattiert wurde etwa über die Frage, ob und was die Neue Rechte von ’68 gelernt hat, das heißt, inwiefern nicht nur die Neue Linke, sondern auch die Neue Rechte als Erbin von ’68 anzusehen ist. Das hat meiner Ansicht nach damit zu tun, dass die Figur des oder der Rechtsintellektuellen mittlerweile eine ungleich größere Faszination ausübt als die Figur des Linksintellektuellen. Während die SPD sich mehr schlecht als recht darum bemüht, an die intellektuellen Debatten der Gegenwart Anschluss zu finden, besteht ­zwischen der AfD, zumindest dem „Flügel“, und dem rechtsintellektuellen Lager ein intensiver Austausch. Da scheint also die Transmission von Debatten, Ideen, Überlegungen in die Politik – das klassische Kerngeschäft von politischen Intellektuellen seit dem späten 19. Jahrhundert – relativ reibungslos zu funktionieren. Insofern sind Rechtsintellektuelle im Moment in der politischen Debatte offensichtlich interessant. Wir wollen heute allerdings nicht die Diskussionen fortsetzen, die wir jetzt seit mittlerweile fast zwei Jahren beobachten: also die Frage nach der Attraktivität rechten Denkens, nach dem Erfolg rechter populistischer Parteien, nach der strategischen Frage, wie man sich Rechtsintellektuellen gegenüber verhalten soll – ob man mit ihnen sprechen soll oder nicht. Wir wollen heute dem Motto unserer Reihe gemäß das Ideengut, die ideologischen Bausteine, die Theorien der Neuen Rechten in den Blick nehmen und uns erst einmal inhaltlich und historisch mit ihnen auseinandersetzen.

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Phillipp Felsch/Danilo Scholz

Dabei wollen wir das Augenmerk insbesondere auf die intellektuellen Entwicklungen in unserem Nachbarland richten. Danilo Scholz hat sich lange in Frankreich aufgehalten und kennt die dortige intellektuelle Landschaft sehr gut. Da die Neue Rechte tatsächlich als europäisches Phänomen betrachtet werden muss – es gab und gibt intensive Austausch­ beziehungen, gerade ­zwischen Deutschland und Frankreich –, haben wir uns entschieden, die französische Ideengeschichte etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Wir werden immer wieder Vergleiche zu Deutschland anstellen und Rückschlüsse ziehen, wir wollen aber vor allem über die Rechte und Neue Rechte in Frankreich im 20. Jahrhundert reden. Das ist insofern naheliegend und sinnvoll, als dass Frankreich nicht nur für das linke, antiautoritäre Denken seit den 1960er Jahren eine Avantgarderolle gespielt hat, sondern auch im Bereich rechter Theorien. Frankreich ist das Land der Revolution, aber auch der Gegenrevolution. Frankreich ist seit dem 19. Jahrhundert immer wieder ein Ideenlabor gewesen, sowohl für links- als auch für rechtsradikales Denken. Als Einstiegsfrage zum Aufwärmen für dich, Danilo: Es gibt ja eine lange Tradition konterrevolutionären Denkens in Frankreich. Welche Autoren und ­Themen verbinden sich mit dem Begriff der Gegenrevolution im 19. und 20. Jahrhundert? Was für ein Phänomen ist das überhaupt? Danilo Scholz: Was heute gemeinhin als reaktionäre Ideologie bezeichnet wird, hat im 19. Jahrhundert in Frankreich Gestalt angenommen. Zwei der bekannteren Namen sind sicherlich Louis de Bonald und Joseph de Maistre. Deren Denken kann man nur aus ihrer Ablehnung des „Urereignisses“ des langen 19. Jahrhunderts heraus erklären: nämlich der Französischen Revolution. Nach 1789 zeichneten sich die Bruchlinien ab, aus denen sich die Unterscheidung ­zwischen links und rechts in dem Sinne, wie wir sie heute verwenden, herausgebildet hat. Das lässt sich an verschiedenen Punkten festmachen. Da ist zum einen die Frage des Klerikalen, der ­Kirche: Die Französische Revolution hat energisch den Kirchenstaat bekämpft und Klöster enteignet – für reaktionäre Denker ein nicht zu vergebender Frevel. Der zweite Punkt, der für diese Denker eine wichtige Rolle gespielt hat, war die Neubegründung des Gesellschaftsverhältnisses, das fortan auf einem konsequenten Gleichheitsversprechen basierte. Die Erklärung der Menschenrechte postulierte die Gleichheit aller Menschen und stellte die ständische Ordnung, in der jedem ein Platz in der sozialen Hierarchie zugewiesen wurde, radikal in Frage. Reaktionäre Denker nahmen das als anomisches, die Gesellschaft zersetzendes Moment wahr. Dagegen wurden dann die Prinzipien entwickelt, die zu Grundlagen klassischen nationalistischen oder reaktionären Denkens in Frankreich wurden: ein Zurück zur katholischen K ­ irche, ein Ende des Egalitarismus und eine Verteidigung der Monarchie mit dem König an der Spitze. Das sind grob umrissen die Nenner, auf die sich reaktionäres Denken im 19. Jahrhundert in Frankreich bringen lässt.

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Philipp Felsch: Wir halten fest, die Rechte, die Reaktion – das steckt ja schon in d ­ iesem Begriff der Reaktion – gibt es eigentlich erst, seitdem die Welt, die sie sich erträumt, untergegangen ist. Es ist eine Reaktion auf die Moderne – deswegen in Frankreich auch so ausgeprägt – auf das Urereignis der Moderne, die Französische Revolution. Vorher lässt sich nur schwerlich von einer im modernen Sinne politischen Rechten oder einer Reaktion sprechen, weil es das Ereignis und die Phänomene, auf die sie reagiert, noch gar nicht gibt. Das sollte man im Hinterkopf behalten, weil dieser Epochenwandel nicht nur die „alte“, sondern auch die Neue Rechte beeinflusst hat. Daran möchte ich eine weitere Bemerkung anschließen. Die Reaktionäre des 19. Jahrhunderts haben gewisse Lieblingsfeinde. Ein Denker, auf den sie immer, gerade in Frankreich, wie auf ein rotes Tuch reagieren, ist Rousseau. Wir müssen über Rousseau gar nicht viele Worte verlieren, außer den Hinweis, dass er in Frankreich als geistiger, vielleicht sogar der geistige Vater der Revolution gilt. Rousseau erscheint als der moderne Denker, der ein positives Menschenbild in die Welt gesetzt hat, gegen das die Reaktionäre des 19. Jahrhunderts massiv Einspruch erheben. Würdest du dem zustimmen – auch in der Zuspitzung auf Rousseau? Danilo Scholz: Das kann man so sagen, wobei natürlich auch wieder interessante Schnittpunkte deutlich werden. Rousseau zeigte sich skeptisch gegenüber einer Gesellschaft, die auf florierendem Handel und marktwirtschaftlichen Prinzipien, wenn auch in Frankreich unter staatlicher Kontrolle, beruht. Rousseau findet diese Entwicklung hochgradig problematisch. Es gibt bei ihm eine Neigung zum Rückzug aus der urbanen, kosmopolitischen Kultur. Unvereinbar mit reaktionärem Denken sind allerdings die Grundbegriffe seiner politischen Philosophie, vor allem sein Konzept der volonté générale, das zur Folge hat, dass sich ein Staat nur dann als legitim bezeichnen kann, wenn die grundlegenden Gesetze d ­ ieses Staates auf der Zustimmung der im Hinblick auf das Gemeinwohl handelnden Bürger fußen. Dieses Prinzip der Volkssouveränität ist vielen reaktionären Denkern zuwider. Daher verwundert es nicht, dass sie sich an Rousseau unaufhörlich abgearbeitet haben. Aber das Ressentiment gegen die Metropole, die Ablehnung der Großstadt und ihres korrumpierenden Sogs – ­dieses Element im Denken Rousseaus ist sicher nicht unbedingt etwas, an dem sich reaktionäre Denker gestoßen hätten. Philipp Felsch: Nein, Pankaj Mishra, ein indischer Intellektueller, hat kürzlich ein Buch veröffentlicht, Das Zeitalter des Zorns, in dem er Rousseau als den ersten Wutbürger, den ersten Populisten, den ersten Elitenfeind darstellt. Dieser Gegensatz von Stadt und Land ist bei Rousseau tatsächlich sehr ausgeprägt. Doch Stein des Anstoßes für rechte Denker ist Rousseaus Vorstellung, der Mensch sei von Natur aus gut, man muss ihn nur gut sein lassen. Das heißt: Institutionen, staatliche

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Ordnung, Autoritäten sind zunächst einmal ein Problem. Es stellt sich die Frage, wie man diese Institutionen, sofern sie menschlicher Gleichheit entgegenstehen, zurückfahren kann oder zumindest, wie sich die Schäden, die sie verursachen, minimieren lassen. An der Stelle identifizieren die Reaktionäre des 19. Jahrhunderts Rousseau als Erzfeind. Sie sind nämlich davon überzeugt, dass es starke staatliche Institutionen, dass es starke Autoritäten – ­seien sie staatlicher oder kirchlicher Art – geben muss. Ich will aber gar nicht, dass wir uns jetzt an Rousseau festbeißen. Ich möchte noch eine andere wichtige französische Errungenschaft des 19. Jahrhunderts ansprechen, die für unser Thema ganz entscheidend ist: nämlich die Figur des Intellektuellen, die wir historisch gesehen der französischen Sprache verdanken. Die Sozialfigur des Intellektuellen – im späten 19. Jahrhundert wird sie bis auf wenige Ausnahmen nur von Männern gespielt, im 20. Jahrhundert dann auch von Frauen – kommt, so könnte man sagen, in Frankreich zur Welt. Seit wann sprechen wir, seit wann sprechen die Franzosen, von Intellektuellen? Danilo Scholz: Das kann man ziemlich genau benennen, also wenn man ein Jahr in die Runde werfen müsste, wäre das wahrscheinlich 1898. Das ist das Jahr, in dem der Schriftsteller Émile Zola seinen offenen Brief J’accuse …! veröffentlicht, und zwar im Kontext der sogenannten Dreyfus-Affäre. Anhand d ­ ieses offenen Briefes und der Reaktionen, die er herauf­beschwört – von euphorischer Zustimmung bis wütender Zurückweisung –, lassen sich Funktionsmechanismen des Intellektuellendaseins und intellektueller Debatten skizzieren, die bis heute wirksam sind. J’accuse …! – der Titel stammt nicht von Zola selbst – ist an den französischen Präsidenten Félix Faure adressiert und bezieht Stellung in dem Prozess um den Offizier Alfred Dreyfus, der des Hochverrats angeklagt ist, weil er Militärgeheimnisse an den deutschen Erbfeind weitergegeben haben soll. Man muss sich vergegenwärtigen, dass der Deutsch-Französische Krieg von 1870/1871 damals nur zwei Jahrzehnte zurücklag. Angst und Paranoia angesichts einer mutmaßlichen deutschen Übermacht bestimmen das geistige Klima. Während Alfred Dreyfus in Haft sitzt, stellt sich nach und nach heraus, dass entlastendes Material verschwiegen und zurückgehalten wurde, dass belastende Indizien gefälscht oder schlicht frei erfunden wurden. In diese Gemengelage begibt sich Émile Zola und sagt, es kann nicht sein, dass wir das Gerechtigkeitsprinzip derart mit Füßen treten, und jemanden, der wahrscheinlich zu Unrecht aufgrund gefälschter Beweise im Gefängnis sitzt, da einfach schmoren lassen. In dieser Situation, so Zola, haben wir als Intellektuelle die Aufgabe, der Staatsmacht auf die Finger zu schauen. Damit ist die gesellschaftliche Verantwortung des Intellektuellen umrissen. Philipp Felsch: Es ist die Geburtsstunde des republikanischen Intellektuellen. Sogar ein parti des intellectuels, eine „Partei“ der Intellektuellen, tritt in Erscheinung, die sich auf Zolas Weckruf hin formiert. In dieser losen Gruppierung versammeln sich Intellektuelle, die es

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sich zur Aufgabe machen, die Republik gegen die finsteren Mächte der Armee und des Katholizismus zu verteidigen. Wir kommen darauf zu sprechen, weil die Dreyfus-Affäre zugleich auch Rechtsintellektuelle auf den Plan ruft. Kurz nach Zolas J’accuse …! betritt nämlich eine Figur die Bühne der französischen Politik, auf die sich die französische Nouvelle Droite in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder beziehen wird, und sei es nur, um sich von ihr abzusetzen: Charles Maurras war die eigentliche Gründerfigur der Rechtsintelligenz des 20. Jahrhunderts. Mit wem haben wir es da zu tun? Danilo Scholz: Maurras war jemand, dessen Werdegang mit der Dreyfus-Affäre eine völlig neue Wendung nimmt. Man muss hinzufügen, dass die eigentliche Triebfeder für die Inhaftierung von Dreyfus der weitverbreitete Antisemitismus war. Dreyfus stammt aus einer jüdischen Familie im Elsass, deshalb war die Versuchung für manche groß, ihm zu unterstellen, er stecke mit dem deutschen Feind unter einer Decke. Ohne den Antisemitismus in der französischen Armee lässt sich die Dreyfus-Affäre nicht verstehen. Einige Historiker haben sogar spekuliert, dass es zu Beginn des 20. Jahrhunderts Anzeichen für eine gewaltsame Radikalisierung des Antisemitismus in Frankreich gab. Auch für M ­ aurras’ Intellektuellenkarriere bedeutet die Dreyfus-Affäre einen Einschnitt. Unumwunden gibt Maurras zu, dass ihn weder die juristischen Details der Affäre interessieren noch die Hintergründe. Ihn erzürnt vor allem, dass Intellektuelle die Integrität wichtiger staatlicher Institutionen wie der Armee untergraben. Gegen diese vermeintlich „zersetzende“ Arbeit intellektueller Kritik lehnt er sich auf. Im Interesse des französischen Staates, so argumentiert Maurras, sollte man davon absehen, jene Institutionen, die für Ordnung und Stabilität sorgen, in den Dreck zu ziehen. Maurras begnügt sich jedoch nicht damit, wütende Briefe zu schreiben, sondern er wird zum Wortführer der Action française, die lange eine der prägendsten Bewegungen innerhalb des französischen rechten Spektrums bleiben wird. Die Action française formuliert ein wichtiges Programm der französischen Rechten. Ob sie damit zum Vorläufer des Faschismus avanciert oder eher ein Überbleibsel des 19. Jahrhundert darstellt, darüber lässt sich trefflich streiten. Ich würde sie eher dem Traditionalismus zurechnen, denn Maurras ist ein Fürsprecher des Katholizismus, jemand, der die Fahne des französischen Königtums hochhält. Obwohl er selbst antisemitisch argumentiert, beruft er sich nicht auf pseudowissenschaftliche Rassentheorien, sondern leitet seine Haltung aus einer Art staatlichen Notwendigkeit ab. An einer Stelle räumt er ein, dass die „Beweise“ gegen Dreyfus wohl Fälschungen sind, aber viel wichtiger sei doch, dass man den Staatsapparat vor jüdischen Einflüssen schütze. Für diesen Antisemitismus brauchte er keine ­Theorie des Sozialdarwinismus. Philipp Felsch: Vielleicht kann man sagen, dass Maurras und die Action française einen Missing Link ­zwischen dem traditionellen reaktionären Denken des 19. Jahrhunderts und

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Phillipp Felsch/Danilo Scholz

den Faschismen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts darstellen. Selbst Maurras’ Monar­ chismus haften doch moderne protofaschistische Elemente an. Der deutsche Historiker Ernst Nolte hat sogar behauptet, Charles Maurras sei eigentlich der Einzige, der so etwas wie eine halbwegs konsistente ­Theorie des Faschismus entwickelt habe. Maurras stellt sich den König nämlich nicht wie die Legitimisten des 19. Jahrhunderts vor, es geht ihm nicht darum, zur Dynastie der Bourbonen zurückzukehren, es geht um ein Heerkönigtum, es geht um eine Gesellschaft der permanenten Mobilisierung, es geht bei ihm um einen Kult der Armee und des Krieges. Sind das nicht doch Aspekte, die die Action française eher in die Nähe der Faschismen in Italien und Deutschland rücken? Danilo Scholz: Diese Komponenten gibt es sicherlich. Dazu kommt die zunehmende Radikalisierung der Action française, die zu einer Bewegung wird, die den Straßenkampf propagiert. Zudem nimmt sie Anleihen bei linken Denkern wie dem Anarchosyndikalisten Georges Sorel. In den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg schlagen diese Tendenzen immer wieder in politische Gewalt um. In Deutschland erinnert sich kaum noch jemand daran, dass in den 1930er Jahren erstmals eine linke Volksfrontregierung in Frankreich an die Macht gelangte. Unter dem Ministerpräsidenten Léon Blum werden die Vierzig-Stunden-Woche und bezahlte Urlaubstage eingeführt. Blum wird zur absoluten Hassfigur der Rechten, weil mit ihm jemand an der Spitze des Staats steht, der nicht nur Sozialist ist, sondern auch Jude. 1936 verüben royalistische Ultras, die der Action française nahestehen, einen Anschlag auf Blum, der nur knapp mit dem Leben davonkommt. Hier zeigt sich, dass das aufwiegelnde, das straßenkämpferische, das umstürzlerische Element tatsächlich viel präsenter ist, als wir das von vielen klassischen reaktionären Bewegungen des 19. Jahrhunderts kennen. Es war übrigens auch Ernst Nolte, der Maurras zu einem gewissen Nachleben in Deutschland verholfen hat. Nolte erlangte mit seinen Positionen im deutschen Historikerstreit eine zweifelhafte Bekanntheit. Es ging dabei um die Frage, ob der Nationalsozialismus im Besonderen und der Faschismus im Allgemeinen in erster Linie als Reaktionen auf die Oktoberrevolution von 1917 zu verstehen sind. Ist diese These erst einmal beglaubigt, ist es bis zur Abschwächung der deutschen Verantwortung für den Massenmord und die Kriegsgräuel nur ein kleiner Schritt, wie Jürgen Habermas damals fürchtete. 1986 veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung Noltes Text Vergangenheit, die nicht vergehen will. Nolte hatte die Idee, seinen Zwischenstand der Aufarbeitung des deutschen Massenmords an den Juden unter die begriffliche Schirmherrschaft des Antisemiten Charles Maurras zu stellen, ohne diesen namentlich zu erwähnen. Nolte zitiert dann dessen Unterscheidung ­zwischen dem pays réel – dem wahren Land der schuftenden Massen – und dem pays légal – den rechtlichen Institutionen und abstrakten Prinzipien, auf denen sie beruhen –, hinter dem sich letztlich, wie bei Maurras nachzulesen ist, eine elitäre Regierungsclique bestehend aus „Protestanten, Juden, Freimaurern und Mestizen“ verbirgt.

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Philipp Felsch: Dieser Verweis kommt nicht von ungefähr. Nolte hatte sich mit der Action française ausgiebig beschäftigt, insofern kannte er Maurras und seine Ideenwelt sehr gut. Gibt es eigentlich auch in der gegenwärtigen rechten politischen Landschaft Frankreichs Versuche, direkt an die Action française oder die Schriften von Maurras anzuknüpfen? Danilo Scholz: Durchaus, zum Beispiel im Umfeld von Marion Maréchal, der Nichte des Front National-Gründers Jean-Marie Le Pen. Maréchal beteuert, sie habe sich aus der Politik zurückgezogen, um sich ganz der Gründung des Institut des sciences sociales, économiques et politiques zu widmen, einer stramm nationalistischen Privathochschule, die seit 2018 existiert. In d ­ iesem Milieu ist Maurras nach wie vor ein wichtiger Stichwortgeber. Schließlich ist die Zeitschrift L’Incorrect zu erwähnen, die – wie der Name auf nicht gerade subtile Weise suggeriert – die Lust an der politischen Unkorrektheit kultiviert und ihre Leser auffordert, Maurras neu zu entdecken. Fruchten diese Versuche, Maurras wiederzubeleben? Bislang kaum, zu ausgeprägt ist das öffentliche Bewusstsein für Maurras’ Antisemitismus. Philipp Felsch: Die direkten Anknüpfungsmomente sind also eher rar gesät. Die Neue Rechte in Deutschland, die sich nach landläufiger Vorstellung in der zweiten Hälfte, vielleicht sogar erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts konstituiert, definiert ihre Neuheit, indem sie sich vom Nationalsozialismus abgrenzt und stattdessen auf die sogenannte Konservative Revolution beruft, einer sehr breit gefächerten Strömung von Intellektuellen, die angeblich dem Nationalsozialismus innerlich fremd geblieben ­seien. Die Konstruktion einer solchen Konservativen Revolution wird in der neueren historischen Forschung aber inzwischen selbst als Mythos entlarvt. In Frankreich ist einer der Abstoßungspunkte für die Nouvelle Droite, über die wir jetzt endlich sprechen wollen, die Action française von Charles Maurras. Wann beginnt denn eigentlich die Geschichte der Neuen Rechten in Frankreich und mit welchem Anspruch, mit welchem Recht nennt sie sich Nouvelle Droite? Danilo Scholz: In den deutschen Diskussionen wird oft 1968 als entscheidendes Datum angeführt. Die années 1968 sind natürlich auch in Frankreich von Bedeutung, aber man muss früher ansetzen. Der eigentliche Entstehungsherd der Nouvelle Droite ist das Ende des Algerienkrieges 1961. Formaljuristisch war Algerien keine Kolonie, kein Überseeterritorium, sondern ein Département und damit Teil der Verwaltungseinheit Frankreichs. Nun soll d ­ ieses Gebiet in die Unabhängigkeit entlassen werden, wie es im damaligen Sprachgebrauch hieß. Als der französische Präsident Charles de Gaulle diese Entscheidung verkündet, schließen sich französische Armeeangehörige zur Organisation de l’armée secrète (OAS), einer terroristischen Untergrundorganisation, zusammen. Die OAS verübt nicht nur Anschläge auf Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre, sondern auch auf de Gaulle, der ja selbst General war und von dem sich einige Militärs nun enttäuscht abwenden.

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Philipp Felsch: Es gibt den sehr bekannten Film Der Schakal (1973), der auf dem Roman von Frederick Forsyth The Day of the Jackal (1971) beruht, und genau diese terroristischen Anschlagspläne des OAS auf Charles De Gaulle zum Thema hat. Vielleicht kennen einige von Ihnen diesen Film. Danilo Scholz: Erstaunlich ist, dass diese militärische Terrorgruppe sich mit den Federn der Widerstandsbewegung schmückt. Einige OAS-Mitglieder waren im Zweiten Weltkrieg in der Résistance gegen die deutschen Besatzer aktiv. Für sie war das nur konsequent, gemäß der Losung: einmal Widerstand, immer Widerstand. Doch diese Umsturzbemühungen scheitern. De Gaulle entgeht den Anschlägen, er überlebt und sitzt gefestigter im Sattel denn je. Die Drahtzieher wandern ins Gefängnis, die Verbände, die in Frankreich diese Umtriebe gestützt haben, lösen sich auf. Die klassisch nationale Rechte liegt am Boden. In dem Moment ist vielen klar, es kann nicht mehr das Ziel der Rechten sein, nationale Größe durch die Verteidigung von Kolonien aufrechtzuerhalten. Ein neues Kapitel muss aufgeschlagen werden. Man macht sich an die intellektuelle Arbeit, Mitte der 1960er Jahre ist vor allem die Zeitschrift Europe-Action ein wichtiges Organ. Das ehemalige OAS-Mitglied Dominique Venner – der sich aus Protest gegen die „Islamisierung“ Frankreichs 2013 öffentlichkeitswirksam in der berühmten Kathedrale von Notre Dame umgebracht hat – macht mit Essays wie Pour une critique positive von sich reden. Die Parameter im rechten Spektrum verschieben sich zusehends. Vielleicht sollte ich das etwas detaillierter ausführen? Philipp Felsch: Ja, bitte. Danilo Scholz: Erstens ist anders als bei Maurras’ nationalisme intégral der Nationalstaat nicht mehr der wichtigste Bezugspunkt der rechten Weltanschauung. Zweitens geht es nicht länger darum, dass man jetzt eine revolutionäre Bewegung aus der Taufe hebt und den Umsturz am aktionistischen Reißbrett plant. Das ist eine Konsequenz, die Venner und andere aus dem Ende der OAS ziehen. Drittens bringt sich die Rechte fortan als europäische Kraft in Stellung. So lassen sich einige Wesensmerkmale der Nouvelle Droite zusammenfassen. Philipp Felsch: Darauf kommen wir noch ausführlich zurück. Ich möchte aber zunächst einmal auf einen anderen Punkt näher eingehen, den du angesprochen hast: die Theoriefreudigkeit der Neuen Rechten. Eigentlich würde man ja vermuten, dass sich die Rechte seit dem 19. Jahrhundert immer sehr viel mehr auf ihre Wirklichkeitsnähe und ihren Realitätssinn eingebildet hat, als Gegenmittel gegen die Abstraktionswut der Linken, der Liberalen, der Rousseauianer, die davon ausgehen, dass alle Menschen gleich sind. Man muss sich ja nur in der Welt umschauen, würden Rechte entgegnen, dann sieht man, dass sie nicht gleich sind. Schon im Aussehen unterscheiden sich die Menschen beträchtlich.

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Es gibt einen „Pathos des Realismus“ innerhalb der Rechten, und der ist zunächst einmal theoriefeindlich. Wie kommt es – und das ist eben auch für die Neue Rechte in Deutschland charakteristisch –, dass auch auf der Rechten die Protagonisten plötzlich meinen, sie müssten theoretisch aufrüsten, um der Linken auf Augenhöhe begegnen zu können? Ich glaube, Alain de Benoist, der wohl wichtigste Protagonist der Nouvelle Droite in Frankreich, schreibt ganz explizit, dass die Rechten genauso theorieaffin werden sollten wie die Linken. Im Grunde ist sein Lebenswerk dem Versuch gewidmet, ­dieses Unterfangen umzusetzen. Woher kommt das? Danilo Scholz: Es ist Teil einer Absetzungsstrategie. Wenn es eine intellektuelle Aktivität gab, der sich die alte, nationalistische, katholische, monarchistische Rechte hingegeben hat, dann war das die Literatur. Charles Maurras hat sich als Literaturkritiker hervorgetan, schrieb selbst auch sehr viel. Dem Stil nach war es ein schöngeistiges Schreiben, unterfüttert von einem klassischen Bildungsideal, an dem man sich orientierte. Aber der Theorieproduktion im engeren Sinne ließen sich viele dieser Texte nicht zurechnen. Wenn man sich mit gesellschafts- und sozialwissenschaftlicher ­Theorie beschäftigen wollte, gab es auf der radikalrechten Seite – abgesehen von zwei wichtigen Ausnahmen – relativ wenig zu holen. Louis de Bonald und Joseph de Maistre waren, in der treffenden Formulierung Walter ­Benjamins, Philosoph und Staatswissenschaftler der französischen Reaktion. Über d ­ ieses Erbe wollte die Neue Rechte jedoch hinauswachsen. Nach dem Ende des Algerienkrieges scheute sich Alain de Benoist nicht, die intellektuelle Dürftigkeit auf rechten Veranstaltungen und in rechten Organisationen anzuprangern. Nicht wenige ideologisch Gleichgesinnte kamen ihm unglaublich hohl vor, ihr Interesse an ­Theorie ging gegen null. Er beneidete die Linke ganz offen um ihre Fähigkeit zur Theoriebildung. Was übrigens nicht mit einer Abkehr von der Wirklichkeit gleichzusetzen ist: ­Theorie sollte ja Werkzeuge an die Hand geben, um der Wirklichkeit Herr zu werden. Alain de Benoist, geboren 1943, studierte Literatur und Jura an der Sorbonne in Paris. Einen Abschluss machte er, glaube ich, nicht, aber dafür absolvierte er ein imposantes Lesepensum. Man muss sich den jungen de Benoist als an Philosophie interessierten rechtsradikalen Bücherwurm vorstellen. Immer wieder spornt er seine Mitstreiter an, sie mögen intellektuell einiges nachholen, um politisch aufzuholen. Der Blick nach links liegt daher im rechten Interesse. Philipp Felsch: Diese Neugier ist auch dem Zeitgeist der 1960er Jahre geschuldet. In der Ideen- und Geistesgeschichte der Linken hat sich der Begriff des „Westlichen Marxismus“ etabliert, der durchaus eine kritische Absicht mit Blick auf das eigene Lager verfolgt. Perry Anderson, ein britischer Marxist und Sozialhistoriker, verwendet ihn auch, um zum Ausdruck zu bringen, dass sich die europäische Linke spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg

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in die luftigen Höhen der ­Theorie verabschiedet hat. Er nimmt sich mit seiner Bewunderung für Louis Althusser davon auch nicht aus. Viele ’68er und Vertreter der Neuen Linken unterscheiden sich eben nicht zuletzt durch ihren Theorieeinsatz von der alten Linken. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund in Deutschland spaltet sich von der SPD ab und setzt dann ganz dezidiert auf ­Theorie. Vielleicht, so könnte man einfügen, hat die SPD schon damals den Kontakt zu einer jüngeren Generation von Intellektuellen verloren, den sie jetzt wieder zu knüpfen versucht. Auf vielen anderen gesellschaftlichen und kulturellen Feldern lässt sich ein Zug in die Abstraktion beobachten, so in der Malerei und im Nouveau Roman. Das Misstrauen ist groß gegenüber vermeintlich unmittelbaren Zugängen zur Wirklichkeit und zu politischem Handeln. Färbt dieser Hang zur Abstraktion nicht auch auf die Neue Rechte und speziell Alain de Benoist ab? Die intellektuelle Aufrüstung passt einfach sehr gut in die Zeit. Danilo Scholz: Auf beiden Seiten des politischen Spektrums lässt sich der Wille nachweisen, die Wirklichkeit nicht als Rohmaterial auf die handelnden Subjekte einwirken zu lassen. Empirie wird in jenen Jahren zu einem Schimpfwort. Empirisch arbeiten nur Leute, die ­Theorie nicht verstanden haben. An dieser Bewegung hat Alain de Benoist sicher Teil, ganz Frankreich befindet sich im Theoriefieber. Das hat auch institutionelle Gründe: Der universitäre Betrieb expandiert rasant. Die sogenannten sciences humaines – Linguistik, Soziologie, Ethnologie, Philosophie, Geschichte – werden über die eigenen Landesgrenzen hinaus tonangebend. Frankreich schwingt sich zur führenden Kraft in der globalen Theorieproduktion auf. Auch im Ausland geht Denkern wie Jean-Paul Sartre, Claude Lévi-Strauss, Jacques Derrida und Gilles Deleuze ein illustrer Ruf voraus. Das intellektuelle Hoch, das sich zum „langen Sommer der ­Theorie“ auswächst – so dein treffender Buchtitel –, beeindruckt die Neue Rechte nachhaltig. Philipp Felsch: Frankreich ist in den 1960er Jahren zur führenden Theorieexportnation geworden, und zwar nicht nur was die Neue Linke, sondern auch, was die Neue Rechte angeht. Eine Frage, der ich gern nachgehen würde, betrifft ein Paradox, dem wir immer wieder begegnen, wenn über neurechtes Denken gesprochen wird. Auf der einen Seite unterstellt man diesen Theorien, sie s­ eien fadenscheinig, mühsam zusammengezimmert, läppisch. Dem Vergleich zum Komplexitätsgrad linker Theorien – etwa aus der Theoriefamilie des Marxismus – halten sie nicht Stand. Es mangelt an logischer Konsistenz. Letztlich, so der Vorwurf, ist das alles armselig. Zugleich hören wir aber immer wieder die Einschätzung, diese Theorien ­seien brandgefährlich. Im Prinzip widersprechen sich diese beiden Charakterisierungen, denn wenn ­dieses Denken so armselig ist, wie kann es dann gefährlich sein? Wenn es gefährlich ist, wie kann es dann so armselig sein? Wie siehst du das in Bezug auf die Nouvelle Droite und Alain de Benoist?

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Danilo Scholz: Auch das Bohren dünner Bretter kann schwerwiegende Konsequenzen haben. Ich würde mich aber gegen eine Containertheorie der Ideologie verwahren, also gegen die Vorstellung, Individuen sind Behältnisse, die man davor s­chützen muss, mit bedenklichen Inhalten gefüllt zu werden. Das Menschenbild, das hinter dieser Vorstellung steht, ist ziemlich fragwürdig. Je dümmer die ­Theorie, desto eher laufen die Leute ihr nach? Ein so herablassendes Bild der Wirksamkeit von Ideen in weiten Bevölkerungsschichten überzeugt mich nicht. Im Nachgang würde ich dann aber schon differenzieren wollen ­zwischen der theoretischen Flughöhe von jemandem wie Alain de Benoist – dessen Diskurs elitäre Züge trägt – und anderen reaktionären Denkern im gegenwärtigen Frankreich, auf die wir s­ päter noch zurückkommen werden, die durch radikale Vereinfachung punkten und dadurch eine orientierende Schneise durch das Chaos der Gegenwart schlagen. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass Alain de Benoist großen Wert darauf legt, nicht allzu einseitig politisch vereinnahmt zu werden. Philipp Felsch: Halten wir fest: Die französische Nouvelle Droite hat so etwas wie eine moderne theorieaffine Rechte überhaupt erst erfunden. Das Schlagwort, das an der Stelle immer wieder fällt, um sich selbst zu charakterisieren, lautet „Metapolitik“. Was steckt ­hinter ­diesem Begriff ? Danilo Scholz: Metapolitik, wenn man es auf der grundlegenden Ebene verhandeln möchte, heißt: Bevor man sich irgendwelchen Planspielen überlässt, wie man die politische Macht übernimmt und die Apparate an sich reißt, gilt es, die Debattenhoheit zu erlangen, im öffentlich geführten Streit Wegmarken zu setzen, Begriffe zu besetzen und umzudeuten. Bevor man Politik macht – als Mitglied einer Partei oder sozialen Bewegung –, muss man den Rahmen prägen, in dem sie stattfindet. Durch intellektuelle Arbeit werden Themenfelder beackert, auf denen die politische Saat aufgeht. Das ist das Ziel, das sich die Metapolitik setzt. Philipp Felsch: Langfristig geht es aber schon darum, radikale politische Veränderungen herbeizuführen. Danilo Scholz: Ja. Wer die Parameter von Debatten und Begriffen verschiebt, öffnet (oder schließt) politische Möglichkeitsräume. Denn politisches Handeln ist immer begrifflich und sprachlich eingefasst. Verleiht man Begriffen eine neue Bedeutung, verändern sich auch die politischen Optionen, die sich aus diesen Konzepten ergeben. Philipp Felsch: Nun ist diese Idee des – so würde man heute sagen – Framing oder der Metapolitik ihrem Ursprung nach eine linke Idee. Im Marxismus sprach man von der kulturellen

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Hegemonie. Alain de Benoist macht keinen Hehl daraus, dass er sich in der konzeptuellen Werkzeugkiste der Linken bedient, um diese neue Strategie des metapolitischen Handelns zu begründen. Danilo Scholz: Dabei handelt es sich um einen der bekannteren Schachzüge der Neuen Rechten: Sie greift die Hegemonietheorie des italienischen Marxisten Antonio Gramsci auf, seit Mitte der 1970er Jahre eine wichtige Referenz in Alain de Benoists Schriften und der Zeitschrift, die er leitet, Nouvelle École. In den 1920er Jahren saß Gramsci im faschistischen Italien Mussolinis jahrelang im Gefängnis. In den Aufzeichnungen, die er dort anfertigt – seinen sogenannten Gefängnisheften –, entwickelt er die Idee, dass eine marxistische Bewegung, will sie Verhältnisse grundlegend ändern, nicht nur die Ökonomie im Auge haben darf. Die nachhaltige Umwälzung der Produktionsverhältnisse bedarf der kulturellen Arbeit, um auch Gruppen jenseits des Proletariats vom kommunistischen Projekt zu überzeugen. Kompromisse sind unabdinglich, um die Köpfe und Herzen der Menschen für den Marxismus zu gewinnen. Was im orthodoxen Marxismus als bloßer Überbau abgetan wurde, entpuppt sich bei Gramsci als eines der wichtigsten politischen Schlachtfelder: die Ideologie. Sie ist mehr als nur ein Neben- oder Abfallprodukt der wirtschaftlichen Verhältnisse. Sie ist das Rad, an dem man drehen muss, um das revolutionäre Programm zu verwirklichen. Philipp Felsch: Gramscis politische Ausgangsfrage war ja, warum sich im Gegensatz zu Russland in Westeuropa keine Revolution ereignete. Das hatte in seinen Augen mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und den staatlichen Institutionen zu tun. In Schulen, Universitäten oder Zeitungen werden Fakten geschaffen, die sich nicht einfach ignorieren lassen. Zugleich räumt Gramsci den Intellektuellen – den „organischen Intellektuellen“, wie er sagen würde – enorme Macht ein. Gramsci untermauert und bekräftigt also den Glauben an die Macht der Ideen und die theoretische und ideologische Arbeit von Intellektuellen. Und dieser Glaube lebt in der Neuen Rechten bis heute fort. Danilo Scholz: Das erklärt auch, warum Gramscis Werk bei Alain de Benoist auf fruchtbaren Boden fiel: Die Ideen des italienischen Marxisten hatten etwas Befreiendes. De Benoist war froh, sich von der geistig rückständigen, oft an militärische oder katholische Milieus geketteten Rechten zu lösen. Ab 1968/1969 nutzt de Benoist den Theoriezirkel GRECE (Groupement de recherche et d’études pour la civilisation européenne) als Forum für seine Aktivitäten, dazu kommt die bereits erwähnte Zeitschrift Nouvelle École, die im gleichen Zeitraum gegründet wird. Vielleicht lohnt es, sich ein paar konkrete Aspekte dieser metapolitischen Theorieproduktion anzusehen. Die europäische Zivilisation, die der GRECE im Namen trägt, erfüllt nicht nur eine Feigenblattfunktion. Bei de Benoist geht der Sprung auf

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die europäische Ebene einher mit einem distanzierten Verhältnis zur christlichen Tradition, auf die sich klassische Rechte damals wie heute gern berufen. De Benoist klinkt sich in aktuelle Forschungsdebatten ein und legt eine andere Traditionslinie frei. Die Indoeuropäer haben es ihm besonders angetan. Für den vergleichenden Religionswissenschaftler Georges Dumézil waren die Indoeuropäer vor allem eine linguistische Gruppe, der gemeinsame Vorläufer nicht nur europäischer, sondern auch asiatischer Sprachen, deren Einfluss sich bis nach Indien in die vedischen Schriften nachverfolgen lässt. Das alles, so könnte man denken, war höchstens für Spezialisten von Belang. Weit gefehlt: Dumézils Arbeiten wurden in der breiten französischen Öffentlichkeit rezipiert, insbesondere im konservativen Spektrum. Es war gerade die archaische Gestalt der Indoeuropäer, die sie so verführerisch machte. Wer sich auf die Indoeuropäer bezieht, geht noch vor das Christentum zurück, kann sich die Auseinandersetzung mit den abrahamitischen Religionen und damit auch mit dem Judentum sparen. Dieser Blick auf die alte Geschichte ist von Spuren der monotheistischen Religionen gesäubert. Vor ­diesem Hintergrund ist das Neuheidentum der Neuen Rechten zu verstehen. Philipp Felsch: Warum ist diese Betonung des paganen Elements eigentlich so wichtig? Geht es da um die Abgrenzung von den katholischen Reaktionären des 19. Jahrhunderts? ­ irche in Frankreich Danilo Scholz: Sicher hat das etwas mit der Präsenz der katholischen K zu tun. Ein anderes Motiv, das hinter d ­ iesem mutwilligen Verzicht auf die jüdisch-christliche Referenz steht, ist aber geschichtspolitischer Natur. Verfolgt man den Werdegang einiger Vertreter der Neuen Rechten bis in die 1970er und 1980er Jahre weiter, sieht man, wohin dieser Weg führen kann. Einige werden zu Holocaust-Leugnern, für sie ist die indoeuropäische Schwärmerei nur eine Verpackung für antisemitische Ressentiments. Indem der jüdisch-christliche Einfluss aus der vorgestellten eigenen Herkunftslinie getilgt wird, nimmt die europäische Geschichte eine andere Gestalt an. Man duckt sich vor der Auseinandersetzung mit der Shoah weg und wähnt sich zugleich befreit vom christlichen Glauben – der übrigens dann nicht nur als kirchlich institutionalisierter hierarchischer Glaube gedacht wird, sondern eher nietzscheanisch als „Herdenglauben“, als Zufluchtsort der Schwachen, die auf Barmherzigkeit hoffen. Ein anderer Faktor ist, dass im Frankreich der 1950er und 1960er Jahre eine Spielart des Okkultismus um sich greift, eine Mischung aus Stahlhelm und Erich von Däniken, aus der sich eine verkaufsstarke neurechte Esoterikliteratur entwickelt. Zu nennen wäre da Louis Pauwels, daneben gibt es Zeitschriften, in denen eifrig Atlantisforschung betrieben wird und nach Thule (und anderen untergegangene Kulturen) gesucht wird. In diesen Publikationen verwandeln sich die Indoeuropäer, die bei Dumézil vor allem eine hypothetische Existenz als Sprachgruppe führten, zu einem historischen Volksverband. Die Indoeuropäer

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als Leute wie du und ich. Die Leser steigern sich in die Abenteuer ihrer fantastischen Vorfahren hinein und fiebern mit den todesmutigen indoeuropäischen Kriegern mit. Ganz so plump geht es bei Alain de Benoist nicht zu, aber er nimmt sich des indoeuropäischen Themas nur allzu gerne an. Philipp Felsch: Das klingt in der Tat recht fadenscheinig. Du hast Georges Dumézil erwähnt, ein Akademiker, ein Mythen- und Sprachforscher, der auch für andere Denker wie Michel Foucault ganz wichtig gewesen ist. Die Nouvelle Droite zeichnet sich ja dadurch aus, dass sie unablässig Diskurse und Debatten aus der akademischen französischen Welt der 1960er und 1970er Jahre aufsaugt und begeistert die „Modewissenschaften“ der Zeit rezipiert, darunter auch die Ethnologie. Ich möchte jetzt noch über einen zweiten, ganz wichtigen Begriff – und vielleicht sogar Markenkern – der Nouvelle Droite sprechen, der auch bei der Neuen Rechten in Deutschland hoch im Kurs steht, nämlich den „Ethnopluralismus“. Danilo Scholz: Zunächst noch ein Wort zu Dumézil, weil sich an seinem Fall nachvollziehen lässt, wie ein erfolgreicher Vereinnahmungsversuch aussieht. Die Zeitschrift Nouvelle École, das eigentliche Flaggschiff der Neuen Rechten, widmet Dumézil 1972 einen Themenschwerpunkt. Der hat damals schon seinen festen Platz im Olymp des französischen akademischen Lebens, dem Collège de France. Mit der Macht eines Lehrstuhls ausgestattet, verhalf Dumézil dann übrigens auch Foucault zu einer Professur am Collège de France. Kurzum: Der Name Dumézil verhieß ungeahntes Prestige. Es war folglich ein PR-Coup, als es der Nouvelle École gelang, Dumézil ins Boot zu holen und ihn zur Mitgliedschaft im Redaktionsbeirat zu bewegen. Für das Themenheft zu den Indoeuropäern konnte die Zeitschrift durchaus respektable Wissenschaftler gewinnen, deren Beiträge neben Texten von rechtsextremen Denkern erschienen. Im Heft findet sich auch ein Interview mit Dumézil, der das Gespräch zur Veröffentlichung freigibt, sich dann aber kurze Zeit s­ päter aus dem Redaktionsbeirat von Nouvelle École zurückzieht. Dumézil selbst stand in den 1930er Jahren der Action française nahe, gab s­ päter zu Protokoll, diese Vergangenheit hinter sich gelassen zu haben. Dennoch warfen linke Historiker in Frankreich und Italien – Carlo Ginzburg ist einer von ihnen – Dumézil vor, Bestandteile des faschistischen Denkens hätten sich zumindest in seinen frühen Texten niedergeschlagen. Um die Beweisführung einmal etwas zu veranschaulichen: Dumézil befasste sich immer wieder mit nordischer Mythologie und der Rolle der Kriegerkaste. Die Gruppe der Berserkir – heute kennen wir den Begriff des Berserkers – vergleicht Dumézil in Mythes et dieux des Germains (1939) mit den paramilitärischen Organisationen in Nazideutschland. Was ­seien SA und SS anderes als eine zeitgenössische Neuauflage nordischer Krieger? Solche Passagen belasteten Dumézils Reputation nachhaltig. Noch verwickelter ist die Geschichte des Ethnopluralismus – der Begriff wird oft dem Vordenker der Neuen Rechten und Publizisten Henning Eichbach zugeschrieben, aber

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eine der Überlegungen, die ihm zugrunde liegt, hatte ihren Ursprung in der französischen Linken. Unter der Schirmherrschaft von Claude Lévi-Strauss brachen talentierte französische Ethnologen in den 1960er Jahren zu Feldforschungen nach Südamerika auf. Viele von ihnen waren ’68 in Paris zur Stelle, besetzten die Sorbonne und ließen ihre ethnografische Arbeit mit indigenen Volksgruppen in das Protestvokabular der französischen Studenten einfließen. Pierre Clastres ist bis heute der bekannteste aus ­diesem Kreis libertärer Anarchisten, die staatslose indigene Gesellschaften studierten, um sich aus dem Würgegriff des übermächtigen französischen Staatsapparates zu befreien. Zugleich setzte sich Clastres für den Schutz indigener Lebensformen ein, denn in Brasilien gab es staatliche Mordkam­ pagnen gegen Indios. Provokanter, um nicht zu sagen virulenter, war in jenen Jahren aber Clastres’ Kollege Robert Jaulin, der den Begriff „Ethnozid“ prägte. Der Ethnozid ist anders als der Genozid kein gezielter Mord an einer Volksgruppe, sondern an einer kulturellen Lebensform. J­ aulin sah eine erbarmungslose Logik am Werk: Je mehr sich indigene Gruppen in Südamerika dem Kontakt mit den sie umgebenden Staats- und Wirtschaftsformen öffnen, desto schneller gehen diese Gesellschaften zu Grunde. Die Moderne bringt in ihrem Schlepptau Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und die Zerstörung traditioneller Lebensformen. Angesichts dieser Gefahr zog Jaulin einen radikalen Schluss: Diese indigenen Gruppen können nur bestehen, wenn sie sich absondern, um den schädlichen Einfluss des westlichen Lebensstils auf Abstand zu halten. Ohne Segregation kein Überleben. Im Laufe der 1970er Jahre wird ­dieses eigentlich von der radikalen Linken verfochtene Thema zunehmend von der Neuen Rechten aufgegriffen. De Benoist zitiert Robert ­Jaulin mehr als einmal, oft zustimmend. Allerdings verkehrt sich die Perspektive. Nicht nur im Amazonasbecken, sondern mitten in Europa sind die überlieferten Lebensformen der angestammten Bevölkerung bedroht. Der auf rechts gewendete Ethnopluralismus besagt, dass kein Volk mehr wert ist als ein anderes. Aber um den Schutz der eigenen Kultur zu gewährleisten, sei es erforderlich, den nötigen Abstand zu anderen zu respektieren und die ethnische Durchmischung zu vermeiden. Volker Weiß hat aufgezeigt, welch steile Karriere die Idee des Ethnopluralismus bei der Neuen Rechten in Deutschland hingelegt hat. Niemand will Nazi sein und plötzlich setzen sich alle für Kulturreservate ein. Philipp Felsch: Der Begriff wird verwendet, um deutlich zu machen, dass man nicht in rassistischen Kategorien denkt. Wer Ethnopluralist ist – so der strategische Hintergedanke dieser Argumentation –, kann kein Rassist sein. Danilo Scholz: An der Stelle zeigt sich einmal mehr die ideologische Gewandtheit von Alain de Benoist, der sich in seinen Interviews der 1970er und 1980er Jahre als Fürsprecher des Antirassismus geriert.

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Philipp Felsch: Er solidarisiert sich zum Beispiel mit den Black Panthers in den USA, mit der dortigen radikalen schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Danilo Scholz: De Benoist zufolge sollten Neue Rechte an vorderster Front gegen ethnische Diskriminierung kämpfen. Klassische Rassisten kanzelt er als „rassophob“ ab. Darunter versteht er jemanden, der andere Ethnien als minderwertig betrachtet und dementsprechend behandelt. Sich selbst hingegen bezeichnet de Benoist als „rassophil“. Er habe mit keiner Ethnie ein Problem. Keine Volksgruppe sei einer anderen überlegen, jede hat ihren unhintergehbaren Eigenwert und verdiene gerade in ihrer Verschiedenheit Respekt. Das ist die berüchtigte kulturelle Differenz. Zugespitzt formuliert könnte man sagen, die französische Neue Rechte versteht sich als Speerspitze der ethnischen diversity. Die Existenz kollektiver kultureller Unterschiede sollte zelebriert und Differenzen nicht geleugnet werden. Zwar könne keine Kultur einen Vorrang für sich reklamieren, aber Unterschiede bestehen zweifellos, so de Benoist. Hier versucht sich das neurechte Denken einen Weg aus dem biologisch überformten Rassismus zu bahnen und faschistischen Ballast abzuwerfen. Was bleibt, ist die Tatsachenbehauptung ethnokultureller Unterschiede, die mehr als nur Konstrukte ­seien, gerade im Verhältnis der Kulturen zueinander hervortreten und für sich die normative Kraft des Faktischen beanspruchen können. Die Rassenhierarchie macht somit einem kulturellen Differenzdenken Platz. Philipp Felsch: Das klingt ja fast so, als wäre die Neue Rechte multikulturalistisch eingestellt. Danilo Scholz: Unter der entscheidenden Voraussetzung, dass Hybridisierungen und „Kreolisierungen“ Einhalt geboten wird. Nicht minder verstörend ist, dass de Benoist sich als Vertreter der Differenzphilosophie in Szene setzt. Auch hier haben wir es wieder mit einem Akt entwendender Aneignung zu tun: Schon in den 1960er Jahren zitiert de Benoist Gilles Deleuze, zu einer Zeit, da andere von dem Philosophen noch nie gehört haben. Was die Black Panthers angeht, hat der imaginierte Schulterschluss mit ihnen natürlich einen gewaltigen Haken. Über die historische Unterdrückungssituation der schwarzen Bevölkerung verliert de Benoist nämlich nur wenige Worte. Dabei sind die Black Panthers kein Verein zur Verwaltung eines kulturellen Erbes wie jeder andere, sondern nur aus der Geschichte der Sklaverei in den Vereinigten Staaten heraus zu verstehen. Philipp Felsch: Aber ist das nicht das ­gleiche Denkmuster, das sich bei jemandem wie Richard Spencer findet, einem „White Supremacist“ und führendem Kopf der Alt-RightBewegung in den USA? Spencer bezeichnet sich als „weißen Zionisten“. In einer Diskussion mit einem amerikanischen Rabbiner sagte er, dass er sich in den USA für die Einführung dessen einsetze, was es in Israel für Juden längst gibt: eine Heimstätte – nur eben für weiße, sogenannte kaukasische Amerikaner.

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Danilo Scholz: Im Gegensatz zu Spencer, der im Präsidentschaftswahlkampf 2016 für Trump trommelte, lässt sich de Benoist allerdings nicht ganz so einfach einer politischen Parteiung zuordnen. Als parteipolitische Heimat der Neuen Rechten würde man den Front National vermuten. Doch zur Partei Le Pens geht de Benoist auf Distanz. Die Angst vor Überfremdung, die Xenophobie, die Islamophobie – all das hält er für idiotisch. Es gibt ein Interview aus dem Jahr 1992, in dem er den Front National und dessen Gebrauch des Begriffs Ethnopluralismus scharf attackiert. Sich hinzustellen und zu sagen, die Übel der gegenwärtigen französischen Gesellschaft wurzeln ausschließlich im Phänomen der Masseneinwanderung – für de Benoist war das eine intellektuell und politisch äußerst dürftige Analyse. De Benoist ist sicher ein Vordenker der Neuen Rechten, aber er taugt nur sehr bedingt als compagnon de route rechtsextremer Parteien. Dafür ist er zu unberechenbar. Philipp Felsch: Ich habe den Eindruck, in den letzten Jahren hat man relativ wenig von Alain de Benoist gehört. Er war in den 1970er und 1980er Jahren viel präsenter in den französischen Debatten. Äußert sich de Benoist zur Tagespolitik? Danilo Scholz: Gelegentlich, aber dein Eindruck ist sicher richtig. Die Gramsci-Strategie trug in den späten 1970er Jahren seltsame Früchte. Der zuvor bereits erwähnte Louis Pauwels rief 1978 die Magazinbeilage des Figaro ins Leben, einer ehrwürdigen konservativen Zeitung, die zu dem Zeitpunkt bereits auf eine mehr als 150-jährige Geschichte zurückblicken konnte. Plötzlich saß Pauwels, der ab 1970 zum Umfeld der GRECE-Zeitschrift Nouvelle École gehörte, an einer der wichtigsten Schaltstellen im französischen Journalismus. Aus dem Figaro Magazine machte er immer wieder eine Tribüne für neurechte Stimmen. Wenn es in Frankreich hieß, die Nouvelle Droite sei salonfähig geworden, war damit zumeist der Brückenkopf beim Figaro gemeint. 1978 erhält de Benoist für seinen Essayband Vu de droite einen prestigeträchtigen Literaturpreis der Académie française. Daraufhin wird auch ihm angeboten, als Kolumnist beim Figaro Magazine einzusteigen. Die Strategie der kulturellen Unterwanderung schien aufzugehen. Kurz darauf formierte sich allerdings Widerstand, nicht zuletzt von Historikern. Das Experiment beim Figaro war so schnell zu Ende, wie es begann. Diese Erfahrung geht nicht spurlos an de Benoist vorüber. 1988 gründet er die Zeitschrift Krisis, die sich vom Label Nouvelle Droite lossagt. Dort publiziert neben dem Linksgaullisten Régis Debray – einst Kampfgenosse von Che Guevara, in mancher Hinsicht also ein französischer Günter Maschke – auch Jean Baudrillard. Krisis versteht sich als Sammelbecken für heterodoxe Denker jenseits der politischen Lageraufteilung. Seitdem ist es etwas ruhiger um de Benoist geworden. Philipp Felsch: Alain de Benoist kann zumindest in den letzten Jahren also nicht mehr zu den Starautoren der Neuen Rechten gerechnet werden. Andere verschaffen sich inzwischen

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mehr Gehör: Der Attentäter von Christchurch in Neuseeland kreist in seinem Manifest um die Vorstellung eines „Great Replacement“. Auch diese Idee kam in Frankreich auf. Danilo Scholz: Renaud Camus, der übrigens Schüler von Roland Barthes war und ’68 Barrikaden errichtete, hat 2011 eine Essaysammlung unter dem Titel Le Grand Remplacement veröffentlicht, was oft als „großer Bevölkerungsaustausch“ übersetzt wird. Auch der Begriff der „Umvolkung“ hat sich im Sprachgebrauch festgesetzt. Ins Deutsche übertragen wurde das Buch von Martin Lichtmesz, der der Identitären Bewegung nahesteht. Camus’ Thesen verbreiteten sich in Deutschland im Zuge der Migrationskrise. Zum einen geht Camus ähnlich wie Sarrazin davon aus, dass es in migrantischen Milieus höhere Geburtenraten gibt, was unweigerlich eine „Verdrängung“ der autochthonen Bevölkerungsgruppen nach sich ziehe. Dazu kommt der verschwörungstheoretische Aspekt dieser Vorstellung. Der Bevölkerungsaustausch, so wird nämlich behauptet, werde aktiv von Eliten in Politik und Wirtschaft betrieben. Ziel sei die Vorherrschaft eines Menschentyps, der keine Wurzeln mehr hat, keine Kultur, der nirgendwo zu Hause ist. Für das, was ich nur zögernd überhaupt als ­Theorie bezeichnen würde, kann Camus aber nicht einmal die Urheberschaft beanspruchen. Diese Angst vor Austausch und Verdrängung bricht sich bereits im 19. Jahrhundert Bahn. Sie ist nicht zuletzt das Ergebnis kolonialer Paranoia. So konnten Historiker aufzeigen, dass weiße Siedler auf den französischen Antillen die Idee umtrieb, die lokale dunkelhäutige Bevölkerung hecke Pläne aus, sie von der Insel zu vertreiben. „Eviktionismus“ war die Formel, die man damals dafür fand. Camus liefert nun das Update. So lang sind die Schatten, die der europäische Imperialismus wirft. Seit dem Attentat von Christchurch im März 2019 scheint die Vorstellung des großen Austauschs diskreditiert. In Frankreich gedieh sie zuvor jedoch prächtig. Robert Ménard, der rechte Bürgermeister der südfranzösischen Stadt Béziers, hantierte mehr als einmal mit dem Begriff. Auch der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy meinte 2016, zu den Aufgaben der kommenden Generation europäischer Politiker gehöre es, die Sorge ernst zu nehmen, dass Weiße in Europa zur Minderheit werden. Der Begriff war also weit in die konservative Mitte der Gesellschaft vorgedrungen. Philipp Felsch: Es gäbe noch so viele Aspekte, über die zu sprechen sich lohnen würde. Wir müssten diese Erfahrung des Kolonialismus diskutieren und die Dekolonialisierung thema­ tisieren. Der Algerienkrieg war ja eine Art Urszene mit unabsehbaren philosophischen Folgen. Die berühmten französischen Denker, die wir alle kennen – Deleuze, Foucault – haben ein Denken der Differenz entwickelt, was nicht zuletzt auch mittelbar oder unmittelbar in dieser Erfahrung des Kolonialismus und seines blutigen Endes wurzelt. Und nun hast du eben noch einen Bogen geschlagen, der ins 19. Jahrhundert auf die Antillen führt. All diese ­Themen und viele andere mehr gilt es aufzunehmen und weiterzudenken, was wir an dieser

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Stelle leider nicht tun können. Ich möchte jetzt nur noch eine Abschlussfrage für unser Gespräch stellen: Wenn du so etwas wie einen Markenkern der französischen Nouvelle Droite formulieren solltest, was wäre er? Danilo Scholz: Ich würde sagen, es ist die Idee ethnokultureller Differenz, eines globalen „Unter-sich-Seins“, die auch Versatzstücke antikapitalistischer Ideologien in sich aufnimmt. Philipp Felsch: Die Stoßrichtung ist klar: gegen Zirkulationsströme von Kapital und Menschen. Danilo Scholz: Gegen das, was in Frankreich mitunter als „Disneyisierung“ gebrandmarkt wird, gegen die Amerikanisierung der Welt. Der Bezugsrahmen kultureller Zugehörigkeit ist jedoch nicht unbedingt der Nationalstaat. Das können Regionen sein, aber eben auch Europa oder das Abendland. Philipp Felsch: „Globales Unter-sich-Bleiben“, das finde ich einen sehr interessanten Begriff, der auch von Ihrer Seite, meine Damen und Herren, vielleicht Rückfragen provoziert. Danilo, vielen herzlichen Dank für d ­ ieses interessante Gespräch. Danilo Scholz: Danke für die Einladung.

Johannes Schütz

Neue Rechte – Eine geschichtswissenschaftliche Vermessung von Begriffsfeldern und Diskursräumen

1. Einleitung Der Begriff ‚Neue Rechte‘ ist allgegenwärtig: Er bevölkert journalistische Reportagen, dient zuweilen als politische Schmähung oder wird zur affirmativen Selbstbeschreibung verwendet. Damit geht zumeist die Feststellung einher, dass sich in den letzten Jahren ungeahnte Resonanzräume für radikalnationalistische Sprech- und Praxisformen eröffnet hätten und bisher – zumindest der Öffentlichkeit – unbekannte Akteure auf den Plan getreten s­ eien, die erneut die Systemfrage von rechts stellten. Dabei lässt sich jedoch eine Reihe rechtsextremer Politikentwürfe seit 1945 aufzählen, die in bestimmten Wellen – genauer: Aufmerksamkeitsschüben – als neurechte benannt wurden.1 Getragen wurden diese Politikkonzepte und Praktiken von Parteien, Gruppen oder klandestinen Zirkeln; zur Beschreibung dieser Akteure wurde der Begriff Neue Rechte eingeführt und immer wieder aktualisiert. Jedoch ist die Verwendung alles andere als eindeutig und eher schillernd. Das mag auch daran liegen, dass es bisher keine einheitliche Definition gibt.2 Ein erster, oberflächlicher Blick in die Begriffsgeschichte zeigt, dass er zuerst ein wichtiges Inszenierungsmoment für rechte Akteure selbst darstellte: Mit der Akklamation einer Neuen Rechten ließen sich Schranken und Distanzen zu denen aufbauen, die dann als alte Rechte apostrophiert wurden. Anschließend übernahmen Wissenschaftler und Reporterinnen, Geheimdienstmitarbeiter und Polizistinnen die Begrifflichkeiten, um die Akteure zu beschreiben und zu analysieren. Die Wissenschaft wurde damit selbst zu einem Diskursakteur, der mit der Bezeichnung und begrifflichen Einhegung der rechten Akteure gesellschaftlich wirksame Sprechweisen prägte. 1 Gideon Botsch 2016: ‚Nationale Opposition‘ in der demokratischen Gesellschaft. Zur Geschichte der extre­men Rechten in der Bundesrepublik Deutschland. In: Fabian Virchow, Martin Langebach, ­Alexander Häusler (Hg.): Handbuch Rechtsextremismus. Springer: Wiesbaden, 43 – 82; Volker Weiß 2017: Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes. Klett-Cotta: Stuttgart. 2 Vgl. zur Begriffsgeschichte im Überblick: Martin Langebach, Jan Raabe 2016: Die ‚Neue Rechte‘ in der Bundesrepublik Deutschland. In: Fabian Virchow, Martin Langebach, Alexander Häusler (Hg.): Handbuch Rechtsextremismus. Springer: Wiesbaden, 561 – 592; Samuel Salzborn 2017: Angriff der Antidemokraten. Die völkische Rebellion der Neuen Rechten. Juventa: Weinheim, 34 – 40.

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Weil in d ­ iesem Zusammenhang bereits viel und ausführlich zur Neuen Rechten geschrieben worden ist, kann der vorliegende Beitrag keine umfassende Geschichte der Neuen Rechten liefern. Ich verstehe ihn vielmehr als zeithistorischen Versuch, einen geschichtswissenschaftlichen Blick auf das Phänomen zu eröffnen. Bisher gibt es nur wenige historische Arbeiten, die sich mit den vielfältigen Formen des Radikalnationalismus nach 1945 beschäftigen. Die Geschichtswissenschaft hat es überwiegend den gesellschaftsbeobachtenden Wissenschaften überlassen, die politischen Ideen und Gruppen am rechten Rand zu analysieren.3 Jüngst haben jedoch Norbert Frei, Franka Maubach, Christina Morina und Maik Tändler produktiv und eindringlich dargestellt, dass es eine zeitgeschichtliche Analyse rechter Positionen nach 1945 brauche, eine Analyse der Akteure und Praktiken, der Ideologien und Diskurse, der gesellschaftlichen Kontexte und symbolischen Deutungen, und zwar in ihren deutsch-deutschen Beziehungen und Abhängigkeiten. Es bedarf also einer Geschichte, die die bundesrepu­ blikanischen Traditionen „nationaler Opposition“ untersucht und mit den Umgangs- und Aneignungsformen nationalistischer, völkischer und autoritärer Weltdeutungen in der DDR parallelisiert. Es bedarf einer Geschichte, die zeigt, dass erst die spezifischen Veränderungen durch die Vereinigung beider deutscher Staaten 1990 die Bedingungen dafür schufen, dass rechte Ideologen in der neuen Bundesrepublik jenen Zuspruch, jene Resonanz und jene Möglichkeiten vorfanden, die ihren Mobilisierungserfolg bedingten. Erst eine „Analyse, die sowohl die Geschichte der alten Bundesrepublik als auch die der DDR einbezieht, [macht] den Rechtsruck der letzten Jahre als jenes gesamtdeutsche Problem erkennbar, das er ist“.4 Im Anschluss daran ist Bewegung in die Zeitgeschichte gekommen – inzwischen hat sich der Zeithistorische Arbeitskreis extreme Rechte gebildet, der die vielfältigen Wortmeldungen und Forschungsansätze bündelt, um die unterschiedlichen Perspektiven auf den Gegenstand zusammenzuführen, einen institutionellen Rahmen zu schaffen und regelmäßigen Austausch zu ermöglichen. Die zeithistorische Rechtsextremismusforschung steht gerade erst an ihrem Anfang, und sie zieht beachtliche Kreise.5 Ich ordne mich in diesen Kontext ein und wage einen weiteren Vorstoß in Richtung historischer Erforschung der extremen Rechten, indem ich die Geschichte der Begrifflichkeiten 3 Vgl. Yves Müller 2019: „Normalfall“ Neonazi – Oder: Gibt es eine zeithistorische Rechtsextremismus-Forschung? In: Zeitgeschichte-online. Online: https://zeitgeschichte-online.de/themen/normalfall-neonazioder-gibt-es-eine-zeithistorische-rechtsextremismus-forschung [08. 06. 2020]. Als letzte Überblicksdarstellung: Richard Stöss 2010: Rechtsextremismus im Wandel. Friedrich-Ebert-Stiftung: Berlin; Gideon Botsch 2012: Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis heute. Bundeszentrale für politische Bildung: Bonn. Mit Anmerkungen zum Fehlen geschichtswissenschaftlicher Arbeiten: Botsch 2016, 43 – 45. Als Ausnahme mit einem spezifischen Fokus: Weiß 2017. 4 Norbert Frei, Franka Maubach, Christina Morina und Maik Tändler 2019: Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus. Ullstein: Berlin, S. 209. 5 Yves Müller, Dominik Rigoll 2019: Rechtsextremismus als Gegenstand der Zeitgeschichte. In: Zeitgeschichte-Online. Online: https://zeitgeschichte-online.de/themen/rechtsextremismus-als-gegenstandder-zeitgeschichte [08. 06. 2020].

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nachzeichne. Der vorliegende Beitrag richtet daher einen historischen Blick auf das Sprechen von einer Neuen Rechten. Ziel ist es, Gebrauchs- und Verwendungsweisen des Begriffs Neue Rechte nachzuzeichnen. Aber ich verstehe diese Ausführungen nicht als rein begriffsgeschichtliche Analyse, sondern auch als diskursgeschichtlichen Überblick. Die Begriffsgeschichte schließt immer schon auch die Betrachtung der Rahmenbedingungen für die Sprachpraxen mit ein; es geht ihr nie nur um Etymologien, sondern immer darum, „Geschichtlichkeit im Medium von Sprache und Begriffen zu erschließen“.6 Damit lassen sich Überschneidungen ­zwischen Begriffsgeschichte und Diskursanalyse entdecken, die produktiv gewendet werden: Erforscht werden zum einen die politischen, sozialen und kulturellen Kontexte, in denen von der Neuen Rechten die Rede war, zum anderen aber auch die Sagbarkeitsregeln und Machtmechanismen, die das Sprechen von Neuen Rechten und über Neue Rechte bestimmten. Meine Hauptthese ist dabei, dass der eher unspezifische Begriff ‚Neue Rechte‘ in Stellung gebracht wird, wenn Entwicklungen und Bewegungen bei der extremen Rechten diagnostiziert werden, die einen Wandel der Akteure und Netzwerke, Ideologeme und Strategien anzeigen. An dieser Stelle kann dabei nur ein punktueller Zugriff geleistet werden. Aus ­diesem Grund analysiert der vorliegende Text die ersten Absetzungsbewegungen rechter Gruppen in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik. Anschließend wendet er sich der DDR zu und ist vor eine besondere Herausforderung gestellt: Die Neue Rechte kommt hier als Begriff nicht vor, es ist ein dezidiertes Schweigen des Diskurses festzustellen. Also werden die Verleugnung rechter Akteure im Antifaschismusdiskurs mit den eindeutigen Zeugnissen über rechtes Aufbegehren in der DDR kontrastiert. Zum Schluss werden die Entwicklungen nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten betrachtet, die erneut dem Sprechen über die Neue Rechte Konjunktur verliehen.

2. Aktion nach vorne – Die Erfindung der Neuen Rechten in der Bundesrepublik Deutschland Bereits nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur formierte sich in der Bundesrepublik eine „nationale Opposition“, die versuchte, Ideologieelemente, Feindkonstruktionen und Beziehungsnetzwerke der NSDAP zu retten. Diese „nationale Opposition“ durchlebte regelmäßige Metamorphosen, wahrte dabei aber Kontinuitäten, wo sie Brüche betonte. Denn im langen Schatten des historischen Nationalsozialismus konnte sie kaum Brücken zu ihrer 6 Kathrin Kollmeier 2012: Begriffsgeschichte und Historische Semantik, Version: 2.0. In: DocupediaZeitgeschichte. Online: http://docupedia.de/zg/kollmeier_begriffsgeschichte_v2_de_2012 [08. 06. 2020], DOI: http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.257.v2. Vgl. auch: Reinhart Koselleck 2006: Begriffsgeschichten. Suhrkamp: Frankfurt am Main.

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Vorgeschichte bauen und inszenierte daher zumeist einen mal mehr, mal weniger radikalen Bruch – verhalten musste sie sich jedoch immer zum „Dritten Reich“.7 In ­diesem Diskursraum bewegte sich auch die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD). Sie wurde 1964 zu einem guten Teil von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern gegründet, bevölkert und angeleitet. Indem sich die NPD aber als Repräsentantin der alten wie auch der jungen Anhänger des deutschen Nationalismus verstand, konnte sie zahlreiche rechte (Splitter-)Gruppen und kleine Parteien integrieren.8 So konnte die NPD deutlichen Zuspruch verbuchen, erhebliche Wählerstimmen für sich gewinnen und in sieben Länderparlamente einziehen. 1969 verpasste sie nur knapp den Einzug in den Deutschen Bundestag.9 Obwohl sich bereits nach 1949 rechte Parteien gebildeten hatten, war die NPD damit die erste Partei mit einer nachhaltigen Wirkung auf die parlamentarische Arbeit ebenso wie die bundesdeutsche Öffentlichkeit und setzte damit erste Impulse für zahlreiche wissenschaftliche Analysen und Warnrufe: Nun wurde über die Rückkehr der faschistischen Bedrohung debattiert und die mehr oder weniger offensichtlichen Traditionslinien zur NSDAP gezogen.10 Im Zuge dieser Auseinandersetzung war noch nicht von einer Neuen Rechten die Rede – vielmehr wurde die NPD als „neofaschistisch“ 11 charakterisiert und ihr wurde ein „angepaßter Faschismus“ 12 attestiert. Obwohl also in ­diesem Zusammenhang der Begriff Neue Rechte noch keine Verwendung fand, wurde hier bereits der Vergleich mit dem historischen Nationalsozialismus als wichtiger Analyseparameter gesetzt. Unmittelbar mit dieser Entwicklung hängt aber dennoch die Begriffsschöpfung Neue Rechte zusammen. Nachdem die NPD nicht in den deutschen Bundestag eingezogen war, bildete sich aus der Partei heraus eine Gruppe, die sich selbst als Aktion Neue Rechte 7 Botsch 2016, 47 f.; vgl. insgesamt zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus: Norbert Frei 2009: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen. dtv: München. 8 Gideon Botsch 2011: Parteipolitische Kontinuitäten der „Nationalen Opposition“. Von der Deutschen Reichspartei zur Nationaldemokratischen Partei Deutschlands. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59, 113 – 137; Gideon Botsch 2012: Die extreme Rechte in der Bunderepublik Deutschland 1949 bis heute. Bundeszentrale für politische Bildung: Bonn, 50 f. 9 Katharina Behrend 1996: NPD – REP. Die Rolle nationalistischer Bewegungen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland am Beispiel der NPD und der Republikaner im historischen Vergleich. Roderer: Regensburg. Zuletzt: Gideon Botsch 2016, 47 – 52; Frei 2019, 81 – 89. 10 Reinhard Kühnl 1967: Die NPD . Struktur, Programm und Ideologie einer neofaschistischen Partei. ­Suhrkamp: Berlin; Giselher Schmidt 1968: Ideologie und Propaganda der NPD . Bundeszentrale für politische Bildung: Bonn; Christian Bockemühl 1969: Gegen die NPD. Argumente für die Demokratie. Verlag Neue Gesellschaft: Bad Godesberg; Wolfram Dorn 1969: NPD. Neuer Anfang eines furchtbaren Endes? Markus Verlag: Köln; Fred H. Richards 1967: Die NPD. Alternative oder Wiederkehr. Olzog Verlag: München, Wien; Ludwig Müller 1970: Die NPD… im alten Schritt und Tritt. Dr. Wenzel: Duisburg; Hans ­Frederik (Hg.) 1966: NPD – Gefahr von rechts? Verlag Politisches Archiv: München; Hans Maier, Hermann Bott 1968: Die NPD. Struktur und Ideologie einer ‚nationalen Rechtspartei‘. Piper: München. 11 Kühnl 1967: Die NPD. 12 Lutz Niethammer 1969: Angepasster Faschismus. Politische Praxis der NPD. S. Fischer: Frankfurt am Main.

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bezeichnete. Diese Absetzungs- und Abgrenzungsbewegung verlief vor allem entlang generationeller Unterschiede. In der Aktion Neue Rechte bestimmten nicht weiter jene noch im historischen Nationalsozialismus sozialisierten, alten Männer die politische Agenda, sondern die nachfolgende Generation bemühte sich darum, gemeinsame Weltdeutungen in eigene Theorieentwürfe, Kommunikationsstrategien und Aktionsprogramme zu übersetzen.13 Das neue an der Aktion war nun dabei die explizit antiimperialistische Wendung nationaler Gemeinschaftsideen. In ihrer Grundsatzerklärung lassen sich die zentralen Aneignungen „revolutionärer“ Theoreme ablesen: Ziel s­ eien eine nationale Befreiung und ein europäischer Sozialismus; offen proklamierte die Aktion Neue Rechte die nationale Revolution, forderte das Europa der Vaterländer auf, sich in den Kampf gegen Liberalismus und Kapitalismus zu begeben. Der Knotenpunkt ihrer Weltanschauung blieb jedoch gleich: Auch bei ihnen drehte sich alles um das Volk, imaginiert als nationale Gemeinschaft. Diesen Pfad hatte die französischen Nouvelle Droite bereits beschritten und zeitgenössische, antikapitalistische Gesellschaftsdiagnosen – die traditionell der politischen Linken zugeschrieben werden und mit 1968 einen Erinnerungsort erhalten haben – mit ihrer Vorstellung einer nationalen Einheit oder Identität verbunden.14 Die Neuen Rechten in Deutschland ließen sich davon inspirieren und bemühten sich um den theoretischen und performativen Zeitgeist. Sie propagierten nicht mehr die Überlegenheit der ‚arischen Rasse‘, sondern beriefen sich auf die Eigenständigkeit und Eigenart kultureller Identitäten, die gleichwertig und schützenswert s­ eien.15 Prägende Gestalt dieser Neuen Rechten wurde Henning Eichberg, der als Übersetzer des Ethnopluralismus von der französischen Nouvelle Droite in die deutsche Neue Rechte gehandelt wird.16 Aber auch darüber hinaus hat er durch seine theoretischen Überlegungen wesentlich dazu beigetragen, Begriffsbildungen, Sprechakte und Diskursfähigkeiten der nationalen Opposition an zeitgenössische Entwicklungen anschlussfähig zu halten.17 Daneben entstand bereits relativ bald nach Kriegsende eine andere Diskursformation, wie sich rechte Akteure zum Nationalsozialismus verhalten konnten: Sie proklamierten 13 Margret Feit 1987: Die „Neue Rechte“ in der Bundesrepublik. Organisation – Ideologie – Strategie. ­Campus-Verlag: Frankfurt, New York, 42 – 47; Weiß 2017, 29 – 32. 14 Über die Beziehungen zu „‘68“, den Reibungspunkten, Rezeptionsbemühungen und Absetzungsbewegungen ist einiges geschrieben worden: Thomas Wagner 2017: Die Angstmacher, 1968 und die Neuen Rechten. Aufbau: Berlin; Weiß 2017, 27 – 59; Vgl. auch das Gespräch z­ wischen Philipp Felsch und Danilo Scholz in ­diesem Band. 15 Besonders aufschlussreich ist dabei das Manifest der Neuen Rechten, abgedruckt im Jungen Forum, zu finden bei Günter Bartsch 1975: Revolution von rechts? Ideologie und Organisation der Neuen Rechten. Herder Verlag: Freiburg, Basel, Wien, 191 – 199. 16 Zum Verhältnis französischer und deutscher Rechter: Langebach, Raabe 2016, 567 – 571. 17 Vgl. Clemens Heni 2007: Salonfähigkeit der Neuen Rechten. „Nationale Identität“, Antisemitismus und Antiamerikanismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1970 – 2005. Henning Eichberg als Exempel. Tectum: Marburg.

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einen unabhängigen Konservativismus, der eigene Wertvorstellungen und Politikangebote gemacht habe, die sich vom Nationalsozialismus nicht nur abgrenzen ließen, sondern deren Vertreter sich den Nationalsozialisten gar entgegengestellt hätten. Das soufflierte Armin Mohler der bundesdeutschen Öffentlichkeit ebenso wie den nationalen Netzwerken und Publikationszirkeln.18 Er imaginierte die „Konservative Revolution“ als eine nationale und radikalkonservative „Denkschule“, die unabhängig und in Opposition zum Nationalsozialismus bestanden habe. Damit verschaffte er der deutschen Rechten einen positiven Bezugspunkt in der Vergangenheit. Indem er voneinander trennte, was „doch eher durch Nähe und Verwobenheit gekennzeichnet ist“,19 erfand er im Hobsbawm’schen Sinne eine Tradition.20 Auf diese Tradition beruft sich die Neue Rechte. Sie proklamiert eine Linie von den Konservativen Revolutionären zu sich – die Armin Mohler personifiziert, da er sowohl für Carl Schmitt als auch Ernst Jünger arbeitete – und inszeniert damit eine rechte Weltanschauung frei von nationalsozialistischen Verstrickungen und Kontaminationen.21 Diese Behauptungen hat die Rechtsextremismusforschung aufgenommen und detailliert die Bezugslinien und Überschneidungen, ideologischen Verwandtschaften und personellen Verbindungen ­zwischen der „Konservativen Revolution“ und dem nationalsozialistischen Staat, ­zwischen den Neuen Rechten und den bundesrepublikanischen Rechtsextremisten nachgezeichnet.22 Gesellschaftlich breit sollte dieser Diskurs erst nach der politischen Zäsur von 1989/1990 wirken. Zuvor hatte die deutsche Teilung eine spezifische Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Ausdifferenzierungen rechtsextremer Milieus und Ideologien in beiden deutschen Staaten verhindert.

18 Armin Mohler 1950: Die konservative Revolution in Deutschland 1918 – 1932: Grundriß ihrer Weltanschauung. Vorwerk: Stuttgart. 19 Helmut Kellershohn 2005: Zwischen Wissenschaft und Mythos. Einige Anmerkungen zu Armin M ­ ohlers „Konservativer Revolution“. In: Heike Kauffmann, Helmut Kellershohn, Jobst Paul (Hg.): Völkische Bande. Dekadenz und Wiedergeburt. Analysen rechter Ideologie. Unrast: Münster, 66 – 89, hier 84. 20 Eric Hobsbawm (Hg.) 2006: The invention of tradition. Cambridge University Press: Cambridge. 21 Weiß 2017: Die autoritäre Revolte. 22 Kellershohn 2005; Weiß 2017, 39 – 63. Vgl. auch Armin Pfahl-Traughber 1998: „Konservative Revolution“ und „Neue Rechte“. Rechtsextremistische Intellektuelle gegen den demokratischen Verfassungsstaat. Leske und Budrich: Opladen. Armin Pfahl-Traughber legt noch nicht den Konstruktionscharakter der Konservativen Revolution offen, zeigt aber detailliert die antidemokratischen und radikalnationalistischen Verbindungen auf. Stefan Breuer 1995: Anatomie der Konservativen Revolution. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt; Margret Feit 1987; Thomas Assheuer, Hans Sarkowicz 1990: Rechtsradikale in Deutschland. Die alte und die neue Rechte. Beck: München; Franz Greß, Hans-Gerd Jaschke, Klaus Schönekäs 1990: Neue Rechte und Rechtsextremismus in Europa. Westdeutscher Verlag: Opladen; Alice Brauner-Orthen 2001: Die Neue Rechte in Deutschland. Antidemokratische und rassistische Tendenzen. Leske und Budrich: Opladen.

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3. Die Sprachlosigkeit der Sieger – Sichtbarkeiten Neuer Rechter in der DDR Zumindest im Selbstverständnis der politischen Führung der DDR partizipierte ihr Staat am Sieg der alliierten Mächte, insbesondere am Sieg der Sowjetunion. Durch die konsequente Umgestaltung der niedergerungenen nationalsozialistischen Volksgemeinschaft hin zu einer sozialistischen Menschengemeinschaft sah man sich seit 1949 auf der Siegerseite – und damit die vollkommene Überwindung aller nationalsozialistischer Erbschaften: institutionell, politisch, kulturell und psychisch. Nach offizieller Doktrin war der Nationalsozialismus – der als solcher nicht bezeichnet wurde, sondern immer nur mit dem Begriff Faschismus benannt wurde – die aggressivste Ausformung und nahezu konsequenteste Machtergreifung des Finanzkapitals. Mit dem Ende einer kapitalistischen Gesellschaftsform galt daher auch die Gefahr einer faschistischen Bewegung als gebannt. Im parteilichen Diskurs war mit dem Antifaschismus der DDR der Nationalsozialismus komplett überwunden. Die Menschen in der DDR konnten sich somit unter dem Banner der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) sammeln, sich zusammen um den Aufbau des Sozialismus bemühen und sich dadurch von ihrer eigenen Verantwortung in der Zeit des Nationalsozialismus befreien. Am Ende lebten in der DDR die Sieger der Geschichte.23 Vor ­diesem Hintergrund war es auch möglich, dass die SED mit ihrer Politik zugleich die gesamte deutsche Nation adressierte.24 Denn nationale Parteien, wie sie sich zu dieser Zeit in der Bundesrepublik formierten, wurden in der DDR nicht zugelassen. Die SED neutralisierte jede Form von Opposition, indem sie alle anderen Parteien in den antifaschistisch-demokratischen Block zwang. Auch die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD) versammelte keinesfalls eine nationale Opposition, obwohl sie vor allem auch ehemalige NSDAP-Mitglieder ansprach. Vielmehr gliederte sie sich sehr bald in das Blocksystem ein.25 In der DDR gab es damit schlichtweg keinen institutionellen Rahmen für rechtsextreme Politik. Neue Rechte gab es nicht und damit waren auch entsprechende Begriffe nicht in Gebrauch. Die theoretische Engführung des spezifischen Antifaschismus der DDR führte zu dieser begrifflichen Leerstelle. 23 Annette Leo, Peter Reif-Spirek (Hg.) 1999: Helden, Täter und Verräter. Studien zum DDR-Antifaschismus. Metropol: Berlin; dies. (Hg.) 2001: Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR-Antifaschismus. Metropol: Berlin. 24 Jan Palmowski 2009: Inventing a Socialist Nation. Heimat and the Politics of Everyday Life in the GDR, 1945 – 1990. Cambridge University Press: Cambridge; Johannes Schütz 2016: Dresden bleibt deutsch?! Vorstellungen von nationaler Gemeinschaft im Bezirk Dresden, 1969 – 1990. In: Joachim Klose, Walter Schmitz (Hg.), Freiheit, Angst und Provokation. Zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in der postdikta­ torischen Gesellschaft. Thelem: Dresden, 48 – 57. 25 Christoph Wunnicke 2014: Die Blockparteien der DDR. Kontinuitäten und Transformation 1945 – 1990. Der Berliner Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der Ehemaligen DDR: Berlin; Christoph Schreiber 2018: „Deutsche, auf die wir stolz sind.“ Untersuchungen zur NPDP. Verlag Dr. Kovač: Hamburg.

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Dass das Phänomen trotzdem gesellschaftlich relevant war, lässt sich vielfach belegen. Einzelpersonen oder kleine Gruppen, die sich im Verborgenen hielten, hat es vermutlich von Beginn an gegeben: Sie verehrten Adolf Hitler und pflegten das nationalsozialistische Erbe.26 Darüber hinaus existierten in der DDR einige sehr aktive rechte Gruppen. Umfangreich sind nationalistische Sprechakte und Gewalttaten belegt. Verbale und physische Gewalt war in den 1980er Jahren tatsächlich ein geradezu alltägliches Phänomen. „Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter“ aus Vietnam, Mosambik oder Algerien wurden beleidigt und geschmäht, Brandanschläge auf deren Wohnheime und Angriffe gegen ihre Präsenz in der DDR erfolgten an vielen Orten.27 Da die Akteure sich aber in keiner institutionellen Form, weder in Parteien noch Vereinen oder Kameradschaften organisierten, waren es vor allem bewegungsförmige Gruppen, die sich schon sehr früh durch ihre besondere Gewaltbereitschaft auszeichneten. Das Neue waren nun vor allem Dresscode und Sprechweisen: Aus der eher proletarisch geprägten Jugendsubkultur der Skinheads formten sie eine politische Bewegung, die gezielt die Grenzen des Sag- und Machbaren in der DDR austestete.28 Obwohl also bekannt ist, dass es auch in der DDR Möglichkeitsbedingungen für Handlungen von rechts gab, ist bis­ elche Dynamiken her kaum erforscht, wie sich diese Akteure in der DDR organisierten, w diese Prozesse konfigurierten oder ­welche Konstellationen die Eskalationen bestimmten. Es ist Aufgabe der historischen Forschung, diese und andere Fragestellungen aufzugreifen und die Geschichte der rechten Akteure und ihrer Praktiken vor 1989 zu untersuchen. Die polizeilichen und politischen Beobachterinnen und Beobachter in der DDR jedenfalls deuteten diese Ereignisse vor allem als jugendkulturelle Entgleisung: Die markierten Täter denominierten sie als „negativ-dekadente Jugendliche“ und verurteilten ihr Verhalten als „Rowdytum“.29 Diese Einordnung als jugendliche Devianz ließ sich hervorragend mit der theoretischen Welterschließung verknüpfen. Die parteilichen Analysen nahmen die verbreiteten rechten Sprechweisen nur als Einwirken des politischen Gegners wahr. Zwar bezeichneten sie die registrierten Handlungen als „neofaschistisch“, aber die beobachtenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit erkannten keine eigenständigen politischen Einstellungsmuster und konnten in den Gewaltakten keine eigenen Gruppenbildungsprozesse erkennen. Vielmehr wurde das Phänomen einer wirksamen „politisch-ideologischen Diversion“ des Klassenfeindes zugeschrieben, die bei den 26 Gideon Botsch 2012: From Skinhead-Subculture to Radical Right Movement. The Development of a ‚National Opposition‘ in East Germany. In: Contemporary European History, 21, 553 – 573, hier 556 f.; Harry Waibel 2017: Die braune Saat. Antisemitismus und Neonazismus in der DDR. Schmetterling: Stuttgart. 27 Harry Waibel 1996: Rechtsextremismus in der DDR bis 1989. Papyrossa: Köln; ders. 2014: Der gescheiterte Anti-Faschismus der SED. Rassismus in der DDR. Internationaler Verlag der Wissenschaften: Frankfurt am Main. 28 Botsch 2012. 29 Waibel 2017, 137. Zugleich deutet die Quellenlage darauf hin, dass es auch ein Phänomen vor allem männlicher Jugendlicher war.

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Jugendlichen mit einem nur mäßig ausgebildeten „sozialistischen Bewusstsein“ willfährige Träger gefunden habe.30 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die ­Staatsführung diese Praktiken entpolitisierte. Diese fremdenfeindliche Gewalt und die radikalnationalen Gruppenbildungen indizieren aber die Verweigerungshaltungen gegenüber der offiziellen Identitätspolitik.31 Die Zeugnisse belegen, wie die staatlichen Sozialisationsbemühungen wenig Effekt zeitigten, vielmehr an mehreren Punkten ein weitverbreiteter radikaler Nationalismus nachweisbar ist, der sich dezidiert vom offiziellen DDR-Selbstverständnis absetzte und sich einer DDR-Identität verweigerte, vielmehr sogar als Kritik und Oppositionsverortung diente.32 Vor allem Jugendliche schufen sich eine eigene Subkultur und wählten die extremste Form des Widerstands gegen den Anpassungsdruck in der DDR, aber sie waren nicht darum bemüht, den Nationalismus intellektuell zu erschließen: Weniger ­Theorie, vielmehr gewalttätige Aktion und spontaner Ausbruch waren die prägenden Ausdrucksformen des radikalen Nationalismus in der DDR. Nach der staatlichen Vereinigung beider Staaten verbanden sich jedoch die Gewaltbereitschaft der ostdeutschen und die theoretischen Vorarbeiten der westdeutschen Rechten. Um hier aber keine einseitige Erzählung zu befördern: Auch in der Bundesrepublik existierte der gewaltförmige Rechtsextremismus und setzte Terror – das bekannteste Beispiel ist das Attentat auf das Münchner Oktoberfest 1980 – als Option im politischen Kampf ein.33 Aber mit der staatlichen Vereinigung beider deutscher Staaten eröffneten sich vielfach neue Handlungsmöglichkeiten und Gewalt spielte gerade aufgrund der Gewaltbereitschaft der radikalnationalistischen Skinheadbewegung in den neuen Bundesländern eine große Rolle. Das wiedervereinigte Deutschland erlebte dadurch neue Sprachformen über die Neuen Rechten nach 1990. 30 Bernd Wagner 2014: Rechtsradikalismus in der Spät-DDR. Zur militant-nazistischen Radikalisierung. Wirkungen und Reaktionen in der DDR-Gesellschaft. Edition Widerschein: Berlin, 413 – 510; Walter Süß 1996: Zur Wahrnehmung und Interpretation des Rechtsextremismus in der DDR durch das MfS. Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR: Berlin; Jürgen Danyel 2003: Spätfolgen? Der ostdeutsche Rechtsextremismus als Hypothek der DDR-Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur. In: Jan C. Behrends, Thomas Lindenberger, Patrice G. Poutrus (Hg.): Fremde und Fremd-Sein in der DDR. Zu historischen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland. Metropol: Berlin, 23 – 40. 31 Wolfgang Brück 1992: Skinheads als Vorboten der Systemkrise. Die Entwicklung des Skinhead-Phänomens bis zum Untergang der DDR. In: Karl-Heinz Heinemann, Wilfried Schubarth (Hg.): Der antifaschistische Staat entläßt seine Kinder. Jugend und Rechtsextremismus in Ostdeutschland. Papyrossa: Köln, 37 – 63. 32 Wilfried Schubarth, Thomas Schmidt 1992: „Sieger der Geschichte“. Verordneter Antifaschismus und die Folgen. In: Karl-Heinz Heinemann, Wilfried Schubarth (Hg.): Der antifaschistische Staat entläßt seine Kinder. Jugend und Rechtsextremismus in Ostdeutschland. Papyrossa: Köln, 12 – 28, hier 18 – 24. 33 Vgl. dazu jüngst Barbara Manthe 2018: On the Pathway to Violence. West German Right-Wing ­Terrorism in the 1970s, Terrorism and Political Violence, 1 – 22; dies. 2017: Racism and Violence in Germany since 1980. In: Global Humanities. Studies in Histories, Cultures, and Societies 4, 35 – 53.

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4. Nationaler Bocksgesang – Diskursive Konjunkturen der Neuen Rechten seit 1990 Bereits in der Umbruchphase von der DDR zur vereinigten Bundesrepublik Deutschland eskalierte die Gewalt.34 Mit dem Zusammenbruch der DDR ereignete sich der rechte Straßenkampf gegen als fremd Markierte und als politische Gegner Identifizierte ganz offen sichtbar und fast alltäglich in großen und kleinen Städten Ostdeutschlands – die Namen vieler Städte fungieren als Chiffre für diese Gewalt, und die einzelnen Ereignisse dienen zuweilen als Zäsur in der nationalen Erzählung von der Wiederverinigung. Seit 1989/1990 konnten sich daher rechtsextreme Strukturen in den neuen Bundesländern etablieren, nationale Subjektivierungspraktiken wurden zu einem festen Angebot der Jugendkultur, Parteien feierten hier ihre wesentlichen Erfolge, Heimatschützer schufen durch Gewalt Angsträume und im Untergrund bildeten sich terroristische Zellen, die das Programm des führerlosen Widerstands umsetzten.35 Diese Ereignisse wurden von Beginn an auch diskursiv begleitet und der starke Rechtsextremismus im Osten zu einem eigenen Diskursfeld.36 Ohne diesen Diskurs hier zu bedienen, kann jedoch darauf verwiesen werden, dass unterschiedliche Vertreter der rechtsextremen Szene die Vereinigung beider deutscher Staaten als nationale Erweckung erlebten und inspiriert von den Inszenierungsformen und Handlungsmöglichkeiten der nationalen Gruppen in den neuen Bundesländern ihren eigenen „Aufbau Ost“ planten, weil im Westen weder der Aktionismus noch die breite gesellschaftliche Resonanz für nationale Praktiken und Politiken vorhanden waren.37 Sie konzentrierten ihre politische Arbeit im Osten, integrierten die rechten Gruppen und imaginierten – wie das Beispiel Michael Kühnen zeigt – in Dresden eine neue „Hauptstadt der Bewegung“.38 Nun konnten auch die rechten Parteien ein ganz neues Wählerreservoir erschließen und mit 34 Vgl. als informative Reportagen aus dieser Zeit: Andreas Borchers 1992: Neue Nazis im Osten. Hintergründe und Fakten. Weinheim: Basel. 35 Im Überblick dazu: Michael Lausberg 2012: Die extreme Rechte in Ostdeutschland 1990 – 1998. Tectum: Marburg; Stefan Aust, Dirk Laabs 2014: Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU. Pantheon: München; Matthias Quent 2019: Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät. Beltz Juventa: Basel; Frei 2019, 161 – 172, mit dem wichtigen Hinweis, dass die bisherigen historischen Forschungen dazu nur Randbemerkungen produziert haben, die sich nicht allzu selten in der Aufzählung weniger Städtenamen erschöpfen. 36 Thomas Ahbe 2004: Die Konstruktion der Ostdeutschen. Diskursive Spannungen, Stereotype und Identitäten seit 1989. In: Aus Politik und Zeitgeschehen 41, 12 – 22; Quent 2019, 173 – 175. 37 So kursierte in den ersten Jahren nach der staatlichen Wiedervereinigung das Bekenntnis zur ’89erGeneration, die nach dem Aufbruch in das vereinigte Deutschland mit ambitionierten Erwartungen und Ansprüchen herantraten: Roland Bubik 1995: Wir 89er. Wer wir sind und was wir wollen. Ullstein: Frankfurt am Main, Berlin; vgl. auch: Heimo Schwilk (Hg.) 1995: Die selbstbewußte Nation. „Anschwellender Bocksgesang“ und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte. Ullstein: Frankfurt am Main, Berlin. 38 Vgl. Hans-Gerd Jaschke 1992: Biographisches Porträt. Michael Kühnen. In: Jahrbuch Extremismus und Demokratie 4, 168 – 180; Rainer Erb 2015: Kühnen, Michael. In: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart Bd. 8. De Gruyter: Berlin, 91 f.

Neue Rechte – Eine geschichtswissenschaftliche Vermessung von Begriffsfeldern und Diskursräumen

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modernisierten Programmen in ostdeutsche Landes- und Kommunalparlamente einziehen. Diese Entwicklungen reaktivierten den Diskurs über die Neuen Rechten: Zuerst holte er die noch in der alten Bundesrepublik aufstrebenden Republikaner ein;39 als die NPD anfing, gerade in Sachsen parlamentarische Mandate in großer Zahl zu erobern, wurde sie als neurechte Partei angesprochen;40 zuletzt widerfuhr dies dann der Alternative für Deutschland.41 Damit wurden die ostdeutschen Bundesländer zu einer zentralen Arena neurechter Akteure – und auch die Wissenschaft erkannte, dass es hier Veränderungen, Verbindungen und Anpassungsprozesse gab. Dabei existierten durchaus auch begriffliche Differenzierungen, die diese Aufzählung unterlaufen: Es wurde ­zwischen gewalttätigen Neonazis, ideologisch gefestigten Rechtsextremisten und intellektuell auftretenden Neurechten unterschieden. In dieser Differenzierung von den Neuen Rechten zu sprechen, etablierte sich und von Beginn an verbindet es die Analyse der Gemeinsamkeiten: In den Neuen Rechten erkennt man Bemühungen, einen verborgenen Fundus rechter Ideen, die nun auf die „Konservative Revolution“ projiziert werden, zu heben, ihn in den aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen in Stellung zu bringen und mit d ­ iesem modernisierten, intellektualisierten Begriffshaushalt metapolitisch zu agieren – was nichts anders bedeutet, als Deutungshoheiten und damit politischen Einfluss zu gewinnen. Dabei betonen die Beobachter und Beobachterinnen, dass es nicht weiter um die Reanimation des Nationalsozialismus gehe, sondern nun die Umdeutung von Begriffen und die Verbreitung von nationalistischen Ideologemen angestrebt werde.42 Daher ist der Neue-Rechte-Diskurs seit der staatlichen Vereinigung insbesondere darum bemüht, das antidemokratische, antiliberale, antiegalitäre Potenzial der unterschiedlichen Akteure aufzuzeigen – wobei der Begriff für d ­ ieses Feld außerhalb der sich damit befassenden Experten jüngst etabliert wurde und nun auch in öffentlichen Debatten Verwendung findet. In den ersten Jahren nach 1990 waren es vor allem die „Neonazis“, erst in den letzten Jahren firmieren unter dem Label Neue Rechte vor allem jene „nationalkonservativen“ 39 Claus Leggewie 1989: Die Republikaner. Phantombild der Neuen Rechten. Rotbuch-Verlag: Berlin; Behrend Prenzel 1990: Die Republikaner. Neue Rechte oder 1000 Jahre und kein Ende. Urania Verlag: Leipzig, Jena, Berlin. 40 Toralf Staud 2007: Moderne Nazis. Die Neuen Rechten und der Aufstieg der NPD. Kiepenheuer und Witsch: Köln; Harald Bergsdorf 2007: Die neue NPD. Antidemokraten im Aufwind. Olzog: München; Uwe Backes (Hg.) 2007: Die NPD . Erfolgsbedingungen einer rechtsextremistischen Partei. Nomos: Baden-Baden. 41 Jay Julian Rosellini 2019: German New Right. AfD, PEGIDA and the Re-imagining of National Identity. Hurst & Company: London. 42 Thomas Assheuer, Hans Sarkowicz 1990: Rechtsradikale in Deutschland. Die alte und die neue Rechte. Beck: München; Wolfgang Gessenharter 1994: Kippt die Republik? Die Neue Rechte und ihre Unterstützung durch Politik und Medien. Droemer Knaur: München; Rainer Benthin 1996: Die Neue Rechte in Deutschland und ihr Einfluss auf den politischen Diskurs der Gegenwart. Lang: Frankfurt am Main; Wolfgang Gessenharter, Helmut Fröchling (Hg.) 1998: Rechtsextremismus und Neue Rechte in Deutschland. Neuvermessung eines politisch-ideologischen Raumes? Leske und Budrich: Opladen.

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Akteure, die inzwischen in der AfD wieder einen parteiförmigen Organisationsgrad erreicht und politische Strategien entwickelt haben.43 Dabei reklamieren und verwenden diese Gruppen den Begriff erneut als Selbstbeschreibung; Sie betonen, dass es in der Bundesrepublik notwendigerweise eine politische Rechte brauche, die dem Druck der „politischen Korrektheit“ – die sie als machtstrategisches Instrument ihrer politischen Gegner zur Erhaltung eines hegemonialen Diskurses sehen – standhalte und gezielt „nationalliberale“ oder „volkskonservative“ Deutungsangebote machen müsse, sich dabei aber dezidiert und explizit sowohl vom historischen Nationalsozialismus als auch allen Ausprägungen „neonationalsozialistischer“ Politik absetzt. Sie verweigert sich der Gleichsetzung von „rechten“ mit „faschistischen“ oder „neonationalsozialistischen“ Weltsichten und reklamiert den Begriff für sich.44 In der Tradition Armin Mohlers und unter Bezug auf die konservativen Alternativen – vor allem in Form der „Konservativen Revolution“ – schreiben sie daher die Geschichte der Neuen Rechten als eine Geschichte der notwendigen, nationalen Opposition fort, die sich selbst aber sowohl in ideologischer Ausrichtung als auch in der personellen Ausstattung als Gegenbewegung zu allen „postfaschistischen“ und „neonationalsozialistischen“ Gruppen und Parteien sieht.45 Dass hiermit jedoch vor allem Traditionslinien verschleiert und ideologische Querverbindungen verwischt werden sollen, ist ein Topos des wissenschaftlichen Diskurses über die Neue Rechte: Zahlreiche Arbeiten verweisen darauf, dass die Neue Rechte das Scharnier ­zwischen noch offen nationalsozialistischen Bekenntnissen und (national-)konservativen Positionen darstelle und damit integraler Bestandteil des rechtsextremen Feldes der Bundes­ republik Deutschland bleibe. Die Neue Rechte bilde eine „Grauzone“ ­zwischen Rechtsextremismus und Konservatismus: Indem sie Ideologieelemente der extremen Rechten – hier sind Antiliberalismus, homogene Gemeinschaftsvorstellungen und klare Hierarchien ­zwischen Menschen zu nennen – „intellektualisierten“, habe die Neue Rechte die beiden Milieus miteinander verbunden und antidemokratische, rassistische, menschenfeindliche Diskurselemente wieder etabliert, so dass sie nun auch in anderen weltanschaulichen Milieus rezipiert würden.46 43 Jay Julian Rosellini 2019. 44 Institut für Staatspolitik 2008: Die „Neue Rechte“. Sinn und Grenze eines Begriffs. Institut für Staatspolitik: Albersroda. 45 Zeugnis dieser Selbstdarstellung: Sebastian Maas 2014: Die Geschichte der Neuen Rechten in der Bundes­ republik Deutschland. Regin: Kiel. 46 Susanne Mantino 1992: Die ‚Neue Rechte‘ in der ‚Grauzone‘ ­zwischen Rechtsextremismus und Konservatismus. Lang: Frankfurt am Main; Michael Venner 1994: Nationale Identität. Die Neue Rechte und die Grauzone z­ wischen Konservatismus und Rechtsextremismus. Papyrossa: Köln; Uwe Worm 1995: Die Neue Rechte in der Bundesrepublik. Programmatik, Ideologie und Presse. Papyrossa: Köln; Patrick Keßler 2018: Die „Neue Rechte“ in der Grauzone z­ wischen Rechtsextremismus und Konservativismus? Protagonisten, Programmatik und Positionierungsbewegungen. LIT: Berlin.

Neue Rechte – Eine geschichtswissenschaftliche Vermessung von Begriffsfeldern und Diskursräumen

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5. Fazit Die erste Konjunktur erlebte der Begriff Neue Rechte Ende der 1960er Jahre in der Bundes­ republik Deutschland. Die Absetzungsbewegung einer Gruppe von jungen Nationalisten prägte einen Diskurs, der sich fortan darum bemühte, rechte Gruppen, Parteien und Debatten zu konturieren und zu erfassen. Die Impulsgeber waren also die Akteure selbst. Die wissenschaftlichen Beobachter nahmen diese Impulse auf und etablierten den Begriff, indem sie damit die politischen Akteure, ihre Theoriediskussionen und Strategiewechsel zu beschreiben versuchten: In der Wissenschaft wurden jene Phänomene als Neue Rechte deklariert, in denen sich vor allem die Neuformulierungen und veränderten Sprechweisen rechter Akteure widerspiegelten. Nicht selten wird den einzelnen Bewegungen neurechter Akteure sogar eine Theoretisierung, bisweilen sogar eine Intellektualisierung ihrer Weltanschauung attestiert. Der Begriff Neue Rechte wurde dabei immer auf aufsteigende Parteien appliziert oder aber in der Nähe von Parteien verortet – damit geraten zahlreiche Phänomene aus dem Blick, die ebenso in einem Zusammenhang mit theoretischen, institutionellen sowie sozialen Kontexten stehen, die auch zum Erstarken der Parteien beitrugen. Aus historischer Perspektive ist es daher sinnvoll, den Begriff zu weiten (oder ihn stattdessen ganz aus der Diskussion zu verbannen). Die Neue Rechte kann als heuristische Analysekategorie nur dann einen wissenschaftlichen Mehrwert liefern, wenn die Vorgeschichte der Rechten in den Blick gerät und damit das spezifische Andersartige der Rechten, die durch den Begriff erfasst werden, deutlich wird. Deshalb ist es die Aufgabe der historischen Forschung zu untersuchen, wie sich der Rechtsextremismus immer wieder selbst aktualisierte und gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklungen anpasste. Damit organisierte sich die Rechte jeweils neu, jedoch hatte sie dabei auch immer ganz eigene Verbindungslinien zur eigenen Tradition und Geschichte. Angesichts dieser Befunde argumentiere ich dafür, den Begriff Neue Rechte in einem weiten Sinne zu benutzen: Die Neuen Rechten sind die aktuellen Anpassungsversuche am rechten Rand. Unter ­diesem Begriff lassen sich jene Ideologien, Strategien, Bewegungen und Akteure fassen, die an der Überwindung einer liberalen Politik arbeiten und dem gegenwärtigen pluralistisch verfassten Staat eine homogene Gemeinschaftsimagination gegenüberstellen – nicht selten findet diese Gemeinschaft dann im Reich zusammen.47 Daher kann der Begriff auf so unterschiedliche Phänomene gleichermaßen angewandt werden. Als die NPD in Ostdeutschland die Parlamente verunsicherte, Autonome Nationalisten in Dortmund linke Formen der Agitprop kopierten oder die Identitären sich als nationale Volksraumaktivisten gerierten, waren immer andere Neue Rechte aktiv. Es sind unterschiedliche Erscheinungsformen eines Phänomens, das in radikalnationalistischer Opposition zur liberal-demokratischen Gesellschaft steht. 47 Vgl. den Beitrag von Sebastian Dümling in ­diesem Band.

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Blickt man dergestalt auf die jeweiligen Diskursformationen und Theoreme, die in den einzelnen neurechten Organen und Diskussionen durchgesteckt werden, dann lassen sich, abgesehen von den personalen Netzwerken und Verbindungslinien, Kontinuitäten und ideologische Gemeinsamkeiten aufzeigen. Ebenso kontinuierlich haben – gerade wegen dieser Verwandtschaften und Gemeinsamkeiten – die wissenschaftlichen Beobachter betont, dass es sich bei der Neuen Rechten nicht um eine eigenständige Gruppe, Bewegung oder Ideologie, sondern lediglich um eine Praxisform handle. Die Neuen Rechten inszenierten sich sehr erfolgreich als kathartische Konservative – die zwar eine neue Sprache sprechen, aber immer noch auf das Gleiche verweisen: das Volk, das sie nicht anders als homogen und zugleich bedroht von der Auflösung denken können. Jedoch n ­ utzen sie gesellschaftliche Veränderungen geschickt für ihre Metapolitik: Da das ‚Volk‘ im Netz vermeintlich unmittel­barer, direkter zur Sprache kommen könne, Facebook-Likes und Kommentare repräsentativer als Wahlen und Mandate ­seien, wähnen sie sich bereits als das Volk. Imaginiert wird ­dieses jedoch bisher als die schweigende Mehrheit, die im Netz nun zur Selbstfindung geführt werden könne. Damit ist ­dieses Volk dann aber nur noch ein Diskurseffekt populistischer Strategien.48

48 Sebastian Dümling 2019: Volk durch Verfahren – Populismus als Diskurseffekt. In: Merkur 73, 87 – 93.

Alexander Häusler

Von Rechtsaußen in die Mitte? Politische Gelegenheitsstrukturen des völkischautoritären Populismus in Deutschland

Lange Zeit galt die Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Rechtspopulismus als eine Art politisches Entwicklungsland: Während in vielen europäischen Nachbarländern rechtspopulistisch modernisierte Rechtsaußenparteien politisch an Einfluss gewonnen haben, galt Deutschland bis zum Jahr 2013 als weißer Fleck auf der europäischen Landkarte des Rechtspopulismus. Dies änderte sich mit Gründung der Partei Alternative für Deutschland (AfD): Einhergehend mit ihren Wahlerfolgen vollzog sich eine kontinuierliche rechte Radikalisierung der Partei, die zugleich eine grundlegende Veränderung des gesamten deutschen Rechtsaußenspektrums nach sich zieht. Nachdem die AfD mittlerweile in allen Landesparlamenten, im Bundestag und im Europaparlament vertreten ist, steht sie sinnbildlich für den politischen Rechtsruck in Deutschland. Dieser politische Rechtsruck stellt eine politische Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik dar: Erstmals seit den Wahlerfolgen der Deutschen Partei (DP )1 in der Frühphase der deutschen Nachkriegszeit ist nun wieder eine Rechtsaußenpartei im Bundesparlament vertreten – diesmal sogar als stärkste Oppositionspartei. Zugleich hat die extreme Rechte in Deutschland mit der AfD einen Türöffner zu den Schaltzentralen realpolitischer Gestaltbarkeit erhalten – der Rechtsextremismus dringt mithilfe der AfD in die Mitte der Gesellschaft ein. Doch die Wahlerfolge sind nicht durch besondere programmatische Finessen und politische Fähigkeiten zu erklären – im Gegenteil: Der innerparteiliche Zustand der AfD ist chaotisch und geprägt von massiven Querelen, Postengerangel und Richtungskämpfen, während ihr äußerliches Erscheinungsbild durch fortwährend an die Öffentlichkeit gelangende politische Geschmacklosigkeiten und rechtsradikale Entgleisungen geprägt ist und sie als sprichwörtlich rechte Wutbürgerpartei charakterisiert. Zugespitzt ausgedrückt: Die Gründe für den Zuspruch, den die Partei bei einem Teil der deutschen Wählerschaft erhält, liegen 1 Die Deutsche Partei war eine nationalkonservativ ausgerichtete Partei rechts von der Union, die durch ihre revisionistische Ausrichtung auch „rechtsextremistischen Gruppen den Zugang zur DP“ ermöglichte. Horst W. Schmollinger 1983: Deutsche Partei. In: Richard Stöss (Hg.): Parteienhandbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945 – 1980. Westdeutscher Verlag: Opladen, 1025 – 1111, hier 1109.

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eher in deren Unzufriedenheit mit bestimmten politischen Entwicklungen sowie in deren Zustimmung zu rechtsautoritären und rassistischen Politikkonzepten, die in der AfD ein politisches Ventil zur Artikulation gefunden haben. Hierzu erweist sich eine rechtspopulistische Ansprache als wirkungsmächtiges Instrument, weil sie eine spezifische Form von Mobilisierung politischer Leidenschaften darstellt, die auf Verunsicherung, Angst, Ressentiments und Wut basiert: Durch diese „Politik der Angst“ 2 gelingt es der AfD, Emotionen in Feindbilder zu übersetzen und kollektive Identitätsangebote unter völkisch-nationalistischen Prämissen zu vermitteln. Ihre Erfolge gründeten zugleich in der populistisch emotionalisierten Besetzung von politischen Leerstellen und Gelegenheitsstrukturen: der Eurokrise, der Sarrazin-Debatte, der Flüchtlings- und der Islamdebatte sowie der Ost-West-Debatte und der sozialen Frage. Wir haben es demnach hierzulande mit einer politischen Umbruchssituation zu tun: Die jahrzehntelang existente „Konsenskultur der Mitte“ 3 hat durch die sozioökonomischen Veränderungen Risse bekommen, und der Rechtspopulismus erhielt in spezifischen politischen Gelegenheitsfenstern die Möglichkeit zur erfolgreichen Besetzung politischer Felder. Folgend werden zunächst pointiert die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen d ­ ieser Umbruchs­situation benannt und hinterfragt, warum es rechten Kräften gelingt, daraus politisches Kapital zu schlagen. In einem zweiten Schritt werden die jeweiligen Anknüpfungspunkte für erfolgreiche rechte Propaganda und Interventionen benannt und analysiert. Abschließend werden die Metamorphosen der AfD hin zu einer Partei des völkisch-­ autoritären Populismus veranschaulicht.4

1. Die Ursachen Es gibt keine monokausalen Begründungszusammenhänge z­ wischen politischen Krisensituationen und rechtsradikaler Erstarkung. Wohl aber lassen sich im historischen und politischen Vergleich günstige Ausgangsfaktoren für eine ­solche Entwicklung benennen, die in ihrer Zusammenführung ein Muster über den Entstehungskontext rechtsradikaler Mobilisierung und Formierung abgeben. 2 Ruth Wodak 2016: Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse, Edition Konturen: Wien. 3 Cornelia Koppetsch 2018: „Viele Linke machen sich etwas vor“. Interview. In: Die Tageszeitung vom 07. 07. 2018, 24 f. 4 Die folgenden Ausführungen fußen zu großen Teilen auf diversen Veröffentlichungen von mir zum Thema und sind für den vorliegenden Beitrag zusammengefasst, komprimiert und aktualisiert worden. Siehe u. a. näher: Alexander Häusler (Hg.) 2018: Völkisch-autoritärer Populismus. Der Rechtsruck in Deutschland und die AfD. VSA-Verlag: Hamburg; Alexander Häusler 2019: Antimuslimischer Populismus. Aktion Courage e. V.: Berlin; Alexander Häusler, Fabian Virchow (Hg.) 2016: Neue soziale Bewegung von rechts? Zukunftsängste, Abstieg der Mitte, Ressentiments. VSA-Verlag: Hamburg.

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1.1 Sozioökonomische Umbrüche Im historischen Rückblick auf die Epoche des Faschismus in Europa lässt sich festhalten, dass wirtschaftliche Krisenerscheinungen eine günstige Ausgangsbasis zur Formierung faschistischer Bewegungen spielten.5 Schon in den 1960er Jahren machte der Sozialphilosoph ­Theodor W. Adorno darauf aufmerksam, dass die „Voraussetzungen faschistischer Bewegungen trotz des Zusammenbruchs gesellschaftlich, wenn auch nicht unmittelbar politisch, nach wie vor fortbestehen“. Die kapitalistische Krisenhaftigkeit produziere die „Möglichkeit der permanenten Deklassierung von Schichten, die ihrem subjektiven Klassenbewusstsein nach durchaus bürgerlich waren, die ihre Privilegien, ihren sozialen Status festhalten möchten und womöglich ihn verstärken“. Laut Adorno verschieben diese Gruppen „die Schuld an ihrer eigenen potentiellen Deklassierung nicht etwa auf die Apparatur, die das bewirkt, sondern auf diejenigen, die dem System, in dem sie einmal Status besessen haben, jedenfalls nach traditionellen Vorstellungen, kritisch gegenübergestanden haben“.6 Auch hinsichtlich des rechten Populismus lassen sich sozioökonomische Ursachen anführen: In seinem Werk Politische Ökonomie des Populismus deutet Philip Manow den Populismus „im Wesentlichen als Protestartikulation gegen Globalisierung“, und zwar hauptsächlich gegenüber „dem internationalen Handel und der Migration, also der grenzüberschreitenden Bewegung von Geld und Gütern einerseits und Personen anderseits“.7 Die politische Großerzählung von einer alternativlosen liberalkapitalistisch globalisierten Moderne hat Konjunktur: Mit dem Ende der sogenannten Systemkonkurrenz und dem Zusammenbruch des RGW -Staatenblocks setzte sich im kapitalistischen Westen die Vorstellung von einem endgültigen Siegeszug einer liberalkapitalistisch globalisierten Welt durch: ­Fukuyamas Prophezeiung eines „Endes der Geschichte“, wonach „keine ideologische Konkurrenz mehr zur liberalen Demokratie“ Geltungsmacht erlangen könne, gab diesen Ansichten eine weltanschauliche Untermauerung. Doch das ordoliberale Politikverständnis zeichnet sich selbst „durch Demokratieskepsis und einen komplementären Hang zu autoritären Lösungen“ 8 aus. Anstelle von sozialer Integration treten Wettbewerb und Abbau von sozialstaatlichen Errungenschaften. Das neue Aufbegehren und Ringen um soziale Anrechte ist gewissermaßen auch als Reaktion auf die gesellschaftlichen Folgen einer „Abstiegsgesellschaft“ im Krisenmodus zu deuten, das sich unter anderem auf dem rechten Feld artikuliert: „Ressentiments und Stereotype haben eine Orientierungsfunktion, 5 Hanno Drechsler, Wolfgang Hilligen, Franz Neumann 1977: Faschismus. In: dies. (Hg.): Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik. Nomos: Baden-Baden, 160. 6 Theodor W. Adorno 1967 (neu 2019): „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Ein Vortrag (1967)“. ­Suhrkamp: Berlin, 10. 7 Philip Manow 2018: Die Politische Ökonomie des Populismus. Suhrkamp: Berlin, 11. 8 Thomas Biebricher 2012: Neoliberalismus zur Einführung. Junius: Hamburg, 205.

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primitive Formeln und Verschwörungstheorien reduzieren die herrschende Unübersichtlichkeit und bringen Ordnung in das vermeintliche Chaos“.9 Man kann d ­ ieses reaktionäre und rassistische Aufbegehren gewissermaßen auch als „Ausdruck eines Widerstandes gegen den Prozess der Entdemokratisierung, wie er sich in den neoliberalen ‚Demokratien‘ durchsetzt“,10 deuten, um die Ursachen der mobilisierenden Kraft des modernen Rechtspopulismus besser verstehen zu können. Dies weist historische Ähnlichkeiten auf. Der Wahlforscher Jürgen Falter etwa macht auf Vergleichbarkeiten der Wählerschaft von NSDAP und AfD aufmerksam: Hinsichtlich ihrer sozialen Zusammensetzung sei die NSDAP „eine Art ‚Volkspartei mit Mittelstandsbauch‘“ gewesen, was auch für die AfD gelte, die zunehmend Arbeiter an sich binde. Der Wandel der AfD „von einer eher nationalliberalen zu einer rechtspopulistischen beziehungsweise nationalkonservativen Partei mit rechtsextremistischem Einschlag in manchen Landesverbänden“ lasse sich auch an der Veränderung der Wählerschaft ablesen. Wirtschaftliche Abstiegsängste nehmen herbei eine Verstärkerfunktion ein: „Wie bei der Wahl der NSDAP sind es nicht zuletzt Mentalitätsfaktoren und krisenbedingte Reaktionen, die die Wahlerfolge der AfD beflügeln.“ Hieraus ergäben sich Anzeichen einer „allmählichen Erosion der Grundfesten des demokratischen Systems im Westen“.11 Dem Forschungsdirektor des Zentrums für Sozialforschung Halle, Everhard Holtmann, zufolge sind „Parallelen im Wählerverhalten zugunsten von NSDAP und AfD“ auf die „ideologische[n] Schnittmengen“ beider Parteien zurückzuführen. Diese zeigten sich in vergleichender Perspektive in einer Wirtschaftsgesinnung, die auf Abschottung der nationalen Währung und Volkswirtschaft

setzt, ferner bei einigen gesellschaftspolitischen Positionen (Familie, Abtreibung, Ehe) sowie

nicht zuletzt in der deutschvölkischen Grundierung des Politischen.12

1.2 Kulturelle Umbrüche und politische Kontinuitäten Aus „dem Gefühl der sozialen Katastrophe“ erwächst nach Ansicht von Adorno die Frage nach einem „Wie weiter?“. Und zu dieser Frage „empfehlen sich diese Bewegungen“. Laut Adorno haben die rechtsradikalen Bewegungen zugleich 9 Oliver Nachtwey 2016: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Suhrkamp: Berlin, 221. 10 Étienne Balibar 2016: Europa. Krise und Ende? Westfälisches Dampfboot: Münster, 107. 11 Jürgen W. Falter 19. 06. 2017: Wie viel NSDAP steckt in der AfD? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Online: http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/weimarer-verhaeltnisse-5-wie-viel-nsdap-stecktin-der-afd-15066430.html [07. 06. 2020]. 12 Everhard Holtmann 2018: Völkische Feindbilder. Ursprünge und Erscheinungsformen des Rechtspopulismus in Deutschland. Bundeszentrale für politische Bildung: Bonn, 106.

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etwas gemeinsam mit jener Art von manipulierter Astrologie von heute, die ich für ein sozial-

psychologisch außerordentlich wichtiges und charakteristisches Symptom halte, dass sie nämlich

in gewisser Weise die Katastrophe wollen, dass sie von Weltuntergangsphantasien sich nähren, so wie sie übrigens, wie wir aus den Dokumenten wissen, auch der ehemaligen Führungsclique der NSDAP gar nicht fremd gewesen sind.13

Die Soziologin Cornelia Koppetsch sieht in dem epochalen Bruch von der Industriemoderne in die globalisierte Moderne eine wesentliche Ursache für das Erstarken des Rechtspopulismus. Im Aufstieg der AfD verdichten sich laut Koppetsch unterschiedliche Konfliktlinien: Die Ablehnung der gesellschaftlichen Dominanz und politischen Kartellierung der liberalen „Gesinnungseliten“, die Ablehnung von Einwanderern, die als „Eindringlinge“ wahrge-

nommen werden, und die Ablehnung des globalisierungsbedingten sozialen Wandels und der damit einhergehenden Entwertung mittelständig-kleinbürgerlicher Sinnstiftungsinstanzen und

Lebensführungsmustern.14

Dagegen setze die populistische Rechte in Form von ethnonationalen Grenzziehungen eine selbstkonstruierte Neogemeinschaft als Angebot zur identitätsstiftenden Resouveränisierung. Solche rechten Neogemeinschaften fußen laut Koppetsch auf einem ­imaginären Gruppenbewusstsein, „das oftmals virtuell bleibt und dessen kommunikativer Nexus auf das Internet beschränkt bleibt“.15 „Retrotopia“ nannte der inzwischen verstorbene Soziologe Zygmund Bauman diese rückwärtsgewendete Gesellschaftsutopie. Sie sei geprägt durch die Rehabilitation des tribalen Gemeinschaftsmodells, den Rückgriff auf das Bild einer

ursprünglichen/unverdorbenen‚ ‚nationalen Identität‘, deren Schicksal durch nichtkulturelle

Faktoren und ­solche, die Kultur gegenüber immun sind, vorherbestimmt sei, und ganz allgemein die derzeit in den Gesellschaftswissenschaften wie in der öffentlichen Meinung populäre

Ansicht, es gebe wesensmäßige, nicht verhandelbare sine-qua-non-Voraussetzungen „zivilisatorischer Ordnung“.16

13 Adorno 1967, 9 f. 14 Cornelia Koppetsch 2019: Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter. Transcript: Bielefeld, 93. 15 Ebd., 173. 16 Zygmunt Bauman 2017: Retrotopia. Suhrkamp: Berlin, 18.

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1.3 Politik der Mitte Rechtspopulistische Parteien sind catch-all-Parteien – sie binden mit ihrer Antiparteienrhetorik enttäuschte Wählermilieus aus unterschiedlichen politischen Lagern an sich. In Deutschland hat die CDU mit ihrem ‚Merkel-Kurs‘ zu einer parteipolitischen Entfremdung ihres nationalkonservativen Flügels geführt. Teile d ­ ieses rechten Milieus haben im Schulterschluss mit neurechten Kräften in der AfD eine neue politische Heimat gefunden. Der deutsche wie auch insgesamt der europäische Rechtspopulismus stellen in d ­ iesem Kontext politische Auffangbecken dar für parteipolitisch isolierte Nationalkonservative und Nationalliberale – weltanschaulich verkörpert der rechte Populismus die nationalkonservative Sehnsucht nach einer als ‚natürlich‘ verklärten Nation, verstanden als Abstammungsgemeinschaft mit festen, unveränderlichen hierarchisch-paternalistischen Ordnungsstrukturen. Ebenfalls appelliert der Rechtspopulismus an eine Revolte der Kleinbürger und des Mittelstandes gegen einen angeblich übergriffigen Staat, der mit Steuern und Sozialtransferleistungen ‚die Fleißigen‘ gängle und ‚die Faulen‘ bevorzuge. Im Zuge der Durchsetzung neoliberaler Politikkonzepte nahm der Rechtspopulismus auch sozialpopulistische Stoßrichtungen in sein Agitationsrepertoire auf – er trat seit den 1990er Jahren zunehmend auch als selbsterklärter ‚Anwalt der kleinen Leute‘ auf. Trotz ihrer mehrheitlich eher neoliberal ausgerichteten Wirtschaftsprogrammatik erklären sich die rechtspopulistischen Parteien zugleich zu den legitimen Nachfolgern linker Parteien, die ‚den kleinen Mann‘ vergessen hätten. Der AfD-Rechtsaußenpolitiker Björn Höcke gab im Jahr 2018 auf dem Kyffhäuser-Treffen seines Flügels die dazu passenden Leitlinien vor: „Die Linken haben die Arbeiter, die Angestellten und die kleinen Leute verraten“, formulierte er in populistischem Duktus: Die soziale Frage war das Kronjuwel der Linken. Es war ihre Existenzgarantie. Und wenn wir als

AfD glaubwürdig bleiben und entschlossen bleiben, dann können wir der Linken ­dieses Kronjuwel jetzt abjagen! Und das sollten wir tun!

Hierzu empfahl Höcke seiner Partei eine Kombination von völkischem Nationalismus und Sozialpopulismus – einen „solidarischen Patriotismus“.17 Die Wirkungsmächtigkeit einer rechtspopulistischen Nationalisierung der sozialen Frage kann auch als Konsequenz einer Neoliberalisierung linker, sozialdemokratischer Politik verstanden werden, die den unteren sozialen Milieus ihre Anteilnahme entzog. Die sozialdemokratische Abkehr vom keynesianischen Wohlfahrtsstaatsmodell hin zu einer marktorientierten Wirtschaftspolitik fand 17 Björn Höcke 23. 06. 2018: Rede auf dem 4. Kyffhäusertreffens des Flügels. Online: https://www.youtube. com/watch?v=kbLikMxEsqk [14. 08. 2019].

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ihren symbolhaften Ausdruck in dem Schröder/Blair-Papier, das als Leitlinie sozialdemokratischer Erneuerung verstanden werden sollte.18 Die vielerorts geäußerte Forderung, die bedrohte ‚demokratische Mitte‘ müsse nun entschlossen gegen ihre Feinde verteidigt werden, verstellt trotz ihrer grundsätzlich richtigen Annahme jedoch den Blick auf die „normativen und vor allem realen Defizite des politischen Liberalismus“, der selbst eine s­ olche Entwicklung dadurch mitbefördert, dass er „keine Alternativen, insbesondere in der Wirtschafts- und Sozialpolitik für denk- und durchführbar erklärt“.19 In seiner Autobiografie hat der französische Soziologe Didier Eribon eindrücklich die Zuwendung der abgehängten Arbeiterschichten zu den Neofaschisten des Front National (FN ) als Ergebnis einer sich links oder sozial(demokratisch) nennenden Politik, die ihre Parteinahme für die Erniedrigten, Unterdrückten und Beleidigten programmatisch mit einer ‚Politik der Mitte‘ ausgetauscht habe, veranschaulicht.20 In der kollektiven Alltagswahrnehmung der unteren Klassen stellen sich demokratische Errungenschaften und Forderungen heutzutage mehr und mehr als selektive Aushandlungsprozesse von ‚der Mitte‘ für ‚die Mitte‘ dar. Die Erlösungsversprechen für ‚die kleinen Leute‘ werden in nationalistischer und rassistischer Verpackung einzig von der extremen Rechten laut artikuliert.

2. Politische Gelegenheiten Neben allgemeinen ökonomischen und kulturellen Umbruchs- und Krisenmomenten bedarf es für den Aufstieg rechter Kräfte spezifischer Gelegenheitsstrukturen zur wirkungsvollen Besetzung politischer Leerstellen. Im Laufe ihrer Entwicklung gelang es der AfD, in politisch brisanten Debatten wirkungsvoll zu intervenieren und daraus politisches Kapital zu schlagen.

2.1 Der Euro und Sarrazin Entstanden ist die AfD als nationalliberale Antwort auf den von Bundeskanzlerin Merkel verkündeten Ausspruch von einer angeblichen Alternativlosigkeit der Euro-Rettungspolitik. Somit ist der Entstehungskontext der AfD einerseits der erfolgreichen Besetzung zweier politischer Gelegenheitsfenster geschuldet – der Eurokrise und der sogenannten Sarrazin-Debatte.21 18 Gerd Schröder, Tony Blair 1999: Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 7, 887 – 896. 19 Dirk Jörke, Oliver Nachtwey 2017: Das Volk gegen die (liberale) Demokratie? Die Krise der Repräsentation und neue populistische Herausforderungen. In: dies. (Hg.): Das Volk gegen die (liberale) Demokratie. Leviathan Sonderband 32. Nomos: Baden-Baden, 8. 20 Didier Eribon 2016: Rückkehr nach Reims. Suhrkamp: Berlin. 21 Die Debatte beginnt mit einer Buchveröffentlichung von Thilo Sarrazin 2010: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. Deutsche Verlagsanstalt: München.

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Sarrazin kann hierbei als publizistisch-medialer Stichwortgeber der AfD-Themen gesehen werden. Exemplarisch verdeutlichen etwa die Lobhuldigungen der Thesen Sarrazins durch den damaligen Parteivorsitzenden der AfD, Bernd Lucke, im rechten Querfrontmagazin Compact die von Beginn an ebenfalls vorhandene nationalistisch-einwanderungsfeindliche Stoßrichtung der AfD.22 Andererseits sind die Parteigründung der AfD und ihre Erfolge nicht bloßen Zufällen geschuldet, sondern sind auch als ein Ergebnis jahrzehntelanger neurechter Vorarbeit im vorpolitischen Raum sowie nationalkonservativer Radikalisierungsschritte im Zuge der ‚Merkelisierung‘ der Union zu interpretieren. Ein nicht unbedeutender Teil der politischen Entscheidungsköpfe innerhalb der aktuell als nationalpopulistisch und radikal rechts einzustufenden AfD 23 kommen aus dem früheren Berliner Kreis der Union. Mit Konrad Adam als damaligem Parteigründungsmitglied, Alexander Gauland als aktuellem Parteivorsitzenden und Erika Steinbach als Vorsitzender der AfD-nahen ErasmusStiftung – alle drei ehemals mitwirkend im Berliner Kreis – zeigt sich die Bedeutung der Unionsabtrünnigen für den AfD-Wirkungskreis. Diese radikalisierten Konservativen bilden zugleich den weltanschaulichen Brückenkopf zur sogenannten Neuen Rechten und deren Think-Tanks und Publikationsorganen.

2.2 Flüchtlingsdebatte Nach der Abwahl ihres ehemaligen Parteisprechers Lucke lag die AfD im Sommer 2015 in Umfragen zum Teil unter 5 Prozent und drohte wieder in der politischen Versenkung zu verschwinden. Dies änderte sich schlagartig mit ihrem rechtspopulistischen Schwenk auf das Flüchtlingsthema, das – bedingt durch steigende Flüchtlingszahlen infolge des Syrienkrieges und Bürgerkriegszuständen in Afrika – ab Spätsommer 2015 stark den öffentlichen Diskurs dominierte. Nicht ohne Grund wertete deshalb der AfD-Stratege Alexander ­Gauland die sogenannte Flüchtlingskrise als „Geschenk“ für seine Partei.24 Mit ihrer sogenannten Herbstoffensive 2015 leitete die AfD ihren Frontalangriff auf die deutsche multikulturell verfasste Einwanderungsgesellschaft in völkisch-nationalistischer Stoßrichtung ein: Einwanderung und multikulturelles Zusammenleben galten für die Partei fortan als politisches Grundübel. Diese Mobilisierung gegen die Aufnahme von Flüchtlingen leitete zugleich die aktive „Bewegungsphase“ der Partei ein. In einem Vortrag beim neurechten Institut für Staatspolitik (IfS) definierte Höcke im November 2015 die AfD als „fundamentaloppositionelle 22 Jürgen Elsässer 2013: Wird die AfD Merkel stützen? Interview mit Bernd Lucke. In: Compact. Online: https://juergenelsaesser.wordpress.com/2013/09/05/compact-interview-mit-bernd-lucke/#more–5822 [07. 06. 2020]. 23 Klaus Ahlheim, Christoph Kopke (Hg.) 2017: Handlexikon Rechter Radikalismus. Klemm, Oelschläger: Ulm, 5. 24 Melanie Amman et al. 2015: Aufstand der Ängstlichen. In: Der Spiegel 51, 19 – 26, hier 24.

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Bewegungspartei“.25 Einen günstigen Anknüpfungspunkt zur Verbreitung flüchtlingsfeindlicher und rassistischer Ansichten bot die im Oktober 2014 erfolgte Gründung der Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida) in Dresden. Pegida entfaltete einen öffentlichkeitswirksamen ritualisierten Protestzyklus in Form von montäglichen Aufmärschen im Dresdner Stadtzentrum und entwickelte sich zugleich zu einer Art von politischem Franchise-Unternehmen für ähnlich gelagerte rassistische Protestformationen quer durch die Republik. Der Rechtsaußenflügel der AfD erkannte von Beginn an das für die Partei günstige Mobilisierungspotenzial und trat für ein Zusammengehen mit den Pegida-Strukturen ein, was sich im Laufe der weiteren Entwicklung der Partei als zunehmend umsetz- und nutzbar erwies.26

2.3 Feindbild Islam Der Anlass zur Instrumentalisierung gesellschaftlicher Problemlagen kann bei der AfD durchaus variabel sein. Dies lässt sich anhand einer an die Öffentlichkeit geratenen E-Mail der stellvertretenden AfD-Fraktionsvorsitzenden Beatrix von Storch veranschaulichen, in der sie im Jahr 2016 Vorstandskollegen inhaltliche Empfehlungen für die Erstellung eines Grundsatzprogramms gab. Darin schrieb von Storch, dass „der Islam das brisanteste Thema des Programms überhaupt“ und für die „Außenkommunikation“ am besten geeignet sei. „Asyl und Euro sind verbraucht, bringen nichts Neues“, so Storch weiter. „Die Presse wird sich auf unsere Ablehnung des politischen Islams stürzen wie auf kein zweites Thema des Programms.“ 27 Seine Wirkungsmächtigkeit erhält ein antimuslimischer Rassismus deshalb, weil die Muslime eine ideale Projektionsfläche für kulturelle Verlustgefühle darstellen: Mit muslim­ feindlichen Kampagnen haben rechte Bewegungen in Deutschland und Europa weit über den offen rechtsextremen Rand hinaus an Einfluss gewinnen können. Vor dem Hintergrund der realen Gefahr des terroristischen islamistischen Fundamentalismus bietet sich ‚der Islam‘ zudem als Reizthema für öffentlichkeitswirksame Kampagnen europäischer Rechtsaußenparteien geradezu an. Die extreme Rechte versucht, aus der Angst um Sicherheit politisches Kapital zu schlagen. Besonders rechtspopulistischen Parteien ist es gelungen, Ängste und Vorbehalte gegenüber Muslimen für eine rassistisch grundierte Politik 25 Kanal Schnellroda 21. 11. 2015: Asyl. Eine politische Bestandsaufnahme. Online: https://www.youtube.com/ watch?v=ezTw3ORSqlQ [08. 06. 2020]. 26 Hans Vorländer, Maik Herold, Steven Schäller 2018: PEGIDA and New Right-Wing Populism in Germany. Palgrave Macmillan: London, 51 – 72. 27 Markus Grill 11. 03. 2016: Anti-Islam-Kurs. Exklusiv. -Mail von Beatrix von Storch und das geplante Grundsatzprogramm. Online: https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2016/03/11/anti-islam-kurs [08. 06. 2020].

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der Ausgrenzung nutzbar zu machen. Diskriminierende und oftmals auch rassistische Zuschreibungen werden dabei populistisch im Duktus der Fortschrittlichkeit und der Demokratieverteidigung verkündet. Der Islam wurde von den Rechtspopulisten erst im Zuge der Forderungen eingewanderter muslimischer Bevölkerungsteile nach institutionalisierten Anerkennungsformen als ein wirkungsvolles Feindbild erkannt: ‚Den Muslimen‘ – dazu zählen die Rechten auch als muslimisch markierte Zugewanderte aus mehrheitlich muslimischen Ländern, losgelöst von je individuellen Glaubensvorstellungen – sollten nicht die Rechte kultureller und religiöser Entfaltung zugestanden werden, wie ‚uns‘, dem ‚angestammten Volk‘. In Ausführungen von AfD-Politiker*innen wird erkennbar, wie sich eine rassistisch grundierte Muslimfeindlichkeit mit völkisch-nationalistischen Säuberungsfantasien mischt. In seinen in Buchform veröffentlichten Gesprächen mit Sebastian Hennig verdeutlichte die Gallionsfigur des rechten Flügels in der AfD, Björn Höcke, seine rechtsautoritären Aufstandsfantasien. So hielt Höcke darin einen neuen „Karl Martell vonnöten, um Europa zu retten“. Um das „inhumane Projekt einer Migrationsgesellschaft zu stoppen“, sei die „Strategie der ‚gallischen Dörfer‘“ eine „strategische Option“. Die „Re-Tribalisierung im Zuge des multikulturellen Umbaus“ werde so „zu einer Auffangstellung und einer neuen Keimzelle des Volkes“. Diese könne „eine neue Ausfallstellung werden, von der eine Rückeroberung ihren Ausgang nimmt“. Dazu müsse „eine neue politische Führung“ laut Höcke „schwere moralische Spannungen“ aushalten. Denn sie sei „den Interessen der autochthonen Bevölkerung verpflichtet“ und müsse daher „aller Voraussicht nach Maßnahmen ergreifen, die ihrem eigenen moralischen Empfinden zuwiderlaufen“. Als ­solche Maßnahme sieht Höcke „ein großangelegtes Remigrationsprojekt“ an, bei dem sich „menschliche Härten und unschöne Szenen nicht immer vermeiden lassen werden“.28 Hier offenbaren sich rassistisch grundierte Säuberungsfantasien, deren Sprachduktus und Inhalt Erinnerungen wachrufen an das, was der Philologe Victor Klemperer 1947 als „Lingua Tertii Imperii“, als die Sprache des „Dritten Reiches“ bezeichnet und analysiert hat.29

3. Rechte Metamorphosen Politisch stellt sich die AfD wie ein politisches Chamäleon dar: Entstanden als ursprünglich proatlantisch und neoliberal ausgerichtete Partei hat sie seit ihren ersten Wahlantritten in den ostdeutschen Bundesländern ihre Agitationsangebote angereichert mit 28 Björn Höcke 2018: Nie zweimal in denselben Fluss. Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig. Manuscriptum: Lüdinghausen, Berlin: 252 – 254. 29 Victor Klemperer 1947: LTI. Notizbuch eines Philologen. Aufbau-Verlag: Berlin.

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ostdeutsch adressiertem antiwestlichen Sozialpopulismus und Pro-Putin-Propaganda. Ihre programmatischen Aussagen sind besonders hinsichtlich sozialpolitischer Fragen diffus, unausgereift und widersprüchlich. Allerdings lässt sich in ihrem politischen Werdegang eine kontinuierliche Radikalisierung feststellen, die konträr zur Entwicklung von vielen Rechtsaußenparteien in den europäischen Nachbarländern verläuft. War ihre ursprüngliche Abgrenzung zum offen rechtsradikalen Rand noch Voraussetzung für ihre ersten Wahlerfolge, so schaden der AfD mittlerweile sogar die kontinuierlich zutage tretenden rechtsradikalen Entgleisungen nicht mehr hinsichtlich ihres Wählerzuspruchs. Darin drückt sich gewissermaßen ein partieller öffentlicher Gewöhnungsprozess an rechtsradikale Erscheinungsformen aus, der verheerende Folgen für die künftige demokratische Stabilität des Landes haben kann.

3.1 Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus Mehrheitlich hat sich in der Parteien-, Politik- und Rechtsextremismusforschung die Zuordnung der AfD zur rechtspopulistischen Parteienfamilie durchgesetzt.30 Allerdings ist der Begriff des Rechtspopulismus schon deshalb unterkomplex, weil er sich in erster Linie auf eine spezifische Form politischer Ansprache bezieht und daher noch nichts über die Positionierung einer so charakterisierten Partei auf der Links-Rechts-Skala aussagt. Denn rechtspopulistische Parteien können sowohl nationalliberale/konservative wie auch radikal- oder extrem rechte Bezüge aufweisen. Die Schwierigkeit in der politischen Charakterisierung der AfD liegt darin begründet, dass die Partei ein parteipolitisches Dach darstellt für unterschiedliche politische Milieus, die vom Nationalliberalismus über den Nationalkonservatismus bis in neurechte und völkisch-nationalistische, extrem rechts orientierte Kreise hineinreichen. Die Neue Rechte sieht in der Partei ein Handlungsfeld zur realpolitischen Umsetzung ihrer politischen Vorstellungen. So erklärte der neurechte Vordenker Karlheinz Weißmann in der Wochenzeitung Junge Freiheit (JF ): „Das nächste Ziel der Alternative für Deutschland ist die Organisation als ‚Volkspartei neuen Typs‘. In die müssen die Hauptströmungen – Volkskonservative, Hayekianer, Deutschradikale, Sozialpatrioten – eingeschmolzen werden.“ 31

30 Frank Decker 2016: Die „Alternative für Deutschland“ aus vergleichender Sicht der Parteienforschung. In: Alexander Häusler (Hg.): Die Alternative für Deutschland. Programmatik, Entwicklung und politische Verortung. Springer: Wiesbaden 7 – 23; Jan-Werner Müller 2016: Was ist Populismus? Ein Essay. Suhrkamp: Berlin. 31 Karlheinz Weißmann 16. 03. 2018: Disziplin ist gefordert. In: Junge Freiheit. Online: https://jungefreiheit. de/archiv/?par=archiv18/201812031607.htm [08. 06. 2020].

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3.2 Fortschreitende Radikalisierung Die AfD hat sich im Laufe ihres politischen Werdegangs immer weiter nach rechts außen orientiert, ihrer dynamischen Form der Radikalisierung muss dabei besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Der hierzu passende Begriff der „kumulativen Radikalisierung“ wurde von dem Historiker Hans Mommsen in Bezug auf die Entwicklung der NSDAP geprägt. Seiner Ansicht nach „ersetzte die Partei das, was wir unter Politik verstehen, durch bloße politische Mobilisierung vor dem Hintergrund eines vage definierten visionären Endziels. Das erzeugte jene irrationale Dynamik, die diese Bewegung ausgezeichnet hat.“ Diese Dynamisierung prägte zuerst der Partei, ­später auch dem Regime „ein sozialdarwinistisches Muster auf“. Diese Mobilisierung von institutionell nicht gebundenen Energien bei Teilen der NSDAP setzte dann den Prozess in Gang, den ich „kumulative Radikalisierung“ nenne. Man fand einen Ausgleich z­ wischen divergierenden

Interessen nie im Kompromiss – das war vielmehr ein Schimpfwort – sondern immer nur in der

Annäherung der jeweiligen Interessen an eine visionäre Gesamtlösung.32

Auch die AfD weist ein solches Muster auf: Sie hat sich fortschreitend nach rechts radikalisiert und alle innerparteilichen Bestrebungen gegen einen solchen Kurs bislang durch Abwahl und Amtsenthebungen unterbunden. Nach Ansicht von Heribert Prantl, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, hat sich die AfD zu einer „völkischen“ Partei entwickelt. In der AfD-Rechtsaußenfraktion Der Flügel erkennt Prantl gar neonazistische Merkmale: „Der Takt, der dort geschlagen wird, ist neonazistisch. Es ist dort vom Großdeutschen Reich die Rede und von der Umvolkung, die man verhindern müsse. Das ist die Braunwerdung der AfD.“ 33 Kurzum: In der Partei verdichten sich rechtspopulistische Ansprache mit autoritären Staatsvorstellungen und völkisch-nationalistischen Ansichten zu einem völkisch-autoritären Populismus.

3.3 Ostdeutsche Radikalisierung Da das völkische Denken durch die NS -Verbrechen öffentliche Diskreditierung erfuhr, machte es sich die extreme Rechte der Nachkriegszeit zur Aufgabe, „die Delegitimierung der organischen Volks- und Geschichtsauffassung ihrerseits in Frage zu stellen und damit das völkische Selbstbewusstsein der Deutschen zu befördern“. Als propagandistisches Mittel hierzu dient unter anderem das Konstrukt einer angeblichen „Umerziehung“ der Deutschen 32 Hans Mommsen 16. 09. 1996: „Ständige Radikalisierung“. Interview. In: Focus Online. Online: https:// www.focus.de/politik/deutschland/deutschland-staendige-radikalisierung_aid_159859.html [08. 06. 2020]. 33 Heribert Prantl 27. 07. 2019: Rechtsdraußen. In: Süddeutsche Zeitung, 5.

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durch die Alliierten.34 Daraus leitet die extreme Rechte ihre Forderung nach einer „Normalisierung“ der deutschen Geschichte ab, die eine Umkehr der Erinnerungspolitik in ein erneutes „organisch-völkisches Volkskonzept“ zum Ziel hat.35 Analoge Positionierungen finden sich auch in der AfD wieder: so etwa beim AfDBundes­tagsmitglied Martin E. Renner, der in Reden vor der Parteibasis über „70 Jahre des linksideologischen Grauens“ klagte – über „70 Jahre Dekonstruktion unserer Gesellschaft“, die seiner Ansicht nach mit der Reeducation nach dem Zweiten Weltkrieg („ein Teil der psychologischen Kriegsführung“) ihren Anfang nahmen.36 Diese völkisch-nationalistischen Politikangebote werden – vorzugsweise von AfD-Politikern mit westdeutscher Sozialisation – in besonderem Maße in den ostdeutschen Bundesländern verbreitet und fallen dort oftmals auf fruchtbaren Boden. Neurechte Think-Tanks wie etwa das Institut für Staatspolitik in Schnellroda arbeiten schon seit etlichen Jahren am Aufbau einer völkisch-nationalistischen Bewegung und haben dafür besonders Ostdeutschland ins Visier ihrer Bemühungen genommen. Der rechte Bewegungsunternehmer Götz Kubitschek, das öffentliche Gesicht des Instituts für Staatspolitik, brüstete sich beispielsweise schon im Jahr 2015 auf einer Compact-Veranstaltung in Dresden damit, beratende Funktionen für das Organisationsteam von Pegida übernommen zu haben.37 In der IfS-Zeitschrift Sezession wird kontinuierlich über Möglichkeiten zur spektrumsübergreifenden Formierung einer rechten Bewegung diskutiert: In einer Schwerpunktausgabe der Zeitschrift zu Pegida bemühte sich Kubitschek um die Vermittlung von geistigem „Rüstzeug“ für die selbsternannten Abendlandretter in Dresden: Er lobte die „Rituale“, das „Fahnenmeer“ und das „Lichtermeer“ zum Veranstaltungsende der Pegida-Aufmärsche, die seiner Ansicht nach die „Masse rahmen und ausrichten und zu einer Bewegung machen“.38 Schon 2013, dem Gründungsjahr der AfD, zierte der Slogan „Alternativen für Deutschland“ das Cover der Sezession. Was für die Zeitschrift als „Alternativen“ in Frage kamen, verdeutlichten die Logos der Organisationen auf dem Titel: die AfD, die Republikaner (REPs), die Bürger in Wut, die muslimfeindliche Rechtsaußenpartei Pro NRW und die rechtsextreme Identitäre Bewegung.39 Im Vorfeld der Landtagswahlen 2019 in Sachsen brachte die Sezession 34 Michael Kohlstruck 2011: Völkische Geschichtsauffassung und erinnerungspolitische Argumentationen im Rechtsextremismus der Gegenwart. Jahrbuch für Politik und Geschichte Bd. 2. Franz Steiner Verlag: Stuttgart, 48. 35 Ebd. 53. 36 Martin E. Renner: Rede vor dem Landesparteitag am 29. und 30. August 2015 in Bottrop. Online: https:// nixgut.wordpress.com/2015/09/03/martin-renner-afd-wir-sind-nicht-dunkeldeutschland/ [08. 06. 2020]. 37 Götz Kubitschek 16. 04. 2015: Rede auf der Compact-Veranstaltung „PEGIDA – wie weiter?“. Online: https://www.compact-online.de/pegida-redivivus-forte-zu-risiken-und-nebenwirkungen-fragen-sieihren-neurechten-oder-ihren-nationalbolschewiken/ [14. 08. 2019]. 38 Götz Kubitschek 2015: Die Rüstkammer der PEGIDA. In: Sezession Sonderheft PEGIDA, 1. 39 Vgl. dazu das Titelbild der Zeitschrift Sezession Sonderheft Alternativen für Deutschland im Mai 2013.

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zudem ein Schwerpunktheft über den Freistaat heraus. Darin schwärmte Kubitschek von der „Mobilisierung hunderttausender Sachsen gegen das Berliner Gesellschaftsexperiment“.40 Der Blogger Jörg Seidel verkündete im gleichen Heft folgende „Widerstands“-Analogie: „Wer die Montagsdemonstration in Leipzig 89 bejaht, kann die Dresdner Montagsspaziergänge nicht verteufeln, ohne das Ursächsische daran zu vergewaltigen.“ 41 Der Schriftsteller Uwe Tellkamp wendete sich in einem Beitrag des Heftes gegen die Wortführer „der Moralbranche“, ­welche angeblich täglich ihre Verachtung des Eigenen, des Herkommens, des kulturellen Gepräges (wie vielfältig es auch beeinflußt sein mag) haltungskorrekt aus allen Zeitgeiströhren posaunt. In Sachsen, in

Dresden regt sich dagegen Widerstand, mehr als anderorts, wie es scheint.42

Auch das rechte Querfrontmagazin Compact sieht seine zentrale Wirkungsmöglichkeit in Ostdeutschland. Compact-Chefredakteur Jürgen Elsässer träumt darin offensichtlich von einer rechtsradikal gewendeten neuen Freien Deutschen Jugend: Wir haben die parlamentarische Bewegung, die AfD. Wir haben die außerparlamentarische

Bewegung, die Pegida. Wir haben freie Gewerkschaften, […] wie das Zentrum Automobil bei

Daimler Benz […]. Wir haben die freien Medien, geführt von Compact, und wir haben die Freie

Deutsche Jugend in Gestalt von der Identitären Bewegung: Einen Finger kann man brechen, aber fünf Finger sind eine Faust!43

Und im Interview mit dem Compact-Magazin erklärte der kulturpolitische Sprecher der AfD, Marc Jongen: „Die Bürger im Westen sind, so paradox es klingt, viel stärker indoktriniert worden als die im Osten.“ Den Grund dafür sieht Jongen in der „Angst vor dem ‚inneren Nazi‘, der ihnen eingeredet“ werde. Den Ostdeutschen hingegen stecke seit dem gesellschaftlichen Aufbruch 1989 „der rebellische Geist gegen die falsche Obrigkeit in den Knochen, wie er auf ähnliche Weise auch die AfD beseelt. Es ist daher kein Wunder, dass der Osten zum Motor des Erfolgs unserer Partei geworden ist“.44 Eine rechtsradikale Bewegung hat sich nach dem Vorbild von Pegida unter Mitwirkung von AfD-Kadern in vielen Regionen Ostdeutschland schon formiert. So verkündete der 40 41 42 43

Götz Kubitschek 2019: Sachsen. In: Sezession 90, 1. Jörg Seidel 2019: Warum Sachsen? Warum der Osten? In: Sezession 90, 17. Uwe Tellkamp 2019: Dresdener Aufzeichnungen. In: Sezession 90, 47. Jürgen Elsässer 10. 08. 2019: Rede auf der Compact-Veranstaltung „Der Osten leuchtet – Was der Westen lernen kann“. Online: https://www.youtube.com/watch?v=-OZ1CKImB_I [08. 06. 2020]. 44 Marc Jongen 2019: Der Osten ist unser Erfolgsmotor. In: Compact-Magazin, 9. Online: https://www. compact-online.de/compact-interview-mit-marc-jongen-afd-der-osten-ist-unser-erfolgsmotor-was-derwesten-vom-osten-lernen-kann/#prettyPhoto [08. 06. 2020].

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frühere Brandenburger AfD-Landeschef Andreas Kalbitz auf einer flüchtlingsfeindlichen Demonstration in Cottbus im Februar 2018: „Cottbus ist das neue Dresden.“ 45 Dabei tarnen sich ­solche rechtsradikalen Formationen als unscheinbar klingende Bürgerforen und Bürgerbewegungen. So zeigt sich die organisierte rassistische Mobilisierung unter dem Deckmantel einer „Bürgerbewegung“ ebenfalls in dem in Golßen am Rande des Spreewaldes gegründeten Vereins Zukunft Heimat, der regelmäßige Demonstrationen in Cottbus organisiert. Vereinsvorsitzender ist der AfD-Politiker Christoph Berndt, der im Januar 2019 auf dem Brandenburger AfD-Landesparteitag auf den zweiten Platz der Landesliste gewählt wurde. Berndt wirbt auf der Facebook-Seite des Vereins für die Wahl der AfD mit dem Slogan „Bürger-Bewegung ins Parlament!“.46 Der Verein macht sich einerseits für Heimat­pflege, Radwege und Erntedankfeste stark und andererseits mobilisiert er in völkischrassistischer Manier gegen die Flüchtlingspolitik von Bund und Land. Besonders mit der im Mai 2017 in Cottbus gestarteten Kampagne Grenzen ziehen gelang es den Organisatoren temporär, mehrere Tausend Personen zu mobilisieren. Nach Ansicht des Vorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei in Brandenburg, Andreas Schuster, ist „Zukunft Heimat zu einer Art Dachorganisation geworden“. Seinen Beobachtungen nach reiche das Teilnehmerspektrum von „Reichsbürgern über Fußball-Hooligans über Kickboxer, Ex-DVU- und NPD -Angehörige“.47 Laut Auskunft des Brandenburger Verfassungsschutzes gibt es bei dem Verein „organisatorische und personelle Überschneidungen“ vor allem mit der rechtsextremistischen Identitären Bewegung.48 Der Zukunft-Heimat-Sprecher Berndt forderte in einer Rede am 27. Mai 2018 auf der AfD-Demo Zukunft Deutschland in Berlin das gemeinsame Demonstrieren „mit AfD und Pegida, mit Bloggern und alternativen Medien, mit Bürgerinitiativen und Ein Prozent“, worauf­hin ihm die mit ihm auf der Bühne stehenden AfD-Bundesvorsitzenden Gauland und Meuthen applaudierten.49 In einem Gespräch mit Compact-Herausgeber Elsässer erläuterte Berndt die Zusammenarbeit z­ wischen Partei und rechter Bewegung: „Die ganze

45 Alexander Fröhlich 06. 02. 2018: AfD, PEGIDA, Identitäre Bewegung. Ist Cottbus das neue Dresden? In: Tagesspiegel. Online: https://www.tagesspiegel.de/berlin/afd-pegida-identitaere-bewegung-ist-cottbusdas-neue-dresden/20925890.html [08. 06. 2020]. 46 Zukunft Heimat 12. 08. 2019: Facebook-Eintrag. Online: https://www.facebook.com/ZukunftHeimat/ [08. 06. 2020]. 47 N. N. 27. 02. 2018: Wie „Zukunft Heimat“ nach Cottbus fand. In: Märkische Allgemeine. Online: https:// www.maz-online.de/Brandenburg/Wie-Zukunft-Heimat-nach-Cottbus-fand [08. 06. 2020]. 48 Rene Garzke 13. 08. 2018: Verfassungsschutz äußert sich zu „Zukunft Heimat“. Bürgerverein mit Kontakt zu Rechtsextremen. In: Potsdamer Neue Nachrichten. Online: https://www.pnn.de/brandenburg/verfas​ sungsschutz-aeussert-sich-zu-zukunft-heimat-buergerverein-mit-kontakt-zu-rechtsextremen/22916578. html [08. 06. 2020]. 49 Hans-Christoph Berndt auf AfD-Demo in Berlin: „Wir gehen aufrecht.“. Online: https://www.youtube. com/watch?v=elz680HrRic [08. 06. 2020].

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Brandenburger AfD steht ganz überwiegend zu d ­ iesem Kurs des gemeinsamen Handelns 50 von Bürgerbewegung und AfD.“  Insofern stellt sich die AfD in die scheinbare Tradition des zivilgesellschaftlichen demokratischen Aufbruchs in der Wendezeit: „Wende 2.0“ lautete beispielsweise der Slogan der Brandenburger AfD zur Landtagswahl 2019. In einer Wahlkampfrede verdeutlichte AfDParteichef Gauland die populistischen Muster einer solchen rechten Instrumentalisierung des demokratischen Aufbruchs in der früheren DDR: Meine Damen und Herren, Sie haben 1989 die Freiheit erlangt und manche unter Ihnen haben

sie persönlich erkämpft. Dann kamen die Westdeutschen, von denen sich viele weit besser mit der DDR arrangiert haben als Sie und haben Ihnen erklärt, wo es langgeht.

Der in der westdeutschen CDU politisch sozialisierte Politikprofi spielt hierbei mit vorhandenen Kränkungen und übersetzt sie in reaktionäre Feindbilder: Westdeutsche haben so gut wie alle führenden Stellen in Ihrem Bundesland besetzt, Sie zu Bürgern zweiter Klasse gemacht, was Sie ja aus der DDR gewohnt waren, und bei Ihnen für die

westliche Zivilreligion missioniert: deutsche Schuld bis ans Ende aller Zeiten, Kampf gegen rechts, Feminismus, Multikulturalismus. Dabei hatten die Ostdeutschen 1990 mehrheitlich

­Helmut Kohl gewählt, zum Entsetzen der Roten und Grünen im Westen. Was dann geschehen

ist, liebe Freunde, wissen Sie: Die CDU wurde von einer protestantischen Pfarrerstochter und

FDJ-Sekretärin aus dem Osten gekapert, die jede ihrer anfänglichen politischen Positionen kom-

plett ins Gegenteil gedreht hat. Und heute ist die Union so rot-grün, wie alle anderen Blockparteien auch. Was den Opportunismus angeht, zeigt die CDU durchaus SED-Qualitäten: Elf

Minuten Standing Ovation für ein Plattitüdenfestival der Vorsitzenden haben Ostblockformat.

Gauland appelliert an einen angeblich genuinen ostdeutschen Widerstandsgeist und deutet ihn in antieuropäisch-nationalistische Haltungen um: Viele von Ihnen haben damals geglaubt, die DDR-Herkunft sei ein Makel und Sie müssten sich

gegenüber dem reichen Bruder aus dem Westen kleinmachen. Heute sehen Sie: Ihre Herkunft

ist ein Erkenntnisvorsprung. Sie wissen, wie eine Diktatur sich anfühlt. Sie hören das autoritäre

Gras wachsen, wenn sich die Kulturschaffenden geschlossen hinter die Politik der Regierung

stellen, wenn auf allen Kanälen die Opposition verteufelt wird, wenn man daheim und in der

Öffentlichkeit mit zwei Zungen sprechen muss, um sich Ärger zu ersparen. Liebe Freunde, die

Dinge haben sich gedreht: Heute sind die Ostdeutschen die politischen Individuen und auf der 50 Compact-TV 11. 08. 2019. Online: https://www.youtube.com/watch?v=N4xcbLRqlIs [08. 06. 2020].

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anderen Seite marschieren die Kollektivisten. Der Vorteil der Linken im Westen besteht lediglich

darin, dass die ein marktwirtschaftliches System ausplündern können, während sich die Linken

im Osten mit einer sozialistischen Wirtschaft begnügen mussten. Meine Damen und Herren,

liebe Freunde, Sie haben sich 1989 das Recht erkämpft, frei zu sein, wozu auch das Recht gehört, deutsch sein zu dürfen. Sie haben den Moskauer Zentralismus abgeschüttelt, dessen Agenten in

Berlin saßen so wie die Agenten des heutigen Brüsseler Zentralismus ebenfalls in Berlin sitzen

und Sie von Neuem unter ein Joch zwingen wollen. Ein viel Smarteres, Bunteres, aber es bleibt ein Joch. Ein machtloses Scheinparlament simuliert in Brüssel und Straßburg Demokratie und

in Berlin wird das Parlament immer mehr von allen wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen.

Die wirkliche Macht wird immer unsichtbarer und unkontrollierbarer.

Das antieuropäische Ressentiment unterfüttert der AfD-Agitator mit einem antisemitisch konnotierten Sprachbild: Die globalistische Krake hat an Nationen und Völkern kein Interesse. Sie sind zwar die Träger des Rechts, der Freiheit und der demokratischen Willensbildung, aber in ihrem störrischen

Beharren auf Identität, Heimat und Mitbestimmung stehen sie den Globalisten im Wege. Meine

Damen und Herren, liebe Freunde, lassen sie sich ihr Recht auf Mitbestimmung nicht nehmen.

Wählen Sie die Partei, von der sie glauben, dass sie Ihre Interessen vertritt. Bleiben Sie freiheitlich und bleiben Sie deutsch!51

In dem Zusammenfügen der Worte freiheitlich und deutsch offenbart sich das agitatorische Bestreben, demokratisch-zivilgesellschaftliche Freiheitspostulate mit einem nationalistischen Politikverständnis zu verknüpfen und somit den demokratischen Aufbruch in der ehemaligen DDR zu einem Vorbild für die eigene politische Mobilisierung zu instrumentalisieren. Der völkisch-autoritäre Populismus der AfD fällt bei Wahlen in Ostdeutschland auf besonders fruchtbaren Boden. Sollte sich diese Entwicklung fortsetzen, droht eine zunehmende Faschisierung in den ostdeutschen Bundesländern, die auf die gesamte Bundes­republik ausstrahlen kann.

51 Hier und im Vorhergehenden: Alexander Gauland 12. 08. 2019: Wahlkampfrede in Turnow-Preilack im Amt Peitz. Online: https://www.facebook.com/548060158886250/posts/879759365716326 [08. 06. 2020].

Michael Nattke

Der Schulterschluss zur Revolte Die Qualität einer neuen Zivilgesellschaft von rechts am Beispiel Sachsen

1. Einleitung Die Verkaufszahlen des Buches Deutschland schafft sich ab von Thilo Sarrazin 1 haben vor mittlerweile zehn Jahren gezeigt, dass rassistische Ressentiments und die Ablehnung des Islam in der deutschen Bevölkerung keine Randerscheinung sind. Götz Kubitschek, einer der Vordenker der Neuen Rechten in der Bundesrepublik, sagte einen Tag nach der Veröffentlichung des Buches: „Diese ­Themen sind jetzt auf der Tagesordnung, sie werden gedreht, sie werden püriert, aber sie sind da – und wenn der Geist aus der Flasche ist, dann will er nicht wieder hinein.“ 2 Knapp vier Jahre s­ päter hatten sich die Verhältnisse tatsächlich verändert. Einstellungsuntersuchungen haben gezeigt, dass in Deutschland „21,3 % der Befragten im Jahr 2018/19 deutlich zu rechtspopulistischen Einstellungen“ 3 neigten. Andere Studien unterstreichen diese Ergebnisse.4 Die islamfeindlichen Pegida-Demonstrationen haben es in den Jahren 2015/2016 geschafft, d ­ ieses Fünftel der deutschen Bevölkerung zu mobilisieren und sichtbar zu machen. Bis zu 25.000 Menschen schlossen sich den chauvinistischen Demonstrationen an, und über 200.000 Menschen äußerten ihre Zustimmung in den sozialen Netzwerken offen, indem sie zum Beispiel Veröffentlichungen von Pegida teilten und deren Profilen wohlwollend folgten.5 Seitdem sind die Grenzen z­ wischen organisiertem N ­ eonazismus, 1 Thilo Sarrazin 2010: Deutschland schafft sich ab: wie wir unser Land aufs Spiel setzen. Deutsche Verlags-Anstalt: München. 2 Götz Kubitschek 31. 08. 2010: Vor, während und nach Sarrazin. Sezession im Netz. https://sezession. de/18907/vor-waehrend-und-nach-sarrazin [08. 06. 2020]. 3 Andreas Zick, Beate Küpper, Wilhelm Berghan 2019: Verlorene Mitte. Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018. Dietz: Bonn, 181. 4 Vgl. u. a.: Oliver Decker, Elmar Brähler (Hg.) 2018: Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Psychosozial-Verlag: Gießen. 5 Noura Maan, Fabian Schmid 2017: „Wir sind das Volk“ – auch im Netz. Wie AfD, PEGIDA & Co. Soziale Netzwerke und rechte Blogs für ihre Propaganda n ­ utzen. In: Heike Kleffner, Matthias Meisner

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Neuen Rechten, Rechtspopulismus und bürgerschaftlichem Engagement von rechts immer mehr verschwommen.6 Neonazis, wie zum Beispiel die Anhänger*innen der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD ) oder der freien Kameradschaftsszene, haben spürbar an Einfluss und Mobilisierungsfähigkeit verloren. Stattdessen feierten neue Formen des Rechtsextremismus in Gestalt eines autoritären Nationalradikalismus 7 immer größere Erfolge. Der Alternative für Deutschland (AfD) gelang es bei den Bundestagswahlen im Herbst 2017 erstmals, die stärkste politische Kraft in einem Bundesland zu werden. In Sachsen holte sie mit 27 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis aller Parteien.8 Bei den Wahlen zu den Europawahlen im Frühjahr 2019 konnte die AfD ­dieses Ergebnis in Sachsen weitestgehend bestätigen.9 Inhalte und Positionen der Partei dominierten die politischen Debatten. Seit 2016 arbeiten sich Politiker*innen demokratischer Parteien und Medien permanent am Agendasetting der AfD ab. Diskursive Grenzen sind überschritten, rassistische, islamfeindliche oder nationalistische Ideen und Begriffe in bis dato ungekannter Schärfe salonfähig geworden. Einen Höhepunkt dieser Entwicklungen bildeten die Ereignisse in Chemnitz im Spätsommer 2018. Nachdem ein junger Deutscher mutmaßlich von einem Geflüchteten im Streit niedergestochen und an den Verletzungen verstorben war, kam es in Chemnitz über den Zeitraum von einer Woche zu unterschiedlichen rechten Demonstrationen. Das Besondere daran war: Innerhalb kürzester Zeit gelang es der organisierten rechtsextremen und rechtspopulistischen Szene, eine fünfstellige Zahl von Menschen zu mobilisieren. Eine klare Grenzziehung z­ wischen offen neonazistischen, rechtsextremen, rechtspopulistischen oder rechtskonservativen Bürger*innen war bei diesen Demonstrationen nicht mehr möglich. Zwischen all diesen Strömungen und politischen Lagern konnte ein Schulterschluss beobachtet werden, wie er in dieser Offenheit bislang nicht zutage getreten war. Der vorliegende Beitrag widmet sich d ­ iesem Schulterschluss exemplarisch. Zunächst werden analytisch die Akteure – Organisator*innen wie Teilnehmende – der rechten Demonstrationen vom 26. August bis 1. September 2018 in den Blick genommen. Anschließend erfolgt ein kursorischer Überblick über gemeinsame Ideologien und Begriffe einer sonst (Hg.) 2017: Unter Sachsen. Zwischen Wut und Willkommen. Ch. Links Verlag: Berlin, 47 – 55. 6 Korsch, Felix 2016: Wehrhafter Rassismus. Materialien zu Vigilantismus und zum Widerstandsdiskurs der sozialen Bewegung von rechts. In: Friedrich Burschel (Hg.): Durchmarsch von rechts. Völkischer Aufbruch: Rassismus, Rechtspopulismus, rechter Terror. Manuskript: Berlin, 16 – 19; Hans Vorländer, Maik Herold, Steven Schäller 2018: PEGIDA and New Right-Wing Populism in Germany. Palgrave: Basingstoke, 195 – 203. 7 Heitmeyer, Wilhelm 2018: Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung 1. Edition Suhrkamp: Frankfurt am Main. 8 Vgl. https://www.bundeswahlleiter.de/bundestagswahlen/2017/ergebnisse/bund-99/land-14.html [08. 06. 2020]. 9 Vgl. https://www.wahlen.sachsen.de/europawahl-2019-wahlergebnisse-6931.php [08. 06. 2020].

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relativ diversen extrem rechten Szene. Dieser Ansatz findet eine Ergänzung im Versuch einer Einschätzung, inwieweit wir es derzeit mit einer einheitlichen rechten Bewegung oder inhaltlichen, strategischen und temporären Allianzen zu tun haben. Darzulegen ist dabei auch, wie die demonstrierte Zusammenarbeit in Chemnitz in der extremen Rechten der Bundesrepublik gedanklich vorbereitet wurde.

2. Schulterschluss zwischen Neonazis, Neuen Rechten und AfD am Beispiel Chemnitz Akteur*innen, Symbole und Inhalte des Rechtsextremismus, der Neuen Rechten und des Rechtspopulismus weisen eine gewisse programmatische, organisatorische und strategische Vielgestaltigkeit auf. Es wäre daher ein Trugschluss, sie als homogene Masse anzusehen. Nicht jede*r Neue Rechte ist zugleich auch ein*e Neonazi. Und nicht jede*r Neonazi wird mit der AfD sympathisieren. In den letzten Jahrzehnten hat in ­diesem politischen Spek­ trum eine starke Ausdifferenzierung stattgefunden. Die Breite und Quantität der ­Themen, die strategischen Ausrichtungen, die Formen und Methoden der politischen Kommunikation sowie die Unterschiedlichkeit der Gruppen und Parteien haben zugenommen.10 Auf der formalen Ebene gibt es zunächst eine strikte Abgrenzung der Neuen Rechten und rechtspopulistischen Szene von Neonazis. Andererseits hat in den letzten Jahren der Bewegungscharakter der extrem rechten Szene deutlich an Bedeutung gewonnen. So verstehen sich heute große Teile des Spektrums – sowohl aus dem Rechtspopulismus und der Neuen Rechten wie auch aus dem harten Kern der neonazistischen Szene – als Teil einer gemeinsamen Bewegung. Einzelne mobilisierende Ereignisse verdeutlichen dies. Als Ende August 2018 ein junger Deutscher im Streit mit Asylsuchenden durch Messerstiche zu Tode kam,11 gelang der rechtsextremen Szene ein enger Schulterschluss mit Neuen Rechten und Rechtspopulisten. Der Mobilisierungserfolg vom Spätsommer 2018 hat jedoch eine Vorgeschichte. Seit März 2018 hatte die AfD den Begriff der „Messermigration“ aufgegriffen und in eigenen Beiträgen und Veröffentlichungen weiter kolportiert. Das Setzen neuer, diffamierender Begriffe, an denen sich politische Gegner*innen und Medien dann abarbeiten, ist Teil der AfD-Strategie, um mit ­Themen, die die eigene Agenda befördern, sichtbar zu bleiben und 10 Bianca Klose, Sven Richwin 2016: Organisationsformen des Rechtsextremismus. In: Fabian Virchow, Martin Langebach, Alexander Häusler (Hg.): Handbuch Rechtsextremismus. Springer VS: Wiesbaden, 205 – 224 sowie Alexander Häusler 2016: ­Themen der Rechten. In: Fabian Virchow, Martin Langebach, Alexander Häusler (Hg.): Handbuch Rechtsextremismus. Springer VS: Wiesbaden, 135 – 180. 11 Das Oberlandesgericht Dresden sieht es im Urteilsspruch vom 22. 08. 2019 als erwiesen an, dass der 35-jährige Daniel H. durch Messerstiche des Asylsuchenden Alaa S. im August 2018 in Chemnitz am Rande des Stadtfestes zu Tode kam. Vgl. dazu u. a.: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-08/ urteil-im-chemnitz-prozess-neuneinhalb-jahre-haft-fuer-alaa-s [08. 06. 2020].

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demzufolge auch in öffentliche Debatten als relevanter politischer Akteur wahrgenommen zu werden. Beispiele dafür sind neben der „Messermigration“ zum Beispiel Begriffssetzungen wie „Asylindustrie“ und „Asylforderer“ oder die herabwürdigende Konnotation der Bezeichnung „Gutmensch“. Der AfD-Bundestagsabgeordnete Martin Hess behauptete in einer Rede im Deutschen Bundestag im März 2018, dass die Zahl der Messerattacken durch die Zuwanderung in Deutschland in einigen Metropolen um 300 Prozent gestiegen sei.12 Grundlage für diese Behauptung waren Fehlinterpretationen unterschiedlicher polizeilicher Statistiken. Die vermeintliche Zunahme von Straftaten, bei denen Messer als Tatmittel benannt werden, führte anschließend zu Diskussionen in Boulevardmedien und wurde von der AfD propagandistisch in der Debatte gegen Zuwanderung eingesetzt. Auf Pegida-Demonstrationen, in Reden von AfD-Funktionär*innen sowie in rechten Zeitungen und Zeitschriften wurde in den folgenden Wochen und Monaten immer wieder behauptet, dass der vorübergehende Anstieg der Zuwanderung nach Deutschland in den Jahren 2015/2016 mit einem enormen Anstieg der Messerdelikte einhergegangen sei.13 Im Sommer 2018 präsentierte die AfD-Bundestagsfraktion vorübergehend eine Webseite unter der Domain www.messereinwanderung.de. Der Tod eines Deutschen durch Messerstiche eines Asylsuchenden kam für die politischen Akteur*innen der rechtsextremen Szene und der AfD zu einem strategisch günstigen Zeitpunkt. Innerhalb eines Tages gelang es, mehrere tausend Menschen zu mobilisieren, um gemeinsam auf der Straße zu demonstrieren. Einem ersten Aufruf der lokalen AfD folgten am Sonntag, dem 26. August 2018, also bereits wenige Stunden nach der Straftat, rund 150 Personen. Insbesondere rechte Chemnitzer Hooligans und Fußballfans schlossen sich einem spontanen Aufmarsch durch das Stadtzentrum an. Schätzungen zufolge waren es bis zu eintausend Menschen, die sich zu dem Spontanaufmarsch versammelten. Auch zahlreiche Teilnehmende der vorherigen AfD-Kundgebung waren bei ­diesem Aufzug wiederzufinden.14 Aufgerufen hatte die rechtsextreme Hooligangruppe Kaotic Chemnitz mit der Losung „Lasst uns zusammen zeigen wer [sic] in der Stadt das sagen [sic] hat!“.15 Angeführt wurde der Aufzug unter anderem von Personen, die bereits in der Vergangenheit in der organisierten 12 Plenarprotokoll 19/24, Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 24. Sitzung, Berlin, Freitag, den 23. März 2018. 13 Im verschwörungstheoretischen rechten Compact-Magazin wird in einem Artikel vom 08. 01. 2018 (Multikulti-Hirnwäsche im Kinderkanal: Der Syrer und seine deutsche Prinzessin) von „Messermigranten“ gesprochen. Am 07. 05. 2018 sprach der AfD-Bundestagsabgeordnete Gottfried Curio in einem SWR-Interview davon, dass die Zunahme der Einwanderung eine „Messereinwanderung“ sei. Die rechte Internetplattform PI-News schrieb in einem Artikel (Gunzenhausen: Migrant tötet drei Kinder und Ehefrau) am 26. 06. 2018: „Masseneinwanderung ist bekanntlich Messereinwanderung!“. 14 Vgl. https://www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/chronologie-ereignisse-chemnitz-104.html [08. 06. 2020]. 15 Facebook-Eintrag auf der Seite von Kaotic Chemnitz vom 26. 08. 2019 [Eintrag wurde s­ päter gelöscht, aber liegt dem Autor als Screenshot vor].

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Neonaziszene aufgefallen waren. Zwischenzeitlich ging der damalige Meeraner NPD Stadtrat Patrick Gentsch an der Spitze der Spontandemonstration. Seit Ende der 1990er Jahre wird er mit der gewalttätigen Neonaziszene in Westsachsen in Verbindung gebracht und bewegte sich in den letzten Jahren unter anderem auch im rechtsextremen Hooliganspektrum. Ebenso waren Personen vor Ort und führten zwischenzeitlich den Aufzug an, die in der Vergangenheit bei der verbotenen Neonazikameradschaft Nationale Sozialisten Chemnitz (NSC) aktiv gewesen waren.16 Für den darauffolgenden Montag, den 27. August, hatte die lokale Wählervereinigung Pro Chemnitz um den bekannten rechtsextremen Anwalt Martin Kohlmann zu einer Demonstration in Chemnitz aufgerufen.17 Mehr als sechstausend Menschen beteiligten sich an dem Aufzug. Bereits zu Beginn der Kundgebung wurde von Martin Kohlmann in einer Rede gefordert, dass es eine neue Wende geben müsse, die „erheblich gründlicher werden“ müsse als die Wende von 1989. Die Anwesenden antworteten ihm mit Sprechchören: „Ausmisten, ausmisten, ausmisten!“ Mehrere Teilnehmende der Kundgebung zeigten den Hitlergruß. Als sich der Demonstrationszug in Bewegung setzte, skandierten hunderte: „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“ Daneben waren immer wieder Sprechchöre wie „Frei, sozial und national!“, „Hier marschiert der nationale Widerstand!“ und „Merkel muss weg!“ zu hören.18 Trotz dieser eindeutigen Ausrichtung wurde in den darauffolgenden Tagen bundesweit darüber diskutiert, ob diese Demonstration und ihre Teilnehmenden als rechtsextrem gelten könnten oder nicht.19 Neben lokalen und überregionalen Kadern der Parteien Der Dritte Weg, NPD, Die Rechte, von Organisationen wie der Identitären Bewegung (IB) oder der heute verbotenen Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ), waren auch einzelne lokale Mitglieder der AfD und Bürger*innen an der Demonstration beteiligt, die in der Vergangenheit bereits bei Aufmärschen von Pegida zu sehen gewesen waren. Letztere waren bis dahin noch nicht gemeinsam mit Neonazis in der Öffentlichkeit aufgetreten. An ­diesem 27. August in Chemnitz schlossen sie sich einer Demonstration an, die von organisierten Neonazis inhaltlich und organisatorisch dominiert wurde. Am Rande der Demonstrationen am Sonntag und am Montag in Chemnitz kam es immer wieder zu Übergriffen auf Menschen, die als Ausländer*innen wahrgenommen wurden, sowie auf Journalist*innen und Gegendemonstrant*innen.

16 N. N. 2018: Rassistische Mobilisierungen in Chemnitz. Antifaschistisches Infoblatt 120 (3), 6 – 9. 17 Jens Eumann, Kai Kollenberg, Swen Uhlig, Michael Müller, Jan Oechsner, Ulrike Abraham 2018: Martin Kohlmann: Advokat und Provokateur. In: Freie Presse vom 13. 11. 2018. Online: https://www.freiepresse. de/chemnitz/martin-kohlmann-advokat-und-provokateur-artikel10361698 [08. 06. 2020]. 18 Der Autor war im Sinne einer teilnehmenden Beobachtung bei den Demonstrationen anwesend und hat diese dokumentiert. 19 Andreas Speit 2018: „Wir sind keine Nazis“. In: der rechte rand 174, 8.

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Für den darauffolgenden Samstag, den 1. September 2018, hatte dann der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke gemeinsam mit Pegida zu einer Demonstration in Chemnitz aufgerufen. Die Teilnehmer*innen einer Kundgebung der rechtsextremen Wählervereinigung Pro Chemnitz schlossen sich d ­ iesem Aufzug an. Die ersten Reihen der Demonstration, die als Trauermarsch deklariert war, bestanden aus der sächsischen AfD-Landtagsfraktion und einigen AfD-Parteifunktionär*innen aus anderen Bundesländern, den Protagonist*innen von Pegida, dem Vorsitzenden der neurechten NGO Ein Prozent, Philip Stein, und führenden Vertretern des Instituts für Staatspolitik,20 etwa Götz Kubitschek. In den Demonstrationszug reihten sich außerdem ehemalige Mitglieder des verbotenen Blood&-Honour-Netzwerkes, der ebenfalls verbotenen HDJ, der NPD, freier Kameradschaften, der rechtsextremen Hooli­ganszene und anderer rechter Gruppen ein.21 Innerhalb der AfD löste das in den Medien kolportierte vereinte Vorgehen ein gespaltenes Echo aus. Dessen ungeachtet bewies das Ereignis die gemeinsame Mobilisierungsfähigkeit des rechtsextremen und rechtspopulistischen Lagers. Erneut waren dem Aufruf nach eigenen Schätzungen rund sechstausend Menschen gefolgt. Indes waren die politischen Hintergründe der Teilnehmer*innen am 1. September im Detail divers. Gemeinsam war ihnen allen jedoch eine Gesinnung im rechten Spektrum des politischen Meinungsbildes. Den rechten Mobilisierungen im August und September 2018 folgte ein enormer Anstieg der rechtsmotivierten Gewalt in der Stadt Chemnitz. Die Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt der RAA Sachsen e. V. zählten für das Jahr 2018 allein in der Stadt insgesamt 79 rechtsmotivierte und rassistische Angriffe auf Menschen.22 Die Zahl hatte sich im Vergleich zum Vorjahr vervierfacht. Der überwiegende Teil der Straftaten wurde in der Zeit ab dem 26. August 2018 verübt. Ende September 2018 eröffnete der Generalbundesanwalt zudem ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung gegen eine Gruppe namens Revolution Chemnitz.23 Die Gruppe soll infolge der rechten Mobilmachung in Chemnitz mehrere Anschläge gegen Ausländer*innen und Politiker*innen geplant haben und war dabei, sich Waffen zu beschaffen. Recherchen zeigten schnell: Die Mitglieder der Gruppe hatten auch an einigen der genannten Demonstrationen in Chemnitz teilgenommen.

20 Vgl. zum Institut für Staatspolitik den Beitrag von Helmut Kellershohn 2016: Das Institut für Staatspolitik und das jungkonservative Hegemonieprojekt. In: Stephan Braun, Alexander Geisler und Martin Gerster (Hg.): Strategien der extremen Rechten. Springer: Wiesbaden, 439 – 467. 21 Vgl. dazu u. a. die Recherchen des WDR: AfD-Schulterschluss mit Rechtsextremen, 06. 09. 2018. Online: https://www.tagesschau.de/ausland/monitor-afd-rechte-gruppen-101.html [30. 07. 2019]. 22 RAA Sachsen e. V. 2019: Statistik: Rechtsmotivierte und rassistische Gewalt in Sachen 2018. Online: https://www.raa-sachsen.de/support/statistik/statistiken/rechtsmotivierte-und-rassistische-gewalt-insachen-2018-3882 [08. 06. 2020]. 23 Vgl. Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, Pressemittelung Nr. 53 vom 01. 10. 2018.

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Zusammenfassend kann davon gesprochen werden, dass im Spätsommer 2018 unterschiedliche rechte Strukturen, Parteien, Gruppen und Personen temporär, regional begrenzt und themenzentriert zusammengearbeitet hatten. Das Spektrum reichte dabei von der AfD über Pegida, die Ein-Prozent-Gruppierung, rechte Hooligans, die Identitäre Bewegung bis hin zu neonazistischen Gruppen, wie z. B. der NPD, dem Dritten Weg, den Nachfolgestrukturen des Blood-&-Honour-Netzwerkes, der verbotenen HDJ, Kameradschaften und rechtsterroristischen Zusammenschlüssen. In der Frage um die „Messermigration“ bzw. die vermeintliche „Gewalt durch Ausländer gegen Deutsche“ waren sich die unterschiedlichen rechten Gruppen und Vereinigungen insofern einig, dass man mehrfach gemeinsam und öffentlich auf die Straße gegangen sei. Zahlreiche Bürger*innen, die keinen organisierten neonazistischen Strukturen angehörten, aber in der Mehrheit mit Pegida und/oder der AfD sympathisierten, hatten sich diesen Aufzügen ebenfalls angeschlossen. Die ideologischen und inhaltlichen Unterschiede innerhalb des Rechtsextremismus und Rechtspopulismus standen dabei nicht im Vordergrund. Das Beispiel Chemnitz zeigt vielmehr, dass es der extre­men Rechten in der Bundesrepublik gelingen kann, zu bestimmten Ereignissen, in einem begrenzten Zeitraum und mit einem regionalen Schwerpunkt eine gemeinsame erfolgreiche Mobilisierung im Sinne eines Bewegungscharakters zu vollführen. Diese Form der Mobilmachung ist in der Zukunft wiederholbar. Es kann jedoch nach heutigem Kenntnisstand davon ausgegangen werden, dass das daraus entstandene Bündnis aus Rechtskonservativen, Rechtspopulist*innen und Neonazis bisher nicht auf Dauer belastbar ist. Deutlich wird aber, dass das gesamte Lager trotz der Unterschiede nicht losgelöst voneinander betrachtet werden darf. Es hat zwar einerseits eine Ausdifferenzierung und Zersplitterung des rechten politischen Lagers stattgefunden, grundlegend ebnet sich diese Diversität durch die Formulierung gemeinsamer, unspezifischer, völkischer Utopien in Teilen wieder auf.

3. Bewegungscharakter statt Führerprinzip In den letzten zehn Jahren hat sich die extrem rechte Organisationslandschaft in der Bundesrepublik stark ausdifferenziert. Dominierte ab dem Ende der 1990er Jahre bis etwa 2012 vor allem die NPD die Szene, ist die Partei heute nur noch für wenige Neonazis interessant. Stattdessen gerieten im neonazistischen Spektrum neue, kleinere Parteien in den Mittelpunkt, die der NPD in einigen Regionen bereits den Rang ablaufen konnten. Der Großteil der extremen Rechten hat sich allerdings in den letzten Jahren im Zuge des Niedergangs der NPD an die geänderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen angepasst. Jürgen Elsässer, Chefredakteur des verschwörungstheoretischen, rechten Compact-Magazins, mahnte im Herbst 2015, dass man sich trotz der katastrophalen Lage nicht provozieren lassen dürfe und die Sprache den Zwecken angemessen bleiben müsse. Schließlich gelte es,

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die gesellschaftliche Mitte zu erreichen.24 Mit einem positiven Bezug auf den historischen Nationalsozialismus oder einen biologisch begründeten Rassismus – so wissen extrem rechte Vordenker*innen heute – fehle die Anschlussfähigkeit an Diskurse innerhalb der Bevölkerung. Eine plumpe und offene Verherrlichung des Nationalsozialismus findet in den führenden Kreisen dieser Gruppierungen öffentlich nicht mehr statt. Zudem wird rassistisches Denken heute in erster Linie kulturell begründet. Die Ideologeme des Ethnopluralismus 25 haben teilweise den alten Rassismus verdrängt. So geht es nicht mehr vordergründig um die „Reinheit des Blutes“, sondern um den Verlust einer vermeintlichen „eigenen Kultur“, der gegen gesellschaftliche Veränderungen in Stellung gebracht wird. Das derzeit dominierende äußere Feindbild, auf welches sich verschiedene Strömungen der extremen Rechten in Europa einigen können, ist „der Islam“. Als innerer Feind wird in der Bundesrepublik eine angebliche Ideologie der „1968er“ postuliert, die alle gesellschaftlichen Ebenen durchzogen haben soll.26 Darüber hinaus ist das Thema Migration und Zuwanderung seit 2015 wieder in den Fokus gerückt. „In d ­ iesem Sinne wird der Kulturkampf von rechts in erster Linie als ein rassistisch motivierter

Verdrängungswettbewerb gegen Migrant*innen geführt, der sich zeitgleich gegen weitere Feindbilder richtet, die genauso dem klassischen Inventar der extremen Rechten entnommen sind.“ 27

Durch neue Demonstrations- und Aktionsformate sowie die Abwendung von offener NSVerherrlichung konnte der gesellschaftliche Resonanzraum für extrem rechtes Denken in den letzten fünf Jahren deutlich ausgeweitet werden. Zu den Dresdner Pegida-Demonstrationen wurden 2015 bis zu 25.000 Menschen mobilisiert. In zahlreichen Orten, insbesondere in Sachsen, demonstrierten 2015/2016 tausende Menschen gegen die Unterbringung von Asylsuchenden. Darunter waren zahlreiche Einwohner*innen, die vorher nicht der rechtsextremen Szene zugeordnet werden konnten. Mit der AfD zog eine Partei in Landtage und den Deutschen Bundestag ein, die gegen Muslime und Geflüchtete polemisiert. Zahlreiche Mitglieder und Funktionsträger*innen positionieren sich klar rassistisch und sozialdarwinistisch.28 Beflügelt von diesen Erfolgen gründeten sich neue Gruppen und Netzwerke am 24 Jürgen Elsässer auf der Compact-Konferenz am 24. 10. 2015 in Berlin. Vgl. u. a. https://www.youtube.com/ watch?v=kv00omV94zs&list=PLPY 93jZM ySl1mUqNaa9C_baKD qS1kKB iz&index=17&t=0s&pbjre​ load=10 [08. 06. 2020]. 25 Vgl. u. a. Christian Fuchs, Paul Middelhof 2019: Das Netzwerk der Neuen Rechten. Wer sie lenkt, wer sie finanziert und wie sie die Gesellschaft verändern. Rowohlt: Hamburg, 18 f. 26 Vgl. u. a. Volker Weiß 2017: Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des ­Abendlandes. Klett-Cotta: Stuttgart. 27 Felix Korsch 2016: Wehrhafter Rassismus. Materialien zu Vigilantismus und zum Widerstandsdiskurs der sozialen Bewegung von rechts. In: Friedrich Burschel (Hg.): Durchmarsch von rechts. Völkischer Aufbruch: Rassismus, Rechtspopulismus, Rechter Terror. Manuskripte: Berlin, 16. 28 Am 05. 06. 2017 sagte der AfD-Bundestagskandidat Thomas Goebel auf einer Pegida-Demonstration: „Unsere deutsche Volksgemeinschaft ist krank. Sie leidet an Altparteien, Diarrhö, Gutmenscheritis, links-grün-versifften

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rechten Rand, so etwa Zukunft braucht Bildung e. V. in Meißen oder Dresdner Bürger helfen Dresdner Obdachlosen und Bedürftigen e. V. in der Landeshauptstadt. Sie orientieren sich überwiegend an Ideen, die eine eindeutige Einordnung als neonazistische und antidemokratische Vereinigung verhindern. Eine genauere Betrachtung entlarvt jedoch sehr schnell ihren antidemokratischen Hintergrund. Eine Strategie ist die Gründung von Vereinen, die die Gemeinnützigkeit anstreben, sich im Gemeinwesen engagieren und so rechte Ideologien in der Breite verankern und normalisieren. Soziales Engagement vor Ort erhöht zudem die Wahrnehmbarkeit als vermeintlich unverdächtiger, hilfreicher und anerkannter Akteur im lokalen Kontext. Insgesamt herrscht eine bisher nicht dagewesene Vielfalt am rechten politischen Rand. Gleichzeitig existiert derzeit keine politische Kraft oder führende Person innerhalb des Spektrums der (extrem) rechten Szene in der Bundesrepublik, die dazu in der Lage wäre, das gesamte Lager entscheidend zu lenken. Dieser Zustand ist rechten Vordenker*innen durchaus bewusst. In der neurechten Zeitschrift Sezession 29 und einzelnen Veröffentlichungen des Antaios Verlages 30 wird darauf in den letzten Jahren immer wieder Bezug genommen. Ins Gespräch gebracht wird eine „patriotische Bewegung“, die auf unterschiedlichen Wegen und in unabhängigen Formen einen „Kampf um die Identität und das damit zusammenhängende Selbstbestimmungsrecht unserer Völker“ 31 führt. Als politisches Lager, das diesen Kampf zu führen habe, beschreibt der Mitbegründer des e­ xtrem rechten Instituts für Staatspolitik, Götz Kubitschek, einen „bunten Haufen“, der zu einer politischen Einheit zu formen sei. Dieses gemeinsame Lager setzt sich laut Selbstbeschreibung zusammen aus: „Intellektuellen, Medien, Verlagen, Bürgerbewegungen, Projekten, Gesinnungsgemeinschaften, Demonstrationsbündnissen und einem parteipolitischen Arm samt parlamentarischer Verankerung“.32 Gemeint sind damit unter anderem die AfD, die Ein-Prozent-Gruppierung, die Identitäre Bewegung, der Antaios Verlag, Pegida und andere asylfeind­ liche Demonstrationen oder Nein-zum-Heim-Kampagnen, die Zeitschriften und Magazine wie Sezession und Compact, Onlinemedien wie Political Incorrect oder Blaue Narzisse, extrem rechte Vereine und Zusammenschlüsse vor Ort in den Kommunen sowie die Zeitung Junge Freiheit als „wichtigstem Organ unseres Lagers“ 33. Gemeinsam sieht man sich in einer geradezu natürlichen Pflicht zu handeln, wenn es etwa heißt: „Unser Widerstand ist ein Widerstand aus Notwehr.“ 34 68ern, und durch Merkel versiffte, aufgelöste Außenhaut. Unser Deutschland leidet unter einem Befall von Schmarotzern und Parasiten, ­welche dem deutschen Volk das Fleisch von den Knochen fressen will.“ Ein anderes Beispiel ist der Tweet des AfD-Bundestagsabgeordneten Thomas Seitz vom 18. 02. 2019, in dem es heißt: „Ganz Afrika ist nicht die gesunden Knochen eines einzigen deutschen Grenadiers wert.“ 29 Wolfgang Laskowski 2018: Publizistische Zellteilung: Cato und Sezession. In: Der Rechte Rand 172, 10 – 11. 30 Danijel Majic 2017: Feindliche Übernahme. In: Der Rechte Rand 169, 4 – 5. 31 Götz Kubitschek 2016: Hygienefimmel und Thymos-Regulierung. In: Sezession 70, 10 – 13, hier 10. 32 Ebd. 33 Ebd., 11. 34 Frank Lisson 2008: Widerstand. Lage-Traum-Tat. Edition Antaios: Schnellroda, 52.

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Der Begriff des Widerstandes fungiert als einer der Leitbegriffe der Szene in der Bundesrepublik und wird seit vielen Jahren bedient und durch die Neue Rechte erneut mit Leben gefüllt.35 Die Nutzung ­dieses und ähnlicher Schlagwörter zeigt die ideologische Verbindung des gesamten politischen Lagers von rechtskonservativen und neurechten Ideen bis hin zum gewaltförmigen Neonazismus. So ist die Chiffre vom Widerstand inzwischen auch eine Leitformel der völkischen Demonstrationsbewegung Pegida in Dresden. Deutlich wird das Bewegungsdenken unter anderem auch an Aussagen namhafter Neonazis, wie zum Beispiel dem bekannten rechtsextremen Musiker Michael „Lunikoff“ Regener. In einem Interview mit der Zeitschrift NS Heute sagte dieser im März 2018: „In der Situation, in der sich das deutsche Volk befindet, ist für Hader und Parteienstreit kein Platz.“ Er appellierte im Interview mit der Neonazipostille dafür, die AfD zu wählen, und freute sich über deren Einzug in den Deutschen Bundestag: „So sage ich, wir haben erstmals seit 1949 eine, sagen wir mal ,pro-deutsche‘ Partei im Bundestag, mit 90 Mann, Bingo, jetzt lass sie doch erstmal reinmarschieren, dann gucken wir uns das vier Jahre an.“ Zwischen der AfD und der harten Neonaziszene sieht Regener eine klare Arbeitsteilung, wenn er sagt: „Der Nationale Widerstand hat nicht die Aufgabe, als demokratische Kraft gewählt zu werden – das wird sowieso nicht passieren – er hat die Aufgabe, Kader zu bilden, junge Leute ranzuziehen und sich auf Kommendes vorzubereiten.“ 36 Deutlich wird an diesen und ähnlichen Ausführungen, dass man sich der Rolle als Teil einer größeren politischen Bewegung mit unterschiedlichen Aufgaben durchaus bewusst ist. Der rechtsextreme Musiker Michael „Lunikoff“ Regener gilt als eine der wichtigsten Integrationsfiguren innerhalb der gefestigten und gewaltbereiten Neonaziszene. In der Vergangenheit war er für die neonazistische NPD in prominenter Position aktiv, war aber ebenso in den Strukturen des verbotenen Blood-&-Honour-Netzwerkes sichtbar. Auch aktuell bewegt er sich in eben dieser Szene und kommt trotzdem zu den oben zitierten Aussagen, die eine ideologische Verbundenheit mit der AfD offenlegen. Offenbar ist man sich einer gemeinsamen politischen Idee bewusst und weiß, dass im Sinne einer politischen Bewegung eine Arbeitsteilung notwendig ist, um diese Bewegung gesellschaftlich wachsen zu lassen.

4. Ideologische Vorarbeiten der Neuen Rechten Neue Rechte grenzen sich auf der formalen und sprachlichen Ebene zwar deutlich vom harten Rechtsextremismus und Neonazismus ab, stellen aber gleichzeitig sicher, dass die Anschlussfähigkeit an eben jene Milieus gewahrt bleibt. Dafür sorgt unter anderem die 35 Vgl. u. a. Felix Korsch 2016: Wehrhafter Rassismus. Materialien zu Vigilantismus und zum Widerstandsdiskurs der sozialen Bewegung von rechts. In: Friedrich Burschel (Hg.): Durchmarsch von rechts. Völkischer Aufbruch: Rassismus, Rechtspopulismus, Rechter Terror. Manuskripte: Berlin, 88 – 94. 36 Alle Zitate aus: N. S. Heute. Weltanschauung. Bewegung. Leben 8, 2018, 4.

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positive Bezugnahme Neuer Rechter auf Ideen und Vordenker des Faschismus. Damit grenzt man sich auf der einen Seite vom historischen Nationalsozialismus ab und bleibt auf der anderen Seite anschlussfähig an die Neonaziszene. Zudem wird der Faschismus als europäische oder gar internationale Idee präsentiert und damit scheinbar unverfänglicher. In einschlägigen Ausführungen wird immer wieder betont, dass die Zeit im deutschsprachigen Raum noch nicht reif zu sein scheine, um den Begriff als solchen zu verwenden. Die positive Bezugnahme dominiert meist Beiträge über den Faschismus in anderen europäischen Ländern. Bewundernd schreibt der Autor Adriano Scianca in einem Artikel über die italienische CasaPound-Bewegung im extrem rechten Theorieorgan Sezession: „In Italien gibt es eine große Bereitschaft, die positiven Aspekte des Faschismus außerhalb seiner Dämonisierung und fern von Vorurteilen zu diskutieren.“ 37 Der Faschismus ist für ihn „zugleich Synthese und Neuentwurf vor dem Hintergrund gescheiterter Ideologien“.38 Anerkennend meint auch Sezession-Autor Martin Lichtmesz, dass wichtige faschistische Denker „auf der Höhe ihrer Zeit gelebt und gedacht“ hätten und man deshalb bei einer Betrachtung des Faschismus „nicht an rückwärtsgewandten Vorstellungen hängenbleiben“ 39 dürfe. Im Kampf gegen eine multikulturelle und offene Gesellschaft wird die Rückbesinnung auf faschistische Ideen vorgeschlagen: „Bei Lichte betrachtet ist der Faschismus heute in der Tat der totale Gegenentwurf zur vorherrschenden Ideologie der Gleichheit und Gleichzeitigkeit.“ 40 Benedikt ­Kaiser schlägt in eine ähnliche Kerbe, wenn er in einem anerkennenden Artikel über den faschistischen Schriftsteller Pierre Drieu la Rochelle aus Frankreich dessen Ansicht wiedergibt, dass der Faschismus „die letzte Hoffnung für eine Rettung vor den beiden Totalitarismen“ 41 – gemeint waren Nationalsozialismus und Bolschewismus – gewesen sei. Drieu la Rochelles Streben nach einem starken europäischen Völkerbund der Faschisten in den 1930er Jahren wird in dem Artikel als „größere Vision“ nach einer „europäischen Einheit“ 42 verklärt. Während also die Verherrlichung von Ideologiefragmenten des Nationalsozialismus heute als überholt gilt, nimmt gleichzeitig der positive Rückbezug auf die Ideen des Faschismus zu. In den Theorieschulen der extremen Rechten scheint man sich darüber einig zu sein, dass „die Vorstellung vom Faschismus als antimodernem, wenn nicht sogar vormodernem Phänomen, außerhalb seiner Zeit, als einem rein barbarischen Einbruch in eine vollkommen friedliche Moderne, […] von den Historikern vollständig beiseite gelegt“ 43 worden sei. Unter der Formel des Faschismus lassen sie ein Denken aufleben, das in 37 Adriano Scianca 2013: Der Faschismus der CasaPound Italia (CPI). In: Sezession 55, 34 – 37, hier 36. 38 Ebd. 39 Martin Lichtmesz 2010: CasaPound. In: Sezession 34, 22 – 26, hier 26. 40 Scianca 2013, 36. 41 Benedikt ­Kaiser 2012: „Umstritten“ – Drieu la Rochelle in der Plèiade. In: Sezession 51, 40 – 41, hier 41. 42 Ebd. 40. 43 Scianca 2013, 36.

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Deutschland durch den Nationalsozialismus als tabuisiert gilt und sich unter anderen Überschriften Raum verschafft. Als Ziel des politischen Handelns formulieren die derzeit dominierenden extrem rechten Vordenker*innen nicht etwa Reformen, sondern fabulieren offen davon, „eine legale Revolution gegen eine gesetzesbrecherische Obrigkeit zum Erfolg zu führen“.44 Das politische System mit seinen unterschiedlichen politischen Parteien wird als Ganzes zum „erstarrten Blockparteiensystem“ 45 oder „Zerstörer unserer deutschen Zukunft“ 46 erhoben, gegen das ein Scheitern sich verbiete. Kubitschek meint: „Das Altparteien-Kartell könnte beispielsweise nicht ergänzt, sondern geradezu auseinandergejagt werden“.47 Nach ihrem Einzug in den Sächsischen Landtag hatte bereits die neonazistische NPD die anderen politischen Parteien im Parlament pauschal als „Blockparteienkartell“ verunglimpft. Auch an dieser Stelle wird auf bereits bekannte Sprachbilder zurückgegriffen, die im gesamten rechten politischen Lager bekannt sind und eine gewisse Tradition haben. Mit Blick auf das Erstarken des eigenen Milieus, dem Wähler*innenzuspruch für die AfD und den hohen Teilnehmer*innenzahlen bei Pegida und rassistischen Anti-Asyl-Demonstrationen wittert die extreme Rechte in den letzten Jahren die Chance auf einen politischen Umsturz. So heißt es in den eigenen Verlautbarungen: „Wir haben erstmals einen Akteur, also eine starke Neue Rechte, die revolutionäre Ideen mehrheitsfähig macht und Radikalität und Professionalität in sich vereint.“ 48 Neben den Fragmenten aus den Ideenschulen des Faschismus oder der Chiffre vom Widerstand wird, wie oben bereits beschrieben, insbesondere auf den Begriff der Identität abgehoben, um eine Verbindung des gesamten rechten politischen Lagers, trotz Ausdifferenzierung in verschiedene Gruppen und Strömungen, herbeizuführen. Alexander Gauland, damaliger Parteivorsitzender der AfD, schrieb im Februar 2019 in der Sezession: Das elementare Bedürfnis eines Volkes besteht darin, sich im Dasein zu erhalten. Das ist im

Grunde unser Parteiprogramm in einem Satz. Es geht uns einzig um die Erhaltung unserer Art zu leben. Das zentrale politische Zukunftsthema lautet: Identität.49

Mit dem Begriff der Identität greift er abermals eine Chiffre der (extrem) rechten Szene auf, die eine tradierte Bedeutung hat. Im Gegensatz zum Begriff des Widerstandes findet die Bezugnahme auf eine neuere politische Strömung innerhalb der extremen Rechten statt. Der Bloc identitaire war nach der Jahrtausendwende in Frankreich gegründet worden und 44 45 46 47 48 49

Thor v. Waldstein 2016: Zehn Thesen zum politischen Widerstandsrecht. In: Sezession 70, 30 – 32, 32. Lisson 2008, 12. Götz Kubitschek 2016: Schlingen im Widerstandsmilieu. In: Sezession 72, 26 – 29, 28. Ebd., 26. Ebd., 29. Alexander Gauland 2019: Populismus und Demokratie. In: Sezession 88, 14 – 20, 20.

Der Schulterschluss zur Revolte

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firmierte erfolgreich unter der Idee einer politischen Bewegung, die das vermeintliche „alte Links-Rechts“-Denken aufheben wollte. Dabei wurde und wird über das Konzept des Ethno­ pluralismus eine gewisse Internationalität dieser rechten Bewegung hergestellt. Sowohl neonazistische Gruppen, wie die NPD und ihre Jugendorganisation, haben den Begriff in den letzten Jahren für eigene Kampagnen und Aktionen umfangreich genutzt, als auch Scharnierorganisationen wie die Identitäre Bewegung,50 die Ein-Prozent-Gruppierung oder das private Institut für Staatspolitik. „Identität“ schafft es, als Signalwort eine ganze Bandbreite rechter politischer Gruppen und Personen anzusprechen. Dieser Weg ist derzeit erfolgreicher als das alleinige Schwenken einer einzelnen Parteifahne. Die benutzten Begriffe bleiben dabei bewusst unspezifisch, um Interpretationsspielräume zu eröffnen. Wie oben dargestellt, hat die Idee einer gemeinsamen politischen Bewegung seit Pegida dazu geführt, dass die starke Ausdifferenzierung der (extre­men) Rechten in der Bundesrepublik in den letzten Jahren aufgefangen werden konnte.

5. Fazit Um die eigenen Ziele erreichen zu können, geht es der extremen Rechten erstens um eine anschlussfähige Gesellschaftsanalyse, eine „geistige Revolte“,51 die zu einer Diskursverschiebung („Rechtsruck“) führt, um sich zweitens über rechte Graswurzelbewegungen gesellschaftsweit zu verankern und eine „Mobilmachung der Zivilgesellschaft gegen ihre Bedrohung durch die Überfremdung“ 52 zu erreichen. Letztlich steht am Ende der extrem rechten Strategie drittens eine rechte „Revolte“ gegen das derzeitige politische System, die erfolgreich umgesetzt werden soll. Das Bundesland Sachsen wurde dabei als eine Schwerpunktregion auserkoren. Götz Kubitschek meint dazu: „Ich muss sagen, dass wir eine beinahe irrationale Hoffnung auf ­dieses Bundesland legen und denken, wenn überhaupt irgendwo Widerstand gegen das grüne Milieu, gegen die Zivilgesellschaft aufwachsen kann, dann in Sachsen.“ 53 50 Vgl. Clemens Pleul 2018: Die Identitären – Soziale Bewegung oder virtueller Scheinriese? In: Uwe Backes, Alexander Gallus, Eckhard Jesse und Tom Thieme (Hg.): Jahrbuch Extremismus und Demokratie. Nomos: Baden Baden, 165 – 178 sowie Steven Schäller 2019: Biographisches Portrait: Martin Sellner. In: Uwe Backes, Alexander Gallus, Eckhard Jesse und Tom Thieme (Hg.): Jahrbuch Extremismus und Demokratie. Nomos: Baden Baden, 193 – 209. 51 Martin Sellner 2015: Machbarkeit und Machenschaft – eine empathische Lektüre. In: Sezession 68, 8 – 11, hier 11. 52 Götz Kubitschek 2015: Rückgebundene Mobilmachung. In: Sezession 68, 45 – 47, hier 47. 53 Götz Kubitschek im Gespräch mit Benedikt K ­ aiser anlässlich der Herausgabe der Sezession 90 im Juni 2019.

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Zwar kann nicht von einer einheitlichen, geschlossenen, extrem rechten politischen Bewegung gesprochen werden. Dazu sind ideologische Differenzen sowie politische Konkurrenzen zu groß und die Verankerung extrem rechten Gedankenguts in der Gesamtbevölkerung zu gering. Allianzen und Kooperationen existieren vor allem auf organisatorischer und strategischer Ebene oder temporär und anlassbezogen. Ersteres zeigen beispielsweise die enge Zusammenarbeit von AfD-Abgeordneten mit Anhänger*innen der Identitären Bewegung, die regelmäßigen Auftritte von AfD-Redner*innen bei Pegida-Demonstrationen oder die Texte der AfD-Parteispitzen in der neurechten Zeitschrift Sezession. Als anlassbezogen und temporär kann zum Beispiel die Organisation, Mobilisierung und Teilnahme an den Ereignissen in Chemnitz 2018 betrachtet werden. Was die extreme Rechte in der Bundesrepublik vorangebracht hat, ist eine Festigung eigener inhaltlicher Schwerpunktsetzungen (Ethnopluralismus) und Begriffe (Identität, Widerstand) und eine gesamtgesellschaftliche Diskursverschiebung nach rechts. Diese Erfolge der extremen Rechten haben Auswirkungen auf verschiedenen Ebenen und führen unter anderem zu einer Verschärfung gesellschaftlicher Konfliktlinien. Diese Verschiebung muss kein dauerhafter Zustand sein, sondern ist Teil eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses, der sich im politischen Wettstreit der besseren Ideen auch wieder auflösen lässt. Dafür braucht es Kraft und Ausdauer, um auch über längere Zeiträume an ­Themen zu arbeiten, deren Wirkung sich nur langsam und schrittweise einstellt. Die extreme Rechte arbeitet derzeit an der Mobilmachung einer rechten Zivilgesellschaft, die sich in einigen Regionen bereits als rechte Graswurzelbewegung verankert. Diese neue „rechte Zivilgesellschaft“ wird in einigen wenigen Regionen Sachsens bereits wirkmächtig, aber ist derzeit bei weitem noch kein flächendeckendes Phänomen, das landesweit, in allen Landkreisen und Städten vorhanden ist. Es ist wichtig, diese Entwicklung wahr- und ernst zu nehmen. Gleichzeitig bleibt aber auch zu betonen, dass der Propaganda der Neuen Rechten nicht widerspruchsfrei geglaubt zu werden braucht: Deren Positionen sind aktuell (noch) nicht überall mehrheitsfähig. Die sogenannte rechte „Revolte“ steht zwar morgen oder übermorgen noch nicht unmittelbar bevor. Doch für Menschen, die von Rassismus und anderen rechtsmotivierten Ausgrenzungen und Angriffen betroffen sind, erweisen sich die Zustände in Sachsen und anderen Regionen – insbesondere in den ländlichen Regionen der ostdeutschen Bundesländer – bereits heute als sehr schwierig und mitunter existenziell gefährlich. Der Mehrheitsgesellschaft stände es daher gut zu Gesicht, wenn sie ihre Privilegien nutzte, um denjenigen Solidarität und Möglichkeitsräume zur Selbstermächtigung zuteilwerden zu lassen, die diese Privilegien in dieser Form (noch) nicht genießen.

Liane Bednarz/Steven Schäller

Rechts und konservativ ist nicht dasselbe Ein Gespräch über Christen in der Politik

Liane Bednarz, Juristin, Publizistin, ist zuletzt durch einen Band mit dem Titel Die Angstprediger. Wie rechte Christen Gesellschaft und K ­ irche unterwandern 1 in Erscheinung getreten. In d ­ iesem

Gespräch gibt sie Auskunft über die Ergebnisse ihrer Recherchen und die Schlussfolgerungen, die daraus zu ziehen sind.

Steven Schäller: Gleich zu Beginn unseres Gesprächs möchte ich mich der Frage zuwenden, wodurch sich die von Ihnen untersuchte Gruppe der „rechten Christen“ auszeichnet. Arthur Moeller van den Bruck hat einmal über das Ziel des Konservativen gesagt, dieser habe „Dinge zu schaffen, die zu erhalten sich lohnt“. Sie nehmen diesen Satz, um die Gemeinsamkeiten dieser Gruppe in einem ersten Anlauf zu konturieren. Daher stellt sich zunächst die Frage, was genau soll geschaffen werden? Was ist es, das sich zu erhalten lohnt? Und was soll womöglich auch dadurch ersetzt werden? Liane Bednarz: Zunächst einmal ist ja eines der Kernanliegen meines Buches Die Angstprediger, diese Grenze zu ziehen z­ wischen dem, was noch konservativ ist, und dem, was bereits rechts ist. Arthur Moeller van den Bruck ist einer der zentralen Vordenker für die heutige Neue Rechte. Dieser Satz markiert im Grunde das typische Denken der „Konservativen Revolution“. Dies ist allerdings ein euphemistischer Begriff für die Rechte, die gerade nicht beanspruchen kann, konservativ zu sein. Jedenfalls bringt dieser Satz ganz gut zum Ausdruck, dass ­dieses Milieu mit der liberalen Gesellschaft, so wie wir sie haben, grundsätzlich unzufrieden ist und teilweise fundamentale Änderungen anstrebt. Das sieht man etwa daran, dass in diesen Kreisen eine ausgesprochene Untergangsrhetorik gepflegt wird, dass teilweise Verwesungsmetaphern verwendet werden und im Grunde der Untergang der liberalen Welt, so wie sie ist, herbei­ geredet werden soll.

1 Liane Bednarz 2018: Die Angstprediger. Wie rechte Christen Gesellschaft und K ­ irche unterwandern. Droemer: München.

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Und an diese Haltung zu unserer Welt schließt die Frage an: Was will man dann schaffen? Im Hinblick etwa auf familien- und gesellschaftspolitische Vorstellungen geht es ganz sicher um ein Zurückdrehen des Rades. Etwas pauschal formuliert, sollen bestimmte emanzipatorische Errungenschaften wieder abgeräumt werden. Dahingegen stehen ­Konservative – also nicht Rechte – für das Bewahren: conservare. Das hat auch zur Folge, den Fortschritt zwar nicht zu stoppen, aber so zu verlangsamen, dass er für die ganze Gesellschaft verträglich ausgestaltet werden kann. Konservative opponieren also nicht per se gegen die liberale Moderne. Auch pflegen sie keinen Kulturpessimismus. Und schließlich wettern sie nicht in toto gegen den Zeitgeist. Steven Schäller: In Ihrem Buch gehen Sie von der Beobachtung aus, dass ein sogenanntes rechtschristliches Milieu früher stark fragmentiert war. Ein richtiger Zusammenhalt war hier lange Zeit nicht vorhanden. Um das Jahr 2013 herum beschreiben Sie aber eine fundamentale Veränderung. Dazu führen Sie zwei Entwicklungen an: zum einen gewandelte Auffassungen über Lebensmodelle, die bis in die Spitzen der politischen Repräsentanten der Bundesrepublik sichtbar geworden sind, und zum anderen nennen Sie den deutlich zutage tretenden gewandelten Umgang mit Spitzenvertretern der ­Kirche. Liane Bednarz: Zunächst konnte eine gewisse Unzufriedenheit beobachtet werden. Kritisch gesehen wurde etwa, dass es in der heutigen Zeit bis in die Spitzen der Politik hinein möglich ist, sich ganz offen zu einer homosexuellen Orientierung zu bekennen. Dann gab es einen großen Unmut über Christian Wulff als Bundespräsidenten, der in zweiter Ehe verheiratet war. Ähnliches galt auch für Joachim Gauck, weil er als verheirateter Mann mit einer neuen Lebensgefährtin zusammenlebte. Das erregte bei einigen großen Ärger. Zudem ließ sich in den öffentlichen Äußerungen rechter Christen auch beobachten, dass Kirchenvertreter, die nicht unbedingt den eigenen Anschauungen entsprachen, mit verächtlichen Begriffen belegt wurden. Gerade bei einem Papst galt öffentliche Kritik bis dato als eher ungewöhnlicher Vorgang. Aber genau dies ist Franziskus, der 2013 ins Amt kam, geschehen. Er wurde relativ schnell als „Plapper“- oder auch „Plauderpapst“ bezeichnet, weil er liberaler als seine Kritiker war und der Kurie skeptisch gegenüberstand. Das wurde nicht gutgeheißen. Gleichzeitig konnte man sehen, wie sich eine ausgesprochene Nibelungentreue für Kirchen­vertreter entwickelte, die man auf der eigenen Seite wähnte. Das konnte man namentlich bei Franz-Peter Tebartz-van Elst beobachten.2 Hier war in den Kreisen rechter Christen überhaupt keine Bereitschaft zu erkennen, sich in irgendeiner Weise kritisch mit ihm auseinanderzusetzen. Dabei gab es dazu genug Anlass, etwa mit Blick auf die explodierenden 2 Vgl. Daniel Deckers 27. 03. 2014: Vom Alpha bis zum Omega. Die sechs Jahre von Franz-Peter Tebartzvan Elst. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.

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Kosten in Limburg oder auch den Umstand, dass er über seine Flugreise nach Indien nicht die Wahrheit sagte – da hatte er ja gesagt, er sei Businessclass geflogen. Tatsächlich aber gab es ein Upgrade in die erste Klasse aufgrund von privaten Bonusmeilen des mitreisenden Generalvikars. Die gleichen Personen, die in der Wulff-Affäre sehr ungnädig und streng waren, haben dann bei Tebartz-van Elst von einer „Hetzjagd“ gesprochen. Der Hintergrund ­dieses Messens mit zweierlei Maß ist wie folgt: Wulff entspricht einem Feindbild, weil er erstens wiederverheiratet ist und zweitens gesagt hat, der Islam gehöre zu Deutschland. Tebartz-van Elst hingegen wurde bewundert für seine streng katholischen Haltungen und auch für diese barocke Prachtentfaltung. In dieser Zeit hat sich in der Causa Tebartz-van Elst eine gewisse ohnehin vorhandene Opferrhetorik nochmals verschärft, die einherging mit einer Wut auf die Medien, weil diese ja sehr kritisch über den Bischof berichtet hatten. Steven Schäller: Wenn wir mit der „Zivilen Koalition“ unter Beteiligung von Beatrix von Storch exemplarisch einen Akteur in den Blick nehmen, der auch vor 2013 schon aktiv war und damit auch weit vor der Geschichte um Tebartz-van Elst, so lässt sich doch sagen, dass sich die Rahmenbedingungen für diesen Akteur fundamental geändert haben. Die „Zivile Koalition“ konnte nach 2013 Bekanntheit und Wirkungsgrad in der Öffentlichkeit enorm steigern. Worauf würden Sie sie zurückführen? Liane Bednarz: Das hat verschiedene Ursachen. In der Tat war ja Frau von Storch mit ihrem ganzen Netzwerk schon vor 2013 aktiv, das spielte nur in der öffentlichen Wahrnehmung keine große Rolle. Für die gesteigerte Bedeutung solcher Gruppen ist vor allem die Eurokrise zu erwähnen. Frau von Storch hat mit der „Zivilen Koalition“ ­dieses Thema besetzt und einen gewissen Aktivismus gegen die Euro-Rettungsmaßnahmen betrieben. In etwa der gleichen Zeit gründete sich die Alternative für Deutschland (AfD), und zwar wegen der Kritik an den Euro-Rettungsmaßnahmen. Beatrix von Storch hat sich von Beginn an in der neuen Partei engagiert, womit auch die „Zivile Koalition“ öffentlich bekannter wurde. Und von Storch vereinte in Personalunion beide Milieus, was wiederum die Partei im Umfeld der „Zivilen Koalition“ bekannt machte. Damit waren die Rahmenbedingungen ganz grundlegend verändert. Steven Schäller: Wenden wir uns doch einmal den verschiedenen Strömungen innerhalb der konservativen und rechten Christen zu. Sie argumentieren, dass konservative Christen seit Gründung der Bundesrepublik zwei Identifikationsmöglichkeiten zur Verfügung standen: einmal eher das, was sich heutzutage unter den rechten Christen formiert, und dann eher die sogenannten CDU-Konservativen. Diese beiden Strömungen beschreiben Sie als Akteure in einem Richtungsstreit. Bitte skizzieren Sie die beiden Strömungen zunächst einmal, bevor wir uns der Frage nach der Rolle der Parteiidentifikation zuwenden.

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Liane Bednarz: Der bundesrepublikanische Konservatismus steht für ein bewahrendes Element, sieht sich aber zugleich im Liberalismus zutiefst verankert. Dafür steht die CDU. Sie befürwortet die europäische Einigung. Sie verlangsamt, wenn man so will und wie oben schon angedeutet, den Fortschritt, indem sie darauf beharrt, dass das Neue sich zunächst einmal als besser gegenüber dem Alten erweisen muss und dass das Neue nicht per se gut ist, nur weil es neu ist. Des Weiteren werden bestimmte Werte gepflegt: Heimat, Tradition, Brauchtumspflege, auch Nation, aber nicht überhöht und auch nicht ausgrenzend gemeint. Die CDU hat es verstanden, diese Haltung mit einem optimistischen, auch gestaltenden Blick auf die Zukunft zu paaren. Demgegenüber entspricht die rechte Strömung im Grunde seit 1945 einem Denken, so wie es vor der Zeit des Nationalsozialismus in den 1920er Jahren existiert hat. Bezugspunkte ­dieses Denkens sind die völkischen rechtsintellektuellen Vordenker der Weimarer Republik und deren drei zentrale Annahmen: Antipluralismus, Antiliberalismus und – mal mehr, mal weniger radikal ausgeprägt – das Denken in völkisch homogenen Räumen. Früher wurde das „Pluriversum“ genannt, heutzutage spricht die Neue Rechte von „Ethnopluralismus“. Dieses rechte Denken hat sich schon sehr früh als ein konservatives etikettiert. Armin Mohler hat den Begriff für diese Richtung in vereinnahmender Weise als „Konservative Revolution“ geprägt.3 Später in den 1970er Jahren machte er deutlich, dass er ganz bewusst auf den Terminus „konservativ“ setzte. So habe man es leichter, in die politische Mitte einzudringen. Und so nennt sich eben die Neue Rechte in Deutschland fast schon traditionell auch konservativ, was dazu führt, dass sich viele davon verführen lassen, denn so kommt das rechte Denken begrifflich harmloser daher, als es wirklich ist. Steven Schäller: Dabei gibt es eigentlich kategorische Unterschiede. Wenn wir uns die Frage stellen, was der zentrale Unterschied z­ wischen Rechten und Konservativen, auch z­ wischen rechten und konservativen Christen ist, so findet sich dazu auf Seite 54 Ihres Buches die Bemerkung, dass der Unterschied ­zwischen beiden darin bestehe, was für eine Haltung eingenommen wird. Den Rechten schreiben Sie zu, dass sie oft eine Opferhaltung einnehmen würden, währenddessen Konservative nicht jammerten, sondern mit Rückgrat für die eigene Sichtweise kämpften. Das ist sehr pointiert ausgedrückt. Aber ist dazu schon alles gesagt? Liane Bednarz: Nein. Das ist lediglich das habituelle Element. Konservative in einem bundesrepublikanischen Sinne zeichnen sich dadurch aus, dass sie gestalten wollen und für ihre Werte eintreten, dabei gleichzeitig aber einen grundsätzlich positiven Blick auf die deutsche gesellschaftspolitische Ausrichtung haben. Wenn sie keine Mehrheiten für ihre 3 Armin Mohler 1989: Die konservative Revolution in Deutschland 1918 – 1932. Ein Handbuch. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt.

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Ideen finden, dann kämpfen sie weiter darum und verfallen nicht in Untergangs- oder wehklagende Rhetorik. Demgegenüber ist bei Rechten eine Opferhaltung sehr stark ausgeprägt. Sie sehen sich als Opfer eines „Tugendterrors“ oder eines „politisch korrekten Mainstreams“. Sie behaupten, dass bestimmte Dinge gar nicht mehr gesagt werden dürften. Und sie vertreten einen ausgeprägten Kulturpessimismus, verwenden eine Verfalls- und Untergangsrhetorik, wettern gegen den Zeitgeist und die Spätmoderne. Dieser habituelle Unterschied wird spannenderweise auch von Andreas Rödder sehr betont, der im Frühjahr 2019 ein wunderbares Buch verfasst hat mit dem Titel Konservativ 21.04 – er ist ein konservativer Zeithistoriker, der sich mit d ­ iesem Thema sehr intensiv beschäftigt. Die weiteren Kriterien, mit denen konservatives von rechtem Denken unterschieden werden kann, sind erstens der bereits erwähnte Antipluralismus der Rechten. Das heißt, Konservative denken nicht in politischen Kategorien von politischen „Freunden und Feinden“ und nehmen auch nicht für sich in Anspruch, Ausdruck einer „schweigenden Mehrheit“ zu sein. Konservative bezeichnen vor allem ihre politischen Gegner nicht verächtlich als „Altparteien“. Zweitens sind Konservative nicht antiliberal in dem Sinne, dass sie die liberale Moderne verachten. Und drittens denken Konservative gerade beim Umgang mit Migration zwar oft in „Law-and-Order“-Kategorien, haben Sorge vor Parallelgesellschaften oder Integrationsdefiziten. Aber sie denken anders als die Rechte nicht in Kategorien vom „Eigenen und Fremden“ im Sinne von bestimmten ethnokulturellen Eigenschaften, von Menschengruppen, die möglichst unter sich bleiben wollen. Anhand dieser drei Kriterien kann man eigentlich fast bei jedem Thema definieren, wo die Grenze liegt. Steven Schäller: Der Antipluralismus wird von Ihnen als ein weiteres Merkmal für rechte Christen und als wichtige Brücke zu populistischen Bewegungen skizziert. Was hat es mit dieser Brückenfunktion auf sich? Liane Bednarz: Antipluralistische Haltungen zeigen sich zunächst darin, dass man glaubt, es gebe so etwas wie eine politische Wahrheit, den „wahren Volkswillen“. Solche Vorstellungen sind in rechtspopulistischen Bewegungen, wie etwa der AfD – denken Sie hier an die Parole „Mut zur Wahrheit“ – und in einem rechtschristlichen Milieu nahezu deckungsgleich. Charakteristisch für die rechtschristlichen Milieus ist dann jedoch, dass politische Positionen religiös begründet werden und behauptet wird, bestimmte politische Vorstellungen entsprächen dem Willen Gottes oder zumindest dem, was christlich ist. Insofern geraten davon abweichende politische Positionen leicht in den Verdacht, nicht als Teil eines normalen politischen Diskurses angesehen und akzeptiert zu werden. So entstehen Feindbilder, 4 Andreas Rödder 2019: Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland. Beck: München.

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etwa die grüne Partei. Christen mit Rechtsdrall neigen also dazu, den Wahrheitsanspruch des Christentums auf die Politik zu übertragen und tun sich deshalb ebenfalls sehr schwer damit, Kompromisse zu finden, und neigen dazu, sehr schnell über Politiker schimpfen, die eine andere Haltung haben als sie selbst. Für rechte Christen ergibt sich aus dieser Wesensverwandtschaft eine gewisse Anziehungskraft des Rechtspopulismus. Beide Milieus sind letztlich nicht bereit, politische Entscheidungen zu akzeptieren, die ihnen nicht passen. Das sieht man zum Beispiel daran, mit welcher Vehemenz immer noch gegen die „Ehe für alle“ mobil gemacht wird. Gleichzeitig wird der CDU unter Angela Merkel nicht verziehen, dass sie die Abstimmung im Bundestag zu dieser Frage überhaupt erst ermöglicht hat. Thematisch einschlägig für die Haltung rechter Christen zur Politik ist das Buch Christliche Prinzipien des Politischen Kampfes. Die darin enthaltene Rhetorik geht über eine austarierende konservative Grundhaltung hinaus, ­welche demgegenüber glaubt, dass es „die vollkommende Politik“ nicht gibt. Oftmals machen sowohl säkulare als auch christliche Rechte politische Gegner regelrecht verächtlich, etwa als „Altparteien – Kartellparteien“. Sie etikettieren zudem häufig Politiker und Institutionen mit Begriffen, die gebräuchlich für Diktaturen sind. So werden beispielsweise die Parteien außerhalb der AfD als „Blockparteien“ bezeichnet, die EU ist die „EU dSSR “ oder die Schweizer Zeitungen das „neue Westfernsehen“. So zu tun, als würden wir in einer „Quasidiktatur“ hier leben, legitimiert dann im nächsten Schritt wiede­rum die verbreitete rechte „Widerstands“-Rhetorik: Wenn man glaubt, da oben sei die „Kanzlerdiktatorin“, die dem deutschen Volk schadet, weil sie d ­ ieses mit „Fremden flute“ und zudem auch noch von einem „kollektiven Staatsversagen“ samt „Zensur“ oder Unterdrückung von Meinungen ausgeht – dann muss aus Sicht dieser Leute natürlich „Widerstand“ geleistet werden. Steven Schäller: Speziell zum Wahrheitsanspruch: Hier stellt sich die Frage, warum das kein Merkmal von Konservativen sein sollte oder etwa auch von Teilen der Umweltbewegung bei der Frage des Klimawandels. Gerade hier finden sich ja mitunter chiliastische Erwartungen zum kommenden Ende, die mit unverhandelbaren Maximalpositionen einhergehen. Kathrin Göring-Eckardt etwa verglich Greta Thunberg einmal mit dem Propheten Amos.5 Da war es kaum möglich zu unterscheiden, ob es sich um eine politische Rede handelte oder ob in ­diesem Moment eine authentische Christin spricht, die das polarisierende Symbol „Greta Thunberg“ dem politischen Streit entrücken will. Daher die Frage: Wie sieht das bei den Konservativen aus? Vertreten sie diesen Wahrheitsanspruch nicht auch, wenn sie Christen sind und ihr Leben und ihren Glauben nach der Heiligen Schrift ausrichten?

5 N. N. 19. 03. 2019: Göring-Eckardt sieht in Greta Thunberg Prophetin. In: Saarbrücker Zeitung, 1.

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Liane Bednarz: Zunächst einmal zu Greta Thunberg und den Grünen: Natürlich gibt es überzogene, überhöhende, quasireligiöse politische Ideen ganz offenbar auch in ­diesem benannten Milieu; ich finde es sehr erschreckend, was Frau Göring-Eckardt da sagt, aber zurück jetzt zu unseren Kreisen. Konservative, auch gerade konservative Christen, wissen letztlich um die Unvollkommenheit der Welt und um die Unvollkommenheit des Menschen. Deshalb teilen Konservative nicht die Vorstellung, es gebe eine bestimmte politische Wahrheit, die man um jeden Preis durchsetzen müsse. Und sie teilen auch nicht die Ansicht, dass alle, die nicht so denken wie sie selbst, verblendet oder gar politische Feinde ­seien. Steven Schäller: Welche Rolle spielt die Partei CDU in dem Richtungsstreit z­ wischen diesen beiden Strömungen von Rechten und Konservativen? Konnte und kann sie noch in diese beiden Lager hinein integrieren? Liane Bednarz: Früher war die CDU tatsächlich in der Lage, bestimmte, sagen wir ultrakonservative Kreise zu integrieren. Die CDU hatte einen sehr konservativen Flügel, der aber allein durch die Tatsache, selbst Teil einer vielstimmigen Volkspartei zu sein, einer mäßigenden Wirkung ausgesetzt war. Viele dieser sehr konservativen Standpunkte haben in der Partei allerdings über die Jahre an Bedeutung verloren, der Lebensschutz zum Beispiel. So stieß der Abtreibungskompromiss Anfang der 1990er Jahre vielen auf oder etwa auch der Stammzellbeschluss der CDU aus dem Jahr 2007. Und ich weiß es aus eigenen Erfahrungen im CDU-Milieu: Es gibt seit fünfzehn Jahren die Debatten rund um die Frage „Wie C ist unsere CDU noch?“. Auch damals schon gab es Personen, gerade beim Stammzellbeschluss, die ausgetreten sind. Die CDU unter Merkel, das muss man leider sagen, hat es versäumt, diesen Personen innerparteilich Raum zu geben, inhaltlich und personell. Es wurden in der Partei kaum noch Debatten geführt und bei diesen Personen ist die Frustration immer größer geworden. Viele derer haben sich dann zur AfD orientiert und sind dort früh Mitglieder geworden. Und nicht wenige von ihnen haben sich sodann mit der AfD mitradikalisiert und zeigen bis heute kein Gespür dafür, dass diese Partei schon längst die Grenze gen rechts weit überschritten hat. In diesen Kreisen ist auch der Glaube weitverbreitet, die Positionen der AfD ­seien konservativ, oder aber man könne zumindest den gemäßigten Teil der AfD noch retten. Höcke sei irgendwie in Kauf zu nehmen, auch wenn sie ihn inhaltlich nicht gutheißen. Das ist die Entwicklung der vergangenen fünf Jahre. Da hat die CDU als Volkspartei leider versäumt, diese Personen zu integrieren – vielleicht wird das ja jetzt wieder besser. Allerdings gibt es auch in der CDU nach wie vor Christen mit Rechtsdrall, die sich am rechten Rand der Partei bewegen.

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Steven Schäller: Wenden wir uns nun einer anderen Perspektive zu. Bislang sprachen wir über rechte Christen und haben versucht, das Phänomen vom Konservativen abzugrenzen. Jetzt möchte ich mit Ihnen einen Blick auf die typischen Szenemedien werfen. Welche Rolle spielten Zeitschriften wie Criticón oder ­später dann die Junge Freiheit bei der Verbreitung von neurechtem Denken unter rechten Christen? Findet sich hier auch der von Ihnen schon mit Armin Mohler angesprochene Ansatz einer Mimikry, neurechtes ­Denken unter „konservativ“ zu subsumieren? Bei der Jungen Freiheit etwa ist unter den Leitlinien des Blattes zu lesen, Journalismus solle von einem dezidiert christlichen Weltbild aus betrieben werden. Liane Bednarz: Es gibt dazu ein sehr kluges Buch von Martina Steber mit dem Titel Die Hüter der Begriffe.6 Darin beschreibt sie, dass es innerhalb der Rechten von Anfang an auch dezidierte Christen gab. Die Junge Freiheit ist das Scharniermedium schlechthin. Im Laufe der Jahre fand hier zwar eine Entradikalisierung statt. Gleichwohl gilt sie aber auch immer noch im Schnellroda-Zirkel 7 als „Mutterschiff“ der rechten Publizistik. Die Junge Freiheit hat in ihren Redaktionsgrundsätzen niedergelegt, dass sie einen „festen christlichen Standpunkt“ vertritt. Dies äußert sich vor allem beim „Genderthema“, welches für rechte Christen eine immense Rolle einnimmt, ebenso wie auch beim kritischen Umgang mit Abtreibung. Durch d ­ ieses christliche Antlitz schreiben seit Jahren auch Christen für die Junge Freiheit. Dadurch wird die Grenze z­ wischen dem, was noch konservativ, und dem, was schon rechts ist, verwischt. Die Junge Freiheit schafft es mit dieser Ausrichtung auf einen ‚christlichen Touch‘, rechtes Denken als konservativ zu verkaufen und damit natürlich auch zur Ausbreitung ­dieses Denkens beizutragen. Steven Schäller: Über den Antiliberalismus und den Antipluralismus haben wir nun bereits gesprochen. Es fehlt noch die dritte zentrale Annahme im sogenannten rechtschristlichen Milieu, der Ethnopluralismus. Sie stellen heraus, dass im Ethnopluralismus als zentraler ideologischer Chiffre der Neuen Rechten wenig Klarheit enthalten ist. Bemerkenswert ist hier eine Parallele im politischen Denken zu Carl Schmitt: So wenig die Neue Rechte den eigenen Ethnos klar und präzise beschreibt, so wenig hat es Schmitt für notwendig erachtet, sich in der Darstellung der Freund-Feind-Konstellation der Frage zu widmen, was den „Freund“ auszeichnet. Bei Götz Kubitschek wiederum lässt sich das Eigene – so ist es dem 6 Martina Steber 2017: Die Hüter der Begriffe. Politische Sprachen des Konservativen in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, 1945 – 1980. De Gruyter: Berlin. 7 In Schnellroda (Sachsen-Anhalt) befindet sich der Sitz des Antaios Verlags sowie des Instituts für Staatspolitik. Beide Institutionen sind dem neurechten Milieu um Götz Kubitschek zuzuordnen. „Schnellroda“ hat sich mit Büchern, der Zeitschrift Sezession und regelmäßigen Veranstaltungen zu einer Chiffre für das intellektuelle Gravitationszentrum der Neuen Rechten in der Bundesrepublik entwickelt.

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Briefwechsel mit Armin Nassehi zu entnehmen 8 – erfühlen, nicht aber klar und präzise beschreiben. Das Gefühl für das Eigene sei einfach da. Im Fall der Krise, so Kubitschek, wisse ein jeder intuitiv, zu welcher Gruppe er gehöre. Vor ­diesem Hintergrund bedeutet ein angemessener Umgang mit Vertretern der Neuen Rechten oder auch mit rechten Christen, dass man diese Leerstelle ernst nehmen sollte. Demzufolge würde es nicht ausreichen, allein auf die Leerstelle hinzuweisen. Stattdessen sollte auch gefragt werden, was diese Leerstelle bedeutet und wer sie füllen darf. In einem dezisionistischen Politikverständnis ist die Verfügung über das Eigene eine Entscheidung des Souveräns, der unseren Legitimitätsvorstellungen entsprechend identisch mit dem demokratischen Gesetzgeber ist. Wie aber dieser sich zusammensetzt, könnte die entscheidende Differenz sein. Was meinen Sie, wäre nicht die Frage danach, wer wir sind und was das Eigene ist, eine geeignete Anknüpfungsstelle für eine Auseinandersetzung mit der Neuen Rechten? Oder wäre darin eher ein Dammbruch zu sehen, der darin bestünde, dass man mit den Personen, die womöglich ein substanziell anderes Menschenbild haben, darüber diskutiert, ob der Andere als Gleicher anzusehen ist, in welchem Status auch immer – ob als Wesen der Schöpfung, als neuzeitlicher Mensch, als Grundrechteträger, als Staatsbürger? Liane Bednarz: Zunächst und ganz grundsätzlich meine ich, dass, genau wie Nassehi das getan hat, mit der Neuen Rechten im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung gesprochen werden kann. Man sollte es tun, um die Schwächen ­dieses Denkens aufzuzeigen, und da würde dann auch, bezogen auf Ihre Frage, die Linie verlaufen. Wenn man jetzt mit der Neuen Rechten öffentlich darüber diskutiert, was sie eigentlich mit dem Eigenen meint, ist es insofern eine Chance, als dass man sie dann zwingt, sich festzulegen – können sie es nicht, offenbaren sie so selbst ihre Schwäche. Es gibt einen ganz interessanten Vortrag von HansThomas Tillschneider von der AfD beim letzten Kyffhäusertreffen. Darin geht es um die Frage, was das „Deutsche“ sei. Tillschneider gelingt es dabei nicht, das Eigene auf irgendeine Weise wirklich klar zu bestimmen. Stattdessen raunt er unter anderem, dass es „allumfassend“ sei. In einem Gespräch mit einem Rechten könnte man zum Beispiel auch nachhaken, was mit „Remigration“ gemeint sein soll. Wer soll da „remigrieren“? Herr Höcke spricht davon, dass „nicht integrierbare Migranten“ remigrieren sollen, die gehören offensichtlich nicht zum Eigenen. Daran schließt sich die Frage an, was es heißt, „nicht integrierbar“ zu sein? So wird in einem Gespräch voraussichtlich immer festzustellen sein, dass die Neurechte voluntaristisch ist. Ihre Begriffe, die sie aber oftmals – wie bereits beschrieben – selbst nicht definieren können, werden nach Gusto in die Debatte eingespeist. 8 Armin Nassehi, Götz Kubitschek 2015: Ein Briefwechsel mit Götz Kubitschek. In: Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. Murmann: Hamburg, 300 – 330.

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Einen Diskurs, wie den gerade aufgezeigten, kann man führen. Zu einem Dammbruch kommt es jedoch dann, wenn man sagt: „Liebe Neue Rechte, wir setzen uns jetzt zusammen und überlegen mal gemeinsam, wo hört das Eigene auf, und dann akzeptieren wir eure Definition, auch wenn diese auf Ungleichwertigkeitsvorstellungen beruht.“ Ich glaube aber, dass man diese beiden Ebenen ganz gut auseinanderhalten kann. Das zeigt sich ja auch in dem genannten Briefwechsel von Armin Nassehi mit Götz Kubitschek, wo Nassehi die Schwächen ­dieses Denkens aufzeigt und Kubitscheks Ideenwelten ja gerade nicht übernimmt. Steven Schäller: Sie weisen Thilo Sarrazin, Buchautor, dem ehemaligen Finanzsenator von Berlin und ehemaligem Vorstand der Bundesbank, eine besondere aktivierende und integrierende Funktion für das Milieu der „rechten Christen“ zu. Wie konnte es eigentlich dazu kommen, dass Sarrazin diese Wirkung entfaltet, und ­welche Rolle spielt sein Kulturbegriff dabei? Liane Bednarz: Die Wirkung konnte Sarrazin tatsächlich vor allem deshalb entwickeln, weil er SPD-Mitglied ist. Die implizite Botschaft lautet: Das ist jemand, der nicht zum rechten Denkmilieu gehört. Götz Kubitschek etwa sagte sinngemäß, dass Sarrazin einer der wichtigsten Türöffner für die eigenen ­Themen war. Sarrazin war aufgrund seiner bürgerlichen Vita etabliert und angesehen. Dabei fand der Dammbruch gar nicht mit seinem ersten Buch 9 statt, sondern schon früher, 2009 mit einem Interview mit Lettre International.10 Schon da hat Sarrazin entscheidend zur Verrohrung der Sprache beigetragen, weil von den „Kopftuchmädchen“, die „produziert“ werden und von den „Bräuten, die aus Anatolien nachgeliefert“ werden, gesprochen hatte. Das sind Verben, die üblicherweise für Sachen benutzt werden, nicht für Menschen. Diese pauschale Stimmungsmache von Sarrazin, die auch eng verknüpft ist mit Ressentiments gegen den Islam, hat in Teilen der Bevölkerung ganz entscheidend zur Ausprägung einer Haltung des „Sowas-wird-man-ja-wohl-noch-sagen-Dürfen“ beigetragen. Im Milieu der rechten Christen waren die Reaktionen auf das erste Sarrazin-Buch Deutschland schafft sich ab sehr wohlwollend und im Nachhinein auch nicht erstaunlich. Das Buch hat ­dieses Denken salonfähig gemacht. Sarrazin ist eine entscheidende Figur in Deutschland, was diesen Rechtsruck angeht. Vor dem Hintergrund dieser Wirkung wird Sarrazins Kulturbegriff umso bedeutsamer. Danach s­ eien ganze Menschengruppen minderintelligent. Die These Sarrazins lautet ja, dass einzelnen Individuen von vornherein Lebenschancen versagt bleiben müssen, weil sie 9 Thilo Sarrazin 2010: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. Deutsche Verlags-Anstalt: München. 10 Frank Berberich, Thilo Sarrazin 2009: Klasse statt Masse. Von der Hauptstadt der Transferleistung zur Metropole der Eliten. In: Lettre International 86, 197 – 201.

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aufgrund ihrer Herkunft über einen Genpool verfügen, der eine geringere Intelligenz zur Folge habe. Das spricht letztlich Menschen die Fähigkeit ab, auch aus eigener Kraft etwas erreichen zu können. Das widerspricht nicht nur der sozialdemokratischen Vision einer gerechteren Gesellschaft durch ein individuell einlösbares Aufstiegsversprechen. Es widerspricht auch fundamentalen Annahmen des Christentums darüber, was der Mensch ist. Steven Schäller: Neben den großen ideologischen Konfliktlinien werden von rechten Christen auch zahlreiche kleinere Themenfelder bearbeitet, darunter etwa Aspekte der Sexualität: Das Spektrum ist hier wieder relativ weit – von der sogenannten Frühsexualisierung der Kinder über Homosexualität bis hin zur Unterscheidung von biologischem und kulturellem Geschlecht. Gerade die Genderkritik wird von Ihnen als wichtiges Merkmal rechter Christen eingestuft, sozusagen als ein Triggerthema, das zuverlässig Reaktionen hervorruft. Kritik am Genderdiskurs lässt sich aber auch jenseits von rechten Christen beobachten. Was sind denn die zentralen Unterschiede, wenn rechte Christen über Gender sprechen oder wenn eben ein großstädtisch geprägtes CDU-Mitglied Gender kritisiert? Liane Bednarz: Eine maßvolle Kritik an Gendervorstellungen vertrete ich ja zum Teil auch, gerade was die Gendersprache angeht, die ich persönlich fast nicht verwende. Eine maßvolle Kritik besteht aus meiner Sicht darin, dass man bestimme Ausprägungen des Genderthemas kritisch sieht, aber auch anerkennt, dass die Genderdebatte dazu beiträgt, sowohl Frauen als auch nicht heterosexuelle Menschen weniger zu diskriminieren. Eine rechts-christliche Genderkritik macht den Fehler, dass sie sich ganz besonders radikale Äußerungen, die es ja tatsächlich innerhalb der Genderszene gibt, herauspickt und diese radikalen Stimmen zum Maßstab für das nimmt, was Gender angeblich sein soll. Als Beispiel kann hier die in der Genderszene durchaus vorhandene Einstellung dienen, das biologische Geschlecht sei vollkommen irrelevant. Aus solchen radikalen Einzelstimmen wird von Christen mit Rechtsdrall dann aber eine Verschwörungstheorie gestrickt, wonach es eine großangelegte „Umerziehung“ geben soll. So heißt es dann, die „Erziehung zum neuen Menschen“ sei das Ziel der Genderbefürworter. Männer dürften keine Männer mehr sein und Frauen keine Frauen. Manche behaupten auch, dass die Gesellschaft „homosexualisiert“ werden solle, was eine vollkommen hysterische und abstruse Verschwörungstheorie ist. Steven Schäller: Die Verfallsrhetorik tritt sehr klar zum Vorschein, wenn gesellschaftlicher Wandel in Fragen der Sexualität bei rechten Christen zu Befürchtungen zu den möglichen Folgen ­dieses Wandels führt. Aber was genau geht denn aus Sicht von rechten Christen verloren oder was verfällt, wenn beispielsweise homosexuelle Menschen rechtlich ein Institut zur Verfügung gestellt bekommen, das der Ehe gleichgestellt wird?

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Liane Bednarz: Die Argumentation in diesen Kreisen ist, dass dies ein „Angriff auf die traditionelle Familie“ sei, weil diese dadurch letztlich entwertet werde. Aus meiner Sicht überzeugt das nicht. Man kann natürlich mit guten Gründen gegen die „Ehe für alle“ sein. Aber warum diese einen Angriff auf die traditionelle Familie darstellen soll, verstehe ich schlichtweg nicht. Der traditionellen Familie wird ja nichts genommen. Und das Ideal „Vater, ­Mutter, Kind“ wird ja in unserer Gesellschaft sehr hochgehalten. Themen, die gerade aus christlicher Sicht deutlich plausibler als eine Bedrohung des Familienmodells gesehen werden können, werden hingegen von rechten Christen fast vollständig ausgeklammert, etwa die Gefahr, die für Familien vom Ehebruch ausgeht. Auch Fragen zu Vereinbarkeit von Familie und Beruf spielen eine geringe Rolle, ebenso Fragen der Bezahlbarkeit von Wohnraum für Familien in Städten. Eine Reihe von Punkten, die wirklich die meisten Familien betreffen, spielen in diesen Kreisen keine Rolle. Stattdessen wird so getan, als ob Familien hauptsächlich dadurch gefährdet s­ eien, dass Homosexuelle heiraten können. Steven Schäller: Unter anderem vor d ­ iesem Hintergrund der Bewahrung traditioneller Werte, wie etwa der Familie, kommt auch die Verehrung für den Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, ins Spiel. Er wird in diesen Hinsichten als eine Art Erlöserfigur gesehen, der das Rad vermeintlich zurückdrehen könnte. Liane Bednarz: Putin gilt in diesen Kreisen vor allem deshalb vielfach als Vorbild, weil er sich gegen eine vermeintliche „Homosexuellenpropaganda“ stellt. In dieser Perspektive ist Putin jemand, der die wahren christlichen Werte durchsetzt. Interessanterweise haben die gleichen Leute, die vollkommen zu Recht den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan kritisieren, der sein Land in eine Art Diktatur verwandelt, häufig nicht das geringste Problem mit Putin – im Gegenteil. Sie haben auch kein Problem mit der PiS-Partei in Polen oder mit Viktor Orbán in Ungarn, obwohl dort anders als bei uns wirklich Freiheitsrechte eingeschränkt werden. Stattdessen glaubt man in diesen Kreisen oftmals, das sei ebenfalls gut und richtig, weil auf diese Weise wahre christliche Werte durchgesetzt würden. Steven Schäller: Ebenfalls relevant in diesen Kreisen ist die sogenannte Islamkritik oder Islamfeindlichkeit, die zugleich auch in der Bevölkerung verhältnismäßig weitverbreitet sein soll, wenn man Umfragen zur politischen Kultur vertraut. In den letzten Jahren haben öffentliche Kontroversen um diese ­Themen zunehmend an Aufmerksamkeit gewonnen. Welche Rolle spielen hier möglicherweise einflussreiche Agendasetter aus den Milieus der rechten Christen? Haben sie an dieser Themenkonjunktur auch einen besonderen Anteil oder profitieren sie einfach nur davon?

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Liane Bednarz: Die haben an dieser Themenkonjunktur einen entscheidenden Anteil. Das fängt ja schon mit dem Begriff der angeblichen „Islamisierung“ an. Ich bin durchaus dafür, dass man harte Debatten über Integrationsdefizite und Parallelgesellschaften führt. Aber es ist so ähnlich wie mit der „Homosexualisierung“: Seitdem eine angebliche „Islamisierung“ im Angesicht von Moscheeneubauten und der selbstverständlichen Wahrnehmung der Religionsfreiheit durch Muslime herbeigeredet wurde, dient der Begriff als eine Chiffre für die Ablehnung des Islamischen in toto. Davon unbeschadet ist eine Islamkritik an sich selbstverständlich legitim, genauso wie es ja auch Kritik am Christentum gibt und das Christentum sicherlich von diesen kritischen Diskursen profitiert hat. Aber es ist eben ein Unterschied, ob man eine sachliche, seriöse Islamkritik betreibt oder ob man das Gespenst einer „Islamisierung“ an die Wand malt. Bekanntlich ist der Begriff auch bei Pegida im Namen enthalten – die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands“. Bei der Recherche für mein Buch musste ich zudem feststellen, dass der Begriff der „Islamisierung“ schon von der sogenannten Aktion Linksdrall genutzt wurde. Das war eine Basisgruppe aus Unionsmitgliedern, bei der von Beginn an auch einige Christen dabei waren. Die haben bereits 2010 pauschal vor der „Islamisierung“ gewarnt. Da ist es kein Wunder, dass vier Jahre ­später die Pegida-Aufrufe nicht selten auf Sympathie im rechtschristlichen Milieu gestoßen sind. Steven Schäller: Wenn nun die ­Kirche und da nicht zuletzt auch der Papst öffentlich einen Kurs vertreten, mit dem durch Annäherung, Gespräche und wechselseitige Besuche der interreligiöse Dialog gefördert wird, kann das ja nicht ohne Echo bleiben. Was für Reaktionen ruft es denn in diesen Milieus hervor? Liane Bednarz: Extrem negative Reaktionen. Im Milieu rechter Christen besteht am Dialog mit dem Islam kein Interesse. Bei rechten Evangelikalen (die innerhalb der Evangelikalen allerdings in der Minderheit sind) ist es so, dass Muslime als Missionsobjekt gelten, aber ansonsten ist der Islam schlichtweg „die falsche Religion“ oder auch eine Ideologie. Das steht im Widerspruch zur Haltung der beiden Großkirchen, die in grundlegenden Texten zwar einerseits zutreffend die Eigenständigkeit des Christentums betonen und den Gott der Bibel von Allah unterscheiden. Andererseits erkennen die beiden Großkirchen an, dass wir in einer pluralen Gesellschaft leben und daher auch mit Muslimen auskommen müssen. Voraussetzung dafür ist, ihrem Glauben mit Respekt zu begegnen. Allein das geht diesen rechtschristlichen Milieus aber schon zu weit. Viele dort unterstellen den Großkirchen, Synkretismus zu betreiben, also eine Religionsvermischung. Was aber nicht stimmt.

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Steven Schäller: Weitere ­Themen für rechtschristliche Kreise sind der Euro und die EU. Für viele Kritiker ist die EU Sinnbild einerseits eines Verlusts der Nationalstaatlichkeit und andererseits auch Sinnbild eines Werteverfalls, insbesondere der Werte eines christlichen Abendlandes. Wie begründet sich das aus Sicht von rechten Christen und inwiefern ist das überhaupt stichhaltig? Liane Bednarz: Auch das ist eine groteske Überzeichnung. Die EU wird in der Tat mittlerweile als Hort des Linksliberalismus erachtet, der angeblich bevormundet und Freiheiten einschränkt. Analog zum vorher schon Geschilderten werden auch hier absurd überzeichnete, letztlich plakative Beispiele benutzt, die dann für das Ganze einstehen sollen: etwa das Glühbirnenverbot oder die – längst abgeschaffte – normierte Gurke. Zudem glaubt man, dass der Verlust der nationalstaatlichen Identitäten von der EU forciert werde. Zusammengefasst geht es um eine angebliche Bevormundung und Gleichmacherei. Darüber hinaus vertritt die EU eine recht liberale Abtreibungshaltung, die ebenfalls nicht gerne gesehen wird. Mit diesen ­Themen wird die EU bekämpft, wobei sich häufig eine gewisse Ahnungslosigkeit offenbart, was die EU alles leistet, beim Verbraucherschutz etwa oder auch beim Anlegerschutz – so kann jeder EU-Bürger relativ risikolos Geld in anderen europäischen Ländern anlegen. Es wird erstaunlicherweise auch nicht thematisiert, dass die EU ein Friedensprojekt ist. Stattdessen will man in diesen Kreisen zurück zum Nationalstaat und scheint zu glauben, dass in ­diesem die christliche Prägung leichter durchzusetzen sein könne. Steven Schäller: „Zeitgeist“ und „politische Korrektheit“ sind zwei Begriffe, die in den normalen Sprachgebrauch übergegangen sind und oftmals in kritischer Absicht verwendet werden. Wer sich gegen den Zeitgeist stellt, gilt als charakterstark, politische Korrektheit wird dagegen mit Bevormundung und Humorlosigkeit in Verbindung gebracht. In den Kreisen der rechten Christen findet sich das wieder. Worin unterscheidet sich der Gebrauch dieser beiden Begriffe bei rechten Christen? Ist es allein die Schärfe, oder ist es das Motiv der Verwendung? Liane Bednarz: Es ist zunächst eine Mischung aus allem. Beobachten lässt sich ein vollkommen undifferenziertes Schwarz-Weiß-Denken, was ein entscheidendes Merkmal für diese Kreise ist. Natürlich können Sie aus konservativer Sicht sagen, es gibt bestimmte Formen der politischen Korrektheit, die als überzogen einzuordnen sind. Bewegt man sich etwa in sehr linken Milieus und äußert dort Kritisches zum Recht der Frau auf Abtreibung, dann ist ein Aufschrei als Reaktion fast schon unvermeidlich. Aber im Großen und Ganzen ist politische Korrektheit tatsächlich der zu begrüßende Versuch, Menschen nicht abfällig mit Begriffen zu etikettieren, die sie verletzen. Diese Form einer vernünftigen Differenzierung finden Sie in rechtschristlichen Kreisen selten. Da wird fast jede Form von politischer Korrektheit als Gängelung empfunden.

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Mit Blick auf den „Zeitgeist“ finde ich für Christen die Frage angebracht, wieso bin ich in dieser Epoche hier geboren worden? Offensichtlich ist das von Gott so gewollt. Und was soll eigentlich dieser ominöse schlimme Zeitgeist sein, also was ist das? Auf Nachfrage bekommt man zu hören: „Jaja, die Moderne und so.“ Im Grunde handelt es sich um eine Chiffre für die Ablehnung der Moderne insgesamt, für einen ausgeprägten Kulturpessimismus und für eine Haltung, wonach die Betroffenen sich am falschen Platz wiederzufinden meinen. Diese Haltung empfinde ich als ziemlich undankbar. Wer über den Zeitgeist beständig jammert, sollte sich überlegen, über w ­ elche Privilegien er verfügt. Insofern erweist sich diese Haltung auch als eine larmoyante Abwendung von der Welt, so eine antimoderne Haltung gegen alles Mögliche. Es drängt sich die Frage auf, welcher Zeitgeist hätte diesen Leuten denn entsprochen? Jener der 1950er Jahre, jener des Mittelalters? Steven Schäller: Während das Recht auf die eigene freie Rede und freie Wortwahl beansprucht wird, sieht es ja bei der Frage nach dem Schutz der eigenen Befindlichkeiten ja genau umgekehrt aus. So soll der eigene christliche Glaube einem besonderen staatlichen Schutz unterliegen. In einer solchen Forderung steckt implizit die Unterstellung, dass das genau nicht so wäre. Liane Bednarz: Ja, das lässt sich an den Christen in der AfD beobachten. In deren Grundsatzerklärung 11 steht sinngemäß, dass unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit irgendwie Stimmung gegen Christen gemacht werde. Die AfD in Sachsen-Anhalt fordert sogar, dass auf die ­Theater Einfluss zu nehmen sei. Deutlich wird daran, dass man kein Problem damit hat, Freiheiten anderer einzuschränken, um den eigenen Anliegen zur Geltung zu verhelfen. Steven Schäller: Ganz zum Schluss habe ich noch zwei Fragen zum Ausblick. Methodisch gesehen ist Ihr Standpunkt als Autorin des Buches als gläubige Christin, Protestantin, eine besondere Herausforderung: Eine ganze Reihe von Punkten, die Sie in kritischer Absicht ansprechen, teilen Sie auch in Nuancen. Beim Gendermainstreaming etwa hatten Sie dies bereits zu erkennen gegeben. Sie stellen sich dieser Herausforderung, indem Sie das Radikale an den Positionen der rechten Christen herausarbeiten. Inzwischen ist das Buch veröffentlicht, Sie konnten seine Rezeption verfolgen. Lässt sich sagen, ob diese Strategie anschlägt? Gibt es ein Publikum, bei dem es auf einen fruchtbaren Boden fällt? Liane Bednarz: Das funktioniert sogar sehr gut. Ich habe viele Reaktionen von Kirchenvertretern bekommen, und zwar sehr positive. Das Buch ist auf Blogs von diversen konservativen Christen rezensiert worden, auch im evangelikalen Milieu, ich sage auch bewusst: 11 Vgl. https://www.chrafd.de/index.php/grundsatzerklaerung [08. 06. 2020].

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im konservativen evangelikalen Milieu, und zwar immer positiv. Gerade der Anspruch einer differenzierten Sichtweise auf das Thema ist in diesen Bewertungen auschlaggebend. Umgekehrt erfahre ich aus einem evangelischen, eher linksorientierten Milieu, dass ich gezielt als Konservative eingeladen werde. Es gibt dort ein gewisses Interesse, nicht alles über einen Kamm zu scheren, das gemäßigt Konservative anzuerkennen und gemeinsam zu schauen, wo das rechte Denken beginnt. Aber so, wie das Buch sehr viele positive Reaktionen hervorgerufen hat, gibt es eben auch die andere Seite der Rezeption: Wenn die Leser einen bestimmten Radikalisierungsgrad erreicht haben, dann sehen sie diese Differenzierungen nicht mehr. Aber das ist auch weniger jenes Publikum, das ich erreichen wollte. Stattdessen ziele ich auf die Unentschlossenen, wenn Sie so wollen, auf die „Wackelkandidaten“. Bei Veranstaltungen erlebe ich oft Leute, die zur AfD tendieren, aber noch Bereitschaft erkennen lassen, nachzudenken. Hier sind auch positive Reaktionen auf eine differenzierte Herangehensweise möglich. Und schließlich gibt es auch noch die ganz Linken, Das Neue Deutschland etwa hat das Buch sehr schlecht besprochen. Aus deren Sicht habe ich das ganz konservative Denken nicht kritisch genug betrachtet. Steven Schäller: Daran schließt meine letzte Frage zur künftigen Praxis an: Wie ist damit umzugehen, dass rechte Christen, aber auch die Neue Rechte häufig in einen Opfermythos flüchten, Meinungsfreiheit nur sich selbst zugestehen möchten, nicht aber anderen? Wie kann man auf die Einnahme einer solchen Opferrolle angemessen, auch empathisch und einfühlsam reagieren, so dass man die Betreffenden nicht vor den Kopf stößt, sie ausschließt? Liane Bednarz: Indem man ­zwischen Haltung und Person trennt. Bei einer Veranstaltung richtete eine Person aus dem Publikum die Frage an mich: „Was wollen Sie denn jetzt? Wollen Sie uns alle ausgrenzen und dann werden wir aus den Gemeinderäten rausfliegen?“ Daraufhin antwortete ich: „Das will ich überhaupt nicht! Es gibt gewisse inhaltliche Positionen, wenn sich jemand zum Beispiel offen rassistisch äußert, klar, dann muss man die Mitgliedschaft in Gremien überdenken, aber solange das nicht der Fall ist, möchte ich mich mit Ihnen inhaltlich auseinandersetzen.“ Es gibt sicherlich Grenzüberschreitungen, die man wachsam beachten muss. Aber ich halte es für einen falschen Umgang, wenn etwa kein AfD-Vertreter zum Kirchentag kommen darf – grenzt man so hart aus, darf man sich nicht wundern, wenn die Reaktionen entsprechend sind. Zumal auch gesehen werden muss, dass diese Leute in ihren Gedankenwelten tief verhaftet sind. Das erfordert viel Geduld und viele Gespräche.

Sebastian Dümling

Zeit-Politik Die alten Reiche der Neuen Rechten

1. Zeitreisen auf dem Kyffhäuser – Einleitung Gesten beziehen sich meistens auf andere Gesten: Dass sich Der Flügel der Alternative für Deutschland regelmäßig zu sogenannten Kyffhäusertreffen am thüringischen BarbarossaDenkmal versammelt, ist eine geschichtspolitisch mehrdeutige Geste, die auf ein Denkmal verweist, das selbst als eine mehrdeutige Geste entworfen war.1 Das ­zwischen 1890 und 1896 errichtete Monument sollte zum einen die ideelle translatio imperii vom letzten großen mittelalterlichen Kaisergeschlecht, den Staufern, hin zu den Hohenzollern symbolisch vollziehen. Etwas, worum sich die preußischen Dichter bereits länger bemühten: Schon Wilhelm I. wurde kurz nach seiner Kaiserkrönung dichterisch als Barbablanca besungen, als Weißbart, und damit zum Erben ­Kaiser Friedrich Barbarossas ernannt. Neben dieser dynastischen Legitimationsgeste sollte das Denkmal eine Versöhnung anbieten: Mithilfe der Figur B ­ arbarossas sollte es den katholischen, eher städtisch-wirtschaftsliberalen Südwesten mit dem protestantischen, eher landesherrschaftlich ausgerichteten Nordosten, also mit Preußen verbinden. Schließlich verkörperte das Denkmal eine außenpolitische Aussage: So wie die Staufer eine expandierende, auf Italien und das Heilige Land ausgreifende Reichspolitik betrieben hatten, wollte Wilhelm II. seine Weltpolitik verstehen. Die nationale Saturiertheit, von der Bismarck noch gesprochen hatte, sollte für einen deutschen „Platz an der Sonne“ aufgegeben werden.2 Neben all dem gilt, dass das Denkmal auf utopischem Fundament gebaut wurde: Seit dem Spätmittelalter erzählte man sich vom wieder aus dem Schlaf aufwachenden Barbarossa in Form einer eschatologischen Erlösungsgeschichte. Wenn nur der ­Kaiser wiederkomme, werde alles gut.3 So formulierte ein Dichter noch 1817 – n ­ achdem 1 Zum Folgenden Herfried Münkler 2018: Die Deutschen und ihre Mythen. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg, 37 – 68. 2 Mit dieser Formulierung fasste bekanntlich Reichskanzler von Bülow 1897 die Nach-Bismarck’sche Außenpolitik zusammen. 3 Sebastian Dümling 2017: Träume der Einfachheit. Gesellschaftsbeobachtungen in den Reformschriften des 15. Jahrhunderts. Matthiesen Verlag: Husum, 48 – 50.

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das (Heilige) Römische Reich (Deutscher Nation)4 1806 formal sein Ende gefunden hatte: „Er hat hinabgenommen / Des Reiches Herrlichkeit / Und wird einst wieder­kommen / Mit ihr, zu seiner Zeit.“ 5 Spätestens mit dem Denkmalbau wird Barbarossa als Hohenzoller aufgeweckt, der mit dem neuen, dem zweiten Reich, die sagenhaften Zustände verwirklichen soll. Die Idee des Reichs befindet sich damit in einer Spannung aus Nostalgie und Utopie, aus einer retrospektiven Gerichtetheit, die in die Zukunft weist: Man will etwas Neues, indem man das Alte wiederholt.6 Was will nun der Fingerzeig des Flügels hin aufs Kyffhäuserdenkmal? Was ist das Neue, auf das er verweist, was ist das Alte, das sich wiederholen soll? Eine vorläufige Antwort lautet, dass es sich bei d ­ iesem Denkmal um einen Supersignifikanten handelt, der eine Vielzahl unterschiedlicher Ideen, Bilder und Bedeutungen referenziert, die in der Neuen Rechten zirkulieren.7 So wie Wilhelm II. das Denkmal als Integrationsangebot an die landsmannschaftlich wie konfessionell gespaltenen Deutschen begriff, integriert die Geste des Flügels die bisweilen opponierenden Fraktionen innerhalb der Rechten. Im Zentrum dieser semantischen Integration steht das dezidiert mittelalterliche Reich, das eine überraschend große Bedeutung innerhalb rechter Kommunikation hat. Das Reich gilt als nostalgisch-utopische bzw. rechtlich-institutionelle Alternative (bestehender/imaginierter) transnationaler bzw. transregionaler bzw. transvölkischer Verbände. Diese eigenwillige Reihung ergibt sich, weil verschiedene, mitunter widersprüchliche rechte Sozialentwürfe das Reich als Ordnungsmodell einsetzen. Auf diese Entwürfe möchte ich im Folgenden nicht im ideengeschichtlichen Sinne als concepts of ideas eingehen, um sie hinsichtlich ihrer Reflexivität zu hierarchisieren und in eine theoretische Genealogie einzuordnen.8 Vielmehr sollen die untersuchten Aussagen als Beobachtungen von Gesellschaft verstanden werden, die mit Leitunterscheidungen soziale Welt so ordnen, dass sie bestimmte Probleme lösen.9 Ich frage 4 Diese Bezeichnung spielt auf die imaginierte Kontinuität des Reichs an, die sich von der römischen Antike über das Mittalter bis hin zur Abdankung Franz’ II. erstreckte. 5 Friedrich Rückert: Barbarossa, zitiert nach Münkler 2018, 46. 6 Zu dieser Spannung Svetlana Boym 2001: The Future of Nostalgia. Basic Books: New York; zu ihrer populistischen Verwertung Sebastian Dümling 2018: AfD (um 1500). In: Merkur. Zeitschrift für Europäisches Denken 834, 72 – 77. 7 Als Neue Rechte verstehe ich eine diffuse rechte Diskursgemeinschaft, die sich publizistisch von der alten nationalsozialistischen Rechten absetzt. Als Neue Rechte verstehe ich die konkrete Diskursgemeinschaft, die sich ideengeschichtlich auf einen eindeutigen Autorenkanon, v. a. Arthur Moeller van den Bruck, Armin Mohler, Alain de Benoist, bezieht. Die für das Thema naheliegende Reichsbürger-Bewegung wird ausgeblendet, weil die Diskussion ihrer Eigentümlichkeiten zu viel Raum einnehmen würde. Vgl. Samuel Salzborn 2013: Rechtsextremismus. Erscheinungsformen und Erklärungsansätze. Nomos: Baden-Baden. 8 Vgl. zur ideengeschichtlichen Kritik Stefan Collini, Quentin Skinner u.a 1988: What Is Intellectual History? In: Juliet Gardiner (Hg.), What Is History Today? Palgrave: London, 105 – 119. 9 Vgl. zum Verfahren Armin Nassehi 2015: Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss. Kursbuch.Edition: Hamburg.

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zum einen danach, ­welche sozialen Leitunterscheidungen der Signifikant Reich ermöglicht, und zum anderen, w ­ elche Probleme durch ihn gelöst werden sollen – Probleme, die ihrerseits als Ergebnisse rechter Beobachtungen zu verstehen sind. Dabei werde ich mich empirisch auf wichtige Vertreter der Neuen Rechten in Deutschland beschränken. Ich will meine Ausführungen eher als analytischen Versuch denn als abschließende Untersuchung verstehen.

2. Der Reichsgedanke im 21. Jahrhundert: Neurechtes Erinnern Gesten beziehen sich meistens auf andere Gesten. Als besonders gestenreich lässt sich grundsätzlich das Diskursprogramm der Neuen Rechten beschreiben, die ständig raunend historische Autoren als Gewährsleute anführen und mit kräftigen Geschichtssignaturen spielen. Geradezu als Selbstparodie 10 mutet etwa Karlheinz Weißmanns programmatische Auflistung an, was die Neue Rechte sei: Parole: Geheimes Deutschland! Hauptfeind: Die Dekadenz. Köpfe: Friedrich Nietzsche, Ernst Jünger, Arnold Gehlen, Armin Mohler. Referenzepochen: Das Ottonische und das Staufische

Reich, Preußen im 18. Jahrhundert, die deutschen Erhebungen von 1813, 1944 und 1953. Idole: Heinrich I., Friedrich II., Friedrich der Große, Stein, Gneisenau, Bismarck, Stauffenberg.11

Diese Verweiskette schreit förmlich heraus: Neue Rechte beschäftigen sich zum einen mit dicksten Brettern, auch mit solchen, die schon tausend Jahre alt sind wie die Ottonischen. Zum anderen sind Neue Rechte in der Lage, diese Bretter genau zu benennen und zu einer kanonischen Ordnung zusammenzusetzen, so dass die Verbindung z­ wischen dem Stauferreich (1138 – 1254) und dem 17. Juni 1953 alles andere als willkürlich erscheint. Neben Weißmann ist auch Götz Kubitschek ein Spezialist für postmodernes Remixing und Sampling markanter Autor- und Historienfiguren: Seine Texte sind Verweise, die nur in dem geschlossenen Verweissystem verständlich sind, in dem sie operieren. Dadurch trennen sie das Diskursinnere scharf von seinem Außen und produzieren Bedeutsamkeit.12 Am 25. Januar 201913 veröffentlichte Kubitschek im Blog der Sezession 14 einen ­verweisstarken 10 Der Roman von Jörg-Uwe Albig, 2019: Zornfried. Roman. Klett-Cotta: Stuttgart, zieht beispielsweise seine Komik daraus, dass er neurechte Samplingtechniken seinerseits verwendet und sich damit sehr dicht am Weißmann-Sound bewegt. 11 Zitiert nach Martin Lichtmesz 2015: Autorenporträt Karlheinz Weißmann. Online: https://sezession. de/50572/autorenportraet-karlheinz-weissmann [08. 06. 2020]. 12 Denjenigen, denen diese Bedeutsamkeitsproduktion entgeht, erklärt der Header: „Sezession ist die bedeutendste rechtsintellektuelle Zeitschrift in Deutschland.“ 13 Eingeweihte wissen: 25. Januar 1077, Tag des plot twist im Canossastreit. 14 Eingeweihte wissen: Secession, Carl Schmitts Souveränitätstheorie, Weimar, Revolutionsästhetik.

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Sebastian Dümling

Beitrag mit dem Titel Hans-Dietrich Sander – eine Ausschreibung. Im Stile gelehrter Preisausschreiben, wie sie Wissenschaftsakademien im 18. und 19. Jahrhundert veranstalteten, fordert Kubitschek seine Leser auf: Um an Sander zu erinnern, wird [ein] Preis ausgelobt[, den der] Beitrag [gewinnt], der sich

mit der Frage auseinandersetzt, was das „Reich“ für uns heute bedeuten könne: „Der Reichsgedanke im 21. Jahrhundert“ ist das Thema. Nur Journalisten werden dabei an Braunhemden

und eine totalitär formierte Gesellschaft denken, inspirierte Köpfe hingegen an Entwürfe, die der EU nicht gleichen.

Kubitschek führt aus: Der Siegerbeitrag wird gut genug sein müssen, um in der Sezession abgedruckt zu werden. Er

kann ein Essay oder ein strategischer politischer Text sein, aber auch ein Gedicht oder ein Lied.

Etwas vom hohen Anspruch des Sander-Universums sollte der Gewinner spüren lassen – eine

Erinnerung an den, der ernsthaft daran arbeitete, im Zeitalter von Globalisierung und Vermassung die staufische Reichsidee wieder zu erwecken.15

Die Geste ist klar: Während es zum einen darum geht, sich als Elite einer Diskursgemeinschaft zu inszenieren, die man textlich selbst schafft, zielt sie zugleich auf das arkane und damit so distinktionsreiche Wissen des rechten Denkkollektivs. Der Verweis auf Sander ähnelt dem allwissenden Schallplattenhändler, der sich auch noch an die vergessenste und daher kostbarste Punkplatte der frühen 1980er Jahre erinnert. Denn Hans-Dietrich Sander (1928 – 2017) ist eine s­ olche Platte: Er hat nicht den Ruhm eines Armin Mohler, weswegen Kubitschek mit ihm eine umso stärkere Trennung ­zwischen Ingroup und Outgroup vollziehen kann, sich selbst – gut schmittianisch – in die Position des Souveräns setzt, der ­zwischen Wissenden und Nichtwissenden zu unterscheiden im Stande ist.

3. Ewige Stauferherrlichkeit: Sanders Reich Der Grund, weshalb Sander nur gut informierten Insidern bekannt sein dürfte, wird nachvollziehbar, wenn man seinen Reichsgedanken herausschält: Mit seiner Schrift Der nationale Imperativ (1980) will er „den entschlummerten Furor teutonicus wecken, um den Deutschen ihren bewährten Kampfgeist und ihren berechtigten Stolz zurückzugeben, die sie beim Bau 15 Götz Kubitschek 25. 01. 2019: Hans-Dietrich Sander. Eine Ausschreibung. In: Sezession. Online: https:// sezession.de/60080/hans-dietrich-sander-eine-ausschreibung60080 [08. 06. 2020].

Zeit-Politik

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des Vierten Reiches brauchen“.16 Dieses Reich solle „ein neue[r] Machtstaat, eine neue Großmacht“ sein und sich sowohl gegen die USA als auch die UdSSR erheben.17 Sanders Verweis auf das Reich ist eine große nostalgisch-utopische Geste. Sein Reich ist Denkergebnis eines gattungsmäßig wilden Mashups, das für die Neue Rechte kanonische Literatur – Stefan Georges prophetisch-chiliastisches Raunen, Oswald Spenglers geschichtsphilosophisch-apokalyptische Untergangsprognostik, Ernst Kantorowicz’ mystifizierende Friedrich-II.-Biografie – mit der großdeutsch optierenden Mediävistik des 19. und frühen 20. Jahrhundert verbindet; also mit denjenigen deutschnationalen Mittelalterhistorikern, die die Position vertraten, die seit Otto I. (912 – 973) unternommenen Italienzüge s­ eien keine Vergeudung von Ressourcen, sondern im obersten Reichsinteresse gewesen. Im Übrigen: Wie sehr die Meistererzählungen der Mittelalterforschung des 19. Jahrhunderts in der Neuen Rechten fortleben, erkennt man auch im eingangs zitierten Programm Karlheinz ­Weißmanns, das zwar die Ottonen- und Stauferherrschaft als „Referenzepochen“ anerkennt, die Salierzeit aber unerwähnt lässt. Damit nimmt Weißmann einen Blick ein, der seit Wilhelm von Giesebrechts monumentaler Geschichte der deutschen Kaiserzeit (ab 1850) häufig eingenommen wurde. Schon Giesebrecht hatte in Heinrichs Canossagang 1077 eine nationale Schmach, eine katholisch-papistische Demütigung Deutschlands erkennen wollen.18 Für Sander ist die ältere Mediävistik auch aus einer grundsätzlichen Perspektive wichtig: Er teilt mit ihr die kategoriale Fehldeutung, das mittelalterliche Reich als ein deutsches zu verstehen – und eben nicht als das weltliche Gefüge der universalen Christenheit, worunter man im Mittelalter die Christianitas universalis verstand.19 Die Deutschen betraten die Bühne der Weltpolitik in der politischen Einheit des Reichs. […]

Das deutsche Volk erhob sich nach jedem tiefen Sturz wieder durch seine Reichstreue. Damit füllte es ein Jahrtausend schöpferisch aus – nachdem Otto der Große im Jahre 962 mit dem

Erwerb der römischen Kaiserkrone das erst s­ päter so genannte, aber im Kern schon so geschaffene Heilige Römische Reich Deutscher Nation gegründet hatte.20

Sander verkennt, dass es für den mittelalterlichen K ­ aiser eine höchst ehrabschneidende Beleidigung war, als deutscher König (Rex teutonicus) tituliert zu werden – was etwa Friedrich II. durch Innozenz III. widerfuhr. Letzteres ist nicht ohne Ironie, weil Sander die Staufer als die 16 Hans-Dietrich Sander 1980: Der nationale Imperativ. Ideengänge und Werkstücke zur Wiederherstellung Deutschlands. Sinus-Verlag: Krefeld, 21. 17 Ebd., 20. 18 Tilman Struve 2008: Die Entführung Heinrich IV. zu Kaiserwerth in bildlichen Darstellungen. In: ders. (Hg.): Die Salier, das Reich und der Niederrhein. Böhlau: Köln, 353 – 369. 19 Frank Rexroth 2012: Deutsche Geschichte im Mittelalter. C. H. Beck: Frankfurt am Main, 9 – 11. 20 Hans-Dietrich Sander 1991: Das Reich als politische Bühne der Deutschen. In: Staatsbriefe 1, 25 – 33, hier 25.

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größten und deutschesten aller K ­ aiser hochhält. Aus der staufischen Geschichte entwickelt er letztlich die Binarität von den Ghibellinen und Guelfen, die für ihn geradezu ­manichäische Geschichtskräfte darstellen. Alle deutschen Reiche hätten nämlich darunter gelitten, dass Guelfen (historisch: die Welfen, die sich gegen die Staufer auf Seiten der Papstkirche bzw. der oberitalienischen Städte stellten) die Ghibellinen (historisch: die Waiblinger, also die nach Italien expandierenden Staufer) verraten hätten. Friedrich Barbarossa und Heinrich der Löwe haben diesen Gegensatz am populärsten verkörpert. Ghibellinisch war immer, ob in Italien oder Deutschland, die Reichspartei – wenn man

unter Partei etwas anderes versteht als die Missgeburt des allgemeinen Wahlrechts. Und das

Reich war immer ghibellinisch, immer über das, was s­ päter Territorialstaat hieß, kraftvoll und schöpferisch hinausgreifend.21

Mit diesen Verweisen markiert Sander zunächst einen Diskursraum, in dem Namen wie Ghibellinen, Guelfen, an anderen Stellen Heinrich Raspe und natürlich Konradin, dessen frühen Tod Sander sehr betrauert, so leicht von den Lippen gehen, als wäre man im Proseminar Mittelalter.22 Neben dieser diskurspolitischen Geste ist Sanders Differenzbeobachtung ein Kondensat Spengler’scher Geschichtsbetrachtung: Hiernach gibt es feste historische Gesetze, die den Weltenlauf von Kontingenz befreien. Zu diesen Gesetzen gehört, dass die treuen deutschen Anführer, die Ghibellinen, stets das Gute für ihr Volk wollen und dabei stets von Verrätern hintergangen werden – diese Verräter sind Welfen, Liberale, Universalisten, Marxisten, Kommunisten, Republikaner und Juden. Die Funktion dieser auf historische Gesetzesmäßigkeit abzielende Unterscheidung liegt darin, dass sie den historischen Sinn stabilisiert: Es gibt einen festen Beobachtungsstand, von dem aus Geschichte beobachtet werden kann. Resümierend hat darauf Armin Nassehi in seiner Auseinandersetzung mit Kubitschek hingewiesen: Die „rechte Idee der Überwindung moderner Polykontexturalität“ 23 baue auf der „Simulation einer kulturellen/ethischen/nationalen Einheit“ auf, „die durch Einschluss- und Ausschlussroutinen die Komplexität der Situation zu überwinden trachtet“.24 Zu diesen Einheitsfiktionen gehört auch die Fiktion der historischen Einheit, kulminierend im Reich, was Sander eine einheitliche Perspektive ermöglicht: 21 Hans-Dietrich Sander 1990: Die Ghibellinische Idee. In: Staatsbriefe 1, 24 – 31, 26. 22 Dass diese Namen im entsprechenden Resonanzraum verstanden werden, zeigt der Nekrolog auf ­Sander: Arne Schimmer 2017: Der Flug eines Falken. Hans-Dietrich Sander, Herausgeber der Staatsbriefe und Verfechter der Reichsidee, ist verstorben. In: Deutsche Stimme. Online: https://deutsche-stimme. de/2017/01/27/der-flug-eines-falken/ [15. 10. 2019]. 23 Hierunter versteht Nassehi das seines Erachtens für die Moderne typische Fehlen einer einzig legitimen und verlässlichen Zentralperspektive auf die Welt, Nassehi 2015, 115. 24 Nassehi 2015, 116.

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Jedes große geschichtsmächtige Volk hat seine eigene politische Einheit. Es hat sie für sich allein. Sie ist nicht übertragbar. Das Volk, das mit ihr die Bühne der Weltpolitik betritt, verschwindet in der Versenkung, wenn es sie verliert, ohne sie wiederbegründen zu können.

Wie wichtig die Staufer und ihr Reich für Sander waren, zeigte sich schließlich in seinem publizistisch vielleicht wichtigsten Beitrag für den neu- wie altrechten Diskurs der Bundesrepublik. 1990 gründete er die Monatszeitschrift Staatsbriefe, womit er wieder einen historischen Verweis anführte: Wichtige Erlasse Friedrichs II. wurden in der Mediävistik lange Zeit als Staatsbriefe bezeichnet. Mit diesen Staatsbriefen, in denen alte Rechte wie Michael Kühnen oder Horst Mahler publizierten, wollte Sander die Deutschen aufwecken, die so fest schliefen, dass sie nicht merkten, dass allein das Reich ihr genuines Ordnungsmodell sei. Die Schlafsemantik hat in der politischen Topik im Übrigen eine Beständigkeit, die vom zu weckenden Friedrich des Spätmittelalters bis hin zum gegenwärtigen red pilling führt.25 Sander formuliert die Notwendigkeit des Aufweckens sehr deutlich: Das Erste Reich währte über 800 Jahre. Das Zweite Reich dauerte 48 Jahre. Das Dritte Reich brach nach 12 Jahren zusammen. Diese rasant schrumpfende Dauer hat die meisten Deutschen

veranlaßt, das Reich als politische Einheit der Deutschen für widerlegt zu halten. Sie fanden

sich deswegen mit der Teilung ab oder hofften auf die sogenannte Wiedervereinigung, die ein

Deutschland von minimaler Größe verhieß. Was jedoch wirklich geschichtlich widerlegt ist, ist

das Reich als deutscher Territorialstaat: die Reichsidee in ihrer guelfischen Form. Der Reichs-

gedanke in seiner ghibellinischen Form wäre nur widerlegt, wenn er überflüssig geworden wäre.

Das ist entgegen aller herrschenden Prognosen nicht der Fall.26

Die Deutschen der Jahre 1945 ff. befänden sich in einer Ordnung, die ihrem historischen Volksschicksal entgegenlaufe. Es bestehe seitdem ein Interregnum – so wie man historiografisch die Zeit z­ wischen dem Ende der Stauferherrschaft 1250 und der Krönung Rudolfs von Habsburg 1273 nennt, eine Zeit, die Generationen von Mediävisten als die dunkelste Phase deutscher Geschichte verstanden, weil hier nur kleine Könige, aber keine mächtigen K ­ aiser herrschten.27 Interregnum: Das ist nicht nur für Sander eine tragfähige Epochensignatur für die Zeit nach 1945, sondern auch für bekanntere neurechte 25 Philippe-Joseph Salazar 2018: The Alt-Right as a Community of Discourse. In: Javnost – The Public 25, 135 – 143. 26 Sander 1990, 27. 27 Vgl. Marianne Kirk 2002: „Die kaiserlose, die schreckliche Zeit“. Das Interregnum im Wandel der Geschichtsschreibung vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Lang: Frankfurt am Main, Berlin.

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Autoren wie Armin Mohler oder Karlheinz Weißmann. Mohler betitelte seine Kolumne in der Jungen Freiheit als Notizen aus dem Interregnum, Weißmann beschrieb damit ebenfalls die Nachkriegsordnung.28 Allerdings dient das Reich hier wie da eher als anti(bundes)republikanischer Slogan, hinter dem kein ausgearbeitetes Reichsprogramm wie bei Sander steht. Dass das gegenwärtige Deutschland jenseits seiner volksgemäßen Ordnung existiere, zeigt sich besonders in Sanders Blick auf die Europäische Integration, seinem Hauptangriffspunkt in der Zeit nach 1990 – worauf Kubitschek wohl mit seiner Formulierung Bezug nimmt, dass bei einer reaktualisierten Reichsidee „inspirierte Köpfe an Entwürfe“ dächten, „die der EU nicht gleichen“: Kohls Gang nach Maastricht war schlimmer als ein Gang nach Canossa. Er lieferte, ohne

Not und Zwang, der militärischen Kapitulation von 1945 die politische Kapitulation nach, und zwar nutzlos: denn nach Maastricht verwandelt sich die EG in das Terrain, auf dem

mit wirtschaftspolitischen Mitteln der dritte Weltkrieg gegen Deutschland geführt wird.

Die Bundesrepublik Deutschland ist ohnehin nicht zu halten. Finden sich jene Kräfte, kann

sie relativ unbeschädigt in eine neue politische Ordnung überführt werden. Finden sie sich

nicht, geht sie gemeinsam mit den anderen europäischen Ländern, einschließlich der alten deutschen Feinde, unter.29

Neben dem zu Genüge diskutierten rechten Antirepublikanismus bedeuten diese Reichsfantasien vor allem eine Arbeit an der Zeit als kultureller Ressource: Es ist weniger das Prinzip historia magistra vitae, das hier wirkt, als vielmehr historia est vita. Die Geschichte des Reichs bietet für Sander die ungebrochene Simulierbarkeit gegenwärtiger und zukünftiger Politik, die alles, was ist und was kommt, als Verdopplung des bereits Gewesenen darstellt. Es handelt sich also um epochale Mimesis und nicht um epochale Exemplarität.30 Wenn man Nassehis Anmerkung zum rechten Einheitsdenken wiederaufnimmt, lässt sich folglich resümieren, dass die Leistung der Reichsidee darin besteht, Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit holistisch zu integrieren. Damit geht Sanders Stauferbezug sehr viel weiter als der Björn Höckes, der Rotbarts Enkel lediglich für eine Politikerschelte anführt, die allerdings auch in die Zukunft reicht: 28 Volker Weiß 2017: Die Autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, KlettCotta: Stuttgart, 166. 29 Hans-Dietrich Sander 1991: Die Europäische Union. Eine Spottgeburt aus Dreck und Hohn. In: Staatsbriefe, 1 – 2, 2. Auch hier setzt Sander einen Verweis: „Spottgeburt aus …“ ist bekanntlich ein Zitat aus Faust I. 30 Vgl. grundsätzlich Johannes Fabian 1983: Time and the Other. How Anthropology Makes Its Object. Columbia University Press: New York.

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Wenn man sich die Herrschergestalten wie den Stauferkaiser Friedrich II. […] anschaut und mit den mediokren Schweinchen-Schlau-Figuren der heutigen Parteiendemokratie vergleicht, kann

unsere Forderung für die Zukunft nur lauten: Macht und Geist müssen einst wieder konvergieren.31

Dass Kubitschek ausgerechnet Sander aus der Kiste der Vergessenen herausholt, ist einerseits stimmig, weil Sanders Ideen in dem Sinne Metapolitik sind, als dass sie jenseits einer empirisch nachvollziehbaren Politik liegen. Andererseits ist der Rückgriff unerwartet, steht Sanders Reichsgedanke doch in vielem diametral zur Reichsidee einer der wichtigsten neurechten Verweisfiguren, Carl Schmitt.32

4. Das Reich und sein Großraum – Schmitts Reich Während Sander ein nostalgisch-utopisches Reichsprojekt entwirft, das wohl gerade aufgrund seiner metapolitischen Jenseitigkeit immer noch irgendwie anknüpfungsfähig ist, ist Schmitts Reichsidee unmittelbar mit dem „Dritten Reich“ verbunden, mehr noch: Als juristische Figur wurde sie im Angriffskrieg um den Lebensraum im Osten konkret – ob von Schmitt gewollt oder nicht, darüber ist die Forschung uneinig.33 Ende März 1939 hielt Schmitt seinen im April desselben Jahres publizierten Vortrag mit dem Titel Völkerrechtliche Großraumordnung. Hierin nutzte er den Reichsbegriff nicht nur, wie s­ päter auch Sander, um die „konkrete Ordnung“ Deutschlands vom „Universalismus [des] liberal-demokratischen, völkerassimilierenden Westens und dem Universalismus des bolschewistisch-weltrevolutionären Ostens“ zu trennen, sondern auch, um mögliche deutsche Militärinterventionen zu rechtfertigen.34 Für Schmitt zeigt sich das genuin Eigene des Deutschen Reichs darin, dass es „wesentlich volkhaft“ und durch „eine wesentlich nichtuniversalistische, rechtliche Ordnung auf der Grundlage der Achtung jedes Volkstums“ bestimmt sei.35 Anders als das britische Empire oder das Römische Reich der Antike, das „völkisch“ universell (gewesen) sei, sei das Deutsche Reich völkisch homogen. Jedes Reich wiederum sei mit einem Großraum verbunden, „in den seine politische Idee ausstrahlt und 31 Björn Höcke, Sebastian Hennig 2018: Nie zweimal in denselben Fluss. Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig. Manuscriptum: Lüdinghausen, 81. 32 Da Schmitt nie vergessen war und auch jenseits neurechter Denkkollektive nur allzu gut bekannt ist, diskutiere ich ihn hier nicht so ausführlich wie Sander. 33 Zur Bewertung Schmitts vgl. Mika Luoma-Aho 2007: Geopolitics and Grosspolitics. From Carl Schmitt to E. H. Carr and James Burnham. In: Fabio Petito, Louiza Odysseos (Hg.), The International Political Thought of Carl Schmitt. Terror, Liberal War and the Crisis of Global Order. Routledge: London, 36 – 55. 34 Carl Schmitt 1939: Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht. Deutscher Rechtsverlag: Berlin, Wien, 37. 35 Ebd., 36 f.

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der fremden Interventionen nicht ausgesetzt sein darf“, aber sehr wohl Interventionen des hegemonialen Reichs.36 Dieser Großraum müsse, gemäß Schmitts Diktion, Freundraum bleiben, dürfe nicht in den Einflussbereich des Feindes geraten. Wenn ein halbes Jahr s­ päter das Deutsche Reich in Polen einmarschieren wird, noch einmal zwei Jahre ­später unter dem bezeichnenden Namen Barbarossa in die Sowjetunion, dann begründen das NS-Juristen wie Werner Best unter ausdrücklichem Rückgriff auf Schmitts Reichs- und Großraumkonzept.37 Das Großraumkonzept löst damit ein Problem, das Schmitts Reichsbegriff mit sich bringt: Wenn es heißt, ein deutsches Reich sei „völkisch“ homogen, dann ist der Zugriff auf ein Territorium ohne deutsche Bevölkerung nicht ohne weiteres zu begründen. Mit dem Großraumkonzept ist dies möglich, weil es auch das als völkisch heterogen beobachtete Territorium zum legitimen Einflussgebiet des Reiches erklärt.38 Auch wenn bzw. gerade weil Schmitts Reichstheorie in der gegenwärtigen Politikwissenschaft ausgiebig diskutiert wird, spielt sie für die Neue Rechte keine besonders große Rolle, jedenfalls wenn man die Leitmedien Sezession und Junge Freiheit betrachtet. Zudem fehlen, zumindest in der Großraum-Schrift, jegliche Verweise auf romantische Kaiserherrlichkeiten.

5. Die Wahrheit des Reichs als Lösung – Die Funktion des Reichs Schmitt bleibt in seiner juristischen Theoriediskussion einerseits zu abstrakt und andererseits mit dem Bezug auf Lebensraumpolitik zu konkret, um in den einschlägigen Medien ­solche Bekundungen auszulösen, wie es die Erinnerung an Hans-Dietrich Sander tut. An ihn erinnern sich nämlich im Zusammenhang mit Kubitscheks Preisausschreiben einige Forenkommentatoren so liebevoll, wie man es sich nur schwer in Bezug auf Carl Schmitt vorstellen kann. Ein Kommentator mit dem programmatischen Namen „Solution“ schreibt: HDS [Hans-Dietrich Sander] hat mir als Studenten 39 mühevoll, mit großem persönlichen

Einsatz, die Grundlagen des Schreibens beigebracht. Was ich am meisten geschätzt habe, war einerseits seine Geduld dabei, andererseits seine intensive, aber stets positive Kritik. HDS war

immer für die Nachwuchsförderung bereit. Man fragt sich, wo er die Zeit hergenommen hat, die

unzähligen, überwiegend handschriftlichen Briefe zu schreiben. Die „Staatsbriefe“ waren und sind das Beste, was je rechts veröffentlicht wurde. Ja, bis heute ist das so.40

36 37 38 39 40

Ebd., 35. Werner Best 1942: Großraumordnung und Großraumverwaltung. In: Zeitschrift für Politik. 32, 406 – 412. Luoma-Aho 2007. In den 1970er Jahren war Sander als Lehrbeauftragter an der TU Hannover und an der F U Berlin tätig. Kommentar von Solution am 26. 01. 2019 im Forum bei Kubitschek 25. 01. 2019.

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Ein anderer erinnert sich: Ich habe seinerzeit die Staatsbriefe förmlich verschlungen; schon nach der Lektüre der ersten

mir in die Hände geratenen Ausgabe begriff ich, dass Sander ein Mann von wahrhaft unge-

wöhnlicher Ehrlichkeit und Weitsicht war. Dass er einen so krassen Außenseiter wie Michael

Kühnen in seiner Zeitschrift zu Wort kommen ließ – freilich nicht ohne Gegenrede –, hat mich besonders beeindruckt.41

Erinnerungspolitik ist eben nicht nur eine politisch-historische, sondern zuallererst eine persönlich-biografische Arbeit am eigenen Selbst. Kubitschek und der Signifikant des Reichs integrieren diskursiv insofern auch lebensgeschichtlich alte Rechte. Ebenfalls im Forum findet sich die beste emische Zusammenfassung der deutschen rechten Reichsidee, die sich lohnt, hier vollständig zitiert zu werden. Ein Autor mit dem Namen „Wahrheitssucher“ präsentiert nach einer exordialtopischen Verbeugung vor dem gestrengen Verleger Kubitschek – sein Beitrag sei „[k]ein Essay, kein strategischer Text […,] gut genug, um in der Sezession abgedruckt zu werden“ – eine „gesammelte Zusammenschau von Vorstellungen zur Reichsidee“, die wiederum, bezeichnenderweise am Schluss und inhaltlich etwas schief, auch Carl Schmitt beinhaltet. Das Reich, so der Kommentator, •  sei die Fülle der Selbstfindung und Selbstentfaltung des deutschen Volkes; •  die auf Erden höchstmögliche Verwirklichung einer gerechten, alle Bereiche des menschlichen Lebens umfassenden, dauerhaften Ordnung; •  Gegensatz zu imperium/imperare (= befehlen); •  Ausdruck der gemeinsamen Freiheit der Entfaltung in Wesensart, in Kultur, Wirtschaft, in allen Bereichen des Lebens; •  ein ideeller, kultureller Begriff, nicht ein staatlich organisatorischer; Staat und Organisation s­ eien erst zweckgebundene Folgen der Reichsidee, um die gemeinsame Freiheit in der allumfassenden Lebensgestaltung zu sichern; •  sein Prinzip sei die Aufhebung des Gegensatzes ­zwischen dem Einzelnen und dem Gemeinwesen; •  die Verkörperung des Katechon (letzten Grundes) sei immer im Reich zu sehen (­ gesehen worden); •  der über Volksboden und Staatsgebiet hinausgreifende Großraum kultureller und wirtschaftlich-industriell-organischer Ausstrahlung (Carl Schmitt); •  das Reich sei und bleibe die eigentliche politische Form und Heimat der Deutschen, das werde auch über alle Republiken der Zukunft Gültigkeit haben.42 41 Kommentar von Der_Juergen am 26. 01. 2019 ebd. 42 Kommentar von Wahrheitssucher am 30. 01. 2019 ebd.

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Damit ist das Feld an sinnhaften Beobachtungen, die der Reichsbegriff in der Neuen ­Rechten ermöglicht, in gleichsam kondensierter Form greifbar. Dieses Feld lässt sich resümierend auf folgende Formel bringen: Das Reich ist eine Identitäts- und Eigentlichkeitsutopie, die – und das macht sie gefährlich – so viel Wirklichkeitssinn auffährt, dass sie weiß, in einem deutschen Großraum empirisch konkret werden zu können. Deswegen sind die Namen der zwei Kommentatoren, „Solution“ und „Wahrheitssucher“, auch paradigmatisch. In d ­ iesem Aussageraum wird nach Lösungen gesucht, die in einer ungebrochenen Wahrheit vermutet werden: Das Reich ist die Lösung aller Probleme, weil es wahr ist bzw. Wahrhaftigkeiten sichert, etwa die wahrhaftige Beziehung ­zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft oder die harmonische Entdifferenzierung sozialer Systeme (Kultur, Wirtschaft, alle Bereiche des Lebens).43 Um es mit der ­diesem Diskurs angemessenen Gravität zu formulieren: Wenn seit dem 18. Jahrhundert, spätestens seit Rousseaus Discours sur l’origine, die Moderne als eine an Wahrhaftigkeit verlierende Entfremdungsbewegung erzählt wird, dann liegt die Antimodernität der Reichsidee auch darin, holistische Wahrheitskommunikationen zu ermöglichen.44 Dass sich der Flügel am doppelt semantisierten Reichsdenkmal trifft, verweist folglich auf die Neue Rechte als eine utopische Gemeinschaft, deren Denkmalbesuch die Selbstversicherung darstellt, dass das Reich wahrhaftiger Einheit sehr bald real werde.45 Bevor ich zum Schluss komme, muss noch ein anderer sehr deutscher Begriff angesprochen werden, der bei der Themenstellung erwartet werden könnte: der Begriff des Abendlands. Wie Volker Weiß dargestellt hat, hat der Abendlandbezug in der neuen wie alten Rechten seit langem einen wichtigen Platz und es hat immer wieder Versuche von rechts gegeben, im Reich die Institutionalisierung einer eher diffusen europäisch-abendländischen Kulturfiguration zu deuten.46 Doch welches Reich ist damit genau gemeint? An was für ein Reich kann das Europa der sogenannten Vaterländer, das als Ideal in der Identitären Bewegung auftritt, anschließen? Ein Europa, das wieder eine Reconquista benötigt, ein Europa, in dem die Nachfolger Karl Martells oder Prinz Eugens die Morgenländer zurückschlagen? Es wäre, jedenfalls für die mediävistisch informierten Neuen Rechten, zu viel der Europaliebe und Geschichtsvergessenheit, würde man dies unter einem 43 Zur politischen Semantik der Wahrhaftigkeit vgl. Ronald Jay Magill 2012: Sincerity. How a Moral Ideal Born Five Hundred Years ago Inspired Religious Wars, Modern Art, Hipster Chic, and the Curious Notion that We All Have Something to Say (No Matter how Dull). Norton & Company: New York. 44 Grundsätzlich Shmuel N. Eisenstadt 1998: Die Antinomien der Moderne. Die jakobinischen Grundzüge der Moderne und des Fundamentalismus. Heterodoxien, Utopismus und Jakobinismus in der Konstitution fundamentalistischer Bewegungen. Suhrkamp: Frankfurt am Main; mit Bezug auf gegenwärtigen Rechtspopulismus Mark Lilla 2016: The shipwrecked mind. On political reaction. New York Review Books: New York. 45 Dümling 2018. 46 Weiß 2017, 155 – 186.

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paneuropäischen Reich mit einem französisch-deutschen Karl-der-Große-Charlemagne  47 als Ahnherr zusammenfassen wollen. Insofern ist es bezeichnend, dass ein Text in der Sezession über die Entstehung des Abendlandes „sich auf die ausgehende Antike und das frühe Mittelalter“ konzentriert und das Abendland eher unbestimmt als „eine[n] jahrhundertelangen Amalgamierungsprozes“ versteht, „dessen Grundelemente Antike, Christentum und germanische Welt bilden“ und der ausgerechnet „um 800 zu einem gewissen Abschluss“ kommt.48 Mit dem Jahr 800, als Karl zum ­Kaiser gekrönt wurde, setzt schließlich für die an einer mittelalterlichen Nationalgeschichte interessierten Mittelalterforschung des 19. und 20. Jahrhunderts die deutsche und französische Nationalgeschichte ein – die sich dann über die Zwischenetappe der Straßburger Eide spätestens ab Ottos Kaiserkrönung 962 vollständig entfaltet habe. Wer auch immer auf Kubitscheks Ausschreibung hin einen Beitrag bei der Sezession einreicht, müsste diesen Konflikt lösen: Würde man das nach seinem Selbstverständnis universalistische Römische Reich des Mittelalters als Vorbild für einen EU -alternativen, abendländisch-ethnopluralistischen Staatenverbund nehmen, könnte es nicht mehr das Deutsche Reich sein, als das es von der Neuen Rechten erinnert wird. Würde man das Reich so nostalgisch-utopisch konzipieren, wie Sander es tut, wäre es unmöglich, Kubitscheks Forderung nach einer Aktualisierung (Reichsidee im 21. Jahrhundert) gerecht zu werden, denn diese nostalgisch-utopische Fassung ist letztlich: zeitlos.

6. Schluss Man kann die rechte Reichsidee unter einer Vielzahl von Perspektiven untersuchen. Die wohl nächstliegende, nämlich die ideengeschichtliche, würde von einem eindeutig bestimmbaren Vorstellungsset ausgehen, das dann diachron an wichtigen Texten und Autoren nachverfolgt wird. Hierfür müsste man sicherlich im politischen Sprachhaushalt von Kosellecks Sattelzeit einsetzen, in der das Reich zu einem Leitmodell politischer Beobachtungen wurde, mehr noch: zu einem Modell, das kritische, polemische und utopische Politikbeobachtungen leitet.49 Als geschichtlicher Grundbegriff, der auf diese Weise in eine im engeren politische 47 Dies spielt auf den bekannten Band Karl Hampe (Hg.) 1935: Karl der Große oder Charlemagne? Acht Antworten deutscher Geschichtsforscher. Mittler: Berlin, an, der – mit Blick auf die nationalsozialistische Geschichtsagenda – diskutiert, ob Karl/Charlemagne als ein Deutscher oder ein Franzose erinnert werden dürfe – die Mehrheit sprach sich für Charlemagne aus. 48 Ulrich March 2007: Das Christentum und die Entstehung des Abendlandes. In: Sezession. Online: https:// sezession.de/3696/das-christentum-und-die-entstehung-des-abendlandes [08. 06. 2020]. 49 Reinhart Koselleck 1979: Einleitung. In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Klett-Cotta: Stuttgart, XIII–XXVII.

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Beobachtungssprache diffundierte, ließe er sich über wichtige Wegmarken – zum Beispiel Jahn, Sombart, Moeller van den Bruck – bis in die Gegenwart betrachten. Dabei dürfte freilich nicht vergessen werden, dass spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht nur Deutsche an dieser Begriffsarbeit beteiligt sind, sondern es sich um eine europäische Ideenkollaboration handelt. Insbesondere die französischen Stifter der Nouvelle Droite, Guillaume Faye und Alain de Benoist, beteiligten sich an dieser Arbeit intensiv. Allerdings ließen sie die national-deutsche Semantik des Reichsbegriffs außen vor und betonten stattdessen seine religiöse Implikation. Auch darauf müsste eine Ideengeschichte des Reichs in der Neuen Rechten eingehen. Außerdem müsste sie auf einen Aspekt abheben, der hier nur am Rande besprochen wurde: Nämlich wie die auf das Mittelalter beziehenden Reichsverortungen mit dem Nationalsozialismus umgehen. Dass dieser Blick notwendig wäre, zeigt ein letzter Rückblick auf Sander: Das nationalsozialistische Reich spielt für ihn primär eine Rolle, weil es ein weiteres Beispiel für die verratenen Ghibellinen-Deutschen ist. Hier ­seien die treuen Deutschen nämlich von Hitler und seiner Guelfen-Machtclique verraten worden, was erst allmählich durch diejenigen „Historiker, die das Dritte Reich differenzierter zu betrachten beginnen“, aufgedeckt werde – von Historikern wie David Irving.50 Mehr noch: Korrumpierte Historiker, also erinnerungspolitische Guelfen, würden „verschleier[n], dass die Alliierten im Zweiten Weltkrieg nicht nur das Deutschland des Dritten Reiches, sondern zusammen mit dem Hitler-Regime Deutschland überhaupt bekämpft haben“.51 Denn: „Der Zweite Weltkrieg war, ­welche Ursachen immer ihn auslösten, wie der Erste Weltkrieg Teil eines hundertjährigen Krieges der westlichen Welt gegen Deutschland“.52 Sander schreibt zwar permanent über den Nationalsozialismus, bezieht sich auf ihn allerdings nicht positiv, wenn er seine Reichsidee formuliert. Die ist für ihn eindeutig mittelalterlich; Ähnliches gilt für die Reichsbezüge vor allem bei Weißmann. Wie allerdings der Literaturtheoretiker Wolfgang Iser gezeigt hat, wissen Texte meistens, wie sie durch das Wissen ihrer Leser rezipiert werden, wie sie durch das Wissen ihrer Leser zu neuen Texten erweitert werden.53 Die reichsherrlichen Texte der Neuen Rechten können zumindest darauf spekulieren, dass ihre Leser die tausend Jahre zurückliegenden Reiche des Mittelalters vor allem im tausendjährigen Reich des 20. Jahrhunderts erkennen.

50 Sander 1980, 99. Zu dieser auf Hitler fokussierenden, exkulpatorischen Erinnerungsfigur grundsätzlich Hannes Heer 2005: Hitler war’s! Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit. Aufbau Verlag: Berlin. 51 Sander 1980, 104. 52 Ebd., 105. 53 Wolfgang Iser 1970: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Universitätsverlag Konstanz: Konstanz.

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Auf all diese Bedeutungen ist der vorliegende Beitrag allerdings nicht eingegangen, stattdessen standen exemplarisch die Funktionen neurechter Reichsbetrachtungen im Zentrum. Am Beispiel Hans-Dietrich Sanders wurden diese Funktionen darin bestimmt, dass der rechte Reichsgedanke vor allem zeitpolitischen Nutzen bringt: Er ermöglicht, Beobachtungen über das Gewordensein und das weitere Werden der Gegenwart anzustellen, die sich durch absolute Sicherheit auszeichnen. Wer in ­diesem Diskurs über das Reich, seine Geschichte, Gegenwart und Zukunft redet, hat keinen Zweifel, Geschichte, Gegenwart und Zukunft genau bestimmen zu können. Insofern habe ich, ohne dies explizit zu machen, die Reichsfantasien dialektisch der offenen Zukunftsform der Moderne zugeschrieben. Das bedeutet, dass die antimoderne Reichsidee in dem Moment virulent wird, in dem die Moderne nicht mehr adäquat über die – jetzt vormoderne – Reichsidee beobachtet werden kann. Gerade diese Inkompatibilität macht die Reichsidee auch heute noch für dissonante Gegenwartsdiagnosen kompatibel. Dass der Flügel von sehr vielen möglichen Gesten der Gegenwartsdissonanz ausgerechnet den Verweis auf das Reich wählt, zeigt, dass die Reichsidee auch im 21. Jahrhundert noch leistungsstark genug ist, um die Moderne antimodern zu beobachten.

Claire Moulin-Doos

Populismus Ein konzeptueller Klärungsversuch

1. Einführung Populismus wurde in den letzten Jahrzehnten in Europa erstmals als Beleidigung gegenüber politischen Gegnern benutzt und seit kurzem auch als Selbstbeschreibung.1 Daher wurde es zunächst als ein völlig negatives Phänomen verstanden, das es zu bekämpfen gelte, bis es (auch) eine positive Bedeutung und dementsprechend Legitimität erreiche, zumindest bei denen, die es jetzt als Selbstbeschreibung benutzen. Wer die Kontrolle über Definitionen besitzt, verfügt über wertvolle politische Macht. Die Politologie, die politische Diskurse analysiert, kann mit dem Wort Populismus nur schwer umgehen und benötigt daher eine Arbeitsdefinition, um ein Konzept des Populismus zu entwickeln. Angesichts des beobachtbaren politischen Machtkampfes um die Deutungshoheit des Begriffs besteht daher einerseits für den Wissenschaftler 2 die Notwendigkeit, sich gewissermaßen von seinem Forschungsfeld zu distanzieren, um sich zum Teil von den politischen Leidenschaften zu lösen. Andererseits befindet er sich immer schon nie ganz außerhalb (horizontales Denken in einem Pluralismus von Deutungen) oder über (vertikales idealistisches Denken mit einer übergeordneten Objektivität bzw. Neutralität) ­diesem Forschungsfeld. Darüber hinaus soll eine Reduktion der Komplexität, ein gewisser Grad an Verallgemeinerung erreicht werden, um die Welt überhaupt mit wissenschaftlichen Kategorien verständlich zu machen: Dadurch findet laut konstruktivistischer Epistemologie sogar eine Konstruktion und keine reine Reduktion statt. Und schließlich soll diese Verallgemeinerung dennoch nicht zu viel an Komplexität verlieren, sonst verliert die Wissenschaft an ihrem analytischen Mehrwert. Vor dem Hintergrund der gerade erwähnten Machtfalle und Komplexitätsfalle versucht der vorliegende Beitrag dennoch eine Arbeitsdefinition anzubieten, die sowohl der Wissenschaft als 1 Etwa Inigo Errejon, Chantal Mouffe 2017: Construire un peuple. Pour une radicalisation de la démocratie. Les Éditions du Cerf: Paris, 11. 2 Im Folgenden wird zur besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet.

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auch gesellschaftlichen Akteuren helfen soll, politische Diskurse besser zu verstehen. Es geht aber nicht um eine wahre Definition, sondern um eine Definition mit wissenschaftlicher Viabilität. In dem vorliegenden Beitrag wird zuerst verdeutlicht, worum es sich beim Konzept des Populismus handelt: um eine politische Rhetorik, die eine positive Vorstellung des Volkes einer negativen Vorstellung der Elite vorzieht (2.). Da sich die Identität eines Konzepts, einer Person oder einer Gruppe durch den Gegensatz definieren lässt, wird sodann betrachtet, was Populismus nicht ist: Er bezieht keinen klaren ideologischen Standpunkt. Deswegen handelt es sich nicht um Radikalismus (bzw. „Extremismus“) (3.). Weiter sind Merkmale, die oft im Zusammenhang mit Populismus erwähnt werden, für die Definition des Phänomens abzulehnen, da diese sich auch bei anderen politischen Akteuren, Aktionen und Diskursen wieder­finden lassen und daher nicht als Kriterien der Unterscheidung dienen (4.). Schließlich wird vermerkt, dass die Demokratie selbst, ob u. a. liberal, republikanisch oder populistisch verstanden, zum Politikum geworden ist (5.).

2. Was ist Populismus? 2.1 Rhetoriken der Spaltung Nach Auffassung des argentinischen Philosophen Ernesto Laclau ist Populismus durch drei Merkmale bestimmt: Erstens setze Populismus ein „Äquivalenzverhältnis z­ wischen einer Pluralität von sozialen Ansprüchen voraus“.3 Populäre Klassen bildeten sich dadurch als kollektive Akteure. „Das ‚Volk‘ ist also keine homogene, amorphe Masse, es hat ein eindeutiges Strukturierungsprinzip“.4 Zweitens äußerten sich diese vielfältigen Ansprüche in einem „Diskurs, der die Gesellschaft in zwei Lager spaltet ‒ in die populären Klassen und die Machthaber“.5 Diese Spaltung der Gesellschaft könne auf ganz unterschiedlichen Ideologien basieren. „Populismus ist selbst keine Ideologie, sondern eine Form der Konstruktion des Politischen, die auf der Anrufung der Subalternen gegen die Machthaber beruht. Es gibt rechte und linke Populismen“.6 Drittens solle sich diese „Äquivalenzkette“ ­zwischen unterschiedlichen sozialen Ansprüchen als Totalität darstellen. Ein bestimmter Anspruch oder eine Gruppe von Ansprüchen werde, ohne ihre Partikularität aufzugeben, zum (leeren) Signifikanten. Diese Partikularität bzw. dieser leere Signifikant übernehme die Repräsentation der Pluralität an Ansprüchen.7

3 4 5 6 7

Vgl. Ernesto Laclau 2014: Warum Populismus? LuXemburg 1, 6 – 13, hier 7. Ebd., 7. Vgl. ebd. Ebd., 8. Vgl. ebd.

Populismus

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Zusammenfassend ist Populismus laut Laclau eine antielitäre Rhetorik, die ein Volk konstruiert und die mit allen Arten von sozialen Grundlagen und ökonomischen Interessen kompatibel sowie mit verschiedenen Ideologien vereinbar ist. Populismus sei eine Form des Diskurses, eine Rhetorik, die keine vorgegebenen Inhalte besitze. Dieser Diskurs kristallisiere sich um einen leeren Signifikanten herum, der die Bewegung politisch repräsentiere. Laclau versucht jedoch nicht nur Populismus zu definieren, sondern auch die Gründe für seine Erscheinung festzustellen. Er argumentiert, dass Populismus in einer Krise „of the dominant ideological discourse, which is in turn part of a more general social crisis“ zum Vorschein komme.8 Populismus biete im politischen Kampf einen gegenhegemonialen Diskurs zum herrschenden oder hegemonialen Diskurs an, welcher sich wiederum in einer Krise befinde.

2.2 Gegenhegemoniale Diskurse Die belgische Philosophin Chantal Mouffe kritisiert den „Konsens der Mitte“ der MitteRechts- und der Mitte-Links-Parteien in postpolitischen und postdemokratischen Gesellschaften.9 Sie stellt dar, wie der hegemoniale Diskurs der politischen Mitte alle Diskurse außerhalb seiner selbst delegitimiere. Dadurch verschwänden Überlegungen unter anderem über ökonomische und normative Alternativen aus dem politischen Diskurs. Es mag Gründe dafür geben, die daraus folgende Konsensdemokratie für wünschenswert zu halten. Mouffe geht dagegen davon aus, dass diese postpolitische Situation ein günstiges Klima für jene Parteien schaffe, die für sich in Anspruch nähmen, die Interessen all jener zu vertreten, die im bestehenden repräsentativen System keine Mitsprachemöglichkeiten hätten. Für Mouffe ist die populistische Dimension der Demokratie und der Anspruch, ein Volk zu verkörpern, nichts Schlechtes, sondern im Gegenteil sogar selbstverständlich.10 1982 bezeichnete schon Margret Canovan unter anderem zwei Bewegungen als populistisch, die heute im europäischen Kontext erhellend sind: populist democracy und reactionary populism.11 „Populistische Demokratie“ definiert sie als „Pläne und Bewegungen, um Regierungen der direkten Verantwortung des Volkes zu unterstellen, erkennbar an Mitteln wie Volksinitiativen, Referenda und Abwahlen: z. B. […] das Schweizer System direkter Demokratie“.12 8 Vgl. Ernesto Laclau 1977: Towards a Theory of Populism. In: Ernesto Laclau (Hg.): Politics and Ideology in Marxist Theory. New Left Books: London, 143– 98, hier 175. 9 Vgl. Chantal Mouffe 2010: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Bundeszentrale für politische Bildung: Bonn, 75 f. 10 Vgl. ebd., 87 – 100. 11 Vgl. Margaret Canovan 1982: Two Strategies for the Study of Populism. In: Political Studies. 30 (4), 544 – 552, hier 550. 12 Ebd., 550 (eigene Übersetzung).

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„Reaktionärer Populismus“ wird beschrieben als „das Ausnutzen der Kluft z­ wischen gebildeten und progressiven Meinungen und Perspektiven des reaktionären, gemeinen Volks, erkennbar an Angelegenheiten ethnischer Anfeindungen“.13 Diese beiden Definitionen scheinen – in normativ stark konnotierter Weise – Formen des Populismus zu erfassen, die Europa gegenwärtig erlebt: populistische Bewegungen von links oder von rechts, die verlangen, dass die Regierenden nach dem politischen Willen des Volkes agieren. Mit Blick auf europaweite Wahlergebnisse ist davon auszugehen, dass immer mehr Bürger in Europa unzufrieden sind mit einem hegemonialen Diskurs, dem TINA -(There-Is-No-Alternative-/Es-gibt-keine-Alternative-)Diskurs, entweder in ökonomischer Hinsicht oder in Bezug auf Werte.14 Diese Bürger inszenieren sich als ein Volk, das politisch gegen Diskurse der Alternativlosigkeit kämpft und gegenhegemoniale Diskurse anbietet. 2.2.1 Gegenhegemonialer Diskurs des progressiven linken Populismus Gegen den hegemonialen Diskurs der politischen Mitte (sogenannter Konsens der Mitte) hat Mouffe erstmals die Revitalisierung der traditionellen linken und rechten Opposition als Lösung gegen postpolitische Politiken der Alternativlosigkeit und die daraus folgende Zunahme rechtspopulistischer Parteien vorgeschlagen.15 Aufgrund der Austeritätskompromisse der klassischen Parteien in den Nachkrisenjahren befürwortet sie seit 2015 jedoch einen linken Populismus.16 Mouffe schreibt: Das Problem ist, dass der Populismus […] meist politisch rechts angesiedelt ist […]. Heute geht

es darum, durch die Artikulation all dieser demokratischen Forderungen in einer „Kette der Äqui-

valenz“ einen progressiven Gemeinwillen herzustellen mit dem Ziel, „ein Volk“ zu schaffen. Die

Einheit ­dieses progressiven Volkes entsteht nicht, wie im Falle des rechten Populismus, durch

den Ausschluss von Migranten, sondern durch die Festlegung eines Gegners: die politischen

und ökonomischen Kräfte des Neoliberalismus. Das verstehe ich unter „Linkspopulismus“. Ich bin überzeugt, dass […] die entscheidende Konfrontation z­ wischen dem linken Populismus und dem rechten Populismus stattfinden wird.17

13 Ebd. 14 Vgl. Claire Moulin-Doos 2017: Populismen in Europa. Nicht per-se anti-demokratisch, sondern antiliberal. In: Leviathan 45 (32), 203 – 321, hier 316 – 319. 15 Vgl. Mouffe 2010: 75 – 84. 16 Vgl. dies. 2015: Für einen linken Populismus. Internationale Politik und Gesellschaft. Online: http://www. ipg-journal.de/rubriken/soziale-demokratie/artikel/fuer-einen-linken-populismus-857/ [11. 06. 2020]. 17 Ebd.

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Linkspopulismus war unter anderem in Südamerika sehr verbreitet, wohingegen sich in Europa zuerst der Rechtspopulismus entwickelte. 2.2.2 Gegenhegemonialer Diskurs des konservativen rechten Populismus Jan-Werner Müller lokalisiert Populismus rechts 18 und kritisiert die Idee von Mouffe, dass es einen linken Populismus geben könne.19 Demzufolge gingen in „der Vorstellungswelt spezifisch von Rechtspopulisten […] die Eliten zudem eine unheilige Allianz mit parasitären Unterschichten ein, die ebenso nicht dem wahren Volk zuzurechnen sind“.20 Nicht nur „unmoralische, korrupte und parasitäre“ 21 Eliten, sondern auch Migranten gehörten laut dieser konservativen Sicht nicht zum Volk. Das Volk leide nicht nur unter der Herrschaft der Eliten, sondern auch unter dem Aufkommen von neuen Akteuren, die von den Vorteilen des Sozialstaates profitierten und kulturell-moralisch anders dächten und lebten. Die Eliten und die aus armen Migranten bestehenden unteren Klassen werden zusammen in der gleichen Logik wahrgenommen: Beide sind an die Globalisierung und die Abschaffung von Grenzen gebunden und stellen eine ökonomische und kulturelle Gefahr dar. Rechte Populismen nähren sich von Identitätsfragen und der Thematisierung von Werten für die eigene Gesellschaft. Sie wollen ihre lokalen Identitäten sowie ihren kollektiven Partikularismus bewahren. Anhänger rechter populistischer Bewegungen sind in der Regel diejenigen, die unmittelbar mit den negativen ökonomischen Konsequenzen des neoliberalen Systems konfrontiert sind, da sie öfter auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt mit Immigranten im Wettbewerb stehen, mit hoher Wahrscheinlichkeit in multikulturellen Umgebungen leben und dort auch mit den ungelösten Problemen d ­ ieses Zusammenlebens konfrontiert sind.22 Die unteren Schichten, die rechtspopulistische Parteien wählen, betrachten das Thema Migration einerseits wertebasiert, andererseits aus ökonomischen Perspektiven, weil steigende Migration als eine Erhöhung der Konkurrenz gerade im Segment der unqualifizierten Arbeiter wahrgenommen wird.23 Rechte Populisten stehen daher für geschlossene Grenzen ein und beschränken Solidarität auf ihre eigene politische Gruppe. Seit dem Nationalsozialismus ist, besonders in Deutschland, jeder Gedanke der Verwurzelung verdächtig. Da sich die nationalsozialistische Ideologie auf eine Überhöhung von Traditionen und Gemeinschaft stützte, leidet seitdem jede 18 19 20 21 22 23

Vgl. Jan-Werner Müller 2016: Was ist Populismus? Suhrkamp: Berlin, 117 f. Vgl. ebd., 30 f. Jan-Werner Müller 2015: Populismus: ­Theorie und Praxis. In: Merkur. 69 (795), 28 – 37, hier 30 f. Ebd., 30 f. Vgl. Frank Decker 2006: Der neue Rechtspopulismus. Leske + Budrich: Opladen, 225. Vgl. Dirk Jörke, Oliver Nachtwey 2017: Die rechtspopulistische Hydraulik der Sozialdemokratie. Zur politischen Soziologie alter und neuer Arbeitsparteien. In: Leviathan. 45 (32), 163 – 185, hier 170.

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Kritik der liberalen Emanzipation an einer Reduktion ad Hitlerum.24 Der Wille, nicht nur als Individuum zu existieren, sondern auch als Mitglied einer politischen Gruppe mit definierten Konturen, wird vor ­diesem Hintergrund oft als gefährlich diskreditiert.

3. Was Populismus nicht ist In der Alltagssprache werden Rechtextremismus und Rechtspopulismus oft synonym benutzt, wodurch Populismus politisch diskreditiert wird. Der Antisemitismus- und Antiextremismusforscher Samuel Salzborn agiert entsprechend und delegitimiert dadurch Populismus.25 Karin Priester und Frank Decker dagegen grenzen Populismus von Extremismus analytisch ab.26 So beschreibt etwa Priester die Differenz z­ wischen beiden Begriffen nicht als „graduelle“ (einer sei mehr oder weniger als der andere), sondern als eine „substanzielle“.27 Priester identifiziert Merkmale des Populismus, mit deren Hilfe die beide Phänomene substanziell voneinander unterschieden werden könnten: unter anderem die Absenz der Gewalt als Wirkungsweise, eine dünne Ideologie (Antiestablishment und Transformation der Demokratie, ansonsten Hybridisierung unterschiedlicher ideologischer Komponenten), antimuslimischer Rassismus anstatt Antisemitismus.28 Extremismus als wissenschaftliches Konzept ist insgesamt problematisch, da es als politisches Kampfwort Verwendung findet. Politischer Extremismus wurde erst in den 1970er Jahren politisch erfunden,29 als Ablehnung oder Delegitimierung von linken Bewegungen. In wissenschaftliche Diskurse hielt diese Verwendungsweise mit zwei Publikationen der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Politischen Akademie Eichholz Einzug.30 Seit den 1990er Jahren wird hauptsächlich der „Extremismus“ des rechten Spektrums der politischen Bühne damit bekämpft. „Extremismus“ ist eine politisch abwertende Beschreibung, eine Zuschreibung, die die adressierten Akteure von vornherein ausschließt. Dabei ist der Bedeutungsgehalt des Extremismusbegriffs immer auch eine Frage der Perspektive: 24 Vgl. Chantal Delsol 2015: Populisme. Les demeurés de l’histoire. Editions du Rocher: Paris, 160. 25 Vgl. Samuel Salzborn 2014: Rechtsextremismus. Erscheinungsformen und Erklärungsansätze. Nomos: Baden-Baden, 18. 26 Vgl. Karin Priester 2016: Rechtspopulismus ‒ ein umstrittenes theoretisches und politisches Phänomen. In: Fabian Virchow, Martin Langebach, Alexander Häusler (Hg.): Rechtsextremismus. Wiesbaden, 533 – 560; Vgl. Decker 2004. 27 Priester 2016, 535. 28 Vgl. ebd., 542 f. 29 Vgl. Holger Oppenhäuser 2011: Das Extremismus-Konzept und die Produktion von politischer Normalität. In: Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hg.): Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells. Springer: Wiesbaden, 35 – 58, hier 38 f. 30 Vgl. ebd., 40.

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gemäßigte Mitte versus Extreme oder „Extremismus der Mitte“ 31 versus „demokratischpopulistische Bewegungen“ 32. Es ist ideengeschichtlich relevanter, von radikalen Diskursen und Bewegungen zu sprechen. Radikal kann sowohl positiv als auch negativ konnotiert sein. Radikale Diskurse bleiben ihrer Ideologie treu, ansonsten verlieren sie ihr Kernidentifikationsmerkmal. Sie weichen von ­diesem Diskurs nicht ab, um populärer zu werden und eine mögliche Wahlmehrheit zu erreichen. Die politische Mitte zum Beispiel kann radikal sein, wenn sie keinen alternativen Diskurs als demokratisch legitim akzeptiert. Die gegenwertige politische Mitte („MitteLinks“ und „Mitte-Rechts“) ist ideologisch liberal und gleichzeitig radikal in dem Sinne, dass sie keine Alternative zum Liberalismus denken kann. Liberalismus verkörpert sich dadurch als politische Wahrheit und lässt keinen gegenhegemonialen Diskurs zu. Dagegen ist die Mitte der Gesellschaft politisch-ideologisch indeterminierter. Diese gesellschaftliche Mitte ist nicht mit der politischen Mitte gleichzustellen, besonders in einer von politischen Krisen geprägten Zeit. Populismus kann sehr gut in der Mitte der Gesellschaft erfolgreich sein, da er ideologisch schwach ist. Populistische Diskurse sind flexibel und entwickeln sich je nach politischer Gelegenheit. Sie verbreiten ihre politischen ­Themen, um immer populärer zu werden. Ihre Diskurse reagieren mehr, als dass sie innovieren. Es ist die „Äquivalenzkette“ ­zwischen politischen Ansprüchen, die zum Teil nichts gemeinsam haben außer einem leeren Signifikanten. Im Gegensatz dazu bleiben Radikale bei einem kohärenten ideologischen Diskurs und weichen von d ­ iesem kaum ab, auch nicht um politische Anhänger hinzuzugewinnen. Stattdessen versuchen sie, ihre Ideologie auch ohne politische Mehrheit durchzusetzen (zum Beispiel durch Verfassungsjustiz,33 durch Bildung und Erziehung 34 oder durch Gewalt).

4. Was für Populismus nicht allein zutrifft In der Alltagssprache und in politischen Auseinandersetzungen werden viele weitere Merkmale mit Populismus assoziiert. Aus wissenschaftlicher Sicht sind diese nicht überzeugend, um als definitorische Merkmale in Abgrenzung zu anderen politischen Akteuren und Insti­ tutionen gelten zu können. 31 Giorgos Kastambekis, Yannis Stravrakakis 2014: Populism, Anti-populism and European Democracy: A View from the South. In: Kyriaki Karadiamanti et al. (Hg.): Populism, Political Ecology and the Balkans. Green Institute Greece: Athen, 117 – 125, hier 117. 32 Olaf Jann 2017: Heartland oder – Die Kritik der infamen Bürger. In: Leviathan. 45 (32), 279 – 302, hier 297. 33 Vgl. Ran Hirschl 2004: Towards Juristocracy. The Origins and Consequences of the New Constitutionalism. Harvard University Press: Cambridge, 44. 34 Vgl. Laura Möllers, Sabine Manzel (Hg.) 2018: Populismus und politische Bildung. Wochenschau Verlag: Frankfurt am Main, 9.

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4.1 Demagogischer Leader Canovan identifiziert zwei Formen von Populismus, die sie als besondere Charakteristik eines einzelnen politischen Akteurs definiert: populist dictator und politician’s populism.35 Einen „populistischen Diktator“ definiert sie als „charismatische[n] Führer, der seinen Einfluss der Fähigkeit verdankt, die Massen zu beeinflussen“.36 Als Beispiel nannte sie den Argentinier Juan Perón. „Populismus der Politiker“ definiert sie als „das Nutzen kalkuliert vager Ideen ‚des Volkes‘ indem alle Parteien oder Führungspersonen einbezogen werden, die sich wünschen politische Spaltungen zu verschleiern oder jenseits von Politik zu agieren: z. B. de Gaulle“.37 Hier haben wir es mit Demagogen zu tun, das heißt, es existiert bereits ein Konzept dafür. Warum sollte man also Verwirrung stiften und Demagogie wissenschaftlich mit Populismus gleichstellen? Der gegenwärtige französische Präsident Emmanuel Macron sagt über sich selbst: „Wenn Populist sein bedeutet, in einer verständlichen Art und Weise und ohne die institutionalisierten Apparate zum Volk zu sprechen, dann will ich gern Populist sein.“ 38 Er ist aber kein Populist im engen Sinne, er benutzt lediglich den demagogischen Diskurs oder „Populismus der Politiker“, wenn er argumentiert, dass er jenseits von rechts und links und jenseits von politischen Apparaten agiere. Er wurde tatsächlich ohne eine Partei zum Präsidenten gewählt, deswegen ist er angemessen als Leader zu beschreiben. Ohne ihn gäbe es seine Bewegung nicht. Im Zeitalter der Medien lässt sich allgemein eine extreme Personalisierung der Politik als eine weitverbreitete Tendenz beobachten. Populistische Parteien sind nicht mehr oder weniger von ­diesem Trend betroffen als andere Parteien. In der deutschen populistischen Szene ist sogar das Gegenteil der Fall. Sei es Pegida als Bewegung oder die AfD als Partei – keine entwickelt sich um einen klar identifizierbaren Leader. Aufgrund der in der AfD stattfindenden politischen Debatten (bedingt dadurch, dass es keine klare ideologische Linie gibt, sondern, wie bei Laclaus Definition zu sehen, eine Äquivalenzkette ­zwischen einer Pluralität von politischen Ansprüchen) wird die Führungsposition regelmäßig neu besetzt.

35 36 37 38

Canovan 1982, 550. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Emmanuel Macron 29. 03. 2017: „J’ai prouvé que j’avais une capacité de commandement“. In: Le Journal du dimanche. Online: https://www.lejdd.fr/Politique/Emmanuel-Macron-J-ai-prouve-que-j-avaisune-capacite-de-commandement-855152 [02. 09. 2019] (eigene Übersetzung).

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4.2 Pluralismus privater Lebensformen versus Pluralismus politischer Gesellschaften Laut Jan-Werner Müller ist die Kritik an Eliten eine notwendige, aber keine hinreichende Eigenschaft populistischer Rhetorik. Für ihn ist Populismus nicht nur antielitär, sondern auch „antipluralistisch“.39 Seine These greift aber zu kurz, da sie auf einem eindimensionalen Verständnis von Pluralismus basiert. Einerseits kann man die Idee des Pluralismus von privaten Lebensformen innerhalb eines (neutralen) liberalen Staates oder sogar innerhalb der Weltgesellschaft identifizieren. Der liberale Staat soll Individuen als Selbstzweck behandeln und dafür sorgen, dass die Interessen von Individuen nicht von kollektiven Interessen übertroffen werden, außer unter extremen Umständen.40 Der liberale Staat soll einen neutralen Rahmen von Rechten schaffen, innerhalb dessen die Individuen eine Pluralität an selbstgefassten Vorstellungen vom guten Leben verfolgen können, „obwohl, wie bei jeder Ideologie, [dieser liberale Staat] nicht authentisch neutral sein kann und zwangsläufig bestimmte Vorstellungen von Individuen, Gemeinschaft und Staat bevorzugen wird, während er dazu neigt, dessen Bürger nach diesen Vorstellungen zu prägen“.41 Zum Beispiel können sozialpolitische oder gesundheitspolitische Maßnahmen nicht ohne eine parteiische Definition von „Familie“, „Partnerschaft“ oder „Eltern“ entwickelt werden. Je nach Definition werden unterschiedliche Adressaten unterstützt oder nicht. Die Neutralität des liberalen Staates basiert vielmehr auf einer philosophischen Fiktion. Um mit dieser Fiktion umgehen zu können, hat sich der multikulturelle Liberalismus entwickelt: Der liberale Staat des Multikulturalismus erkennt eine besondere Stellung von Gruppen ethnischer Minderheiten, die die Mehrheitskultur nicht teilen und von einem (repressiven) liberalen Kulturkreis umgeben sind, an.42 Dieser Pluralismus von privaten Lebensformen setzt voraus, dass das politische System die liberalen Werte (unter anderem Vorrang der individuellen Freiheit vor kollektiv-politischer Freiheit) und die liberalen Institutionen (unter anderem Verfassungsjustiz und Minderheitsrechte) zwangläufig übernimmt. Es bedeutet gleichzeitig, dass der Pluralismus von politischen Systemen, die sich nach unterschiedlichen politischen Werten und Institutionen richten, abgelehnt wird. Populismen befürworten diese Art von politischem Pluralismus, dem zufolge einzelne politische Gesellschaften bzw. Staaten sich nicht lediglich unter einer normativ und institutionell liberalen Orientierung

39 Vgl. Müller 2015, 30. 40 Vgl. Geoffrey Leane 2011: Rights of Ethnic Minorities in Liberal Democracies. Has France Gone Too Far in Banning Muslim Women from Wearing the Burka? In: Human Rights Quaterly 33 (4), 1032 – 1061, hier 1046. 41 Vgl. Leane 2011, 1047 (eigene Übersetzung). 42 Vgl. ebd.

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organisieren können. In d ­ iesem Fall wird der Staat nicht liberal gedacht, sondern als Garant mehrheitlich legitimierter politischer Präferenzen und Werte. Zusammenfassend kann Rechtspopulismus zum Teil antipluralistisch verstanden werden, wenn es sich um private Lebensformen handelt, und zum Teil als pluralistisch, wenn es um die Möglichkeit von unterschiedlichen Polities geht. Dagegen kann der Liberalismus der politischen Mitte zum Teil antipluralistisch sein, indem das liberale politische System als einziges legitimes Modell verstanden wird, jedoch pluralistisch, wenn es private Lebensformen betrifft.

4.3 Die Moralisierung des Politischen und der Wahrheitsanspruch Weiter argumentiert Müller, dass die Populisten moralisierend ­seien und den Anspruch erhöben, den wahren Volkswillen zu kennen: [E]s ist aber erst der moralische Alleinvertretungsanspruch, der Populisten wirklich zu Populis-

ten – und deren Verhältnis zur Demokratie so problematisch macht. […] Wenn Populisten ein

Referendum fordern, dann nicht, weil sie einen offenen Diskussionsprozess unter den Wählern

auslösen wollen, sondern weil die Bürger bitteschön bestätigen sollen, was die Populisten immer

bereits als den wahren Volkswillen erkannt haben.43

Populisten sind nicht die Einzigen, die den Anspruch auf Wahrheit oder auf moralische Überlegenheit erheben. Ebenso ließe sich formulieren, dass es in einer liberalen Demokratie nicht darum geht, offene Debatten auszulösen, wenn ein Referendumsbescheid eingefordert wird, sondern dass die Bürger gebildet oder gut informiert sein sollten, um eine vernünftige Antwort auszuwählen. Die Diskurse um den Brexit sind ein gutes Beispiel dafür. Es gab laut der „politischen Mitte“ eine richtige Antwort auf die Referendumsfrage, und die Mehrheit hat falsch gewählt. Populismen agieren innerhalb einer entpolitisierten bzw. moralisierten und die Wahrheit beanspruchenden liberalen Öffentlichkeit. Mouffe kritisiert die Moralisierung der Politik, der es nicht mehr um den politischen Willen gehe, sondern um den Konflikt ­zwischen dem absolut Guten und dem absolut Bösen.44 Der Gegner sei moralisch zu verurteilen. Weit von einer Überwindung entfernt, würden die Grenzen ­zwischen sie und wir erneut errichtet, nun aber bestehend aus moralischen Kategorien, changierend z­ wischen dem Guten und dem Bösen, ­zwischen „guten Demokraten“, die die universellen Werte der liberalen Demokratie verteidigten, und den „bösen Rechtsextremisten“, die rassistisch und xenophob ­seien.45 43 Müller 2015, 30 f. 44 Vgl. Mouffe 2010, 100. 45 Vgl. ebd., 96.

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Die Grenzziehung z­ wischen guten Demokraten und schlechten extremistischen Rechten sei sehr praktisch, da sie moralisch unwidersprüchlich verurteile und dementsprechend nicht politisch bekämpft werde. Jede Art von Opposition, die eine tatsächliche Alternative biete, werde nicht als legitimer politischer Gegner wahrgenommen, sondern als Feind, der keinen Platz auf der politischen Bühne haben solle.46 Die Vertreter nichtliberaler Positionen würden als politische Feinde wahrgenommen, die unter anderem mit juristischen Mitteln zum Schweigen gebracht werden müssten. Nach Mouffe sollten in einer Demokratie Populisten nicht als moralische Feinde, sondern als politische Gegner betrachtet werden, die man in Kämpfen über ökonomische oder wertbetreffende Präferenzen politisch zu besiegen versuchen solle.

4.4 Inklusion und Exklusion Der niederländische Wissenschaftler Cas Mudde definiert Populismus als a thin-centred ideology that considers society to be ultimately separated into two homogeneous and antagonistic groups, „the pure people“ and „the corrupt elite“, and which argues that politics should be an expression of the volonté générale (general will) of the people.47

Der erste Teil der Definition von Mudde ähnelt jener, die wir im ersten Kapitel als Eigenmerkmal des Populismus verstanden haben. Das zusätzliche Merkmal „which argues that politics should be an expression of the volonté générale of the people“ kann nicht als nur populistisches Merkmal gelten. Es findet sich unter anderem genauso in der republikanischen Tradition der Demokratie wieder. Wenn argumentiert wird, dass nur liberale Demokratien echte oder legitime Demokratieformen ­seien, ist diese Lesart verständlich. Nadia Urbinati,48 Koen Abts und Stefan Rummens 49 verstehen Populismus zu Recht als Problem in einer liberalen Demokratie. Dafür aber sind westliche Demokratien nicht ausschließlich liberale Demokratien. Es gibt auch republikanische Demokratien, in denen das Gemeinwohl noch prinzipiell Vorrang vor dem individuellen Interesse hat. Frankreich ist in d ­ iesem Sinne ein republikanisches und kein liberales Regime. So muss etwa in Frankreich, um den Konflikt ­zwischen konkurrierenden Grundrechten oder Verfassungsprinzipien zu lösen, das allgemeine Interesse an erster Stelle stehen. Der Verfassungsrat rechtfertigt den Schutz des

46 Vgl ebd., 98. 47 Cas Mudde, Cristóbal R. Kaltwasser 2013: Exclusionary vs. Inclusionary Populism: Comparing the Contemporary Europe and Latin America. In: Government and Opposition 48 (2), 147 – 174, hier 149 f. 48 Vgl. Nadia Urbinati 1998: Democracy and Populism. In: Constellations 5 (1), 110 – 124. 49 Vgl. Koen Abts, Stefan Rummens 2007: Populism versus Democracy. In: Political Studies 55 (2), 405 – 424.

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„übergeordneten Allgemeininteresses“, […] wenn individuellen Grundrechten wie Eigentumsrechten, Meinungsfreiheit entgegengesetzt wird.50

Ulrike Guérot bietet als Alternative zum Populismus und zum Liberalismus ihre Utopie einer Europäischen RePublik.51 Sie argumentiert, dass die Tradition der Res publica in Europa, trotz des aktuellen hegemonialen Liberalismus, sehr verbreitet sei.52 Neben Frankreich erwähnt sie auch Polen, wo die Res publica zentral sei und die wiederholte Auflösung des polnischen Staates überlebt habe.53 Republikanische Demokratiemodelle existieren noch in Europa, auch wenn angelsächsische und deutsche liberale Demokratiemodelle unter anderem durch die liberale Konstruktion der EU hegemonial geworden sind. Cas Mudde und Cristóbal Kaltwasser differenzieren ­zwischen exklusiven und inklusiven Formen des Populismus und lehnen die exklusive Form gänzlich ab.54 Jedoch ist jede politische Gesellschaft in irgendeiner Weise zugleich inklusiv und exklusiv. Die Kriterien, die die Grenzen ­zwischen Inklusion und Exklusion feststellen, sind politisch. Grenzen erlauben überhaupt Differenzen und den Pluralismus von politischen kollektiven Wesen, das heißt von Demen. Die Anderen sind nicht zwangsweise Feinde. Wenn man nicht von ­diesem politisch-konstruierten kollektiven Inklusions-/Exklusionsmechanismus ausgeht, dann würde es einen Anderen geben, der willkürlicher, intransparenter und ungerechter sein könnte. Olaf Jann zeigt, wie nationalstaatliche Grenzen immer mehr durch das Zementieren von sozialräumlichen Grenzen z­ wischen unterschiedlichen sozialen und ethnischen Gruppen ersetzt würden.55

4.5 Identitäre Rechtspopulisten und linksliberale Identitätspolitik Fragen der Identität sind ebenfalls kein exklusives Merkmal des Populismus. So zeigt Mark Lilla, dass auch eine bestimmte Spielart der linksliberalen Politik identitär sein könne.56 Rechte Identitäre (identitätsbasiertes Volk) und linke Identitäre (Vielzahl an partikularen Identitäten des Multikulturalismus) basieren beide auf privaten Merkmalen der Zusammengehörigkeit. Beide Sichtweisen werden oft als gegensätzlich wahrgenommen: 50 Christoph Hermann, Chiara Perfumi 2010: France. In: Ciacchi Aurelia Colombi, Gert Brüggemeier und Giovanni Commandé (Hg.): Fundamental Rights and Private Law in the European Union Bd. 1. Cambridge University Press: Cambridge, 190 – 252, hier 248 f. 51 Vgl. Ulrike Guérot 2016: Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie. Bundeszentrale für politische Bildung: Bonn, 119 f. 52 Vgl. ebd., 86. 53 Vgl. ebd., 86. 54 Vgl. Mudde, Kaltwasser 2013, 168. 55 Vgl. Jann 2017, 283 – 284. 56 Vgl. Mark Lilla 2018: La gauche identitaire. L’Amérique en miettes. Stock: Paris.

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Die eine, die nationale Identität, sei konservativ und wird oftmals sogar als gefährlich und reaktionär-fundamentalistisch aufgefasst. Die andere, die zum Multikulturalismus tendierende, sei progressiv. Dennoch werden ethnische Identitäten, wenn sie eine nummerische Mehrheit darstellen, von den konservativen Rechten unterstützt und von Linksliberalen als gefährlich angesehen. Umgekehrt verhält es sich, wenn ethnische Identitäten eine nummerische Minderheit darstellen. In d ­ iesem Fall werden ethnische Identitäten von den Rechten als gefährlich angesehen und von den Linksliberalen im Sinne progressiver und emanzipativer Politiken unterstützt. Es zählen nicht die intrinsischen Werte der Gruppe, sondern ihr mehrheitlicher oder minderheitlicher Status. Multikulturalismus kann nichtprogressive bzw. konservative (oder reaktionäre) Gruppen unterstützen, aufgrund ihres Minderheitsstatus gegenüber einer Mehrheitsgesellschaft. Was die Kontroverse kennzeichnet, ist vielmehr die Mehrheit selbst: Entweder ist diese „gut“ und wünschenswert, nur aufgrund der Tatsache, dass sie die Mehrheit ist (Populismus, Demokratie), oder sie ist „gefährlich“, nur weil sie die Mehrheit ist (Liberalismus). Linke und rechte Identitäre sind sich insoweit ähnlich, dass beide die Register der politischen Aktion des jeweils anderen zu ­nutzen wissen.57 Konservative, wie etwa die ‚weißen Männer‘ der westlichen Unterklassen, können sich eben auch als Opfer und als Minderheit inszenieren,58 und der Multikulturalismus kann wiederum durch die Festlegung der Identitäten Anderer, die als ­solche zu tolerieren ­seien, wie ein umgekehrter Rassismus agieren.59

4.6 Biologisch-kulturalistisches Volkskonzept versus Sozialrassismus Rassismus wird häufig noch als Ablehnung von Menschen aufgrund biologischer Merkmale verstanden, was aber nur einen Teil des Begriffes beschreibt. Inzwischen hat sich die Idee eines Kulturrassismus 60 verbreitet: Menschen werden negativ bewertet aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gruppe. In der Bundesrepublik Deutschland ist es gerade einmal zwanzig Jahre her, seitdem Staatsangehörigkeit sich nicht mehr nach dem Abstammungsprinzip definiert, also auf einem biologischen Verständnis, das nah am biologisch-kulturellen Verständnis liegt, das die AfD befürwortet und das noch Resonanz in der Mitte der Gesellschaft findet.61 Erst das Einbürgerungsgesetz aus dem Jahr 2000 hat das Geburtsortprinzip ergänzend zum Abstammungsprinzip gebracht. 57 58 59 60

Vgl. Slavoj Žižek 2007: Plaidoyer en faveur de l’intolérance. Climats: Paris, 61. Vgl. Silke van Dyk in ­diesem Band. Vgl. Žižek 2007, 73. Vgl. Étienne Balibar 1990: Gibt es einen „Neo-Rassismus“? In: ders., Immanuel Wallerstein (Hg.): Rasse – Klasse – Nation: Ambivalente Identitäten. Hamburg, 23 – 38, hier 23. 61 Vgl. Oliver Decker, Elmar Brähler 2006: Vom Rand zur Mitte. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, 157 f.

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Claire Moulin-Doos

Neben biologischem und kulturellem Rassismus existiert auch ein Klassenrassismus bzw. ein sozialer Rassismus. Er agiert wie die anderen Formen von Rassismus: Die Angehörigkeit einer bestimmten Gruppe, in ­diesem Fall eine soziale Gruppe, ist der Grund für die Abwertung von Menschen. Die „bildungsfernen Milieus“ 62 werden oft als Problem dargestellt, da ihre politische Urteilskompetenz als niedrig und unreflektiert eingeschätzt wird.63 Die Idee, dass Populismus ein Mangel an Bildung sei, ist sehr verbreitet. Populisten könnten die Komplexität der Welt nicht verstehen, sie würden in einem einfachen Schwarz-WeißModell denken. Die französische Philosophin Chantal Delsol argumentiert, dass der rechte Populist als Idiot betrachtet und beleidigt werde.64 Der Populist wisse demzufolge nicht, was politisch richtig sei. Aber was ist mit der Idee von Politik, die schon seit Aristoteles als ein Raum verstanden wird, in dem nicht eine Wahrheit, sondern Meinungen und Präferenzen herrschen? In der Kernidee der Demokratie gibt es keine prinzipiell dummen Menschen, sonst müssten wir uns eine Epistokratie 65 bzw. eine Aristokratie der Besten/Klügsten 66 wünschen.

4.7 Liberale Vernunft und Emotionen Die liberale Tradition arbeitet mit einer starken Dichotomie von Vernunft und Emotionen, wobei Vernunft und Vernünftigkeit für das Gute einstehen sollen. Dagegen haben Emotionen keinen Platz im politischen Raum. Gefühle sollen aus der demokratischen Auseinandersetzung ausgeschlossen werden, etwa auch im deliberativen Modell von Jürgen Habermas, in dem Rationalität durch den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ begründet wird.67 Jedoch spielen Emotionen in der Politik eine nicht zu bestreitende Rolle. Politische Auseinandersetzungen sind Diskussionen z­ wischen mehr oder weniger leidenschaftlichen Bürgern und „keine wissenschaftliche Erörterung platonischer Philosophenkönige“.68 Die Mobilisierung von Emotionen ist sogar eines der wichtigsten motivationalen Elemente des politischen Engagements. Republikanische Demokratiemodelle basieren zum Teil auf Emotionen. So versteht Markus Llanque „dynamischen“ Republikanismus als eine Vorstellung 62 Joachim Detjen 2007: Politische Bildung für Bildungsferne Milieus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 32/33, 3 – 8; Dirk Loerwald 2007: Ökonomische Bildung für Bildungsferne Milieus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 32/33, 27 – 33. 63 Vgl. Detjen 2007, 3; Delsol 2015, 195. 64 Vgl. Delsol 2015, 7. 65 Vgl. Jason Brennan 2017: Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen. Ullstein: Berlin, 39. 66 Vgl. Moulin-Doos 2017, 306. 67 Vgl. Felix Heidenreich 2015: Politische Gefühle – Katalysator des Diskurses oder Ergebnis postdemokratischer Emotionalisierung? Die Perspektive des dynamischen Republikanismus. In: Karl-Rudolf Korte (Hg.): Emotionen und Politik. Nomos: Baden-Baden, 49 – 65, hier 49. 68 Vgl. ebd., 49.

Populismus

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von Demokratie, in der Emotionen als Ausgangspunkt der Willensbildung anerkannt würden.69 Eine republikanische ­Theorie der Demokratie kann mit der Einheit von Rationalität und Emotionalität konzeptionell umgehen: Der Citoyen lässt im Rahmen seiner Beteiligung an der Res publica auch seine Emotionen zu einem Teil des politischen Willensbildungsprozesses werden.70 Im Gegensatz zum Liberalismus, der die Frage nach dem ‚guten Leben‘ tendenziell privatisiert, lässt der Republikanismus eine symbolische Repräsentation dieser Frage auf der politischen Bühne zu, indem konkurrierende Wertevorstellungen in legitimer Weise thematisiert werden können. Die Verurteilung von populistischen Bewegungen aus einer liberalen Perspektive ist übrigens ebenso von Emotionen begleitet, etwa von historisch assoziierten Ängsten bis hin zu einer auf existenziellem Hass begründeten Ablehnung des Anderen. Insofern sehen auch Antipopulisten sich in bestimmten Momenten von ihren liberalen Leidenschaften dominiert.71

5. Fazit Für Laclau ist die Ablehnung des Populismus „the dismissal of politics tout court“.72 In dieser Perspektive entspricht Populismus einer Form des Politischen, die die liberale Demokratie mit ihrer postpolitischen Verrechtlichung und Moralisierung destabilisiert. Gleichzeitig aber wäre ein Populismus in der Lesart von Laclau mit anderen Formen der Demokratie, etwa der republikanischen oder der agonistischen,73 kompatibel. Klar dürfte jedoch sein, dass die Form der Demokratie selbst, ob ökonomisch-liberal, liberal-deliberativ, populistisch, republikanisch, direkt, radikal oder agonistisch, aufgrund der jüngeren Krisenerscheinungen auf nationaler wie auch transnationaler Ebene sowie durch Prozesse der Europäisierung, Globalisierung und Entgrenzung wieder zum Politikum geworden ist.

69 70 71 72 73

Vgl. Llanque 2012. Vgl. Heidenreich 2015, 52. Vgl. Delsol 2016, 10. Laclau 2005, x [Hervorhebung im Original]. Vgl. Mouffe 2000, 80 f.

TEIL II: AKTEURE UND IDEOLOGIEN IM GESELLSCHAF TLICHEN KONTEXT

Silke van Dyk/Johannes Schütz

Ökonomische Notwehr oder autoritäre Wende? Ein Interview zu den Kontroversen um das Erstarken der Neuen Rechten in Europa

Silke van Dyk ist Professorin für Politische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie lehrt und forscht zu den Themenfeldern Politische Soziologie, Soziologie der Sozialpolitik

und des Wohlfahrtsstaats, Soziologie des Alters und der Demografie sowie Perspektiven der

Gesellschaftskritik. In ­diesem Interview spricht sie mit Johannes Schütz über die verschränkten

Ursachen für das Erstarken der Neuen Rechten.

Johannes Schütz: Tatsächlich fragt sich gerade eine Vielzahl an wissenschaftlichen, journalistischen und politischen Beobachterinnen und Beobachtern, warum neurechte Akteure in Europa aktuell diese starke Resonanz erfahren. Mit Didier Eribons Rückkehr nach Reims gibt es dafür eine Erzählung, eine sehr familiär und biografisch geprägte Erzählung, in der der Großteil derer, die früher links waren und jetzt den Rechten zulaufen, sozial deklassiert und abgehängt sind. Sie haben das aufgegriffen und zugleich auch in Frage gestellt. Denn Sie ordnen das Erstarken der Neuen Rechten z­ wischen zwei Polen ein: Erleben wir gerade eine ökonomische Notwehr der Deprivierten oder ist es eine autoritäre Wende? Können Sie zu Beginn diese beiden Deutungspole bitte einmal kurz skizzieren? Silke van Dyk: Natürlich ist die Zuspitzung „ökonomische Notwehr“ oder „autoritäre Wende“ eine Vereinfachung, die ich als Soziologin gleich wieder ausdifferenzieren muss. Aber trotzdem kann man da erst einmal ansetzen, um dann zu entscheiden, wo man jenseits einer solchen Polarität noch hinschauen könnte. Sie haben es ja schon angesprochen, ein Stichwortgeber – wenn auch nur einer, aber sicher der prominenteste – für die These von der „ökonomischen Notwehr“ ist Didier Eribon. Eribon hat – das muss man betonen – ja keine umfangreiche empirische Untersuchung vorgelegt, sondern am Beispiel seiner eigenen Familie beschrieben, wie aus ehemaligen Kommunisten und Kommunistinnen Front-National-Wähler*innen wurden. Das Spannende an der deutschsprachigen Debatte ist, dass Didier Eribon zwar zum zentralen Stichwortgeber wurde, dass seine Position in der Rezeption aber anders akzentuiert wurde. Denn in der deutschen Diskussion haben

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Silke van Dyk/Johannes Schütz

wir eine starke Polarität dahingehend, dass die „ökonomische Notwehr“ wirklich als Entlastungsthese fungiert, und zwar im politischen wie auch im wissenschaftlichen Feld. Der Tenor lautet: Das ist Protestwahl als Notwehr, aber das sind keine Rassist*innen. Von Sarah Wagenknecht war dies über die AfD-Wähler*innen direkt nach der letzten Bundestagswahl zu hören, aber auch die US -amerikanische Soziologin Nancy Fraser argumentiert ähnlich. Das heißt, es existiert die Idee, ökonomische Deklassierung und Rassismus als komplett voneinander getrennte, sich ausschließende Erklärungsmuster zu behandeln. Das ist aus unterschiedlichen Gründen eine hochproblematische Zuspitzung und Verkennung empirischer Zusammenhänge. Johannes Schütz: Sie argumentieren dafür, dass man beides nur zusammendenken kann? Silke van Dyk: Unbedingt, und das haben eine Reihe von Wissenschaftler*innen in der Vergangenheit auch getan. Aber vorweg vielleicht noch ein Satz zu Didier Eribon, der sich zu Recht kritisch zu seiner Rezeption in Deutschland geäußert hat. Er hat nämlich gerade nicht darüber geschrieben, warum die „ökonomische Notwehr“ die Leute in die Fänge des Front National getrieben hat – ohne Rassist*innen zu sein. Ganz im Gegenteil geht es ihm darum, dass auch die Wähler und Wählerinnen der Kommunistischen Partei häufig rassistisch eingestellt waren, dass dieser Alltagsrassismus aber innerhalb der Kommunistischen Partei eingehegt und kanalisiert worden ist. Der Rassismus war also – zumindest in Teilen – bereits da und wird nun unter veränderten sozialen und ökonomischen Bedingungen in neuer Form politisch relevant. Was in der Gegenüberstellung von „Ist es ökonomische Notwehr oder Rassismus?“, also mit der Idee, dass es entweder das eine oder das andere ist, verloren geht, ist die lange Geschichte von Analysen und Erklärungsansätzen, die gerade untersuchen, wie Fragen ökonomischer und/oder sozialer Deklassierung rassistisch verarbeitet werden. So kann man historisch zeigen, dass auch oder sogar gerade über rassistische Mobilisierungen die Arbeiterklasse gespalten wurde. So geschehen zum Beispiel in den USA, wo es gelungen ist, die weißen Arbeiter*innen an die weißen Unternehmer*innen zu binden, weil sie sich so von den schwarzen Sklav*innen und ­später von den schwarzen Lohnarbeiter*innen abgrenzen konnten. Über den Rassismus wird also eine Aufwertung in der Deklassierung erfahren. Es gibt eine lange Geschichte der Analyse, wie ökonomische Kämpfe und Klassenkämpfe mit Rassismus verwoben waren. Deswegen ist es frappierend, dass es in der aktuellen Debatte plötzlich nicht mehr denkbar zu sein scheint, dass eine „ökonomische Notwehr“, wenn man sie denn überhaupt so nennen möchte, eine rassistische Ausdrucksform sucht. Johannes Schütz: Wie lässt sich diese Verbindung von Aufwertung durch Rassismus im Moment der Deklassierung erklären?

Ökonomische Notwehr oder autoritäre Wende?

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Silke van Dyk: Wenn man nach den Gründen für diese Verbindung von Milieuzugehörigkeit, Klassenlage und Rassismus fragt, gibt es zum Beispiel Ansatzpunkte in der Autoritarismusforschung. Diese Perspektive haben Oliver Decker und Kollegen in den Leipziger Mitte-­ Studien stark gemacht, indem sie gefragt haben, wie die Ausbildung autoritärer, rechtsextremer, rassistischer oder auch antisemitischer Einstellungen mit einer ökonomisch empfundenen Ohnmacht zusammenhängt. Es geht darum, dass die erlebte Deklassierung und Ohnmacht gegen Schwächere gewendet bzw. auf diese umgelenkt wird, weil die strukturellen (Klassen-) Verhältnisse als übermächtig und nicht veränderbar erlebt werden, während die als ‚Andere‘ Etikettierten als Konkurrent*innen in der Wettbewerbsgesellschaft präsentiert und wahrgenommen werden. Diese Umlenkung und ihre strukturellen Ursachen verschwinden aus dem Blickfeld, wenn der Rassismus einfach negiert oder dethematisiert wird. Die Historikerin Fatima El-Tayeb hat sehr treffend formuliert, dass es bei Rassismus anscheinend immer um etwas anderes geht: um ökonomische Deklassierung, um den abgehängten Osten Deutschlands, um Frustration bezüglich der Eliten, aber nie um Rassismus. Rassismus wird damit zu einem komplett abgeleiteten Phänomen, ohne eigene Logik und Realität. Und deshalb muss die vermeintliche Alternative „ökonomische Notwehr oder autoritäre Wende?“ radikal verneint und stattdessen gefragt werden, wie ökonomische (Klassen-)Verhältnisse mit autoritären Entwicklungen zusammenhängen. Johannes Schütz: Welche empirischen Befunde lassen sich denn gegen diese Lesart und für Ihre Verknüpfung von sozialen Positionen und rassistischen Einstellungen anbringen? Silke van Dyk: Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass die Ausprägung ausländer- und flüchtlingsfeindlicher wie auch rassistischer Einstellungen hochgradig mit der Zustimmung zu rechtsextremen Parteien korrelieren. Was übrigens auch sehr eindeutig ist, aber kaum diskutiert wird, ist die Geschlechtsspezifik der Wahl. Schließlich haben bei der Bundes­ tagswahl 2017 16 Prozent der Männer, aber nur 9 Prozent der Frauen AfD gewählt. In den neuen Bundesländern ist die AfD bei den Männern in allen Ländern stärkste Kraft geworden. Während der sehr viel weniger eindeutige Zusammenhang von ökonomischer/ sozialer Lage und AfD-Wahl omnipräsent ist, bleibt es zur Geschlechterfrage merkwürdig still. Meine Erklärung dafür wäre, dass es immer noch eine naturalisierte Geschlechter­ zuschreibung gibt, die zur Folge hat, dass es als normal empfunden wird, dass Frauen quasi sozialer, menschenfreundlicher, weniger extrem sind. Und schon verschwindet ein wichtiger Zusammenhang aus der Debatte. Davon abgesehen ist in der jüngeren Vergangenheit ein problematischer Umgang mit statistischen Korrelationen zu beobachten, die vermeintlich die Notwehrthese stützen. So zeigen zwar viele Studien einen Zusammenhang ­zwischen Bildungsabschluss, Arbeiterstatus und (obwohl in der Regel weniger signifikant) Einkommen einerseits und der Wahrscheinlichkeit,

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eine rechte Partei zu wählen, andererseits; das sagt aber noch lange nicht, dass hier eine Kausalität besteht, dass die Menschen also deshalb rechts wählen. Die Daten zeigen eben nicht, dass eine Person ohne Schulabschluss oder mit geringem Einkommen deshalb oder aus Unzufriedenheit über die dadurch empfundene soziale oder ökonomische Deklassierung rechts gewählt hat. Das wird schnell ersichtlich, wenn man zusätzliche Variablen einbezieht – also nicht bivariat, sondern multivariat auswertet: Dann sieht man, dass Menschen mit wenig Bildung und/oder niedrigem Einkommen, die nicht rassistisch eingestellt sind, auch nicht die AfD wählen. Hier ist immer noch die Frage berechtigt, warum die Wahrscheinlichkeit, rassistisch eingestellt zu sein, mit niedriger Bildung höher ist, denn das ist definitiv der Fall. Dann geht es aber eben um diesen Zusammenhang und nicht mehr um das falsche Entweder-oder von Notwehr und Rassismus. Außerdem gilt es natürlich zu fragen, ­welche Rolle andere, nichtökonomische Faktoren spielen. Das führt in die Diskussion um Fragen kultureller Deklassierung, die im deutschsprachigen Raum zuletzt von Andreas Reckwitz mit seiner Diagnose einer Kulturalisierung von Klassenkonflikten sowie in den USA unter anderem von dem Kulturwissenschaftler Mark Lilla aufgeworfen worden sind. Hier geht es quasi um eine „kulturelle Notwehr“ der weniger Privilegierten und weniger Gebildeten gegen gesellschaftliche Gruppen, die meistens als urbane, akademische Mittelklassen charakterisiert werden, mit einer Ausrichtung an eher postmaterialistischen Werten, Weltoffenheit, Antidiskriminierung, ökologischer Nachhaltigkeit etc. Diese Zuschreibung ist von großer Bedeutung für die aktuellen Debatten um das Erstarken der Neuen Rechten, wird hier doch eine Polarisierung als Klassenkonflikt beschrieben, in dem feministische, antirassistische, kosmopolitische Positionen den Privilegierten und angeblich vom Neoliberalismus Begünstigten zugeschrieben werden. Als zumeist abwertende Chiffre dafür ist die Bezeichnung Identitätspolitik allgegenwärtig, ein Label, unter dem vom Erbe von „1968“ über die Neuen Sozialen Bewegungen und feministische Kritik bis hin zur Black-Lives-Matter-Bewegung oder dem Engagement für Unisex-Toiletten so ziemlich alles subsumiert wird, was angeblich den sozioökonomischen Interessen der Mehrheitsbevölkerung zuwiderläuft. Damit wird verdeckt, dass zum Beispiel antirassistische und feministische Kämpfe immer auch Klassenkämpfe, Kämpfe um ökonomische und soziale Teilhabe waren und keineswegs nur Spielwiesen etablierter und privilegierter Großstädter*innen sind. Nancy Fraser spricht von progressiven Neoliberalen, also Menschen, die in ökonomischen Fragen neoliberal und in gesellschaftspolitischen Fragen progressiv eingestellt, das heißt an Weltoffenheit, Antidiskriminierung und Gleichstellung orientiert sind. Hier wie auch sonst in der aktuellen Debatte finden wir eine Zusammenbindung von Neoliberalen und (privilegierten) Linken an einem Pol. Sie streiten angeblich für exaltierte Anliegen der Identität und Anerkennung, die den Interessen der Arbeiter und Arbeiterinnen entgegengestellt werden. Eine ähnlich gelagerte, aber anders bezeichnete Polarisierungslinie

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artikulieren in der deutschsprachigen Debatte Wolfgang Merkel und Michael Zürn: Die Konfliktlinie ­zwischen Kosmopolit*innen und Kommunitarist*innen, die – so ihre These – die alte Rechts-Links-Polarität abgelöst habe. Auf der einen Seite die Kosmopolit*innen, die Gebildeten, eher Privilegierten, Weltoffenen und Toleranten, die an Flexibilität und Internationalität interessiert sind – auf der anderen Seite die Kommunitarist*innen, Menschen mit weniger Ressourcen, die auf nationale Sicherheits- und Schutzsysteme angewiesen und traditionell orientiert sind und sich sozusagen, so die Annahme, diese Weltläufigkeit nicht leisten können und wollen. Auch wenn die ökonomische Lage Berücksichtigung findet, steht doch der kulturelle Konflikt im Zentrum, der in Gestalt eines Oben-Unten-Konflikts die Ablehnung von Weltoffenheit und Toleranz zum Abwehrkampf gegen Eliten und Privilegierte werden lässt. Dieser Debattenstrang bzw. diese Erklärungsmuster gewinnen derzeit an Einfluss, ich denke auch, weil sich die einfache ökonomische Notwehrthese empirisch relativ gut widerlegen lässt. In diesen Erklärungsmustern spielt das Blaming bzw. häufig auch Self-Blaming der als Kosmopoliten Adressierten eine zentrale Rolle. Aus dieser Perspektive ist der Erfolg der Rechten auch eine Antwort auf das Versagen dieser Linken und es ist ja auch absolut richtig, dass klassenpolitische Fragen, soziale Fragen in den letzten Jahrzehnten in der Linken zumindest in der Breite an Einfluss verloren haben zugunsten von Fragen der Anerkennung und der Antidiskriminierung. Problematisch ist hingegen der Schluss, der aus dieser richtigen Diagnose gezogen wird, nämlich dass die Vernachlässigung der Klassenfrage einseitig die Schuld der identitätspolitischen Linken gewesen sei. Das geht an der komplexen Realität vorbei. Hier greifen wandelnde Kräfteverhältnisse im Übergang vom Fordismus zum flexiblen neoliberalen Kapitalismus ebenso wie der Umstand, dass zum Beispiel klassische gewerkschaftliche Strukturen nicht gerade offen für die Anliegen von Feministinnen oder Schwulen waren. Johannes Schütz: Sie können also die These der ökonomischen Notwehr sehr gut widerlegen; und wahrscheinlich ist das bereits auch vielfach passiert, denn nun beschreiben Sie, wie die Erklärungsversuche auf ein anderes Feld umschwenken und den Zuspruch zu neurechten Gruppen und Parteien mit kultureller Deprivation zu plausibilisieren versuchen. Was würden Sie dieser Kritik entgegnen? Denn wahrscheinlich lässt sich das „Kulturell-abgehängt-Sein“ deutlich schwerer empirisch nachweisen als die ökonomische Deklassierung? Silke van Dyk: Ein häufiges und beliebtes Argument ist die angebliche Verschwisterung bzw. Komplizenschaft von Linken und Neoliberalen: Sie treffen sich in Antidiskriminierungs-, Multikulturalismus- und Diversitätspolitiken, die für das Kapital und soziale Bewegungen im neoliberalen Kapitalismus angeblich gleichermaßen wichtig sind, und sie bewirken vereint, so die Unterstellung, die Dethematisierung der Klassenfrage. Das ist die

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klassische Vereinnahmungsdiagnose, wie sie am prominentesten von Luc Boltanski und Eve Chiapello in ihrem Werk Der neue Geist des Kapitalismus formuliert worden ist. Es geht um die Diagnose, dass die Kritik an fordistischen Formen der Standardisierung, Normierung, Entfremdung zu einem Motor für die Revitalisierung des fordistischen Kapitalismus hin zum flexiblen Kapitalismus geworden ist, der weniger den Standard und die Norm als das Besondere, die Flexibilität und Eigeninitiative honoriert – so die im Grundsatz spannende Beobachtung. Damit verbunden ist die Idee, dass sich diese quasi ursprünglich emanzipatorischen Anliegen sozialer Bewegungen hervorragend mit dem Neoliberalismus verbunden haben. So richtig das in Teilen ist, so sehr muss man aber auch hervorheben, dass es immer soziale Bewegungen gegeben hat, die Fragen des Feminismus, des Antirassismus mit Klassenfragen, mit der Sozialen Frage verbunden haben, aber dass diese Bewegungen im durch den Siegeszug des Neoliberalismus marginalisiert worden sind. Das ist aber eher eine Frage von Hegemonie als von Komplizenschaft; faktisch werden in der derzeitigen Pauschalisierung der Vereinnahmungsdiagnose die im Neoliberalismus marginalisierten Bewegungen noch einmal marginalisiert, indem ihnen einfach die Existenz abgesprochen wird – denn angeblich ­seien ja die antirassistischen, feministischen, auf Antidiskriminierung zielenden Bewegungen komplett im Neoliberalismus aufgegangen. Nur vor ­diesem theoriepolitischen Hintergrund ist es zu verstehen, warum es aktuell so einflussreich ist, sogenannte identitätspolitische Anliegen als Anliegen von (neoliberalismusaffinen) Privilegierten darzustellen. Damit werden in der Diskussion über das Erstarken der Neuen Rechten Klassenfragen und Identitätsfragen oder, anders formuliert, soziale Fragen und Anerkennungsfragen gegeneinander ausgespielt. Was daran so frappierend ist, ist, dass man ja bis heute zeigen kann, dass Ethnizität und Geschlecht starke Indikatoren dafür sind, in der sozialen Stufenleiter sehr weit unten zu stehen, also diese Zuschreibungen manifest ökonomische und soziale Implikationen haben. Es ist deshalb hochgradig erstaunlich, wie erfolgreich es gelungen ist nahezulegen, bei antirassistischen und feministischen Politiken würde es sich um postmaterialistische Anliegen handeln, die nur für Privilegierte interessant s­ eien, während die vermeintlich „normalen“ Menschen – gerne ist auch von den ‚kleinen Leuten‘ die Rede – um ihr tägliches Brot kämpfen. Johannes Schütz: Wer wird denn mit der Chiffre kleine Leute oder normale Leute adressiert? Silke van Dyk: Das ist eine wichtige Frage, denn es zeigt sich, dass die Klassenfrage derzeit häufig – wenn auch meistens implizit – mit dem Subjekt „weißer Arbeiter“, „weißer Mann“ verbunden wird, anders wäre ja diese Polarisierung der Anliegen absolut unlogisch. Hier sind Beiträge des Autors Ta-Nehisi Coates interessant, er ist eine zentrale Figur im Umfeld von Black Lives Matter, international bekannt geworden mit seinem Buch Between the World and Me, in dem er seinem Sohn erklärt, was es bedeutet, als schwarzer Mann in

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den USA zu leben. Er hat zu den Diskussionen um die Wahl Donald Trumps dem Sinn nach getwittert: „Warum geht es bei weißen Männern immer um ihre ökonomische Lage, während alle anderen nur Identitäten und Gefühle haben?“ Damit zeigt Coates auf, dass die Entmaterialisierung antirassistischer und feministischer Kritik ein Herrschaftsmechanismus ist, dass es eine Frage der Macht ist zu definieren, wessen Probleme angeblich materieller Art sind. Diese Polarisierung muss negieren, dass ökonomische und soziale Fragen aufs Engste verbunden sind mit Sexismus, Rassismus, Nationalismus und Kolonialismus. Ausbeutung im Kapitalismus hat sich diese Diskriminierungsformen stets zu eigen gemacht, indem die damit verbundenen Verwundbarkeiten genutzt wurden (zum Beispiel für die Aneignung von Arbeitskraft zu besonders niedrigen Löhnen – verglichen mit weißen, männlichen Lohnarbeitern). Und das, muss ich sagen, ist eines der größten Probleme der aktuellen Debatte: Zu einem Zeitpunkt, wo rechte Positionen die Errungenschaften von „1968“, Errungenschaften der Neuen Sozialen Bewegungen und von Antidiskriminierungskämpfen in Frage stellen, wird auch in den kritischen Debatten zum Erstarken der Rechten daran gearbeitet, diese Politiken plötzlich zu privilegierten Petitessen zu erklären. Das heißt, zu einem Zeitpunkt, wo man eigentlich genau diese Kämpfe um Gleichheit, um Gleichstellung, um Anerkennung verteidigen müsste, wenden sich Teile der Linken und der kritischen Beobachter und Beobachterinnen genau gegen diese Politiken und machen sie verantwortlich für das Erstarken der Neuen Rechten. Ich würde sagen, das ist der größte Dienst, den man den Rechten erweisen kann – die ultimative Schwächung der Positionen, die der AfD und anderen rechten Akteuren am meisten verhasst sind. Und diejenigen, die gekämpft haben gegen Rassismus, gegen Sexismus, also auch gegen Angriffe von rechter Seite, werden nun zu den Verursachern des Rechtsrucks erklärt – damit wären wir zurück bei der vermeintlichen kulturellen Notwehr gegen die angeblich Privilegierten. Johannes Schütz: Der Vorwurf gegen die Neuen Sozialen Bewegungen und die Kämpfe gegen Diskriminierung ist also, dass diese sich nur mit Identitäts- und Anerkennungsfragen und nicht mit dem Hauptwiderspruch z­ wischen Kapital und Arbeit beschäftigt haben? Silke van Dyk: So kann man es fassen, tatsächlich erleben wir eine eigentümliche und problematische Rückkehr des Hauptwiderspruchsdenkens, frei nach dem Motto „Wir müssen jetzt endlich wieder die Soziale Frage, die Klassenfrage zentral stellen, wir haben uns jetzt ganz lange mit diesen ganzen Nebenwidersprüchen beschäftigt“. Hier wird die absolut notwendige und wichtige Revitalisierung der Klassenfrage total problematisch, weil sie die wichtigen und berechtigten Kämpfe – eben feministische Kämpfe, antirassistische Kämpfe – plötzlich zu Ablenkungsmanövern und Nebenschauplätzen erklärt. Die Rückkehr der Klassenfrage darf nicht zu einer Rolle rückwärts hinter die Errungenschaften der sozialen Bewegungen

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führen, sondern muss umgekehrt die Frage aufwerfen: Wie können wir Klassenfragen, wie können wir soziale Ungleichheit wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit holen, ohne diese Anliegen auszuspielen gegen andere Unterdrückungs- und Diskriminierungsverhältnisse? Ich denke, dass es derzeit tatsächlich um die Abwehr von Ansprüchen (vormals oder aktuell) marginalisierter Bevölkerungsgruppen geht. Als Referenzfolie und Bezugspunkt für die soziale Frage dient vielen der westdeutsche, fordistische Wohlfahrtsstaat der 1960er und 1970er Jahre. Das ist in Teilen auch berechtigt, weil in der damaligen Zeit – zu Zeiten der Vollbeschäftigung und mit starken Gewerkschaften – soziale Rechte erkämpft wurden, von denen viele noch heute profitieren, auch wenn wir seit den 1990er Jahren den Abbau von Rechten und die Deregulierung von Schutzstandards beobachten. Wichtig ist aber zugleich, im Blick zu behalten, dass diese Rechte für viele Menschen, wie insbesondere Nichtdeutsche und Frauen, nie gegolten haben, das fordistische Wohlfahrtsmodell war auf den autochthonen, weißen, männlichen Alleinernährer ausgerichtet. Diese Exklusivität, diese Ausschlüsse muss man im Blick haben, wenn der fordistische Wohlfahrtsstaat zur Sehnsuchtsfolie für soziale Sicherheit wird; andernfalls handelt es sich um eine regressive Sehnsucht, die die relative Privilegierung weißer, männlicher Arbeitnehmer im Blick hat bzw. ihre Verunsicherung und Prekarisierung prioritär gegenüber entsprechenden Lebenslagen anderer Bevölkerungsgruppen behandelt. Wie eben schon betont, ist es schlichtweg falsch, dass weiße Männer plötzlich die neuen Abgehängten sind – hier geht es gerade nicht darum, die Entsicherung und Prekarisierung aller zu problematisieren, sondern die Ansprüche unterschiedlicher Gruppen gegeneinander auszuspielen. ­ iesem Zentrum nähern, woran die ganzen Kritiken Johannes Schütz: Bevor wir uns jetzt d sich ja reiben, also an dem, was Sie dann den „autoritären Neoliberalismus“ nennen, habe ich doch noch eine kurze Nachfrage, weil die aktuelle Diskussion in diese Richtung geht: Und zwar hat Philip Manow ein Buch mit dem Anspruch vorgelegt, jetzt erstmals eine empirische Basis dafür zur Verfügung zu stellen, warum in Europa populistische Parteien gewählt werden. Seine These ist, dass im Norden und im Süden unterschiedlich gewählt wird. Im Norden wird eher rechtspopulistisch gewählt und im Süden eher linkspopulistisch. Seine Ableitung daraus ist, dass es im Norden einen abgefederten Sozialstaat gibt, und deshalb wehre man sich mit der Wahl rechtspopulistischer Parteien gegen die Zirkulation von Menschen, im Süden hingegen wehre man sich mehr gegen die Zirkulation des Kapitals, gerade weil dort die sozialstaatlichen Traditionen nicht vorhanden ­seien.1 Er macht daran fest, dass gerade auch im Norden doch irgendwie tatsächlich nicht die schon Privilegierten die rechten Parteien wählen, sondern diejenigen mit „Statuspanik“ …

1 Philip Manow 2018: Die politische Ökonomie des Populismus. Suhrkamp: Berlin.

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Silke van Dyk: … genau, Leute, die quasi ihren Status verteidigen … Johannes Schütz: … den Neuen Rechten zustimmen und sie wählen. Das widerspricht Ihrer Analyse, die Sie gerade entfaltet haben. Sehen Sie trotzdem einen Punkt, wo Sie an diese Studie anknüpfen können, und lässt sich mit ­diesem Material der Zusammenhang von „ökonomischer Notwehr“ und „autoritärer Wende“ noch einmal deutlicher darstellen? Silke van Dyk: Einerseits ist es absolut sinnvoll – Manow nennt es ja die politische Ökonomie des Populismus –, sich Bedingungsfaktoren rechtspopulistischer und rechtsextremer Wahlentscheidungen anzuschauen. Ich glaube aber, dass die Form, in der er das tut, überhaupt nicht geeignet ist, um die komplexe Situation umfänglich auszuleuchten, weil er wirklich ein ganzes Buch über Populismus schreibt und komplett ohne Rassismus als Erklärungsmoment auskommt. Er versucht, die Stärke des Populismus komplett aus der Politischen Ökonomie und der Struktur von Wohlfahrtsstaaten abzuleiten. Was die Frage des Rassismus angeht, behauptet er, dieser könne keine Rolle spielen, schließlich ­seien Schwed*innen ja nicht von Natur aus rassistischer als Spanier*innen. Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Wenn Rassismus nicht ökonomisch bestimmt wird, kann er Manow zufolge nur biologische Ursachen haben! Hier werden Jahrzehnte sozialwissenschaftlicher Erklärungsansätze von Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit mal kurz ad acta gelegt. Es ist absolut instruktiv, nach der Bedeutung von Wohlfahrtsregimen für politische Orientierungen zu fragen, und ich denke auch, dass die Verteidigung von Statuspositionen eine große Rolle spielt, aber es gibt keinerlei Not, dafür die Komplexität der Konstellation auf einen einzigen Bedingungsfaktor zu reduzieren. Die Konstellation ist aber auch deshalb komplizierter, weil wir einerseits starke populistische Strömungen auch in liberalen Ökonomien haben, die nie hohe wohlfahrtsstaatliche Standards hatten, die verteidigt werden, und weil es andererseits mit zunehmender Tendenz (man denke nur an Italien, aber auch an Spanien) erfolgreiche rechtspopulistische Parteien in südeuropäischen Ländern gibt. Zugleich ist es eine Stärke des Buches, die Politische Ökonomie in die Debatte um die Erklärung der erstarkenden rechten Kräfte zu integrieren. Tatsächlich sind spezifische Formen des Neoliberalismus und neoliberaler Politik hochgradig entscheidend für die Bedingungskonstellationen, in denen populistische Kräfte entstehen. Ich glaube grundsätzlich, dass die Verteidigung von Errungenschaften und Privilegien sowie auch die Sorge vor deren Verlust durchaus mobilisierende Faktoren sind. Problematisch ist nur die daraus abgeleitete Lesart der Situation im Sinne von: „Die wollen doch eigentlich nur soziale Gerechtigkeit.“ Die spannende Frage ist aber, was wollen sie denn eigentlich für eine soziale Gerechtigkeit? Und da würde ich sagen, keine, die diesen Begriff verdient, denn sie wollen die Sicherung ihrer Positionen zulasten anderer; sie wollen eben nicht, dass sie mit Frauen in Führungspositionen konkurrieren, sie wollen eben nicht, dass MigrantInnen

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Ansprüche auf Sozialleistungen haben. Das heißt, es ist eine Idee von sozialer Gerechtigkeit, die stark mit einer exklusiven Solidarität arbeitet, nämlich ein Kollektiv definiert, für das diese Ansprüche und Sicherheiten gelten sollen. In dem Sinne könnte man durchaus sagen, dass das Angebot der rechtspopulistischen Parteien ein genuin neoliberalismuskritisches Moment hat, selbst bei den Parteien, die wie die AfD oder auch die FPÖ wirtschaftspolitisch mehrheitlich liberal orientiert sind. Das ist aber natürlich keine Neoliberalismuskritik im emanzipatorischen Sinne, sondern eine reaktionäre Positionierung, die Teilen der Bevölkerung, vorzugsweise autochthonen weißen Männern, ein ständisches Versprechen macht: „Euch, eure Positionen wollen wir wieder stärken, euch wollen wir wieder groß machen, auf euch hat niemand mehr geschaut.“ Und das ist insofern ein antineoliberales Versprechen, weil ihnen verheißen wird, sie vor d ­ iesem Wettbewerb mit migrantischen oder weiblichen Konkurrentinnen zu beschützen. Hier werden, wie eingangs schon angesprochen, durchaus reale Ohnmachtserfahrungen oder Statusverlustängste umgelenkt und gegen andere gerichtet, statt für soziale Gerechtigkeit im Sinne gemeinsamer Standards und Rechte zu kämpfen. Mein Jenaer Kollege Klaus Dörre spricht hier von einer demobilisierten Klassengesellschaft, in dem Sinne, dass Klassengegensätze existieren, dass aber keine Klassenmobilisierung und damit auch kein entsprechender Kampf gegen die Ursachen zunehmender Klassenpolarisierung stattfindet. Johannes Schütz: Welche Rolle spielen linkspopulistische Bewegungen in ­diesem Zusammenhang? Silke van Dyk: Es ist natürlich ein großer Unterschied, ob wir es mit Links- oder Rechtspopulismus zu tun haben, bei manchen Autor*innen verwischt diese Differenzierung zu sehr, so zum Beispiel bei Jan-Werner Müller. Wo Rechtspopulist*innen ein homogenes „Volk“ konstruieren, versuchen linkspopulistische Akteure (zum Beispiel in der spanischen Partei Podemos) vielmehr, einen Oben-Unten-Gegensatz entlang der Klassenfrage zu politisieren. Auch das hat seine Fallstricke, da es zum Beispiel eine Tendenz dahingehend gibt, andere Widersprüche oder Anliegen in dieser einfachen Polarität für nachrangig zu erklären. Auch wird im zugespitzten „Wir-Sie-Gegensatz“ die Elite mitunter in einer Weise personalisiert, die die strukturellen Bedingungen des Kapitalismus in den Hintergrund treten lassen. Der Unterschied ist aber, wie das „Wir“ definiert wird, ist es doch ein riesiger Unterschied, ob das „Wir“ ein einladendes „Wir“, ein inklusives „Wir“ ist, ein „Wir“, das Menschen stärken soll, die wenig Rechte haben und die sich damit zusammenschließen – oder ob das „Wir“ Stärke darüber bezieht, dass es ausgrenzt, dass es exklusive Grenzen setzt, dass es Menschen hierarchisiert und dass es quasi die Fiktion eines homogenen und natürlichen Volkes belebt.

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Johannes Schütz: Ist es denn neben dieser Unterscheidung berechtigt, vom Rechtspopulismus als einheitlichem Phänomen zu sprechen? Silke van Dyk: Faktisch gibt es neben vielen Ähnlichkeiten auch unter den als rechtspopulistisch eingestuften Parteien eine recht große Bandbreite, insbesondere wenn es um die Soziale Frage und die wirtschaftspolitische Ausrichtung geht. Also, wir haben Kräfte wie den früheren Front National, jetzt Rassemblement National, wie die durch die AfD in die Bedeutungslosigkeit versunkene NDP, die wirklich ein national-soziales Angebot machen im Sinne einer exklusiven Solidarität, die radikal völkisch gedacht ist, die aber nach innen, innerhalb dieser völkischen Struktur – ähnlich wie es auch der Nationalsozialismus gemacht hat – ganz eindeutig antiliberal, auch antiwirtschaftsliberal ist. Das ist aber eine völlig andere Position, als wir sie in der AfD haben. Der Höcke-Flügel in der AfD geht stark in diese Richtung – aber sonst haben wir natürlich ausgeprägte wirtschaftsliberale Traditionen in dieser Partei, ähnlich in der FPÖ oder in einigen skandinavischen rechten Parteien. Das heißt, auch hier muss man definitiv noch einmal genauer untersuchen, und da würde ich auch Analysen wie die der Politikwissenschaftler Oliver Nachtwey und Dirk Jörke nicht teilen, die pauschal für den Rechtspopulismus der Gegenwart eine Hinwendung zu „linker“ Sozial- und Wirtschaftspolitik konstatieren. Ich würde sagen, a) das stimmt nicht, weil wir in einigen Parteien starke wirtschaftsliberale Traditionen haben, und b) nein, es ist eben keine linke Sozial- und Wirtschaftspolitik, weil es die Idee einer exklusiven, völkisch und reaktionär gedachten Solidarität ist, und das ist eben alles andere als links – auch wenn sie innerhalb des adressierten Kollektivs mehr Gleichheit oder mehr Umverteilung verspricht. Johannes Schütz: Sind alle Deutungskämpfe und alle Zuspitzungen dieser politischen Auseinandersetzungen nur erklärbar, wenn wir uns die umfassenden Prägungen der Gesellschaft durch den Kapitalismus anschauen? Silke van Dyk: Nein, ich würde mich wie gesagt dagegen verwehren zu sagen, dass wir das irgendwie monokausal allein aus ökonomischen Verhältnissen ableiten können, ich würde immer darauf dringen, dass Rassismus oder auch Sexismus Widersprüche eigener Qualität und auch eigener Logik sind. Zugleich gilt aber auch: Wir können gar nicht über den Kapitalismus sprechen, ohne über Rassismus, Sexismus usw. zu sprechen. Weiterführend für das Verständnis der aktuellen Konstellation ist aus meiner Sicht auch weniger der Verweis auf kapitalistische Vergesellschaftung in Allgemeinen als die Analyse spezifisch neoliberaler Technologien des Regierens, die die jüngere Vergangenheit geprägt haben; ich meine das Regieren im Modus des Sachzwangs, der Alternativlosigkeit und der Technokratie. Jan Werner-Müller hat einmal schön geschrieben, dass sich Neoliberale und Populisten in einem Punkt relativ ähnlich sind, nämlich in ihrem Antipluralismus: Im Populismus zeigt sich der

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Silke van Dyk/Johannes Schütz

Antipluralismus im radikal völkischen Denken, also der Idee, es gebe ein homogenes Volk, das Interessen und Bedürfnisse hat, die dann nur noch durch eine Führungsgestalt verkörpert werden müssen. Im Neoliberalismus ist es die Marktdoktrin, wenn behauptet wird, es gebe eine rationale Logik in der Marktwirtschaft, die umgesetzt werden müsse. Hier werden originär politische Entscheidungen suspendiert und es wird die Idee der einen, richtigen und alternativlosen Lösung propagiert. Das heißt, man hat den Menschen über viele Jahre klargemacht – und wie wir aus empirischen Untersuchungen wissen, leider auch sehr erfolgreich –, dass es keine Alternative gibt. Allerdings ist diese Konstellation durch die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 ff. in Bewegung geraten. Das hat man am Anfang eher an linken Protesten wie der Occupy-Bewegung oder den Indignados in Spanien gesehen. Durch das Ausmaß der Krise und die vielen Milliarden Dollar und Euro, die plötzlich von einem auf den anderen Tag zur Verfügung standen, um Banken zu retten, wurde der Glaube an die Alternativlosigkeit erschüttert: Die davor recht breit akzeptierte Lesart, es gebe kein Geld, es gebe keine finanziellen Mittel für soziale Infrastruktur, für Bildung und für Sozialleistungen, ist vor ­diesem Hinter­grund von immer mehr Menschen in Frage gestellt worden. Und deswegen teile ich die Einschätzung, dass wir uns seitdem in einer Hegemoniekrise des Neoliberalismus befinden, was aber nicht bedeutet, dass neoliberale Politiken in vielen Feldern nicht weiterhin dominant sind. Sie werden aber nicht mehr fraglos als notwendig, alternativlos oder gar sinnvoll akzeptiert. Dieser Hegemonie- und Legitimationsverlust ist nun in Teilen dadurch kompensiert worden, dass neoliberale Politiken zunehmend autoritärer durchgesetzt worden sind. Nehmen Sie das Beispiel Griechenland und die Durchsetzung der Austeritätspolitik durch die Troika, die auch gegen formale Regularien, die auf EU-Ebene galten, implementiert und erzwungen wurden. Oder dass jemand wie Wolfgang Schäuble nach der Abstimmung in Griechenland über das Sparpaket der Troika moniert: „Wir können nicht zulassen, dass Wahlen Wirtschaftspolitik beeinflussen.“ Es war neu, dass die antidemokratische, marktliberale Position so explizit formuliert wurde. Doch leider scheinen die Zeiten, da die Hegemoniekrise vor allem von links artikuliert wurde, der Vergangenheit anzugehören. Was das neoliberale Regieren im Modus der Alternativlosigkeit angeht, war die Namensgebung der AfD – „Alternative für Deutschland“ – ein extrem kluger Schachzug. Auch wenn es damals ja eine wirtschaftsliberale, vor allem euro(pa)kritische Partei war, wurde damit ein zentraler Punkt artikuliert, die Frage nach realen Alternativen im politisch repräsentierten Raum. Jetzt kann man sagen: Stimmt nicht ganz, die Linkspartei fällt da mit ihrem dezidiert neoliberalismuskritischen Programm in vielen Punkten auch heraus, aber unter den anderen Kräften war das Spektrum an wirtschafts- und sozialpolitischen Positionen begrenzt und es gab keine wirklichen Alternativen zum neoliberalen Denken. Das ist die AfD natürlich auch nicht, sie hat den Punkt aber geschickt genutzt. Angela Merkel hat wirklich gebetsmühlenartig immer von der Alternativlosigkeit

Ökonomische Notwehr oder autoritäre Wende?

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ihrer Politik gesprochen, weshalb es nicht verwundert, dass „alternativlos“ 2013 zum Unwort des Jahres erklärt wurde. Ich glaube, das ist ein ganz entscheidender Punkt: Die populistischen Kräfte haben durchaus Recht, wenn sie sagen: „Die da oben lügen“, nämlich wenn „die da oben“ sagen, es gebe keine Alternative. Ich denke, das Vorhaben, diese elitäre Technokratie und Alternativlosigkeit aufzubrechen – was der Linken nicht wirklich gelungen ist –, das ist definitiv eine mobilisierende Dynamik für rechte Kräfte gewesen. Es ist wichtig zu verstehen, dass es eine Form des Antipluralismus, nämlich die Markttechnokratie, war, auf die jetzt mit einem neuen Antipluralismus geantwortet wird – im Sinne einer völkischen Alternative. Diese Konstellation kann man nur verstehen, wenn man sich das Zusammenspiel von autoritärem Kapitalismus und autoritärem Populismus anschaut. Johannes Schütz: Sie haben gerade darauf hingewiesen, dass es in gewissem Sinne ein kluger Schachzug der AfD war, die Alternativlosigkeit in Frage zu stellen. Ihre Antwort d ­ arauf war, „die da oben“ stehen „uns hier unten“ gegenüber. Genau an ­diesem Punkt bilden sich Querfronten. Kann man sie noch an anderen Punkten auf einen gemeinsamen Nenner bringen und auch noch einmal genau daran aufzeigen, wo deren Analyseschwächen oder der Mangel ihrer Deutungsangebote liegt? Silke van Dyk: Ich sehe hier zwei Probleme: nämlich erstens, dass es im linken Feld durchaus Akteur*innen gibt, die im Sinne einer linkspopulistischen Strategie für eine Querfront plädieren. Bernd Stegemann, Dramaturg am Berliner Ensemble und zentrales Gesicht des Vereins Aufstehen ist ein prominentes Beispiel: Er argumentiert, dass der eigentliche Feind der Neoliberalismus sei und dass deshalb jeder (!) Populismus, der ihn erschüttert, egal ob rechts oder links, einen Schritt nach vorne darstelle. Bei aller Kritik an den Rechten werden diese also nicht als der Hauptfeind, sondern als mögliche Verbündete im Kampf gegen den Neoliberalismus gesehen. Die Kräfte, die dies so explizit vertreten, sind in Deutschland auf jeden Fall in der deutlichen Minderheit. Weltweit sehen wir aber, dass verschiedene neue Regierungskonstellation entstehen – in Italien, in Griechenland, in Neuseeland –, wo linke Sozialdemokrat*innen oder Linkspopulist*innen – bei der 5-Sterne-Bewegung ist die Einordnung etwas schwer – mit Rechtsnationalen oder Rechtspopulisten zusammen regieren, um die liberalen Kräfte in der Opposition zu halten. Und das, glaube ich, lohnt sich genauer zu erforschen. Das zweite Problem liegt darin, dass sich auch in Beiträgen, die nicht für eine Querfront oder pragmatische Bündnisse eintreten, positive Bezüge auf die demokratische Funktion rechtspopulistischer Kräfte finden: Vielen gilt der Rechtspopulismus zwar als irgendwie unappetitlich, unangenehm und auch inhaltlich problematisch, aber doch als Belebung der Demokratie. In Deutschland ist dies oft verbunden mit dem Argument, dass wir eine nachholende Normalisierung des Parteiensystems (im Vergleich zu anderen europäischen

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Silke van Dyk/Johannes Schütz

Ländern) erleben. Belebt der Rechtspopulismus also die Demokratie, trägt er zur Überwindung von Repräsentationskrisen bei? Ich würde das ganz klar mit nein beantworten, weil die politischen Positionen, die damit in das Feld eingeführt werden, s­ olche sind, die den demokratischen Diskurs und das demokratische System bedrohen. Und das ist aus meiner Sicht ein ganz entscheidender Punkt an dieser Stelle, dass eben nicht jede Position, die gesellschaftlich artikuliert wird, den demokratischen Diskurs belebt. Teil d ­ ieses demokratischen Diskurses zu sein, ist voraussetzungsvoll dahingehend, dass von allen beteiligten Akteuren erwartet werden kann, die zentralen Bedingungen für einen solchen Diskurs zu akzeptieren. Das ist bei Parteien, die auf rassistisch-völkische Exklusivität setzen, die mit rechtsextremen Kräften kooperieren oder den Nationalsozialismus relativieren, ganz klar nicht der Fall. Es wäre ein falsch verstandener Pluralismus, jede mögliche Position für eine Bereicherung der Demokratie zu halten. Johannes Schütz: Das heißt, wenn wir jetzt zum Schluss zu einer praktischen Wendung kommen, dann braucht es eine eindeutigere Definition, in welchem Rahmen demokratische Äußerungen möglich sind. Man soll nicht hinnehmen, dass diejenigen, die nach Gerechtigkeit rufen, sie anderen verwehren. Sie haben ja betont, dass dieser Ruf nach Gerechtigkeit berechtigt ist, aber er ist nicht berechtigt, wenn er das Ganze damit verknüpft, dass man die eigenen Privilegien oder Positionen für andere unverfügbar zu halten versucht. Silke van Dyk: Ganz genau. Wenn ich das stark mache, dann heißt das nicht, dass Menschen – auch Menschen, die sich zum Beispiel der AfD zugewandt haben – nicht Härten durch prekäre Arbeit, durch niedrige Renten oder schlechte Arbeitsbedingungen erfahren. Es geht mir nicht darum, diese Erfahrungen zu negieren oder zu sagen, es gibt da keinen Grund für Wut oder keinen Grund für Änderungswünsche. Die entscheidende Frage ist aber, gegen wen bzw. an wen ich meine Kritik richte. Richte ich diese Kritik gegen Akteur*innen, die für diese Politik verantwortlich sind oder verbinde ich mich mit rechten politischen Kräften, um unter den Bedingungen, an denen strukturell nichts geändert wird, für mich so viel wie möglich herauszuholen, indem andere ausgegrenzt oder abgewertet werden. Abschließend ist mir noch ein Punkt besonders wichtig: Ich finde, die aktuelle Diskussion dreht sich fast ausschließlich um die (potenziellen) Sorgen und Nöte derjenigen, die sich nach rechts gewendet haben. Sich grundsätzlich dafür zu interessieren, ist in wissenschaftlicher Hinsicht nicht falsch, weil wir natürlich untersuchen müssen, warum Menschen sich so entscheiden; aber wir müssen eben auch im Blick behalten, dass es nicht immer Sorgen und Nöte sind, sondern bisweilen auch Ressentiments, Rassismus oder andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. „Die Sorgen und Nöte ernst nehmen“ hat politisch eben doch allzu oft etwas von Entschuldigung und Exkulpation. Außerdem muss man natürlich fragen, wessen Sorgen und Nöte werden eigentlich ernst genommen?

Ökonomische Notwehr oder autoritäre Wende?

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Wenn man liest, dass es wichtig sei, endlich konsequent Abschiebungen durchzuführen und damit den Sorgen der Menschen Rechnung zu tragen, dann wird ziemlich schnell klar, dass es wohl nicht um die Sorgen und Nöte derjenigen geht, die von Abschiebungen betroffen sind. Wir erleben eine politische und öffentliche Debatte, in der das Schutzbedürfnis und die Sorgen der nach rechts Gewendeten im Zentrum stehen, während die von ihnen bzw. von den von ihnen gewählten Parteien ausgehenden Angriffe, Ausschlüsse und Diskriminierungen (zum Beispiel gegen Migrant*innen) in den Hintergrund rücken. Gegen diese Einseitigkeit, ja bisweilen sogar Parteilichkeit hat sich jede Politik mit emanzipatorischem Anspruch zu richten.

Raj Kollmorgen

Rechtspopulismus in Ostdeutschland Sieben Thesen zu seiner Formierung, Attraktivität und Ausprägung aus historisch-soziologischer Perspektive

Seit über fünf Jahren wird im politischen und wissenschaftlichen Raum intensiv darüber gestritten, warum der Rechtspopulismus gerade in Ostdeutschland – namentlich in Gestalt der Partei Alternative für Deutschland (AfD) – so erfolgreich ist. Ein Lager behauptet, dass die Erfolge des Rechtspopulismus in den östlichen Bundesländern sich der wirtschaftlichsozialen Schwäche des Ostens verdanken. Die Verlierer*innen von Vereinigung und Modernisierung seit 1990 begehrten damit gegen Ungleichheit, Deprivation und Zurücksetzung auf. Das konträre Lager sieht demgegenüber vor allem politisch-kulturelle Ursachen. Die Ostdeutschen hätten – als gleichsam letztes Erbe des staatssozialistischen Herrschaftsregimes in der DDR  – bis heute nicht verstanden, was Demokratie bedeutet und wie sie funktioniert. Der Rechtspopulismus im Osten repräsentiere mithin die Distanz der Ostdeutschen gegenüber der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.1 Der vorliegende Beitrag will sich in diese Debatte mit sieben zuspitzenden Thesen zum Problem in historisch-soziologischer Perspektivierung einschalten, sich also vor allem den zeitlichen, aber auch inhaltlichen Kurzschlüssigkeiten in der Debatte entgegenstellen. Dabei liegt der Fokus auf der Seite der rechtspopulistischen ,Nachfrage‘. Es geht also nicht um Bewegungen, Netzwerke, Organisationen oder Einzelakteure, kurz die Angebotsseite des Rechtspopulismus, sondern um die tragenden, unterstützenden oder zumindest resonanten sozialen Schichten, Milieus und Kulturen.2 Erkundet werden soll, warum die r­ echtspopulistischen 1 Zur Debatte etwa Holger Lengfeld 2017: Die „Alternative für Deutschland“. Eine Partei für Modernisierungsverlierer? Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 69 (2), 209 – 232; Philip Manow 2018: Die politische Ökonomie des Populismus. Suhrkamp: Berlin; Martin Schröder 2018: AfD-Unterstützer sind nicht abgehängt, sondern ausländerfeindlich. SOEP Papers on Multidisciplinary Panel Data Research 975. DIW: Berlin; Robert Vehrkamp, Wolfgang Merkel 2018: Populismusbarometer 2018. Populistische Einstellungen bei Wählern und Nichtwählern in Deutschland 2018. Bertelsmann Stiftung: Gütersloh; Manés Weisskircher 2020: The Strength of Far-Right AfD in Eastern Germany. The EastWest Divide and the Multiple Causes behind ,Populism‘. In: The Political Quarterly, online first. 2 Diese Formulierung bedeutet nicht, dass es ­zwischen politischen ,Angeboten‘ und ,Nachfragen‘ nicht einen sozialen (Re-)Konstruktionszusammenhang gibt. Tatsächlich erzeugt auch die Nachfrage ,ihr‘ Angebot

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Raj Kollmorgen

Politikangebote, die im Osten Deutschlands nach 2014 insbesondere in Gestalt von Pegida 3 und ihren Ablegern sowie der Partei AfD präsent sind, jene Aufmerksamkeit und Attraktivität im Osten erreicht haben, die namentlich die AfD hier zu einer (numerischen) Volkspartei und ihren deutsch-nationalen, partiell rechtsradikalen Flügel zu einem entscheidenden Machtfaktor in der Gesamtpartei werden ließen. Auf sächsische Entwicklungen wird an einigen Stellen besonders eingegangen. These 1: Politischer Populismus ist eine globale Erscheinung mit einer langen Geschichte, der als politische Bewegung, Ideologie oder Politikstil auftritt und heterogene Ausformungen aufweist. Der gegenwärtige Rechtspopulismus in Europa entstand seit Ende der 1970er Jahre. Seine größten Erfolge verzeichnet er aber in den letzten zehn Jahren. Der politische Populismus ist so alt wie politische Repräsentativsysteme, die an der Idee der Volkssouveränität orientiert sind. Seine Geschichte reicht daher bis in die Antike zurück; die systematische Ausbildung seiner Formensprache und Varianten, einschließlich des LinksRechts-Dualismus, erfolgte seit dem 19. Jahrhundert.4 Der politisch-ideologische Kern jedes Populismus besteht in der Fixierung eines selektiv definierten Volkes (lat. populus) als Adressat, Nutznießer, Beweger und Träger des politischen Prozesses. Volk ist hier nicht mit Bevölkerung zu verwechseln; vielmehr geht es immer um ideologisch aufgeladene und ausgewählte Gruppen oder Dimensionen bzw. Verständnisse. Volk kann daher als völkische ,Rasse‘, ethnisch gefasste Nation oder im Sinne mit, so wie das Angebot die Nachfrage mit generiert. Das kann hier aus Platzgründen weder theoretisch noch empirisch näher behandelt und für den rechtspopulistischen Fall nachgewiesen werden. Auf einige Wechselwirkungen wird aber – auch aus historischem Blickwinkel – eingegangen. Zur Debatte anhand des Rechtspopulismus siehe etwa: Frank Decker (Hg.) 2006: Populismus – Gefahr für die Demokratie oder nützliches Korrektiv? VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden; Dirk Jörke, Veith Selk 2017: Theorien des Populismus zur Einführung. Junius: Hamburg; Cristóbal Rovira Kaltwasser, Paul Taggart, Paulina Ochoa Espejo, Pierre Ostiguy (Hg.) 2017: The Oxford Handbook of Populism. Oxford University Press: Oxford, New York; Chantal Mouffe 2018: Für einen linken Populismus. Edition Suhrkamp: Berlin; Alexander Häusler (Hg.) 2018: Völkisch-autoritärer Populismus. Der Rechtsruck in Deutschland und die AfD. VSA Verlag: Hamburg; Hans Vorländer, Maik Herold, Steven Schäller 2016: PEGIDA – Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung. Springer VS: Wiesbaden. 3 Dieses Akronym steht für Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes. Es handelt sich um eine seit 2014 existierende politische Protestbewegung und einen namensgleichen Verein, die in Dresden bis 2016 erfolgreich eine Demonstrationsreihe etablierten, die mehrere tausend, in Hochzeiten sogar bis zu ca. 20.000 Teilnehmer*innen umfasste. Die AfD hat einen beachtlichen Teil der PegidaAnhänger aufgesogen. Zu Geschichte, Anhängerschaft und Verbindungen zur AfD: Häusler 2018; Vorländer et al. 2016. 4 Zu Geschichte und Vielfalt siehe Kaltwasser et al. 2017; Mouffe 2018; Jan Müller 2016: Was ist Populismus? Ein Essay. Suhrkamp: Berlin; Karin Priester 2016: Rechtspopulismus – ein umstrittenes theoretisches und politisches Phänomen. In: Fabian Virchow, Martin Langebach, Alexander Häusler (Hg.): Handbuch Rechtsextremismus. Springer VS: Wiesbaden, 533 – 560.

Rechtspopulismus in Ostdeutschland

161

der werktätigen Klasse(n) begriffen werden. Das so ausgezeichnete Volk wird scharf und unversöhnlich von der (gegebenenfalls vormals) herrschenden Elite und ihren Herrschaftsapparaten (Verwaltungen, Polizei, Parteien, Verbände usw.) geschieden. Der alten „Systemelite“ werden die wahren Volksvertreter gegenübergestellt, für die angenommen wird, dass sie dem populus kraft ihrer Herkunft, ihres Willens, ihrer Einsicht oder ihres auratischen Anverwandlungsvermögens und Charismas nahe sind, ja mit ihm ideell verschmelzen und das Volk daher führen können – jenseits oder doch unter deutlicher Machteinschränkung aller bürokratischen Maschinerien und Vermittlungsinstitutionen (wie politischer Parteien, Verbände oder Parlamente). Politischer Populismus ist daher gegenüber allen komplexeren politischen Repräsentations- und Aushandlungsinstitutionen skeptisch eingestellt und präferiert direktdemokratische Herrschaftsformen und Entscheidungsmodi bis hin zur Ausschaltung der Gewaltenteilung.5 Aus theoretisch-konzeptueller Perspektive erscheint und entwickelt sich der zeitgenössische politische Populismus in drei miteinander zusammenhängenden Dimensionen: •  als Ideologie, das heißt als System von interessenbasierten Anschauungen und Argumentationen zur Welt- und Gesellschaftsdeutung sowie Begründung soziopolitischer Handlungsorientierungen und Entscheidungsmuster,6 •  als politische Bewegung, wobei der Populismus regelmäßig als Kombination von informellen Netzwerken, zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie politischen Parteien auftritt, sowie •  als Politikstil, das heißt als Art und Weise politischer Kommunikation, der Mobilisierung und Bindung von Unterstützern, als Modus der politischen Selbstorganisation und als spezifisches Verständnis des Verhältnisses von politischer Programmatik und taktischer Freiheit. Der moderne europäische Rechtspopulismus verdankt seine Entstehung und seinen Aufstieg zunächst dem Niedergang des „sozialdemokratisch-keynesianischen Zeitalters“ (Walter L. Bühl) in Westeuropa seit Ende der 1970er Jahre. Hier spielte der rechtspopulistische 5 Ibid.; Dirk Jörke, Veith Selk 2017: Theorien des Populismus zur Einführung. Junius: Hamburg; Cas Mudde, Cristóbal Rovira Kaltwasser 2017: Populism. A Very Short Introduction. Cambridge University Press: Oxford; Müller 2016. Hinsichtlich der Definition des legitimen Volkes wie des Politikverständnisses, d. h. der Ausübungsformen der Volkssouveränität, bestehen damit fließende Übergänge zu radikalen bzw. extremistischen Strömungen und Ideologien. Während bei der Definitionsfrage die Exklusion bestimmter Bevölkerungsgruppen oder doch deren massive Rechteeinschränkung in Richtung autoritärer und totalitärer Herrschaftssysteme droht, stehen hinsichtlich der Ausübungsmodi die republikanische Verfassung mit Gewaltenteilung, Verwaltungs- und Rechtsstaat sowie die Idee der repräsentativen Interessenvermittlung zur Disposition. 6 Dabei repräsentiert der politische Populismus eine „dünne Ideologie“ (Cas Mudde), da er sich grundsätzlich mit anderen substanziellen Ideologien und politischen Programmatiken – wie dem Nationalismus, Sozialismus oder Neoliberalismus – verbindet.

162

Raj Kollmorgen

Thatcherismus in Großbritannien eine initiierende und prägende Rolle. Eine zweite und stärkere Welle folgte in Europa Anfang der 1990er Jahre, in der sich rechtspopulistische Parteien als ernsthafte Alternative zum alten Parteiensystem und der Fortschreibung etablierter Politik stilisierten, wobei die Abwehr aller fremden Bedrohungen der eigenen „Heimat“, nicht zuletzt durch die anwachsenden Migrationsflüsse im Zentrum standen. Lega Nord und Forza Italia in Italien sowie die neue Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ ) unter Jörg Haider stellten unter Beweis, wie erfolgreich der neue Rechtspopulismus sein kann. Zwar erlebten diese Versuche ihre Rückschläge Ende der 1990er/Anfang der 2000er Jahre. Ein nächster und diesmal europaweiter Aufstieg ließ aber nicht lange auf sich warten. Seit etwa 2005, vor allem aber nach der Finanzmarktkrise 2008/2009 sowie im Gefolge der anschwellenden Fluchtmigration 2015/2016 feiern rechtspopulistische, teils rechtsradikale Parteien und Bewegungen quer durch Europa vom skandinavischen Norden (Finnland, Schweden, Dänemark) über Ostmitteleuropa (herausragend: Polen und Ungarn, aber auch in Tschechien) und den Süden (Italien) bis nach Westeuropa (von Großbritannien, Belgien oder die Niederlande bis nach Deutschland, Österreich oder die Schweiz) Wahlerfolge, die sie unmittelbar an die Regierung bringen oder doch erhebliche politische Einflussmöglichkeiten begründen.7 Was zeichnet diese rechtspopulistischen Parteien in Europa heute – neben den oben umrissenen allgemeinen Charakteristika – aus? Erstens setzen alle rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien auf ein homogen verstandenes Volk, welches nativistisch, ethnisch oder (und vor allem) kulturell begriffen wird und als Träger einer politisch-kulturellen Gemeinschaft, mithin eines starken Wirund Heimatgefühls fungiert. Diese Gemeinschaft wird grundsätzlich als durch äußere und innere Feinde bedroht gedacht. Der entscheidende innere Feind sind die etablierten liberaldemokratischen und kosmopolitischen Eliten, denen man Korruption und Verrat am Volk vorwirft. Der äußere Feind wird einerseits von anderen, als aggressiv verstandenen Völkern, Gruppen bzw. deren (pluralen) Kulturen (herausragend: Islam) repräsentiert, die sich der Heimat bemächtigen wollen (Einwander*innen, Flüchtlinge, Ausländer*innen, Kulturfremde aller Art). Andererseits sind es die fremden, internationalistischen Eliten und deren Insti­ tutionen, ­welche die Einheit und Souveränität des Ethnos bedrohten (von den Brüsseler Bürokraten der EU bis zur UNO). Zweitens können die Bedrohungen und Feinde nur dann wirksam bekämpft werden, wenn von der „formalistischen“, verrechtlichten, bürokratischen oder elitären Demokratie zur „wahren“ Demokratie übergegangen wird, in der nicht nur plebiszitäre oder direktdemokratische 7 Als Überblicke: Kaltwasser et al. 2017; Mudde, Kaltwasser 2017; Manow 2018; Müller 2016; Ruth Wodak, Majid Khosravinik, Brigitte Mral (Hg.) 2013: Right-wing populism in Europe. Politics and discourse. Bloomsbury: London sowie Tabelle 1 unten.

Rechtspopulismus in Ostdeutschland

163

Verfahrenselemente, sondern in substanzieller Hinsicht geschichtsgesättigte Werte und Gemeinschaftsgefühle dominieren. Träger d ­ ieses Kampfes um die Erneuerung von Ethnos und Demokratie sind damit das protestbereite, mobilisierte „wahre Volk“ sowie volksnahe und bürokratieferne Führer*innen der rechtspopulistischen Bewegungen. Drittens sind – trotz dieser ideologischen Stützung auf das „wahre Volk“ – rechtspopulistische Bewegungen und vor allem politische Parteien mit Blick auf den politischen Prozess weniger input- denn outputorientiert. Sie konzentrieren ihre politische Arbeit weniger auf die (Selbst-)Organisation der Mitglieder, deren Kommunikation und demokratische Partizipation. Vielmehr gründen sie ihre Legitimation und Unterstützung in Wahlen oder Protestkämpfen im Wesentlichen auf den symbolischen und materiellen Erfolgen in der taktisch flexiblen Umsetzung ihrer Interessenpolitik. Das kann die Einführung einer „Obergrenze“ für Fluchtmigration ebenso sein wie die Kritik an abwanderungswilligen transnationalen Großunternehmen oder die öffentliche Bloßstellung des Eliten- und Politikversagens. Geradezu paradigmatisch steht die niederländische Ein-Mann-Partei Partij voor de Vrijheid (PVV) von Geert Wilders für diesen rechtspopulistischen Politikansatz.8 Viertens zeichnen den gegenwärtigen Rechtspopulismus – hier hinsichtlich der organisierten Politikangebote – außenpolitisch ein klarer Nationalismus sowie instrumentelle Europäisierungs- bzw. Globalisierungsauffassungen aus. Innenpolitisch dominieren ein ethnisch, nativistisch oder kulturell fundiertes Staatsbürgerrecht, restriktive und instrumentelle Einwanderungsstrategien, konservative bis autoritäre Law-and-Order-Auffassungen unter Kombination mit plebiszitären und weiteren direktdemokratischen Verfahrenselementen, ein Wohlfahrts(staats)chauvinismus sowie – bezogen auf Kultur- und Lebensführungspolitiken – ein teils patriarchaler, autoritärer oder rechtskonservativer, teils auf nichtwestliche Lebensweisen und Weltanschauungen fokussierender Antipluralismus und Traditionalismus.9 These 2: Rechtspopulistische Bewegungen und politische Parteien sind heute quer durch Europa erfolgreich. Generell gilt jedoch, dass sie im Osten Europas wie im Osten Deutschlands jeweils doppelt so stark sind wie in den westlichen Regionen. Dieses Phänomen lässt sich gehaltvoll nur 8 Siehe Koen Vossen 2015: Das Ein-Mann-Orchester in den Niederlanden. Geert Wilders und die Partei für die Freiheit (PW). In: Ernst Hillebrand (Hg.): Rechtspopulismus in Europa. Gefahr für die Demokratie? Dietz: Bonn, 48 – 59. 9 Siehe etwa Priester 2017; Wodak et al. 2013; für Deutschland: Christoph Butterwegge, Gudrun Hentges, Bettina Lösch (Hg.) 2018: Auf dem Weg in eine andere Republik? Neoliberalismus, Standortnationalismus und Rechtspopulismus. Beltz Juventa: Weinheim; Häusler 2018; Vorländer et al. 2016, siehe auch das Interview mit Silke van Dyk in diesem Band. Die konkreten inhaltlichen und strategischen Politikausprägungen hängen von den jeweils formierten Typen des Rechtspopulismus (d. h. deren Verknüpfung mit substanziellen Ideologien und Programmatiken) und den spezifischen nationalen bzw. regionalen Politikkontexten ab. Insofern sind diese Ausprägungen auch nicht fix, sondern flüssig.

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Raj Kollmorgen

durch Bezug auf sowohl demografische, sozioökonomische und sozialstrukturelle als auch langzeitige, historisch geformte kulturelle Kontexte und Ursachen erklären. Als ersten Überblick liefert Tabelle 1 eine Auflistung der letzten Wahlerfolge und Regierungsbeteiligungen einiger wichtiger rechtspopulistischer Parteien in Europa. Tabelle 1: Wahlerfolge ausgewählter rechtspopulistischer Parteien in Europa ­zwischen 2017 und 2019. Land/Partei

Stimmenanteil in (letzter) nationaler Parlamentswahl in % ( Jahr)

Regierungsbeteiligung nach letzter Wahl ( Ja/Nein)

Ungarn: Fidesz

49,3 (2019)

Ja

Schweiz: Schweizerische Volkspartei (SVP)

25,8 (2019)

Ja

Polen: Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS)

43,6 (2019)

Ja

Frankreich: Rassemblement National (RN) *

21,3 (2017) **

Nein

Schweden: Schwedendemokraten

17,5 (2018)

Nein

Finnland: Die Finnen Italien: Lega Nord

Österreich: Freiheitliche Partei (FPÖ)

Niederlande: Partei für die Freiheit (PVV)

Deutschland: Alternative für Deutschland (AfD)

17,5 (2019) 17,3 (2018)

16,2 (2019)

13,1 (2017)

12,6 (2017)

Nein

(bis 09/2019: Ja) Nein

(bis 06/2019: Ja) Nein

Nein

Nein

Erläuterungen: * Die Partei RN (früher lange als Front National (FN) aktiv) war lange Zeit offen rechtsradikal und ist es in einigen Teilen auch heute. ** Das ist das Ergebnis des ersten Wahlgangs zur Präsident*innenwahl. Dieses wird hier herangezogen, weil im präsidentiellen System Frankreichs die Parlamentswahl eine insgesamt geringe Bedeutung besitzt. In der letzten Parlamentswahl zur Nationalversammlung (2017) erreichte die RN 13,2 % der Stimmen.10

Eine Übersicht zu den Wahlerfolgen der AfD seit ihrem ersten Antritt bei Bundestagswahlen 2013 auf nationaler und regionaler Ebene (Tabelle 2) mit Angabe der Gewinne bzw. Verluste gegenüber den jeweiligen letzten Wahlen erlaubt einen vertiefenden Blick auf die bundesdeutschen Dynamiken und Differenzen.

10 Quellen: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/941937/umfrage/stimmenanteile-rechtspopulistischerparteien-in-europa/ [08. 08. 2020]; eigene Recherchen.

165

Rechtspopulismus in Ostdeutschland

Tabelle 2: Wahlergebnisse der AfD zu Landesparlamenten, zum Bundestag und zum Europäischen Parlament seit 2016 mit Angabe von Gewinnen und Verlusten zur Vorgängerwahl. Wahl

Datum

Baden-Württemberg

13. 03. 2016

Sachsen-Anhalt

Rheinland-Pfalz

Anteil

Anteil in %

Gewinn/Verlust

15,1

15,1

13. 03. 2016

24,3

24,3

18. 09. 2016

14,2

14,2

13. 03. 2016

12,6

Mecklenburg-Vorpommern

04. 09. 2016

Saarland

26. 03. 2017

6,2

6,2

14. 05. 2017

7,4

7,4

Berlin

Schleswig-Holstein

07. 05. 2017

Bundestag

24. 09. 2017

Bayern1

14. 10. 2018

Nordrhein-Westfalen Niedersachsen Hessen

20,8

12,6

5,9

12,6

20,8

5,9 7,9

15. 10. 2017

6,2

6,2

28. 10. 2018

13,1

9,1

10,2

10,2

26. 05. 2019

6,1

0,6

Brandenburg

01. 09. 2019

23,5

11,4

Thüringen

27. 10. 2019

23,4

Bremen

2

Europäisches Parlament Sachsen

Hamburg

3

26. 05. 2019

01. 09. 2019 23. 02. 2020

11,0

27,5 5,3

3,9

17,7

12,8

−0,8

Erläuterungen: 1 Bayern: Gesamtstimmen (bis zu zwei Stimmen je Wähler); 2 Bremen: Personenund Listenstimmen (bis zu fünf Stimmen je Wähler); 3 Hamburg: Landesstimmen (bis zu fünf Stimmen je Wähler).11

Mit dieser Übersicht erscheint die AfD tatsächlich als Partei, deren wesentliches und zudem stabileres Unterstützerpotential im Osten der Bundesrepublik beheimatet ist. Während sie bisher in den westlichen Bundesländern – mit Ausnahme Baden-Württembergs – unter 15 Prozent und vielfach sogar deutlich unter 15 Prozent rangiert, ja vielfach sogar kaum mehr als 5 Prozent der Stimmen erhält – wie im Saarland, in Niedersachsen oder in 11 Quelle: Frank Decker 2018/2020: Wahlergebnisse und Wählerschaft der AfD. Online: https://www.bpb.de/ politik/grundfragen/parteien-in-deutschland/afd/273131/wahlergebnisse-und-waehlerschaft [17. 09. 2020].

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Schleswig-Holstein –, bewegt sie sich im Osten im Bereich von einem Viertel aller abgegebenen Stimmen – in Sachsen sogar Richtung 30 Prozent. Sie ist im Osten der Bundesrepublik also ­zwischen zwei- bis über viermal so erfolgreich wie in den westlichen Ländern. Eine Umfrage (Bürgerpanel) im Rahmen des Demokratiemonitors der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2019 bestätigt einerseits die in Tabelle 2 prominente Ost-West-Scheidung, da in den östlichen Ländern 22 Prozent eine Wahlabsicht für die AfD bekundeten, in den westlichen Ländern aber ,nur‘ 13,4 Prozent.12 Differenziert man diese Werte wie die Wahlentscheidungen in einem ersten Schritt aber hinsichtlich sozialgeografischer, soziodemografischer und sozialstruktureller Merkmale und Verteilungsmuster, werden weitere relevante Faktoren erkennbar, die sich einer einfachen OstWest-Scheidung verweigern. Vier einflussreiche Faktoren sollen herausgestellt werden. Die Chancen der AfD-Unterstützung und mithin die Wahrscheinlichkeit höherer Stimmenanteile in Wahlen steigen: (a) mit dem Vorhandensein und der Bedeutung ländlich-peripherer Teilregionen, wie etwa Ostsachsen oder die Südwestpfalz, (b) mit der Verbreitung prekärer ökonomischer Beschäftigungsverhältnisse und unsicherer individueller Entwicklungsperspektiven, wie etwa im Ruhrgebiet, in Bremerhaven oder Ostbrandenburg, (c) mit einem höheren Altersdurchschnitt der jeweiligen Bevölkerung, wie etwa die ostsächsischen Landkreise versus Großstädte, sowie (d) mit einem höheren Anteil der männlichen Bevölkerung.13 Diese Differenzierungslogik lässt sich in einem zweiten Schritt mit Blick auf die Verteilung von und Zugehörigkeit zu sozialen Milieus 14 weiter entfalten. Erkennbar werden hier 12 Robert Vehrkamp 2019: Gesamtdeutsche Konfliktlinie oder neue Ost-West-Spaltung? In: Einwurf – Ein Policy Brief der Bertelsmann Stiftung 3, 1 – 8, hier 2. 13 Ausführlicher: Manow 2018; Schröder 2018. 14 Soziale Milieus vereinigen Merkmale sozialer Statuspositionen (wie Bildung, Einkommen, Vermögen und daraus folgende Schichtzugehörigkeiten: Oberschicht bis Unterschicht) mit soziokulturellen Dimensionen der Lebensorientierungen, wie Autonomie- vs. Ordnungsbedürfnis, Experimentierfreude vs. Routineorientierung, Hedonismus vs. Arbeitsethos oder Modernisierungsaffinität vs. Modernisierungsskepsis und verdichten sie zu sozialstrukturellen Gruppen „Gleichgesinnter“. Beispiele für soziale Milieus wären: traditionelles Milieu (zwischen Unter- und Mittelschicht angesiedelt und an traditionellen Lebensweisen wie Ordnung und Besitz orientiert), prekäres Milieu (vor allem in den Unterschichten verortet und an Besitz/Status orientiert), Milieu der Performer (Mittel- und vor allem Oberschichtenmilieu mit Orientierung an „Machen und Erleben“) oder das liberal-intellektuelle Milieu (Mittel- und Oberschichtenangehörige mit Orientierung auf Individualität, Emanzipation und Selbstverwirklichung). Einführungen, Übersichten und Reflexionen zu ­diesem Forschungsansatz bei Stefan Hradil 2006: Soziale Milieus – eine praxisorientierte Forschungsperspektive. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 44/45, 3 – 10 und Gunnar Otte 2008: Sozialstrukturanalysen mit Lebensstilen. Eine Studie zur theoretischen und methodischen

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Korrelationsmuster, die stärker sind als die Variable der regionalen Verortung ­zwischen Ost und West. Während sich etwa im erfolgreichen und modernisierungsoptimistischen Milieu der Liberal-Intellektuellen in Westdeutschland 8 Prozent und in den östlichen Ländern 13 Prozent für die AfD entscheiden (wollen), liegen die Werte im modernisierungsskeptischen und abstiegsgefährdeten prekären Milieu in den westdeutschen Bundesländern bei 30 Prozent, in den ostdeutschen sogar bei 46 Prozent.15 Die Bedeutung der sozialstrukturellen Dimension wird auch jenseits der reinen rechtspopulistischen Wahlabsicht nachdrücklich sichtbar, wenn nach dem gegenwärtigen Funktionieren der Demokratie in der Bundesrepublik gefragt wird. Bei der Antwortmöglichkeit „überhaupt nicht“ beträgt das Gefälle unter den Wahlberechtigten ­zwischen Ost- und Westdeutschland über alle sozialen Gruppen hinweg 14 Prozent gegenüber 8 Prozent. Im sozialen Milieu der Performer gibt es jedoch gar keine Differenz ­zwischen Ost und West. In beiden Großregionen teilen lediglich 4 Prozent der Befragten diese Ansicht. Demgegenüber sind es im Westen 22 Prozent der dem Milieu der Prekären Zugehörigen und 35 Prozent in den östlichen Bundesländern, w ­ elche die Ansicht vertreten, dass die Demokratie in Deutschland „überhaupt nicht funktioniert“.16 Dass diese zum Ost-West-Verhältnis querliegenden sozialstrukturellen Korrelationen zu den ausgewiesenen Unterschieden ­zwischen Ost und West in der Unterstützung der AfD in den Wahlen der letzten fast zehn Jahre führten (Tabelle 2), liegt auch daran, dass die verschiedenen sozialen Milieus in Ost- und Westdeutschland hinsichtlich ihrer Größenordnungen keineswegs gleich verteilt sind. Während etwa das prekäre Milieu im Westen etwa 8 Prozent der Wohnbevölkerung umfasst, sind es in Ostdeutschland 13 Prozent. In analoger Weise gehören dem ebenfalls AfD-affinen Milieu der bürgerlichen Mitte im Osten 15 Prozent der Bevölkerung an, im Westen 12 Prozent. Umgekehrt lassen sich den eher AfD-distanzierten Milieus der Liberal-Intellektuellen und dem der Expeditiven jeweils 6 Prozent in Ostdeutschland zurechnen, während es im Westen 8 Prozent bzw. 9 Prozent sind.17

Neuorientierung der Lebensstilforschung. Springer VS: Wiesbaden sowie (für die Sinus-Milieus). Online: https://www.sinus-institut.de/sinus-loesungen/sinus-milieus-deutschland/ [23. 09. 2020]. 15 Vehrkamp 2019, 2. 16 Vehrkamp 2019, 6. Bei dieser Frage und den standardisierten Antwortmöglichkeiten ist allerdings – worauf zurückzukommen ist (These 7) – unklar, ob etwa eine Einschätzung, die gegebene Demokratie „funktioniere (überhaupt) nicht“, gleichbedeutend mit einer rechtspopulistischen Einstellung ist. Die Antwort kann auch durch basisdemokratische, sozialistische oder, breiter, linkspopulistische Überzeugungen grundiert sein. Insofern sind Interpretationen, die harsche Kritik an der real existierenden Demokratie sogleich einem rechtspopulistischen Geist zuordnen, (mindestens) kurzschlüssig. Allerdings gilt das für Ost- wie Westdeutschland. Zugleich ist aber durch eine analytische Kreuzung mit der Sympathie oder der Wahlabsicht für die AfD (die im Osten deutlich höher als im Westen ist) eine erhebliche Validierung rechtspopulistischer Syndrome und Anteile möglich (siehe Thesen 6 und 7). 17 Vehrkamp 2019, 4.

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Insofern ließe sich zunächst pointieren, dass die deutlichen Unterschiede der rechtspopulistischen Wahlerfolge ­zwischen Ost und West in hohem Maße auf soziodemografisch, sozioökonomisch und sozialstrukturell differente Lagen in beiden Landesteilen zurückzuführen sind. Diejenigen Bevölkerungsgruppen (wie Ältere, Männer, in p­ eripheren ländlichen Räumen Lebende), sozialen Lagen (prekär abhängig Beschäftigte oder selbstständig Tätige wie Kleinunternehmer*innen/Gewerbetreibende) und Milieus (wie das prekäre, traditionale oder bürgerliche Milieu), die der AfD und generell rechtspopulistischen Einstellungssyndromen zuneigen, sind im Osten systematisch stärker vertreten als im Westen der Republik.18 Aber und damit zu einer zweiten Pointierung: Die gleichen Daten zur milieuabhängigen Nähe, Unterstützung und Wahl rechtspopulistischer Parteien und ihrer Ideologien zeigen auch und vielfach signifikant, dass deren Verbreitung und Intensität in den östlichen Bundes­ ländern über jener im Westen liegt. Zur Erinnerung: Im liberal-intellektuellen Milieu sind es nur 8 Prozent in den westdeutschen Ländern, ­welche die AfD wählen (wollen) – im Osten aber 13 Prozent, das heißt mehr als 50 Prozent über dem westlichen Wert. Das gilt auch für das prekäre Milieu. Während hier im Westen 30 Prozent die AfD unterstützen und wählen, ist es im Osten fast die Hälfte der Befragten (46 Prozent). Was daraus folgt, ist evident: Es reicht nicht, sich mit den aktuellen objektiven Struktur- und Lagedaten zu befassen, wenn die Stärke rechtspopulistischer Einstellungen und Bewegungen im Osten Deutschland erklärt werden soll. Es braucht auch und nicht zuletzt eine Analyse der langzeitig gewachsenen Mentalitäten und politischen Kulturen sowie gesellschaftspolitischen Konfliktlinien und Konflikterfahrungen und: deren Zusammenhang mit den objektiven institutionellen wie strukturellen Entwicklungspfaden und jeweiligen Handlungssituationen, will man nicht Gefahr laufen, kurzschlüssig zu argumentieren. These 3: In der Perspektive der longue durée hat ,Ostdeutschland‘19 strukturelle, institutionelle und kulturelle Entwicklungspfade ausgeprägt, die für moderne rechtspopulistische Bewegungen und Ideologien in besonderer Weise anschlussfähig sind. Nach den frühen Kolonisierungsbewegungen seit dem 10./11. Jahrhundert lässt sich eine erste wirkmächtige Periode von der Reformation bis zum 18 Vehrkamp 2019; Schröder 2018; Weisskircher 2020. 19 Hier und im Folgenden verstehe ich unter Ostdeutschland diejenigen Regionen, w ­ elche heute die neuen Bundesländer und Berlin umfassen. Aus historischer Perspektive waren das die sogenannten ostelbischen und östlich der Saale liegenden Territorien des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (und deren Stämme bzw. Bevölkerungen), ab dem 17. Jahrhundert insbesondere die Herrschaften in Pommern, Mecklenburg, Anhalt, Brandenburg/Preußen, Sachsen und die Kleinstaaten bis an die Grenze zu Bayern und den hessischen Fürstentümern. Im Weiteren verwende ich auch den Begriff Mitteldeutschland, wenn die Region z­ wischen der sächsischen und niederschlesischen Provinz Preußens, Sachsen und dann s­ päter Thüringen (als Freistaat 1920 gegründet) adressiert wird oder mit Bezug auf die Zeit nach 1990 die drei Bundesländer Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen gemeint sind.

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Beginn der Industrialisierung identifizieren, die nicht nur die ostelbischen Traditionen kolonialer Ängste und Ambitionen, starker Heimatverbundenheit und Xenophobien sowie des gutsherrschaftlichen Paternalismus aufnahmen. Vielmehr wurden diese lutherisch und dann absolutistisch überformt und konsolidierten sich in rechtspopulismusaffinen Herrschafts- und Volksmentalitäten. Die langzeitige und komplexe Formierung ostdeutscher Gesellschaftlichkeiten bis etwa 1830 kann hier nicht wirklich rekonstruiert werden. Ich beschränke mich daher auf drei Dimensionen mit exemplarischen Erläuterungen zum sächsischen Fall.20 Erstens: Generell erlebten die heute ostdeutschen, hier als „Ostelbien“ verstandenen Regionen seit dem Zusammenbruch des Imperium Romanum und insbesondere seit dem 10. und 11. Jahrhundert wechselnde Perioden imperialer bzw. kolonialer Eroberung, Verdrängung und Flucht, wobei die Beziehung z­ wischen den germanischen und slawischen Stämmen und Clans eine besondere Bedeutung besaß. Das Problem über viele Jahrhunderte (10. – 16. Jahrhundert) war, dass sich niemand im nach Osten wandernden Grenzraum, den „Ostmarken“, wirklich sicher und dauerhaft beheimatet fühlen konnte, weil neue (Gegen-)Angriffe ,aus dem Osten‘ oder Widerstandshandlungen der slawischen Clans drohten, weil man aber als Thüringer*in oder Sachse/Sächsin auch selbst sich anschickte, die östlichen Gebiete tiefer zu kolonisieren. Dabei wurden Bäuerinnen und Bauern, aber auch Händler*innen sowohl von den deutschen wie von den slawischen Fürsten in der Regel gegenüber der autochthonen Bevölkerung privilegiert und die Slaw*innen oft als zweitklassig behandelt. Das Spektrum der kolonialen und imperialen Beziehungen reichte von Versklavung über Vertreibung bis zu sozialer Überschichtung, so dass die soziale Integration multipler Ethnien in einigen Regionen bis in das 20. Jahrhundert hinein fragil und vielfach konfliktreich blieb. Dazu traten – im sächsischen Fall besonders dramatisch und regelmäßig tragisch verlaufend – die kriegerischen Auseinandersetzungen im europä­ ischen und s­ päter deutschen Rahmen um feudale und s­ päter absolutistische Herrschaftsansprüche und neue Einflusszonen. Dabei waren für die heute ostdeutschen Regionen nicht zuletzt der preußisch-österreichische Dualismus und die preußisch-sächsischen Auseinandersetzungen prägend. Nur exemplarisch ist auf den Dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648), die Schlesischen Kriege (1740 – 1763) oder die Napoleonischen (Befreiungs-) Kriege (1806 – 1814) zu verweisen, die für das Kurfürstentum Sachsen und seine expansiven 20 Als gute und zugleich streitbare Übersichten zu den hier relevanten Epochen für (Ost-)Deutschland und Sachsen: Frank-Lothar Kroll 2014: Geschichte Sachsens. C. H. Beck: München, 7 – 79; Hans-Ulrich Wehler 1987: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700 – 1815. C. H. Beck: München; ders. 1987: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815 – 1845/49. C. H. Beck: München; James Hawes 2019: Die kürzeste Geschichte Deutschlands. Propyläen: Berlin, 51 – 149; Christopher Clark 2007: Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600 – 1947. Deutsche Verlags-Anstalt: München.

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Ambitionen sukzessive in militärischen Debakeln und erheblichen Gebietsverlusten (vor allem 1815) mündeten. Unter dieser langzeitig wirkenden gesellschaftlichen Bedingung einer fragilen Transit- und Randzonenexistenz in der europäischen Mittellage prägten sich in Ostelbien über Jahrhunderte Mentalitäten aus, die in den Ambivalenzen von Fremdherrschaft und Fremdbeherrschung, kolonialen Siegen und imperialer Besetzung oder Teilung durch Dritte, in der Erzeugung und Erduldung von Abhängigkeit sowie der Angst vor äußeren Mächten xenophobe Grundstimmungen sowie ethnisch-regionale kollektive Identifikationsüberschüsse (überbordender Abgrenzungsbedarf und Heimatstolz, Syndrome negativer Identität usw.) erzeugten und stabilisierten.21 Zweitens: Die Reformation (ab 1517) nahm nicht nur im damaligen Sachsen seinen Ausgang, sondern war auch in Ostdeutschland z­ wischen Kolberg und Lübeck, Erfurt und Dresden bis nach Breslau besonders durchsetzungsfähig und gesellschaftsprägend, wobei das Lutheranertum dominierte. Diese Spielart des Protestantismus konnte mit ihrer Kombination von Innerlichkeit, paternalistischer und teils ethnifizierter Gemeinschaftskonzeption sowie Obrigkeitshörigkeit an die mentalen Muster des frühen Mittelalters anknüpfen und gab ihnen zugleich eine spezifische Gestalt und Zuspitzung, was durch die Religionskonflikte und den Dreißigjährigen Krieg noch untersetzt wurde. Auf die tatsächlichen und vermeintlichen Gefährdungen der regionalen und religiösen Identität wurde mit der Einkapselung (und Überhöhung) des Eigenen und der Abkapselung vom Fremden (und dessen Verkennung wie Missachtung) geantwortet. Drittens: Das absolutistische Zeitalter (etwa 1650 bis 1830) und der Barock führten in ganz Ostdeutschland und mit besonderer Konturiertheit in Sachsen (Augusteische Epoche) zu einer gezielten Ergänzung der politisch-militärischen Expansionsbewegungen und Machtzentralisation durch wirtschaftliche Institutionenbildungen und künstlerisch-kulturelle Projekte der Gesellschaftsgestaltung. Im (namentlich: sächsischen) Barock korrespondierte eine Hofkultur der Repräsentation und Förderung der Künste, die das Andere und Fremde eher als Ornament denn als widersprüchliches Problem (an)erkannte, die ­dieses exotisierte, instrumentalisierte und sozial abwertete, mit einer barocken Volkstümlichkeit, die gesellige Gemütlichkeit, Gastlichkeit und Genuss mit Konservatismus, Attentismus und exkludierender Gemeinschaftsbildung verknüpfte. Im barocken Lebensstil (herausragend: der Sachsen) gingen aristokratische und (klein-)bürgerliche Mentalitätsmuster der symbolisch überhöhten Selbstvergewisserung und des stolzen Genießens des Eigenen – auch auf Kosten und unter Ausschluss Dritter – eine eigentümliche Symbiose ein.22

21 Im Übrigen hat das in durchaus vergleichbarer Weise auch auf der östlichen Seite der Marken stattgefunden, wofür Polen und das polnische Nationalbewusstsein ein paradigmatisches Beispiel darstellen. 22 Als knapper Überblick für Sachsen: Kroll 2014, 51 – 68.

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These 4: Die Periode der beschleunigten Industrialisierung bis zur Herrschaft des Nationalsozialismus (etwa 1820 bis 1945) ist in Ostdeutschland und herausgehoben in Sachsen von einem radikalen Gesellschaftswandel gekennzeichnet. Sowohl kulturelle und mentale Erbschaften (These 3) wie auch besondere sozioökonomische Entwicklungsbedingungen sorgten dafür, dass die partizipativ-demokratischen Ansätze und Institutionenbildungen relativ schnell durch antidemokratische und linkswie rechtsradikale Bewegungen suspendiert wurden und sich Ostdeutschland und darin Sachsen als wichtige Schrittmacher- und Trägerregionen der nationalsozialistischen Herrschaft erwiesen. Fünf Konstellationen, Entwicklungsdynamiken und Formierungsresultate erscheinen von besonderer Relevanz:23 Erstens: Der seit Anfang des 19. Jahrhunderts erfolgende Industrialisierungsschub generierte nicht nur neue soziale Klassen bzw. Klassenfraktionen (wie die Industrieproletarier oder die neue Mittelklasse), sondern neue soziale Kämpfe um Anerkennung und Umverteilung. Infolge des gerade im Osten des Kaiserreiches durch die spätabsolutistische Herrschaft und lutherische Staatskirche besonders ausgeprägten ständischen, auf Konservierung, Paternalismus und Abschottung gegenüber fremden Gruppen setzenden Habitus wurden erste Versuche der Institutionalisierung demokratischer und neuer ökonomischer Teilhaberechte teils verzögert, teils nur marginal umgesetzt, teils auch wieder aufgehoben. Das zeigte sich im Königreich Sachsen an der 1850 erfolgten Rücknahme der 1848/1849 erkämpften Vereins- und Versammlungsfreiheit oder an der späten Einführung der Gewerbefreiheit (1861) ebenso wie an der Wiedereinführung eines Dreiklassenwahlrechts 1896.24 Zugleich und auch deshalb besaßen wichtige ostdeutschen Regionen, herausragend Sachsen, eine Avantgardefunktion in der Formierung bürgerlicher und proletarischer Empörungs- und Protestkulturen, wie nicht nur die Aufstände in der bürgerlichen Revolution 1848/1849, sondern auch die Geschichte der Arbeiterbewegung und namentlich der Sozialdemokratie („Rotes Sachsen“) eindrücklich belegen.25 Zweitens: Die kapitalistische Industrialisierung in Mitteldeutschland und vor allem in Sachsen konzentrierte sich mit einigen regionalen Schwerpunkten z­ wischen Leipzig, Chemnitz, dem Westerzgebirge und dem Vogtland, aber auch der Lausitz bis in das 20. Jahrhundert hinein auf Sektoren, Branchen und Industrien, die – wie die Textil-, Spielzeug- und Musikinstrumenten­industrie oder Teile des Berg- und Maschinenbaus – zunächst hohe 23 Als Überblicke zu diesen Zeitperioden: Clark 2007; Kroll 2014, 34, 69 – 113; Hans-Ulrich Wehler 1995: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des ­Ersten Weltkrieges 1849 – 1914. C. H. Beck: München; ders. 2003: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 4: Vom Beginn des E ­ rsten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914 – 1949. C. H. Beck: München; Hawes 2019, 150 – 276. 24 Als knapper Überblick für Sachsen: Kroll 2014, 83 – 95. 25 Kroll 2014, 88 – 106.

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Wachstumsdynamiken verzeichneten, wobei der Anteil von kleineren und mittelständischen Unternehmen besonders hoch war.26 Zugleich gehörten diese Sektoren bereits ab der Jahrhundertwende nicht mehr zu den technisch-technologischen Schrittmachern, wie es die Elektrotechnik oder die Chemieindustrie darstellten. Die mitteldeutsche und gerade die sächsische Industrie erwiesen sich daher als zunehmend vulnerabel gegenüber billiger Konkurrenz (nicht zuletzt aus dem Osten), Weltmarktturbulenzen und Überakkumulationskrisen. Dieses partielle Zurückbleiben und die Krisenanfälligkeit eskalierten in der Weltwirtschaftskrise 1929 – 1932, in der nicht nur hunderte mittelständische Industriebetriebe Konkurs anmelden mussten, weil unter anderem in der Textilindustrie die Exporte um über 80 Prozent schrumpften, sondern eine weit über dem Durchschnitt des Deutschen Reiches liegende Arbeitslosigkeit grassierte. Zum Ende der Krise (1933) betrug deren Quote in Sachsen fast 40 Prozent.27 Drittens: Politisch-kulturell und praktisch-politisch verdichteten sich diese aufgeschichteten (Volks-)Mentalitäten, politischen Herrschaftsstrategien und Protestbewegungen sowie sozioökonomischen Strukturen und krisenhaften Dynamiken in einer rasch wachsenden Skepsis, ja Distanz gegenüber den seit 1918/1919 endlich gewonnenen demokratischen Freiheits- und Teilhabeinstitutionen, die in den Augen vieler die versprochenen Wohlfahrtsgewinne und Aufstiegschancen nicht zu realisieren vermochten, sondern in jeder Hinsicht zu versagen schienen. Mehr noch, die gerade in Mitteldeutschland besonders starken Empörungs- und Protestbewegungen radikalisierten sich und weite Teile des Proletariats, aber auch des massiv von Statusverlusten bedrohten Klein- und Großbürgertums. Das zeigte sich ab 1930 in einem raschen Anwachsen der Mitglieder und der Unterstützung links- wie rechtsradikaler Parteien und Vereine, vor allem der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Folgerichtig besaßen diese beiden sowie weitere rechtsradikale Parteien (zum Beispiel die Deutschnationale Volkspartei DNVP) ihre Hochburgen in den ländlichen protestantischen sowie traditionell industrialisierten Kreisen und Städten Sachsens wie Westsachsen, Erzgebirge oder Vogtland (aber auch im weiteren Mitteldeutschland).28 Bei der Reichstagswahl 1930 erreichten in Sachsen eindeutig autoritär oder antidemokratisch orientierte Parteien einen Stimmenanteil von etwa 65 Prozent, im März 1933 waren es fast 75 Prozent; analoge Werte finden sich zum Beispiel für die Wahlen in Thüringen. Demgegenüber betrugen die Stimmenanteile derartiger Parteien im katholisch geprägten Freistaat Baden 1930 klar unter 50 Prozent, 1933 waren es rund 60 Prozent.29 26 1846 betrug der Anteil der in der sächsischen Textilindustrie Beschäftigen an allen Erwerbstätigen 34 Prozent. Kroll 2014, 86. 27 Konstantin Hermann, André Thieme 2013: Sächsische Geschichte im Überblick. Texte, Karten, Grafiken. Edition Leipzig: Leipzig, Dresden, 173; Kroll 2014, 107. 28 Die erste Ortsgruppe der NSDAP außerhalb Bayerns wurde 1921 in Zwickau gegründet. 29 Dabei wurden jeweils die KPD, NSDAP, DNVP und weitere Kleinparteien im autoritären, durchweg rechtsnationalistischen, teils rechtspopulistischen Spektrum addiert (im Zweifelsfall auch nur zu 50 Prozent). Auf demokratischer Seite wurden insbesondere SPD und Zentrumspartei (sowie einige Kleinparteien

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Viertens: Das nationalsozialistische Herrschaftsregime verdankte daher sozialstrukturell und subkulturell nicht nur den besonderen bayerischen Gegebenheiten und Münchner Milieus, sondern auch und wesentlich den (im heutigen Sinne) ostdeutschen, darin nicht zuletzt sächsischen Gesellschafts- und Mentalitätsformierungen seinen rasanten Aufstieg, seine Konsolidierung und seine Herrschaftssicherung bis 1945. Die Sehnsucht nach wirtschaftlichem Statuserhalt oder -wiedergewinn nach den katastrophalen Verlusten in der Weltwirtschaftskrise, die auch wegen der preußischen Dominanz verbreitete Distanz und der Protest gegenüber den demokratischen Institutionen der Weimarer Republik, die Attraktivität einer lutherisch grundierten, exklusiv und vielfach ethnisch, wenn nicht rassistisch interpretierten Volksgemeinschaft unter einer charismatischen, sich gerne auch in barocker Manier darstellenden staatlichen Führung, der Wille, sich endlich gegen die Vorwürfe, Entwertungen und Demütigungen des Versailler Vertrages und der westlichen, vor allem aber auch östlichen Nachbarn deutlich zur Wehr zu setzen, wie auch die hohe Organisationsbereitschaft in Sachsen und Mitteldeutschland insgesamt repräsentierten entscheidende soziale und (politisch-)kulturelle Bausteine für die besonders hohe Legitimität des NS-Regimes in dieser Großregion und die Engagementbereitschaft weiter Teile der Bevölkerung im und für das Regime. Der Gau Sachsen der NSDAP besaß 1935 mit 9,4 Prozent den höchsten Anteil aller Gaue an der Gesamtmitgliedschaft der Partei. Analog verhielt es sich bei wichtigen angeschlossenen Verbänden wie der Deutschen Arbeitsfront oder beim Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund.30 Das war kein Zufall. Fünftens: Angesichts dieser Kontexte und Anschlussfähigkeiten ist es evident, dass die nationalsozialistische Ideologie und Herrschaftspraxis gerade in Mitteldeutschland und den östlichen Teilen Preußens mit ihrer Gewaltkultur, mit Rassismus und Antisemitismus sowie mit Führerkult und Volksgemeinschaft mehr noch als in anderen Regionen des Reiches als attraktiv erfahren wurde, Wurzeln schlug und bis zum Ende des Regimes effektiv funktionierte.31 These 5: Der Staatssozialismus in der DDR (1946/49 – 1989) schloss in bestimmter Hinsicht an diese Regimeverfasstheiten und die sie mittragenden Mentalitätsmuster und politischen Kulturen mit kulturellen Homogenisierungsstrategien, einer versteckten Xenophobie sowie gleichzeitiger Unterund Überpolitisierung der Gesellschaft unter nichtdemokratischen und zentralistischen Vorzeichen wie die DVP) zusammengerechnet. Die Wahlstatistiken für die ausgewählten Länder und die Ergebnisse für die Parteien in den Wahlen 1930 und 1933 finden sich unter: http://www.gonschior.de/weimar/ index.htm [22. 09. 2020]. 30 Armin Nolzen 2014: Die sächsische NSDAP nach 1933. Sozialstrukturen und soziale Praktiken. In: Günther Heydemann et al. (Hg.): Sachsen und der Nationalsozialismus. Vandenhoeck und Ruprecht: Göttingen, 43 – 58, hier 45 f., Tab. 1. 31 Für Sachsen: Günther Heydemann, Jan Erik Schulte, Francesca Weil (Hg.) 2014: Sachsen und der Nationalsozialismus. Vandenhoeck und Ruprecht: Göttingen.

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an, was zur Formierung eines eigentümlichen ,realsozialistischen Populismus‘ führte. Seit den 1970er Jahren erodierte das staatssozialistische Herrschaftsregime und wurde im Herbst 1989 in der Friedlichen Revolution gestürzt, in der sich rasch neue (rechts-)populistische Syndrome zeigten.32 Erstens: Die in der DDR seit den frühen 1950er Jahren angestrengte Zerstörung der bürgerlichen Mittel- und Oberklasse(n) bedeutete nicht nur die Beseitigung der wesentlichen Trägerschicht politischer Autonomie- und Mitbestimmungsbegehren, sondern auch des im engeren Sinne politischen und zivilgesellschaftlichen Engagements sowie weltoffener und plural orientierter Lebensstile und Kulturen;33 auch wenn das Herrschaftsregime d ­ ieses Ziel nicht gänzlich erreichte, schon weil man auf die Schicht der „Intelligenz“ angewiesen war und sich Lebenswelten nicht vollständig politisch kontrollieren lassen. Weder die Residuen bürgerlicher Lebensweisen, wie sie insbesondere in konservativ-lutherischer Variante im Süden der DDR (Zentrum: Dresden) gepflegt wurden, noch der propagierte „proletarische Internationalismus“ oder die Versuche der Etablierung einer staatssozialistischen Kunst und Kultur unter Bezug auf das Welterbe taugten als Ersatz oder ernsthaftes Alternativprogramm. Die „sozialistische Zielkultur“ (Winfried Thaa) verkörperte bis zum Ende einen proletarisch grundierten, auf soziale Homogenität zielenden, das Abweichende und Plurale, das Inter- und Transkulturelle marginalisierenden, es bestenfalls als Ornament und Exotik begreifenden, sowie Freund-Feind-Schemata praktizierenden und in sich widersprüchlichen Volkserziehungsansatz.34 Trotz des Verordnungscharakters waren diese Orientierungen aber in der „durchherrschten Gesellschaft“ der DDR (Alf Lüdtke, Jürgen Kocka) wirkmächtig, zumal sie an tradierte Mentalitätsmuster gerade der proletarischen und ländlich-kleinbürgerlichen Schichten anschließen konnten (These 3 und 4). 32 Als Überblicke zum Staatssozialismus in der DDR: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr (Hg.) 1994: Sozialgeschichte der DDR. Klett-Cotta: Stuttgart; Kurt H. Jarausch (Hg.) 1999: Dictatorship As Experience. Towards a Socio-Cultural History of the GDR. Berghahn: Oxford, New York; Dieter ­Staritz 1996: Geschichte der DDR 1949 – 1990. Moderne Deutsche Geschichte 11. Suhrkamp: Frankfurt am Main; Hans-Ulrich Wehler 2008: Deutsche Gesellschaftsgeschichte Band 5: Bundesrepublik und DDR 1949 – 1990. C. H. Beck: München. Zusammenfassend für Sachsen: Kroll 2014, 114 – 120. 33 Innerhalb dieser „Zerstörung“ stellte die Emigration hunderttausender Angehöriger dieser Klassen erst in die westlichen Besatzungszonen und ab 1949 in die Bundesrepublik ein entscheidendes Element mit Langzeitfolgen für die ostdeutschen politischen Kulturen dar. Dass – wie eben (These 4) erläutert – diese Klassen gerade in Sachsen und Mitteldeutschland keineswegs immun gegenüber rechtspopulistischen und -radikalen Ideologien waren, entwertet ­dieses strukturelle Argument nicht, unterstreicht aber auch hier die Notwendigkeit einer Kontextualisierung und Spezifizierung. 34 Osteuropäer*innen wurden trotz aller Brüderlichkeits- und Solidaritätspropaganda nicht nur vom ,gemeinen Volk‘, sondern auch von der Mehrheit der Funktionärsklasse als fremdartig, minderwertig, Habenichtse oder selbst als Okkupant*innen der ehemaligen Ostgebiete und andauernde Bedrohung betrachtet. Waren, die man dort exklusiv beziehen konnte – wie westliche Zigaretten, Platten oder Textilien –, wurden freilich gerne gekauft. Ähnlich, aber exotisierend und oft exkludierender wurden nichteuropäische Ausländer*innen und Arbeitskräfte (aus z. B. Algerien oder Vietnam) behandelt.

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Zweitens: Mit Blick auf die politisch-kulturellen Erbschaften des Staatssozialismus ist zunächst die gleichzeitige und widerspruchsgeladene Über- und Unterpolitisierung der Gesellschaft hervorzuheben.35 Überpolitisierung bezieht sich auf den in modernen totalitären und autoritären Ordnungen omnipräsenten Versuch, jeden gesellschaftlichen Aspekt und jedes Lebensproblem zum Gegenstand zentralisierter staatspolitischer Kontrolle und Formierung werden zu lassen. Das hat vor allem mit der Idee der totalen und wesentlich staatlich-politischen Umgestaltung der Gesellschaft und Erzeugung des „neuen Menschen“ zu tun, zugleich aber auch mit der erfahrungsgesättigten Angst, dass gerade in Diktaturen alles Private politisch wird, da es potenziell die (totale) Herrschaft herausfordert. Daher erscheint das Politische im Kern als Staatliches, das wiederum mit der Gesellschaft verschmolzen wird. Zugleich findet – im begrifflichen Sinne Hannah Arendts 36 – die Auslöschung des Politischen oder die „Atomisierung der Gesellschaft“ statt. Das Politische, verstanden als freies Miteinander-Handeln verschiedener Individuen zur Bearbeitung gemeinsamer Angelegenheiten,37 wird ersetzt durch hierarchisches, zentralistisches und parteiliches politisch-administratives Handeln, das durch die „Transmissionsriemen“ (Lenin) der staatlich kontrollierten gesellschaftlichen Organisationen 38 bis zum Individuum hinabreicht, ­dieses beobachtet, institutionell steuert und vergemeinschaftet. Ein demokratisches intermediäres System gibt es daher so wenig wie eine autonome Zivilgesellschaft.39 Habituell resultierte das im Anschluss an die vorgängigen autoritären und totalitären Herrschaftsregime für breite Bevölkerungsgruppen in einem staatszentrierten Politikverständnis, in dem sich die individualisierte Adressierung des Staates als allzuständige Instanz (etwa durch Beschwerden und „Eingaben“), ,Pflichtübungen‘ des Engagements in den gesellschaftlichen Organisationen sowie der Rückzug in private Lebensweltnischen (Kleingarten, Freund*innenkreise, Versorgungsnetzwerke) in paradoxer Weise mit Systemmisstrauen, einer allgemeinen Staats-, Eliten- und Institutionenkritik sowie einem vielfach attentistischen 35 Diese Über- und Unterpolitisierung trifft auch – wenngleich mit anderen Vorzeichen, Mechanismen und Eskalationsdynamiken – den Nationalsozialismus, weshalb auch diesbezüglich Anschlussfähigkeiten bestanden (siehe ausführlich Hannah Arendt 1986: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Piper: München). 36 Arendt 1986. 37 Hannah Arendt 2003: Was ist Politik? Piper: München. 38 Diese umfassten – von der Jugendorganisation der Partei (FDJ) über Gewerkschaften und Frauenbund bis zu Wohlfahrtsverbänden und Sportvereinen – alle (halb-)freiwilligen Assoziationen des sogenannten vorpolitischen Raumes, aber auch des Dritten Sektors. Nur kirchlich gebundene Organisationen konnten sich dem ernsthaft entziehen (dazu Kaelble et al. 1994; Jarausch 1999). 39 Das bedeutet freilich nicht, dass in der DDR gar kein Kennenlernen und Einüben von demokratischen Mitbestimmungsverfahren gab. In den „Grundeinheiten“ all dieser Organisationen (Schulklassen, Arbeitsgruppen, Ortsgruppen usw.) war die Kontrolle im Regelfall beschränkt und es bestanden Freiräume für eigensinnige Projekte, Aushandlungsprozesse und Entscheidungen – soweit sie die Macht der Partei nicht in Frage stellten. Das galt insbesondere ab Anfang der 1970er Jahre und dann noch einmal gesteigert ab Mitte der 1980er Jahre.

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Wir-hier-unten-die-da-oben-Dualismus verband. Für eine Mehrheit delegitimierte sich das staatssozialistische Herrschaftsregime nicht in erster Linie durch seine demokratischen Beteiligungsdefizite, sondern – outputorientiert – durch die gravierenden Einschränkungen in der Reise- und Meinungsfreiheit sowie durch die Mangelwirtschaft, namentlich im Konsumgüterbereich. Insofern lässt sich in der Tat von einem ,real-sozialistisch-populistischen‘ Syndrom sprechen: Das werktätige, dabei ethnisch verstandene DDR-Volk bringt sich gegen den versagenden Fürsorgestaat in Stellung, von dem es in paternalistischer Weise zugleich die Verbesserung der Lage einfordert. Diese depolitisierte Anspruchshaltung akzeptierte sogar die Politbürokratie und versuchte sie ab Anfang der 1970er Jahre mit einer Strategie der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ zur Sicherung des Machtmonopols der kommunistischen Partei zu ­nutzen. Der realsozialistische Populismus beschränkte sich also keineswegs auf distanzierte oder illoyale Bevölkerungsgruppen, sondern trug und bestimmte das Herrschaftsregime in seiner letzten Phase wesentlich. Nur eine kleine Minderheit von linksliberal oder radikaldemokratisch orientierten Reformern der Intelligenzija sowie kirchlich eingebetteten Oppositionsgruppen hielten dem eine Programmatik dezidiert politischer Selbstorganisation und autonomer Demokratieerfahrung entgegen. Drittens: Das anhaltende, ja eskalierende Versagen der sozialistischen Planwirtschaft in Relation zum „goldenen Westen“ der 1970er und 1980er Jahre, die gerontokratische Unfähigkeit zu ernsthaften politischen Veränderungen und kulturellen Öffnungen sowie die Reformen in der Sowjetunion ab 1985 sowie Polen und Ungarn ab 1988 führten unter Beschleunigung durch erste (punktuelle) Grenzöffnungen ­zwischen Österreich und Ungarn und der daraufhin einsetzenden Fluchtmigration zu einer Herrschaftskrise, die im Herbst in die Friedliche Revolution überging. Mitteldeutschland und herausragend Sachsen spielten in der revolutionären Dynamik und beim Sturz des alten Regimes eine Schlüsselrolle, wie die ersten Massendemonstrationen in Leipzig oder Plauen Anfang Oktober 1989 unter Beweis stellten. Das muss hier nicht ereignisgeschichtlich nachgezeichnet werden.40 Vielmehr interessiert, warum und mit welcher politischen Ausrichtung gerade Sachsen als Hort der Revolution gefeiert werden kann. Drei Gründe sind hervorzuheben: (a) In den sächsischen Kernbezirken zeigten sich die systematischen Mängel der Plan- und Kommandowirtschaft sowohl mit Blick auf den Vorkriegswohlstand wie hinsichtlich der Wirkungen (ländliche Infrastruktur, Altstadtverfall, Luftverschmutzung infolge der Braunkohleverstromung usw.) am deutlichsten. (b) Sachsen verfügte über die intensivste, langzeitig gewachsene Identifikation der Bürger*innen mit der Heimatregion (Kurfürstentum/Königreich Sachsen und/oder lokale Heimatregionen wie das Vogtland), die ein wesentliches Kritik- und Widerstandspotenzial gegenüber dem 40 Dazu Ilko-Sascha Kowalczuk 2009: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. C. H. Beck: München; Michael Richter 2011: Die Friedliche Revolution: Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90. Vandenhoeck und Ruprecht: Göttingen.

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„demokratischen Zentralismus“ des SED-Regimes und seinem zudem (vielfach verhassten) „preußischen“ Zentrum bereitstellten und kanalisierten (These 3, 4). (c) Sachsen und Mitteldeutschland besaßen die stärksten Traditionen (klein-)bürgerlichen und proletarischen Protests in Ostdeutschland, wie sich noch in der Arbeiterrebellion 1953 gezeigt hatte (These 4). Viertens: In der revolutionären Bewegung z­ wischen Sommer 1989 und Mitte 1990 erfuhren weite Teile der ostdeutschen Bevölkerung – von den oppositionellen Gruppen über die (halb-)loyalen Mittelschichten bis zu den mittleren „Kadern“ der Funktionseliten des Regimes – eine revolutionäre politische Mobilisierung und zugleich die Wirkmächtigkeit kollektiven politischen Protests auf der Straße gegenüber staatlicher Herrschaftsmacht. Dieser revolutionäre Aufbruch in Ostdeutschland beinhaltete intensive Prozesse demokratischpartizipativer Selbstermächtigung und experimenteller Selbsterfahrung. Namentlich in Sachsen, aber keineswegs nur dort, transformierte sich bereits im Dezember 1989 der politische Diskurs der Straße und wichtiger Gruppen der neu entstandenen Bewegungen und Parteien in Richtung etatistisch-rechtspopulistischer Orientierungen und Handlungsziele: von „Wir sind das Volk!“ zu „Wir sind ein Volk!“, vom Hoffen auf einen autonomen demokratischen Neuansatz hin zur Überhöhung der westdeutschen Christlich Demokratischen Union (CDU) / Christlich-Sozialen Union (CSU) und Kanzler Helmut Kohls zum Heils-, also westdeutschen Wohlstandsbringer, vom politischen Experiment der Bürgerbewegungen und Runden Tische zum Beitritt zur Bundesrepublik und Anpassung an deren Ordnungen und Kulturen. Dieser Übergang zeigte sich auch im Umgang mit „Anderen“. Nach der Auflösung der autoritären Staatsmacht und ihrer Ordnungsroutinen wurden gerade jenseits der urbanen Zentren linke Jugendkulturen vom rechtspopulistischen und rechtsradikalen Mob ebenso attackiert wie alle nichtdeutsch erscheinenden Bevölkerungsgruppen – egal ob es Arbeits- oder Fluchtmigrant*innen waren. Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen sind dafür nur zwei herausragende Beispiele. These 6: Der postsozialistische Transformations- und deutsche Vereinigungsprozess nach 1990 bedeutete für die Mehrheit der Ostdeutschen einerseits substanzielle persönliche Freiheits- und Wohlstandsgewinne sowie die schrittweise Aneignung der bundesdeutschen Institutionen und politischen Kulturen. Andererseits stiftete der Beitritts- und Vereinigungsprozess einen anhaltenden (Be-)Handlungs- und Erfahrungsraum multipler Enteignungen, Entwertungen und Enttäuschungen. Darauf reagierten größere Teile der Bevölkerung mit links- und rechtspopulistischen, teils auch rechtsradikalen Einstellungssyndromen, Narrativen und Aktionsformen, die als politische Kulturen bestimmter ostdeutscher Milieus mittlerweile konsolidiert sind. Die Kontexte und Dynamiken, Institutionen und Akteur*innen sowie politisch-kulturellen Folgen des Vereinigungsprozesses seit Anfang 1990 sind aus sozial- und geschichtswissenschaftlicher Perspektive mittlerweile vielfach beschrieben, aufgeklärt und kontrovers

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­ iskutiert worden.41 Im vorliegenden Zusammenhang soll aber exploriert werden, warum d und mit ­welchen Entwicklungslogiken die tradierten Mentalitätsmuster (These 3 – 5), situativen Lagen und ambivalenten Konstellationen (These 5) zur Formierung der gegenwärtigen rechtspopulistischen Formationen in Ostdeutschland (These 2) führten. Fünf Zeitabschnitte und wellenförmige Aufschichtungsprozesse sind herauszustellen. Erstens: Die durch die in weiten Teilen marode DDR-Wirtschaft und die Beitrittslogik verursachte Wirtschaftskrise und Deindustrialisierung der „neuen Länder“ (1990 – 1993), aber auch Phänomene einer Abwertung der Ostdeutschen in der Öffentlichkeit vor dem Hintergrund ihrer Unkenntnisse und Hilfebedürftigkeit begründeten erste herbe Erwartungsenttäuschungen. Bereits ab Juli 1990 formierten sich daher (Massen-)Proteste gegen (angekündigte) Betriebsschließungen, „Abwicklungen“ von Bildungs-, Forschungs- und Kultureinrichtungen sowie Enteignungen (Besitz- und Einkommensrechte aller Art, zum Beispiel im Rentenrecht) oder beruflichen Entwertungspraktiken (wie die Nichtanerkennung von Bildungsabschlüssen). Der sich rasch auf die Privatisierungspraxis der Treuhandanstalt (THA) konzentrierende, aber nicht darauf beschränkte Sozialprotest war – bis auf punktuelle Ausnahmen – nicht (nachhaltig) erfolgreich. Das galt ebenso für die Kritik und alternative Strategieentwürfe zur ostdeutschen Transformation, wie sie durch Protestakteure oder von ostdeutschen Lokalgliederungen der etablierten bundesdeutschen politischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen (Parteien, Vereine, Verbände, Verwaltungen) formuliert wurden. Sowohl die Enttäuschungen über die „neuen Herren“ wie das Zerschellen der allermeisten Alternativvorschläge an den bundes-, also wahrgenommenen westdeutschen Machtzentralen – vom Bundeskanzleramt und von den Parteien über die THA bis zu den eigenen Landesregierungen –, aber selbst noch die marginalen Erfolge des Protestes jenseits etablierter Formen (wie durch Betriebsbesetzungen) gaben den tradierten populistischen Mentalitäten (Etatismus und Protestorientierung, politische Institutionen- und ­Elitenkritik, Wir-Sie-Dualismus usw.) neue Nahrung und restrukturierten sie unter den veränderten Bedingungen. In diesen Jahren äußerte und formierte sich dieser Protest stärker 41 Als einige exemplarische Bände der letzten zehn Jahre: Heinrich Best, Everhard Holtmann (Hg.) 2012: Aufbruch der entsicherten Gesellschaft. Deutschland nach der Wiedervereinigung. Campus Verlag: Frankfurt am Main, New York; Marcus Böick, Constantin Goschler, Ralph Jessen (Hg.) 2020: Jahrbuch Deutsche Einheit. Ch. Links Verlag: Berlin; Ulrich Busch, Michael Thomas (Hg.) 2015: Ein Vierteljahrhundert Deutsche Einheit. Facetten einer unvollendeten Integration. Trafo Wissenschaftsverlag: Berlin; Oscar Gabriel et al. (Hg.) 2015: Deutschland 25. Gesellschaftliche Trends und politische Einstellungen. Bundeszentrale für Politische Bildung: Bonn; Raj Kollmorgen, Frank Thomas Koch, HansLiudger Dienel (Hg.) 2011: Diskurse der deutschen Einheit. Kritik und Alternativen. Wiesbaden: VS Springer; Ilko-Sascha Kowalczuk 2019: Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde. C. H. Beck: München; Peter Krause, Ilona Ostner 2010: Leben in Ost- und Westdeutschland. Eine sozialwissenschaftliche Bilanz der deutschen Einheit 1990 – 2010. Campus Verlag: Frankfurt am Main, New York; Andreas Rödder 2009: Deutschland einig Vaterland: Die Geschichte der Wiedervereinigung. C. H. Beck: München.

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auf der linken politischen Seite.42 Vielen erschien die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) als einzige konsequente system- und elitenkritische Kraft mit einem Verständnis für die Arbeits- und Lebenswelten sowie Erfahrungsräume der Ostdeutschen. Sie galt beachtlichen Bevölkerungsgruppen als einzig wahre und politisch relevante Stimme des Ostens. Das demonstrierten die Wahlerfolge in den ostdeutschen Bundesländern (1990 – 1994) von 10 bis 23 Prozent deutlich. Zweitens: Die weiteren 1990er Jahre (etwa 1993 – 2002/2004) waren für eine Mehrheit der Ostdeutschen und insbesondere in den ländlich-peripheren Regionen durch anhaltende Ohnmachts- und Abwertungserfahrungen geprägt.43 Sie beruhten auf Langzeitarbeitslosigkeit und unsicherer Beschäftigung, geringe(re)n Löhnen und Einkommen ebenso wie auf Erwerbstätigkeit in Dependancen westdeutscher Großunternehmen („Werkbank“) oder dem Transfer von Westdeutschen auf Führungspositionen im Osten. Das führte zur Abwanderung Hunderttausender in die westlichen Bundesländer und verschob die Sozialstrukturen im Osten nachhaltig in Richtung Ältere, Männer und geringer qualifizierte bzw. immobilere Arbeitskräfte. Politisches und zivilgesellschaftliches Engagement schien – so nahm es eine Mehrheit wahr – daran kaum etwas ändern zu können. Die westlichen Machtzentralen blieben für die Umverteilungs- und Anerkennungsbedürfnisse der Ostdeutschen taub und konnten offenbar ebenso wenig verstehen, dass viele Ostdeutsche angesichts ihrer Verlustängste und Entfremdungserfahrungen von der Aufnahme auch nur weniger Fluchtmigrant*innen oder von multikultureller Gesellschaftlichkeit nichts hielten, was an alte Xenophobien anschloss und zugleich radikalisiert werden konnte. Fremdenfeindlichkeit versprach alternative Anerkennungs- und Machtpotenziale. Die sogenannte Politik(er*innen) verdrossenheit und die Distanz zu den Institutionenordnungen sowie etablierten Teilhabeorganisationen der Bundesrepublik wuchsen weiter. Wer von den Angehörigen gerade der mittleren Generation (der damals 30- bis 55-Jährigen) nicht abwandern wollte oder konnte, stürzte sich daher in (weitgehend) autonom zu gestaltende Sphären jenseits von Politik und Öffentlichkeit, also in das eigene Gewerbe, den Konsum (Eigenheim, Wohnung) und die 42 Stärker heißt indes nicht, dass es nicht schon zu dieser Zeit auch rechtspopulistische und rechtsradikale Bewegungen und Akteure gegeben hätte. Teils schlossen diese an ältere Szenen an (wie den Skinheads), teils erhielten sie ,Aufbauhilfe‘ in Gestalt von Führungspersonal, Finanzen und ideologischer Bildung aus dem Westen, wie sich an der Deutschen Volksunion (DVU) oder der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) gut rekonstruieren lässt. Als kurze Problematisierung: Christian Werner 2018: Die NPD in Ostdeutschland. Online: https://www.mdr.de/zeitreise/npd-im-osten-rechtsextremismus-nsu100. html [03. 10. 2020]; breiter: Kowalczuk 2019, 215. 43 Wenn hier und im Weiteren Erfahrungen beschrieben und begrifflich gefasst werden, geht es immer um (inter-)subjektiv verarbeitete Wirklichkeit und deren diskursive Formierung wie Bedeutung. Damit wird weder behauptet, dass andere Gruppen diese auch so wahrnahmen und ähnliche Erfahrungsbestände aufhäuften, noch, dass die darauf basierenden Einschätzungen und Werturteile gut, rational oder gar „objektiv“ korrekt waren. Objektive Erfahrungen gibt es nicht – wohl aber kritisierbare Geltungsansprüche von verallgemeinerten Aussagen, Bewertungen und abgeleiteten Politikinhalten in Reflexion je eigener Erfahrungen.

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Freizeit. Zugespitzt formuliert, wollten gerade die Angehörigen der Unter- und Mittel­ schichten wenigstens hier den Anspruch der Freiheit, der Leistungsgesellschaft und der Angleichung von Ost und West schrittweise durch eigene Anstrengung einholen – und zugleich ,dem Westen‘ demonstrieren, wozu man oder frau in der Lage ist. Sachsen ragte hier mit Thüringen und Teilen Sachsen-Anhalts besonders hervor, was auch mit Blick auf seine Geschichte höchst plausibel erscheint (These 4, 5). Drittens: Die zweite massive Enttäuschungs- sowie anschließende Empörungs- und Protestwelle war in den frühen 2000er Jahren, genauer ­zwischen 2004 und 2006, in Ostdeutschland zu beobachten. Sie verdankte sich einerseits der Verlangsamung des Angleichungsprozesses in praktisch allen Dimensionen (vom BIP bis zum Vermögen) seit Ende der 1990er Jahre, andererseits und konkret den Regelungen und Wirkungen der Agenda-2010-Politik, vor allem der Hartz-I- bis -IV-Gesetzgebung (2003 – 2005).44 Um es auch hier angesichts vorliegender Analysen knapp zu formulieren: Die Agenda-Politik traf gerade in Ostdeutschland auf einen bereits prekären Arbeitsmarkt und weitete diesen erheblich aus, wodurch die Abstiegs- und Verarmungsrisiken noch einmal zunahmen (These 2). Dabei erschienen den Ostdeutschen das Hartz-IV -Gesetz in besonderer Weise ungerecht: Sie konnten im Bedarfsfall systematisch weniger als Westdeutsche auf alternative Einkommen und Vermögen zurückgreifen. Vielmehr war das Erreichte eben das hart, durch eigene Arbeit nach der Vereinigung Verdiente, dasjenige also, wofür man Anerkennung und schrittweise Wohlstandsangleichung gegenüber dem Westen erhoffte. Zudem verstanden sich die Ostdeutschen stärker noch als westdeutsche Arbeitnehmer*innen als ,Opfer‘ eines Systemversagens. Die Versuche, über die etablierten Partizipationsverfahren in Parteien (namentlich der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands SPD ) und Verbänden Widerstand und Abänderungen herbeizuführen, fruchteten kaum. Daher wurden erneut Massenproteste, die neuen „Montagsdemonstrationen“, sowie alternative Empörungsforen organisiert. Wieder reagierte die ,politische Klasse‘ in den Augen der Betroffenen nur mit hohlen Phrasen und Revisionsankündigungen für die Zukunft. In Ostdeutschland ließ das die Distanzierung und das Misstrauen gegenüber den politischen und wirtschaftlichen Institutionenordnungen und ihrem (Führungs-)Personal auf neue Höchststände steigen.45 Zugleich erhielten Parteien und Initiativen – auch in Wahlen – Zulauf, die sich als Fundamentalopposition links oder rechts der die Regierung tragenden Mitte-Parteien (SPD , CDU /CSU , Grüne) positionierten, namentlich PDS /Die 44 Analysen dazu u. a. bei Busch, Thomas 2015; Kollmorgen et al. 2011; Kowalczuk 2019; Krause, Ostner 2010; siehe auch die Jahresberichte der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit ab 2002. Online: https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Dossier/neue-laender.html [07. 10. 2020]. 45 Helmut Rainer, Clara Albrecht, Stefan Bauernschuster, Anita Fichtl, Timo Hener und Joachim Ragnitz 2018: Deutschland 2017 – Studie zu den Einstellungen und Verhaltensweisen der Bürgerinnen und Bürger im vereinigten Deutschland, ifo Forschungsberichte 96 (Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie). München: ifo Institut, 93 – 99.

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Linke, aber auch rechtsradikale Parteien wie die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD ), die Deutsche Volksunion (DVU ) oder die Republikaner. Viertens: Die letzte Verunsicherungs-, Enteignungs- und Enttäuschungswelle war um die Jahre 2007/2008 gerade halbwegs bewältigt, als sich bereits die nächste Welle aufbaute. Gerade in Ost- und vor allem Mitteldeutschland blieb es für eine überwältigende Mehrheit nicht nachvollziehbar und der blanke Hohn, dass für sie als ostdeutsche Erwerbstätige noch vor wenigen Jahren keine Finanzmittel für den Erhalt des deutschen Wohlfahrtsstaates zur Verfügung standen, so dass die Agenda-Politik 2010 „alternativlos“ erschien, nun aber in der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise 2008 – 2011 – so eine Mehrheitsmeinung – nicht nur für die einheimischen und globalen Großbanken, sondern auch noch für die wenig(er) hart arbeitenden, aber hohe Wohlfahrtsleistungen beziehenden Griechen Milliarden an Zahlungen und Krediten vorhanden waren. Während ihnen also die nationale Binnensolidarität verweigert wurde, sollten sie europäische Solidarität in ungeahnten Höhen zeigen. Erneut wurden (rechts-)populistische Syndrome der Elitenkritik, des Institutionenmisstrauens und der Abwendung von ihnen – diesmal auch gegenüber Europa – gestärkt. Fünftens: Die vierte und vorerst letzte Welle von Enttäuschung, Empörung und Protest wurde 2015/2016 durch die Aufnahme hunderttausender Geflüchteter aus Syrien, Irak, Afghanistan, aber auch von neuen Arbeitsmigrant*innen aus südosteuropäischen und afrikanischen Ländern ausgelöst. Die massenhaften Aufenthaltsgenehmigungen wie die humanitäre Versorgung dieser Migrant*innen auch in Einrichtungen ostdeutscher Klein- und Mittelstädte wurde für eine große Bevölkerungsgruppe, deren Anteil im Osten im Bereich von 35 bis 65 Prozent aller Erwachsenen liegen dürfte,46 zu einer neuen Enttäuschungs- und Entfremdungserfahrung. Nicht nur, dass damit tausende „Fremde“ in die ostdeutschen „Heimaten einströmten“ und für die eingekapselten Gemeinschaften als Bedrohung ihrer geschützten Lebensweisen erschienen, was xenophobe Reflexe und Routinen auslöste und verstärkte. Auch der massenhafte Bezug „leistungslosen Einkommens“ auf dem Niveau des deutschen Sozialstaates – wiederum vor dem Hintergrund der ostdeutschen Enteignungs- und sozialen Verunsicherungsgeschichte – stieß einer Mehrheit der ostdeutschen „Mitte“ bitter auf. Vor allem aber radikalisierte sich in diesen Gruppen eine doppelte Enttäuschung: einmal gegenüber der offenkundigen Irrelevanz der ostdeutschen Mehrheitsmeinung für die Gestaltung 46 Diese Größenordnung basiert sowohl auf Wahlergebnissen als auch auf Umfragedaten. Als Überblicke für Ostdeutschland und/oder Sachsen: Lisa Beckmann 2012: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Sachsen 2008 – 2011 (im Vergleich zu 2002 – 2005). Expertise im Rahmen der Evaluation des Programms „Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz“. Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung: Bielefeld; Oliver Decker, Elmar Brähler (Hg.) 2018: Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Psychosozial-Verlag: Gießen; Gabriel et al. 2015; Beate Küpper 2017: Rechtspopulistische Einstellungen in Ost- und Westdeutschland. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) (Hg.): Wissen schafft Demokratie. Schriftenreihe des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft 2. IDZ: Jena, 90 – 103; Rainer et al. 2018.

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der Migrationspolitik, zum anderen gegenüber der linksliberalen politischen und massenmedialen Kritik an eben dieser Haltung vieler Ostdeutscher und ihren ersten Protesten, wie sie sich in Dresden durch Pegida in besonders deutlicher Weise organisierten. Die empörte Artikulation einer fundamentalen rechtspopulistischen Institutionen- und Elitenkritik von „Volksverräter!“ bis „Lügenpresse!“ waren die eine Folge (These 1, 2), die ,Suche‘ nach einer politischen Kraft, w ­ elche die alternativen Ideen, Interessen und Programmatiken aufzunehmen und in die etablierten politischen Entscheidungsstrukturen einzuspeisen und dort durchzusetzen vermag, die zweite. Die Partei Die Linke kam dafür angesichts ihrer linksliberalen Migrationspolitik, ,Verwestlichungstendenz‘ und jahrzehntelangen (scheinbaren) Wirkungslosigkeit unmöglich in Frage, wohingegen die AfD, namentlich ihre sich formierenden ostdeutschen Landesverbände, rasch und konsequent zum Sachwalter, Systematisierer und Radikalisierer d ­ ieses Habitus aufstiegen.47 Es ist nur folgerichtig, dass die AfD in den Jahren nach 2015 gerade in denjenigen soziodemografischen Gruppen und sozialen Milieus sowie Regionen Ostdeutschlands die größten (Wahl-)Erfolge feierte, in denen einerseits ,materiell‘ besonders ausgeprägte Schwächen, Deprivationen und Vulnerabilitäten bestehen – vom prekären Milieu über alte Männer bis zu den peripheren Grenzregionen im Osten und Südosten (These 2) –, in denen andererseits aber auch in der ,symbolischen‘ Dimension die stärksten Traditionsbestände von Heimatstolz, Identitätsüberschüssen, sozialer Ein- und Abkapselung sowie Xenophobien, Misstrauen, Pluralitäts- und Demokratievorbehalte existieren und am längsten wie intensivsten (rechts-)populistische und rechtsradikale Narrative (weiter-)gesponnen wurden (Thesen 2 – 5). Gegenüber den drei Wellen zuvor zeichnete sich die vierte nicht nur ein neues Eskalations- und Radikalisierungsniveau der Protestaktivisten und die besondere weit geöffnete Schere ­zwischen Kritik an den Verhältnissen und der eigenen Lebenszufriedenheit aus.48 Different waren auch die Beurteilung der Lage und die Reaktionsmuster der Regierungs- und klassischen Oppositionsparteien auf Bundes-, mehr aber noch Landesebene. Anders als zuvor ging die „etablierte Politik“ nach einer k­ urzen Periode des Verharmlosens oder der Fundamentalkritik (Ende 2014 – 2016) auf die sich Empörenden zu. Das geschah einmal auf dem Weg intensivierter und neuer Kommunikationsformate, wobei Bürgerversammlungen und Dialogveranstaltungen der Regierungen (wie in Sachsen durch den Ministerpräsidenten) besonders hervorzuheben sind. Zum anderen reagierten die politischen Akteure mit einer Intensivierung der innerparteilichen und parlamentarischen Debatten sowie dann auch deutlichen Änderungen der Politikinhalte. Namentlich CDU /CSU , aber auch die Freie Demokratische Partei (FDP ) und selbst Die Linke revidierten nicht nur wichtige Orientierungen und/oder Strategien und Operationalisierungen ihrer Migrations- und Integrationspolitik – Stichworte sind hier „Wiedergewinnung der 47 Butterwegge, Hentges, Lösch 2018; Häusler 2018. 48 Siehe Rainer et al. 2018; Kowalczuk 2019.

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Einwanderungskontrolle“, „Obergrenze“ oder „Konkurrenzsituationen am Arbeitsmarkt“. Vielmehr rückten Ostdeutschland und die Politiken für die Ostdeutschen ab 2016/2017 wieder und anhaltend in den Fokus der bundesrepublikanischen Aufmerksamkeit, einschließlich der Frage nach der weiteren Gestaltung der deutschen Einheit und des Platzes der Ostdeutschen im gemeinsamen Staatswesen. Warum war es diesmal deutlich anders? Zwei Gründe sind dafür maßgebend: Zum einen war und ist es nicht nur ein ostdeutsches Phänomen und Problem. Auch in einigen westlichen Bundesländern erzielte die AfD zweistellige Stimmenanteile (Tabelle 1, 2) und tobten in den klassischen Regierungsparteien (von CDU/CSU bis FDP) heftige Debatten um die richtige Politik. Der Osten konnte also hier, weniger noch als in den vorangegangenen Wellen der 2000er Jahre, nicht als vollkommen fremdes politischkulturelles Gebiet angesehen und behandelt werden. Zum anderen aber und doch wieder als Besonderheit: Stimmenanteile im Bereich von 25 Prozent bis fast 30 Prozent für die AfD bedeuten unter Berücksichtigung der Anteile für die Partei Die Linke (von um die 10 – 15 Prozent oder wie in Thüringen sogar 30 Prozent), dass entweder gegen diese beiden Parteien gar keine Regierungsbildung mehr möglich ist oder nur noch unter einer Koalitionsbildung durch alle anderen im Parlament vertretenen politischen Parteien: von der CDU über die SPD bis zu Bündnis 90/Die Grünen. Sachsen und Sachsen-Anhalt stehen dafür beispielhaft (siehe Tabelle 2). Das stellt in der Tat einen (potenziellen) Bruch mit der bisherigen bundesrepublikanischen Parlamentsgeschichte dar, in der eine Mehrheitsbildung durch die klassischen demokratischen Parteien nie in Frage stand (vgl. aber These 3, 4). Die gegenwärtige Coronavirus-Pandemie, die seit März 2020 das öffentliche und private Leben erheblich herausfordert und verändert, zeigt ein weiteres Mal, dass und inwiefern wir es in Deutschland und herausgehoben in Ostdeutschland für erhebliche Bevölkerungsgruppen mit der Konsolidierung eines rechtspopulistischen Habitus zu tun haben. Das deutliche stärkere Institutionen- und Elitenmisstrauen im Osten – gerade unter den vulnerablen Gruppen (siehe These 2) – wird auch in der Wahrnehmung und Beurteilung der Pandemie und ihrer Bedeutung wie des staatlichen Handelns erkennbar. Eine Umfrage aus dem September 2020 konnte zeigen, dass zwar 50 Prozent der Bevölkerung in Ost- und Westdeutschland die Maßnahmen als „genau richtig“ bewerten, jedoch im Westen der Republik ein Anteil von 28 Prozent die Maßnahmen „(viel) zu übertrieben“ finden, wohingegen es in Ostdeutschland deutlich über ein Drittel sind, nämlich 38 Prozent. Eindrücklich ist auch die Differenz in der Beantwortung der Frage, ob man/frau glaubt, dass „geheime Mächte für die Corona-Pandemie verantwortlich s­ eien“. Hier waren es erneut 37 Prozent der Ostdeutschen, die diese Frage (eher) bejahten, während dies im Westen 27 Prozent taten.49 49 So die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage von appinio, die am 30. 09. 2020 veröffentlicht wurden. Genaueres unter: https://www.appinio.com/de/blog/so-unterschiedlich-denkt-ostdeutschland-und-west​ deutschland-ueber-corona [10. 10. 2020].

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Diese Umfragedaten werden untermauert durch die Beobachtung des Protestverhaltens, wobei – neben den urbanen Zentren im Westen (und Berlin) – gerade ländlich-periphere Regionen Ostdeutschlands ­zwischen Schwerin, Gera und dem Zittauer Gebirge Schwerpunkte der Artikulation waren.50 These 7: Reflektiert man die bisherigen Befunde und Überlegungen noch einmal, kann aus der Perspektive einer Sozial- und Mentalitätsgeschichte des ostdeutschen Rechtspopulismus resümiert werden: Seine besondere Attraktivität und die Formierung eines rechtspopulistischen Habitus verdanken sich einem Bedingungs- und Ursachenkomplex, der von historisch-kulturellen Prägungen in der longue durée über die staatssozialistische Herrschaftsform bis zur postsozialistischen Transformation und Vereinigungspolitik nach 1989/1990 und den Gesellschaftspolitiken der letzten zehn Jahre in den östlichen Bundesländern reicht. Übergreifend indizieren politische Populismen soziale Verunsicherungen, Erwartungsenttäuschungen, Missachtungen und illegitim eingeschätzte Umverteilungen im Kontext von Transformationsprozessen. Im Rückblick auf die ersten beiden Thesen ist zunächst hervorzuheben, dass sich infolge der skizzierten Aufschichtungen und Formierungslogiken ein ostdeutscher rechtspopulistischer Habitus entwickelt und stabilisiert hat, der sich heute – auch jenseits der AfD-Erfolge und des Schicksals dieser Partei in den kommenden Jahren – bei etwa 25 – 35 Prozent der erwachsenen Wohnbevölkerung diagnostizieren lässt.51 Dieser rechtspopulistische Habitus und seine Verbreitung in der Bevölkerung tragen aber weder singulären Charakter oder sprechen umstandslos für einen „ostdeutschen Sonderweg“, noch können sie allein als Produkt der langzeitigen Geschichte „Ostelbiens“ in den letzten fünfhundert oder gar eintausend Jahren begriffen werden – wie es in James Hawes’ (ost-)deutscher Geschichtsinterpretation durchdekliniert wird.52 Das plausibilisieren zum einen die vergleichbaren Dynamiken und Attraktivitäten rechtspopulistischer und rechtsradikaler Ideologien und Politiken in 50 Zu erwähnen ist auch der Württemberger Schwerpunkt in und um Stuttgart, der mit dem hohen Anteil von AfD-Sympathisanten dort ebenso konvergiert wie in (Ost-)Sachsen. Beide Regionen (Ostdeutschland und Württemberg) teilen darüber hinaus die Tradition des lutherischen Protestantismus und mittelständische Industriekulturen, ohne damit die gravierenden sozialstrukturellen wie (politisch-)kulturellen Unterschiede (auch mit Blick auf die AfD-Landesverbände) einebnen zu wollen. 51 Diese Quantifizierung stützte sich auf verschiedene Erhebungen in den letzten fünf Jahren, wobei neben der bereits erwähnten Erhebung der Bertelsmann-Stiftung (Vehrkamp 2019) sowohl die Leipziger MitteStudie 2018 (Oliver Decker, Johannes Kiess, Julia Schuler, Barbara Handke, Elmar Brähler 2018: Die Leipziger Autoritarismus-Studie 2018. Methode, Ergebnisse, Langzeitverlauf. In: Decker, Brähler 2018, 65 – 116, hier 65 – 75), die FES-Mitte-Studie 2016 (siehe Küpper 2017) oder auch die ifo-Studie (Rainer et al. 2018) entsprechende Daten liefern. Küpper hat z. B. anhand von sechs Items für Ostdeutschland einen 30-prozentigen Anteil von Rechtspopulisten identifiziert, für Westdeutschland diagnostizierte sie einen Anteil von etwa 20 Prozent (Küpper 2017, hier 96). 52 Hawes 2019.

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Ostmittel- und Osteuropa (Tabelle 1), die sozialgeografisch wie sozialgeschichtlich (nicht zuletzt mit Blick auf den Staatssozialismus und seine Transformation, Thesen 5 und 6) mit Ostdeutschland mehr teilen, als vielfach angenommen wird.53 Zum anderen zeigen das die Daten und Erklärungsversuche, die den gegenwärtigen Rechtspopulismus in den Kontext säkularer weltgesellschaftlicher Transformationen in den letzten fünfzig und vor allem dreißig Jahren stellen und insofern die Perspektive auch Richtung ,Westen‘ öffnen (Tabelle 1). Dabei geht es nicht allein um die Folgen neoliberal dominierter wirtschaftlicher Globalisierungs- oder europäischer Integrationsprozesse.54 Vielmehr sind auch die sich verändernden Erwartungen an den demokratischen Prozess, nicht zuletzt in seinen Dimensionen der Repräsentation und Partizipation, für die Anziehungskraft verschiedener Varianten des politischen Populismus verantwortlich.55 Fallübergreifend wäre zu pointieren, dass politische Populismen unter Bedingungen herrschender Konzepte und Institutionen der Volkssouveränität ein starker Indikator für beginnende oder (folgenreich) eskalierende Gesellschaftstransformationen sind.56 Verunsicherte, erwartungsenttäuschte, missachtete, enteignete oder marginalisierte/exkludierte soziale Gruppen neigen in radikalen Transformationsprozessen zu Elitenkritik, zur Distanzierung oder sogar Entfremdung gegenüber den bestehenden, namentlich politischen Institutionenordnungen. Solche Gruppen sind insbesondere unter Bedingungen krisengeschüttelter oder gerade neu etablierter demokratischer Ordnungen (eher) offen für protestbasierte Politikangebote, die radikale Kritik und einen harten Schnitt mit Traditionen und starken Gemeinschaftsansprüchen des ,Volkes‘ (unter Ausschluss Fremder) verknüpfen und schnelle sowie einfache politische Lösungen versprechen. Auch deshalb gilt es, die Multidimensionalität nicht nur gegenüber Versuchen einer Einschnürung des ostdeutschen Rechtspopulismus allein auf ostdeutsche Problemlagen, Kulturen und Verursachungsketten zu betonen, sondern auch gegenüber allen Bemühungen, die Spezifik der ostdeutschen Variante und deren besondere Geschichte zu marginalisieren. Die Behauptung nicht allein (ost-)deutscher Gründe und also weltgesellschaftlicher Einbettungen des Rechtspopulismus bedeutet eben nicht die Irrelevanz nationaler und regionaler Geschichte und struktureller Bedingungen, so wenig wie sie Besonderheiten der raum-zeitlich konkreten Populismen leugnet.

53 Manow 2016; Phillip Ther 2016: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent: Eine Geschichte des neoliberalen Europa. Suhrkamp: Frankfurt am Main. 54 Manow 2016. 55 Zur Debatte: Colin Crouch 2008: Postdemokratie. Suhrkamp: Frankfurt am Main; Kaltwasser et al. 2017; Wolfgang Merkel (Hg.) 2015: Demokratie und Krise. Springer VS: Wiesbaden; Müller 2016; Mouffe 2018. 56 Kaltwasser et al. 2017; Wolfgang Merkel, Raj Kollmorgen, Hans-Jürgen Wagener (Hg.) 2019: Handbook of Economic, Social and Political Transformation. OUP: Oxford; vgl. auch Mouffe 2018.

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Der gegenwärtige ostdeutsche Rechtspopulismus zeichnet sich gegenüber anderen nationalen und regionalen Spielarten hinsichtlich der ,Nachfrageseite‘ insbesondere aus durch: •  die eigentümliche Kombination von regionalem Heimatstolz, darauf bezogenem kollektiven Identitätsüberschuss (etwa als Sachse) und kulturell begründeter Xenophobie (die kaum eine fremde Gruppe ausschließt), •  seine einerseits historisch-lutherische Grundierung bei heute weitgehend religionsfreier Prakti­ zierung, andererseits seine antireligiöse Aufladung, •  sein staatssozialistisches Fundament, namentlich in der besonderen Ausprägung (a) einer funktionalistischen oder outputorientierten Demokratieauffassung, (b) eines tiefsitzenden Institutionen- und Elitenmisstrauens (einschließlich einer polaren Herrschaftsauffassung oben versus unten) sowie (c) einer Distanz gegenüber den konfliktorientierten intermediären Organisationen der politischen Gesellschaft (wie und herausragend gegenüber politischen Parteien, Verbänden, Vereinen sowie Parlamenten), •  durch die Formierung einer eigentümlichen, eher anarchischen Protestkultur, die sowohl an die Erfahrungen und Erfolge der Friedlichen Revolution andockt wie an die der Sozialund politischen Proteste nach der Vereinigung, •  seine Einfärbung durch die Konflikte und Ungleichheiten ­zwischen Ost- und Westdeutschland nach 1989/1990 und tendenziellen Wahrnehmung des versagenden Staates, der korrupten Eliten und der fremden Kulturen als westdeutsche und •  seine eigentümliche Aufschichtungslogik in den vier geschilderten Enttäuschungs-, Empörungs- und Protestwellen, die ihn im Osten als sozio- und politisch-kulturell konsolidierte Erscheinung und relevante Diskurs- wie Habitusformation ausweisen. Auch wenn die Skizze in den Thesen 3 bis 6 dies an bestimmten Stellen und angesichts ihrer unvermeidbaren Verkürzungen suggeriert haben mag: Der vorgestellte historischsoziologische Zugang wendet sich gegen jede Art teleologischer und finalistischer Geschichtsund Gegenwartsdeutung. Auch der Rechtspopulismus in Ostdeutschland ist weder das einzig logische noch zwangsläufige Produkt der (langzeitigen) Geschichte. Es gab und gibt immer ambivalente und alternative Entwicklungspotentiale sowie Handlungschancen. Nur exemplarisch ist zum einen an die proletarischen Empörungs- und Protestbewegungen in Sachsen seit Anfang des 19. Jahrhunderts zu erinnern, die keineswegs zu Unrecht in die Bezeichnung des „Roten Sachsens“ mündeten. Deren progressive Anerkennungs-, Solidarisierungs- und soziale Integrationsgehalte waren nicht fiktiv, sondern haben für über zwei Jahrzehnte in Sachsen unter anderem zum Auf- und Ausbau überdurchschnittlicher wohlfahrtsstaatlicher Infrastrukturen und Leistungen und auch zum Widerstandspotenzial gegen die nationalsozialistische Transformation beigetragen. Zum anderen ist auch gegenüber den mitteldeutschen und sächsischen Protestbewegungen ab Mitte/Herbst 1989 auf deren Mehrdeutigkeit und multiple Anschlussmöglichkeiten zu verweisen. Auch wenn

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es einen rechtspopulismusaffinen oder sogar relativ rasch manifesten Formierungsstrang gab, der bis in die Gegenwart hineinreicht (These 5, 6): In diesen Aufbrüchen und Widerständen 1988/1989 und dann – unter gänzlich veränderten Vorzeichen und institutionellen Bedingungen – 1990 – 1992 wurden auch die Ressourcen mitgeformt, an die 2004/2005 in den Sozialprotesten gegen die Agenda 2010 angeknüpft werden konnte oder in den ,antifaschistischen‘ und antirechtspopulistischen Bewegungen der späten 1990er Jahre und der letzten fünf Jahre. Insofern ist und bleibt es historisch offen, ob und inwieweit habituelle oder mentale Bausteine politisch-praktisch aufgegriffen, geformt und artikuliert werden (etwa in und durch politische Parteien) und ­welche Spielräume für alternative Formierungen und Instrumentalisierungen bestehen.57 Dass also – um wiederum nur eine Illus­ tration vorzunehmen – die populistisch orientierten Unterstützer*innen und Wähler*innen der PDS und dann der Linken, aber auch der SPD in Ostdeutschland nach 2014/2015 zu einem beachtlichen Teil sich rechtspopulistisch äußern und die AfD wählen, ist einerseits rekonstruierbar und plausibel, andererseits war es aber nicht zwangsläufig. Andere Regierungspolitiken und Orientierungen wie Strategien der Partei Die Linke hätten zu anderen Wahlentscheidungen sowie Einstellungsmustern gegenüber Migrant*innen führen können – freilich nicht im Sinne gegenteiliger Verteilungs- und Orientierungsmuster. Daher ist es zwar richtig, dass populistische Mentalitäten und konkrete Einstellungen keineswegs von vornherein und durchgängig antidemokratisch und gleichsam rechtspopulistisch vorgeprägt, mithin für (radikal) linksdemokratische Projekte verloren sind.58 Zugleich stellen aber die antipluralistischen, exklusionsorientierten und das repräsentativ-intermediäre System ablehnenden Habituselemente ein hohes Risiko dar für linksdemokratische Bewegungen, da sie sich eben nicht einfach und kurzfristig re-formieren lassen. Ein letzter Blick zurück auf die Entwicklungslinien des ostdeutschen Rechtspopulismus und seine sozialgeschichtlichen wie habituellen Formierungen plausibilisiert die Feststellung, dass er einerseits keineswegs ein neues Phänomen darstellt. Auch seine Verortung in der Mitte der Gesellschaft, sowohl in den Mittelschichten und ,mittleren‘ sozialen Milieus als auch in der ,politischen Mitte‘ ist alles andere als neuartig. Die historisch orientierten Thesen (3 – 6) haben versucht, dies zu begründen. Neu sind aber zum einen die konkrete habituelle Gestalt als konsolidiertes Produkt auch der letzten dreißig Jahre und deren Aufschichtungslogik (These 6), zum anderen sein konzentrierter Artikulationsausdruck in der 57 Diese Aussage gibt noch einmal Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass die bloße Feststellung einer (vermeintlich) historischen Abfolge, Anschlussmöglichkeit oder Wahlverwandtschaft (wie Lutheranertum – nationalsozialistischer Antisemitismus – staatssozialistischer Antizionismus/Antikosmopolitismus usw.) selbstverständlich keine (kausale) Erklärung bietet. Die Wirkmächtigkeit von kulturellen Aufschichtungsprozessen, die sich u. a. in Habitusformationen niederschlagen, muss rational rekonstruiert und für die gelebte Praxis nachgewiesen werden – z. B. in narrativen Figuren und Argumentationsmustern, Sprachbildern oder politischen und zivilgesellschaftlichen Praktiken. Das konnte hier natürlich nicht geleistet werden. 58 Zu dieser Diskussion siehe Mouffe 2018.

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Partei AfD und seine heute noch stärkere politische Wirkmächtigkeit. Weder die bisher im Osten relevanten politischen Parteien noch die Landesregierungen oder die Bundesregierung können gegenwärtig jenseits der rechtspopulistischen Bewegungen und Mentalitäten agieren. Was das konkreter bedeutet und in Zukunft bedeuten kann, ist nicht mehr Gegenstand des vorliegenden Beitrages. Es sollte aber deutlich geworden sein, dass eine demokratischrepublikanische Antwort nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie die Geschichte vor 1989 ebenso einbezieht wie die Geschichte von Transformation und Vereinigung im Osten – und wenn sie bereit ist, aus den Folgen und Fehlern damaliger Politiken zu lernen.

Oliver Hidalgo

Religion und Kirchen als Widersacher oder Komplizen des Rechtspopulismus?

Religion und ­Kirchen stehen einerseits für ein Wertesystem, das Solidarität und sozialen Zusammenhalt fördern und damit gerade eine pluralistische, multikulturelle Gesellschaft erfolgreich stabilisieren kann. Integrationspolitische Maßnahmen setzen daher nicht zuletzt beim Dialog ­zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften an, umso mehr, als das Gros der Flüchtlinge und Migranten, die gegenwärtig nach Europa kommen, aus muslimisch geprägten Herkunftsländern stammen. Auf der anderen Seite ist zu beobachten, wie sich rechtspopulistische Akteure, Parteien und Programmatiken heute in vielen EU-Staaten als Verteidiger des ,christlichen Abendlandes‘ inszenieren. Dabei appellieren sie gleichermaßen an die religiöse wie nationale Identität ,des‘ Volkes, um die angeblich drohende Unterwanderung durch ,den‘ Islam zu verhindern. Personelle, informelle oder sogar institutionelle Allianzen ­zwischen Religion und Rechtspopulismus sind diesbezüglich keine Seltenheit mehr, wiewohl sich der Zuspruch für die rechtspopulistische Inanspruchnahme der Religion vor allem in Westeuropa bislang eher in außerkirchlichen Formaten abspielt und mithin von offiziellen Verlautbarungen kirchlicher Repräsentanten zu unterscheiden ist.1 Um jene offenkundig komplexe und teilweise paradox bleibende Bedeutung der Religion im Kontext des Rechtspopulismus erfassen zu können, ist von einer grundsätzlichen Ambivalenz religiöser Identitätsbildung auszugehen. In diese Lesart passt es zudem, dass heute eben aufgrund fortschreitender Säkularisierungsprozesse der soziale Bedarf an religiösen Denk- und Erklärungsmustern steigt, womöglich um den verbreiteten normativen Orientierungsverlust in neoliberalen wie postkommunistischen Gesellschaften zu kompensieren. Auf Basis eines solchen reflexiven Zugangs wird es im Anschluss möglich werden, nicht nur das Motiv des von Rechtspopulisten beschworenen Gegensatzes ­zwischen Orient und Okzident im Sinne eines angeblichen ,Kampfes der Kulturen‘ einzubetten, sondern obendrein Argumente zu finden, die die Unzulänglichkeit jener gefährlich vereinfachenden Perspektive verdeutlichen. 1 Vgl. Liane Bednarz 2018: Die Angstprediger. Wie rechte Christen Gesellschaften und ­Kirchen unterwandern. Droemer: München.

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Die gerade angestrengten propädeutischen Überlegungen führen insgesamt zu folgendem Argumentationsweg: Zunächst werden in Kapitel 1 einige gegenläufige Thesen zum Verhältnis von Religion und Rechtspopulismus vorgestellt und mit empirischen Studien verglichen. Im Anschluss identifiziert Kapitel 2 als zentrale Ursache für die ambivalenten Befunde (bzw. deren Interpretationen) die vorhin bereits angedeutete Paradoxie, die derzeit häufig übersehen wird, nämlich dass das Bedürfnis an religiöser Identität in den sich zunehmend säkularisierenden Gesellschaften Europas nicht etwa sinkt, sondern steigt. Vor ­diesem Hintergrund wird verständlich, warum die polarisierenden Inhalte und Kommunikationsstile des Rechtspopulismus gegenwärtig in besonderem Maße geeignet sind, religiös imprägnierte, identitätsstiftende Freund-Feind-Bilder zu konstruieren und so auf die aktuelle Identitätskrise in den europäischen Demokratien zu reagieren (Kapitel 3). Im Fazit gibt der vorliegende Beitrag einen Ausblick, wie auf den eigenwilligen Schulterschluss ­zwischen Religion und Rechtspopulismus adäquat reagiert werden kann.

1. Ambivalente Thesen und Befunde Schon ein kurzer Blick auf die seit mehreren Jahren zunehmend erfolgreichen rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien in Europa genügt, um die Relevanz des religiösen Themas in d ­ iesem Zusammenhang zu verdeutlichen. Vielleicht abgesehen von der Partij voor de ­Vrijheid in den Niederlanden, die sich in Person ihres Vorsitzenden Geert Wilders einen betont säkularen, ja agnostizistischen Anstrich gibt, nehmen im Grunde alle politischen Akteure, die derzeit dem rechtspopulistischen Lager zuzurechnen sind, zumindest sporadische Bezüge auf das christliche Abendland und verstehen sich selbst dabei nicht selten als ,wahre‘ Verteidiger der christlichen Identität: In dieser Hinsicht weisen heute etwa die Alternative für Deutschland (AfD), die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ ), die Schweizer Volkspartei (SVP), die Dansk Folkeparti (DF), der Rassemblement National in Frankreich,2 der Vlaams Blok in Belgien, die Lega in Italien, Fidesz in Ungarn oder die Partei für Gerechtigkeit (PiS) in Polen eine gemeinsame politische Agenda auf, wie man sie bei den traditionell nationalistisch oder chauvinistisch ausgerichteten Rechten in der Vergangenheit eher nicht vorfand. Mögen die Bezugnahmen auch überwiegend oberflächlicher, strategischer sowie die ethische Botschaft des Christentums verfälschender und

2 In dieser Hinsicht sollte allerdings nicht vergessen werden, wie sehr sich Marine Le Pen mittlerweile von den reaktionär-antisemitischen Positionen der Piusbruderschaft, die ihren Vater Jean-Marie noch nachhaltig beeinflussten, distanziert hat. Vgl. Yves Bizeul 2018: Die religiöse Dimension im Denken und Handeln der französischen Rechtspopulisten. In: Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik 2 (2), 365 – 385, hier 375 – 380.

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sogar missbrauchender Natur sein,3 so ist dennoch nicht von der Hand zu weisen, dass das religiöse Thema für die genannten rechtspopulistischen Parteien und Akteure alles andere als eine bloße Randerscheinung bedeutet. Das Schüren des Eindrucks einer bevorstehenden Unterwanderung des ‚Abendlandes‘ durch unkontrollierte Zuwanderung von Muslimen und einen falsch verstandenen ‚Multikulturalismus‘ sowie die Ausgrenzung von ,Fremdgläubigen‘ durch eine exklusive religiös-nationalistische Identität ist vielmehr zu einem zentralen, übergreifenden Credo der einschlägigen Akteure avanciert. Zu verkürzt bliebe entsprechend eine Wahrnehmung, die die bisweilen zur Schau gestellte Nähe von Rechtspopulisten zu konservativ-christlichen Politikauffassungen als wahltaktisches Manöver abtut, um in klassisch-konservativen Wählerschichten zu wildern und die Religion gegenüber den traditionellen christlichen Parteien ebenso für sich zu reklamieren wie die Sozialpolitik gegenüber den Linken und Sozialdemokraten oder die Ökologie gegenüber den Grünen. Stattdessen ist der konstitutive Charakter zu registrieren, den die Berufung auf die (christliche) Religion für die Programmatiken des aktuellen Rechtspopulismus in Europa entfaltet hat 4 – jenseits aller berechtigten Zweifel an einer wirklich substanziellen Komplizenschaft z­ wischen ­Kirchen, Religion und Rechtspopulismus. Denn so oft man auch moniert, wie sehr etwa die Rolle des Vatikans bzw. Heiligen Stuhls in der globalen Migrations-, Flüchtlings- und Armutsfrage den rechtspopulistischen Forderungen widerspricht, wie eindeutig sich am Ende die anglikanische K ­ irche gegen den Brexit positionierte oder wie unmissverständlich sich die polnische Bischofskonferenz von der rechtsextremen ONR und ihrem Slogan „Ave Christus Rex“ distanziert hat – die gleichwohl zu beobachtende Inanspruchnahme der Religion durch rechtspopulistische Kreise stellt doch weit mehr als einen Betriebsunfall dar. Zur Interpretation jenes Phänomens kursieren in der wissenschaftlichen Literatur mehrere vordergründig konkurrierende, bei näherem Hinsehen jedoch durchaus komplementäre Thesen. Als eine Art ‚Kidnappingvorgang‘ beschrieb zunächst ein von Nadia Marzouki, Duncan McDowell und Olivier Roy edierter Band die zunehmend zu beobachtende Berufung von (eigentlich säkularen oder sogar atheistischen) Rechtspopulisten auf die Werte, Traditionen und Symbole des christlichen Abendlandes, die vor allem im Dienste der Konstruktion einer religiös-nationalistischen Identität sowie der Mobilisierung restriktiver Migrationspolitiken angestrengt wird. Nach dieser Lesart bleiben die Verbindungslinien ­zwischen Religion und Rechtspopulismus weitgehend oberflächlich.5 Demgegenüber betont der Religionsaufsatz 3 Besonders deutlich wurde dies beispielsweise während der Brexit-Kampagne, als Morpheus Magnus im April 2015 auf UKIP Daily postete, warum sowohl Christen als auch Atheisten die rechtspopulistische United Kingdom Independent Party wählen könnten und sollten. Siehe https://www.ukipdaily.com/atheistsvote-ukip/ [15. 06. 2019] sowie http://www.ukipdaily.com/why-christians-should-vote-ukip/ [15. 06. 2019]. 4 Für eine empirische Aufarbeitung in dieser Hinsicht siehe etwa das Sonderheft der Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik 2 (2) von 2018. 5 Nadia Marzouki, Duncan McDowell, Olivier Roy (Hg.) 2016: Saving the People. How Populists Hijack Religion. Hurst & Company: London.

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von Michael Minkenberg im Oxford Handbook of the Radical Right die durchaus signifikante programmatische Nähe, die rechtspopulistische und (radikale) religiöse Akteure, Parteien und Bewegungen seit mehreren Dekaden aufweisen, und interpretiert das grundsätzliche Verhältnis ­zwischen Religion und Rechtspopulismus entsprechend als das einer Wahlverwandtschaft, die allenfalls divergenten Konjunkturphasen unterliegt.6 Einen Königsweg z­ wischen diesen beiden gegensätzlichen Auffassungen schlägt schließlich ein neuer Band von Anja Hennig und Mirjam Weiberg-Salzmann vor. Demnach gebe es zwar sehr wohl klassische programmatische und personelle Schnittmengen, doch sei die ,neue Allianz‘ z­ wischen religiösem Fundamentalismus auf der einen und rechtspopulistischer bzw. rechtsextremer Politik auf der anderen Seite, die sich angesichts der angeblich drohenden ,Islamisierung‘ Europas gebildet habe, doch von anderer, bislang ungekannter Qualität. Dazu gehörten nicht zuletzt die gestiegene Sichtbarkeit und Institutionalisierung jener Allianz in Form von einschlägigen (digitalen) Netzwerken und gemeinsamen Aktionen, ­welche zudem von einem wachsenden Split z­ wischen dem nach wie vor gemäßigten kirchlich-offiziellen Mainstream und den sich radikalisierenden politischreligiösen Dynamiken an den Rändern der Gesellschaft begleitet würden.7 Einigkeit besteht in der ansonsten heterogenen Literatur immerhin darin, dass die aktuellen sozioökonomischen Rahmenbedingungen die Nachfrage für s­ olche radikalen religiös-rechtspopulistischen Offerten auffällig geschürt hätten. In dieser Hinsicht kämpfen die Gesellschaften in West- und Osteuropa zum einen mit neuen Bedrohungsperzeptionen, Unsicherheitsgefühlen und Zukunftsängsten, die kausal in erster Linie dem Schock der Finanz- und Eurokrise, der auseinandergehenden Arm-Reich-Schere, den demografischen Entwicklungen (Stichwort: Überalterung) sowie den massiven ökologischen Herausforderungen der Gegenwart geschuldet sind.8 Derartige Ängste finden derzeit in den globalen Flucht- und Migrationsbewegungen sowie der dadurch verursachten kulturellen Pluralisierung einen Katalysator, der vor allem die muslimischen Migranten nicht selten zu Sündenböcken für die genannten Probleme macht.9 Zum anderen aber lässt sich die heutige Konjunktur eines religiös imprägnierten Rechtspopulismus in Europa auch als Reaktion auf die gravierenden Liberalisierungsschübe in den westlichen Demokratien seit den 1970er Jahren auffassen, ­welche für eine substanzielle Transformation der konventionellen 6 Michael Minkenberg 2018: Religion and the Radical Right. In: Jens Rydgren (Hg.): The Oxford Handbook of the Radical Right. Oxford University Press: Oxford, 366 – 393. 7 Anja Hennig, Mirjam Weiberg-Salzmann (Hg.) 2020: Illiberal Politics and Religion in Europe and Beyond. Concepts, Actors, and Identity Narratives. Campus: Frankfurt am Main, New York. 8 Ruth Wodak 2017: Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse. Konturen: Wien. 9 Gert Pickel, Alexander Yendell 2016: Islam als Bedrohung? Beschreibung und Erklärung von Einstellungen zum Islam im Ländervergleich. In: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 10 (34), 273 – 309; Gert Pickel, Susanne Pickel 2018: Migration als Gefahr für die politische Kultur? Kollektive Identitäten und Religionszugehörigkeit als Herausforderung demokratischer Gemeinschaften. In: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 12 (1), 297 – 320.

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patriarchalischen Ordnungs- und Autoritätsvorstellungen sowie den kontinuierlichen Ausbau der Rechte von Frauen, Homosexuellen und kulturellen Minderheiten gesorgt haben. Diese Art der Liberalisierung, als deren auffälligste Merkmale eine grundlegende Antidiskriminierungspolitik, Gendersensibilität, die Einführung der Homoehe/Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare sowie zuwanderungsfreundliche Änderungen im Staatsbürgerschaftsrecht gelten können, stellt für viele konservativ eingestellten Bürger eine Form des sozialen Wandels dar, der sie subjektiv überfordert. Häufig kulminiert die ,unheilige‘ Allianz aus (christlich-fundamentalistischer) Religion und Rechtspopulismus daher in gemeinsamen Feindbildern wie dem Gendermainstreaming, der Geschlechtergleichheit oder der Legalisierung von Abtreibungen, denen das intakte Porträt einer natürlichen, religiös fundierten Geschlechterhierarchie entgegengehalten wird.10 Schließlich sind durch die Digitalisierung bzw. die internetgestützten sozialen Medien neue kommunikative Kanäle entstanden, die eine höchst selektive Informationsaufnahme wenigstens erleichtern. Der Zirkulation und Verbreitung von Verschwörungstheorien,11 ,Fake News‘12 oder Hate Speech 13 kommt dies ebenso zugute wie einer darauf aufbauenden Radikalisierung des politischen Meinungsbildes. Mithilfe von automatisierten Programmen (Bots) und menschliche Identitäten vortäuschenden Fake Accounts lässt sich dabei das Stimmungsbild in den sozialen Medien bis zu einem gewissen Grad steuern und manipulieren.14 Für die Kultivierung (rechts-)populistischer Positionen, zumal in ihrer (pseudo-)religiösen, islamfeindlichen Spielart, bildet dies einen hervorragenden Nährboden. Vor d ­ iesem Hintergrund kann die Vielzahl an aktuellen Studien, die das Merkmal der Religionszugehörigkeit als zentrale Chiffre für den Aufschwung des Rechtspopulismus bewerten, kaum noch überraschen. Dass – neben autoritären und narzisstischen Einstellungen 15 – in 10 Sabine Hark, Paula-Irene Villa (Hg.) 2015: Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen. transcript: Bielefeld; Roman Kuhar, David Paternotte (Hg.) 2017: Anti-Gender Campaigns in Europe. Mobilizing against Equality. Rowman & Littlefield: Lanham. 11 Z. B. Michael Butter 2018: „Nichts ist, wie es scheint“. Über Verschwörungstheorien. Suhrkamp: Berlin. 12 Stephen Coleman 2017: Can the Internet Strengthen Democracy? Polity: Cambridge, 55; Björn Milbradt 2018: Über autoritäre Haltungen in ,postfaktischen‘ Zeiten. Budrich: Opladen. 13 Hieran fällt auf, dass die einschlägigen, von der Anonymität im Netz begünstigten Hassparolen mit der Diskriminierung aufgrund der Abstammung, Religion, geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung, des Aussehens oder der sozialen Herkunft alle klassischen ­Themen bedienen, die für gewöhnlich auch von Rechtspopulisten bedient werden. Siehe http://www.ajs.nrw.de/wp-content/uploads/2016/06/160617_ HateSpeech_WEB2.pdf [08. 06. 2020]. 14 Vgl. Benjamin Moffitt 2016: The Global Rise of Populism. Performance, Political Style, and Representation. Stanford University Press: Stanford; Wolfgang Schweiger 2017: Der (des)informierte Bürger im Netz. Wie soziale Medien die Meinungsbildung verändern. Springer VS: Wiesbaden. 15 Oliver Decker, Elmar Brähler (Hg.) 2018: Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Psychosozial: Gießen; Alexander Yendell et al. 2018: Die Parteien und das Wählerherz 2018. Online: https://www.kredo.uni-leipzig.de/download/0/0/1854636207/01bb88f4da4f​c2abb86b​ ca210dbd9ccc64dc0fa5/fileadmin/www.kredo.uni-leipzig.de/uploads/dokumente/Die_Parteien_​

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erster Linie muslimfeindliche Ressentiments für die Wahl von rechtspopulistischen Parteien in Deutschland 16 und Europa 17 signifikant bedeutsam, wenn nicht ausschlaggebend sind, ist innerhalb der Sozialwissenschaften nahezu zu einem Gemeinplatz avanciert. Jedoch gilt es in d ­ iesem Zusammenhang genau hinzusehen. So suggerieren zwar einige (internationale) Studien einen Nexus ­zwischen christlicher Identität und Ablehnung von Muslimen,18 doch scheint insbesondere in Deutschland die Zugehörigkeit zum Christentum einen gegen Islamophobie und Muslimfeindlichkeit tendenziell eher immunisierenden Faktor darzustellen.19 Zumindest aber lassen sich im Grunde kaum signifikante Unterschiede feststellen, was die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit 20 von praktizierenden Gläubigen und Nichtgläubigen betrifft.21 Eine Divergenz wäre hier allenfalls dahingehend zu konstatieren, dass Mitglieder von ­Kirchen oftmals gemäßigter sind als Konfessionslose, was die Gewaltbereitschaft bzw. die gewaltsame Durchsetzung ihrer gegebenenfalls vorhandenen radikalen Einstellungen anbetrifft. Unterm Strich aber sprechen die bisherigen Indizien eher dafür, dass die

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und_das_Waehlerherz_2018_Yendell_et_al.pdf [08. 06. 2020]. Zum Teil verstärken sich diese Einstellungen auch gegenseitig. Nach der Leipziger Autoritarismusstudie 2018 zeigen sich Mitglieder der christlichen ­Kirchen beispielsweise etwas offener für autoritäre Argumentationsmuster, als dies für Konfessionslose gilt (Gert Pickel, Alexander Yendell 2018: Religion als konfliktärer Faktor in Zusammenhang mit Rechtsextremismus, Muslimfeindschaft und AfD-Wahl. In: Oliver Decker, Elmar Brähler (Hg.): Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Psychosozial: Gießen, 217 – 243, hier 220). Z. B. Kai Arzheimer 2015: The AfD. Finally a Successful Right-Wing Populist Eurosceptic Party for Germany. In: West European Politics 38 (3), 535 – 556; Verena Hambauer, Anja Mays 2018: Wer wählt die AfD? Ein Vergleich z­ wischen Sozialstruktur, politischen Einstellungen und Einstellungen zu Flüchtlingen ­zwischen AfD-Wählern und Wählern anderer Parteien. In: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 12 (1), 133 – 154; Alexander Häusler 2016: Die Alternative für Deutschland. Programmatik, Entwicklung und politische Verortung. Springer VS: Wiesbaden; Susanne Rippl, Christian Seipel 2018: Modernisierungsverlierer, Cultural Backlash, Postdemokratie. Was erklärt rechtspopulistische Orientierungen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 70 (2), 237 – 254. Z. B. Pickel und Yendell 2016; Enes Bayrakli, Farid Hafez (Hg.) 2017: European Islamophobia Report. Seta: Istanbul/Washington D. C.; Kai Arzheimer 2018: Explaining Electoral Support for the Radical Right. In: Jens Rydgren (Hg.): The Oxford Handbook of the Radical Right. Oxford University Press: Oxford, 143 – 165. Z. B. Claire Adida, David Laitin, Marie-Anne Valfort 2016: Why Muslim Integration Fails in ChristianHeritage Societies. Harvard University Press: Cambridge; PEW (Pew Research Institute) 2018: Being Christian in Western Europe. Washington D. C. Z. B. Pascal Siegers, Alexander Jedinger, Hanna Mentges 2017: Religiosity and Support for Right-wing Populist Parties in Germany. Vortrag auf der Jahrestagung des AK Politik und Religion der DVPW am 21. 09. 2017 im Bildungszentrum Kloster Banz. Zu ­diesem Konzept Wilhelm Heitmeyer 2002: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und erste empirische Ergebnisse. In: Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 1. Suhrkamp: Frankfurt a. M., 15 – 36 sowie Andreas Zick, Andreas Hövermann, Daniela Krause 2012: Die Abwertung von Ungleichwertigen. Erklärung und Prüfung eines erweiterten Syndroms der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. In: Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 10. Suhrkamp: Berlin, 64 – 86. Gert Pickel, Alexander Yendell 2018, 221.

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individuelle Religiosität die Bereitschaft zur Wahl rechtspopulistischer Parteien reduzieren könnte, wofür zwei Mechanismen als mögliche Ursachen anzuführen wären: erstens das (eben doch) geringere Ausmaß an fremdenfeindlichen Einstellungen, das aktive Mitglieder christlicher ­Kirchen allem Anschein nach aufweisen, und zweitens die zugleich engere Bindung, die der genannte Personenkreis zu den bereits etablierten Parteien verrät. Während diesbezüglich das Gros der Katholiken nach wie vor mit den Unionspartien sympathisiert, wirkt bei den Protestanten offenbar eine traditionelle Bindung an die Sozialdemokratie nach. Die AfD rekrutiert ihre Wähler daher bis dato bevorzugt aus einem Klientel, das wenigstens offiziell keiner christlichen Konfession angehört. Im Umkehrschluss deutet dies darauf hin, dass der monierte Konflikt ­zwischen ,dem‘ Islam und ,dem‘ christlichen Abendland in Deutschland und anderen Ländern (West-) Europas nicht unbedingt von christlicher, sondern auffallend oft von säkularer Seite aufgespreizt wird. Gerade jene paradoxe Mixtur aus religiöser und säkularer Argumentation bzw. Identität aber ist das eigentlich Auffällige, was allen sonstigen Widersprüchen und teilweise unklaren Befunden zum Trotz bei der Beschäftigung mit dem Thema Religion und Rechtspopulismus konstant bleibt. Folgerichtig wird das anschließende Kapitel eben ­dieses Grundproblem elaborieren.

2. Das Grundproblem religiöser Identitätssuche in säkularen Gesellschaften 22 Der derzeit schwelende Kulturkampf, den Pessimisten bereits als „neuen Bürgerkrieg“ in Europa wahrnehmen 23 und der offensichtlich weniger z­ wischen Christen und Muslimen als ­zwischen radikalen Befürwortern und unerbittlichen Gegnern einer offenen, multireligiösen und kulturell vielfältigen Gesellschaft ausgefochten wird, ist ohne eine vorauszuschickende Einsicht schwerlich zu verstehen: Die in den europäischen Ländern seit langem voranschreitende Säkularisierung im Sinne eines Rückgangs institutionalisierter Religiosität 24 hat die Religion keineswegs völlig zum Verschwinden gebracht oder auch nur ins ­Private 22 Das folgende Kapitel paraphrasiert Überlegungen, die ich kürzlich an anderer Stelle veröffentlicht habe (siehe Oliver Hidalgo 2019: ,Über jedem Wertekonflikt schwebt die Läuterungsagenda‘. Anmerkungen aus demokratietheoretischer Perspektive. In: Sandra Kostner (Hg.): Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte und ihre Folgen für Migrationsgesellschaften. ibidem: Stuttgart, 151 – 179, hier 157 – 163). 23 Ulrike Guérot 2017: Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde. Ullstein: Berlin. 24 Siehe z. B. Thomas Luckmann 1991: Die unsichtbare Religion. Suhrkamp: Frankfurt a. M.; Detlef Pollack 2003: Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland. Mohr Siebeck: Tübingen; Detlef Pollack 2009: Rückkehr des Religiösen? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und Europa Bd. 2. Mohr Siebeck: Tübingen; Danièle Hervieu-Léger 2004: Pilger und Konvertiten. Religion in Bewegung. Ergon: Würzburg; Detlef Pollack, Gergely Rosta 2015: Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich. Campus: Frankfurt a. M., New York.

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verdrängt; stattdessen bilden sich selbst in zunehmend säkularer Umgebung kollektive Identitätsmuster nach wie vor entlang von religiösen Überzeugungen und Grenzen aus. Was auf den ersten Blick vielleicht unlogisch anmutet, scheint bei näherem Hinsehen nur allzu folgerichtig. Schließlich beinhaltet der Begriff Säkularisierung stets eine Aussage über einschlägige Entwicklungen und Dynamiken auf dem Feld der Religionen, weshalb mit dem Attribut ,säkular‘ am ehesten das erfassbar ist, was sich als ,religiöser Wandel‘ beschreiben lässt.25 Implizit schwingt beim ,Säkularen‘ der Referenzpunkt des ,Religiösen‘ also unweigerlich mit, weshalb das Etikett des Säkularen eine (wie auch immer geartete) Bedeutung des Religiösen nicht etwa bestreitet, sondern performativ bestätigt. Jene generelle Bedeutungszuweisung, die durchaus zum Inhalt haben kann, dass Religionen in der Gegenwart ,schwächere‘ (oder wenigstens ,andere‘) Bindungskräfte und Orientierungswahrheiten entfalten, als dies in der Vergangenheit der Fall war, ist im Hinblick auf die soziale Identitätsbildung durch die Prämissen der Social Identity Theory zu konkretisieren.26 Demnach beruht eine positive Unterscheidung der eigenen sozialen (Gruppen-)Identität im Normalfall auf der Abgrenzung von einer relevanten, negativ konnotierten Out-Group. Über die Zugehörigkeit zu einer ,Religion‘ aber ist jene Unterscheidung vergleichsweise leicht zu erzielen, indem der Rekurs auf das Religiöse mitsamt seinen gängigen Chiffren des ,Heiligen‘, ,Wahren‘ und ,Ewigen‘ nicht nur epistemologische und ontologische Orientierungssicherheit, sondern ebenso eine performative Differenzierung von ,Gläubigen‘ und ,Ungläubigen‘ verspricht.27 Eine Aufteilung des politischen Raumes in ein „Wir“ und „Ihr“, Freunde und Feinde ist dadurch unschwer möglich, weshalb sich politische Konflikte auffallend oft entlang religiöser Identitätsmarkierungen strukturieren, ohne dass die Ursachen dieser Konflikte ihrerseits religiös bedingt sein müssten.28 Als moral communities vermögen religiöse Gemeinschaften ihre Mitglieder darüber hinaus ohne eine ,Gläubigkeit‘ im theologischen Sinne zu verbinden, was sie sogar noch in säkularer bzw. pluralistischer Umgebung als Identitätsressource 25 David Martin 2005: On Secularization. Towards a Revised General Theory. Ashgate: Burlington. Auf die dazugehörige sozialphilosophische Debatte über die sprachlichen und essentiellen Verbindungs­ linien ­zwischen Religiösem und Säkularem, in der Namen wie Carl Schmitt, Hans Blumenberg, Jürgen ­Habermas, Niklas Luhmann, Talal Asad, José Casanova oder Charles Taylor den Ton angeben, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. 26 Henri Tajfel 1982: Social Identity and Intergroup Relations. Cambridge University Press: Cambridge; Henri Tajfel, John C. Turner 1986: The Social Identity Theory of Intergroup Behaviour. In: Stephen Worchel, William Austin (Hg.): Psychology of Intergroup Relations. Nelson-Hall: Chicago, 7 – 24. 27 Renate Ysseldyk, Kimberley Matheson, Hymie Anisman 2010: Religiosity as Identity. Toward an Understanding of Religion from a Social Identity Perspective. In: Personality and Social Psychology Review 14 (1), 60 – 71. 28 Oliver Hidalgo 2016: Religionen in der Identitätsfalle? Theoretische Überlegungen zur Ambivalenz religiöser Identität. In: Ines-Jacqueline Werkner, Oliver Hidalgo (Hg.): Religiöse Identitäten in politischen Konflikten. Springer VS: Wiesbaden, 145 – 172.

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prädestiniert.29 Deswegen lässt sich nicht nur ein religiöser Fundamentalismus als äußerst starke Form sozialer Identitätsbildung interpretieren,30 sondern es geschehen gruppenspezifische Ablehnungen und Abwertungen von Menschen überhaupt sehr beharrlich entlang von Kriterien und Stereotypen der Religion, ohne dass dies über die eigentliche Religiosität der betroffenen Personen signifikant etwas aussagt (Stichwort: belonging without believing).31 Umso prekärer wirkt heute das seit längerer Zeit verbreitete sozialpsychologische Gefühl, im Zuge der aktuellen globalen Flucht- und Migrationsbewegungen verschiebe sich in Deutschland und Europa massiv das religiöse Kräfteverhältnis zugunsten ,des‘ Islam und zulasten ,des‘ christlichen Abendlandes.32 Angesichts jener Bedrohungsperzeption kommt es augenscheinlich zu einer Reaktivierung christlicher Identität als Gegenreaktion auf muslimische Zuwanderungsbewegungen.33 Die Vermengung von Säkularem und Religiösem bestätigt sich in ­diesem Kontext in dem paradoxen Vorwurf, der aktuell häufig gegenüber ,dem‘ Islam bzw. ,den‘ Muslimen erhoben wird – von rechtspopulistischer, aber auch oft genug von liberal-konservativer Seite: nämlich dass den muslimischen Migranten vorgehalten wird, sowohl nichtchristlich als auch nichtsäkular zu sein.34 Jener nur auf den ersten Blick aporetische ,Doppelvorwurf‘ lässt sich beispielsweise sowohl in der programmatischen Strategie der Lega in Italien 35 oder des französischen Rassemblement National 36 als auch in den Positionierungen im Umfeld von Pegida 37 oder der AfD in Deutschland 38 belegen. Die Rolle, die die Religion in jenem an sich säkularen Umfeld bekleidet, ist zugleich als Phänomen der „Cultural Defense“ 39 zu titulieren. Demnach lässt sich Religion (in ­diesem Fall das Christentum) erfolgreich zur Verteidigung der eigenen Kultur funktionalisieren, 29 Jesse Graham, Jonathan Haidt 2010: Beyond Beliefs. Religions Binds Individuals into Moral Communities. In: Personality and Social Psychology Review 14, 140 – 150. 30 Peter Herriot 2007: Religious Fundamentalism and Social Identity. Routledge: New York. 31 Dazu auch Yves Bizeul 2009: Glaube und Politik. Springer VS: Wiesbaden. 32 Wolfgang Frindte 2013: Der Islam und der Westen. Sozialpsychologische Aspekte einer Inszenierung. Springer VS: Wiesbaden; Kai Hafez, Sabrina Schmidt 2015: Die Wahrnehmung des Islam in Deutschland. Gütersloh: Bertelsmann. 33 Rogers Brubaker 2015: Grounds for Difference. Harvard University Press: Cambridge; PEW 2018. 34 Hierzu Gert Pickel 2013: Religiosität in Europa und die politische Unterstützung der europäischen Integration – ein bezugloses Nebeneinander? In: Ines-Jacqueline Werkner, Antonius Liedhegener (Hg.): Europäische Religionspolitik: Religiöse Identitätsbezüge, rechtliche Regelungen und politische Ausgestaltung. Springer VS: Wiesbaden, 53 – 82. 35 Jakob Schwörer 2018: Right-wing Populist Parties as Defenders of Christianity? The Case of the Italian Northern League. In: Rechtspopulismus und Religion. Sonderheft der Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik (ZRGP) 2 (2), 387 – 413. 36 Yves Bizeul 2018. 37 Hans Vorländer, Maik Herold, Steven Schäller 2016: PEGIDA. Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung. Springer VS: Wiesbaden. 38 Pickel und Yendell 2018. 39 Steve Bruce 2002: God is Dead. Secularization in the West. Blackwell: Oxford, 39 – 46.

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insbesondere dann, wenn der Bedarf an einer solchen religiös-säkularen Identitätsversicherung als Abwehrreaktion gegen ein verbreitetes Überfremdungsgefühl in weiten Teilen der Bevölkerung steigt.40 Bei den letztlich nach wie vor ,religiös‘ konnotierten Identitätsstrukturen, die demzufolge auch innerhalb säkularer Gesellschaften aufeinanderprallen, handelt es sich freilich gerade nicht um eine Manifestation des von Samuel P. Huntington proklamierten und prognostizierten berühmt-berüchtigten clash of civilizations.41 Stattdessen beherbergt der oben als ,Säkularisierung‘ skizzierte religiöse Wandel seine eigene Art der Eskalationslogik. Gemeint ist der Umstand, dass die (gefühlte) Zunahme von religiösem Fundamentalismus sowie die militante Neuformulierung des Glaubens, die sich derzeit beileibe nicht nur im neosalafistischen Islam, sondern ebenso im Christentum 42 sowie mit Abstrichen im orthodoxen Judentum oder im Hinduismus ereignet, zuvorderst als Antwort auf die global voranschreitenden Säkularisierungsprozesse zu verstehen ist. Wie Olivier Roy in seinem Buch über die Heilige Einfalt (La sainte ignorance) ausführt, bewirke die Säkularisierung nicht zuletzt eine allgemeine kulturelle „Entwurzelung“ von Religionen, ja einen regelrechten „Bruch“ z­ wischen Religion und Kultur.43 Dieser Bruch erweist sich als anfällig für die Herausbildung neuer, sehr sichtbarer und radikalisierter Formen des Religiösen. Denn indem das Säkulare das Religiöse aus seiner traditionellen kulturellen Verankerung herauslöst, autonomisiert sich Letzteres und breitet sich gegebenenfalls mithilfe der modernen Kommunikationstechniken unter ,Interessenten‘ und Konvertiten in rasender Geschwindigkeit aus. Gefährlich daran ist, dass, seitdem das Religiöse infolgedessen nicht länger an ein historisch gewachsenes, differenziertes theologisches Wissen gekoppelt ist, es sich nicht nur immer wirksamer den gesetzlichen Steuerungs- und Kontrollversuchen entzieht, sondern in seinen Ausprägungen nunmehr die komplexen, dialektischen Entstehungsgeschichten von religiösen S ­ itten, Werten und Dogmen übergeht. Das Resultat hiervon ist, dass durch ein engstirniges, unkritisches Festhalten an wörtlichen Überlieferungen (oder auch durch problematische Übersetzungen) der Sinn für die Notwendigkeit einer historischen Kontextualisierung und Quellenkritik verloren geht. Eine Mäßigung des Religiösen wird dadurch zumindest stark erschwert, 40 Gert Pickel, Alexander Yendell, Yvonne Jaeckel 2016: Religiöse Pluralität als Bedrohung oder kulturelle Bereicherung? Die Wahrnehmung von Bedrohung durch Religion im Ländervergleich. In: Ines-­Jacqueline Werkner, Oliver Hidalgo (Hg.): Religiöse Identitäten in politischen Konflikten. Springer VS: Wiesbaden, 83 – 123. 41 Samuel P. Huntington 2006: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Edition Spiegel: Hamburg. 42 In dieser Hinsicht sei nur auf den expandierenden Evangelikalismus und die Pfingstkirchen, aber auch die orthodoxen Verhärtungen innerhalb des zeitgenössischen Katholizismus (wie sie etwa die Piusbruder­ schaft repräsentiert) verwiesen. 43 Olivier Roy 2011: Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen. Siedler: München, 156.

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zumal die ,Heilige Einfalt‘ oftmals überzeugt ist, auf Kompromisse mit Andersgläubigen, Nichtgläubigen oder auch nur den verschiedenen Gruppen der eigenen Glaubensrichtung verzichten zu können. Die gesamte kulturelle Umwelt einer von ihrer eigenen Herkunftskultur abgeschnittenen Religion wird somit nicht nur als „profan“, religiös gleichgültig oder mit säkularem Wertekostüm ausgestattet wahrgenommen, sondern als dekadent und „heidnisch“, das heißt den falschen Göttern zugewandt.44 Im Ergebnis sind Intoleranz und Gewalt gegenüber der ,feindlich‘ empfundenen Umgebung oftmals an der Tagesordnung, auch weil die säkulare Realität bei den vermeintlich ,Glaubenstreuen‘ den Wunsch evoziert, ihren ,bedrohten‘ Glauben mit allen Mitteln zu verteidigen. Der Vormarsch des Fundamentalismus, der unter säkularen Konditionen gemäß der ­Theorie von Roy vorprogrammiert ist, eignet sich offensichtlich sehr dafür, um die ohnehin existente ,Kampfesstimmung‘ z­ wischen den Befürwortern und Gegnern religiös-kultureller Vielfalt weiter anzuheizen. Denn augenfällig scheint der religiöse Fundamentalismus ja all diejenigen zu bestätigen, die von einer grundsätzlich skeptischen Sicht im Hinblick auf die Auswirkungen religiöser Vielfalt angeleitet sind, während diejenigen, die diesbezüglich optimistischer eingestellt sind, Pauschalvorwürfe gegenüber bestimmten Religionsgemeinschaften als unerträglich empfinden. Mit anderen Worten, beide Lager finden im Phänomen des religiösen Fundamentalismus eine Bestätigung der jeweils eigenen Agenda.

3. Der religiöse Rechtspopulismus als Reaktion auf die Identitätskrise Europas Die gegenwärtige politische Situation in den europäischen Demokratien, die von Ängsten und Ressentiments gegenüber ,dem‘ Islam geprägt ist – wobei nicht selten eine Gleichsetzung mit dem ,Islamismus‘ erfolgt 45 -, ist gemäß der vorhin angesprochenen Social Identity 44 Ebd., 28 f. 45 Für (populär-)wissenschaftliche Argumentationen, die eine ­solche höchst problematische Gleichsetzung ­zwischen ,dem‘ Islam als Religion und ,dem‘ Islamismus als politischen Ideologie anstrengen (und das Christentum dazu nicht selten als Gegenbeispiel bemühen), siehe z. B. Hans-Peter Raddatz 2001: Von Gott zu Allah? Christentum und Islam in der liberalen Fortschrittsgesellschaft. Herbig: München; Tilman Nagel 2005: Islam oder Islamismus? Probleme einer Grenzziehung. In: Hans Zehetmair (Hg.): Der Islam. Im Spannungsfeld von Konflikt und Dialog. Springer VS: Wiesbaden, 19 – 35 und Henryk M. Broder 2006: Hurra wir kapitulieren! Von der Politik des Einknickens. Wjs: Berlin. Überzeugend entkräftet mit Blick auf die ambivalente Geschichte des Islam, die die Existenz eines politisch gemäßigten, friedlichen und liberalen Islam nicht ignorieren darf, wird diese einseitige Position z. B. bei Thomas Bauer 2011: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Verlag der Weltreligionen: Berlin; Gudrun Krämer 2011: Demokratie im Islam. Der Kampf für Toleranz und Freiheit in der arabischen Welt. Bundeszentrale für politische Bildung: Bonn; Katajun Amirpur 2013: Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte. C. H. Beck: München und Alexander Flores 2015: Islam. Zivilisation oder Barbarei? Suhrkamp: Berlin. Für eine Rechtfertigung der Trennung von Politik und Religion aus dem muslimischen Raum siehe v. a. Ali Abd-ar-Raziq 2009: Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft.

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Theory geradewegs prädestiniert für eine (Reanimation der) Entgegensetzung ­zwischen christlichem Abendland und muslimischem Morgenland. Die Muslime/Islamisten als negativ konnotierte Out-Group, von der es sich politisch-kulturell abzugrenzen gilt, verlangt zur Definierung einer positiv besetzten In-Group evidentermaßen nach einem Identitätsmuster, das über nationale Grenzen hinausweist, wäre doch ein (isoliert gedachter) Nationalstaat kaum eine relevante Kategorie, die einer überstaatlichen Religionsgemeinschaft wie ,dem‘ Islam überzeugend entgegenzuhalten ist. Auf Seiten des Rechtspopulismus in Europa hat dieser zentrale Aspekt in den letzten Jahren dazu geführt, dass die traditionell (pseudo-) religiöse Verehrung, die rechtspopulistische (oder auch rechtsextreme) Bewegungen säkularen Idealen wie der ,Nation‘ oder dem ,Volkskörper‘ zukommen lassen, explizit ,religiös‘ angereichert wurde durch die Beschwörung der eigenen ,kulturellen Größe‘ entlang der Chiffre des christlichen Abendlandes.46 Dadurch ist nicht nur das einstige Feindbild der Europäischen Union als bis dato dominierende ,Identitätsressource‘ rechtspopulistischer Akteure in West- und Osteuropa in den Hintergrund gerückt, sondern es formieren sich seit Neuerem rechtsradikale Gruppierungen wie etwa die Identitäre Bewegung ihrerseits bevorzugt als gesamteuropäisches Projekt. Der Begriff des christlichen Abendlandes, der heute als derart übernationaler lien social fungieren soll, kaschiert dabei die realen, jahrhundertelangen (Kultur-)Kämpfe, die einst ­zwischen Aufklärern und Kirchenvertretern, Modernen und Konservativen im neuzeit­ lichen Europa tobten, bis sich der ursprünglich massive Widerstand der christlichen ­Kirchen gegen moderne Errungenschaften wie Demokratie, Menschenrechte und Religionsfreiheit sukzessive abschwächte, ehe er – im Übrigen erst tief in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – schließlich ganz zum Erliegen kann. Gleichwohl muss es erstaunen, wenn angesichts jener historischen Frontlinien die Prozesse der Säkularisierung sowie der Trennung von Religion und Politik aktuell als gleichermaßen genuine wie exklusive Leistungen des christlichen bzw. westlichen ,Kulturraumes‘ suggeriert werden.47 Unabhängig davon bleibt festzuhalten: Die momentan zu verzeichnende wachsende Unterstützung, die rechtspopulistische Parteien, Akteure und Programmatiken in den europäischen Bevölkerungen erfahren, ist zu einem nicht unwesentlichen Teil darauf zurückzuführen, dass die einschlägige Rhetorik, das ,Abendland‘ gegenüber den fremdgläubigen Muslimen verteidigen zu wollen, eben jenes kollektiv verbreitete, säkular-religiöse Identitätsbedürfnis anspricht, das weiter oben beschrieben wurde. Exakt diese Position, die derzeit am unmissverständlichsten und Übersetzung und Kommentar. Peter Lang: Frankfurt a. M. u. a. und Abdullahi Ahmed An-Na’im 2008: Islam and the Secular State. Negotiating the Future of Scharia. Harvard University Press: Cambridge, die Vielfalt muslimischer Stimmen zum Verhältnis von Politik und Religion wird abgebildet bei John Donohue, John Esposito (Hg.) 2007: Islam in Transition: Muslim Perspectives. Oxford University Press: New York. 46 Vgl. Minkenberg 2018. 47 Vgl. Huntington 2006.

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rigorosesten von migrations- und islamfeindlichen Rechtspopulisten vom Schlage Viktor Orbáns, Matteo Salvinis, Marine Le Pens oder Heinz-Christian Straches artikuliert und verkörpert wird, besitzt infolgedessen nicht nur hohe Überzeugungskraft in großen Teilen der europäischen Gesellschaften, sondern könnte zugleich eine europaweite Allianz von rechtspopulistischen Parteien anleiten,48 ­welche ohne das gemeinsame Feindbild ,Islam‘ von vornherein undenkbar wäre. Angesichts der Identitätskrise, in die das Europa der Gegenwart infolge der sozialen und ökologischen Schattenseiten der Globalisierung, der (besorgniserregenden) demografischen Entwicklung sowie der weltweiten Flucht- und Migrationsbewegungen gestürzt ist, ist die zu beobachtende rechtspopulistische Inanspruchnahme des Christentums somit de facto mehr als ein Sidekick, um noch mehr Wählerstimmen zu generieren, selbst wenn Letzteres sicherlich eine Rolle spielt. Durch das Feindbild Islam ist die Kategorie der Religion insgesamt zu einem zentralen, wenn nicht dem wichtigsten Unterscheidungsmerkmal für den Prozess kollektiver Identitätsbildung avanciert, fernab von (messbaren) Kriterien wie Kirchenzugehörigkeit und/oder praktizierter Religiosität. Jene religiös-säkulare Identitätsbestimmung und Gruppenpolarisation könnte einen umso hartnäckigeren Charakter annehmen, da radikale Islamisten die von Rechtspopulisten bediente (oder auch betriebene) Spaltung ­zwischen ,westlicher‘ und ,islamischer‘ Welt nur allzu gerne aufgreifen und in ihrer Akquise scheinbar überzeugend darauf verweisen können, Muslime s­ eien in den europäischen Gesellschaften per se unerwünscht sowie massiven Diskriminierungen ausgesetzt, die nach Vergeltung verlangten. Auf beiden Seiten des Radikalismus kommt es dadurch zu weiteren permanenten Abgrenzungsprozessen, die schlimmstenfalls zu einer Spirale von Ressentiments und Gewalt führen. Letztere ließe sich im Anschluss wiederum als Beleg für die angebliche Stichhaltigkeit eines existenten clash of civilizations anführen, ohne zu bemerken, dass es sich hier womöglich nur um eine Selffulfilling Prophecy handelt: Denn wer als Feind behandelt wird, wird es irgendwann wirklich sein, ohne dass es hierfür einer weiteren, substanzielleren Ursache bedürfte. Hinzu kommt, dass das Begehren, ein positives Bild der eigenen Kultur zu entwerfen und gegenüber anderen ,Kulturen‘ zu verteidigen bzw. zu überhöhen, letztlich einer der Grundmotivationen des menschlichen Lebens entspringt, nämlich dem Umgang mit der eigenen Sterblichkeit. So hilft das Vertrauen in die Überlegenheit der eigenen Weltanschauung sowie die subjektive Überzeugung, Teil von bedeutsamen, auf Dauer gestellten, wenn man so will ,unsterblichen‘ Entitäten wie einer Kultur, Nation oder Religion zu sein, den Gedanken an den eigenen Tod zu vermeiden. Im Umkehrschluss resultiert daher aus 48 Siehe hierzu beispielsweise https://www.welt.de/politik/ausland/article192865175/Allianz-von-Orbanund-Salvini-Wenn-die-Linken-gewinnen-wird-Europa-ein-islamisches-Kalifat.html [08. 06. 2020]; https://www.theguardian.com/world/2019/may/02/matteo-salvini-vote-for-nationalist-parties-stopislamic-caliphate [08. 06. 2020].

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dem Gefühl, die eigene Kultur sei von Unterwerfung, Unterwanderung oder Ähnlichem bedroht, bei vielen Menschen ein vermindertes Selbstwertgefühl, was die eigene Sterblichkeit nur umso mehr vor Augen führt. Diese auch als Terror Management Theory bekannt gewordene, empirisch gut belegte These 49 vermag es zu erklären, warum das symbolische Bedrohungspotenzial ,des‘ Islam, sprich die damit einhergehende Angst vor dem ,Untergang‘ des Abendlandes mehrheitlich weit gravierender eingeschätzt wird als etwa das Risiko, Opfer eines islamistischen Terroranschlags zu werden.50 Aus demselben Bedrohungsgefühl erklärt sich im Übrigen auch, weshalb viele (migrationskritische) Menschen unverändert Integration mit Assimilation verwechseln,51 einfach weil es sich bei Letzterer offenkundig um eine Art ,symbolischen‘ Sieg und Bestätigung der Überlegenheit der eigenen Werte handelt, wohingegen die parallele Existenz von unterschiedlichen kulturellen Wertvorstellungen und Weltanschauungen womöglich für sich genommen bereits als Angriff auf das eigene kulturell indizierte Selbstwertgefühl wahrgenommen wird. In einem sozialen und politischen Umfeld, das wie mehrfach im Verlauf des vorliegenden Beitrags erwähnt, von zahlreichen Ängsten und eher düsteren Zukunftsaussichten gekennzeichnet ist, hat ein religiös imprägnierter Rechtspopulismus relativ leichtes Spiel, um den steigenden Bedarf an sozialer Identität und symbolischer Überlegenheit zu befriedigen. Charakteristische Merkmale wie das einseitige, antipluralistische Pochen auf soziale Homogenität qua Ausgrenzung und Diskriminierung von Minderheiten,52 die Polemik gegen liberal-rechtsstaatliche Schranken der Volkssouveränität 53 oder auch ein soziokultureller Autoritarismus 54 sind allesamt Chiffren, die sich über eine rechtspopulistische Instrumentalisierung der (christlichen) Religion nachvollziehbar unterfüttern lassen. Besondere Attraktivität aber entfaltet eine s­ olche Programmatik dadurch, indem sich durch einen womöglich erfolgreichen identitätspolitischen Schulterschluss z­ wischen Religion und Rechtspopulismus Autoritätsgewinne mit Volksnähe kombinieren lassen. Die von rechtspopulistischer Seite für gewöhnlich lancierte völkische, rassistische und fremdenfeindliche Rhetorik erhielte dadurch wenigstens einen größeren Anschein an (transzendenter) Legitimität, was ein willkommenes Alibi für die faktische Etablierung einer neue ,rechten Mitte‘ bilden könnte.55 49 Vgl. Jeff Greenberg, Sheldon Solomon, Jamie Arndt 2008: A Uniquely Human Motivation: Terror Management. In: James Y. Shah, Wendi L. Gardner (Hg.): Handbook of Motivation Science. Guilford Press: New York, 113 – 134. 50 Vgl. Yendell et al. 2018. 51 Siehe z. B. Ruud Koopmans 2017: Assimilation oder Multikulturalismus? Bedingungen gelungener Integration. LIT: Berlin/Münster. 52 Jan-Werner Müller 2016: Was ist Populismus? Suhrkamp: Berlin. 53 Karin Priester 2012: Rechter und linker Populismus. Annäherung an ein Chamäleon. Campus: Frankfurt a. M./New York. 54 Cas Mudde 2007: Populist Radical Right Parties in Europe. Cambridge University Press: Cambridge. 55 Oliver Decker, Johannes Kiess, Elmar Brähler 2016: Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Psychosozial: Gießen.

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Und auch wenn in dieser Hinsicht eine Abkehr von den eigentlichen inhaltlich-ethischen Kernbotschaften des christlichen Glaubens unvermeidlich ist, wäre einer gelingenden religiös-rechtspopulistischen Identitätsmarkierung immerhin zuzutrauen, vorhandene ethnische, sprachliche und kulturelle Unterschiede in eine vermeintlich höhere Dimension zu transportieren und dadurch zu verabsolutieren. Unterm Strich erweist sich das Thema der Religion somit im Ganzen als Schlüsselfrage in der politischen Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus. Mit anderen Worten, die Religion konturiert ein Feld, auf dem es angesichts der Herausforderung durch den Rechtspopulismus viel zu verlieren, aber auch sehr viel zu gewinnen gibt.

4. Fazit: Vermeidung einer rechtspopulistischen Identitätsfalle Im Umgang mit dem religiös angereicherten europäischen Rechtspopulismus der Gegenwart scheint eine eher unbequeme Einsicht unvermeidlich: Es ist nicht zu leugnen, dass das programmatische und rhetorische Angebot einschlägiger Akteure ein mittlerweile gewachsenes, sozialpsychologisch tief verwurzeltes Bedürfnis adressiert und bis zu einem gewissen Grad auch zu stillen vermag. Ein lediglich rationales Bewusstmachen der Tatsache, auf welch selektive sowie widersprüchlich bleibende Weise Rechtspopulisten die christliche Religion gemeinhin für sich reklamieren, wird als Gegenstrategie mithin nicht ausreichen. So sehr sich die Amtskirchen deswegen heute offiziell mühen, die christliche Botschaft vor einer rechtspopulistischen Deformation zu retten, die dahinter stehenden emotionalen Affekte sind auf ­diesem Weg nicht zu bändigen und die ,Deutungshoheit‘ über die Religion kaum wiederzuerlangen. So nachvollziehbar und letztlich legitim die Befriedigung der geschilderten religiösen wie säkularen Identitätskonstruktion allerdings ist, einige Fallstricke gilt es in ­diesem Zusammenhang dennoch zu vermeiden. Die politischen Gegner eines religiös imprägnierten Rechtspopulismus haben sich daher unweigerlich bewusst zu machen, wie leicht einseitig zugespitzte, verkürzte Debatten wie die missverständliche Frage, ob „der“ Islam zu Deutschland gehört oder nicht, Gefahr laufen, in eine mit Bedacht ausgehobene religionspolitische Falle zu tappen. Schließlich wird die von Rechtspopulisten forcierte identitätspolitische Reduzierung der Religion als bloßes Merkmal der Zugehörigkeit zu einem Kollektiv durch eine derartige Fragestellung performativ übernommen, ganz so, als würde der Glaube an eine bestimmte Religion die Identität von Individuen ultimativ determinieren. Sogar für den Fall, dass die Frage, ob ,der‘ Islam oder ,die‘ Muslime zu ,Deutschland‘ oder zu ,Europa‘ gehören, positiv beantwortet wird, hat der oder die Fragensteller damit zumindest die Möglichkeit eingeräumt, sie argumentativ verneinen zu können. Dies erweckt den gewollten oder nicht gewollten Eindruck, als stünde es überhaupt zur Disposition, dass Muslime in den

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europäischen Demokratien trotz der dort garantierten Religionsfreiheit nicht willkommen sein könnten oder dass sie gegebenenfalls ihre religiösen Überzeugungen aufgeben müssten, wollten sie sich integrieren. Das prekäre Resultat solch verkürzter Debatten ist es, dass die Option förmlich abgeschenkt wird, die notwendigen Differenzierungen vorzunehmen. Dass es unter Muslimen wie Christen und anderen Religionsgemeinschaften stets Radikale und Gemäßigte, Fanatiker und Tolerante, Integrationswillige und -unwillige, Strenggläubige und lediglich formelle Mitglieder gibt, droht im Zuge dessen unterzugehen. Anstatt daher das strikte Freund-Feindund Schwarz-Weiß-Denken der Rechtspopulisten zu übernehmen (was im Übrigen auch geschieht, wenn Muslime pauschal als Opfer, Diskriminierte, moralisch bessere Menschen dargestellt werden), kann der Ausgangspunkt für eine angemessene, problembewusste politische Debatte einzig die interreligiöse wie intrareligiöse Vielfalt der Glaubensgemeinschaften in den demokratischen Rechtsstaaten Europas sein. Jene Heterogenität gilt nicht nur für die in diverse sunnitische und schiitische, neosalafistische und liberale (Unter-)Gruppen aufgespaltenen Muslime, sondern genauso für Christen, deren Überzeugungen eine immense Bandbreite an politischen Einstellungen zulassen. Dass es mithin sowohl Wahlverwandtschaften ­zwischen christlichen und rechtspopulistischen Positionen als auch (und sogar überwiegend) markant oppositionelle Äußerungen und Haltungen von Christen gegenüber rechtspopulistischen Parolen gibt,56 kann demnach kaum überraschen. Dies bestätigt einmal mehr die grundsätzliche Ambivalenz, die die Religion in politischer Hinsicht stets impliziert und von der eingangs schon die Rede war. Für das Christentum bedeutet dies, dass ein Korpus an Ideen wie die Nächstenliebe und Geschwisterlichkeit einerseits der Ausbildung rechtspopulistischer Vorurteile entgegensteht, dass jedoch andererseits Parameter wie das Wahrheitsdogma der Offenbarung oder die strikte Unterwerfung unter den identifizierten ,Willen‘ Gottes unter Umständen auch Absolutheitsansprüche und somit Intoleranz und Radikalität befördern können. Aus christlicher Verantwortung heraus lässt sich angesichts solcher Vielfalt und Ambivalenz von vornherein keine übergreifende inhaltliche Agenda (etwa auf dem Feld der Fluchtund Migrationspolitik) und entsprechend auch keine allgemein verbindliche Positionierung zum Rechtspopulismus festlegen. Wie andere Gruppierungen auch werden gläubige Christen daher stets unterschiedlichen politischen Lagern angehören und die politischen Implikationen ihrer Glaubensüberzeugung kontrovers diskutieren. Die Grenzen, die es von allen Seiten zu respektieren und zu verinnerlichen gilt, werden hier von der grundrechtlich 56 Gert Pickel 2018: Religion als Ressource für Rechtspopulismus? Zwischen Wahlverwandtschaften und Fremdzuschreibungen. In: Rechtspopulismus und Religion. Sonderheft der Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik (ZRGP) 2 (2), 277 – 312; Hilke Rebenstorf 2018: ,Rechte‘ Christen? Empirische Analysen zur Affinität christlich-religiöser und rechtspopulistischer Positionen. In: Rechtspopulismus und Religion. Sonderheft der Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik (ZRGP) 2 (2), 313 – 333.

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geschützten Religionsfreiheit sowie dem (leider missverständlichen) Grundsatz weltanschaulicher Neutralität bestimmt, für die die Verschiedenartigkeit auf dem religiösen Sektor oberste Prämisse ist. Insofern bildet es die eigentliche Herausforderung, die der christlichen Religion aktuell durch rechtspopulistische Akteure widerfährt, deren plumpe Freund-FeindBilder nicht auf den Bereich des Religiösen abfärben zu lassen. Anders ausgedrückt, eine ,christliche‘ Identität zeichnet sich heute am ehesten darin aus, die Identitätsfalle, in die Rechtspopulisten die christliche Religion wie den Islam stürzen wollen, mit allen verfügbaren Kräften zu vermeiden.

Rebecca Pates

Die Wölfe sind zurück Biopolitische Figurationen von Zugehörigkeit

1. Die Wölfe sind zurück. Politische Debatte in der Lausitz An einem Januarabend im Jahr 2019 lud die Landtagsabgeordnete Dr. Kirsten Muster von der Blauen Partei zu einem Bürgerforum in der Gaststätte Zur Grafschaft von Neudorf Klösterlich in der Nähe von Wittichenau ein, um über Wolfspolitik zu reden. Der Einladung zu „Lausitzer Wölfe“ Artenschutz braucht Grenzen 1 waren drei Dutzend Männer und fünf Frauen gefolgt, die sich im späteren Verlauf als Förster, Jäger, Bäuerinnen und Honoratioren Wittichenaus und Umgebung zu erkennen gaben. Auch anwesend war der Zahnarzt, der eine Petition mit 18.600 Unterschriften gegen den Wolfsschutz initiiert hatte und Sprecher der Bürgerinitiative Wolfsgeschädigte/besorgte Bürger war. Kirsten Muster versuchte zunächst mit Unterstützung ihrer Mitarbeiterin in einem PowerPoint-Vortrag zu erklären, dass die EU -Artenschutzpolitik und die bundesdeutschen Wolfsschutzgesetze an den Nöten der Bevölkerung der Lausitz vorbeigehe: Erstens sei Wolfsschutz an und für sich nichts Schlechtes, aber die Wölfe der Lausitz ­seien keine hiesigen, sächsischen Wölfe, sondern westpolnische Wölfe, also eingewandert. Zweitens ­seien viele vermeintliche Wölfe Abkömmlinge von Hunden, die sich mit Wölfen eingelassen hätten, also keine reinen, sondern hybride Wölfe. Der strenge Artenschutz greife also nicht, im Grunde ließen sich Wölfe jetzt schon abschießen. Sie gehörten nicht hierher, vielmehr s­ eien sie als Invasoren schädlich für die „gewachsenen Kulturlandschaften“ der Lausitz. In ­diesem Fall könne man nicht von Brüssel aus sehen, was die Bevölkerung brauche, hier müsse man von Sachsen aus auf neue Politiken drängen.

1 Siehe Abb. 1, Ankündigung auf Kirsten Musters Facebook-Seite, In: Kirsten Muster 2019: Blaue Wende. Das Bürgerforum. Die blaue Partei lädt zur Diskussionsrunde ein. „Lausitzer Wölfe“ Artenschutz braucht Grenzen. Online: https://www.facebook.com/kirsten.muster.98 [08. 06. 2020].

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Abb. 1  Ankündigung auf Kirsten Musters Facebook-Seite

Die Anwesenden wollten jedoch zunächst nicht über Wolfspolitik reden, sondern über die Treulosigkeit der Frauke Petry, Vorsitzende der Blauen, die mit fünf anderen sächsischen Landtagsabgeordneten zwei Jahre zuvor aus der Alternative für Deutschland (AfD) ausgetreten war, um ihre eigene Fraktion Die Blaue Partei zu gründen. Die Blauen sahen sich als bürgerlich-konservativ, und sie grenzten sich entschieden von der Vergangenheitspolitik der AfD ab. Wie der politische Ethnologe Nitzan Shoshan betont, liege die Unterscheidung ­zwischen vielen rechtskonservativen bis rechtsextremen Parteien in der Frage des „Abstandes zur Vergangenheit“.2 Die moderateren Blauen sorgten sich – wie der Aufbruch Deutscher Patrioten Mitteldeutschland, eine andere Absplitterung von der AfD, die mit André Poggenburg aus dem entgegengesetzten Grund die AfD verlassen hatte – um ihre Ziehkräfte, und ihr geringer Erfolg bei den Landtagswahlen 2019 in Thüringen und Sachsen 2 Nitzan Shoshan 2016: The Management of Hate. Nation, Affect and the Governance of Right-wing Extremism in Germany. Princeton University Press: Princeton, 9.

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schien diese Sorge zu bestätigen. An d ­ iesem Abend also wollte sich die promovierte Juristin Muster für die Belange der Menschen in der Lausitz einsetzen, indem sie die Angst vor dem Wolf aufgriff. Doch die Blauen hatten sich mit ihrer Abspaltung von der AfD keine Freunde im Raum gemacht. Ein Fischrestaurantbetreiber meinte, mehrere Leute – Jäger – hätten den Raum schon verlassen, weil „das hier“ doch nichts bringe. EU-Richtlinien ­seien nicht gottgegeben, und man müsse sich nicht an ihnen abarbeiten. Die ‚Blaue Wende‘ möge doch eine richtige Wende einleiten, rief er, zum allgemeinen Applaus im Raum. Hier in Sachsen und in der Lausitz wolle man keine Wölfe. In der DDR habe nichts gefehlt: Man habe keine Angst um Schafe haben müssen, es habe keine Wölfe gegeben, und man habe noch unbeschwert in die Wälder gehen können. Der Applaus wurde noch lauter, als ein älterer Mann, der sich als Jäger und Tierarzt vorstellte, rief: „Der Wolf gehört nicht nach Sachsen, nicht in die Lausitz, nicht nach Deutschland!“ Es ging an dem Abend viel darum, wer in welches Territorium gehöre, darum, wer das feststellen dürfe, und darum, dass man sich in den Städten, wo die Entscheidungen getroffen würden, wenig um die Belange und die Ängste der Landbevölkerung kümmere. In der Tat ging es auch um die Angst vor dem Wolf. Eine Frau, die sich mit den Worten vorstellte: „Ich bin ja nur eine dumme Bäuerin“ und als Besitzerin von vier Schafen, meinte, sie lebe in ständiger Angst davor, ihre Schafe morgens beim Weidebesuch gerissen aufzufinden. Sie setzte sich dafür ein, zum Schutz der Menschen und der Schafe Wölfe zu schießen. Ich esse meine Schafe genauso wie der Wolf, aber wenn ich sie schlachte, dann mit Respekt.

Der Wolf respektiert meine Schafe nicht, er massakriert sie. Es sind die Grünen, die bringen

die Wölfe hierher, die wollen uns alle an den Kragen, zuerst mit den Asylanten, dann mit den

Wölfen. Die sollte man doch alle erschießen.

Ein älterer Mann meinte: Seitdem sie den Wolf zur Ikone des Artenschutzes erklärt haben, befinden wir uns in einem dauerhaften Krieg! […] Die Gesetze sind für den Menschen da! Aber wir merken heute, dass

sich sehr viele Menschen, die von dem Wolf leben, die große Gehälter bekommen, sich an ihren

Arbeitsstätten und der sogenannten Forschung festklammern – wir wissen über den Wolf genau so viel wie die Humanmedizin über den Menschen. Und deshalb ist alles Scheinforschung. Das

wollte ich nur sagen.

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Abb. 2  Ein Slogan der AfD

Ein anderer Mann mit Ziegenbart argumentierte: „Auf Kosten der Landbevölkerung hier ein Tier wieder einzuführen in eine Kulturlandschaft, eine gewachsene Kulturlandschaft, ist eine Frechheit sondergleichen.“ Ein zweiter älterer Herr: „Es gehört auch zur Demokratie, dass man die Wahrheit sagt. Und das ist das Letzte, was ich sage: Der Wolf passt nicht nach Sachsen, in die Lausitz und auch nicht nach Deutschland.“ Der Pegida-Sprecher und „Säxit“-Befürworter Engelbert Merz fügte hinzu: „Lasst uns die Wölfe fangen und in Käfige stecken und den Grünen in den Städten zuschicken,3 dann sehen die, wie das ist, mit den Wölfen zu leben.“ Seine Überlegungen wird er s­ päter immer wieder untermalen mit dem Ausruf: „Denn ich bin das Volk!“ Der Zahnarzt meinte in einem informellen Gespräch mit der Autorin im Abschluss an die Veranstaltung trocken: „Der ist aus dem Westen.“ Aber widersprochen hatte ihm niemand.

2. Der Wolf als Symptom eines Krieges um Repräsentation Die Politik um den Wolf ist ganz klar eine Affektpolitik. Es geht um Erregung, ein „dauerhafter Krieg“ ­zwischen Stadt und Land wird festgestellt, von Grünen gegen Tierhalter, von „denen“ mit den großen Gehältern, aber auch eine Furcht vor Zerstörung des „Lebensraums“ 3 Abb. 2 zeigt einen Slogan der AfD: „Grüne Stoppen, Umwelt Schützen“. Auch hier sind Anti-Grüne Ressentiments deutlich. In: AfD: Schöne Grüne Welt? Online: http://www.afd.de/umwelt/ [08. 06. 2020].

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und ein Ringen um Ordnungsvorstellungen und Angst vor Verlust. Aber auch die Meinung, der Wolf sei Teil einer gezielten Umvolkungspolitik,4 wird immer wieder geäußert, weil erstens die hiesige Bevölkerung vergrault werden solle und zweitens andere („Ausländer“) herzögen und Kinder bekämen.5 Hier sehen wir ein loses Kontinuum von Sorgen, welches die Landbevölkerung – besonders in Regionen, die von Bevölkerungsschwund betroffen sind – zu den neuen Parteien treibt, die im Osten stärkeren Zulauf erhalten als im Westen: die Annahme, nicht gehört zu werden. Dabei sei doch gerade der Vorteil, durch den sich die bundesrepublikanische Demokratie von den Diktaturen der vorherigen Regime abgrenze, dass mit der Formel „Ich bin doch hier das Volk!“ Vorstellungen des eigentlichen Demos aktiviert würden, der aber von der gegenwärtigen Politik entweder nicht gehört werde oder aber in den politischen Entscheidungen nicht gut genug repräsentiert sei. Um es anders auszudrücken: Die Repräsentationslücke wird aus Anlass einer Diskussion um den Wolf zu einem dominanten Thema. Bei der Repräsentationslücke handelt es sich um eine „Kluft ­zwischen den Erwartungen der Bevölkerung an die politischen Verantwortlichen und deren Bereitschaft, diesen Erwartungen zu genügen“.6 Diese Repräsentationslücke wird zunehmend in Bezug auf E ­ inwanderung 4 Hier sollte erwähnt werden, dass nicht alle „rechten“ Diskurse um den Wolf zu ­diesem Schluss kommen. Die NPD-nahe Zeitschrift Umwelt und Aktiv argumentiert im Gegenteil, dass Wölfe, im Gegensatz zu Ausländern, die hier auch als „humanoider Kulturneophyten“ bezeichnet werden, sehr wohl nach Deutschland gehörten; siehe Gerhard Keil 2017: „Willkommenskultur für tierisch gute Rückkehrer statt schächtende Zuwanderer“. In: Umwelt & Aktiv. Naturschutz – Tierschutz – Heimatschutz. Zeitschrift für gesamtheitliches Denken 2, 29 – 33, hier 29. 5 Umvolkung ist ein nationalsozialistischer Begriff, meinte aber eine rassistische und massenmörderische Politik der Vertreibung von Einheimischen in der Tschechoslowakei und in Polen, damit deren Bevölkerung von Deutschen ausgetauscht werden können. Hier ein Zitat aus einem nationalsozialistischem Dokument von 1940, welches die rassistische Bevölkerungspolitik in Böhmen und Mähren beschreibt: „Der rassisch wertvolle Bevölkerungsteil soll der Umvolkung zugeführt, der rassisch unbrauchbare und der reichsfeindliche Teil der Tschechen jedoch von der Eindeutschung ausgeschieden und einer Sonderbehandlung unterworfen werden. Erforderlich wird zur Trennung dieser beiden Hauptklassen eine Bestandsaufnahme des gesamten im Protektorat lebenden Menschenmaterials.“ Siehe: Vorschläge zur Vorbereitung der Germanisierung (Umvolkung) im Protektorat Böhmen und Mähren. In: Herder-Institut (Hg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Protektorat Böhmen und Mähren“, bearb. von Stefan Lehr (Münster). Online: http://www.herder-institut.de/resolve/ qid/2942.html [08. 06. 2020]. Achtzig Jahre s­ päter können wir eine klare Bedeutungsverschiebung feststellen: dient die Umvolkungsdebatte dazu, sich als Opfer der neuen Deutschen darzustellen, die ähnlich wie die Reichsdeutschen im Nationalsozialismus unerbittlich und brutal die Einheimischen vertreiben. Diejenigen, die heute von Umvolkung reden, sehen sich also eben nicht als „die neuen Nazis“, sondern als deren Opfer. Die Nazis – oder zumindest Diktatoren von heute – sei die Bundesregierung. Daher auch die Vergleiche mit der Résistance, mit Stauffenberg und den Geschwistern Scholl. Nicht nur ist der Nazi immer der andere, wie Nitzan Shoshan gezeigt hat, sondern man selbst ist auch immer das Opfer der Nazis, vgl. Nitzan Shoshan 2016. 6 Heinrich Best, Lars Vogel 2018: Representative Elites. In: Heinrich Best und John Higley (Hg.), The Palgrave Book of Political Elites, 339 – 362. Palgrave Macmillan UK: London.

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allgemein festgestellt, weil die politischen Eliten weitaus migrationsfreundlichere Werte wiedergeben als der Bevölkerungsdurchschnitt, und das europaweit.7 Für Thüringen stellten die Autoren des Thüringen-Monitors fest, dass diese migrationsfeindlichen Werte jedoch nicht (oder nicht nur) Migranten an und für sich beträfen: Als „fremdenfeindlich“ erkannte Haltungen [resultieren] zu einem erheblichen Anteil aus einer

„Ethnisierung der sozialen Frage“ und einem Sozialstaats-Nationalismus, der wiederum in der

Vorstellung begründet ist, dass die Umverteilungsmechanismen des Sozialstaats wie ein Nullsummenspiel funktionieren, an dem nur Beitragszahlende teilnehmen dürfen.8

Diese Ethnisierung des Sozialen besteht aus einer grundsätzlichen Unterscheidung ­zwischen denjenigen, die Migration als Bereicherung, und denen, die Migration als Problem ansehen. Diese unterschiedlichen Ansichten wiederum sind Ausdruck eines neuen Klassengegensatzes, wenn wir Andreas Reckwitz folgen.9 Die einen, oft mit Hochschulbildung und einer urban geprägten Biografie, interpretieren Migration als Bereicherung und als der Wirtschaft zuträglicher Faktor; sie sehen sich als eher von einer universalistischen Ethik geprägt. Die anderen geben sich als Globalisierungsskeptiker und bevorzugen auch eine partikularistische Ethik. Eine Solidarität, die auf dieser partikularistischen Ethik fußt, ist längst auch in politischen Kreisen tragfähig geworden. Sie besteht grundsätzlich in dem Prinzip: „Wir haben andere Rechte, weil wir (etwa) zuerst da waren, oder, etwas differenzierter, Ought implies can [Hervorhebung im Original], und da es nicht genug (Arbeit, Sozialhilfe, Beteiligungsrechte …) für alle gibt, können nicht die Rechte aller umgesetzt werden.“ 10 Eine partikularistische Ethik erlaubt nicht nur die ungleiche Verteilung von Gütern, sie fordert sie gar. In der neuen partikularistischen Solidarität, ­welche auch Wohlfahrtschauvinismus genannt wird, ist es eine geradezu gängige Forderung, Sozialleistungen für die sozial Schwachen zu senken oder sie sogar abzuschaffen. So argumentiert Thilo Sarrazin in seinem Bestseller Deutschland schafft sich ab, dass die Ärmeren gar keine Sozialleistungen verdienten, sie s­ eien eben weniger leistungsorientiert, ja gar weniger leistungsfähig: 7 Heinrich Best 2019: Demokratie als Wagnis. Auf der Suche nach den Wurzeln von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Thüringen. In: Manuel Fröhlich, Oliver W. Lembcke, Florian Weber-Stein (Hg.), Universitas. Ideen, Individuen und Institutionen in Politik und Wissenschaft. Nomos: BadenBaden, 201 – 226. 8 Heinrich Best, Steffen Niehoff, Axel Salheiser, Lars Vogel 2017: Thüringens ambivalente Mitte. Soziale Lagen und politische Einstellungen. Ergebnisse des Thüringen-Monitors. KomRex – Zentrum für Rechtsextremismusforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration: Jena, 200. 9 Andreas Reckwitz 2019: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Suhrkamp edition: Berlin. 10 Rebecca Pates 2011: Die Hölle sind immer die anderen. Moralische Ordnungen in Trainings gegen Rechtsextremisten. In: Elena Buck et al. (Hg.): Ordnung. Macht. Extremismus. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 212 – 239.

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Während die Tüchtigen aufsteigen und die Unterschicht oder untere Mittelschicht verlassen, wurden und werden in einer arbeitsorientierten Leistungsgesellschaft nach ,unten‘ vor allem

jene abgegeben, die weniger tüchtig, weniger robust oder ganz schlicht ein bisschen dümmer und fauler sind.11

Das Leistungsprinzip, im Arbeiterbewusstsein seit jeher ein wichtiger Gerechtigkeitsmaßstab, wird zu einem Selektionsmechanismus umdefiniert, der eine natürliche Bestenauslese mit klassenkonstitutiver Wirkung begünstigt. Wer unten ist, der ist es nach dieser Logik ‚zu Recht‘.12 Insbesondere wer nicht leistungsfähig ist, soll aufgrund der partikularistischen Ethik also ausgeschlossen werden, und wie Sarrazin es schon vor zehn Jahren ausgedrückt hat, gelten Menschen mit Migrationshintergrund oft als weniger leistungsfähig.13 Auch der Wolf wird in diesen Darstellungen oft als nicht leistend dargestellt, als unnütz, ohne Zweck. Hier finden wir eine Brücke zur Migrationsdebatte, die Europa seit den großen Fluchtbewegungen um 2015 dominiert hat. In einer Bundestagsdebatte zum Wolfsmanagement im Februar 2018 wies der AfDBundes­tagsabgeordnete Karsten Hilse auf die Parallelen z­ wischen Wölfen und Migranten hin: Beide ­seien in deutsches Gebiet eingedrungen, beide schadeten dabei der einheimischen Population auf ähnlich massive Weise: In den letzten Jahren haben diejenigen, die sich dafür interessiert haben, gesehen, wie invasives

Eindringen in bestehende Lebensräume zu massiven Problemen der dort schon länger Lebenden

führen kann. Naturschützer wissen natürlich wovon ich spreche: von Kormoranen und Bibern.14

Bei der zweiten Lesung des Gesetzesentwurfs ein Jahr ­später, am 21. Februar 2019, sprach er noch deutlicher, und mit weniger Ironie:

11 Thilo Sarrazin 2010: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. Deutsche Verlagsanstalt: München, 79 f. 12 Klaus Dörre, Sophie Bose, John Lütten, Jakob Köster 2018: Arbeiterbewegung von rechts? Motive und Grenzen einer imaginären Revolte. In: Berliner Journal für Soziologie, 28 1 – 2, 55 – 89. 13 Das ist Thema eines von der Autorin geleiteten, BMBF-geförderten Forschungsprojekts Fremde im eigenen Land? Über die Veränderbarkeit nationaler Narrative mithilfe Politischer Laboratorien (PoliLab), welches sich auch ­diesem Thema widmet. Es ist augenscheinlich, dass die Eigengruppe als besonders leistungsfähig und leistungsbereit gilt, ob das nun Türken in Kreuzberg sind, Dänen in Schleswig-Holstein oder Sachsen in der Lausitz. Als fremd wahrgenommene Gruppen sind oft graduell klassifiziert als weniger leistungsbereit, zuweilen auch als weniger leistungsfähig. Dies hat einen starken Einfluss auf die Gerechtigkeitsempfindungen der einzelnen bezüglich des – universalistisch aufgebauten – Wohlfahrtsstaates. S. dazu auch Philip Manow 2018: Die Politische Ökonomie des Populismus. Suhrkamp Verlag: Berlin. 14 Deutscher Bundestag (Hg.) 2018: Stenografischer Bericht 12. Sitzung. Plenarprotokoll 19/12. Online: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/19/19012.pdf [08. 06. 2020], 963.

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Das größte Problem aber ist, dass es sich um ein unverantwortliches und folgenschweres Experi-

ment handelt, (Beifall bei der AfD) ein vorrangig in sehr dünn oder gar nicht besiedelten Gebie-

ten lebendes großes Raubtier in ein dicht besiedeltes Gebiet zu bringen – wohl wissend um die

möglichen Folgen. Niemand hat Ihnen das Recht gegeben, d ­ ieses Experiment durchzuführen.

(Beifall bei der AfD – Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [Bündnis 90/Die Grünen]) Die Folgen

laufen genau wie bei der großen Transformation aus dem Ruder. (Steffi Lemke [Bündnis 90/

Die Grünen]: Sind wir doch bei den Verschwörungstheorien!) Während die große Transformation Mord, Totschlag und Vergewaltigung in nie dagewesenem Ausmaß und eine Verrohung der Gesellschaft bringt, verursacht das Wolfsexperiment Schäden in Höhe von Hunderttausenden

von Euro. […] Der links-grüne Träumerblock hält am Weiter-so in der Wolfspolitik fest. Der

Wolf ist das zu verehrende heilige Tier. (Lachen der Abg. Amira Mohamed Ali [Die Linke]) Derweil werden tausende Nutztiere teilweise bei lebendigem Leibe gefressen. ( Jürgen Trittin

[Bündnis 90/Die Grünen]: Vegetarier!) Das bringt mich dazu, den Tierfreunden an den Bildschirmen mal deutlich zu machen, dass Wölfe ihre Beute eben nicht immer, wie es Raubkatzen

tun, mit einem Kehlbiss töten. (Oliver Krischer [Bündnis 90/Die Grünen]: Der Storch frisst den

Frosch auch bei lebendigem Leib!) Die Beute wird oft genug bei lebendigem Leibe gefressen.

Die Tiere sterben qualvoll irgendwann an Blut- und Massemangel. Solche Details werden den

Wolfspaten in den Großstädten natürlich vorenthalten. Es könnte ja sein, dass ihre monatlichen

Spenden ausbleiben und sich einige Wolfsmanager einen neuen Job suchen müssen. (Beifall bei der AfD – Harald Ebner [Bündnis 90/Die Grünen]: Nieder mit der Ringelnatter!) Was sagt nun

aber die betroffene Landbevölkerung? Was macht der Weidetierhalter, wenn Isegrim ihn zum

wiederholten Male heimgesucht hat, wenn er am Morgen auf die Weide kommt und er mehrere

seiner Schafe gerade noch lebendig, mit aufgerissenen Bäuchen, herausquellenden Gedärmen

oder angefressenen Hinterläufen vorfindet? Er schreitet zur Tat. (Zuruf der Abg. Sabine Leidig

[Die Linke]) Wenn eine Regierung die Menschen mit ihren Sorgen allein lässt und sie gleichzeitig bei der Migrationspolitik tausendfachen Rechtsbruch begeht, (Zurufe von der SPD, der

LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) sinkt die Hemmschwelle der Betrof-

fenen, das Problem allein zu lösen.15

Hilse problematisiert hier nicht nur die Wolfsverbreitung, die er einem „Experiment“ zuschreibt und mit der Migration zusammenbringt. Ob er hier auf Verschwörungstheorien anspricht, nach denen Wolfswelpen per Helikopter in die Lausitz gebracht würden, oder nur den Vergleich zur Asylpolitik der Bundesregierung sucht, nach welcher Geflüchtete auf unterschiedliche – auch dünn besiedelte – Regionen verteilt würden, bleibt unklar. Er warnt auf jeden Fall durch seine Verweise auf Selbstjustiz: Die Menschen würden sich zu 15 Deutscher Bundestag (Hg.) 2019: Stenografischer Bericht 12. Sitzung. Plenarprotokoll 19/83. Online: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/19/19083.pdf [08. 06. 2020], 9727 – 9728.

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wehren wissen, gegen Wölfe wie gegen Migranten. Dass Wölfe Schafe massakrieren und Geflüchtete Einheimische ermorden, totschlagen und vergewaltigen, gilt ihm als äquivalent genug, um in einem Abwasch abgehandelt zu werden: Wölfe wie Migranten gelten als Gefährder des Einheimischen. Nicht nur das, dieser Vergleich wird meist gegendert: Die Migranten („Vergewaltiger“) hätten es nämlich auf „unsere Frauen“ wie die Wölfe auf „unsere Kinder“ abgesehen.16 Außerdem gelten Wölfe und Geflüchtete als politische Vorhaben des „Träumerblocks“ und der „Experimentierer“ aus den Städten. Damit beteiligt sich Hilse an den Verschwörungstheorien, nach denen Europa eine Umvolkung erleiden müsse und die von der Schafhalterin auch in Neudorf Klösterlich angesprochen worden war: Hinter den sich ändernden Biotopen steckten geheime Mächte („die Grünen“), die das alles zu ihren ­Zwecken organisierten.

3. Experimente zulasten der Landbevölkerung Diesen zwei ­Themen, dass „die da oben“ Experimente (mit Wölfen, mit Migranten) betreiben würden und „das Volk“ dadurch in Gefahr gerate, so dass „wir“ von der AfD, der Partei die Blauen, dem III . Weg und von Pegida Lösungen dafür suchen müssten, gehe ich im Folgenden nach. Denn was diese kleinen neuen Parteien besonders effektiv macht, ist, dass sie lokale ­Themen aufgreifen (Angst um vier Schafe) und diese mit den großen Diskursen (Migration, Globalisierung, Infrastruktur und soziale Fragen) zu verbinden suchen. Zu meinen Erkenntnissen kam ich im Wesentlichen durch teilnehmende Beobachtung auf Parteiveranstaltungen, Wolfsinformationsveranstaltungen, in Interviews mit AfD-Mitgliedern, Jägern, Schäfern und Naturschützern sowie beim Lesen der neueren Ausgaben von rechtskonservativen Zeitschriften wie Tumult. Vierteljahresschrift für Konsensstörung; der NPD-nahen Ökozeitschrift Umwelt & Aktiv. Naturschutz – Tierschutz – Heimatschutz: Zeitschrift für gesamtheitliches Denken; der auf eine intellektuelle Szene ausgerichteten Zeitschrift Sezession; der Zeitschrift des rechtskonservativen Think-Tanks um Jürgen Elsässer ­ elche sich etwas schwülstig als das „scharfe Schwert Compact: Zeitschrift für Souveränität, w gegen die Propaganda des Imperiums: Eine Waffe namens Wissen, geschmiedet aus Erz 16 Akif Pirinçci sagt das noch klarer: „Nun, da Jungmänner-Horden laut und fremd smartphonierend durch jede Straße strolchen und wie erfahrene Jäger intensivst das einheimische Frauenwild mustern, faseln die Profi-Vaterlandsverräter in ihren klimatisierten Redaktionsbüros davon, dass alle ‚Neubürger‘ schon übermorgen Fans von alpenländischen Jodlern sein oder zumindest im ‚Niedriglohnsektor‘ unterkommen würden, anscheinend ein Quell ganze Clans ernährender offener Stellen. So sehen die auch aus!“. Siehe: Akif Pirinçci 2016: Umvolkung. Wie die Deutschen still und leise ausgetauscht werden. Verlag Antaios: Schnellroda, 57.

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wirtschaftlicher und geistiger Unabhängigkeit“ bezeichnet, aber auch dem rechtsextremen und sehr teuren Lifestylemagazin Werk Kodex. All diese Zeitschriften zielen auf ein jeweils anderes Publikum – das radikalnationale Spektrum ist groß und möchte bedient werden. Die zentrale Verbindung ­zwischen Migration und Wölfen besteht in dem Begriff Umvolkung. Sie sei organisiert (Cui bono?), und sie schade den Einheimischen. Alle stellen die Fragen nach der sogenannten Umvolkung, der Hypothese, dass die Bevölkerung Deutschlands oder Europas ausgetauscht werden solle. Worin sie sich unterscheiden, ist, ob diese Apokalypse schon stattgefunden habe oder noch stattfinden werde, also darin, ob man diesen Prozess aufhalten oder nur noch Racheakte ausführen könne. So argumentiert Martin Semlitsch (Künstlername „Lichtmesz“): Die Auflösung der Völker dient nichts anderem als der Zerstörung der demokratischen Kontrolle

der oligarchischen Mächte. Dieser Prozeß wird von allerlei pathologischen Dekadenzsympto-

men begleitet. Die Linke und der Liberalismus sind heute endgültig verschmolzen und führen einen Dschihad gegen die traditionellen westlichen Identitäten, teils aus ruchlosem Kalkül, teils

aus utopischem Wahn.17

Ähnlich wie Hilse im Bundestag argumentiert Semlitsch, es gebe politische Akteure, die am Untergang des sogenannten Abendlandes schuld ­seien. Die Frage nach dem Cui bono? wird etwa von Akif Pirinçci mit einem Schulterzucken beantwortet: „Sie tun es, weil sie es können! Sie wollten es schon immer tun, und zwar im Bewußtsein darüber, dass sich die Deutschen dagegen nicht mehr (in nennenswertem Umfang) wehren werden.“ 18 Semlitsch hingegen sieht eine Reihe an Motiven. Neben der schlichten Naivität bezüglich der Unvergänglichkeit von Multikulturalismus stellt er sich vor, es geschehe planerisch: Es gehe einigen nämlich um die Ausschaltung des Demos, indem dieser einfach ausgetauscht werde. Dadurch gebe es keine Kontrolle mehr für die „oligarchischen Mächte“; dieser Austausch (und hier sehen wir klar antisemitische Topoi) sei im Sinne der Privatbankiers, die dadurch die Märkte freier unter sich aufteilen könnten. Interessant ist hier unter anderem, dass es um eine Wiedergewinnung von Demokratie (gegen die naiven liberalen Parteien – insbesondere die Grünen – einerseits und gegen die Bankiers andererseits) geht. Es handelt sich also um einen Versuch, die Demokratie zu demokratisieren, indem der Demos zum Handeln aufgerufen wird.

17 Martin Semlitsch (Lichtmesz) 2011: Die Verteidigung des Eigenen. Fünf Traktate. Edition Antaios: Schnellroda, 14. 18 Akif Pirinςci 2016, 15.

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4. Das Problem mit der Demokratie Die „Demokratisierung der Demokratie“ ist eines der Paradoxien an der jetzigen Entwicklung, die auch als „Erstarken der Rechten“ gesehen wird. Wie Philip Manow in seinem gleichnamigen Artikel 19 erklärt, sei die Demokratie immer davon abhängig, dass sich viele aus dem Demos selbst ausschlössen, indem sie weder wählten noch sich politisch so beteiligten, dass sie angehört werden könnten. Schon Hegel, sagt Manow, habe den Demos als geteilt angesehen, und zwar in den Teil, der teilnehme, und den, der sich ins Private zurückziehe. Die wichtigste Form der Teilhabe bestehe aus der Arbeit; die Arbeit sei also das Charakteristikum derjenigen, die den wichtigsten Teil des Demos ausmachten. Das Arbeiten ersetze also die frühere legitimatorischen Argumente des Feudalismus: Das Recht, an der Herrschaft teilzuhaben, leite sich nicht aus Gottes Wille oder der Natur ab, sondern von der Arbeit, weil man so den allgemeinen Reichtum, Fortschritt, Zivilisation etc. mitproduziere und sich daher an seiner Verwaltung, Verteilung und Verwahrung ein Mitspracherecht erkämpft habe. Die (Vermögens-)Reichen und die ganz Armen arbeiteten nicht und fielen so aus dem Demos, argumentiert Manow: „Pöbel ist das, was aus dem politischen Repräsentationszusammenhang herausfällt, oder so ist das Vulgäre das, was aus dem Zusammenhang ästhetischer Repräsentation herausfällt.“ 20 Das allgemeine Volk in einer Demokratie sei also zweigeteilt, in den repräsentierten (Demos) und den nichtrepräsentierten Teil (Pöbel und Vermögende). Derzeit dränge der sogenannte Pöbel (auch: „das Pack“) in die ihm eigentlich zugedachte Repräsentationslücke. Um dies zu bewerkstelligen, verwenden die ethnopolitischen Unternehmer, ob ‚neu-‘ oder ‚altrechts‘, eine Reihe an Techniken: zum einen die schon erwähnte Ressentimentund Angstpolitik; zum anderen eine Zeitdiagnose beständiger Bedrohung durch „die Eliten“ und Topoi, w ­ elche das aktive Abwehren der eingedrungenen „Fremdkörper“ in die als natürlich abgeschottet gedachte Biosphäre, ­seien dies Wölfe oder (außereuropäische) Migranten. Die Figur des Eindringlings hat also zwei Funktionen: Sie erlaubt die Artikulation des Eigenen, des Reinen, des Zustands vor dem Fall, und sie soll Menschen in Verteidigung gegen diese Figur mobilisieren. Aber wozu? Hierzu ist es lohnend, sich mit den als Eindringlingen charakterisierten Figuren näher zu beschäftigen. Zunächst ist offensichtlich, dass diese beiden Mobilisierungsfiguren sich der Angstpolitik bedienen, um Aufmerksamkeit zu erregen, aber auch, um schon existierende Angst zu kanalisieren.21 Angstpolitik braucht ein Objekt der Angst. Diese Objekte werden in ihrer Funktion in Angstdiskursen selbst mitproduziert, wie Susan ­Harding und Kathleen Stewart über Verschwörungstheorien im Allgemeinen feststellen konnten: 19 Philipp Manow 2019: Demokratisierung der Demokratie. In: Merkur #847. Online: http://www.merkurzeitschrift.de/2019/11/22/demokratisierung-der-demokratie/ [08. 06. 2020]. 20 Ebd. 21 Diese kann durch die Verfestigung neuer Klassen mit ihren Kulturmilieus erklärt werden, siehe: Andreas Reckwitz 2019.

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Abb. 3  Ausbreitung des Wolfes in Deutschland

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In the same instance that conspiracy thinking addresses these anxieties, it produces them, for

every paranoid cure is also a symptom. […] Whenever conspiracy thinking asserts „the truth“

and apprehends „reality,“ it simultaneously acknowledges their instability and partiality, their social construction and regulation.22

Die ­Theorie, dass Wölfe gezielt in ostdeutschen Regionen angesiedelt werden,23 gibt dem Sterben kleiner Höfe wegen mangelnder Rentabilität eine unmittelbare Ursache („Die Wölfe kommen!“) und eine mittelbare Ursache („Die Grünen“/„die da oben“/„,Rothschild-Bankiers‘ haben es organisiert!“).24 Davon profitiere die industrielle Landwirtschaft einerseits, andererseits die „Zerstörer der Demokratie“. Die Figur des Wolfs („westpolnisch“) spielt auf der schon eingespielten Klaviatur der Fremdenfeindlichkeit, da mutmaßlich gefährliche „Horden“ von „Fremden“, die eine Übernahme „unseres Landes“ vorhätten, nun einfach ein anderes Gesicht bekommen; die Leidtragenden s­eien die Indigenen, und die Regierung schaue teilnahmslos zu. Andererseits geht es beim Wolf auch um ein wesentlich älteres Gefahrenbild: Der Wolf versinnbildlicht die Gefahr, die der Mensch für den Menschen darstellt (Hobbes’ Homo homini lupus), zumindest insofern er nicht durch eine Herrschaftsmacht zivilisiert wird. Sich dem Wolf (oder, analogisch, den Wolfsmenschen) zu widersetzen, heißt also auch, sich einem möglichen wiedererstarkenden Naturzustand zu widersetzen. So wie das Plädoyer gegen den Wolf von Karsten Hilse durchsetzt war mit Wünschen nach Ermächtigung des Demos, ist das Gerede um den Wolf auch ein Bekenntnis zum bestehenden Herrschaftssystem, dessen (vermeintliche) Schwäche beklagt wird. Der Wolf als politische Figur ist also ein politisch brauchbares Vehikel, ohne dass es nötig wäre, dass er als tatsächlich existierendes wildes Tier dem Menschen wirklich gefährlich wird. Er dient als Verweis auf drohendes Unheil, Verderben, den Untergang des Abendlandes, das Ende eines kleinbäuerlichen Way of Life; und darauf, dass „Balkonbauern“ und „Wolfskuschler“, wie Städter in diesen Foren 22 Susan Harding, Kathleen Stewart 2003: Anxieties of Influence: Conspiracy Theory and Therapeutic Culture in Millenial America. In: Transparency and conspiracy: ethnographies of suspicion in the new world order, Harry G. West, Todd Sanders (Hg.), Duke University Press: Durham, 282 und 264. 23 Abb. 3 zeigt die Ausbreitung des Wolfes in Deutschland, mit einem deutlichen Schwerpunkt in Ostdeutschland. In: Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf 2019: Vorkommen (besetzte Rasterzellen) von Wölfen in Deutschland im Monitoringjahr 2018/19. Online: http://dbb-wolf. de/Wolfsvorkommen/besetzte-Rasterzellen [08. 06. 2020]. 24 Diese Diskurse sind durch politische Ethnografie an öffentlichen Veranstaltungen wie Parteiversammlungen, Bürgerforen, Wolfsmanagmentzentren, Demonstrationen, öffentlichen Diskussionsveranstaltungen sowie Bundes- und Landtagsdebatten von der Autorin erhoben worden. Hinzugekommen ist eine Reihe an teilstrukturierten Interviews mit Wolfsgegnern und -befürwortern, sowie staatlichen Akteuren, die für das „Wolfsmanagement“ zuständig sind. Eine detailliertere Darstellung der Forschungsergebnisse und -methoden ist i. E.: Rebecca Pates, Julia Leser 2020: The Wolves are Coming Back. The Politics of Fear in Eastern Germany. Manchester University Press: Manchester.

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oft genannt werden, die Wölfe unter Artenschutz stellen wollen, ohne sich in einem ähnlichen Maße um den Verbleib der ruralen Bevölkerung zu kümmern. Wir sehen hier also in der Mobilisierung des Wolfes als politische Figur ein Erwachen desjenigen Teils des Demos, der Migration eindämmen und die Wolfspopulation regulieren möchte: „Erschießt die Wölfe aus Polen, errichtet Barrieren gegen (muslimische) Migranten und rettet dabei die lokale ,Kulturlandschaft‘, die Rehe, Schafe, aber auch ,unsere Frauen‘ und ,unsere Kinder‘ (worauf ich noch zurückkommen werde)!“ Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die vom Wolf vorwiegend besiedelten Regionen vor allem im Osten liegen und von Strukturschwäche und Abwanderungen besonders stark betroffen sind. Wenn die politischen Initiativen aus diesen Regionen als rechtsextrem, querköpfig, ignorant, undankbar und reaktionär abgetan werden, können die Probleme nicht so artikuliert werden, dass sie auch Gehör finden. Über den Wolf jedoch darf man sich beschweren. So wird der Wolf zu einem Protagonisten in einer Angstpolitik, die es der AfD und anderen Kleinparteien erlaubt, sich als diejenigen zu profilieren, die dem „kleinen Mann“ zuhört und dessen Sorgen ernst nimmt und derweil diese Sorgen auch in eine antimigratorische, antiurbane, Anti-Grünen-Politik ummünzt. In d ­ iesem Prozess der Verwandlung von einer ländlichen Angstpolitik zu einer Antimigrationspolitik schwingt auch eine Heimatpolitik mit, in der Blut-und-Boden-Ideen mitschwingen. Die Heimat ist hier eine Landschaft, in der eine gewisse Menschengruppe sich als Genpool und Kultur als Reaktion auf die Biosphäre entwickeln konnte. So ist das Volk – d­ ieses Volk – indigen und alle anderen gehören eben zu anderen Territorien, zu anderen Biosphären. Die Argumentation geht also über die übliche Überfremdungsangst hinaus: Die gehören nicht hierher und nehmen uns unsere „angestammten“ Territorien ­ ieses weg. Natürlich gehört die Hypothese, (fast) jeder Mensch sei einem „Volk“ und d Volk einem Territorium zuzuordnen, zu den grundständigen Fiktionen der Nation.25 Was hier hinzukommt, ist eine pseudowissenschaftliche Biopolitik, nach der die natürliche und die soziale Welt in einem Ökoorganismus („Volk“) verschmolzen sind und dieser durch Fremde kontaminiert werde.26 Es gilt demnach, das Eigene zu s­ chützen. Im Folgenden gehe ich auf zwei angestrebte Lösungen ein: den „Säxit“ und die Deportation von Fremden.

25 Philipp Ther 2012: Die dunkle Seite der Nationalstaaten. „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa. In: Bundeszentrale für politische Bildung: Bonn (Hg.) Reihe: Synthesen. Probleme europäischer Geschichte. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen. 26 Bernhard Forchtner 2019: Far-Right Articulation of the natural environment: An Introduction. In: ­Bernhard Forchtner (Hg.), The Far Right and the Environment. Politics, Discourse and Communication. Routledge, 1 – 17, hier 8.

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5. Und in der Mitte eine Mauer. „Säxit“ als Diagnose und Lösung Am 20. August 2015 verwies der Journalist Stefan Schirmer in einem Kommentar auf ZeitOnline mit dem Titel Dann geht doch! auf das „unsympathischste deutsche Bundesland“ Sachsen – und forderte den „Säxit“ quasi als „Schutz“ für Restdeutschland vor den rechten Umtrieben im Osten. Trotz des polemisch-satirisch anmutenden Inhalts schloss der Autor mit folgenden Worten: „Im Ernst.“ Er definierte „Säxit“ als „den Austritt der Sachsen aus der Bundesrepublik“ und meinte: Ob in Freital, Meißen, Freiberg, Hoyerswerda oder Böhlen – überall schlägt Ausländerhass in

Gewalt um. Von deutschlandweit 202 Übergriffen auf Asylunterkünfte im ersten Halbjahr 2015

entfielen 42 auf Sachsen. Das Land ist, im schlechtesten Sinne, eine Klasse für sich. […] Aber

wenn aus Ankommen im gemeinsamen Deutschland Arroganz wird, aus Beleidigtsein Hass; wenn die vielen Anständigen die relativ wenigen Herzlosen, die das Bild dominieren – nicht einzuhegen vermögen: dann sollen die Sachsen halt ihr eigenes Land aufmachen. Im Ernst.27

Der Zeit-Artikel schlug mediale Wellen. Der Idee eines „Säxit“ stand die taz jedoch skeptisch gegenüber, wenn auch nicht aus Sympathie für das ostdeutsche Bundesland – nicht Sachsen sei das Problem, sondern rechte Entwicklungen und Strukturen in der gesamten Bundesrepublik: „Säxit“ – das ist der zwar verständliche, aber nutzlose Wunsch, das „Böse“ einfach abstoßen zu

können, die Nazis rauszuschmeißen, gerade so als gehörten sie nicht dazu. Dabei sind die Verhältnisse in Sachsen doch nur die Folge über Jahrzehnte gewachsener deutscher Zustände und

ihr perfekter Ausdruck. Dieser Landstrich ist eine Ausnahme nur insofern, als dass er Avantgarde ist; eine Ankündigung dessen, was da noch kommen mag. Deshalb: „Säxit“? Da könnte

man Deutschland auch gleich ganz auflösen.28

Noch in derselben Woche wurde der „Säxit“ aber zu einer Idee, ­welche von AfD-Politikern als guter Vorschlag aufgegriffen wurde. Am 28. August 2015 übernahm der AfD-Politiker Sebastian Wippel (Mitglied des Landtages in Sachsen) aus dem Landkreis Görlitz auf seiner Internetseite die durch die Medien verbreitete Idee des „Säxit“ und deutete sie positiv für Sachsen und seine Partei um: 27 Stefan Schirmer 20. 08. 2015: Dann geht doch! Hass, Extremismus und Abschottung in Sachsen. Ist es Zeit für einen Säxit? In: Die Zeit 34. 28 Daniel Kretschmar 23. 08. 2015: Kommentar Säxit. Sachsen bleibt deutsch. In: taz. Online: http://taz.de/ Kommentar-Saexit/!5225864/ [08. 06. 2020]; Siehe auch: Tino Heim 2016: Sachsen mal wieder – oder doch globale politische Verwerfungen? Bemerkungen zum Diskurs über „sächsische Verhältnisse“ im Kontext einer generellen Rechtsverschiebung. In: DISS-Journal 32 (2016), 6 – 8.

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Rebecca Pates

Abb. 4  Autoaufkleber mit der Aufschrift „Deutscher von Geburt, Sachse durch die Gnade Gottes!“, fotografiert in Waren, MecklenburgVorpommern.

Ein eigener sächsischer Staat – aber gerne doch! Dies würde schließlich bedeuten, dass nahezu alle AfD-Forderungen automatisch in die Tat umgesetzt werden müssten. Wir bekämen eine

eigene Währung, könnten wieder Grenzkontrollen einführen und selbst entscheiden, wie viele

Asylbewerber das Land verträgt. Wenn Sachsen erst einmal alleine loslegen kann, werden wir

schon zeigen, was in uns steckt. […] Aber auch für „Restdeutschland“ hätte der „Säxit“ Vorteile:

Die Bürger der geschrumpften Bundesrepublik müssten für Auslandsreisen nicht mehr so weit fahren, um fremde Kulturen zu entdecken.29

Spätestens zu ­diesem Zeitpunkt nahm die Logik an Fahrt auf, dass Sachsen das bessere, reinere Deutschland sei 30 und dass man sich hier von der Migrationspolitik des Bundes lösen müsse. Während die einen also argumentierten, dass alle Deutschen das potenziell Genozidale in sich trügen, argumentierten andere, „Dunkeldeutschland“ sei geografisch und politisch spezifisch in Sachsen verortbar. Das hat den Vorteil, dass das Schlechte im 29 Sebastian Wippel 11. 09. 2015: Warum der Säxit eine gute Idee ist. In: AfD Sachsen Aktuell,.Online: http:// www.afdsachsen.de/download/sachsen-aktuell/asa-36-2015.pdf [08. 06. 2020]. 30 Vgl. Abb. 4: Der Slogan zeigt eine positive Identifikation mit Sachsen. Danke an Mario Futh für die private Aufnahme.

Die Wölfe sind zurück

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Deutschen ausgesondert werden kann. Tino Heim fasst die bundesweite Stimmung kurz zusammen: Sachsen fungiert auf Bundesebene als politisches „Schmuddelkind“, das, je schwärzer oder brauner

es charakterisiert wird, den Rest Deutschlands im Vergleich umso heller strahlen lässt. Im Grenz-

fall scheint es dann, als könne sich Deutschland durch einen „Säxit“ schlagartig von Fremden­hass, Chauvinismus und Extremismus befreien.31

Auf der anderen Seite argumentierten die Sachsenfans genau andersherum. So forderte Tatjana Festerling am 12. Oktober 2015 auf einer Pegida-Demonstration in Dresden ihre Anhänger dazu auf, den Austritt Sachsens aus Deutschland und der EU anzustreben; der „Säxit“ (und das souveräne Sachsen) wurde hier von einem Schimpfwort zu einer Utopie. Wir werden diktatorisch unterdrückt von Linken und dieser Frau im Kanzleramt […] Wir erkennen keinerlei Wertschätzung dieser Kanzlerin für das Volk, dem sie vorsteht und das sie

führt. […] Auch hier zeigt Sachsen mal wieder wie es geht. In Dresden gehen Einwohner auf

die Straße und wehren sich dagegen, dass ihr intaktes Umfeld auf diktatorische Weise umge-

staltet wird. [Klatschen, Rufe von „Widerstand! Widerstand!“] Bitte unterstützt diese Leucht-

turmprojekte. Sie sollten vor allem Ansporn für die Bürger im Westen sein – Mensch, traut euch

endlich! Fasst Mut! Organisiert euch! Und begehrt gegen diese Irren auf ! [Rufe von „Jawoll!“]

Bevor uns diese bizarren, suizidalen und größenwahnsinnigen Fantasien dieser ferngesteuerten

Kanzlermarionette endgültig in den Abgrund reißen und Deutschland abschaffen, vernichten.

Wir befinden uns längst im existentiellen Kampf, im Krieg um die neue Weltordnung. […] Daher möchte ich euch heute einen Gedanken mit auf den Weg geben, nein eigentlich möchte

ich euch damit infizieren: Den Gedanken an die Abspaltung Sachsens [zustimmendes Gegröle], die Loslösung Sachsens von der Bundesrepublik Deutschland. […] Das sächsische Volk hat das

Recht auf Eigenstaatlichkeit.32

Festerling wird 2015 in der Zeit zitiert: Die guten Deutschen blieben dann im Osten, wo es so „geborgen und vertrauensvoll“ sei. „Und in der Mitte“, rief Festerling, „ziehen wir eine Mauer hoch! Aber diesmal so richtig hoch!“ 33 Die Westdeutschen müssten dann wohl 31 Tino Heim 2016: Sachsen mal wieder – oder doch globale politische Verwerfungen? Bemerkungen zum Diskurs über ‚sächsische Verhältnisse‘ im Kontext einer generellen Rechtsverschiebung. In: DISS-Journal. Zeitschrift des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung 32, 6 – 8, hier 8. 32 Tatjana Festerling 12. 10. 2015: Tatjana Festerling PEGIDA Dresden [Video]. Online: https://www.youtube. com/watch?v=7D8HtE3CssI [08. 06. 2020], eigene Transkription. 33 Siehe: Lenz Jacobsen 10. 03. 2015: PEGIDA gefällt sich hinter Mauern. In: Zeit Online. Online: http:// www.zeit.de/gesellschaft/2015 – 03/pegida-dresden-demonstration [08. 06. 2020]. Andere rechte YouTuber sehen das ähnlich. So etwa Hagen Grell in seinem Video Raus aus der BRD ! Freiheit für Sachsen!. Der

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Rebecca Pates

Asyl im übriggebliebenen Deutschland beantragen, wie die immer wieder zitierte Karte in Abbildung 5 zeigen soll.34 Die Karte veranschaulicht das imaginierte Deutschland des Jahres 2050. Das Territorium der ehemaligen DDR wird nun charakterisiert als „Bundesrepublik Deutschland“. Es ist blau gezeichnet. Das Territorium der ehemaligen restlichen Zone ist gekennzeichnet als „Kalifat Deutschland“, gefolgt von einem arabischen Schriftzug. Es ist nicht zufällig grün gezeichnet. Zweifellos sind einige – vielleicht auch die meisten – dieser Aussagen von Ironie durchtränkt.35 Aber die Diskussion um Sachsen als Ethnostaat hat in bestimmten Kreisen an Fahrt aufgenommen. So ruft Johannes Scharf in seiner Publikation Der weiße Ethnostaat kurze Clip endet mit einer Fotomontage, zu sehen ist Grell selbst in kämpferischer Pose, das sächsische Wappen und darüber der Schriftzug: „Je suis Sachse“, siehe: Hagen Grell 26.022016: Raus aus der BRD . Freiheit für Sachsen [Video]. Online: http://www.youtube.com/watch?v=hD2-7zDzsfs [08. 06. 2020]. Am 6. September 2018 veröffentlichte das Compac-Magazin online den Artikel Nu, macht doch Euern Dreck alleene – Die Idee eines „Säxits“ gewinnt an Zuspruch, dem anschließend der Beitrag Sachsen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker folgt. Dem Säxit steht man positiv gegenüber: „Man muss es nicht auf die Spitze treiben, aber die Idee mit dem Selbstbestimmungsrecht könnte vor dem Hintergrund dieser stolzen Vergangenheit auch sächsische Politiker ermuntern, den Sirenenklängen des Berliner Zentralismus selbstbewusst zu widerstehen. Das Sachsenvolk würde es zu honorieren wissen“, siehe: N. N. 6. 09. 2018: „Nu, macht doch Euern Dreck alleene“ – Die Idee eines „Säxits“ gewinnt an Zuspruch. In: CompactOnline. Online: http://www.compact-online.de/nu-macht-doch-euern-dreck-alleene-die-idee-einessaexits-gewinnt-an-zuspruch/ [08. 06. 2020]. Und die Debatte ist noch nicht zu Ende. Am 31. Juli 2019 berichtet Sächsische.de, dass auch Die Blauen, die neue Partei der Ex-AfD-Vorsitzenden Frauke Petry, prinzipiell für einen Säxit offen sei: „Man kann sogar so weit gehen, zu sagen, wer Deutschland erhalten will, muss bereit sein, es zu teilen.“ In der Unabhängigkeit vom „kränkelnden“ Deutschland werde es dem Freistaat viel besser gehen, ist Petry überzeugt. „Wir haben den Eindruck, die einzigen Vernünftigen in ­diesem Land zu sein.“ Für die Kampagne kopiert sie bei Donald Trump. Siehe: Andrea Schawe 31. 07. 2019: „Make Sachsen scheen again!“ Frauke Petrys Blaue Partei startet in Sachsen in den Wahlkampf. In: Sächsische Zeitung. Online: https://www.saechsische.de/frauke-petry-wirbt-um-afd-anhang-5101346. html [08. 06. 2020]. Im Ossi-Laden werden T-Shirts angeboten mit dem Slogan: „Sachse ist das Höchste was ein Mensch auf Erden werden kann.“ Bei den Anhängern des Aufbruchs deutscher Patrioten Mitteldeutschland (ADPM ) gibt es den Wunsch nach einer Abspaltung Sachsens von Deutschland. „Wenn es aus dem EU -Wahnsinn einen Brexit geben kann, dann muss es aus dem BRD -Wahnsinn einen Säxit geben“, sagte Martin Kohlmann zum Politischen Aschermittwoch. Kohlmann ist Rechtsanwalt und Chef der rechtspopulistischen Gruppierung Pro Chemnitz, die seit Ende 2018 vom sächsischen Verfassungsschutz beobachtet wird, siehe: dpa 07. 03. 2019: Poggenburg greift AfD-Spitze an. Beim politischen Aschermittwoch der ADPM spielen „Machtgeilheit“ und der „Säxit“ eine Rolle. Mit dabei war auch ein Kamel. In: Sächsische Zeitung. Online: http://www.saechsische.de/poggenburg-greift-afd-spitze-an-5044074. html [08. 06. 2020]. Danke an Julian Pietzko, der bei der Zusammenstellung der Zitate geholfen hat. 34 Abb. 5 zeigt eine häufig zitierte Karte, die ein „Kalifat Deutschland“ außerhalb Ostdeutschlands prophezeit. In: Markus Frohnmaier 26. 08. 2018: Wenn der Staat die Bürger nicht mehr ­schützen kann, gehen die Menschen auf die Straße und ­schützen sich selber. Ganz einfach! Heute ist es Bürgerpflicht, die todbringenden „Messermigration“ zu stoppen! Es hätte deinen Vater, Sohn oder Bruder treffen können! Online: http://twitter.com/Frohnmaier_AfD/status/1033806135990644744 [08. 06. 2020]. 35 Für die Verwendung und Funktion von Ironie in rechtsextremen Netzwerken siehe: Angela Nagle 2018: Die digitale Gegenrevolution. Online-Kulturkämpfe der Neuen Rechten von 4chan und Tumblr bis zur Alt-Right und Trump. transcript Verlag: Bielefeld. Außerdem in Bezug auf Deutschland siehe: Daniel

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Abb. 5 Twitter-Beitrag: Kalifat Deutschland

dazu auf, rassische Enklaven zu bilden, nach Vorbild Oraniens in Südafrika. Nur wenige Bewohner ­seien hierfür nötig, aber die Vielfalt der europäischen Gene müsse erhalten bleiben, somit schlägt er – neben dem „Nordweststaat“, welcher von Alaska bis Kalifornien reichen solle – eben auch zwei größere Enklaven in Europa vor: der „Nordoststaat“, „der in einem Territorium des europäischen Ostens am besten unterzubringen wäre, etwa in Polen oder Ungarn“, wobei die dortigen Sprachen neben der lokalen Sprache auch Deutsch und Russisch sein müssten, sowie der „Südstaat“ für Einwanderer aus Italien, Spanien, Portugal, Rumänien und Griechenland mit den Sprachen Italienisch, Spanisch und Griechisch; und Hornuff 2019: Die Neue Rechte und ihr Design. Vom ästhetischen Angriff auf die offene Gesellschaft. transcript Verlag: Bielefeld.

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Rebecca Pates

Abb. 6  Compact-Magazin

zusätzlich bietet der Osten der BRD zur Zeit [sic!] noch einen möglichen Rückzugsraum für

Deutsche aus dem Westen, die Frage ist nur: wie lange noch? Wenn in Mecklenburg-Vorpommern etwa oder in Sachsen mit dem Aufbau kleiner Gemeinschaften nach dem Prinzip des

Volksstaates begonnen würde, wäre das ein guter Anfang.36

Die ostdeutschen Bundesländer gelten manchen gar als „letzte Verteidigungslinie“:37 „Während der Westen im Zuge der Asylinvasion förmlich überrannt wurde, ist z­ wischen Elbe und 36 Johannes Scharf 2016: Der Ethnostaat „Nova Europa“. Schlüssel der Neugeburt. Die lebensgesetzliche Alternative zur Überwindung der Todgeweihten transmenschlichen Gesellschaft. In: Pierre Krebs, Was tun? Ein Vademecum der Reconquista. Rassenhumanismus vs. Transmenschismus. Ahnenrad der Moderne: Bad Wildungen, 68 – 69. 37 Abb. 6 zeigt beispielsweise ein Titelbild des Compact-Magazins, das verlauten lässt: „Der Osten leuchtet. Was der Westen lernen kann.“ In: N. N. Compact – Magazin für Souveränität 2017: Der Osten leuchtet 05.

Die Wölfe sind zurück

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Oder eine widerständige Volksbewegung entstanden.“ 38 Götz Kubitschek sieht in Pegida den Beginn eines Neuanfangs, von dem auch die Westdeutschen lernen könnten, und fragt, warum in keinem anderen Bundesland der Widerstand gegen die Auflösung aller Dinge durch

die postmoderne Beliebigkeit vom einfachen Arbeiter über den gebildeten Pfarrer bis zum fein-

sinnigen Lyriker so massiv und beharrlich und klug vorgetragen [werde].39

Die zweite Verteidigungslinie besteht „natürlich“ aus der Idee, Westdeutschland auch für seine als indigen gedachten Bewohner zu bewahren, sprich die Nichtzugehörigen „rückzuführen“, indem man peu à peu Listen erstelle und abarbeite, die am wenigsten Kontroversen zuerst: „Illegale Ausländer“, „Ausländer ohne deutschen Pass“, „Ausländer mit deutschem Pass und Einwanderungserfahrung“ und schließlich „Ausländer mit deutschem Pass ohne Einwanderungserfahrung“.40

6. Vor, während oder nach der Apokalypse? Viel hängt davon ab, wo sich die völkischen biopolitischen Entrepreneure sehen: vor, während oder nach der Apokalypse.41 Sei Deutschland schon verloren, gelte es, sich in Rückzugsgebieten auf eine (völkische) Zukunft vorzubereiten. Sei Deutschland noch zu retten, gelte es, die „Ausländer“ zu deportieren. In der Zwischenzeit bereiten sich einige auf einen Bürgerkrieg vor und bilden terroristische Zellen, deren Ziel entweder Rache am Untergang oder Kampf um die letzte Maus ist. Derweil sind die ethnopolitischen Entrepreneure auch sexualpolitische Unternehmer. So argumentiert J. F. Baldig in Tumult:

38 Martin Müller-Mertens 2017: Deutsche demokratische Reserve. Bürgerprotest ­zwischen Elbe und Oder. In: Compact – Magazin für Souveränität 2017 (5), 14 – 16, hier 14. 39 Götz Kubitschek 2019: Einleitung. In: Sezession Juni 2019 – Sonderausgabe Sachsen. 40 Heinrich Wolf 2019: Ein Deutschland, welches seinen Namen verdient. Möglichkeiten und Thesen zur Remigration. In: Werk Kodex 3. Magazin für deutsche Metapolitik und Kultur und alle, die Deutschland lieben (Herbst), 82 – 87. Das Lifestylemagazin Werk Kodex sieht sich als „ein WERKstoff für das eigene politische und kulturelle Leben. Ein impulsiver und intuitiver VerhaltensKODEX, eine Stimme der Veränderung“ und gibt Tipps um die Frage der „deutschen Ernährung“ („Was wird hier traditionell angebaut? Mut zur Rübe“), zu Hosenträgern für Männer und zur Frage nach Tätowierungen („Was hätten die Führer des Dritten Reiches getan?“). 41 Jakob Valentin Stein Pedersen, Bruno Latour, Nikolaj Schultz 2019: A Conversation with Bruno Latour and Nikolaj Schultz. Reassembling the Geo-Social. In: Theory, Culture & Society 2019, Bd. 36 (7 – 8) 215 – 230.

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Rebecca Pates

Was ist den Wölfen und Migranten gemein? Sie werden von der weißen Frau bewillkommnet!

Die weiße Frau leidet darunter, von der Vielfältigkeit des Lebens jenseits des Harzes abgeschnitten zu sein. […] Das letzte Wollen der Frau in der Kulturlandschaft ist es, die unbedingte

Exotisierung und Verwilderheit durchzusetzen. Frauen besetzen weit überwiegend die Stellen

in der staatlichen und quasistaatlichen Wolfserwartungs- und Wolfsmanagementbürokratie.

Das Wolfserwartungs- und Wolfsmanagementwesen – zielt es letztlich nur auf Lustgewinn der

weißen Frau, die in der Geordnetheit der Waid, unter den Bedingungen von Hege und Pflege, an ihrem allzu domestizierten Genommenwerden krankt?42

Wenn die deutsche Frau also besseren Sex hätte, würde sie sich weniger um den Wolf und die Migranten kümmern. Ein wenig Lebensweisheit gibt es bei der Diskussion um den Wolf also mit dazu. Der Punkt ist doch folgender: Der Wolf ist eine Chiffre, wie der Migrant auch, und beide lassen sich, wie ich hier gezeigt habe, instrumentalisieren, um einerseits ökonomische und politische Sorgen, andererseits (nicht in den gleichen Kontexten) aber auch terroristische und frauenfeindliche Argumente zu entwickeln. Die Mitte ist in diesen Zusammenhängen wie die Wittgenstein’sche Hase-Ente-Illusion von Mittigkeit: Die Ente kann genauso gut ein Hase sein, und die Mitte ein Extrem.43

42 Johann F. Baldig 2018: Harz Wolferwartungsland. Wer wo überleben wird. In: Tumult. Vierteljahresschrift für Konsensstörung. Winter 2018/2019, 32 – 38, hier 36. 43 Dank gebührt Johannes Schütz und Jiré Gözen für die freundlichen und sehr hilfreichen Kommentare.

Matthias Quent

Was ist neu in der Mitte?

1. Einleitung Bezugnehmend auf öffentliche und zivilgesellschaftliche Diskurse um den „Rechtsruck“ in Deutschland stellt dieser Beitrag die Deutung in Frage, nach der die politische Mitte zunehmend nach rechts drifte. Es wird auf die langen Kontinuitäten rechtsradikalen Denkens und rechtsradikaler Strukturen in Deutschland verwiesen: Die Mitte war nie frei von Facetten mobilisierbarer rechtsradikaler Einstellungen. Erst gesellschaftliche Veränderungen und insbesondere die gewachsene Sensibilisierung für Diskriminierungen, demokratieferne Privilegien und uneingelöste Ansprüche von Aufklärung und Demokratie in den west­lichen Gesellschaften begründet die relative Rechtsaußenposition eines lange kulturell zum machtstarken Mainstream zählenden Milieus. Dieses marginalisiert und radikalisiert sich auch aufgrund mangelnder Anpassungsbereitschaft oder -fähigkeit an neue gesellschaftliche Bedingungen. Teile der ideell Verunsicherten formieren und tragen rechtsradikale Kräfte, die in verschiedenen Bereichen die reaktionäre Rückabwicklung gesellschaftlicher Veränderungen zugunsten jener versprechen, die von Rassismus, Sexismus und der teils strukturellen Diskriminierung von Menschengruppen stets profitiert haben und bei denen zumindest der Eindruck erweckt wird, echte Gleichberechtigung sei eine Bedrohung. In populistischen und radikalen rechten Bewegungen weltweit organisiert sich dieser kulturelle Backlash.1 In Deutschland hat sich die Partei Alternative für Deutschland (AfD) zu einem Sammel­becken für Reaktionäre und kulturell Statusverunsicherte entwickelt.2 Die seit Jahrzehnten wiederholte und auch in Beiträgen des vorliegenden Bandes vertretene These, nach der die politische Mitte – wohlgemerkt nicht sozialstrukturelle Mitte – nach rechts außen drifte, ist so pauschal nicht zu halten und versperrt den Blick auf die wesentlich komplexeren und konjunkturellen Entwicklungsprozesse sowie auf den großen liberalen Selbstbetrug der Vergangenheit. Die politische Mitte war entgegen offizieller Narrative, mit denen Antisemitismus und Rassismus zu Problemen eines extremistischen 1 Ronald F. Inglehardt, Pippa Norris 2016: Trump, Brexit, and the Rise of Populism. Economic Have-Nots and Cultural Backlash. In: HKS Faculty Research Working Paper 26. 2 Ausführlich ist diese These dargestellt bei Matthias Quent: (2019): Deutschland rechts außen. Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können. Piper: München.

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Matthias Quent

Randes erklärt wurden, nie ein Hort demokratischer Menschenfreundlichkeit. Unzählige Studien zeigen seit Jahrzehnten, dass Antisemitismus, Rassismus, Sexismus, Autoritarismus, Sozialdarwinismus und diverse Formen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit 3 nie auf das überschaubare Milieu der Unterstützer*innen der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) oder auf jene beschränkt waren, die sich auf der Rechts-Links-Skala empirischer Untersuchungen selbst rechts außen verorten.4 Die vielbeschworene Mitte beinhaltete immer auch rechtsradikale Positionen und trägt damit eine massive Spannung in sich – ­zwischen der gesellschaftlichen Realität und verfassungsmäßigen Ansprüchen der Gesellschaft, insbesondere in Hinblick auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde und das Diskriminierungsverbot. Sonntagsreden, nach denen in Deutschland „kein Platz“ sei für Antisemitismus, Rassismus etc., waren schon immer entweder normierende Appelle an bisher uneingelöste Versprechen, Selbst- und Fremdtäuschung oder aber Ausdruck der Reduzierung von Weltbildern und Vorurteilen auf das Extrem des Nationalsozialismus. Die lange, zum Teil jahrhundertealte Kontinuität antisemitischer, rassistischer und patriarchaler Strukturen und Narrative sowie deren prägenden Auswirkungen auf die Denk- und Wertesysteme westlicher Kulturen wurde nie radikal durchbrochen, wenngleich die Shoah und die Niederlage der Nationalsozialist*innen massive Zäsuren waren und die anschließende Reeducation in Westdeutschland und insbesondere die 1968er-Bewegung zu produktiven innergesellschaftlichen Konflikten und Brüchen führten. Dass ein derartiger emanzipatorischer Kampf um die politische Kultur in Ostdeutschland in dieser Form nie stattgefunden hat, ist eine zentrale Ursache für die größere Stärke des Rechtsradikalismus und die relative Schwäche bürgerlicher Zivilgesellschaft in den neuen Bundesländern. In gewisser Weise finden diese Kämpfe um gesellschaftliche Liberalisierung derzeit in Ostdeutschland verspätet statt – ausgelöst durch die erheblichen Mobilisierungserfolge rechtsradikaler Bewegungen und Parteien. Der organisierte Rechtsradikalismus fordert die liberale Demokratie in der Bundesrepublik und in anderen westlich geprägten Staaten offener und lauter heraus als je zuvor. In öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten wird häufig eine allgemeine regressive 3 U. a. Wilhelm Heitmeyer 2012: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) in einem entsicherten Jahrzehnt. In: Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände Bd. 10. Suhrkamp: Frankfurt am Main, 15 – 41. 4 U. a. Martin Greiffenhagen (Hg.) 1981: 5 Millionen Deutsche: „Wir sollten wieder einen Führer haben …“. Die SINUS -Studie über rechtsextremistische Einstellungen bei den Deutschen. Rowohlt-Taschenbuch-Verlag: Reinbek bei Hamburg; Jürgen W. Falter, Hans-Gerd Jaschke, Jürgen Winkler (Hg.) (1996): Rechtsextremismus. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden; Oliver Decker, Elmar Brähler, Norman Geißler 2006: Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland. Friedrich-Ebert-Stiftung: Berlin; Andreas Zick, Beate Küpper, Wilhelm Berghan (Hg.) 2019: Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19. Friedrich-Ebert-Stiftung: Berlin.

Was ist neu in der Mitte?

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Entwicklung der demokratischen Kultur diagnostiziert. Dies impliziert die bisweilen unausgesprochene Vorannahme, dass die politische Kultur in der Vergangenheit generell demokratischer und liberaler gewesen sei. Das darf begründet bezweifelt werden und ergibt sich nur aus einer privilegierten Perspektive, die verschiedene Diskriminierungen bis zur Gewalt systematisch ausblendet (von Migrant*innen, Frauen, LSTBIQ*5 und anderen). Es wird häufig ein Verlust des Rückhalts für demokratische Normen und Werte in der Bevölkerung (aus ­welchen Gründen auch immer) beschrieben, der dann seinen Ausdruck finde in den wachsenden Mobilisierungs- und Wahlerfolgen für die populistische und radikale Rechte. Beschreibungen und Interpretationen dieser Art haben gerade öffentliche Konjunktur – lassen sich doch negative Nachrichten stets besser verkaufen als positive oder ambivalente Beschreibungen. Die liberale Demokratie sei demnach in einer existenziellen Krise – ­dieses Untergangsnarrativ pflegen auch Rechtsradikale. Beispielhaft für einen pessimistischen Wissenschaftsdiskurs steht das Buch Der Zerfall der Demokratie von Yascha Mounk, der zeigen möchte, dass auch in Deutschland die liberale Demokratie an Unterstützung verliere.6 Doch die Daten, auf die er sich beruft, sind teilweise fragwürdig aufbereitet. So behauptet Mounk auf Grundlage des Word Values Surveys und des European Values Surveys beispielsweise, dass die Unterstützung für eine Militärregierung in Deutschland „erheblich gestiegen“ sei – wobei die von ihm dargestellte jährliche Zunahme in einem unklaren Zeitraum bei weniger als 0,2 Prozent liegt.7 Demgegenüber stehen zum Beispiel die Untersuchungen von Stephen Pinker, der konstatiert: Langfristig sei die Zustimmung zu liberalen Werten weltweit gewachsen.8

2. Fortschritt Auch die öffentliche Debatte um die jüngste Mitte-Studie der Forschungsgruppe um A ­ ndreas Zick und Beate Küpper 9 beschäftigt sich mit der Frage, ob der pointierte Titel Verlorene Mitte – Feindselige Zustände die ambivalenten Befunde der Studie korrekt wiedergibt.10 Einerseits weist die Untersuchung politische Polarisierung und Radikalisierung nach. Andererseits 5 Diese Abkürzung fasst diejenigen Menschen zusammen, die sich in geschlechtlicher bzw. sexueller Hinsicht als lesbisch, schwul, trans*, bi, inter* oder queer seiend bzw. orientiert verstehen. 6 Yascha Mounk 2018: Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht. D ­ roemer: München. 7 Ebd., 132. 8 Steven Pinker 2018: Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt – eine Verteidigung. S. Fischer: Frankfurt am Main. 9 Zick et al. 2019. 10 Julina Wiedermeier 2019: Darf ’s ein bisschen rechtsextremer sein? Studie „Verlorene Mitte“. Online: https://uebermedien.de/37786/mitte-studie-darfs-ein-bisschen-rechtsextremer-sein/ [08. 06. 2020].

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Matthias Quent

zeigt die Langzeitstudie, dass die Zustimmung zu den allermeisten Elementen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit seit dem Beginn der Messung im Jahr 2002 langsam rückläufig ist (vgl. Tabelle 1). Zwar ist die Abwertung von Asylsuchenden im Zeitverlauf ­zwischen 2011 und 2018/2019 gestiegen – wobei hierzu keine Vergleichsdaten aus dem vorherigen Jahrzehnt vorliegen – ebenso wie die Abwertung langzeitarbeitsloser Menschen. Dagegen sind bei den Etabliertenvorrechten die Zustimmungswerte stabil und die Zustimmungswerte zu allen anderen Elementen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zum Teil sogar erheblich gesunken. Dies dürfte nicht zuletzt Förderprogrammen im Bund und in den Ländern zu verdanken sein, die im ganzen Land Projekte gegen Rechtsradikalismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit anstoßen und unterstützen. Tabelle 1: Zustimmung zu Elementen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Zeitverlauf.

Rassismus

Fremdenfeindlichkeit

Klassischer Antisemitismus

Israelbezogener Antisemitismus Muslimfeindlichkeit

Abwertung von Sinti und Roma

Abwertung asylsuchender Menschen Sexismus

Zustimmung 2002 (in %)

Zustimmung 2010 (in %)

Zustimmung 2018/2019 (in %)

34,5

29,6

18,8

– 2004: 39,2

– 2011: 28,5

– 24,2

29,0

18,7



2011: 34,9

25,8

29,4

13,4

7,5

12,2 12,7

– 2003: 21,7 –

8,2

9,9

2011: 47,4

7,2

5,8

54,1

Abwertung homosexueller Menschen

– 2005: 21,6

18,4

8,3

Abwertung wohnungsloser Menschen

– 2005: 24,1



12,3

21,0

10,8

47,1

52,3

4,2

0,8

39,6

37,7

Abwertung von Trans*Menschen

Abwertung langzeitarbeitsloser Menschen Abwertung von Menschen mit Behinderung Etabliertenvorrechte

Zick et al. 2019, 82 f.



– 2007: 49,3 – 2005: 5,8 39,3

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Offenbar wird die Mitte der Gesellschaft in ihren Einstellungen also keineswegs immer menschenfeindlicher – im Gegenteil. Schauen wir noch länger zurück: auf das besonders polarisierende Beispiel der Frage des Umgangs mit schutzsuchenden Menschen. Erst mit der neuerlichen Asyldiskussion auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise nahmen die Umfragewerte der Alternative für Deutschland (AfD) 2016 massiv zu – aber nicht, weil sich die Bevölkerung massenhaft abschotten möchte, wie die AfD suggeriert, sondern nur ein Teil der Bevölkerung dies will, der bisher nicht größer wird. Denn die deutsche Bevölkerung war noch nie so offen gegenüber Schutzsuchenden eingestellt, wie die Langzeituntersuchung des Allbus zeigt.11 Demnach hat sich die Zustimmung für uneingeschränkten Zuzug für Schutzsuchende in der deutschen Bevölkerung verdoppelt. Gleichzeitig nimmt die Zahl jener ab, die der Meinung sind, der Zuzug müsse völlig unterbunden werden. Der Trend der Liberalisierung der Gesellschaft hat sich trotz aller Propaganda seit der Entstehung der AfD 2013 und ihrer Rechtsradikalisierung insbesondere seit 2015 nicht umgekehrt. Besteht nun ein Zusammenhang ­zwischen den Trends repräsentativer Einstellungsstudien und dem Aufbegehren der populistischen und radikalen Rechten? Ich schlage gegenüber derartigen Interpretationen eine alternative Deutung der politischen Kulturentwicklung und insbesondere der Dynamik rechtsradikaler Bewegungen in den letzten Jahren vor – unter Einbeziehungen der Kontinuitäten, Mechanismen und der Narrative und Selbstdarstellungen rechtsradikaler Akteur*innen:12 Rechtsradikale, also diejenigen, die soziale, ethnische und kulturelle Hierarchien rassistisch steigern und nach dem Motto „Wir zuerst“ einseitig auflösen,13 werden nicht radikaler, weil die Gesamtbevölkerung immer radikaler wird, sondern wegen des substanziellen Bedeutungsverlusts ihrer politischen Ideologien und programmatischen Politikangebote, kurz: aus abnehmender Macht. Im Zuge der Liberalisierung der politischen Mitte werden Personen und Gruppen mit rechtsradikalem Politikorientierungen zunehmend zu Außenseiter*innen und stilisieren sich als Opfer, wobei sie doch vor allem an ihren überholten und starren Ansprüchen ‚leiden‘, an mangelnder Integrationsfähigkeit oder mangelndem Integrationswillen gegenüber einer sich zumindest im Hinblick auf wachsende Gleichberechtigung zum Positiven verändernde Gesellschaft. Fortschrittliche Veränderungen in der politischen (Mehrheits-)Kultur führen zu paradoxen Verhältnissen, in denen die Sensibilität wächst und auf einmal jene Stimmen und Positionen schrill erscheinen, die vor Jahren noch Teil einer rassistischen Normalität waren. Erst der öffentliche Streit ermöglicht die Problematisierung und auch die Aufklärung jener 11 Statistisches Bundesamt (Destatis): Datenreport 2018: 408. 12 Quent 2019. 13 Birgit Rommelspacher 2011: Ambivalente Beziehungen: Die ‚Mitte‘ der Gesellschaft und der rechtsex­treme ‚Rand‘. In: Caroline Y. Robertson von Trotha (Hg.): Rechtsextremismus in Deutschland und Europa. Rechts außen – Rechts „Mitte“? Nomos: Baden-Baden, 47 – 55, hier 50.

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Mehrheitsmilieus, die von Rassismus weder betroffen noch Akteur*innen in Diskursfeldern sind, in denen s­ olche Fragen diskutiert werden. Als „Integrationsparadox“ bezeichnet der Soziologe Aladin El-Mafaalani seine Beobachtung, dass einerseits die Integration in Deutschland noch nie so gut gewesen sei wie heute, sich aber andererseits dadurch das Konfliktpotenzial erhöht habe und Schließungsforderungen gegenüber der historischen Offenheit besonders laut würden.14 Gelungene Integration steigert das Konfliktpotenzial, weil sich mehr Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven zunehmend auf Augenhöhe begegnen. Der vorhandene Rassismus wird dadurch nicht automatisch mehr oder weniger, sondern zunächst vor allem sichtbarer. Der Rassismus gewinnt also nicht an Substanz – er verliert. Umso schriller und lauter müssen seine Verteidiger*innen ihn zur Selbstvergewisserung präsentieren. Adorno beschrieb den Prozess in Bezug auf den „pathischen Nationalismus“, der nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Überholtheit besonders aggressiv auftrete: Es ist ja sehr oft so, daß Überzeugungen und Ideologien gerade dann, wenn sie eigentlich durch

die objektive Situation nicht mehr recht substanziell sind, ihr Dämonisches, ihr wahrhaft Zer-

störerisches annehmen. […] Dieses Moment des Angedrehten, sich selbst nicht ganz Glaubenden, hat er [der pathische Nationalismus] übrigens schon in der Hitlerzeit gehabt. Und d ­ ieses

Schwanken, diese Ambivalenz, ­zwischen dem überdrehten Nationalismus und dem Zweifel daran, der dann wieder es notwendig macht, ihn zu überspielen, damit man sich selbst und anderen

gleichsam einredet, das war damals auch schon zu beobachten.15

Heute haben früher als selbstverständlich und ‚natürlich‘ geltende Ungleichheitsvorstellungen weniger Rückhalt als je zuvor in der Geschichte der deutschen Nation. Das wiederum führt zur politischen Radikalisierung des kulturellen Rassismus und damit zum Rechtsradikalismus. Es zeigt sich die paradoxe Situation, dass weniger Toleranz für Rassismus mehr Rechtsradikalismus offensichtlich macht. Die öffentliche Diskussion um die Äußerungen von Clemens Tönnies, ehemaliger Aufsichtsratsvorsitzender des Fußballbundesligisten Schalke 04, im Sommer 2019 veranschaulicht das Paradox. Tönnies schlug beim Handwerkstag in Paderborn vor, Deutschland solle 27 Milliarden Euro, die für Maßnahmen zur Einsparung des CO2-Ausstoßes vorgesehen ­seien, ­nutzen, um „jedes Jahr 20 große Kraftwerke“ in Afrika zu bauen. Dann, so Tönnies, „hören die auf, die Bäume zu fällen, und sie hören auf, wenn’s dunkel ist, wenn wir die nämlich elektrifizieren, Kinder zu produzieren“.16 Es folgte eine intensive öffentliche Diskussion, 14 Aladin el Mafaalani 2018: Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Kiepenheuer & Witsch: Köln. 15 Theodor W. Adorno, Volker Weiß 2019: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Suhrkamp: Berlin. 16 Hans-Hermann Igges 2019: Paderborn. Clemens Tönnies sorgt beim Tag des Handwerks für Kopfschütteln. In: Neue Westfälische. Online: https://www.nw.de/lokal/kreis_paderborn/paderborn/22523960_​

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ob und warum diese Äußerung rassistisch sei oder nicht. Einerseits werden paternalistische Vorstellungen sichtbar, die sich einreihen in die Kolonialisierungs- und Ausbeutungsgeschichte Afrikas. Andererseits zeigt die Diskussion Fortschritte rassismuskritischer Sensibilisierung. Man mag sich darüber empören, dass s­ olche Diskussionen im Jahr 2019 überhaupt noch nötig sind, oder darüber streiten, ob der Rassismusvorwurf angemessen ist. Jedenfalls indiziert die Debatte große Verunsicherung in einem noch andauernden kollektiven Lernprozess, der sich mit unserem kulturellen Erbe des Rassismus beschäftigt, welches die westliche Kultur und Sozialisation lange geprägt hat und weiter prägt. Noch vor 25 Jahren lösten viel heftigere Äußerungen im Fußball keine öffentlichen Debatten aus: In der Bundesligasaison 1995/1996 sagte der als Legende geltende Otto Rehhagel, damals Trainer des FC Bayern München, über den aus Nigeria stammenden Fußballspieler Jonathan Akpoborie: „Meine Herren, passen Sie mir auf den Akpoborie auf. Sie wissen doch, die Neger wollen uns unsere Arbeitsplätze wegnehmen.“ 17 Was heute vermutlich eine Karriere beenden würde, sorgte damals kaum für Kontroversen. Dass ­solche verletzenden und pauschalisierenden Äußerungen im öffentlichen Raum jenseits der radikalen und populistischen Rechten heute kaum noch vorstellbar sind und massiven Gegenwind hervorrufen, ist Ausdruck von Fortschritt – in einem Land, in dem vor nicht einmal hundert Jahren noch Millionen Menschen aufgrund antisemitischer und rassistischer Ideologien vernichtet wurden. Auch prominente Fälle meist älterer Männer, etwa Alexander Gauland, die früher in der CDU eine politische Heimat hatten, veranschaulichen den Prozess der Radikalisierung ehemals Konservativer in den Rechtsradikalismus als Gegenbewegung zur gesellschaftlichen Liberalisierung.

3. Liberalisierung der „Partei der Mitte“ (CDU/CSU) In den vergangenen Jahrzehnten konnten in der Bundesrepublik in Fragen der Aufklärung erhebliche Fortschritte erzielt werden – trotz aller fortdauernden und noch immer leidverursachenden Missstände. Diese Fortschritte sind nicht generell „links“, wie unter anderem der frühere Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, der Bundeskanzlerin Angela Merkel vorwarf, sondern im Geiste der Werte der Verfassung vor allem demokratisch. Die neue Sensibilität ermöglicht einen geschärften Blick auf heutige deutsche Zustände. Doch um die Prozesse in der gesellschaftlichen Mitte und die Ursachen aktueller Entwicklungen verstehen zu können, muss berücksichtigt werden, wo die Mitte früher stand. Clemens-Toennies-sorgt-beim-Tag-des-Handwerks-fuer-Kopfschuetteln.html [08. 06. 2020]. 17 N. N. 08. 05. 1996: Der ­Kaiser und sein Killer. In: Der Spiegel. Online: https://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-8922219.html [08. 06. 2020].

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Politiker*innen und Unterstützer*innen der AfD behaupten häufig, ihre Positionen ­seien noch in den 1980er und 1990er Jahren Mainstream in der CDU/CSU gewesen. Das passt zu Franz Joseph Strauß’ Devise, wonach es keine demokratisch legitimierte Partei rechts der Union geben solle – was eben auch bedeutete, dass die CDU/CSU Teile des rechtsradikalen Potenziales integrierten, das nach 1945 weder in Ost- noch in Westdeutschland verschwunden war. In der Tat finden sich hinsichtlich der Asyldiskussion Anfang der 1990er Jahre zahlreiche Beispiele für Rechtsaußenpositionen in der CDU/CSU. Der damalige CDU-Bundes­ tagsabgeordnete Friedbert Pflüger warnte in dem auch heute noch äußerst lesenswerten Buch Deutschland driftet. Die Konservative Revolution entdeckt ihre Kinder eindrücklich vor dem damaligen Erstarken neurechter Antidemokrat*innen in der CDU in der Tradition der protofaschistischen „Konservativen Revolution“ der 1920er Jahre.18 Eben diese reaktionären Traditionen des strukturell antisemitischen Kulturpessimismus und Antiliberalismus prägen heute die AfD, ihr organisatorisches und publizistisches Vorfeld. Mit der Gründung der AfD haben zahlreiche frühere Rechtsaußenpolitiker der Union, wie Alexander Gauland oder Martin Hohmann, dort eine neue politische Heimat gefunden. Zumindest bis vor den Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern im Herbst 2019 kippte die CDU /CSU  – trotz rechter Töne insbesondere aus Bayern, Sachsen und Sachsen-Anhalt – insgesamt nicht (zurück) nach Rechtsaußen. Wesentliche Teile der CDU und auch die Führung der CSU haben mittlerweile verstanden, dass Rechtsaußenpositionen aus der Union letztlich vor allem der Rechtsaußenpartei AfD helfen – und nicht den Konservativen. Manche Konservative sehnen sich danach, die rechte Flanke ausgerechnet durch eine Öffnung nach Rechtsaußen zu schließen, so wie einst Franz Josef Strauß. Er hielt 1988 die Abschaffung der Apartheid in Südafrika für „unverantwortlich“ und die Forderung nach demokratischer Gleichstellung der schwarzen Mehrheit für „nicht wünschenswert“.19 Der 2018 im Rennen um den CDU -Vorsitz gescheiterte Friedrich Merz hatte das Ziel ausgerufen, die Ergebnisse der AfD zu „halbieren“ – durch eine stärkere Repräsentation „wertkonservativer“ Positionen in der CDU .20 In der Talkshow Anne Will nannte er Alfred Dregger als Vorbild, dem es gelungen sei, die rechte Flanke der Union zu schließen.21 Das Beispiel Dregger zeigt, was früher in der Union möglich war: Dregger, der als Hauptmann im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte, hielt den 8. Mai 1945, den Tag der 18 Friedbert Pflüger 1994: Deutschland driftet. Die konservative Revolution entdeckt ihre Kinder. EconVerlag: Düsseldorf. 19 Christoph Sydow 06. 12. 2013: „Dieser schwarze Terrorist“. In: Der Spiegel. Online: https://www.­spiegel. de/politik/ausland/nelson-mandela-war-bei-thatcher-strauss-und-reagan-verhasst-a-937612.html [08. 06. 2020]. 20 Arno Frank 09. 11. 2018: Zeitreise mit Friedrich Merz. In: Der Spiegel. Online: https://www.spiegel.de/ kultur/tv/anne-will-mit-friedrich-merz-zeitreise-mit-dem-cdu-kandidaten-a-1238932.html [08. 06. 2020]. 21 Ebd.

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Befreiung Europas vom Nationalsozialismus, für einen Tag „erzwungener Unterwerfung“.22 Er forderte, die Deutschen sollten „aus dem Schatten Hitlers heraustreten“,23 er kritisierte die Wehrmachtsausstellung und veröffentlichte einen Beitrag in einem von dem rechtsradikalen Publizisten Rolf-Josef Eibicht herausgegebenen revisionistischen Sammelband mit dem Titel 50 Jahre Vertreibung – Der Völkermord an den Deutschen. Mitautoren des Bandes waren Franz S ­ chönhuber (ehemaliger Vorsitzender der Partei Die Republikaner) und Gerhard Frey (ehemaliger Vorsitzender der Partei DVU ). Der Spiegel bezeichnete Dregger, der von 1982 bis 1991 der CDU /CSU -Fraktion im Bundestag vorsaß und 2002 verstarb, als „Galionsfigur“ der Neuen Rechten.24 Heute wäre es zu Recht undenkbar, dass Annegret Kramp-Karrenbauer oder Friedrich Merz gemeinsam mit Rechtsradikalen den Nationalsozialismus relativieren. Es ist Ausdruck von Fortschritt, dass derartige Positionen heute in der Union und in der demokratischen Mitte weniger zustimmungsfähig sind als je zuvor. Die Union ist als selbsterklärte Partei der politischen Mitte insgesamt nicht nach rechts gerückt, sondern hat sich, insbesondere unter Angela Merkel, in einem Prozess der Liberalisierung weitgehend von ­diesem rechtsradikalen Ballast befreit, der nun in der AfD eine politische Heimat gefunden hat.

4. AfD – Die Rechtsaußenpartei Angesichts der neuen organisatorischen Stärke und Lautstärke von Rechtsaußenkräften entsteht der Eindruck, die Bundesrepublik würde nach rechts driften. Das Bild eines rechten Aufbruchs und der Eindruck eruptiver Entwicklungen haben seit 2015 zu einer massiven medialen Präsenz und zur Popularisierung der Rechten beigetragen. Mit geschickten Inszenierungen, erheblichem Aufwand und gezielter Suggestion rechter Meinungsführerschaft durch ausgiebige Kampagnen- und Öffentlichkeitsarbeit, insbesondere in sozialen Netzwerken, bis hin zu organisierten Hasskampagnen und gefälschten Trollprofilen und getragen von hohen Wahl- und Umfragewerten präsentieren sich radikale und populistische Rechte als „Stimme des Volkes“, deren Zeit nun angebrochen sei. Sie zielen mit zeitgenössischer Technik auf den von Adorno bereits 1967 als wesentlich für den neuen Rechtsradikalismus identifizierten „Bandwagon-Effekt“ ab: „das heißt, daß diese Bewegungen durchwegs so auftreten, als ob sie bereits sehr große Erfolge gehabt hätten, und durch die Vorspiegelung, 22 N. N. 14. 04. 1995: Volle Wahrheit. In: Der Spiegel. Online: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9180071. html [08. 06. 2020]. 23 Arno Klönne 20. 03. 1989: „Die Abgrenzung ist undeutlich geworden“. In: Der Spiegel. Online: https:// www.spiegel.de/spiegel/print/d-13494443.html [08. 06. 2020]. 24 N. N. 1995.

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daß sie also die Garanten der Zukunft s­ eien und Gott weiß was alles hinter ihnen steht, die Menschen anziehen“.25 AfD-Mitgründer Konrad Adam schreibt in der Wochenzeitung Junge Freiheit: „Der Geist steht nicht mehr links.“ 26 Doch der Satz ist Augenwischerei. Noch nie waren die Deutschen so liberal eingestellt wie heute. Das soll nicht heißen, dass nicht auch in der sogenannten Mitte links der AfD nach wie vor autoritäre Potenziale stecken. Rechtsextreme Einstellungen gehen aber langfristig zurück – und die rechtsextrem Eingestellten versammeln sich insbesondere in der Wählerschaft der AfD.27 Dass die Mitte immer stärker nach rechts driftet, ist eher eine Plattitüde als eine neue Diagnose der Sozialforschung – der Vorwurf wurde bereits in den 1980er und 1990er Jahren erhoben. Seitdem ist die Zahl von Todesopfern rechter Gewalt ebenso zurückgegangen 28 wie das gemessene Ausmaß rechtsextremer Einstellungen. Die These eines permanenten gesellschaftlichen Rechtsrucks ist haltlos. Stattdessen kommt es immer wieder wellenförmig zum Aufbegehren der radikalen Rechten und zur Mobilisierung des latenten rechtsradikalen Potenzials. Die Gesellschaft hat sich trotz des immer wieder prognostizierten Rechtsrucks eher zivilisiert als zum ,Vierten Reich‘ transformiert. Dies spricht dafür, dass die Ächtung rechtsradikaler Positionen in der Öffentlichkeit lange wirkungsvoll war. Nicht die Mitte hat sich nach rechts radikalisiert. Die Rechtsradikalen haben sich vielmehr von der zunehmend liberalisierten Mitte emanzipiert und schlagen aus einer selbstgewählten Außenseiterposition zurück. Während sich die Gesellschaft demokratisch weiterentwickelt hat, hängen die heutigen Reaktionäre verblassenden Vorstellungen der Vergangenheit an, die nur durch einen Umsturz und gegen den Widerstand gesellschaftlicher Mehrheiten umsetzbar wären. Aufgrund der im Zuge der Globalisierung veränderten gesellschaftlichen Situation können heute durchaus Gesellschaftsvorstellungen rechtsradikal sein, die vor dreißig Jahren noch Teil der rechtsoffenen Mitte waren. Denn wer das Heute zerstören will, um das Heil im Gestern zu suchen, der will nicht bewahren, sondern umstürzen. Es ist nicht konservativ, wenn die AfD in den Landtagswahlkämpfen 2019 Preußen glorifiziert und die „Wende 2.0“ fordert – dies ist vielmehr der Aufruf zu einem reaktionären Umbruch. Auch wenn die rechte Propaganda versucht, die Realität umzudrehen: Keine der heute im Bundestag vertretenen Parteien spricht so wenig für die mehrheitlichen Orientierungen der Gesellschaft wie die AfD. Dies betrifft neben der Frage des Umgangs mit Geflüchteten 25 Adorno, Weiß 2019, 22. 26 Konrad Adam 2018: Der Weg ins Freie. In: Junge Freiheit. Online: https://jungefreiheit.de/debatte/­ kommentar/2018/der-weg-ins-freie/ [08. 06. 2020]. 27 Dirk Baier, Marie Christine Bergmann, Elmar Brähler, Oliver Decker, Barbara Handke, Johannes Kiess 2018: Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Die Leipziger Autoritarismus-Studie 2018. Psychosozial-Verlag: Gießen. 28 Quent 2019, 223 f.

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beispielsweise auch die Europa- und Gleichstellungspolitik.29 Nicht aufgrund ihrer gesellschaftlichen Dominanz, sondern aufgrund schwindender Bedeutung in der Mitte radikalisiert sich das Rechtsaußenlager und entfernt sich dabei immer mehr von früheren Machtpositionen in Politik und Gesellschaft. Die AfD ist in einer Radikalisierungsspirale gefangen. Dadurch zeigt sich, wie ‚normal‘ rechtsradikales Denken für Teile der Gesellschaft war und ist, die keine Berührungsängste zu Neonazis haben und sich von den liberalen und demokratischen Parteien nicht repräsentiert sehen. Beim Schulterschluss des ‚Rechtsaußenmosaiks‘ im August 2018 in Chemnitz, als Spitzenpolitiker*innen der AfD, Neonazis von Parteien wie Der Dritte Weg und NPD mit rechtsradikalen Hooligans und zahlreichen Bürger*innen aus der vermeintlichen „Mitte der Gesellschaft“ eine gemeinsame Demonstra­tionsfront bildeten, formierte sich auf der Straße, was unzählige Studien und Analysen seit Jahrzehnten attestieren: Der Rechtsradikalismus ist kein auf deviante Jugendgruppen isoliertes Randphänomen, wie es in der praktischen Umsetzung extremismustheoretischer Annahmen vor allem in Behörden, Politik und Medien suggeriert wurde und wird, sondern er kommt aus der Mitte.

5. Backlash-Politik Im Zuge von wirtschaftlicher und kultureller Globalisierung, Liberalisierung und Aufklärung (der „stillen Revolution“, wie Ronald Inglehardt die wachsende Bedeutung postmaterieller Werte nennt 30) wurde in der gesellschaftlichen Mitte immer weniger Platz für Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und Sexismus. Dass diese machttektonischen Verschiebungen auf (v)erbitterte Gegenwehr der einst kulturell Vorherrschenden stoßen, kann nicht überraschen. Einige enttäuschte, einst kulturell Konservative haben sich darüber zu Reaktionären radikalisiert. Das ist kein neues Phänomen, sondern ein Prozess, auf den schon vor Jahrzehnten hingewiesen wurde. Die Analysen des amerikanischen Soziologen Seymour M. Lipset zum „Extremismus der Mitte“ 31 wurden auch in Deutschland ausführlich diskutiert und teilweise relativiert.32 Weniger intensiv wurden spätere Analysen von Lipset und Raab über Verschwörungstheorien sowie Rechtspopulismus und -extremismus, deren 29 Ebd., 76 f. 30 Ronald Inglehart 1977: The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles among Western Publics. Princeton University Press: Princeton. 31 Seymour Martin Lipset 1959: Der „Faschismus“, die Linke, die Rechte und die Mitte. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 11 (3), 401 – 444. 32 Jürgen Falter 1982: Radikalisierung des Mittelstandes oder Mobilisierung der Unpolitischen? Die ­Theorien von Seymour Martin Lipset und Reinhard Bendix über die Wählerschaft der NSDAP im Lichte neuerer Forschungsergebnisse. In: Peter Steinbach (Hg.), Probleme politischer Partizipation im Modernisierungsprozeß. Klett-Cotta: Stuttgart, 438 – 469.

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Konjunkturen und die sie tragenden Milieus in Amerika rezipiert.33 Demnach sind vor allem jene Eliten angstgetrieben, die einen Anspruch auf hohen Status geltend machen; sie fühlen sich bedroht, unsicher und reagieren auf wahrgenommene Angriffe auf ihren überlegenen Status durch eine Backlash-Politik. Dies meint die Reaktion von Gruppen, die aufgrund des gesellschaftlichen Wandels das Gefühl haben, an Bedeutung, Einfluss und Macht zu verlieren, und die versuchen, die Richtung des gesellschaftlichen Wandels umzukehren oder aufzuhalten. Da ihre politische Besorgnis durch Missachtung, wiederholte Niederlagen und Misserfolge ausgelöst wurde, so Lipset und Raab, ist diese Politik der Gegenreaktionen oft extremistisch.34 Sie wird getragen von gesellschaftlichen Gruppen, deren kulturell-ethische Werte an Bedeutung verlieren und die finden, dass die Geschichte gegen sie und gegen jene verläuft, die die „Herrschaft der Weißen“ verteidigen wollen und die Erfolge von Bürger­ rechtsbewegungen für bedrohlich halten. Daher ist der Rechtsradikalismus, Lipset und Raab folgend, gekennzeichnet durch repressive Gegenreaktionen und einen verzweifelten Konservativismus angesichts bevorstehenden Wandels – ohne dass Konservatismus mit Extremismus gleichzusetzen ist.35 Die rechtsradikalen Bewegungen in Amerika, führen die Autoren weiter aus, sind vor dem Hintergrund wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen gewachsen, die dazu geführt haben, dass einige Bevölkerungsgruppen ihre früheren Dominanzpositionen aufgeben mussten. Diesen zentralen Aspekt der Verteidigung von kultureller Macht im neuen Rechtsradikalismus verkennen Erklärungsansätze, die die wichtigste Ursache in der wirtschaftlichen Deklassierung von Bevölkerungsgruppen suchen und dann verwundert feststellen müssen, dass es eben nicht größtenteils wirtschaftliche abgehängte Gruppen sind, die etwa die AfD unterstützen. Populistische und radikale Rechtsaußenparteien und -bewegungen werden nicht primär getragen von sozialen Außenseiter*innen, sondern von früher machtstarken Milieus, die im Zuge gesellschaftlicher Emanzipation und Liberalisierung fürchten, Bedeutung und Einfluss zu verlieren. Das betrifft vor allem weiße Männer, ­welche die wichtigste Wählergruppe der AfD und anderer Rechtsaußenparteien bilden. So ist auch zu erklären, warum soziale ­Themen (Steuern, Umverteilung, Rente usw.) in den Wahlkämpfen der AfD keine Rolle spielen, dafür aber kulturelle Identitätsthemen umso mehr, wie ‚Sorge‘ vor kultureller Veränderung, Rassismus, Abschottung oder die Anrufung ostdeutscher Identität.

33 Seymour Martin Lipset, Earl Raab 1971: The Politics of Unreason. Right Wing Extremism in America, 1790 – 1970. Heinemann Educational Books: London u. a. 34 Ebd., 29 f. 35 Ebd., 154.

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6. Fazit Das historisch falsche Narrativ einer nach rechts driftenden Mitte spielt populistischen und radikalen Rechten in die Hände, weil sie sich damit als erfolgreiche politische Kraft der Zukunft verkaufen und vor allem Rechtsaußenpositionen im Sinne des BandwagonEffektes (wieder) normalisieren können. Das Narrativ unterstützt zudem das rechtsradikale Narrativ, nach dem liberale Fortschritte Ausdruck eines (jüdischen) „Kulturmarxismus“ der Eliten s­ eien, der sich gegen die Interessen der Bevölkerung richte.36 Jenseits der objektiven Wahrheit der Menschenrechte zeigen auch Befragungen, dass emanzipatorische und menschenrechtliche Fortschritte von gesellschaftlichen Mehrheiten begrüßt werden, also im Interesse vieler liegen. Um meine These noch einmal in aller Deutlichkeit zu formulieren: Die gesellschaftliche Mitte ist noch immer weit von Überzeugungen und Orientierungen echter sozialer Gleichheit entfernt. Aber misst man ihre politisch-kulturellen Einstellungen an empirisch-historischen Realitäten statt an Idealvorstellungen, dann sind erhebliche Fortschritte in dieser Richtung nicht zu leugnen. Mit der AfD hat sich erstmals in der Bundesrepublik eine relevante politische Kraft gebildet, die den Rechtsradikalismus der offener gewordenen Mitte ansaugt. Das kann in der Mitte die ehrliche Problematisierung von Ungleichheiten erleichtern und das Potenzial für die Gewinnung gesellschaftlicher Mehrheiten eröffnen. Dies ist auch ein Ergebnis antirassistischer und antifaschistischer Kämpfe, ­welche die gesellschaftliche Mitte verändert haben. Liberale und linke Demokrat*innen tun sich oft schwer damit, selbstbewusst mit eigenen Erfolgen in emanzipatorischen Kämpfen umzugehen. Anstatt den Fortschritt selbstbewusst zu begrüßen, diskutieren Teile der Linken Fragen, ob Erfolge von Antidiskriminierungsbewegungen und Menschenrechten in Deutschland eine ‚identitätspolitische‘ Fehlentwicklung s­ eien – weil sie bisweilen über das Ziel der Diskriminierungsfreiheit hinaus­ schießen oder gar Verrat an den vermeintlich eigentlicheren Interessen der Arbeiterklasse ­seien.37 Dabei könnten die Erfolge beispielhaft für andere aktuelle Konflikte sein, etwa in ökologischen Belangen. Mit der populistischen Inszenierung als „Stimme des Volkes“ schafft die radikale und populistische Rechte es immer wieder, die demokratische Politik zu verunsichern und zu „jagen“. Doch die AfD spricht nicht für „das Volk“. Die AfD spricht im Gegenteil für eine historisch an Einfluss verlierende rechtsradikale Minderheit. Die Partei steht mehrheitlich nicht für einen Aufstand der wirtschaftlich Schwachen, sondern für die Reaktion kulturell überholter, früher vorherrschender Milieus. Diese stellen 36 Quent 2019, 188 f. 37 Kritisch dazu: Silke van Dyk 22. 02. 2019: Identitätspolitik gegen ihre Kritik gelesen. Für einen rebellischen Universalismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (9 – 11). Online: https://www.bpb.de/apuz/286508/ identitaetspolitik-gegen-ihre-kritik-gelesen-fuer-einen-rebellischen-universalismus?p=all [08. 06. 2020].

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sich in Teilen bereits heute progressiven Bewegungen für ökonomische und ökologische Gerechtigkeit in den Weg. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Mitte kann gelesen werden als Erfolgsgeschichte einer im historischen Maßstab zunehmend aufgeklärten, an den Werten des Grundgesetzes orientierten politischen Mehrheitskultur. Damit einher geht eine zunehmende Isolierung von Rassismus und Rechtsradikalismus. Dies sollte selbstbewusst vertreten und verteidigt werden: Das schließt auch ein, Rückschläge mittels Entgegnung und Ausgrenzung zu verhindern. Die Entwicklung zeigt, wie emanzipatorische Kämpfe und interne Kritik, das heißt der Bezug auf geteilte verfassungsmäßige Bedingungen in der Mitte, produktive Konflikte und progressive Entwicklungen anstoßen können und damit zur Stärkung demokratischer und menschenrechtlicher Ansprüche beitragen. Zugleich gilt es, potenzielle Rückschläge einzuplanen und ihre Wirkung dadurch abzuschwächen, dass emanzipatorische Debatten um gesellschaftliche Veränderungen nicht nur in progressiven und akademischen Milieus, sondern kontrovers auch mit und in der Mitte geführt werden.

TEIL III: ZUR (PRAKTISCHEN) KRITIK EXTREM RECHTER MILIEUS, IDEOLOGIEN UND AKTIONEN

Marius Hellwig

Rechte Lebenswelten Völkischer Rechtsextremismus im ländlichen Raum

Ein Septemberwochenende im Jahr 2018 im sächsischen Bischofswerda: Auf einer lauschigen Bühne im Wald finden sich am Freitag- und Samstagabend mehrere hundert Menschen ein, um einer Theateraufführung beizuwohnen. Gezeigt wird Schillers Drama um den schweizerischen Nationalhelden Wilhelm Tell, die Geschichte des eidgenössischen Freiheitskampfes. Soweit nichts Besonderes – doch bei einem näheren Blick auf die Bühne und die Tribüne fällt auf, dass sich hier prominente Rechtsextreme aus dem gesamten deutschsprachigen Raum zusammengefunden haben.1

1. Die Wilhelm Tell-Aufführungen in Bischofswerda als Beispiel völkischer Aktionsformen An den Geschehnissen in Bischofswerda lassen sich beispielhaft mehrere Aspekte aufzeigen, die für die betont völkische Spielart des Rechtsextremismus charakteristisch sind. So offenbarte das aus dem gesamten Bundesgebiet und deutschsprachigen Ausland angereiste Publikum einmal mehr das hohe Mobilisierungspotenzial und die guten, oftmals verwandtschaftlichen Verbindungen der Völkischen in weite Teile der rechten Szene. In Bischofswerda teilten sich Aktivist*innen der neovölkischen Identitären Bewegung, Angehörige völkischer „Sippen“,2 Anhänger*innen der Anastasia-Bewegung,3 Mitglieder völkischer Jugendbünde 4 und dem 1 Andrea Röpke, Andreas Speit 14. 09. 2018: Inszenierung der „Volksgemeinschaft“, in: taz. Online: https:// taz.de/Extrem-rechtes-Theater-in-Sachsen/!5535612/ [08. 06. 2020]. 2 Als völkische „Sippen“ werden rechtsextreme Großfamilien bezeichnet, in denen die völkische Ideologie über Generationen hinweg an die Nachfahren weitergegeben wurden. Sie kennzeichnet eine enge Bindung der ganzen Familie an die rechtsextreme Szene und eine stark instrumentelle Erziehung der Kinder. 3 Die Anastasia-Bewegung ist eine esoterische Gruppierung, ­welche Bezug auf die Romanreihe Die klingenden Zedern Russlands des Autors Wladimir Megre nimmt. Die Anhänger*innen möchten das in den Romanen dargelegte Siedlungskonzept der „Familienlandsitze“ in die Realität umsetzen, um die übernatürlichen Fähigkeiten der Romanfigur Anastasia zu erlangen. 4 Völkische Jugendbünde organisieren Zeltlager, ­welche Rechtsextremen dazu dienen, ihre Kinder ideologisch zu indoktrinieren und wehrsportlich zu drillen. Sie agieren in der Tradition der Hitlerjugend und des Bunds

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Marius Hellwig

Jugendbund der schlesischen Vertriebenen Schlesische Jugend mit Funktionär*innen der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) sowie der Alternative für Deutschland (AfD) die Zuschauerbänke. Völkische versuchen es zu vermeiden, öffentlich als rechtsextrem in Erscheinung zu treten. Statt zu Demonstrationen und Fackelmärschen aufzurufen, organisieren sie rituelle Aktivitäten wie Volkstanz- und Liederabende, Sonnenwendfeiern oder, wie im Fall von Bischofswerda, Theateraufführungen. Der kulturelle Anstrich ermöglicht es den Rechtsextremen, den politischen Charakter der Veranstaltungen abzustreiten und sich selbst als harmlose Akteur*innen zu inszenieren, die allein an „traditionellem Brauchtum“ interessiert s­eien. Die fließenden Grenzen z­ wischen völkischen „Brauchtumsveranstaltungen“ und manifes­ ten rechtsextremen Aktivitäten sind zudem auch im sächsischen Cossen zu beobachten: Auf einem Hof trifft sich zum einen der Volkstanzkreis Cossen, zum anderen fand hier in ­diesem Jahr die Feier zum dreißigjährigen Jubiläum des rechtsextremen Sturmvogel statt.5 Daher darf die Funktion dieser Szeneveranstaltungen für die Völkischen nicht unterschätzt werden: Sie festigen die Szene nach innen und dienen der Kontaktaufnahme zu anderen rechten Gruppierungen sowie dem gegenseitigen Kennenlernen – dies ist besonders wichtig, da von den Heranwachsenden eine Partner*innenwahl innerhalb der Szene erwartet wird. Daher sind Szeneaktivitäten, ­welche die Kinder rechter Akteur*innen mit einbeziehen, von großer Bedeutung.6 Um die rechtsextreme Zusammenkunft zu tarnen, wurde in Bischofswerda zudem die Botschaft, die den Gleichgesinnten übermittelt werden sollte, kodiert: Der unverdächtige Inhalt von Schillers Wilhelm Tell wird von Eingeweihten als Aufruf zum Freiheitskampf eines unterdrückten Volkes gegen eine Fremdherrschaft leicht entschlüsselt.

2. Tarnung als Strategie der Völkischen Doch die Strategie der Völkischen geht auf: Das Schauspiel in Bischofswerda offenbarte die oftmals passive Haltung der lokalen Verantwortlichen, wenn sie mit Völkischen in Kontakt kommen: Mangels Wissens um ­dieses spezielle Spektrum innerhalb der rechtsextremen Szene, deren Zugehörige nicht in das so gängige wie überholte Bild des gewaltorientierten Skinheads passen, werden Völkische nicht als Rechtsextreme wahrgenommen. So stand der Deutscher Mädel. 5 Andrea Röpke: Völkische Jugendarbeit, in: Blick nach rechts 20. 09. 2017. Online: https://www.bnr.de/ artikel/hintergrund/v-lkische-jugendarbeit [08. 06. 2020]. 6 Amadeu Antonio Stiftung 2014: Völkische Siedler/innen im ländlichen Raum. Basiswissen und Handlungsstrategien. Berlin. Online: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2018/08/ voelkische_siedler_web-1.pdf [08. 06. 2020], 14.

Rechte Lebenswelten

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Organisator der Theateraufführungen Baldur Borchardt der Sächsischen Zeitung im Vorfeld der Aufführungen Rede und Antwort, ohne dass dieser der rechtsextreme Charakter der Veranstaltung oder ihres Gesprächspartners auffiel.7 Auch anwesende Vertreter*innen des Stadtrats sowie Verantwortliche der Waldspielbühne waren nicht auf die rechtsextreme Einstellung der Beteiligten aufmerksam geworden.8 Indes war Borchardt nicht das erste Mal in rechten Kreisen aufgetaucht. So hatte er 2015 an den Grabower Olympischen Spielen teilgenommen.9 Die Wettkämpfe im Brandenburgischen fanden im Rahmen der Anastasia-Festspiele statt, dem jährlichen Treffen der rechten Esoteriker*innen. Auf dem Hof von Iris und Markus Krause hatte in der Vergangenheit auch ein Zeltlager des völkischen Jugendbunds Sturmvogel stattgefunden.10 Die Anastasianer beziehen sich auf die zehnteilige Romanreihe des russischen Autors Wladimir Megre, ­welche im Wesentlichen von den übernatürlichen Fähigkeiten der Hauptfigur Anastasia handelt: Diese lebt zurückgezogen in der russischen Taiga und kann telepathisch mit allen Menschen auf der Erde in Kontakt treten, verfügt über einen Heilstrahl, mit dem sie sämtliche Krankheiten heilen kann, und lässt sich von Tieren ihr Essen bringen. Zudem wird in den Romanen das Modell der „Familienlandsitze“ ausgeführt, einer Siedlungsform, bei der jede Familie auf einem Hektar Land alles Überlebensnotwendige anbauen soll – der erklärte Weg zur Rettung der Welt. Neben einem extremen Grad an esoterischen Irrlehren weisen die Bücher zahlreiche antisemitische, rassistische sowie antifeministische und sexistische Passagen auf.11 Deutschlandweit soll es laut Recherchen des Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) vom Mai 2019 siebzehn Familienlandsitzprojekte geben.12

3. Eine neue „völkische Bewegung“ auf dem Land? Der ländliche Raum wird von der rechtsextremen Szene als Experimentierfeld ihrer politischen Aktionsformen angesehen. Ihr Ziel ist es, auf der lokalen Ebene eine rechte Hegemonie herzustellen und damit die Strukturen vor Ort in ihrem Sinne beeinflussen zu können. 7 Ingolf Reinsch 24. 08. 2018: Wilhelm Tell erobert die Waldbühne. In: Sächsische Zeitung. Online: https:// www.saechsische.de/wilhelm-tell-erobert-die-waldbuehne-4001257.html [08. 06. 2020]. 8 Röpke, Speit 14. 09. 2018. 9 Siehe: http://www.landolfswiese.de/grabower-olympische-spiele/ [08. 06. 2020]. 10 Andrea Röpke, Andreas Speit 2019: Völkische Landnahme. Alte Sippen, junge Siedler, rechte Ökos. Berlin. 11 Marius Hellwig 2019: Söhne und Töchter der Taiga. Zur völkisch-esoterischen Anastasia-Bewegung. In: FARN. Fachstelle Radikalisierungsprävention und Engagement im Naturschutz. Love Nature. Not Fascism. Demokratischen Umwelt- und Naturschutz gestalten. Berlin. Online: https://www.nf-farn.de/ system/files/documents/broschuere_farn_lovenature_web.pdf [08. 06. 2020], 10 – 12. 12 Kontraste – Die Reporter: Bio, braun und barfuß – Rechte Siedler in Brandenburg. In: rbb. Online: https://www.youtube.com/watch?v=z5HK6QEKwfo [08. 06. 2020].

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Um dies zu erreichen, wird für die Ansiedlung rechter Aktivist*innen auf dem Land geworben. So appellierte der rechtsextreme Publizist Götz Kubitschek 2007 in seiner Zeitschrift Sezession direkt an junge Familien, leerstehende Gehöfte aufzukaufen und als „Anführer vor Ort“ gemeinsam mit den „jungen Männern“ rechtsextremer Kameradschaften im Sinne des „Nationalen Sozialismus“ „etwas aufzubauen“.13 Knappe zehn Jahre ­später fand Kubitscheks Aufruf im Projekt Netzwerk Landraum der rechten Plattform Ein Prozent für unser Land 14 seine organisatorische Entsprechung. Das Projekt richtet sich ebenfalls an junge „Pioniere“, die bei ihrer „patriotischen Raumnahme“ „um landwirtschaftliche Projekte herum“ finanziell unterstützt werden sollen. Laut eigenen Aussagen sei Ein Prozent Anfang 2018 bereits mit fünfzehn Familien in konkrete Planungen eingestiegen.15

4. Das völkische Netzwerk Die Verlautbarungen von Ein Prozent deuten darauf hin, dass sie für ihre Siedlungsprojekte auf bereits existierende Strukturen zurückgreifen möchten. Damit dürfte ein breites, deutschlandweites Netzwerk von Akteur*innen aus dem völkischen Lager gemeint sein, welches aus einer Vielzahl von Vereinen und Verlagen, sogenannten Sippen, völkischen Siedler*innen, rechtsextremen Jugendbünden und der Identitären Bewegung sowie Funktionär*innen des völkischen Flügels der NPD sowie der AfD besteht. Hinzu kommen Einzelpersonen aus den verwandten Szenen der völkischen Esoteriker*innen und Reichsbürger*innen. Eine besondere Vorbildfunktion für die Neusiedler*innen stellen die bereits etablierten Siedlungsprojekte dar. Schwerpunkte liegen hier auf den Gebieten der völkischen „Sippen“ im Nordosten Niedersachsens sowie den Höfen der völkischen Siedler*innen in Mecklen­ burg-Vorpommern. Sie eint der völkische Lebensstil: So tragen sie meist germanische Namen, vermeiden Anglizismen und verzichten zum Teil auf moderne Technik. Sowohl ihr äußeres Erscheinungsbild als auch ihre Berufswahl ist nach Geschlecht aufgeteilt: Frauen und Mädchen tragen meist lange Röcke oder Kleider, flechten sich ihre Haare und arbeiten in 13 Götz Kubitschek 2007: Leere Räume – junge Männer, in: Sezession 20. Online: https://sezession.de/3506/ leere-raeume-junge-maenner [08. 06. 2020]. 14 Ein Prozent für unser Land sieht sich selbst als rechte NGO, die es sich zur Aufgabe macht, Spenden für Projekte rechtsextremer Akteur*innen zu akquirieren. Hinter Ein Prozent stecken neben Götz Kubitschek weitere bekannte Rechtsextreme wie Hans-Thomas Tillschneider, Mitglied des völkischen Flügels der AfD, Jürgen Elsässer, Herausgeber des verschwörungsideologischen Compact-Magazins und der deutschnationale Burschenschaftler Philip Stein. 15 Ein Prozent 2017: Kulturraum Land: Investoren und Pioniere gesucht. Online: https://www.einprozent. de/blog/aktiv/kulturraum-land-investoren-und-pioniere-gesucht/2193 [08. 06. 2020]; Ein Prozent 2018: „Netzwerk Landraum“ – eine Zwischenbilanz. Online: https://www.einprozent.de/blog/gegenkultur/ netzwerk-landraum-eine-zwischenbilanz/2237 [08. 06. 2020].

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erzieherischen Berufen, falls ihnen neben ihrer Aufgabe als mehrfache Mütter Zeit bleibt. Männer und Jungen tragen meist Zimmermannshosen und arbeiten als Landwirte oder Handwerker. Durch diese „naturgemäße Lebensgestaltung“ sowie die Pflege „arteigener“ ­Sitten, Bräuche und Spiritualität soll die „Volksgemeinschaft“ im Kleinen hergestellt und erlebbar werden sowie die „Arterhaltung“ gesichert werden. Nach außen treten sowohl Kinder als auch Erwachsene in der Regel sehr höflich und hilfsbereit auf, nach innen sind die Familienstrukturen stark hierarchisch und autoritär geprägt, sie beruhen auf einem hohen Grad an Disziplinierung und Unterwerfung. So sichern völkische Rechtsextreme die enge Bindung ihrer Kinder an Familie und Szene – Aussteiger*innen gibt es so gut nicht. Eine weitere bedeutende Aufgabe in der Erziehung der Kinder übernehmen die völkischen Jugendbünde. In ihren regelmäßig stattfindenden Zeltlagern soll die Idee der „Volksgemeinschaft“ real erlebbar werden: In offenkundiger Wesensverwandtschaft zur Hitlerjugend und zum Bund Deutscher Mädel werden die uniformierten Kinder militärisch gedrillt und ideologisch indoktriniert. Neben Wehrsport, Fahnenappellen und langen Märschen erlernen sie hier völkisches Liedgut sowie Brauchtum und werden unter anderem in „Rassenlehre“ geschult. Zahlreiche heutige Führungskader der rechtsextremen Szene nahmen an den Lagern der mittlerweile verbotenen Wiking-Jugend oder Heimattreuen Deutschen Jugend teil. Die aktuell wichtigsten Jugendbünde sind der Sturmvogel und der Freibund, zum Teil imitiert mittlerweile auch die Identitäre Bewegung die Aktionsformen der Bünde.

5. Die Herstellung der „Volksgemeinschaft“: Zur völkischen Ideologie Im Zentrum der völkischen Weltanschauung steht das „deutsche Volk“ bzw. die „Volksgemeinschaft“. Diese wird nach außen entlang rassistischer und antisemitischer Kriterien konstruiert und nach innen durch sexistische und antifeministische Einstellungen sowie starre Geschlechterrollen gefestigt. Sämtliche Fragen des gesellschaftlichen Miteinanders und politische Aushandlungsprozesse werden am Konstrukt des „Wohl des Volkes“ orientiert, welches die Rechte und Forderungen marginalisierter Gruppierungen in der Gesellschaft ausblendet und für unwichtig erklärt. Völkische Ideologie ist daher durch und durch antidemokratisch, antipluralistisch und nicht mit dem Gedanken universell gültiger Menschenrechte zu vereinbaren.16 Die völkische Ideologie basiert auf der Annahme, dass der Mensch und das Land, auf dem er geboren wird, eine untrennbare Einheit bildeten. Daraus wird die Verbundenheit 16 Amadeu Antonio Stiftung 2017: „Die letzten von gestern, die ersten von morgen“? Völkischer Rechtsextremismus in Niedersachen. Berlin. Online: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/ uploads/2018/08/voclkischer-rechtsextremismus-in-niedersachsen-1.pdf [08. 06. 2020], 6.

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eines „Volkes“ mit seinem „Lebensraum“ abgeleitet und als unauflöslich postuliert: Der „Boden“ des Volkes bestimme dessen „Blut“ und damit sämtliche Charaktereigenschaften ebenso wie das Aussehen der „Volksgenossen“. In dieser naturalistischen Vorstellung existiert ein eindeutiger Ursprung des Volkes, welcher von klaren Naturgesetzen geprägt sei und „rein“ gehalten werden müsse. Tatsächlich hat die Verbindung von ökologischen ­Themen mit einem völkischen Weltbild in Deutschland eine lange Tradition, die mit dem Slogan „Naturschutz ist Heimatschutz“ zusammengefasst werden kann. Ökologische ­Themen sind fester Bestandteil rechtsextremer Weltanschauungen.17 Zudem geht die völkische Ideologie davon aus, dass der „Naturzustand“ des Volkes im Wesentlichen bis heute unverändert fortwirke, „die Völker“ voneinander unterscheide sowie die Geschlechterrollen präge – gesellschaftliche Entwicklungen, die Rückwirkungen auf das Wesen von Individuen haben, werden hingegen ausgeblendet. Darüber hinaus wird durch die sozialdarwinistische Übertragung vermeintlicher Naturgesetze auf die menschliche Gesellschaft der Mensch auf seine „Natur“ reduziert. Alles, was von dieser abweiche – sei es Homosexualität, Menschen außerhalb einer binären Geschlechterordnung, Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten –, wird als „widernatürlich“ ausgegrenzt und im Extremfall die Existenzberechtigung abgesprochen.18

6. Der ländliche Raum und Landwirtschaft in der völkischen Ideologie Der ländliche Raum nimmt in der völkischen Ideologie eine zentrale Position ein. Völkische zeichnen „das Land“ als Sehnsuchtsort, auf den sie ihre Volksgemeinschaftsfantasien projizieren. Es gilt ihnen durch seine Nähe zur Natur, die „Verwurzelung“ der Bevölkerung in „ihrem“ Land und das vermeintlich von den negativen Einflüssen der Moderne verschont gebliebene ländliche Leben als idealer Aktionsort rechter Politik. Für Völkische ist der ländliche Raum eine Bastion gegen alles, was sie mit der städtischen Moderne verbinden und ablehnen, sei es der Liberalismus, ein angeblich dekadenter Lebensstil, die Globalisierung, die Emanzipation marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen, die vermeintliche Auflösung traditioneller Familien und Geschlechterrollen, der Kapitalismus oder der Marxismus. Oftmals wird suggeriert, dass Jüd*innen von all diesen Entwicklungen profitieren würden und diese im Hintergrund gegen den „Willen des Volkes“ steuern würden. 17 Klara Kauhausen, Yannick Passeick 2019: Umwelt- und Naturschutz von rechts. In: Farn. Love Nature. Not Fascism. Demokratischen Umwelt- und Naturschutz gestalten. Berlin. Online: https://www.nf-farn. de/system/files/documents/broschuere_farn_lovenature_web.pdf [08. 06. 2020], 6 f. 18 Lukas Nicolaisen 2018: Naturgesetz. In: Farn. Rechtsextreme Ideologien im Natur- und Umweltschutz. Eine Handreichung. Berlin. Online: https://www.nf-farn.de/system/files/documents/handreichung1_ farn_fuer_web.pdf [08. 06. 2020], 16 – 19.

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Im Gegensatz zu den Städten sei der ländliche Raum hingegen über die Jahrhunderte hinweg relativ homogen geblieben, hier würden weiterhin traditionelle Werte und Normen gelten und an einer „alten Ordnung“ festgehalten. Völkische Rechtsextreme romantisieren das vermeintlich „einfache“ und naturbewusstere Leben auf dem Land. So gilt der Bauer, fest verbunden mit der Scholle, die er kultiviert, als Repräsentant des „deutschen Volkes“, welches diese Bindung wieder eingehen müsse. Der Gedanke, dass durch landwirtschaft­ liche Arbeit eine tiefere Bindung zu einem Stück Land hergestellt werden kann, führte über die frühen völkischen Siedlungsprojekte des Kaiserreichs und der Weimarer Republik zur „Besiedlungs- und Germanisierungspolitik“ der eroberten Gebiete im Osten während des Zweiten Weltkriegs, wie sie im Generalplan Ost angedacht gewesen war. Aus der Logik des Generalplans folgte, dass die Teile der Bevölkerung, die als nicht zu germanisieren galten, zu vertreiben oder zu vernichten ­seien.19 Besonders in Gegenden, in denen sich Parteien und zivilgesellschaftliche Akteur*innen zurückgezogen haben, eine höhere Arbeitslosigkeit herrscht, in denen die Bevölkerung vergleichsweise „homogen“ geblieben ist und durch den Wegzug junger, qualifizierter Menschen zusehends überaltert, versprechen sich Rechte Erfolg für ihre politischen Ziele. Hier rechnen sie mit vergleichsweise wenig Gegenwehr bei dem Versuch, strategisch Räume zu ergreifen, um die Dorfstruktur langfristig in ihrem Sinn zu beeinflussen.

7. Was tun? Der ländliche Raum bietet einen speziellen Resonanzboden, in dem sich rechte Gesinnungen einfacher durchsetzen können. Durch direkten Kontakt im sozialen, nachbarschaft­lichen Nahraum, Berufsleben oder in politischen Initiativen sind verschiedene Akteur*innen mit rechten Positionen konfrontiert und reagieren oftmals verunsichert. Eine ausbleibende kritische Distanzierung normalisiert Menschenfeindlichkeit und bestärkt Rechte in ihrem Handeln. Völkische Aktivist*innen verfolgen das langfristige Ziel, den ländlichen Raum in ihrem Sinne zu beeinflussen. Mit der gezielten Landnahme in strukturschwachen Regionen erschaffen völkische Siedler*innen Räume, in denen sie ihre Vorstellung der „Volksgemeinschaft“ lebendig gestalten und erlebbar machen können. So vermeiden sie meist ein offenes Auftreten als Rechtsextreme und geben sich als „Kümmerer“ und freundliche Nachbar*innen. Durch ein betont unpolitisches Auftreten versuchen sie, das Vertrauen anderer Dorfbewohner*innen zu gewinnen. In Gesprächen wählen sie dabei oft ­Themen, die zunächst nicht 19 Helmut Heiber 1958: Der Generalplan Ost. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1958 (3). Online: https://www.nf-farn.de/system/files/documents/handreichung1_farn_fuer_web.pdf [08. 06. 2020], 281 – 325, hier 284.

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als rechts wahrgenommen werden, wie Familie, Naturschutz, biologische Landwirtschaft oder ein Engagement gegen Atomkraft oder Gentechnik. Rechte versuchen diese ­Themen argumentativ als Einfallstore zu ­nutzen, indem sie zunächst Allgemeinplätze formulieren, zu denen sie sich Zustimmung erhoffen. Erst in weiteren Schritten lassen sie rechte Ideologie einfließen. Daher ist es wichtig, sensibel für rechte Gesprächsstrategien zu sein und auch bei übereinstimmenden politischen Forderungen den ideologischen Hintergrund der Position zu beachten. Im Umgang und in der Auseinandersetzung mit rechten Positionen im eigenen sozialen Nahraum ist zu empfehlen, sich klar zu positionieren, gegenüber rechtem Gedankengut abzugrenzen und d ­ iesem die Werte einer aufgeklärten Gesellschaft entgegenzusetzen. Zivilgesellschaftliche Initiativen sollten mit ihrem politischen Engagement eine klare Formulierung der eigenen Vorstellungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens verbinden und deutlich machen, dass ein gemeinsames Handeln mit rechtsextremen Ideolog*innen ausgeschlossen ist. Der Erfolg völkischer Agitation hängt im Wesentlichen damit zusammen, wie schnell ihre Strategie erkannt wird und sich Gegenwehr formiert. Um völkische Rechtsextreme zu erkennen, bevor es diesen gelungen ist, die Dorf-, Vereins- oder Verbandsstrukturen zu unterwandern, ist es wichtig, aktuelle Erscheinungs-, Agitations- und Argumentationsformen von Rechtsextremen zu kennen. Die Mobilen Beratungsstellen gegen Rechtsextremismus können dabei hilfreiche Ansprechpartner*innen sein. Wenn vor Ort der Protest gegen völkische Siedlungen ausbleibt, sehen Rechtsextreme dies als Einladung, weitere Akteur*innen zum Zuzug zu motivieren. Daher sollte versucht werden, möglichst viele Menschen und besonders lokale Entscheidungsträger*innen auf die Thematik aufmerksam zu machen und bei eventuellen Grundstücksverkäufen zu sensibilisieren. Dafür können Publikationen oder Informationsabende mit Expert*innen hilfreich sein. Wer im eigenen sozialen Nahraum mit Rechtsextremen konfrontiert ist, sollte sich überlegen, mit welchem Umgang er*sie sich am wohlsten fühlt und wo seine*ihre Grenzen liegen. Für diese Entscheidungen kann ein Austausch mit anderen Personen aus dem Umfeld sinnvoll sein, um eine gemeinsame Strategie zu entwickeln. Ökologische und landwirtschaftliche Betriebe, Verbände, Initiativen sollten proaktiv definieren, w ­ elche Werte mit ihrem Engagement einhergehen und was die Konsequenzen für rechtsextreme Äußerungen von Mitgliedern bzw. Kolleg*innen oder Partner*innen sind. Dies sollte in einem Leitbild und der Satzung bzw. den Geschäftsbedingungen und Arbeitsverträgen festgehalten werden. Von Seiten der Politik gilt es, zivilgesellschaftliche Strukturen vor Ort zu unterstützen, um auf Demokratiegefährdungen zielstrebig reagieren zu können. Nur so kann den völkischen Rechtsextremen eine lebendige und wehrhafte Demokratie entgegengesetzt werden.

Jan Lohl

„Leistungen unserer Vorfahren“? Zur Kritik des Rechtsextremismus aus transgenerationaler Perspektive

Am 17. Januar 2017 forderte der AfD-Politiker Björn Höcke „eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ und bezeichnete das Denkmal für die ermordeten Juden Europas als „Denkmal der Schande“, das mitten in das „Herz“ der deutschen Hauptstadt gepflanzt worden sei. Dieses Denkmal, so legte Höcke nahe, sei ein Bemühen darum, den Deutschen ihre „kollektive Identität zu rauben“. Diese Formulierungen sind öffentlich zu Recht kritisiert worden, weil sie einer Schlussstrichhaltung im Umgang mit der NS-Vergangenheit und einem damit verbundenen völkischen Nationalismus Vorschub leisten. Weniger Beachtung gefunden hat allerdings die folgende Formulierung Höckes aus derselben Rede: „Wir brauchen eine lebendige Erinnerungskultur, die uns vor allen Dingen und zuallererst mit den großartigen Leistungen der Altvorderen in Berührung bringt.“ 1 Höcke deutet hier eine positive Bezugnahme auf die Angehörigen der NS-Funktionsgeneration zumindest an 2 und nimmt so Bezug auf eine familiäre Ebene des Umgangs mit der NS-Zeit. Diese Ebene habe ich in meiner Studie Gefühlserbschaft und Rechtsextremismus aus der Perspektive einer psychoanalytischen Sozialpsychologie untersucht.3 Gefragt habe ich nach einem möglichen Verhältnis der psychischen Nachwirkungen des Nationalsozialismus zu der Entwicklung von rechtsextremen Einstellungen bei Enkel*innen von Angehörigen 1 Alle Zitate von Björn Höcke 17. 01. 2017: Dresdner Rede im Ballhaus Watzke. Online: https://www.­youtube. com/watch?v=WWwy4cYRFls [07. 06. 2020]. 2 Andeuten heißt, dass Höcke so spricht, dass „Wohlmeinende ihn noch am rechten Rand des demokratischen Konservativismus verorten können, während die äußerste Rechte [und nicht nur diese] die Bilder wohl zu lesen weiß“ (Karsten Pölke-Majeski 2016: Björn Höcke. Mein Mitschüler, der rechte Agitator. In: Die Zeit vom 18. 02. 2016). Tatsächlich spricht Höcke in seiner Rede von den „großen Wohltätern, den bekannten und weltbewegenden Philosophen, den Musikern, den genialen Erfindern und Entdeckern“. Würde man Höcke fragen, wer die Altvorderen und was ihre großartigen Leistungen wären, verwiese er wohl auf diese Passage. Der konkrete historische Kontext aber, in dem sein Sprechen über die Erinnerungskultur steht, ist die Zeit des Nationalsozialismus. Höcke legt also eine Heroisierung der NS-Funktionsgeneration nicht explizit nahe, verschiebt aber die Grenzen des Sagbaren assoziativ weit in diese Richtung. 3 Jan Lohl 2010: Gefühlserbschaft und Rechtsextremismus. Eine sozialpsychologische Studie zur Generationengeschichte des Nationalsozialismus. Psychosozial: Gießen.

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der NS-Funktionsgeneration. Ausgewählte Ergebnisse dieser Studie werde ich im Folgenden darstellen und mit den Einsichten aus einem Lehr-Lern-Forschungsprojekt verbinden, das ich von 2015 bis 2017 gemeinsam mit Studierenden der Goethe-Universität Frankfurt am Main durchgeführt habe.4 Untersucht haben wir öffentliche Reden von Björn Höcke, Tatjana Festerling und Lutz Bachmann mit Blick auf ihre psychosoziale Wirkungsweise: Wie und wieso werden diese Reden für ein Publikum affektiv attraktiv? Wie finden die in diesen Reden verhandelten politischen Orientierungen Anschluss an die psychische Dynamik der Subjekte? In welchem gesellschaftlichen und historischen Kontext wirken diese Reden? Deutlich geworden ist unter anderem, dass die mit den transgenerationalen Nachwirkungen des Nationalsozialismus verbundenen Konflikte von diesen Reden regelmäßig aufgegriffen werden bzw. spezifische psychosoziale Angebote enthalten, um sie zu bearbeiten. Im Folgenden werde ich zunächst die transgenerationalen Nachwirkungen des Nationalsozialismus zusammenfassend skizzieren und anschließend anhand unserer Propaganda­ forschung verdeutlichen, wie diese für die Entwicklung rechter Einstellungen relevant werden könnten.

1. Transgenerationale Nachwirkungen des Nationalsozialismus Transgenerationale Nachwirkungen des Nationalsozialismus wurden in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zuerst bei den Nachkommen von Opfern der Shoah erkannt: Die während der Verfolgung oder im Lager erlittenen extremen Traumata von Juden und Jüdinnen, die vielfach durch eine fehlende gesellschaftliche Anerkennung noch verstärkt wurden, drangen in das Leben der Zweiten Generation ein und entfalteten hier eine konkretistische psychische Wirkung: „The children of survivors show symptoms that would be expected if they actually lived through the Holocaust“.5 Als ihre Kinder in psychoanalytische Behandlungen kamen, litten sie unter Symptomen, die von Menschen bekannt waren, die die Grausamkeit der NSVerbrechen selbst hatten erleben müssen. Inzwischen ist diese transgenerationale Traumatransmission an die Kinder von Opfern der NS-Verfolgung wissenschaftlich gut untersucht.6

4 Ders. 2017a: „Hass gegen das eigene Volk“. Tiefenhermeneutische Analysen rechtspopulistischer Propaganda. In: Psychologie und Gesellschaftskritik 41 (3/4), 9 – 40. Ders. 2017b: „Ein total besiegtes Volk“. Tiefenhermeneutische Überlegungen zum Komplex „Geschichte, völkischer Nationalismus und Antisemitismus“ im Rechtspopulismus. In: Mendel Meron und Astrid Messerschmidt (Hg.): Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft. Campus: Frankfurt, 281 – 304. 5 Harvy Barocas, Carol Barocas 1979: Wounds of the Fathers. The Next Generation of Holocaust Victims. In: The International Review of Psycho-Analysis 6 (3), 331 – 340, hier 331. 6 Exemplarisch etwa Martin Bergmann, Milton Jucovy, Judith Kestenberg (Hg.) 1981: Kinder der Opfer, Kinder der Täter. Psychoanalyse und Holocaust. Fischer: Frankfurt am Main.

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Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den transgenerationalen Folgewirkungen des Nationalsozialismus in Familien von Täter*innen und Mitläufer*innen der NS-Verbrechen hat sich ­später, zunächst in einigen wenigen Pionierarbeiten in den 1970er Jahren und in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre intensiver entwickelt. Untersucht wurden aus einer psychoanalytischen Perspektive der Einfluss eines Hörigkeitsverhältnisses gegenüber Hitler als nationalsozialistischem Massenführer auf die psychische Entwicklung von Angehörigen der Folgegeneration oder die Tradierung von (abgewehrten) Schuld- und Schamgefühlen sowie von unbewussten Identifizierungen, Abwehrmechanismen und Affektdynamiken.7 Auch die generationenübergreifenden Folgen von nationalsozialistischen Erziehungspraktiken sind untersucht worden.8 Zudem finden sich Studien mit einem gedächtnistheoretischen Ansatz, die nicht das affektive Hineinragen der Vergangenheit der Vorfahren in das Leben der Nachgeborenen thematisieren, sondern nach der kommunikativen Verfertigung einer gemeinsam geteilten Vergangenheit in den Familien der Gegenwart fragen.9 Noch 2006 stellt allerdings Ulrike Jureit fest, dass bislang kaum erforscht sei, „welche Handlungsrelevanz die generationale Weitergabe unbewusster Inhalte mit sich bringen kann“.10 Inzwischen liegen jedoch einige wenige Arbeiten vor, die die Bedeutung dieser Weitergabe in Familien ehemaliger Nationalsozialist*innen für die Entwicklung rechter Orientierungen, Handlungsbereitschaften und Zugehörigkeiten untersuchen.11 Wenn ich mich vor ­diesem Hintergrund aus einer transgenerationalen Perspektive dem aktuellen Rechtsextremismus zuwende, geschieht dies nicht, um einen monokausalen Erklärungsansatz für die Entwicklung rechter Orientierungen und Handlungsbereitschaften vorzulegen. Diese Entwicklung lässt sich nicht kausal und ausschließlich auf die transgenerationalen Nachwirkungen des Nationalsozialismus zurückführen. Zu betonen ist jedoch ­Folgendes: Rechte Orientierungen und Handlungsbereitschaften entwickeln sich in realen oder imaginären Gemeinschaften stets prozesshaft. Im Verlauf eines psychosozialen Prozesses der Aneignung, 7 Exemplarisch Dan Bar-On 1989: Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von Nazi-Tätern. Rowohlt: Reinbek; Anita Eckstaedt 1989: Nationalsozialismus in der ‚zweiten Generation‘. Psychoanalyse von Hörigkeitsverhältnissen. Suhrkamp: Frankfurt am Main; Lutz Rosenkötter 1981: Die Idealbildung in der Generationenfolge. In: Psyche 35, 593 – 599; Erich Simenauer 1978: Doppelhelix. Einige Determinanten der Fortdauer des Nazismus. In: ders. 1993: Wanderung ­zwischen den Kontinenten. Gesammelte Schriften zur Psychoanalyse. Frommann-Holzboog: Stuttgart, 463 – 476. 8 Vgl. etwa Christian Schneider, Cordelia Stillke, Bernd Leineweber 1996: Das Erbe der NAPOLA. Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus. Hamburger Edition: Hamburg. 9 Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschugnall 2002: ‚Opa war kein Nazi.‘ Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Fischer: Frankfurt am Main. 10 Ulrike Jureit 2006: Generationenforschung. Vandenhoeck und Ruprecht: Göttingen, 72. 11 Vgl. Lena Inowlocki 2000: Sich in die Geschichte hineinreden. Biographische Fallanalysen rechtsextremer Gruppenzugehörigkeit. Cooperative: Frankfurt am Main; Michaela Köttig 2006: Lebensgeschichten rechtsextrem orientierter Mädchen und junger Frauen. Biographische Verläufe im Kontext der Familienund Gruppendynamik. Psychosozial: Gießen; Lohl 2010.

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Ausprägung und Intensivierung von rechten Einstellungen und Bereitschaften werden aus „den Unterteilungen der sozialen Welt […] Abgrenzungen, Gräben und Wälle“.12 Bedeutsam für das hier bearbeitete Thema ist nun, dass während ­dieses Prozesses die transgenerationalen Nachwirkungen des Nationalsozialismus eine Bedeutung gewinnen, die ihn befördern und forcieren oder der individuellen rechten Aktivität eine spezifische Gestalt verleihen.

2. Tradierung der NS-Vergangenheit in Familien von NS-Volksgenoss*innen Im Folgenden möchte ich zunächst sechs Eckpunkte der von mir untersuchten transgenerationalen Nachwirkungen skizzieren.13

2.1 Massenpsychologischer Zugang In den Untersuchungen transgenerationaler Prozesse nach dem Nationalsozialismus habe ich Ansätze von Alexander und Margarete Mitscherlich und Theodor W. Adorno aufgegriffen.14 Ihre Arbeiten fragen nach den möglichen psychischen Folgen der affektiven Integration in die NS -Gesellschaft, wobei sie sich auf einen Zugang zur psychosozialen Struktur des Nationalsozialismus stützen, der sich an der psychoanalytischen Massenpsychologie sensu Freud orientiert. Vor allem Adorno hat betont, dass am Beginn der Bildung von Massen gesellschaftlich bedingte Gefühle von Kränkung und Kleinheit, Ohnmacht und Selbstzweifel, Scham und Bedeutungslosigkeit stünden, die mit der Sehnsucht einhergingen, diesen affektiven Zustand zu überwinden. In Massen entwickelt sich nun aufgrund der psychischen Mechanismen erstens der Idealisierung eines gemeinsam geteilten kollektiven Ideals, zweitens der Identifizierung mit den vielen anderen Mitgliedern der Masse sowie drittens einer projektiven Feindbildung regelmäßig eine immense Steigerung von Gefühlen kollektiver Macht, Größe und Gewalt, mit denen sich die kränkenden Affektlagen bearbeiten lassen. „Kollektiven Narzissmus“ hat Adorno d ­ ieses Phänomen genannt,15 12 Inowlocki 2000, 299. 13 Ich greife im Folgenden auf überarbeitete Auszüge aus folgenden Publikationen zurück: Lohl 2010; ders. 2013: „Morden für das vierte Reich. Transgenerationalität und Rechtsextremismus. In: ders. und Angela Moré (Hg.): Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus. Psychoanalytische, sozialpsychologische und historische Studien. Psychosozial: Gießen, 169 – 195. 14 Vgl. Theodor W. Adorno 1959: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. In: ders. (1998): Kulturkritik und Gesellschaft. Gesammelte Schriften Bd. 10, 2. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt, 555 – 572; Alexander und Margarete Mitscherlich 1967: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. In: Mitscherlich, Alexander 1983: Gesammelte Schriften Band IV. Sozialpsychologie 2. Suhrkamp: Frankfurt am Main, 9 – 350. 15 Adorno 1959, 563.

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welches er und die Mitscherlichs für die NS -Zeit beobachten konnten. Der Historiker Norbert Frei hat auf ähnliche Phänomene hingewiesen: Fast die gesamte deutsche Nation habe Hitler und seine völkischen Ideen idealisiert, in hohem Maße auch die antisemitische Politik gegen die Juden.16 Sich als Mitglied einer als omnipotent und gewaltig imaginierten deutschen „Volksgemeinschaft“ zu fühlen, war für viele Deutsche eine psychisch hochbedeutsame Erfahrung: Ungezählten schien die Kälte des entfremdeten Zustandes abgeschafft durch die wie immer auch manipulierte und angedrehte Wärme des Miteinander; die Volksgemeinschaft der Unfreien und

Ungleichen war als Lüge zugleich auch Erfüllung eines alten, freilich von alters her bösen Bürger­ traums. […] Aber jenes geschwächte Gedächtnis, von dem ich sprach, sträubt sich dagegen, diese

Argumentation in sich aufzunehmen. Es verklärt zäh die nationalsozialistische Phase, in der die

kollektiven Machtphantasien derer sich erfüllten, die als Einzelne ohnmächtig waren und nur als eine ­solche Kollektivmacht überhaupt etwas dünkten.17

2.2 Abwehr von emotionalem Verlust und psychischer Trennung Die massenpsychologischen Bindekräfte des Nationalsozialismus, die kollektiven Macht- und Größenfantasien sowie die Beteiligung an destruktiver Gewalt erfuhren mit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg und dem Verlust der „Volksgemeinschaft“ eine massive Beschädigung, was nach Adorno und den Mitscherlichs in eine psychische Krise hätte münden können. Es bestanden die Voraussetzungen für eine besondere Form von Trauer: eine Melancholie bzw. eine depressive Reaktion. Trauer und Melancholie stellen – stark vereinfacht ausgedrückt – psychische Prozesse dar, die auf den emotionalen Verlust von psychisch bedeutsamen Personen, Dingen und Idealen folgen.18 Gelingen diese Prozesse hinreichend gut, hat das Subjekt die Bindung an das verlorene Objekt emotional gelöst und sich innerlich von ihm getrennt. Mit dem Ende der NS-Herrschaft war für viele Deutsche die ins Unermessliche gesteigerte emotionale Erfahrung der Zugehörigkeit zur deutschen „Volksgemeinschaft“ von Verlust bedroht. Verloren gegangen war die Möglichkeit, sich im nationalsozialistischen Alltag als deutsche „Herrenmenschen“ zu fühlen und eine alltägliche und oftmals tödliche Macht über zu „unwertem Leben“ und zu „Untermenschen“ erklärten Menschen ausüben zu können. Daher wäre eine melancholische Reaktion zu erwarten gewesen, die jedoch abgewehrt wurde. Stattdessen habe sich 16 Norbert Frei 1999: ‚Volksgemeinschaft‘. Erfahrungsgeschichte und Lebenswirklichkeit der Hitler-Zeit. In: ders. 2005: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen. Beck: München, 107 – 128. 17 Adorno 1959, 563. 18 Vgl. zur Unterscheidung von Trauer und Melancholie: Sigmund Freud 1917: Trauer und Melancholie. In: ders. 1999: Gesammelte Werke Bd. 10, Fischer: Frankfurt am Main, 427 – 447.

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eine auffallende Gefühlsstarre [gezeigt], mit der auf die Leichenberge in den Konzentrations-

lagern, das Verschwinden der deutschen Heere in Gefangenschaft, die Nachrichten über den

millionenfachen Mord an Juden, Polen, Russen, über den Mord an den politischen Gegnern

aus den eigenen Reihen geantwortet wurde. Die Starre zeigt die emotionelle Abwendung an; die Vergangenheit wird im Sinne eines Rückzuges alles lust- oder unlustvollen Beteiligtseins

an ihr entwirklicht; sie versinkt traumartig. Diese […] Derealisierung des soeben noch wirklich gewesenen Dritten Reiches, ermöglichte es dann auch im zweiten Schritt, sich ohne Anzeichen

gekränkten Stolzes leicht mit den Siegern zu identifizieren. Solcher Identitätswechsel […]

bereitet auch die dritte Phase, das manische Ungeschehenmachen, die gewaltigen kollektiven

Anstrengungen des Wiederaufbaus, vor.19

2.3 Kryptisierung nationalsozialistischer Ideale und Identifizierungen Die Folgen dieser Abwehr einer psychischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte hat Adorno auf der Basis seiner empirischen Studie Schuld und Abwehr formuliert: Der „kollektive Narzißmus ist durch den Zusammenbruch des Hitlerregimes aufs schwerste geschädigt worden […], ohne daß die Einzelnen sie [die Schädigung] sich bewusst gemacht hätten und dadurch mit ihr fertig geworden wären.“ Dies lasse nur eine Folgerung offen: daß insgeheim, unbewusst schwelend und darum besonders mächtig

jene [nationalsozialistischen] Identifikationen und der kollektive Narzissmus gar nicht zerstört

wurden, sondern fortbestehen. Sozialpsychologisch wäre daran die Erwartung anzuschließen, daß

der beschädigte kollektive Narzissmus darauf lauert, repariert zu werden, und nach allem greift,

was zunächst im Bewusstsein die Vergangenheit in Übereinstimmung mit den narzisstischen

Wünschen bringt, dann aber womöglich auch noch die Realität so modelt, daß jene Schädigung ungeschehen gemacht wird.20

Durch die Abwehr eines melancholischen Prozesses bleiben viele Deutsche an die Objektrepräsentanzen emotional gebunden, in denen sich ihr kollektiver Narzissmus konstituierte. Sie lösen die Bindung an die nationalsozialistischen Ideale deutscher Größe, Gewalt und Macht nicht auf, die in der NS-Zeit (scheinbar) realitätsgerecht ausgelebt werden konnte. Dies schließt auch die Wünsche und Bedürfnisse, die Sehnsüchte und Hoffnungen ein, die in der NS-Zeit mit ihnen verbunden waren. Sie werden emotional nicht aufgegeben, sondern wirken sprungbereit in den Subjekten fort, darauf harrend, dass sich politische Machtverhältnisse und ein psychosoziales Struktur- und Erlebnisangebot nach nationalsozialistischem 19 Mitscherlich 1967, 40. 20 Adorno 1959, 563 f.

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Vorbild wiederherstellt, an das sie anschließen und erneut (scheinbar) realitätsgerecht ausgelebt werden können. Ein psychoanalytisches Konzept, das die psychische Dynamik einer abgewehrten Melancholie fruchtbar fasst, ist das der Krypta bzw. der Kryptisierung. Entwickelt wurde es von den französischen Psychoanalytiker*innen Maria Torok und Nicolas Abraham und ist von Markus Brunner und mir auf die psychosoziale Situation vieler Deutscher nach der NS Zeit bezogen worden.21 In einer Krypta entwickelt sich um die psychische Repräsentanz des (nicht) verlorenen Objekts herum „eine ganze unbewusste Phantasiewelt, die im Verborgenen ein abgeschiedenes Leben führt“.22 Es geht ein Riss durch die Psyche, der einen abgekapselten Bereich im Ich der Person schafft, in dem psychische Prozesse abgeschieden von der Außenwelt und der Selbstwahrnehmung der Person so ablaufen, als würde das verlorene Objekt noch real existieren: Es wird durch eine Kryptisierung in all seiner Kostbarkeit bewahrt, das heißt mitsamt den Befriedigungen und Sehnsüchten, mit der (narzisstischen) Lust, die das Objekt versprach und nun – nach seinem realen Verlust – intrapsychisch immer noch zu versprechen scheint. Dies vermag sich „dem Ich nur darzustellen […] im Bild des ‚cadavre exquise‘, der irgendwo in ihm begraben liegt und dessen Fährte das Ich unablässig aufsucht in der Hoffnung, ihn eines Tages wieder zum Leben zu erwecken“, um die mit ihm verbundene Lust neu zu genießen.23 Solange die Krypta derart wirksam existiert, sind die Melancholie und die mit ihr verbundenen (moralischen) Selbstanklagen gebannt. Diese Bannung einer Melancholie in kollektivem Ausmaß ließ die psychischen Repräsentanzen der „NS-Volksgemeinschaft“, den kollektiven Narzissmus der NS-Zeit und die damit verbundenen Selbstbilder als „Herrenmenschen“ hochwirksam und sprungbereit weiterbestehen. Durch die Kryptisierung wurden viele Deutsche in den Nachkriegsjahrzehnten unbewusst und fortwährend zur „Volksgemeinschaft“ zusammengeschweißt.24 Hierbei kommt der Abwehr einer verantwortungszentrierten Auseinandersetzung mit der NS-Zeit eine zentrale Bedeutung zu: All jene Erinnerungen an die eigene Lebensgeschichte unter dem Hakenkreuz, die Schuld- und Schamgefühle wecken und einen melancholischen Prozess motivieren könnten, werden derealisiert und nicht mit der eigenen Identität verbunden, 21 Vgl. Markus Brunner 2011: Die Kryptisierung des Nationalsozialismus. Wie die „Volksgemeinschaft ihre Niederlage überlebte. In: ders., Jan Lohl, Rolf Pohl und Sebastian Winter (Hg.): Volksgemeinschaft, Täterschaft und Antisemitismus. Beiträge zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Nationalsozialismus und seiner Nachwirkungen. Psychosozial: Gießen, 169 – 195; Lohl 2010; Maria Torok 1983: Trauerkrankheit und das Phantasma des ‚cadavre exquise‘. In: Psyche 37 (6), 497 – 519. 22 Torok, M. 1968, 510. 23 Ebd. 24 Vgl. zum Antisemitismus nach 1945: Jan Lohl 2017c: „Zerstörung von Erinnerung“. Antisemitismus nach Auschwitz in der Perspektive der kritischen ­Theorie und der psychoanalytischen Sozialpsychologie. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 26, 229 – 252.

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um die Krypta zu stabilisieren. Viele Deutsche erinnern sich daher folgendermaßen an die NS-Zeit: Man ist kein Mittäter der NS-Verbrechen gewesen, sondern hat viele Opfer gebracht, hat den Krieg erlitten, ist danach lange diskriminiert gewesen, obwohl

man unschuldig war, weil man ja zu alledem, was einem jetzt vorgeworfen wird, befohlen worden war. Das verstärkt die innere Auffassung, man sei das Opfer böser Mächte: zuerst der bösen

Juden, dann der bösen Nazis, schließlich der bösen Russen. In jedem Fall ist das Böse externalisiert; es wird draußen gesucht und trifft einen von außen.25

2.4 Aggression und Familiengeheimnisse Diese Abwehrformation wird in den Jahrzehnten nach 1945 nun auch in den Familien vieler Nationalsozialist*innen gegenüber Kindern inszeniert. Denn Kinder stellen in diesen Familien einen Raum dar, in den ihre Eltern die als „störend“ empfundenen Schuld- oder Trauergefühle, Gefühle der Schwäche und des Zweifels hineinprojizierten: Viele Nazi-Eltern erwarteten ein gesteigertes Maß an Loyalität von ihren Kindern und missbrauchten sie zur Bestätigung ihrer alten Ideale. […]. Die Kinder wurden benutzt, um sich der

Gültigkeit der alten [nationalsozialistischen] Ideale und Identifizierungen zu versichern. Unerträglicher Zweifel an den eigenen Idealen hätte zum Zusammenbruch, zur depressiven Entleerung

und Selbstanklage geführt, wenn sie zugelassen worden wären. Eigene Schwäche und Versagen,

nagender Zweifel und Schuldgefühle wurden projektiv in das Kind transportiert, dort deponiert und verachtet und damit der seelischen Aneignung entzogen.26

Erziehung wurde vor ­diesem Hintergrund zu einem unbewussten Versuch der Eltern, in den eigenen Kindern genau die Schuld-, Scham- und Trauergefühle zu kontrollieren, die sie selbst nicht als Aspekte ihres Lebens wahrhaben wollten, weil dies die Krypta bedrohte, also eine Entwertung nationalsozialistischer Ideale und des kollektiven Narzissmus bedeutet hätte. Im Umgang mit den eigenen Eltern und ihrer Geschichte stießen Kinder und Jugendliche auf viele Aspekte, die sie nicht berühren durften, um die sie sich herumbewegen mussten. Die Eltern fühlten sich durch Fragen nach der Vergangenheit leicht provoziert und reagierten nicht nur mit Schweigen, sondern mit Androhung und Ausübung von Gewalt. Die mit ­diesem aggressiven familiären Klima verknüpfte Angst der Kinder vor ihren 25 Mitscherlich 1967, 61. 26 Werner Bohleber 1997: Trauma, Identifizierung und historischer Kontext. Über die Notwendigkeit, die NS - Vergangenheit in den psychoanalytischen Deutungsprozess einzubeziehen. In: Psyche 51 (9/10), 958 – 995, hier 261.

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Eltern stellte den vielleicht wichtigsten Aspekt einer Gefühlserbschaft bei Nachkommen von „NS-Volksgenossen“ dar. Um dieser Angst zu begegnen, um die elterlichen Aggressionen vom eigenen Ich fernzuhalten, um vielmehr die Liebe und die Zuneigung der Eltern zu gewinnen, entwickelten viele Kinder „einen ‚inneren Sinn‘ für die elterlichen Abwehrformationen“.27 Ein Effekt dieser erzwungenen Loyalitätsbindung der Kinder an den von Abwehr geprägten Umgang der Eltern mit der NS-Zeit bestand darin, dass sie die Tabus ihrer Eltern von klein auf verinnerlichten. Sie spürten zum Beispiel sehr genau, ­welche Fragen nach der Lebensgeschichte der Eltern sie stellen konnten und ­welche nicht. Wichen die Kinder von ihrem Gespür für den Umgang mit der Familiengeschichte ab und fragten zum Beispiel nach einem Wissen oder einer Beteiligung an den NS-Verbrechen, dann fühlten sie sich in vielen Fällen schuldig und schämten sich. So entwickelten sich eigene emotionale und moralische Konflikte der Kinder von NS-Volksgenoss*innen, die eigentlich der Geschichte der Eltern entstammten.

2.5 Kollektiver Narzissmus und „Herrenmenschentum“ der Eltern als Phantom der Kinder Mit ­diesem inneren Sinn für den Umgang der Eltern mit der Geschichte sind bestimmte historische Wahrnehmungen verbunden: Die eigenen Eltern werden nicht als mögliche Täter und Mitläufer des Nationalsozialismus wahrgenommen, sondern vorwiegend als Opfer von Krieg und Zerstörung. Eine mögliche Teilnahme der Eltern an nationalsozialistischen Veranstaltungen, eine Zeugenschaft oder die Mitwirkung an den Verbrechen wird massiv geleugnet. Die Kinder begegnen in ihren Familien keiner bewussten Vorstellung von ihren Eltern als historischen Akteuren der „NS-Volksgemeinschaft“, als Tätern oder „Herrenmenschen“. Gerade weil die Kinder aber ein Gespür für den Umgang mit der Lebensgeschichte ihrer Eltern entwickeln, ahnen sie unbewusst sehr genau, was die Eltern aus ihrer Lebensgeschichte nicht preisgeben, w ­ elche Geschichten aus der NS-Zeit sie nicht erzählen. Die Nachkommen lesen die nicht erzählten Geschichten ihrer Eltern wie einen verborgenen Text aus einem Palimpsest heraus. Im Unbewussten der Kinder bilden sich Fantasien, die zum Beispiel einen „schlimmen und verbrecherischen Vater“ zeigen, „mit dem man nichts zu tun haben will“.28 In diesen Fantasien werden die Eltern mit destruktiver Macht und Gewalt, mit „Herrenmenschentum“ und Täterschaft in Verbindung gebracht – also mit jenen Aspekten der Geschichte der Eltern, die diese nicht einfach nur unbewusst machen, 27 Michael Buchholz 1998: Die unbewusste Weitergabe ­zwischen den Generationen. Psychoanalytische Beobachtungen. In: Jörn Rüsen und Jürgen Straub (Hg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Suhrkamp: Frankfurt am Main, 330 – 353, hier 330. 28 Bohleber 1998, 978.

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sondern durch eine Kryptisierung unbewusst ­schützen und bewahren. Derartige Fantasien, die sich transgenerational auf die Inhalte der Krypta beziehen, bezeichnet Abraham als Phantom:29 In Form eines Phantoms entwickelt sich im Unbewussten der Kinder ein affektives Abbild der unbetrauerten Objekt- und Selbstrepräsentanzen, die die Eltern in einer Krypta unbewusst verbergen. Viele Kinder richten in ihren Fantasien über die Eltern als Täter*innen, als Nationalsozialist*innen, als „Herrenmenschen“ jene nationalsozialistischen Ideale und jenen kollektiven Narzissmus wieder auf, den diese selbst kryptisierten. Jenseits eines psychoanalytischen Zugangs hat Gabriele Rosenthal ein ähnliches Phänomen auch empirisch aufzeigen können: Kinder und sogar die Enkel*innen bildeten – häufig unbewusst – sehr detaillierte Phantasien über die nicht erzählten Geschichten und Familiengeheimnisse aus […]. Bei diesen Phantasien zeigt sich in den von uns analysierten

Familien ganz deutlich, daß diese in ihren inhaltlichen Ausprägungen in auffallender Weise mit den konkreten Erfahrungen in der verleugneten Familiengeschichte korrespondieren. […] Die

Kinder und Enkel von Nazi-Tätern […] sind mit Phantasien aus der Perspektive der Täter, mit

Vorstellungen über deren Taten, beschäftigt.30

2.6 NS-Gefühlserbschaften in der Enkelgeneration Werden die Kinder von Nationalsozialist*innen selbst Eltern, lösen sich familiäre Loyalitäten nicht automatisch auf. Die Eltern aus der mittleren Generation fürchten vielmehr, dass die Kinder – also die Enkel in der Familie – die Loyalität im Umgang mit der Familiengeschichte brechen, was die erwähnten emotionalen und moralischen Konflikte der Eltern mobilisieren könnte. Um sich davor zu s­ chützen, beobachten die Kinder von Nationalsozialist*innen dann, wenn sie Eltern werden, die Beziehung ihrer eigenen Kinder zu den Großeltern und deren Vergangenheit sehr genau. Hierbei entwickeln sie ein emotional überaus positives Idealbild von dieser Beziehung, die sie von ihren Konflikten im Umgang mit der Familiengeschichte befreien soll.31 Dieses Idealbild tragen sie unbewusst an ihre eigenen Kinder heran und fordern von ihnen einen solchen Umgang mit der Vergangenheit der Großeltern, der Schuld, Täterschaft und „Herren­ menschentum“ nicht zu einem spürbaren Thema in den Familien macht: Gemäß d ­ iesem 29 Nicolas Abraham 1991: Aufzeichnungen über das Phantom. Ergänzungen zu Freuds Metapsychologie. In: Psyche 45 (8), 691 – 698. 30 Gabriele Rosenthal 1997: Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Psychosozial: Gießen, 23. 31 Vgl. Hans-Heino Ewers 2008: Täter und Enkel. Die erste und die dritte Generation in aktuellen deutschen ( Jugend-)Romanen. In: Hartmut Radebold, Werner Bohleber und Jürgen Zinnecker (Hg.): Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Juventa: Weinheim, 129 – 140, hier 138.

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Auftrag sollen auch die Enkel*innen nicht an den Familiengeheimnissen, dem Phantom und der Krypta rühren, sondern eine s­ olche positive Beziehung z­ wischen den Generationen und zu der Familienvergangenheit entwickeln, die eine Auseinandersetzung mit dem kollektiven Narzissmus, nationalsozialistischen Idealen und Identifizierungen als Teil der eigenen Familie verdeckt. Viele Kinder und Jugendliche aus der Enkel*innengeneration scheinen diesen Auftrag zu verinnerlichen und versuchen, das Ideal zu realisieren: Sie konstru­ieren laut den Forschungsergebnissen von Welzer, Moller und Tschugnall 32 Familienmythen, indem sie die Großeltern aus jeder möglichen Nähe zu Verbrechen, Ausgrenzung und Vernichtung herauslösen. Die Großeltern werden von ihren Enkel*innen überwiegend als Opfer des Krieges oder eines übermächtigen Systems gesehen. Zudem ­nutzen sie jeden noch so entlegenen Hinweis darauf, dass die Großeltern etwas „Gutes“ getan hätten bzw. niemals etwas Böses tun würden, und erklären sie in vielen Fällen zu Helden des alltäglichen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Dass zu der Familiengeschichte jedoch auch etwas gehört, über das sie in der Familie besser nicht sprechen sollten, spüren auch die Enkel*innen sehr genau. So weist ­Rosenthal, wie bereits erwähnt, darauf hin, dass auch die Enkel*innen unbewusste Fantasien über die nicht erzählten Geschichten und Familiengeheimnisse ausbildeten: „Dabei versuchen sie […,] sich immer wieder damit zu beschwichtigen, daß diese Phantasien keinen Realitätsgehalt haben bzw. ohne Verbindung zur Familiengeschichte s­ eien.“ Jedoch s­ eien diese „Phantasie­bildungen […] mit den nicht-erzählten, aber dennoch latent tradierten Erlebnissen bzw. Handlungen der Eltern verknüpft“.33 So finden sich auch in der Enkel*innengeneration unbewusste Fantasien über die Großeltern als „Herrenmenschen“, überzeugte National­sozialisten und mögliche NS-Täter*innen, in denen deren nationalsozialistische Ideale, Identifizierungen und ihr kollektiver Narzissmus affektiv abgebildet sind. Verbunden mit diesen Fantasien sind Schuldgefühle und massive – oftmals diffuse – Ängste.34 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die transgenerationalen Nachwirkungen, die von der affektiven Integration vieler Deutscher in die NS-Volksgemeinschaft ausgehen, vor allem durch zwei Aspekte charakterisiert sind: Zum E ­ rsten bildet sich diese Integration in Form von unbewussten Fantasien der Nachkommen über das Erleben, Fühlen und Handeln ihrer Vorfahren in der NS-Zeit ab. Im Unbewussten der Nachkommen sind Vorstellungen über die eigenen Großeltern als gewaltige und mächtige Akteure der NS-Volksgemeinschaft verborgen, die auf deren kollektiven Narzissmus und das Gefühl verweisen, ein „Herrenmensch“ zu sein. Diese Fantasien sind in den beiden hier untersuchten nachgeborenen Generationen mit Gefühlen der Schuld, der Scham und der Angst vor der mit 32 Welzer, Moller und Tschugnall 2002. 33 Rosenthal 1997, 23. 34 Ebd., 20.

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dem Phantom zusammenhängenden Destruktivität verbunden. Zum Zweiten werden diese unbewussten Fantasien über die eigenen Vorfahren durch Vorstellungen von den Großeltern verdeckt, die diese als Opfer oder als (alltägliche) Akteure des Widerstands heroisiert.

3. Transgenerationalität und Rechtsextremismus Vor d ­ iesem Hintergrund frage ich nun danach, w ­ elche Rolle diesen Nachwirkungen bei der Entwicklung rechter Orientierungen in der Gegenwart zukommen kann. Hinweisen will ich zunächst auf Ergebnisse der qualitativen Rechtsextremismusforschung und anschließend das eingangs erwähnte Forschungsprojekt zur rechtspopulistischen Propaganda aufgreifen.

3.1 Sichtbarwerden unbewusster Fantasien in rechtsextremen Gruppen In der Rechtsextremismusforschung ist, wie einleitend bereits erwähnt, ein psychosozialer Prozess beschrieben worden, durch den sich die Mitgliedschaft in einer rechtsextremen Gruppierung konstituiert. Ein entscheidender Schritt in d ­ iesem Prozess ist nach Lena Inowlocki das „Wiedererkennen“: Der Übergang in die Gruppe [kann] als eine Zeit skizziert werden, in der […] sie [die späteren Mitglieder der rechten Gruppe] sich selbst in etwas wiedererkennen, dass ihnen bis dahin […] noch nicht zugänglich war. In der Konfrontation mit dem bis dahin Anderen, Neuen erkennen sie dann, wie es ihnen entspricht, wie es etwas ‚in‘ ihnen zum Ausdruck verhilft. Nicht etwas

Gleiches, Identisches wird erkannt, sondern eine ideale Ausdrucksform, Identifizierendes für bis dahin eher unbestimmte Vorstellungen und Empfindungen einer eigenen Identität.35

Als Beispiele für diese ideale Ausdrucksform nennt Inowlocki einen rechten Kleidungsstil, das Auftreten und Verhalten von Gruppenmitgliedern bis hin zu („zackigen“) Bewegungsabläufen, aber auch eine rechte Rhetorik, rechte Geschichtsvorstellungen, speziell vom historischen Nationalsozialismus, sowie Narrative über das konkrete Handeln einzelner Akteure des NS -Regimes. Diese „idealen Ausdrucksformen“ tragen dazu bei, dass angehende Mitglieder rechtsextremer Gruppierungen Affekte verspüren und ­solche Vorstellungen entwickeln können, die ihnen jenseits der Gruppe bislang nicht zugänglich waren. Auch Michaela Köttig erkennt in ihrer Studie ein ähnliches Phänomen: Über die in rechtsextremen Gruppierungen erworbenen Narrative, Orientierungen und Handlungsmuster stellten ihre Interviewpartner*innen aus der Enkel*innengeneration „thematische Bezüge 35 Inowlocki 2000, 330.

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zu Lebensbereichen der Großeltern […] im Nationalsozialismus“ her, wobei es zu einem „Sichtbarwerden unbewusster Bereiche der Familienvergangenheit“ komme.36 In rechten Gruppen finden Enkel*innen ein (präsentatives) Symbolsystem vor (Narrative, Bilder, Gesten, kulturelle Artefakte usw.), das ihnen neue Ausdrucksmöglichkeiten für bis dahin nicht bewusst verfügbare Affekte und Vorstellungen verschafft. An anderer Stelle habe ich verdeutlicht, dass es sich bei diesen Affekten und Vorstellungen auch um die unbewussten geschichtsbezogenen Fantasien von den eigenen Vorfahren handelt, die diese als mächtige und gewaltige Akteure der NS-Volksgemeinschaft zeigen.37 Während des Mitgliedschaftsprozesses in einer rechten Gruppierung findet eine Umwertung dieser Fantasien statt: Sie werden von einem gefürchteten und bedrohlichen, mit Schuld- und Schamgefühlen behafteten unbewussten Phantom der eigenen Vorfahren und ihres Handelns in der NS-Zeit zu bewusstseinsnäheren Vorstellungen, die sukzessive an affektiver Attraktivität gewinnen. Über die im psychosozialen Mitgliedschaftsprozess gefundenen Ausdrucksmöglichkeiten wandelt sich das bedrohliche Phantom zu historischen Identifikationsmöglichkeiten, die sich in der eigenen Familie finden. Gelingt diese Identifizierung, dann richten die Enkel*innen in ihrem rechtsextremen Denken, Fühlen und Handeln auch den kollektiven Narzissmus, das „Herrenmenschentum“, die Macht und Destruktivität des Nationalsozialismus wieder auf, der in einer kryptisierten und phantomhaften Form transgenerational weitergegeben wird. Eben dies aber stützt, fördert und festigt die Entwicklung rechter Orientierungen und eine kontinuierliche, über das eigene Leben hinausgreifende rechtsextreme Identität. Festzuhalten ist daher eine transgenerationale Interaktion, in der die Großeltern die ihnen selbst wert- und bedeutungsvollen (kollektiv-narzisstischen) Selbst- und Objektrepräsentanzen kryptisieren, sie ­schützen und bewahren und die Enkel*innen auf genau diese in ihrer phantomhaft tradierten Form zurückgreifen, um Bezüge zu rechten Einstellungen, zum Nationalsozialismus zu festigen sowie eine entsprechende Identität herzustellen.38 Untersucht und differenzierter ausgearbeitet sind diese Zusammenhänge nun für die Mitglieder rechtsextremer Gruppierungen und Organisationen. Inwieweit findet sich ­dieses Phänomen auch im sogenannten Rechtspopulismus?

3.2 NS-Bezüge in rechtspopulistischer Propaganda Aufgreifen möchte ich an dieser Stelle ein ausgewähltes Ergebnis der Propagandaforschung, auf die ich einleitend hingewiesen habe.39 Untersucht haben wir verschiedene Propagandareden und damit jene symbolischen Ebene, auf der sich die von Inowlocki beschriebenen 36 37 38 39

Köttig 2006, 328 [Herv. i. Orig.]. Vgl. Lohl 2010, 2013. Vgl. Köttig 2004, 328 sowie Lohl 2010, 2013. Die nachfolgenden Abschnitte stellen überarbeitete Ausschnitte aus Lohl 2017b dar.

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Ausdrucksformen finden. Ein Ergebnis lautet, dass auch in der rechtspopulistischen Propaganda der von Abwehr geprägte familiäre Umgang mit der NS-Zeit aufgegriffen wird, allerdings nicht in der offensiven Form, wie er sich in rechtsextremen Gruppierungen findet. Dies möchte ich anhand eines Auszugs aus einer Rede von Tatjana Festerling verdeutlichen, die sie am 28. Mai 2016 in Graz hielt. Diese Rede, die 2017 auf YouTube verfügbar war, haben wir transkribiert und anschließend mit der Tiefenhermeneutik ausgewertet, einer psychoanalytisch orientierten qualitativen Forschungsmethode.40 Im Verlauf der Rede äußerte Festerling: Es ist zutiefst unwürdig, die Leistungen unserer Vorfahren nicht zu ehren, die mit ihrem Leben für die Freiheit gekämpft haben, und sich stattdessen heute mit Koransuren und den grausamen

Ideen eines toten Psychopathen beschäftigen zu müssen. Der Islam gehört nicht zu Europa. Und

deshalb ist jedes Mittel recht, sich d ­ iesem Vernichtungsfeldzug gegen Europa entgegenzustellen.

Zeigen wir Widerstand auf der Straße.

Festerling stellt hier den „Leistungen unserer Vorfahren“ und ihrem vermeintlich aufopferungsvollen Freiheitskampf die Beschäftigung mit „Koransuren und den grausamen Ideen eines toten Psychopathen“ gegenüber: Leistung, Freiheit, Leben, Kampf werden so mit „unseren Vorfahren“ in Verbindung gebracht, während Grausamkeit, Psychopathologie und Tod assoziativ mit dem Islam verknüpft werden. Zudem schlägt Festerling eine Umkehr der Orientierung vor: weg von der Beschäftigung mit dem Grausamen, einem toten Psycho­ pathen sowie dem Koran und hin zu einem ehrvollen und würdigen Umgang mit den eigenen Vorfahren, ihren Leistungen und ihrem Freiheitskampf. Eine s­ olche Umkehr der Orientierung stellt Festerling als unbedingt notwendig dar („jedes Mittel recht“), um dem „Vernichtungsfeldzug“ des Islam zu begegnen. 40 Vgl. Rolf Haubl, Jan Lohl 2017: Tiefenhermeneutik als qualitative Methode. In: Gunther Mey und Katja Mruck (Hg.): Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie. Online: https://doi.org/10.1007/9783-658-18387-5_57-1 [07. 06. 2020]; Alfred Lorenzer 1986: Tiefenhermeneutische Kulturanalyse. In: HansDieter König, Alfred Lorenzer, Heinz Lüdde, Søren Nagbøl, Ulrike Prokop, Gunzelin Schmid Noerr, Annelinde Eggert (Hg.): Kultur-Analysen. Fischer: Frankfurt am Main, 11 – 98; Hans-Dieter König 2018: Dichte Interpretation. Zur Methodologie und Methode der Tiefenhermeneutik. In: Julia König, Nicole Burgermeister, Markus Brunner, Philipp Berg, Hans-Dieter König (Hg.): Dichte Interpretationen. Tiefenhermeneutik als Methode qualitativer Forschung. Springer VS: Wiesbaden, 13 – 89. Tiefenhermeneutisches Auswerten pendelt ­zwischen einer regelgeleiteten Textanalyse und einer Reflexion der Textwirkung in einer Interpretationsgruppe hin und her. Diese Reflexion wird – vergleichbar mit einer Gegenübertragungsanalyse – genutzt, um einen verstehenden Zugang zu einer latenten Sinnschicht des Forschungsmaterials zu erarbeiten. Bei der Darstellung der Forschungsergebnisse ist es daher notwendig, die Textwirkung in der Interpretationsgruppe offenzulegen, was hier jedoch aus Platzgründen nicht geschehen kann. Da ich jedoch den Auszug aus der Rede Festerlings bereits an einer anderen Stelle interpretiert habe, sei in dieser Hinsicht auf diese Veröffentlichung verwiesen (vgl. Lohl 2017b, 285).

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Mit „Vernichtungsfeldzug“ verwendet Festerling hierbei einen Ausdruck, der assoziativ auf den Begriff „Vernichtungskrieg“ hindeutet und an den Titel der Wehrmachtsausstellung des Hamburger Institutes für Sozialforschung erinnert: Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 – 1944. Als Vernichtungskrieg wird das mörderische Handeln deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg in Osteuropa bezeichnet, die ganze Gesellschaften zerstörten und – jenseits der Vernichtungslager – Millionen von Jüd*innen und andere von der NS-Ideologie als „rassisch minderwertig“ eingestufte Menschengruppen ermordeten. In Festerlings Rede deuten sich so neben der manifesten Vorstellung von „unseren Vorfahren“ latente Hinweise auf die deutschen Wehrmachtssoldaten und ihr grausames und mörderisches Handeln an. Diese Aspekte aber – Grausamkeit und Tod ebenso wie Vernichtung und Psychopathologie – bindet Festerling in ihrer Rede an ein Bild von „dem Islam“, während „unsere Vorfahren“ als ehrenwehrte und leistungsbereite Freiheitskämpfer dargestellt werden. Festerling entwirft hier auf eine vage und andeutungsvolle Weise das Feindbild „Islam“ nach dem Vorbild der mörderischen NS-Verbrechen und der deutschen Wehrmachtssoldaten: „Der Islam“ oder „die Muslime“ werden projektiv zu solchen vernichtungsbereiten Täter*innen umgedeutet, für die latent die deutschen Wehrmachtssoldaten das Vorbild liefern. Auf diese Umdeutung, die dem latenten Muster folgt, „die Muslime heute“ ­seien „mindestens so schlimme Antisemiten wie wir damals“, hat Wolfram Stender hingewiesen:41 Erst indem Festerling die mörderischen Handlungen, Grausamkeit und Vernichtung projektiv in der Vorstellung von „dem Islam“ identifiziert, erscheinen „unsere Vorfahren“ als ehrenwerte und zu würdigende, leistungsbereite wie aufopferungsvolle Freiheitskämpfer. Mehr noch: „Unsere Vorfahren“ werden rückwirkend zu Helden gemacht, die auch heute noch als Vorbild für einen „widerständigen“ Umgang mit Flucht- und Migrationsprozessen taugen sollen.42

3.3 Deutungsangebot und Deckidentität Mit ­diesem schuldneutralen und projektiv bereinigten Bild von „unseren Vorfahren“ legt Festerling ein Deutungsangebot vor, wie Familienmitglieder aus der Großelterngeneration wahrgenommen werden könnten. Dieses Angebot schließt tendenziell an die aus dem familiären Umgang mit den Angehörigen der NS-Funktionsgeneration bekannte Heroisierung 41 Wolfram Stender 2011: Ideologische Syndrome. Zur Aktualität des sekundären Antisemitismus in Deutschland. In: Brunner, Lohl, Pohl, Winter (Hg.), 240. 42 Festerlings Rede ist zudem nicht die einzige, in der vage und andeutungsvoll Angehörige der NS-Funktionsgeneration auf eine schuldneutralisierende Weise heroisiert werden. Auf die Formulierung Höckes habe ich zu Beginn meines Beitrages bereits hingewiesen. Auch Alexander Gauland hat am 2. September 2017 beim „Kyffhäuser-Treffen“ der AfD von dem Recht gesprochen „stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“.

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der eigenen Vorfahren an. Diese erzeugt Vorstellungen von den eigenen Großeltern als Helden des alltäglichen Widerstandes, während das rechtspopulistische Deutungsangebot durch eine projektive Verlagerung von Täter*innenschaft und Schuld auf „die Muslime“ eine Vorstellung von den eigenen Vorfahr*innen erschafft, die als Soldaten oder Freiheitskämpfer*innen jenseits ihrer historischen Destruktivität und Verbrechen auf eine schuldneutrale Weise positiv besetzt werden können. Samuel Salzborn hat nun vorgeschlagen, diese Bezugnahme auf den Nationalsozialismus über die historische Entlastung von ihm als Angebot zur Bildung einer Deckidentität zu begreifen.43 Der Begriff der Deckidentität stammt von den Wiener Psychoanalytiker*innen B ­ rainin, Ligeti und Teicher. Ähnlich wie bei einer Deckerinnerung sensu Freud erscheint eine Deckidentität in Form von besonders harmlosen Fremd- und Selbstbildern. Dieses findet sich in Festerlings Rede dort, wo Angehörige der NS-Funktionsgeneration als „unsere Vorfahren“ bezeichnet werden und ihr destruktives Handeln als „Freiheitskampf“ oder wenn Björn Höcke in der eingangs zitierten Rede von den „großartige Leistungen der Altvorderen“ spricht. Mit Brainin, Ligeti und Teicher lassen sich diese harmlosen Vorstellungen als Ausdruck einer psychischen Kompromissbildung beschreiben: Die betont harmlosen Selbst- und Fremdbilder haben so die Funktion, eine konfliktreiche Identifizierung mit einem verpönten und moralisch anstößigen Objekt zu verdecken und ihr so das Bewusstsein zu entziehen. Rechtspopulistische Propaganda bietet mit den Vorstellungen von „unseren Vorfahren“ eine Deckidentität an, durch die Familienangehörige aus der ersten Generation auf eine historisch dekontextualisierte Weise als harmlose „Altvordere“ und ihre Verbrechen als Freiheitskampf erlebt werden können. Latent legt der Rechtspopulismus allerdings die Möglichkeit einer Identifizierung mit dem Phantom der Vorfahren, mit ihren verpönten und anstößigen, schuld- und schambehafteten Anteilen, mit „Herrenmenschentum“, Destruktivität und Macht nahe. Diese Identifizierung wird nicht mehr erkannt, weil die Bezugnahme auf die eigenen Vorfahren und ihr Handeln über eine Deckidentitätsbildung beschritten wird. Wem es gelingt, manifest Schuld und Täterschaft aus der Familiengeschichte zu tilgen, der kann sich latent mit den destruktiven „Leistungen“ und dem gewaltvollen „Herrenmenschentum“ der Vorfahren identifizieren, ohne sich selbst oder sie als Nazis oder Rechtsextreme wahrnehmen zu müssen. So gibt es nach wie vor ein transgenerationales Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie, das Adorno bereits Ende der 1950er Jahre als potenziell bedrohlicher ansah – als offene faschistische Tendenzen gegen die Demokratie.44 Dies hat nichts an Aktualität eingebüßt. 43 Samuel Salzborn 2017: Von der offenen zur geschlossenen Gesellschaft. Die AfD und die Renaissance des deutschen Opfermythos im rechten Diskurs. In: Stephan Grigat (Hg.): AfD & FPÖ. A ­ ntisemitismus, völkischer Nationalismus und Geschlechterbilder. Nomos: Baden-Baden, 29 – 40, hier 36. 44 Vgl. Adorno 1959, 556.

Cäcillia Schreiber und Lukas Kotzybik

Protest gegen Rechtsextremismus im ländlichen Raum organisieren – Das Beispiel Ostritz

1. Einleitung Rechtsrockkonzerte stellen kleine Städte und Dörfer schon länger vor Herausforderungen. Wie sollen kritisch eingestellte Bewohner*innen damit umgehen? In der Regel haben die Menschen, die sich gegen Rechtsrockkonzerte engagieren wollen, keine juristischen oder organisationalen Erfahrungen. Sie betreten schlicht Neuland, und das neben dem Beruf, neben der Familie und dem normalen Alltag. Das stellt unmittelbar die Frage nach den verfügbaren Ressourcen. Hierzu zählen in erster Linie Zeit und Geld, aber auch soziale Netzwerke sind nicht nur hilfreich, sondern nahezu unerlässlich. In der Vergangenheit konnte bei solchen Ereignissen immer wieder festgestellt werden, dass eine klare Haltung gegen Rechtsextreme und deren Veranstaltungen in der Dorfgemeinschaft leider nicht selbstverständlich ist. Aktivist*innen, die sich für Demokratie und gegen Rassismus einsetzen, stehen somit vor multiplen Herausforderungen. Im April 2018 fand in Ostritz, einer unmittelbar an der deutsch-polnischen Grenze liegenden Kleinstadt im Landkreis Görlitz mit etwa über 2500 Einwohner*innen, das Schild und Schwert Festival statt. Neben Musik von deutschlandweit bekannten Rechtsrockbands gab es auch Lesungen, Vorträge, Tätowierungsangebote und ein Kampfsportevent („Kampf der Nibelungen“). Dieses Portfolio an Angeboten stellt in der rechten Szene ein neues Veranstaltungskonzept dar. Bisher waren Veranstaltungen von Rechtsextremen entweder Kundgebungen, Demonstrationen, Rechtsrockkonzerte oder kleinere Liederabende. Aufgrund dieser vielfältigen Angebotspalette des Schild und Schwert Festivals wurden viele Gäste aus dem ganzen Bundesgebiet, aber auch darüber hinaus erwartet. Mit etwa 1300 Gästen bewahrheitete sich diese Vermutung auch. Angemeldet wurde ­dieses Festival vom einschlägig vorbestraften NPD-Funktionär Thorsten Heise als eine Mischung aus politischer Versammlung, w ­ elche dem Schutz des Grundgesetzes unterliegt, und einer sportlichkulturellen Veranstaltung. Der Verfassungsschutz vermutet, dass d ­ ieses nach außen hin als reines Musikfestival getarnte Event vorwiegend der Vernetzung und dem weiteren Ausbau rechtsextremer Strukturen in Deutschland sowie darüber hinaus dienen sollte.1 1 Bundesministerium des Innern für Bau und Heimat 2019: Verfassungsschutzbericht 2018. Berlin, 65.

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Nachdem im Dezember 2017 bekannt geworden war, dass am ersten Aprilwochenende 2018 auf dem Gelände des Ostritzer Hotels Neisseblick das Schild- und Schwertfestival der rechtsextremen Szene stattfinden sollte, wuchs unter einigen der Ostritzer Bürger*innen das Bedürfnis, ­dieses ,Fest‘ der Rechtsextremen nicht einfach hinzunehmen. Wie man auf das Schild- und Schwertfestival reagieren könne, war jedoch noch unklar. Die erste konkrete Idee einer Handvoll Menschen war es, auf dem Ostritzer Marktplatz zeitgleich ein Spielefest zu veranstalten. Bei einem im Ort Ostritz bereits lange etablierten Vereinsstammtisch wurde die Anmeldung im Hotel Neisseblick dann öffentlich thematisiert. Ein Großteil der Anwesenden war der Meinung, dass eine Veranstaltung auf dem Marktplatz organisiert werden müsse. So wurden erste Informations- und Organisationstreffen veranstaltet. Es entstand die Idee des Ostritzer Friedensfestes. Dieses fand schließlich, von Ostritzer Bürger*innen organisiert, parallel zum Schild- und Schwertfestival vom 20. – 22. April 2018 auf dem Ostritzer Marktplatz statt, um der rechtsextremen Aktion auf dem Hotelgelände und der Verbreitung der damit verbundenen Ideologie etwas entgegenzusetzen. Auf dem Marktplatz der Kleinstadt Ostritz wurde in einem bunten Fest der Wunsch der Ostritzer Bürger*innen nach einer toleranten, weltoffenen, friedlichen und demokratischen Gesellschaft demonstriert. Neben der ursprünglichen Idee eines Spielefestes gab es Theatervorführungen, Konzerte, Lesungen, Reden, eine lebendige Bibliothek, eine Vielzahl an Informationsständen und noch einiges mehr. Unterstützt wurden die Ostritzer*innen dabei von mehreren hundert Einzelpersonen und Institutionen der Region. Über dreitausend Gäste besuchten das Ostritzer Friedensfest, um gemeinsam mit den Organisator*innen ihre Vorstellung des gesellschaftlichen Zusammenlebens zum Ausdruck zu bringen. Die nationale wie internationale Presse berichtete umfangreich über d ­ ieses Ereignis. Weltweit zeigten Medien das Bild einer ostdeutschen Kleinstadt, w ­ elche sich aktiv gegen das Image einer „braunen Stadt“ wehrte. Dieses breite Bündnis hinter dem Ostritzer Friedensfest und der daraus entstandene Ruf für Weltoffenheit, Toleranz und Demokratie steht modellhaft für einen Weg, sich für eine friedliche und vielfältige Gesellschaft einzusetzen. Mit dem vorliegenden Beitrag versuchen wir uns für interessierte Leser*innen und von vergleichbaren Problemen Betroffene am Beispiel von Ostritz im April 2018 der Frage zu nähern, vor w ­ elchen konkreten Herausforderungen Kommunen und engagierte Bürger*innen in der Organisation von Protest gegen Veranstaltungen der rechtsextremen Szene stehen und w ­ elche Hürden überwunden werden mussten, um das Ostritzer Friedensfest erfolgreich zu realisieren. Unsere Analysen und Vorschläge basieren auf Experteninterviews mit den wichtigsten Akteur*innen, die über den gesamten Zeitraum in die Planung des Ostritzer Friedensfestes involviert waren.2 Der Beitrag kann keine allumfassende Rekonstruktion der Blickwinkel 2 Wir haben leitfadengestützte Experteninterviews durchgeführt und sie mittels qualitativer Inhaltsanalyse ausgewertet.

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und Orientierungen aller an der Organisation Beteiligten leisten, jedoch wurde bei der Auswahl der Interviewpartner*innen darauf geachtet, verschiedene Perspektiven des Organisationsprozesses zu berücksichtigen. Interviewt wurden Vertreter*innen der Stadtverwaltung, des Organisationsteams, des Internationalen Begegnungszentrums St. Marienthal (IBZ ) und des Institutes für Beratung, Begleitung und Bildung e. V. B3. Die Vertreterin der Stadt Ostritz wurde als Bindeglied z­ wischen dem Organisationsteam des Ostritzer Friedens­festes und den Behörden, wie dem Landratsamt, der Bundespolizei, dem Verfassungsschutz und der Landesregierung, befragt. Das Organisationsteam (Orga-Team), bestehend aus ehrenamtlich tätigen Bürger*innen der Stadt Ostritz, hielt alle Fäden in der Vorbereitung rings um das Veranstaltungsgeschehen zusammen. Das Internationale Begegnungszentrum St. Marienthal war offizieller Veranstaltungsanmelder des Ostritzer Friedensfestes. Das B3 Institut begleitete den Prozess der Protestorganisation in Ostritz seit Januar 2018. Das Institut führt sachsenweit kommunale Beratungen im Themenfeld des politischen Extremismus durch.

2. Begriffsklärung Viele Begriffe, die im Alltag verwendet werden, können bei verschiedenen Menschen gänzlich unterschiedliche Assoziationen hervorrufen. Deswegen soll zunächst der zentrale Begriff des „Protestes“ näher erläutert werden, da dieser sich wie ein roter Faden durch den gesamten Beitrag zieht. Nach Rucht und Teune sei „[k]ollektiver öffentlicher Protest […] ein zentrales Mittel politischer Artikulation. Er wird von sozialen Bewegungen, aber auch von etablierten Organisationen oder kurzzeitig bestehenden Gruppen genutzt, um sich und die eigenen Forderungen zu präsentieren.“ 3 Diese Begriffsfassung erscheint geeignet und deckt die unterschiedlichen Akteurstypen des Ostritzer Falles gut ab. Zudem könne, wie Rucht und Teune festhalten, Protest ganz unterschiedliche Formen annehmen. „Variationen und Innovationen im Protestgeschehen sorgen immer wieder für Überraschungen“.4 Er kann bloßes Darstellen von Unzufriedenheit ohne konkrete Forderungen oder eine bestimmte politische Agenda mit Veränderungsansprüchen sein. Menschen können sich aus latenter Verunsicherung oder Unzufriedenheit einem Protest anschließen, ohne genau zu wissen, was verändert werden soll. Dem stehen Proteste gegenüber, die konkrete Forderungen an konkrete Adressat*innen beinhalten und eine hohe Vernetzung und Beständigkeit aufweisen. 3 Dieter Rucht, Simon Teune 2017: Das Protestgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1980er Jahren ­zwischen Kontinuität und Wandel. In: Priska Daphi u. a. (Hg.) Protest in Bewegung? Zum Wandel von Bedingungen, Formen und Effekten politischen Protests Sonderband 33. Nomos: Berlin, 9. 4 Ebd., 9.

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3. Das Gefüge der Ostritzer Friedensfest-Initiative Die Ostritzer Friedensfest-Initiative besteht aus drei gleichberechtigten Säulen: dem KernOrga-Team (mit fünf ehrenamtlich tätigen Bürger*innen der Stadt Ostritz), der Kommune und dem IBZ. Das Orga-Team war für die Netzwerkarbeit mit Institutionen und Einzelpersonen in und um Ostritz zuständig und übernahm die inhaltliche und logistische Organisation des Ostritzer Friedensfestes. Weiterhin kümmerte es sich um die Infrastruktur, Öffentlichkeitsarbeit und inhaltliche Ausgestaltung des Ostritzer Friedensfestes auf dem Marktplatz. Die Kommune, vor allem in Person der Bürgermeisterin, bildete die Schnittstelle zu Polizei, Verfassungsschutz, Landratsamt und Staatskanzlei. Das IBZ fungierte als offizieller Veranstaltungsanmelder des Ostritzer Friedensfestes. Als anerkannter Bildungsträger übernahm das IBZ die Aufgabe der finanziellen Absicherung und Akquirierung von Fördermitteln. Unterstützt wurden die drei Kernakteure von Beratern des B3 Institutes, die wesentlich zum Gelingen des Protestes beitrugen. Dabei wurden diese nicht selbst aktiv gestaltend tätig, sondern achteten im Moderationsprozess zum Beispiel darauf, dass die drei Säulen nicht auseinanderbrachen. Auch die Kommunikation im großen Netzwerk wurde unter anderem durch professionelle Moderatoren unterstützt. Darüber hinaus ist auf weitere Akteur*innen, das heißt sowohl auf die aktiv Gestaltenden aus der Region wie auch auf die reinen Konsument*innen, ­welche lediglich am Tag auf dem Marktplatz Gesicht zeigten und sich am Programm erfreuten, hinzuweisen; schließlich auch auf Beobachter*innen, die das Friedensfest von ihren Fenstern aus beobachteten oder im Nachhinein über die verschiedenen Medien die Geschehnisse in Ostritz rezipierten. ,Gestört‘ wurde die Arbeit der Ostritzer Friedensfest-Initiative von kleinen und großen Herausforderungen. Manche von ihnen beeinträchtigten die Arbeit sehr stark und brachten diese beinahe zum Erliegen. Andere Herausforderungen schienen das Projekt zwar zunächst zu gefährden, konnten aber durch günstige Umstände oder eigenes Zutun vergleichsweise einfach bewältigt werden. Wenn Kleinstädte und ihre Bürger*innenschaft etwas gegen rechtsextreme Veranstaltungen unternehmen wollen, stellen sich schnell viele Fragen, für die es nicht immer einfache und bereits existierende Antworten gibt. Diese können ganz unterschiedlicher Natur sein. Im Folgenden wird der Fokus auf Schwierigkeiten und Probleme gelegt, die Kleinstädte und ihre Bewohner*innen im Umgang mit Veranstaltungen von Rechtsextremen haben.

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4. Allgemeine Herausforderungen der Protestorganisation 4.1 Verschiebung von rechtsextremen Veranstaltungen in Szeneimmobilien Neonazis, die außerparteilich organisiert sind und sich in losen Neonazigruppen oder Kameradschaften treffen, können zunehmend auf verschiedene ,Rückzugsorte‘ zugreifen. Anfang der 1990er Jahre trafen sich diese Gruppen zumeist in Kneipen und Gaststätten, deren Wirt*innen kein Problem mit der Gesinnung ihrer Kund*innen hatten, aber auch Privathäuser und abrissreife Objekte dienten als Treffpunkte. Mit der Zeit gelang es Szeneangehörigen, selbst größere Immobilien zu erwerben oder längerfristig von sympathisierenden Eigentümern zu pachten. Damit kann der benötigte Platz für Proberäume, Auftrittsmöglichkeiten und Tonstudios als ,Paket‘ und dauerhaft bereitgestellt werden.5 Diese Verschiebung von Veranstaltungen in Szeneimmobilien stellt ein Problem für Kommunen dar, da sie die Eingriffs- und Steuerungspotenziale für städtische und öffentliche Akteur*innen gegenüber Rechtsextremist*innen erheblich erschweren. Auch das Schild- und Schwertfestival in Ostritz fand auf einem großflächigem Privatgrundstück statt.

4.2 Anmeldung der Neonazikonzerte als politische Versammlungen Eine weitere Herausforderung ist, dass Neonazikonzerte teilweise als politische Versammlungen bei den Behörden angemeldet werden. Der Staat kann somit aufgrund des liberalen Versammlungsrechts nur wenige Auflagen erteilen. Zusätzlich muss der Staat durch Begleitmaßnahmen die Versammlung polizeilich absichern.6 Auch Teile des Schild- und Schwertfestivals in Ostritz wurden als politische Versammlung angemeldet.

4.3 Sozialgeografische Dimension Die sozialgeografische Dimension ist eine weitere Komponente, die zu einem Problemverstärker werden kann. Der Erwerb von Immobilien im strukturschwachen ländlichen Raum ist einfacher als in teuren urbanen Gegenden. Zusätzlich bewerben Rechtsextreme den ländlichen Raum als Sitz einer intakten Volksgemeinschaft und grenzen diesen so vom Raum „städtischer Multi-Kulti-Globalisierung“ ab.7 Auch Ostritz liegt im ländlichen Raum.

5 MOBIT e. V. (Hg.) 2017: Hass und Kommerz, Fehldruck: Erfurt, 13. 6 Ebd., 31. 7 Timo Reinfrank 2013: Vorwort. In: Amadeu Antonio Stiftung (Hg.): Region in Aktion. Wie im ländlichen Raum demokratische Kultur gestaltet werden kann. Verlag für Berlin-Brandenburg: Berlin, 5 – 7.

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4.4 Positionierung und Neutralitätsgebot In den Orten, in denen Rechtsrockkonzerte stattfinden oder Immobilien von der rechten Szene erworben werden, herrscht in der Regel kein homogenes Meinungsbild gegenüber solchen neuen Nachbar*innen. So werden Bürger*inneninitiativen, die sich gegen Rechtsextremismus einsetzen, nicht nur positiv, sondern auch als Störfaktoren im Ort wahrgenommen. Den Aktiven wird häufig vorgeworfen, Rechtsextremismus generell überzubewerten und Dorfbewohner*innen als extremistisch zu brandmarken, die es nicht ­seien – man kenne doch seine Nachbar*innen.8 Angesichts solcher Konstellationen und Orientierungen, die potenziell Engagierte im Kampf gegen rechtsextremistische Aktionen – auch aus Angst vor Konflikten in der dörflichen oder kleinstädtischen Gemeinschaft – entmutigen, kann die kommunale Verwaltung oder der/die Bürgermeister*in als „Ermöglicher*in auftreten und die Aktiven im Protest gegen Neonazis unterstützen. Dabei sollte er oder sie darauf achten, das politische Neutralitätsgebot im Verwaltungshandeln zu wahren. Als Privatperson jedoch haben natürlich auch Bürgermeister*innen und Verwaltungsangestellte das Recht, sich zu positionieren und zu engagieren.9 Die Funktion einer aktiven Unterstützung ehrenamtlichen Engagements auf dem Boden und zur Verteidigung des Grundgesetzes und seiner Werte durch die Kommune bewegt sich dabei aber keineswegs in einer rechtlichen Grauzone, sondern ist vom demokratischen Rechtsstaat erwünscht. So wird im Bericht der Enquete-Kommission Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements allen staatlichen Institutionen empfohlen, die Rolle der „Ermöglichenden“ einzunehmen und zivilgesellschaftliche Gruppen zu unterstützen sowie mit ihnen zusammenzuarbeiten.10 In Ostritz und Umgebung formierte sich ein breites Bündnis zur Protestorganisation. Verwaltung und Bürgermeisterin füllten die Rolle der Ermöglichenden aus.

8 Anetta Kahane 2013: Eine besondere Herausforderung. Rechtsextremismus und der ländliche Raum. In: Amadeu Antonio Stiftung (Hg.): Region in Aktion. Wie im ländlichen Raum demokratische Kultur gestaltet werden kann. Verlag für Berlin-Brandenburg: Berlin, 8 – 14, hier 16. 9 Heiko Pult 2013: Kein Ort für Neonazis – wenn Zivilgesellschaft und Verwaltungen zusammenarbeiten, In: Amadeu Antonio Stiftung (Hg.): Region in Aktion. Wie im ländlichen Raum demokratische Kultur gestaltet werden kann. Verlag für Berlin-Brandenburg: Berlin, 48 – 53, hier 50. 10 Deutscher Bundestag 2002: Enquete-Kommission Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements. Drucksache 14/8900, 282.

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5. Spezifische Herausforderungen in Ostritz 5.1 Finanzierung Haben zwar viel auf ehrenamtlicher Basis machen können, aber der Zeltverleiher will trotzdem sein Geld. Und die Security war eine bezahlte Security.11

Zu der Herausforderung der Finanzierung gehören fehlende finanzielle Mittel und das Einwerben von Sponsorengeldern. Dabei kamen in Ostritz mehrere Probleme zum Vorschein. Seitens der Kommune gab es keinen finanziellen Spielraum für die Planung und Durchführung eines Friedensfestes, da sich die Stadt Ostritz in einer Phase der Haushaltskonsolidierung befand. Dennoch entstanden bei der Umsetzung von Vorbereitungs- und Begleitmaßnahmen finanzielle Aufwendungen. Ein größerer Kostenfaktor war beispielsweise die Realisierung des Sicherheitskonzeptes, da diesbezügliche polizeiliche Hinweise durch die Stadt umgesetzt werden mussten. So mussten zum Beispiel Steine aus dem an das Hotelgelände angrenzenden alten Mühlgraben kostenpflichtig entfernt werden, da sie als potenzielle Wurfgeschosse eingestuft wurden. Darüber hinaus mangelte es der Stadt Ostritz an zur Verfügung stehenden technischen Mitteln, wie zum Beispiel an einer ausreichenden Zahl von Verkehrsschildern. Die Stadt Ostritz forderte deshalb unter anderem Amtshilfe bei den angrenzenden Kommunen an, mit der Bitte um gegenseitige Unterstützung und Wegfall von Kosten für die Ausleihe von technischen Mitteln und zusätzlichen Verkehrsschildern, was auch geschah. Auch das Orga-Team stellte fest, dass nicht alle erforderlichen Aufgabenbereiche auf ehrenamtlicher Basis umsetzbar waren. Der Betreiber des Zeltverleihs oder auch die Security-Firma forderten für ihre Leistungserbringung eine entsprechende Bezahlung. In einigen Fällen lagen für finanzielle Bezuschussungen ausschließlich mündliche Zusagen vor. Dadurch konnten keine Aufträge ausgelöst werden. Im Zusammenspiel der drei zentralen Akteursgruppen (Orga-Team, Kommune, IBZ ) war es jedoch möglich, auf dem Marktplatz eine Veranstaltung mit Kosten in fünfstelliger Höhe vorzubereiten und durchzuführen. Dabei spielten verschiedene Faktoren eine entscheidende Rolle. Zunächst gab es durch das IBZ und die Stadtverwaltung von Beginn an eine stabile Rückendeckung. Zusätzlich übernahm der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) die Schirmherrschaft des Friedensfestes und unterstützte ­dieses mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Weiterhin wurde die Friedensfestinitiative unter anderem durch die Amadeu-Antonio-Stiftung sowie das Bundesprogramm Demokratie Leben! gefördert.

11 Mitglied des Veranstalters und Organisationsteams des ersten Ostritzer Friedensfestes, Interview 19. 11. 2018.

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5.2 Aufklärung [W]enn man im Januar wahrscheinlich gefragt hätte, was findet im Hotel Neisseblick statt, hätte kaum einer von Ostritz eine rechte Band aufsagen können oder überhaupt was zur rechten Szene

sagen können. Und da sind jetzt mittlerweile schon ein paar kleine, ich will nicht sagen Experten,

aber informierte Menschen jetzt in Ostritz da.12

Eine Aufklärung der Bürgerschaft und Öffentlichkeit ist unabdingbar. Dabei ging es in Ostritz zunächst darum, ein Verständnis darüber zu erlangen, w ­ elche Personen im Zusammenhang mit dem Schild und Schwert Festival standen und worin deren Ziele und Ausrichtung lagen. Weiterhin sollte auch das Ziel des Friedensfestes transparent kommuniziert werden. Den Organisator*innen des Friedensfestes war es ein Anliegen, dem Schild und Schwert ­Festival etwas entgegenzusetzen. Es sollte ein Z ­ eichen gesetzt werden für Demokratie und Weltoffenheit, gegen Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz und einen Rechtsruck innerhalb der Gesellschaft. So hieß es im Flyer zur Ankündigung des Friedensfestes: „Wir wollen [h]insehen, um Fremdenfeindlichkeit, Rassismus & Extremismus jeglicher Art zu erkennen. […] Wir wollen Z ­ eichen setzen für das Engagement der bürgerlichen Mitte für Weltoffenheit, für Toleranz und Frieden.“ 13 Insofern besaß das Ostritzer Friedensfest eine klare politische Absicht und Programmatik. Es sollte jedoch nicht parteipolitisch ausgerichtet sein, um jede Ausgrenzung jenseits extremistischer Positionen zu vermeiden. Die umfangreiche Aufklärung der Bürger*innen zu den ­Themen Rechts- und Linksex­ tremismus sowie den Aktivitäten im Rahmen des Ostritzer Friedensfestes führte zunächst zu einer passiven Beteiligung und einer Sensibilisierung für das Thema und konnte dadurch bestehende Ängste mildern. Viele Bürger*innen begannen sich mit dem Friedensfest und insbesondere dessen Zielen zu identifizieren. Dies führte wiederum zu einer steigenden aktiven Beteiligung der Bürger*innen am Friedensfest. Letztlich brachten sich mehrere hundert Helfer*innen ehrenamtlich ein. Nach Aussagen aller Interviewpartner*innen hatten die Bürger*innen der Stadt Ostritz mehr Angst vor der Veranstaltungsanmeldung durch die Partei Die Linke als vor der Anmeldung des Schild- und Schwertfestivals auf dem Areal des Hotels Neisseblick. Äußerten Bürger*innen Kritik an der ,Versammlung‘ im Hotel Neisseblick oder das Bedürfnis, gegen die Veranstaltung der Rechtsextremen zu protestieren, entgegneten andere Bürger*innen beispielsweise mit folgenden Aussagen bzw. Bedenken: „Lasst die [gemeint sind Besucher*innen des Schild- und Schwertfestivals] doch dort feiern“, oder: 12 Mitglied des Veranstalters und Organisationsteams des ersten Ostritzer Friedensfestes, Interview 19. 11. 2018. 13 Internationales Begegnungszentrum St. Marienthal. Ostritzer Friedensfest. Online: http://ostritzer-­ friedensfest.de/wp-content/uploads/2018/03/Ostritzer_Friedensfest_Programm_72dpi.jpg [08. 06. 2020].

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„[Wir] haben doch bis jetzt auch nie was gemerkt“. Die Versammlungsanmeldung der Linken jedoch wurde als Bedrohung wahrgenommen, da hierdurch – so jene Bürger*innen – die mit negativen Vorurteilen besetzte Antifa angelockt werde und chaotische Verhältnisse drohten. Auch gab es Ängste vor immensen Verkehrseinschränkungen aufgrund des erforderlichen Sicherheitskonzeptes und vor möglichen Umsatzeinbußen für Gewerbetreibende. Wichtig war, diese Ängste und Bedenken zu respektieren. Um eine adäquate Aufklärung durch die Weitergabe von Informationen gewährleisten zu können, musste ein hoher Aufwand betrieben werden, welcher zeitlicher, finanzieller und personeller Ressourcen bedurfte. Auf mehreren Ebenen und durch verschiedene Veranstaltungen fand im Ort Aufklärung statt; zunächst in jedem persönlichen Gespräch mit Bürger*innen, aber auch durch persönliche Anschreiben, in denen zum Beispiel alternative Parkplatzmöglichkeiten aufgezeigt wurden. Zusätzlich fand im Vorfeld des F ­ riedensfestes viermal ein „mobiles Wohnzimmer“ auf dem Ostritzer Marktplatz statt, mit dem Ziel, Kontakt zu den Bürger*innen aufzunehmen und mit ihnen in einen Austausch zu treten. Zudem wurde ein Informationsabend für Bürger*innen veranstaltet, bei dem rund zweihundert Personen anwesend waren. Mitarbeiter*innen des sächsischen Verfassungsschutzes, der Polizei, des Landkreises und der Stadtverwaltung stellten ihre jeweiligen Perspektiven auf das Geschehen vor. Thematisiert wurden dabei einerseits das Verkehrskonzept (Parkplatz­ situation, Straßensperrungen), andererseits die Organisatoren des Schild- und Schwertfestivals.

5.3 Netzwerkarbeit Die wiederum haben ihre Netzwerke angezapft, […], die uns dann wiederum unterstützen konnten. Dadurch kam zum Beispiel das AWO-Spielemobil […], die mit uns sonst nichts zu

tun haben aber die haben wiederum ein Treffen gehabt […] mit diesen großen Verbänden. Und da wurde das Projekt vorgestellt. Und dann haben die gesagt, da machen sie mit.14

Gegenstand der Netzwerkarbeit war sowohl der Aufbau von Kooperationsbeziehungen der Aktivist*innen mit Bürger*innen und Institutionen im Ort, aber auch darüber hinaus in der Region, als auch im Orga-Team selbst. Zwei Hauptprobleme kristallisierten sich dabei heraus. Einerseits gab es im Orga-Team des Friedensfestes kaum Vorerfahrungen in der Organisation größerer Protestveranstaltungen. Andererseits lag zu Beginn ein Mangel an Kooperationspartnern vor, welcher aber sukzessive behoben werden konnte. Große unterstützende Institutionen waren beispielsweise das B3 Institut, der Augen auf e. V. Oberlausitz, die Hillersche Villa gGmbH (Zittau), die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung, der Jugendring Oberlausitz e. V., die ENSO 14 Mitglied des Veranstalters und Organisationsteams des ersten Ostritzer Friedensfestes, Interview 19. 11. 2018.

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Energie Sachsen Ost AG sowie Kirchengemeinden aus der Region. Diese aktivierten wiederum ihre jeweiligen Netzwerkpartner mit. Andererseits gab es im Orga-Team das klare Ziel, nicht mit extremistischen Partnern, egal welcher ideologischen Abkunft (vom Links- oder Rechtsextremismus bis zum religiösen Fundamentalismus), zu kooperieren. Dabei hatten die Aktivist*innen auch die Partizipationsdimension in Ostritz und Umgebung im Blick. Für viele Bewohner*innen reicht bereits ein angenommener oder subjektiv empfundener Extremismus einer der Partner aus, um die eigene Beteiligung am Protest in Frage zu stellen.

5.4 Öffentlichkeitsarbeit „Wenn wir hier alle mitnehmen wollen, brauchen wir da Öffentlichkeitsarbeit, Website, Flyer, Druckgeschichten, Transparente.“ 15 Zunächst ist zu klären, wann man mit w ­ elchen Informationen an die Öffentlichkeit geht. Dabei ist zu beachten, dass es zu keinen vorschnellen Entscheidungen kommt. Es existierten in Bezug auf Ostritz auch starke Bedenken, dass die mediale Berichterstattung einen negativen Einfluss auf das Image der Stadt Ostritz haben könnte. Um d ­ iesem entgegenzuwirken, war es erforderlich, dass sich die Stadt Ostritz kontinuierlich mit der Versammlungsbehörde abstimmte. Von der Kommune, dem Landkreis sowie von der Polizeibehörde wurden Medieninformationen über den jeweils aktuellen Arbeitsstand veröffentlicht. Der Umgang mit der Presse stellte während des gesamten Organisationsprozesses eine erhebliche Herausforderung dar. Durch einen permanenten Informationsdurst forderten die Massenmedien Zeit und Ressourcen der Bürgermeisterin ein, die aber ihr Amt lediglich ehrenamtlich ausübte. Zur Entlastung der Bürgermeisterin sowie des Orga-Teams wurde diesen durch das B3 Institut ein erfahrener Berater für die Öffentlichkeitsarbeit zur Seite gestellt, um sie beim Umgang mit Medienvertreter*innen zu unterstützen.

6. Erkenntnisse aus dem Ostritzer Fall: Rückblick und Handlungsempfehlungen Am Ende stellt man sich als Organisator*innen wohl immer die Frage, was das Ganze bewirkt und ob sich der Aufwand denn nun gelohnt hat. Im Fall des Ostritzer Friedensfestes können wir für uns formulieren: eine ganze Menge. An mancher Stelle unbemerkt, an anderer bewusst initiiert, können in der Reflexion einige wichtige Ergebnisse des Organisations- und Beteiligungsprozesses festgehalten werden. Hierzu zählt zum Beispiel die Aufklärungsarbeit insgesamt. Ein Teil der Bürger*innen ist 15 Mitglied des B3 Institutes, Interview 15. 11. 2018.

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jetzt – anders als zuvor – darüber informiert, was für Leute im Hotel Neisseblick feiern, ­welche Lieder dort gesungen und ­welche Ideen dort verbreitet werden. Durch die Kombination von Musik, ­Theater, Spielenachmittag, Lesungen und Bierzeltatmosphäre konnte man auf dem Ostritzer Friedensfest Menschen erreichen und mit dem Thema Rechtsextremismus konfrontieren, die man sonst nicht erreicht hätte. Durch kontinuierliche Gesprächsangebote bekamen auch ,besorgte Bürger‘ vermittelt, dass sie in ihren Gefühlen und Bedürfnissen wahr- und ernstgenommen wurden. Über vierzig Bürgermeister*innen stellten sich hinter die Bürgermeisterin von Ostritz und positionierten sich in der Oberlausitzer Erklärung für eine lebenswerte Region – ohne Rechtsextremismus, gegen das Schild- und Schwertfestival.16 Das Friedensfest wurde mit einschlägigen Preisen zur Anerkennung des Engagements für Demografie und gegen Extremismus ausgezeichnet. Es entstand unter anderem auch ein großes (über-)regionales Netzwerk, das in der Zukunft genutzt werden kann. Abschließend wollen wir die Ergebnisse sowohl der geführten Interviews mit Expert*innen als auch unserer Organisationserfahren in einigen Handlungsempfehlungen bündeln. Diese können anderen Demokrat*innen in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremist*innen vielleicht Ängste nehmen, Orientierung und organisatorische Hilfestellungen bieten; sie verstehen sich aber nicht als eine „Anleitung“, denn jede Kommune, jede Bürger*innengemeinschaft, jede extremistische Herausforderung und jede Protestsituation ist anders und lässt alternative Ideen und Wege zu. Beratungsoffenheit •  Es hat sich als nützlich herausgestellt, wenn die betroffenen Kommunen die Möglichkeit einer Beratung haben oder erhalten. •  Mit der richtigen Beratung lassen sich viele Fehlerquellen minimieren. •  Berater*innen bringen viele Kompetenzen und Ressourcen mit, w ­ elche sie in die Organisation und Planung des Prozesses einspeisen können. •  Der Freistaat Sachsen verfügt über Strukturen und Netzwerke, die durch Bundes- und Landesprogramme in den letzten Jahren gewachsen sind, zum Beispiel Zusammenhalt durch Teilhabe, Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz, Demokratiezentrum Sachsen, LAG Vielfalt oder Partnerschaften für Demokratie. Diese Programme kann man sowohl für Beratungen wie für finanzielle Förderungen ­nutzen. •  Die Entscheidungshoheit sollte aber immer den Organisator*innen des Festes obliegen.

16 M. Kremser 06. 04. 2018: Bürgermeister von 40 Orten verabschieden Oberlausitzer Erklärung. Online: http://ostritzer-friedensfest.de/2018/04/06/buergermeister-von-40-orten-verabschieden-oberlausitzererklaerung/ [08. 06. 2020].

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Bestehende Netzwerke und Strukturen •  Die Zusammenarbeit von staatlichen und nichtstaatlichen Partnern ist wichtig und birgt viel Potenzial. Hier sollten pauschale ideologische Trennungen vermieden und nach Verbindendem gesucht werden. Das Ostritzer Modell •  In Ostritz wurden drei Akteure zusammengeführt, die in ihrer unterschiedlichen Verfasstheit und ihrer kooperativen Arbeitsteilung maßgeblich für den Erfolg verantwortlich waren: das IBZ als rechtlicher Träger, die Verantwortlichen der Verwaltung (Zusammenarbeit über die Grenzen von Ostritz hinaus), das Orga-Team (ehrenamtliche Tätige, ­welche an keinen der anderen Akteure gebunden waren und den Kontakt in die Ortschaft hielten). •  Es ist essenziell, dass ­solche oder andere Trägerstrukturen frühzeitig geschaffen werden und stabil funktionieren. Form des Protests: Friedensfest •  Das Friedensfest war eine Mischung aus Volksfest, Angeboten für Kinder und Familien und politischer Bildung. •  Es wurden Spiel- und Bildungsangebote entwickelt und Schulen multikultureller Kompetenz geschaffen. •  Es gab keine klassische Gegendemonstration, vielmehr wollte man für Weltoffenheit, Demokratie und Toleranz einstehen. Damit positionierte man sich klar gegen Rechtsextremismus und Nazis, erweitert um einen Alternativvorschlag zur Art und Weise des Zusammenlebens. •  Es sollte das ,große System‘ mitgedacht werden. Ein Fest der Größe des Ostritzer Friedens­ festes ist nur realisierbar, wenn man über die Ortschaft hinausgeht und Verantwortungsträger, Vereine, Initiativen und Engagierte sachsenweit, wenn nicht sogar über die Landes­ grenzen hinaus einlädt, an dem Prozess teilzuhaben. •  Die Form sollte vor allem von den Einwohner*innen vor Ort bestimmt werden, um diese „mitzunehmen“, mögliche Konflikte untereinander zu vermeiden und zivilgesellschaftliches Engagement zu fördern. •  Da es keinen parteipolitischen Einfluss gab, wurde das Fest für mehr Menschen anschlussfähig. Parteipolitische Differenzen konnten ausgespart und ein größerer gemeinsamer gesellschaftspolitischer Nenner geschaffen werden. Dies gilt sowohl für die zivilgesellschaftlich Engagierten wie für die Besucher*innen.

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Kompetenzen der Berater*innen •  Die Berater*innen sollten bereits über Erfahrungen in der Organisation von Protestveranstaltungen und vor allem über Organisationsressourcen (Netzwerke und Strukturen) verfügen, da dies viel Zeit und Aufwand ersparen kann. •  Sie sollten Wissen über mögliche Dynamiken in unterschiedlichen Organisationsprozessen besitzen. •  Die Berater*innen sollten den Prozess nur begleiten, aber nicht steuern (wollen). Schirmherrschaft •  Es kann hilfreich sein, eine Person zu finden, ­welche die Schirmherrschaft für ein solches Fest übernehmen kann und will. Dies sollte gegebenenfalls so früh wie möglich passieren. •  Die Person sollte ein Mindestmaß an Bekanntheit und allgemeine Anerkennung aufweisen, was Personen des öffentlichen Lebens präferiert, wie etwa den Ministerpräsidenten / die Ministerpräsidentin eines Bundeslandes. Aufklärung der Bürger*innen •  Es ist nötig, die Einwohner*innen zeitnah über die Sachlage und den Wissensstand zu informieren, bevor große Gegenveranstaltungen geplant und angemeldet werden. Dies kann zum Beispiel durch Bürger*innenfragestunden oder andere Dialogformate realisiert werden. •  Beim Informieren der Bürger*innen erweist es sich als sinnvoll, Personen einzuladen, ­welche sich von Amts wegen professionell mit Extremismus befassen, wie der Verfassungsschutz, die Landespolizei oder die jeweilige Landeszentrale für politische Bildung. •  Dadurch können die Sorgen, Ängste und Befürchtungen der Bürger*innen wahrgenommen und bearbeitet werden. Kooperationsbereitschaft •  Es ist essenziell, als Engagierte kooperationsbereit zu sein und mit anderen Trägern, Vereinen und Initiativen zusammenzuarbeiten und sich mit ihnen zu vernetzen. •  Die Menschen und Organisator*innen vor Ort sollten zu der Veranstaltung einladen. •  Die gemeinsame Ideenfindung für ein Fest muss auf Augenhöhe geschehen und partizipativ realisiert werden. Es sollte klar geregelt sein, was es beim Fest geben bzw. nicht geben sollte (beispielsweise: Gewalt wird nicht geduldet; extremistische Äußerungen werden nicht zugelassen; angestrebt wird ein friedliches Zusammensein). •  Die Namensgebung kann wichtig für die Teilnahme oder Nichtteilnahme von Akteur*innen am Fest sein.

Andreas Speit

Reaktionärer Klan Die Entwicklung der Identitären Bewegung in Deutschland

Leipzig 2018: Über ein Mikrofon erklingt eine männliche Stimme in der Messehalle.1 Kleine Papierzettel fliegen durch die Luft. Vor den Ständen des Antaios Verlages und von Compact – Magazin für Souveränität drängen sich immer mehr Menschen. Hier rechts der Ecke der Halle 3 wollten am 18. März mehrere Initiativen auf der Buchmesse gegen die rechten Verlage protestieren. Kaum hat der Sprecher vom subversiven Komitee für Wahrheit und Sachlichkeit begonnen, über die mitgebrachte Verstärkeranlage zu Anhängern der Neuen Rechten zu reden, dreht einer der kritisch Angesprochenen die Lautsprecher runter. „Die Rechte zeigt mal wieder, dass sie nicht fähig ist, sich Argumente anzuhören“, sagt der Sprecher unbeeindruckt laut weiter. „Wir wollen zeigen, wer wirklich die Meinungsfreiheit vertritt“, betont er. Nach einem k­ urzen Gerangel hebt eine Sprecherin des Komitees hervor, die Neue Rechte nutze die Meinungsfreiheit bloß als Werkzeug, um ihr menschenverachtendes Weltbild zu verbreiten. Wenig ­später stehen sich Sympathisanten des Verlags von Götz Kubitschek und Demon­ stranten bei angekündigten Verlagsveranstaltungen nahe dem Stand direkt gegenüber. „Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen“, skandiert die neurechte Anhängerschaft eine alte rechtsextreme Parole. Mit dabei: Aktivisten der Identitären Bewegung (IB). Einem ihrer bekanntesten Kader, Martin Sellner, wollte Kubitschek als Gesprächspartner auf der Buchmesse ein Podium bieten, um über das „Abenteuer ‚Defend Europe‘“ zu berichten. Ebenfalls erzählen sollte Alexander Schleyer, ein ehemaliger Soldat der Deutschen Marine, der für das neurechte Magazin Blaue Narzisse schreibt und parlamentarischer Mitarbeiter eines Abgeordneten der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) war. Er war beim Mittelmeer-„Abenteuer“ dabei: Die Aktion war der Versuch von Identitären aus Frankreich, Italien, Österreich und Deutschland 2017, mit einem gecharterten Schiff nahe der libyschen Küste gegen „Schlepperschiffe vermeintlich humanitärer NGOs“ vorzugehen. Knapp eine 1 Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Fassung aus: Andreas Speit (Hg.) 2018: Das Netzwerk der Identitären – Ideologie und Aktionen der Neuen Rechten. Berlin.

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Woche war die IB-Crew im August des Jahres mit der C-Star im Mittelmeer unterwegs. Nach wenigen Tagen erreichte die italienische Seenotleitzentrale am 11. August ein Notruf der Identitären wegen Manövrierunfähigkeit. Über Twitter erklärte einer der Identitären: „Wir haben ein technisches Problem, das aber keine Seenotrettung erforderlich macht.“ Noch wenige Tage fuhr das Schiff im Mittelmeer. Auf See erfolgte aber keine Konfrontation ­zwischen Identitären und NGOs. Das Echo – nicht nur über die eigenen virtuellen Kanäle und nahestehende Medien – war nicht gering. Auf Facebook erklärte die IB so auch, dass die Aktion „ein politischer Erfolg, ein medialer Erfolg und ein aktivistischer Erfolg“ gewesen sei. Doch nicht erst die Aktion der IB im Mittelmeer und die mediale Auseinandersetzung darüber machten sie bundesweit bekannt. Ein Jahr zuvor, im August 2016, gelang der IB Deutschland (IBD) mit einer Besetzung bundesweite öffentliche Beachtung. Eine „temporäre Inbesitznahme eines Ortes mit Strahlkraft“, um „das ,eine‘ Bild“ zu erlangen, wie Sellner es als grundlegend in Identitär! Geschichte eines Aufbruchs bezeichnet.2 2017 erschien das Standardwerk der Bewegung beim Verlag Antaios. Bei strahlendem Sonnenschein wehte über dem Brandenburger Tor das gelbschwarze ­Zeichen der IB: der griechische Buchstabe Lambda. Schon auf den Rundschildern der dreihundert Spartaner, die sich einer tausendfach stärkeren Armee der Perser 480 v.Chr. am Thermopylen-Pass entgegenstellten, soll der Winkel geprangt haben. Diesen Mythos des heroischen Abwehrkampfs von fremden Mächten und feindlichen Einflüssen wollten die Identitären heraufbeschwören. In einem Video erklärten sie: „Das Lambda, gemalt auf einem Schild stolzer Spartaner, ist unser Symbol. Verstehst du, was es bedeutet? Wir werden nie zurückweichen, niemals aufgeben!“ An das 20 Meter hohe Tor der Bundeshauptstadt hatten am 27. August 2016 rund fünfzehn Kader der IB zudem ein großes Transparent angebracht: „Sichere Grenzen – sichere Zukunft“. Der Clou war geglückt, in Echtzeit berichteten ausgiebig Nachrichtensender und ­später Printmedien. Die Public Relations gelangen – die Aktionsgruppe hatte ein Bild geschaffen. Bis zu dem Tag erschien vielen in Politik und Medien die neurechte Szene von der Wochenzeitung Junge Freiheit (JF), der Bibliothek des Konservatismus über das Institut für Staatspolitik (IfS) und den Antaios Verlag bis hin zu Sezession und Blaue Narzisse als elitär-esoterischer Debattierzirkel von überwiegend gediegenen Herren mit akademischem Abschluss. So richtig wie falsch: Schon sechs Jahre zuvor hatte Helmut Kellershohn vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) auf zunehmende „rechte Diskurspiraterien“ hingewiesen. In dem von Martin Dietzsch, Regina Wamper und ihm herausgegebenen Sammelband mit eben jenem Titel resümieren sie, dass „ein verstärktes Bemühen auf Seiten der extremen Rechten zu beobachten“ sei, „Themen, politische Strategien, Aktionsformen und ästhetische Ausdrucksmittel linker Bewegungen zu adaptieren und für ihren Kampf um 2 Martin Sellner 2017: Identitär! Geschichte eines Aufbruchs. Verlag Antaios: Schnellroda, 51 f.

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die kulturelle Hegemonie zu ­nutzen“.3 Martin Sellner, der identitäre Vordenker aus Österreich, verschweigt diese Adaptionen nicht. Im Rückgriff auf den linken Theoretiker Guy Debord aus Frankreich erklärt er, dass in der „Gesellschaft des Spektakels“ das real Erlebte immer mehr durch die mediale Spiegelung ersetzt werde: „ein Bild – eine Wirklichkeit, ein Spektakel – eine Reaktion“. In ­diesem Zusammenhang nimmt er bewusst Bezug auf die „geistige Kraft der Neuen Rechten“, Götz Kubitschek. Ohne das Werk zu erwähnen, zitiert Sellner aus Kubitscheks Provokation: „Denn daran muß sich der Provokateur messen lassen: Was nicht in den Medien war, ist aus der Welt, hat nicht stattgefunden, nicht verfangen“ 4. Die Berliner Aktion diente der IB zugleich zur Selbststilisierung, zur Erschaffung eines eigenen Mythos von „Opferbereitschaft und Mut“. In seinem Buch Kontrakultur stellt Mario Alexander Müller diese Intention geradezu heraus. Ausführlich lässt der IB-Kader einen Aktivisten der Besetzung in dem 2017 beim Antaios Verlag erschienenen Buch zu Wort kommen: Mit jeder der 45 Leitersprossen wird der Abstand zum drögen, bürgerlichen Leben größer, das

uns Eltern, Lehrer, Ausbilder und Professoren jahrelang als sinnvoll und erstrebenswert angepriesen haben.5

Dem solle jetzt mit „Mut und Aufopferung“ begegnet werden. Der antibürgerliche Gestus und das heroische Pathos gehören zum Sound der Neuen Rechten. Das Symbol der Spartaner prangte in Deutschland am 10. Oktober 2012 erstmals in den sozialen Netzwerken. Der Kick-off im Internet kam von der Generation Identitaire (GI) in Frankreich. Über das Internet verbreitete sich in diesen Tagen ein Video der GI viral. Eine Aktion beschleunigte aber die Aufmerksamkeit noch. In Poitiers besetzten am 20. Oktober des Jahres an die sechzig Anhänger der GI das Dach einer im Bau befindlichen Moschee. Am Dachfirst befestigten sie Transparente mit dem Lambda-Symbol und der Zahl 732. Datum und Ort waren bewusst gewählt worden. Im Jahr 732 hatte eine Armee unter dem Kommando des fränkischen Feldherrn Karl Martell ­zwischen Poitiers und Tours die aus Spanien vordringenden Mauren gestoppt, angeführt von Abd ar-Rahman. Für die Identitären begann an d ­ iesem historischen Datum die „Reconquista“, der Abwehrkampf des Okzidents gegen den Orient. Sechs Stunden dauerte die Besetzung der Moschee, ein Symbol – der elfte Buchstabe des griechischen Alphabets – war gefunden, die Corporate Identity geschaffen. Die GI verbreitete sogleich Aufnahmen von der Aktion, und die französischen Medien berichteten 3 Helmut Kellershohn, Martin Dietzsch, Regina Wamper 2010 (Hg): Rechte Diskurspiraterien – Strategien der Aneignung linker Codes, Symbole und Aktionsformen. Verlag Edition: Münster. 4 Sellner 2017. 53. 5 Mario Alexander Müller 2017: Kulturkampf. Verlag Antaios: Schnellroda, 44.

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umgehend. Bilder der Kampagne liefen über die Computer- und Fernsehschirme. Einer, der sie auch sah, war Martin Sellner. „Das ist genau das, worauf wir gewartet haben! Das ist der Startschuss für eine neue Bewegung“, schreibt er gleich zu Beginn seines Buches Identitär! und schwärmt von den Bildern der Besetzung.6 In Deutschland waren suchende Gleichgesinnte ebenfalls elektrisiert. Mit deutschen Untertiteln wurde die Declaration de guerre der französischen Identitären online gestellt. In schnell geschnittenen k­ urzen Statements der Kriegserklärung legen verschiedene Personen in dem schwarz-weiß gehaltenen Clip dar, dass die „’68er“ „die Traditionen, Werte, Familie und Erziehung“ zersetzt hätten, die Zuwanderung das Sozialsystem instabil habe werden lassen und „Mehmet“ niemals ihr „Bruder“ werde. Die Kampfansage kam an.7 Eine erste Aktion folgte in Deutschland jenseits des virtuellen Raums im selben Monat. Am 30. Oktober 2012 störten Identitäre die Eröffnung der Interkulturellen Woche in Frankfurt am Main. In der Stadthalle liefen sie kurz mit Guy-Fawkes- und Scream-Masken auf, schalteten Hardbass-Musik ein und trugen Schilder mit ihrem Symbol und der Botschaft: „Multikulti wegbassen“. Bereits diese Aktion offenbarte, dass die IB in Deutschland von Anfang an eng mit der IB in Österreich verwoben war. Auch in Wien hatte der IB-Vorläufer in analoger Form einen Tanz-Flashmob bei der Caritas in Wien durchgeführt. In Frankfurt am Main richteten die Identitären noch im selben Jahr ein Treffen aus. Am 1. Dezember kamen fünfzig Aktivisten aus Deutschland, aber auch aus Österreich und Italien zusammen, um sich darüber auszutauschen, wie neben den virtuellen Aktivitäten organisatorische Strukturen aufgebaut und reale Interventionen organisiert werden könnten. In Deutschland boomte die Idee. Das Bundesinnenministerium erfasste bereits im Oktober 2013 über fünfzig lokale bzw. regionale IBD-Untergruppen. Allerdings fanden nur in wenigen Städten vereinzelte Aktionen statt. Die gesamte Neue Rechte begrüßte die neue Bewegung. Am 1. März 2013 hatte schon die Junge Freiheit der IB einen Schwerpunktbeitrag unter dem Titel Revolte von rechts? gewidmet. „Eine neue Generation“, frohlockte der Chefredakteur der Wochenzeitung Dieter Stein: Mit „einer originellen und modernen Ikono­ graphie“ und „klarer Abgrenzung“ zu „einer verstaubten ‚alten Rechten‘“ werde mit neuen „Aktionsformen experimentiert, die Öffentlichkeit für Forderungen“ schaffen würden. „Es geht um die Herrschaft über den öffentlichen Raum“, fasste Stein zusammen.8 Doch die selbsternannte „Bewegung“ wuchs in der Folgezeit kaum, und die kleinen Gruppen zerstritten sich untereinander auch noch. Es begann eine kritische Phase, wie Sellner einräumt. „Unzählige Nachahmer sprossen wie Pilze aus dem Boden, Hunderte zukünftige Karteileichen meldeten sich, und bald hatte jedes Kaff von Buxtehude bis Bayern seine 6 Sellner 2017, 7. 7 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=dkV7ZzaKM80 [08. 06. 2020]. 8 Dieter Stein 01. 03. 2013: Revolte von rechts? In: Junge Freiheit 10, 1.

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eigene identitäre Bewegung – zumindest auf Facebook“. Er befürchtete damals, dass die junge Bewegung als weiterer „Flicken am ‚Narrensaum‘“ altrechter Sekten enden könne.9 Vieles, was die IB ausmachte und umsetzte, wäre nicht erfolgt, wenn ihnen ein Mann nicht mit seinem Netzwerk geholfen hätte: Götz Kubitschek. Schon im Oktober 2012 überlegte Kubitschek in einem Strategiepapier, das dem antifaschistischen Gamma-Newsflyer zugespielt wurde, wie die sich gerade entwickelnde IB mit aufgebaut und aktiv unterstützt werden könne. Hier spielte er bereits mit dem Gedanken eines Hausprojekts in Berlin mit Café, Buchhandlung, Vortragsraum, Büros und WG-Zimmern für „mietfreies Wohnen für zwei, drei Aktivisten, die das Haus betreuen und bestimmte Arbeiten verrichten“. 2017, fünf Jahre ­später, eröffnete am 6. Juni in Halle an der Saale ein derartiges Zentrum. Andreas Lichert, Vorsitzender des Vereins für Staatspolitik, der das IfS formal trägt, erwarb das Gebäude 2016 für 330.000 Euro. Im Frühjahr zogen IB-Kader der Gruppe Kontrakultur um Mario Alexander Müller in das Haus ein. Bis zur Eröffnung des Zentrums war es der IB auch gelungen, gewünschtes Personal zu finden und die fragile Struktur zu festigen. „Wir sahen IBD-Leiter, Aktivisten und ganze Ortgruppen kommen und gehen“, schreibt Sellner in Identitär!. Nur wenige blieben dabei. Die einzige Konstante in Deutschland bildete laut Sellner letztlich Kubitschek, „der selbst alleine schon des Alters und des Werks wegen nie Mitglied oder Aktivist der IB war“, doch „eine Zeit lang“ sei er „der Einzige“ gewesen, „der innerhalb Deutschlands Kontakte erneuern und neben dem rein Virtuellen eine handfeste Kartei mit Telefonnummern, Klarnamen und Werdegängen stellen konnte“, bekennt Sellner.10 Das IfS half auch anders: im Rittergut in Schnellroda. Dort, wo das IfS seine Zentrale und die Familie Kubitschek ihren Wohnsitz hat, fand eines der ersten Treffen der Bewegung statt. Interne Unterlagen belegen, dass die IB nie als eine offene Gruppierung gedacht war. Sellner wird da deutlich: „Es muss eine Spitze geben, die sagt, was geht und was nicht“. Die Aktionsideen würden sie von linken Bewegungen übernehmen, „ihre kindliche Utopie einer endlosen Debatte und totalitären Gleichheit hingegen nicht“.11 Seit Mai 2014 ist die IB beim Amtsgericht Paderborn als Identitäre Bewegung Deutschland e. V. mit der Register-Nr.  VR 3135 eingetragen. Auf ihrer Webseite führte die IB im Juni 2018 Daniel Fiß aus Rostock als neuen Verantwortlichen an. Über die Seite kann in jedem Bundesland eine E-Mail-Adresse der IB direkt angeschrieben werden, ist es auch möglich, Fördermitglied zu werden und zudem können Spenden via PayPal gezahlt oder das Pils Identitär bezogen werden. Daniel Sebbin aus Mecklenburg-Vorpommern sei Mitbegründer dieser eigenen Biermarke. 9 Siehe Sellner 2017, 28. 10 Siehe ebd., 178. 11 Siehe ebd., 179.

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Aus der rechtsextremen Szene kommt nicht bloß der aktuelle IB-Chef Daniel Fiß. Der Student der Politikwissenschaft war führender Schulungsbeauftragter in der NPD-Jugendorganisation Junge Nationaldemokarten (JN). Von deren „altrechtem Denken“ will er sich inzwischen aber abgewandt haben. Die Nähe und Verstrickung einzelner IB-Aktivisten in die rechtsextreme Szene führten zur „Beobachtung“ durch einzelne Landesämter für Verfassungsschutz. Am 12. August 2016 erklärte das Bundesamt für Verfassungsschutz, die IB zu überwachen. Bundesweit will die IB ­zwischen vier- und fünfhundert Aktivisten vereinen, die in fünfzehn Regionalverbänden organisiert sind. Die IB hat nicht das Ziel, eine Massenorganisation zu werden, sondern versteht sich eher als einflussstarke Elite. Die „metapolitische Avantgarde“, wie Sellner sie in der Jungen Freiheit vom 30. September 2016 bezeichnete, lässt offensichtlich nicht jeden Interessierten mitmachen. Unterlagen der IB Schwaben und Materialien von der Identitären Sommerakademie – 2015 belegen die straffe Organisation. In den Aktivistenfragebögen der IB sind vor Aufnahme in eine regionale Gruppe unter anderem diese Fragen zu beantworten: „Wo siehst Du Deine persönlichen Stärken? Wie stehen Deine Freunde und Familie zu Deiner Einstellung? Wie ist Deine Position zu anderen Organisationen wie z. B.: III. Weg, NPD, Die Rechte, AfD? Wo siehst Du Dich in 2 Jahren innerhalb der Bewegung?“ Wer einmal akzeptiert ist, unterliegt aber weiterhin einer Kontrolle. Möchte ein Aktivist etwa ein Banner anfertigen, so solle er – nach den vorliegenden Unterlagen – zunächst den „Leiter der Gruppe“ fragen, um nicht die „Corporate Identity der Bewegung“ zu unterlaufen. Style und Habitus müssen bei Aktionen und Flugblättern stets abgestimmt werden. Dazu gibt es Argumentations- und Auftrittshinweise: Der Einzelne solle eigene Stärken und Schwächen bei Reden ausloten, Gruppen sollten die Rollenverteilung in ihren Aktionen präzise absprechen und kritisch auswerten. Der Veranstaltungsorganisation liegen strenge Regeln zugrunde: Bei der Anmietung von Räumen müsse man „vage“ bei den Absichten bleiben. Für Stammtische solle ein aktuelles Thema vorbereitet und von einem offiziellen Nebenthema zur Absicherung flankiert werden. Der Umgang mit der Polizei wird ebenfalls vorgegeben: Gegenüber den Beamt*innen s­ eien keinerlei Aussagen zu machen, sollte es zu Vernehmungen kommen, müssten die Rollenverteilungen der Beamt*innen beachtet werden, und nach Durchsuchungen sei zu prüfen, ob Abhöranlagen installiert worden ­seien. „Vergiss nie: Wenn Du in U-Haft bist […], bist Du kein Krimineller, sondern ein Aktivist und Du kämpfst weiter“, heißt es in den IB-Materialien. Und: „Die erste Regel für alle Identitären ist Loyalität. Niemandem wird vergeben, wenn er einen aus unseren Reihen verrät. Wir sind ein Klan und halten zusammen“. In den Schulungsmaterialen der Sommerakademie – 2015 erklärt der Klan seine Strategie: „Die IB ist eine metapolitische Kraft, die versucht, Ideen, Parolen und Bilder in das metapolitische Feld zu führen“. Angestrebt wird eine „Kulturrevolution von rechts“. Mit Bezug

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auf den italienischen marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci wird dargelegt, dass die metapolitische Auseinandersetzung auf dem „ideellen Umfeld mit Bildern, Parolen, Ideen und ‚Erzählungen‘“ geführt werde, um die „Wahrnehmung der Realität in den Köpfen“ zu ändern. So könne letztlich die „Legitimität der herrschenden Macht“ angegriffen werden. Auf der IB-Webseite heißt es: „Wir führen einen Kampf um Begriffe, um das Sagbare, letztlich auch um das Denken“.12 Diesen rechten Kulturkampf empfahl Alain de Benoist vor mehr als dreißig Jahren dem rechten Milieu. 1985 legte der französische Vordenker der Nouvelle Droite in Deutschland den Band Kulturrevolution von rechts vor. Der Titel ist inzwischen zur Parole geworden. „Die alte Rechte ist tot. Sie hat es wohl verdient“, sind die ersten beiden Sätze in dem Buch, in dem er mahnt: „Der Hauptfeind ist der bürgerliche Liberalismus“, und erklärt: „Es gibt nämlich zwei Arten, den Menschen und die Gesellschaft zu betrachten. Entweder wird der fundamentale Wert auf das Individuum“ gelegt, „oder der fundamentale Wert sind die Völker und die Kulturen“. Die Rechte habe eben nicht erkannt, führt er aus, dass die Linke durch die Beeinflussung des vorpolitischen Raumes an Einfluss gewonnen habe. Die „kulturelle Macht“ werde zu einer politischen Macht, führt er mit Gramsci aus.13 Dieses Konzept hebt Mario Müller in seinem Buch Kontrakultur für die IB erneut hervor. Mit Rückgriff auf Gramsci und Benoist erklärt er unter dem Schlagwort „Metapolitik“, dass die Macht nicht in den „Händen der politischen Institutionen und ihrer Vertreter“ liege, sondern in dem „unsichtbaren Gravitationszentrum“ der „kulturellen Hegemonie“. Jeder politischen Wende müsse eine kulturelle Wende vorausgehen. Die Aktionen der IB würden daher die „herrschende Ideologie“, wie etwa die „Political Correctness“, angreifen, um die politische Macht zu delegitimieren. Die Festung der Political Correctness müsse zunächst fallen, „bevor eine Festung Europa erreicht werden kann“; bevor Maßnahmen wie „Grenzschließung oder Remigration verwirklicht werden“ könnten, müsse sie „in der öffentlichen Meinung auf breite Akzeptanz stoßen“.14 Das Buch von Benoist hat der Jungeuropa Verlag vor kurzem neu aufgelegt. Der Verlag von Philip Stein hat in Dresden seinen Sitz. Der Verleger ist auch Vorsitzender des Vereins Ein Prozent für unser Land. Die enge Verbindung zur IB verschweigt der Verein nicht. Am 26. November 2015 schreibt Götz Kubitschek auf dem Portal Sezession, dass die IB in Österreich die erste Organisation sei, die von Ein Prozent für unser Land „finanziell in ordentlichem Umfang unterstützt werden konnte“.15 Rund 10.000 Euro will der Verein überwiesen haben. Seinen Sitz hat „Deutschlands größtes patriotisches Bürgernetzwerk“, 12 Vgl. https://www.identitaere-bewegung.de [08. 06. 2020]. 13 Alain de Benoist 1985: Kulturrevolution von rechts. Bonn: Sinus-Verlag, 133 und 43 – 49. 14 Müller 2017, 183. 15 Götz Kubitschek, 26. 11. 2015: Ein Wort zu einprozent.de, oder: 10000 Euro nach Österreich. Online: https://sezession.de/52342/ein-wort-zu-einprozent-de-oder-10-000-euro-nach-oesterreich [08. 06. 2020].

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so die Selbstbezeichnung, im sächsischen Kurort Oybin bei Zittau. Zusammen mit dem stellvertretenden Projektleiter Helge Hilse leitet Philip Stein den Verein. Rund 44.000 Personen unterstützten nach eigenen Angaben im Juni 2018 dessen Aktivitäten – so auch das Engagement für die Identitäre Bewegung. Am 12. Mai 2016 schrieb der Mitinitiator Götz Kubitschek in einem Brief an die Förderer, Freunde und „Aktivisten unserer Bürgerinitiative“, dass es das politische Ziel sei, „die Widerstandskraft in unserem Volk zu sammeln, zu bündeln und zur Wirkung zu bringen“.16 Über fünfzig Gruppen ­seien in jenem Jahr schon unterstützt worden. Bereits im September 2015 hatte Kubitschek die Idee eines „Greenpeace für Deutsche“ bei einer Veranstaltung des Magazins Compact ins Gespräch gebracht. Dessen Chefredakteur Jürgen Elsässer gehört ebenso zu den Initiatoren. Mit dieser „Art NGO für Deutschland“ hätten sie, wie Kubitschek schreibt, folgendes Ziel: „Zum einen wird der Widerstand sichtbar, und zwar in einer Dimension, die weit über die Kraft einzelner Ortsinitiativen hinausgeht. Zum anderen lernen wir einander kennen, finden zueinander, vernetzen uns und fassen Mut“.17 400.000 Menschen würden sie wöchentlich im Internet erreichen. Neben der IB als Organisation hilft der Verein auch dem IB -nahen Magazin Arcadi. Seit 2016 existierte dieser Internetblog um Chefredakteur Yannick Noé. Im Oktober 2017 konnte das Magazin aus Leverkusen dank Ein Prozent erstmals als Printausgabe erscheinen. Im Impressum dankte die Redaktion ganz offen dem Verein. Das Cover zierte ein Bild der US-Bloggerin Brittany Pettibone. Im Interview sagte Pettibone, die die IB-Kampagne Defence Europe unterstützte: „Ich wollte eine Schreibkarriere verfolgen, jedoch habe ich realisiert, dass, wenn Hillary Clinton Präsidentin wird, meine Karriere nutzlos werden würde“. Sie habe das Land Stück für Stück zerstört. Und Pettibone wird deutlich: „Der Krieg, den wir kämpfen, ist der wichtigste, denn er wird das Schicksal der westlichen Zivilisation entscheiden“.18 Verheiratet ist sie seit 2019 mit Sellner. Die Wege sind kurz, die Verbindungen eng. Keine Überraschung, dass die IB-Standardwerke Kontrakultur von Mario Müller und Identitär! von Martin Sellner im Antaios Verlag von Götz Kubitschek erschienen. In beiden Werken erscheint so auch das IfS um ­Kubitschek als ein zentraler Identifikationspunkt für den Aufbau der Identitären Bewegung, für ihre Schulungen und Vernetzungen. Der Sitz des IfS in Schnellroda sei „zu einer Chiffre für eine Neue Rechte geworden, die als Impulsgeber kommender Veränderungen nicht nur denkt und liest, sondern sich auch vernetzt und handelt“, schreibt Mario Müller und schwärmt von zweimal jährlich schnell ausgebuchten Sommer- und Winterakademien für je „150 junge Menschen aus dem 16 Vgl. https://www.einprozent.de/brief-von-goetz-kubitschek/ [08. 06. 2020]. 17 Ebd. 18 Yannick Noe 2017: Brittany Pettibone im Interview. In: Arcadia 01, 8.

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gesamten Widerstandsmilieu“. Es ­seien drei schlaflose Tage und Nächte mit langen Vorträgen und Debatten, die zu neuen Bekanntschaften führten. „Wer an einer der Akademien teilgenommen hat, kehrt mit aufgeladenen Batterien zurück in die Stadt“, schreibt Müller.19 Dieses Fazit zieht auch Björn Höcke. Der weit rechte AfD-Landtagsfraktionsvorsitzende und Landeschef aus Thüringen kommt gern in die sachsen-anhaltinische Provinz. In einem Video des IfS bezeichnet Höcke 2015 Schnellroda als „eine Oase der geistigen Inspiration“ und erklärt, dass die Lektüre von IfS-Materialien „geistiges Manna“ für ihn sei. In der tiefsten Provinz, von einem siebenhundert Jahre alten Rittergut aus führen Ellen Kositza und Götz Kubitschek ihre Trutzburg gegen die egalitäre Totalität. Im Mai 2000 hatte Kubitschek zusammen mit Karlheinz Weißmann das IfS gegründet. In der Jungen Freiheit führte Kubitschek am 21. April 2000 aus: Wenn wir uns ganz ohne Eitelkeit die Frage stellen, was wir mit unseren Vorträgen, Büchern und Zeitungsartikeln treiben, lautet die Antwort: Wir beteiligen uns an einem Spiel. Das

bedeutet: Obwohl wir selbst unsere Arbeit sehr ernst nehmen, werden wir derzeit nicht wirk-

lich gebraucht. Unsere vollkommen abgesicherte Gesellschaft wird durch unsere Warnrufe

und Forderungen nicht berührt [doch das würde] nicht immer so bleiben; weil es in meiner

Generation sehr, sehr viele Leute gibt, die von d ­ iesem saturierten Spiel die Nase voll haben;

weil wir unser Pulver trocken halten müssen; und weil die Stimmung für uns arbeitet: Es liegt etwas in der Luft.20

Mit Spenden und anderen Einnahmen gelangen der Aufbau des Institutes und der Ausbau des Netzwerkes, wozu unter anderem die Wissenschaftliche Reihe des IfS, das Magazin Sezession und das Portal sezession.de gehören. Alle zwei Monate erscheint das Magazin, das nach eigenen Angaben „4000 Leser“ erreichen soll. Die IfS-Projekte flankiert zudem Kubitscheks Verlag Antaios. Das IfS wird vom Verein für Staatspolitik e. V. um Andreas Lichert getragen, der im Amtsgericht Stendal verzeichnet ist. Seit 2002 ist der Verein als gemeinnützig anerkannt. Die Geschäftsführung des IfS hat seit 2008 Erik Lehnert inne. Nach dem Einzug der AfD in den Bundestag 2017 ist er auch Mitarbeiter des AfD-Bundestagsabgeordneten Harald Weyel. 2014 erlebte das IfS eine interne Krise, der Mitgründer und Vordenker Weißmann verließ das Institut wegen inhaltlicher Dispute mit Kubitschek. Nach der Trennung sagte Weißmann in einem Interview mit der Jungen Freiheit am 21. Dezember 2016, Kubitschek sei „eigentlich kein politischer Kopf“. Da „verwechselt jemand Literatur mit Staatslehre und Ästhetik mit Politik. Was selbstverständlich fatale Konsequenzen 19 Müller 2017, 260. 20 Dieter Stein 21. 04. 2000: Gründung im Mai – Ein Gespräch mit Götz Kubitschek über das geplante „Institut für Staatspolitik“. In: Junge Freiheit.

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nach sich zieht, wenn der betreffende trotzdem Politikberatung treibt“.21 Doch die führenden Kader der IB schätzen Kubitschek und seine engen Mitstreiter gerade wegen dieser Vermischung des Politischen und Privaten, des Literarischen und Aktionistischen. Martin Sellner verheimlicht seine Begeisterung nicht und betont: „Die Sezession und die Leute um Kubitschek waren die einzigen Leitlinien ­zwischen feigem Mainstream und blindem Extremismus“.22 Längst gehört der Schwärmer zu den Stammautoren von sezession.de. Er schreibt auch für das Magazin Compact. In dem von Jürgen Elsässer verantworteten Monatsmagazin hat Martin Sellner eine Kolumne: Sellners Revolution. In der Aprilausgabe 2018 führt er unter dem Titel Die Mädels müssen ran! aus, dass das „starke Geschlecht in Jahrzehnten der Verweichlichung und Verweiblichung ohne männliche Vorbilder erzogen und von den Medien weichgespült“ worden sei, so dass sie der „Brutalität und Gewalt“ von Afrikanern „nichts entgegenzusetzen“ hätten, behauptet er. Es sei so auch kein Wunder, dass immer mehr Frauen zu der IB stießen: „Sie spüren instinktiv, wer sie in Notfällen verteidigen kann“.23 Die enge Nähe zu dem seit 2010 erscheinenden Magazin hatte sich früh angebahnt. Im September 2016 widmete das Magazin der IB ein mehrseitiges Dossier. Neben Sellner als Interviewpartner und Autor findet sich auch Alina Wychera, die unter ihrem Künstlerinnamen Alina von Rauheneck auftritt – eine der wenigen Frauen aus der IB. Sie will viel für „die Bewegung geopfert“ haben und nahezu bei „jeder Aktion“ dabei gewesen sein. In ihrem Blog sammelt die gelernte Goldschmiedin, die Sprachwissenschaften in Wien studiert, „Lyrik, Malerei, Fotografie“, „was meine Seele berührt“, schreibt sie. „Das Schöne zu schätzen und zu bewahren, aber auch Neues zu schaffen, ist sicherlich ein identitärer Aspekt“. Gern inszeniert sie sich mit verträumtem Blick in einsamer Landschaft, leeren Räume und alten Ruinen. Als „Identitäres Postergirl“ bezeichnete prompt die Welt am Sonntag die Aktivistin.24 In Compact stellte die Redaktion sie unlängst in der Rubrik Schöne des Monats erneut vor. Links oder rechts: Diese politischen Klassifizierungen hält Jürgen Elsässer, einst vom Kommunistischen Bund und den Antideutschen kommend, für obsolet. Er sehe sich heute selbst eher in der Tradition von Wilhelm Tell, wie er sagt. In der Compact-Spezialausgabe Zensur in der Presse erklärt er: Die heutige Gesellschaft ähnelt damit wieder den früheren Jahrhunderten. Auf der einen Seite stehen die supranationalen Dynastien, auf der anderen Seite das in allen Schichten entrechtete

Volk. Damals waren es die Dynastien des Adels wie die Windsors, Habsburger und Romanows, 21 Karlheinz Weißmann 21. 12. 2015: „Sonst endet die AfD als ,Lega Ost‘“. In: Junge Freiheit. Online: https:// jungefreiheit.de/debatte/interview/2015/sonst-endet-die-afd-als-lega-ost/ [08. 06. 2020]. 22 Siehe Sellner 2017, 178. 23 Martin Sellner 2018: Sellners Revolution. „Die Mädels müssen ran!“. In: Compact 04, 65. 24 Peter Praschl 26. 06. 2016: Feier des Profanen. In: Welt am Sonntag, 58.

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heute sind es die Dynastien des Geldes, die Rockefellers und Co. Das Volk blutet, heute wie

damals. Aber es kämpft. Wir kennen seine Helden aus den Geschichtsbüchern: Das waren etwa

Robin Hood, Klaus Störtebecker, Thomas Müntzer und Wilhelm Tell. Die waren weder links

noch rechts, das gab es damals nicht. Sie waren einfach für das Volk: für uns da unten, gegen die da oben 25.

Die für sich neu entdeckte Kategorie benennt er überdeutlich – „das Volk“. Das knapp siebzig Seiten starke Magazin von Elsässer erscheint in der Compact-Magazin GmbH. Deren Geschäftsführer ist der Verleger Kai Homilius. Seit dem 20. Juli 2011 ist sie mit Sitz in Werder an der Havel beim Amtsgericht Potsdam eingetragen. Schon 2013 konnte Elsässer verkünden, „in den letzten beiden Jahren die Auflage, auf 30 000 verdreifacht“ zu haben. Im Editorial der Compact-Septemberausgabe von 2013 erklärte er in Anlehnung an einen Satz von Karl Marx: „Die schweigende Mehrheit kann die Verhältnisse zum Tanzen bringen, wenn sie ihre Stimme wiederfindet. Compact ist ihr Lautsprecher, weil wir drucken und verbreiten, was andere nicht zu schreiben wagen“. 2014 lag die Auflage bereits bei 40.000 Exemplaren. Nach eigenen Angaben für Werbekunden hat das Magazin angeblich sogar eine Auflage von 75.000 Heften und erreiche 375.000 Leser, so die Daten auf der Webseite im Juni 2018 – beinahe eine Verdoppelung, während andere Zeitungen und Magazine mit sinkenden Auflagen zu kämpfen haben? Die Anzeigenpreise reichen von einem kleinen Kasten für 645 Euro bis zu einer Doppelseite für 8250 Euro; ein Anzeigenkunde: der weit rechte Kopp-Verlag, der auch mit Verschwörungstheorien erfolgreich aufwartet. Die ­Themen des Magazins sind die ­Themen des selbsternannten Widerstandsmilieus. Mit Empörung tragen die Autoren ihre Positionen vor: Das reicht von „Muttis“ – gemeint ist Bundeskanzlerin Angela Merkel – „gesteuerter Flüchtlingskrise“ über die von Muslimen gezielt vorangetriebene „Islamisierung“ Deutschlands und Europas bis hin zur „Homolobby“, die die Gesellschaft „verschwulen“ wolle, und zu den Feministinnen, die angeblich eine „Hexenjagd“ gegen Männer betrieben. Der Ton des Magazins kommt an – auch im Internet. Zwei Millionen Webseitenbesucher im Monat will das Magazin haben und zehntausende Aufrufe bei YouTube. Seit 2015 ist dort Compact TV online, inzwischen in einem neuen Format. Jeden Sonntag soll der YouTube-Kanal im Schnitt 35.000 Besucher haben. 2016 stellte Martin Sellner bei Compact Live die Identitäre Bewegung ausführlich vor. Unter Applaus wurden dort mehrere Aktivisten begrüßt, die an der Besetzung des Brandenburger Tors beteiligt gewesen waren. Als „neue Helden“ bezeichnet Elsässer sie und erklärt, die IB zeige, dass es doch noch eine „deutsche Jugend“ gebe, die das Ziel habe, das „deutsche Volk als deutsches Volk“ zu 25 Jürgen Elsässer 2016: In der Tradition von Wilhelm Tell. In: Compact Spezial 9 – Zensur in der BRD, 54.

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erhalten. Bei weiteren Konferenzen des Magazins tritt ­später das „lächelnde Gesicht der Neuen Rechten“, so Compact über Sellner, auf. Der metapolitische Ansatz der „neuen Helden“ führt indes nicht zur völligen Abkehr von der AfD. Zu der Partei bestehen bis hin zu ihren Fraktionen einzelne enge Beziehungen. Die Schilder sind im einheitlichen Farbdesign gehalten: rote und schwarze Buchstaben auf weißem Grund. In Halle 3 der Leipziger Buchmesse gehen Sympathisant*innen des Antaios Verlages mit den Plakaten durch die Gänge ­zwischen den Ständen. „Wer schreit, hat Unrecht“, tragen sie als eine Botschaft vor sich her, ganz so, als wenn nicht gerade sie lautstarke Parolen gegen den Protest skandiert hätten. Eine weitere Botschaft: „Meinungskorridore? Sind uns zu eng!“, womit gegen eine vermeintlich staatliche Vorgabe protestiert werden soll, wonach nur bestimmte Meinungen geäußert werden dürften. Zugleich wollen sich die Demonstrierenden als Verfechter*innen der Meinungsfreiheit gerieren, obwohl sie das erklärte Ziel haben, die anderen Meinungen in der Gesellschaft zu dominieren. Es passt in das Konzept der Neuen Rechten, Begriffe umzudeuten und das Täter-OpferVerhältnis umzudrehen. Mit dabei sind an jenem Oktobersamstag 2017 als Plakattragende und Provozierende Aktivist*innen der Identitären Bewegung. Unter ihnen ist auch eine der Töchter des Verlagschefs Kubitschek. Im „Streitgespräch“ mit Alexander Wallasch bei Tichyseinblick.de hatte Kubitschek bereits im Jahr zuvor zur IB erklärt: „Wäre ich zwanzig, fänden Sie mich auf dem Brandenburger Tor!“ Doch nun sei es seine Aufgabe, „für die Aktivisten ein finanzielles, juristisches, publizistisches und emotionales Auffangnetz knüpfen zu helfen“. Das Monatsmagazin selbst richtet sich nach eigener Darstellung an eine „liberal-konservative Elite“; eine Zielgruppe, die genug habe vom bevormundenden Mainstreamjournalismus. Im Interview sagt Kubitschek, dass er auch versuche, die ­Theorie für ihr Handeln zu liefern, etwa mit seinem Schlüsseltext Provokation, der 2016 in seiner Textsammlung Die Spurbreite des schmalen Grats 2000 – 2016 erneut aufgelegt wurde. Darin findet sich sein Bekenntnis: Wir halten nicht viel von langwierigen Begründungen, von Herleitungen, von der systematischen Stimmigkeit unseres Handlungsantriebs. „Diskussion ist der Name des Todes, wenn er

beschließt, inkognito zu reisen“, sagt Donoso Cortés. Schaut Euch doch um! Was gibt es da

noch zu fragen und zu quatschen? Uns liegt nicht viel daran, dass Ihr unseren Vorsatz versteht.

Wozu sich erklären? Wozu sich auf ein Gespräch einlassen, auf eine Beteiligung an einer Debatte?

Und er antwortet selbst: „Nein, diese Mittel sind aufgebraucht, und von der Ernsthaftigkeit unseres Tuns wird Euch kein Wort überzeugen, sondern bloß ein Schlag ins Gesicht.“ 26 Diese Kriegserklärung an eine offene, gesprächsorientierte Gesellschaft, die im Widerstreit 26 Götz Kubitschek 2007: Provokation. Schnellroda: Edition Antaios, 30.

Reaktionärer Klan

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der Ideen zu einem Konsens findet, spitzt Kubitschek noch zu: „Unser Ziel ist nicht die Beteiligung am Diskurs, sondern sein Ende als Konsensform, nicht ein Mitreden, sondern eine andere Sprache, nicht der Stehplatz im Salon, sondern die Beendigung der Party“. Diesen Satz hebt der IB -Aktivist Mario Müller in seinem Buch Kontrakultur in gelben Buchstaben auf schwarzem Grund noch einmal hervor. Das Ziel ­dieses rechten Milieus ist damit benannt: die Zerstörung der demokratischen Kultur, das Ende einer liberalen Gesellschaft.

Andrea Hübler

Politischer Klimawandel und seine Folgen

Seit 2014 hat sich eine Stimmung Bahn gebrochen, die den politischen Diskurs, die parlamentarische Parteienlandschaft vom Gemeinderat bis zum Bundestag und gesellschaftliche Konfliktlagen veränderte. Mit den Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida), einer sich zunehmend völkisch-nationalistisch positionierenden Alternative für Deutschland (AfD), mit Antiasylinitiativen bei Facebook und auf den Straßen und mit an Resonanz gewachsenen neurechten Medien, Vereinen, Stiftungen, und Verlagen hat eine gesellschaftliche Entwicklung eingesetzt, in deren Verlauf die Situation für Betroffene von Rassismus, Antisemitismus und weiteren Ungleichwertigkeitsvorstellungen zunehmend bedrohlicher wird. Und auch diejenigen, die sich für Pluralität, Vielfalt, Humanität und Gleichberechtigung aussprechen und einsetzen, geraten dadurch in den Fokus. Diese Entwicklung hat die Arbeit der Opferberatung Support der Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA ) Sachsen e. V. stark verändert.

1. Was ist die Arbeit der Opferberatung? Eine spezialisierte Opferberatung für Betroffene rechtsmotivierter, rassistischer und antisemitischer Gewalt begann sich Ende der 1990er Jahre in den ostdeutschen Bundesländern, in Berlin schon davor, zu entwickeln. Grund dafür waren die Erfahrungen massiver Gewalt durch Neonazis, rechte Cliquen und organisierte Kameradschaften.1 Betroffen waren Migran­t*innen, Geflüchtete, Wohnungslose, Linke und nichtrechte Jugendliche, wie Alternative, Hiphopper*innen, Punks, Hippies – kurzum alle, die sich der rechten Dominanz 1 Allein in den 1990er Jahren wurden in Sachsen mindestens zehn Menschen Opfer rechts- oder rassistisch motivierter Morde gezählt: 31. 03. 1991 Jorge Gomondai, Dresden; 11. 10. 1992 Waltraud Scheffler, Geierswalde; 19. 02. 1993 Mike Zerna, Hoyerswerda; 28. 05. 1994 Klaus R., Leipzig; 25. 05. 1995 Peter T., ­Hohenstein-Ernstthal; 08. 05. 1996 Bernd Grigol, Leipzig; 23. 11. 1996 Achmed Bachir, Leipzig; 04. 07. 1998 Nuno Lourenco, Leipzig; 03. 10. 1999 Patrick Thürmer Hohenstein-Ernstthal vgl. https://www.zeit.de/ gesellschaft/zeitgeschehen/2018 – 09/todesopfer-rechte-gewalt-karte-portraet [08. 06. 2020]. Hinzu kommen weitere Verdachtsfälle: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-09/rechtsxtremismustodesopfer-gewalt-verdacht [07. 06. 2020].

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in den Vierteln, Dörfern, Jugendclubs, Schulen und auf der Straße verweigerten.2 Diese Erfahrungen wurden jedoch kaum ernst genommen – weder durch Polizei, Justiz, Medien, Politik oder Schule. Die Betroffenen hingegen mussten sich rechtfertigen für vermeintliche Provokationen durch ihr Aussehen oder Auftreten. Aus politischem Engagement und sozialpädagogischen Ansätzen sowie den Erfahrungen von Täter-Opfer-Umkehr und Viktimisierungsprozessen entstanden erste Beratungsstellen. Grundsatz der Arbeit von Beginn an war, parteilich an der Seite der Betroffenen zu stehen, ihre Perspektive ernst zu nehmen und dieser in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen. Seit nunmehr zwanzig Jahren beraten, begleiten und unterstützen die spezialisierten Beratungsstellen Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, setzen sich für deren Belange ein, betreiben ein unabhängiges Monitoring und sensibilisieren für Voraussetzungen, Folgen und die Dimension rechter Gewalt.

2. Was ist und wie wirkt rechtsmotivierte Gewalt? Rechte Gewalt unterscheidet sich von anderen Gewaltformen. Auslöser ist kein persönlicher Konflikt, sondern die tiefverankerte Vorstellung, dass Menschen aufgrund (zugeschriebener) Merkmale nicht gleich viel wert s­ eien. Die Täter*innen handeln aus einer Einstellung heraus, die Menschen zum Beispiel aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft oder auch wegen ihrer politischen Einstellung abwertet und/oder als Feind definiert. Rechte Gewalttaten reflektieren gesellschaftlich verbreitete Ausgrenzungsideologien: Rassismus, Antisemitismus, Sozialdarwinismus, Homo- und Transphobie. So sind Menschen betroffen, die von den Tätern als Geflüchtete, Migrant*innen, Muslim*innen, als jüdisch, als Anhänger*innen von nichtrechten, alternativen Jugendkulturen, als politische Gegner*innen, als Homo-, Inter- oder Transsexuelle, als Wohnungslose oder als Menschen mit Behinderungen wahrgenommen werden. Rechte Angriffe wirken auf drei Ebenen: Zuerst richtet sich die Tat gegen das einzelne Individuum. Auf der zweiten Ebene richtet sich rechte Gewalt gegen die Gruppe der Betroffenen. Diese Gruppe erhält das Signal, dass sie verachtet wird und in der Gesellschaft nicht erwünscht ist. Auf diese Weise wird Angst und Unsicherheit über das betroffene Individuum hinaus erzeugt. Auf der dritten Ebene ist rechte Gewalt gegen die Grund- und Menschenrechte adressiert. Sie ist deshalb immer auch ein Angriff auf die Grundlagen unserer Demokratie. 2 Andrea Hübler 2014: Rechte Dominanz gegen Nichtrechte, Alternative und politisch Aktive. Definition, Ausmaß und Folgen. In: Kulturbüro Sachsen (Hg.): Politische Jugendarbeit vom Kopf auf die Füße. O. A.: Dresden, 30 – 39.

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Täter*innen rechter Gewalttaten sind keineswegs ausschließlich überzeugte oder organisierte Neonazis oder extreme Rechte mit einem geschlossenen Weltbild. Die Angreifer*innen haben aber eine dezidiert rechte Orientierung oder zumindest Fragmente einer rechten Ideologie verinnerlicht, die für die Begehung der Tat und die Auswahl der Betroffenen ausschlaggebend sind. Durch die ideologisch grundierte Selbstlegitimation ist das Unrechts- und Schuldbewusstsein der Täter*innen gering, oft empfinden sie ihre Tat gar als notwendige und gerechtfertigte Umsetzung eines „Volkswillens“.3

3. Politischer Klimawandel Als im Herbst 2013 in Schneeberg bis zu 1500 Menschen gegen die Unterbringung von Geflüchteten auf die Straße gingen, war das der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die sich bereits abgezeichnet hatte. Thilo Sarrazins 2010 erschienenes Buch mit dem programmatischen Titel Deutschland schafft sich ab kann als ein Startpunkt der Diskursverschiebung betrachtet werden.4 Sarrazin erhielt für seine antimuslimischen, völkisch-rassistischen, sozialdarwinistischen Thesen Applaus in gefüllten Hallen und landete mit dem Buch auf den Bestsellerlisten. In der Debatte darum und im Buch selbst finden sich bereits alle Anlagen einer neurechten Argumentation, wie wir sie heute kennen: der kalkulierte Tabubruch, Meinungsfreiheit gegen vermeintliche Sprechverbote, die Figuren der „Überfremdung“, des „großen Austauschs“ oder der „Islamisierung“ sowie die Notwendigkeit, das „Europa der Vaterländer“ vor einer Invasion zu verteidigen. Im Jahr 2013 begann eine oft vorurteilsbeladene und teilweise offen rassistisch geführte Debatte über Asylsuchende. Zu ­diesem Zeitpunkt noch von der Nationaldemokratischen Partei Deutschland (NPD) initiierte Facebook- und Bürgerinitiativen starteten Unterschriftensammlungen und Kundgebungen gegen die Unterbringung Geflüchteter. Die NPD verfehlte 2014 trotz d ­ ieses Themas im Wahlkampf den Wiedereinzug in den Landtag um knapp neunhundert Stimmen. Das Wähler*innenpotenzial der NPD schöpfte inzwischen auch die konkurrierende AfD ab. Ab Herbst 2014 fanden sich Facebook-Gruppen wie „Nein zum Heim“ oder „… wehrt sich“ allerorten zusammen, wöchentliche Demonstrationen sprossen, vor allem im Fahrwasser von Pegida, wie Pilze aus dem Boden.5 Eine massive Zunahme rassistischer Gewalttaten war die Folge, denn Abwertung und Ausgrenzung sind dafür der ideale Nährboden. Ab Sommer 2015 wurde eine Dynamik sichtbar, 3 Vgl. Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e. V. (VBRG) 2015: Qualitätsstandards für eine professionelle Unterstützung. O. A.: Berlin, 4. 4 Vgl. Thilo Sarrazin 2010: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. München. 5 Vgl. Andrea Hübler 2015: PEGIDA – ein Aufstand von Rechts. Online: http://www.weiterdenken.de/ de/2015/01/16/pegida-ein-aufstand-von-rechts [08. 06. 2020].

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Abb. 1  Rechtsmotivierte Gewalttaten in Sachsen z­ wischen 2009 und 2018, hier Anzahl der Gewalt­ taten mit den Tatmotiven „Rassismus“ und „Gegen politische Gegner*innen“. Zur Statistik und Zählweise der Opferberatung Support des RAA Sachsen e. V.: https://www.raa-sachsen.de/support/ statistik/wie-wir-zaehlen [25. 03. 2021]

die zuletzt in den 1990er Jahren zu beobachten gewesen war. Täglich fanden Demonstrationen gegen die Aufnahme Geflüchteter statt.6 Turnhallen, die zur Unterbringung vorgesehen waren, gar ankommende Busse wurden blockiert.7 Immer wieder kam es zu bedrohlichen Aufläufen von Asylfeinden vor Unterkünften. Hier wurde bereits das Bündnis aus „Wutbürgern“, Neuen Rechten und Neonazis sichtbar, das letztendlich in Chemnitz Anfang September 2018 öffentlich gemeinsam demonstrierte.8 Und auch politische Gegner*innen, darunter Journalist*innen, Bürgermeister*innen oder Lokalpolitiker*innen, Engagierte in der Flüchtlingshilfe, Menschen, die sich gegen Rassismus einsetzen, gerieten in dieser aufgeladenen, feindseligen Stimmung in den Fokus: eskalierte Bürgerversammlungen, Bedrohungen, Angriffe und Anfeindungen gegen „Volksverräter“ und „Lügenpresse“. Dieser Anstieg setzte sich in den Folgejahren fort und erreichte 2015 seinen vorläufigen Höhepunkt. Mit der zunehmenden Gewalt suchten mehr Betroffene Unterstützung, vor allem Geflüchtete. Fälle von Retraumatisierung und starke psychische Belastungen spielten nun eine 6 Vgl. zur Häufigkeit der Demonstrationen: https://www.rechtes-sachsen.de [06. 06. 2020]. 7 Instruktiv dazu allein die Berichterstattung zum sächsischen Clausnitz. Vgl. stellvertretend Stefan Locke 21. 02. 2016: Die Flüchtlinge hatten sich Ruhe erhofft. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 2. 8 Vgl. Konrad Schuller 03. 09. 2019: Unter allen Umständen die Kollision verhindern. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.

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verstärkte Rolle. Aber auch Migrant*innen, die schon länger in Sachsen lebten, arbeiteten oder studierten, insbesondere Muslim*innen suchten Beratung, zum Beispiel Frauen, die aufgrund ihres Kopftuches beleidigt oder angespuckt wurden. Anfeindungen, Beleidigungen und Bedrohungen im Alltag, in der Straßenbahn, beim Einkaufen oder in der Nachbarschaft sind seither an der Tagesordnung, ob Aufforderungen, das Land zu verlassen im Briefkasten, regelmäßige Anzeigen wegen Ruhestörung oder Beschwerden beim Vermieter, um dezentral untergebrachten Familien das Leben schwer zu machen. Diskriminierung und rassistisches Mobbing in Kita oder Schule spielen eine zunehmende Rolle. Angefeuert werden diese Handlungen durch rassistische Narrative, die durch Pegida oder neurechte Medien propagiert werden: Schweinefleisch solle verboten werden, Weihnachten dürfe nicht mehr gefeiert werden, Gewalt an Schulen sei durch Geflüchtete an der Tagesordnung, Krankheiten würden verbreitet. Gewalttaten sind immer nur die Spitze des Eisbergs. Die Menschen, die Unterstützung wegen eines Angriffs suchen, haben zumeist über eine lange Geschichte von Anfeindungen zu berichten. Zweifellos hat sich mit der Diskursverschiebung nach rechts ein Klima des Alltagsrassismus etabliert, der für viele Betroffene eine dauerhafte psychische Belastung darstellt.

4. Nichts mehr wie zuvor 2015 kam es in zahlreichen sächsischen Städten, von Freital über Dresden, Heidenau, Bautzen, Wurzen, Leipzig bis Chemnitz zu besonders heftigen Ausbrüchen rassistischer und rechter Gewalt. In ­diesem Umfeld der Hetze und eskalierender Gewalt radikalisierten sich in atemberaubender Geschwindigkeit sowohl Einzelne als auch ganze Gruppen. So verurteilte Anfang März 2018 das Oberlandesgericht Dresden die Gruppe Freital nach einjähriger Prozessführung als rechtsterroristische Vereinigung. Mehrere Sprengstoffanschläge, versuchter Mord und gefährliche Körperverletzung gingen auf ihr Konto. Die Gruppe hatte ­zwischen Juli und November 2015 mindestens fünf Anschläge verübt: auf das Auto eines Stadtrats der Linken, auf Wohnungen Geflüchteter in Freital, auf ein alternatives Wohnprojekt in Dresden. Bereits im März 2015 begannen Proteste gegen die Unterbringung von Asylsuchenden im ehemaligen Hotel Leonardo in Freital. Die Situation spitzte sich weiter zu, bis in der letzten Juniwoche täglich mehrere hundert Rassist*innen die Unterkunft im ehemaligen Hotel belagerten. Die Zahl der Angriffe stieg in dieser Zeit rasant. Mit Nino K. stand ab Januar 2018 ein „Einzeltäter“ 9 vor dem Dresdner Landgericht. Ende August 2018 wurde er zu fast zehn Jahren Haft unter anderem wegen versuchten 9 Der Begriff des Einzeltäters ist irreführend. Auch wenn ein Täter allein handelt, so bezieht er sich dennoch auf ein diskursives Umfeld, auf eine Ideologie und fühlt sich einer Bewegung zugehörig, ohne in

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Mordes verurteilt. Er hatte im September 2016 Rohrbomben an einer Moschee sowie am Kongresszentrum in Dresden zur Detonation gebracht. In der Moschee hatte sich die Familie des Imams aufgehalten, im Kongresszentrum wurde wenige Tage s­ päter, anlässlich des 3. Oktober, der Bundespräsident erwartet. Nino K. war regelmäßiger Pegida-Gänger, auch auf der Bühne hatte er gesprochen.10 Im März 2020 verurteilte das Oberlandesgericht Dresden acht Männer dafür, mit Revolution Chemnitz eine rechtsterroristische Vereinigung gebildet zu haben. Im September 2018 schlossen sie sich zusammen, um tödliche Anschläge zu begehen. So sollen sie unter anderem geplant haben, am 3. Oktober 2018 in Berlin „einen bürgerkriegsartigen Aufstand anzuzetteln“.11 Ein Teil der Beschuldigten war bereits am 14. September 2018 als „Bürgerwehr“ aufgetreten und hatte unter anderem Migrant*innen attackiert. Vorausgegangen waren in den zwei Wochen zuvor Demonstrationen von AfD, Pro Chemnitz und Pegida mit mehreren tausend Rassist*innen, Hooligans und Neonazis, bei denen die Tötung eines Menschen instrumentalisiert worden war, um gegen Geflüchtete, Migrant*innen, Linke und Medien zu hetzen und Gewalt auszuüben. Fünfzig Angriffe zählte der RAA in diesen Tagen. Geflüchtete wurden auch durch die Chemnitzer Innenstadt gejagt, eine Tatsache, die wochenlang durch semantische Diskussionen, angestoßen durch den damaligen Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, verharmlost wurde. Diese drei Fälle stehen exemplarisch für eine gefährliche Entwicklung. Vor dem Hintergrund des behaupteten „Großen Austauschs“ beschwören neue wie alte Rechte den unmittelbar bevorstehenden Bürgerkrieg. Sie selbst wähnen sich in einer Notwehrsituation, die gewaltsamen Widerstand gegen die „Invasoren“ von außen und die Feind*innen im Inneren legitimiert. Wenn dann eine ­solche Propaganda und rechtsmotivierte Gewalttaten nicht ernst genommen, sondern ausgeblendet, verharmlost oder gerechtfertigt werden, dann ist die Bildung solcher Strukturen und Anschläge jederzeit möglich. 9. Oktober 2019 in Halle: Ein bewaffneter Antisemit und Rassist versuchte zu Jom ­Kippur, eine Synagoge in Halle zu stürmen. Als dies nicht gelang, wählte er ein Dönerlokal als Ziel. Zwei Menschen wurden an dem Tag getötet, weitere schwer verletzt. Gerade einmal vier Monate ­später, am 19. Februar 2020 in Hanau: Ein Rassist erschoss neun Menschen in Shisha­bars und einem Kiosk, danach seine M ­ utter und sich selbst. Beide Täter machten ihre Anschläge und Motive nach dem Vorbild des Attentäters von Christchurch öffentlich, mit Helmkamera und Livestream in Halle und einem Pamphlet im Internet in Hanau. Beide einer Gruppe organisiert zu sein. In der Kritik steht auch, dass mit dem Begriff des Einzeltäters oftmals eine Entpolitisierung und Pathologisierung rechten Terrors einhergehe. 10 Video der Rede bei YouTube, veröffentlicht am 09. 12. 2016. Online: https://www.youtube.com/ watch?v=1fN9rQqpWe4 [07. 06. 2020] 11 Meldung MDR Sachsen, 25. 06. 2019. Online: https://www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/general​ bundesanwalt-anklage-revolution-chemnitz-100.html [07. 06. 2020].

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waren angetrieben durch die Ideologie des „Großen Austauschs“, durch tiefen Antisemitismus, Rassismus und Misogynie. Die Gefahr rechten Terrors ist spätestens seit der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) mehr als deutlich sichtbar, und diese Gefahr ist in verschiedensten Erscheinungsformen hochaktuell:12 vom Anschlag im Münchner Olympia-Einkaufszentrum im Juli 201613 über die Silvesternacht zu 2019, als ein Fünfzigjähriger in Bottrop und Essen sein Auto in größtenteils migrantische Menschengruppen steuerte,14 bis zum Attentat auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der am 2. Juni 2019 mit einem Kopfschuss auf der Terrasse seines Wohnhauses hingerichtet wurde. In der „Oldschool Society“ und der „Gruppe S.“ fanden sich Gleichgesinnte aus verschiedenen Szenen, Hintergründen und Regionen über das Internet in Chatgruppen zusammen und planten Anschläge und Morde. Die Ideologie des „Großen Austauschs“ hat neue Täter*innentypen hervorgebracht: Neben gut organisierten Neonazis radikalisieren sich Einzelne über Netzwerke in Foren, Chats und Imageboards oder finden sich in zunächst digitalen Gruppen zusammen. Hinzu kommen mehrere Fälle von extrem rechten Umtrieben in den Sicherheitsbehörden. Exemplarisch sei hier nur verwiesen auf Franco A., den Bundeswehrsoldaten, bei dem 2017 eine Waffe und eine Liste mit Namen von bekannten Politiker*innen gefunden wurde,15 auf das „Hannibal Netzwerk“ sowie auf „Nordkreuz“, die sich mit Feindeslisten, Munition und Leichensäcken auf einen Tag X vorbereiteten,16 auf extrem rechte Umtriebe beim Kommando Spezialkräfte (KSK ) der Bundeswehr, auf den NSU 2.0, der Drohbriefe verschickte und dessen Spur in die hessischen Polizeireviere führt.17 Die Frage, was nun zu tun sei, erlebt mit jedem neuen Ereignis, jeder schrecklichen Tat, jeder Aufdeckung rechtsterroristischer Strukturen eine erneute Konjunktur. Doch viel verändert hat sich seither nicht. Was fehlt, ist die konsequente Fortführung der Diskussion, 12 Vgl. Matthias Quent 2016: Selbstjustiz im Namen des Volkes. Vigilantistischer Terrorismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 66 (24 – 25). 13 Vgl. Matthias Quent 2017: Ist die Mehrfachtötung am OEZ München ein Hassverbrechen? Gutachten über die Mehrfachtötung am 22. Juli 2016 im Auftrag der Landeshauptstadt München. Online: https:// www.idz-jena.de/fileadmin/user_upload/Gutachten_OEZ_M%C3 %BCnchen_MQuent.pdf [07. 06. 2020]. 14 Vgl. https://www.derwesten.de/staedte/essen/bottrop-silvester-amokfahrer-vor-gericht-habe-die-­ menschen-eingesogen-id225972399.html [07. 06. 2020]. 15 Vgl. https://www.tagesschau.de/inland/franco-a-verfahren-101.html [07. 06. 2020]. 16 N. N. 28. 06. 2019: Schwerpunkt Hannibals Schattenarmee. In: Die Tageszeitung. Online: https://taz. de/!t5549502/ [07. 06. 2020]; oder N. N. 28. 06. 2019: Neuer Verdacht gegen „Nordkreuz“. In: Tagesschau. Online: https://www.tagesschau.de/inland/nordkreuz-ermittlungen-101.html [07. 06. 2020]; und zuletzt: Jörg Köpke 2019: Die rechtsradikale „Kreuz“-Connection und die Bundeswehr. In: Redaktionsnetzwerk Deutschland. Online: https://www.rnd.de/politik/rnd-exklusiv-die-rechtsradikale-kreuz-connectionKXRLVYAEH 5CYDIZOLDY 6HMVC7Y.html [07. 06. 2020]. 17 Vgl. https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2019/februar/nsu-2.0-braune-reviere-braune-kasernen [07. 06. 2020].

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das Hören derer, die betroffen sind, eine konsequente Justiz, die ernst gemeinte Aufnahme in der Politik und eine Kultur der Solidarität. Dass rechtsmotivierte und rassistische Gewalt als Angriff auf die Grundprinzipien einer demokratischen, offenen Gesellschaft besondere Beachtung erfährt, sollte eine Selbstverständlichkeit sein; ebenso, dass rechter Gewalt, Diskriminierung und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit mit Entschlossenheit entgegenzuwirken ist. Doch viel zu oft werden Motive wie Rassismus, Antisemitismus, LGBTTIQ*-Feindlichkeit oder Sozialdarwinismus nicht gesehen, verharmlost oder ausgeblendet. Das wirkt bestärkend für die Täter*innen, die sich ohnehin im Recht wähnen, und sendet an die Betroffenen das Signal, dass sie allein ­seien, ihre Perspektive nicht wichtig sei und sie letztlich kein gleichberechtigter Teil dieser Gesellschaft ­seien. 2013 legte der erste NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages seinen Abschlussbericht vor, mit umfangreichen Empfehlungen unter anderem für Reformen in Polizei und Justiz. Zentral dabei: das Erkennen und Ermitteln rassistischer Motivationen von Straftaten. Nicht zuletzt ist das auch eine Verpflichtung Deutschlands aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Um das Ermitteln und Erkennen sicherzustellen, traten 2015 Gesetzesänderungen und Verwaltungsvorschriften in Kraft. So wurden „rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende“ Beweggründe und Ziele ausdrücklich in den Katalog der Strafzumessungsgründe des § 46 Abs. 2 S. 2 StGB aufgenommen. Doch die Frage, ob die bisherigen Änderungen im Feld der Strafverfolgung tatsächlich Wirkung entfalten, ist bis heute offen. Im durch die Bundesregierung im November 2020 verabschiedeten Kabinettsbeschluss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus ist eine ­solche Studie im Maßnahmenkatalog festgehalten. Nicht allein in der Arbeit der Opferberatung ist festzustellen, dass bei der Strafverfolgung rechtsmotivierter Gewalt noch immer Defizite bestehen.18 Beispiel Chemnitz: Zwischen dem 26. August und dem 1. September 2018 zählte die Opferberatung fünfzig Angriffe, in mindestens der Hälfte der Fälle wurde ermittelt. Der Großteil der Verfahren ist inzwischen eingestellt. Auch die Angriffe auf zwei von Migranten betriebene Lokale sind unaufgeklärt geblieben.19 Für den Angriff auf ein jüdisches Restaurant hat die Generalstaatsanwaltschaft Dresden im Januar 2021, dreieinhalb Jahre ­später, Anklage gegen einen der Täter erhoben. Zahlreiche weitere Beispiele aus der Arbeit der Beratungsstellen nicht nur in Sachsen ließen sich anführen: nicht aufgenommene Anzeigen, Täter-Opfer-Umkehr, Verschleppen von Verfahren, fehlende Berücksichtigung der Tatmotivation bei der Anklage, Ignorieren rassistischer Beweggründe in der Urteilssprechung, weil man keine „Gesinnungsjustiz“ übe. 18 Vgl. https://www.amnesty.org/download/Documents/EUR2341122016GERMAN.PDF [07. 06. 2020]. 19 Vgl. https://www.mdr.de/sachsen/chemnitz/chemnitz-stollberg/einstellung-ermittlungen-zu-angriffenauf-auslaendische-restaurants-100.html [18. 09. 2019].

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Und auch nachdem in Sachsen in nicht einmal fünf Jahren drei rechtsterroristische Gruppen vor Gericht standen, werden rechte Gewalttaten noch immer nicht als das begriffen, was sie sind: motiviert aus der Einstellung, dass nicht alle Menschen gleich viel wert sind. Das Spektrum der Verharmlosung reicht dabei von der Negierung rechter Gewalt 20 über deren Gleichsetzung als „Gewalt, egal von welcher Seite“ bis hin zur Entpolitisierung.21 Es braucht weitere Reformen bei Polizei und Justiz zur Sensibilisierung und zum verbesserten Verständnis von Diskriminierungsformen, Ideologien der Ungleichwertigkeit und rechtsmotivierter Gewalt. Eine entsprechende Schwerpunktsetzung in Aus- und Weiterbildungen ist genauso angezeigt wie die Einbeziehung externer Expert*innen aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft. Diese weiteren Reformen müssen Erkenntnisse umsetzen, die in unabhängigen Untersuchungen gewonnen wurden – zum einen zur Umsetzung und Wirkung der Empfehlungen des ersten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags für eine effektive Strafverfolgung rassistisch motivierter Straftaten, wie vom Deutschen Insti­tut für Menschenrechte (DIMR) gefordert, zum anderen zu den allgemeinen Praktiken und Einstellungen der Polizeibehörden im Hinblick auf die Einstufung und Untersuchung rassistischer Straftaten, wie von Amnesty International empfohlen. Zudem sollte die wissenschaftliche Erforschung rechtsmotivierter Gewalt und insbesondere des Rechtsterrorismus durch die Einrichtung entsprechender Forschungsstellen weiter vorangetrieben werden. Die Erfassung rechtsmotivierter Gewalt muss verbessert, Definitionssysteme von Polizei und Justiz aufeinander abgestimmt und Statistiken regelmäßig veröffentlicht werden. Im Gegensatz zu internen polizeilichen Lagebildern wäre dies ein Beitrag zur Sensibilisierung und adäquaten Problemwahrnehmung in Gesellschaft und Politik. Das sind lediglich Aspekte eines notwendigen, als Querschnittsaufgabe langfristig angelegten Gesamtkonzeptes mit dem Ziel, Ideologien der Ungleichwertigkeit, rechtsmotivierten Gewalttaten, Radikalisierung und rechten Strukturen bis hin zum Rechtsterrorismus entgegenzuwirken. Dazu gehört auch, eine unabhängige, kritische Zivilgesellschaft, die sich für eine offene Gesellschaft der vielen einsetzt, zu fördern und gemeinsam eine Kultur der Solidarität zu etablieren, in der Betroffene gehört und unterstützt werden und Ideologien der Ungleichwertigkeit und rechtsmotivierte Gewalt geächtet werden. Rechte Gewalt, Alltagsrassismus und Anfeindungen gegen all jene, die sich für eine offene Gesellschaft einsetzen, gedeihen in einem Klima der Hetze. Wenn in Reden, Artikeln oder Social Media, in Talkshows und auf Podien, auf Bühnen, Parteitagen oder in Parlamentsdebatten 20 Beispielhaft sei hier auf die Rede des Ministerpräsidenten anlässlich der Chemnitzer Ausschreitungen verwiesen: „Es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagd, es gab keine Pogrome“, aber auch auf den Prozess gegen drei junge Männer wegen der Tötung an Christopher W. am 17. April 2018 in Aue. Vgl. Steffi U ­ nsleber 10. 09. 2019: Warum musste er sterben? In: Die Tageszeitung. Online: https://taz.de/­HomofeindlicheGewalt-in-Aue/!5621565/ [07. 06. 2020]. 21 Vgl. https://www.zeit.de/2018/41/chemnitz-horst-seehofer-rechtsterrorismus-verharmlosung [07. 06. 2020].

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Geflüchtete, Zugewanderte und People of Colour (PoC) aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft oder Religion stigmatisiert und zur Bedrohung stilisiert werden, wenn vielfältige Liebensund Lebensweisen abgewertet und das Streben nach Gleichberechtigung aller verächtlich gemacht wird, wenn Demokratie, Menschenrechte, Presse- und Kunstfreiheit angegriffen werden, dann sind das keine legitimen Positionen im demokratischen Diskurs, sondern ein Angriff auf diesen. Diese Positionen verdienen keine Bühne, sondern lauten Widerspruch. Es geht darum, Haltung zu zeigen und für demokratische Prinzipien und Menschenrechte einzustehen, statt unkritisch alles als Meinungsvielfalt gelten zu lassen. Und es geht darum, Rückgrat zu beweisen gegenüber denjenigen, für die der Grundsatz, dass alle Menschen gleich sind, nichts bedeutet.

TEIL IV: KOMMUNIKATIVE STRUKTUREN UND (GEGEN-)STRATEGIEN

Gerhard Vowe

Wie verändert sich die politische Kommunikation in der Onlinewelt? Sieben Tendenzen des strukturellen Wandels der Öffentlichkeit

1. Einleitung Angesichts der letzten Wahlergebnisse in Deutschland, in den USA oder in Großbritannien kann man sich nur verwundert die Augen reiben. Was ist heute in demokratischen Staaten möglich, was früher undenkbar schien? Eine von vielen Antworten ist: Das alles hat etwas mit grundlegenden Veränderungen der Kommunikation zu tun. Das will ich in dem vorliegenden Beitrag vertiefen und frage: Wie verändert sich politische Kommunikation in der Onlinewelt? Welche Chancen und w ­ elche Risiken für die Demokratie sind damit verbunden? Ich möchte mit der Antwort ein möglichst klares Bild von den Herausforderungen vermitteln, die Digitalisierung für Öffentlichkeit, Politik und Demokratie bedeutet. Was soll unter politischer Kommunikation verstanden werden? Mein Begriff von politischer Kommunikation umfasst: politische Konversation (zum Beispiel sich mit dem Ehegatten darüber streiten, wer der bessere Präsidentschaftskandidat ist), politische Information (zum Beispiel sich mit der Zeitung sachkundig zu machen, was Kandidaten voneinander unterscheidet) und politische Partizipation (zum Beispiel in einer Versammlung das Wort zu ergreifen). Das alles ist politische Kommunikation.1 Was meint Onlinewelt?2 Das ist eine von Onlinemedien geprägte Welt, also von Medien, die Kommunikation auf Basis von vernetzten Computern ermöglichen. Das Spektrum reicht von E-Mails und Messengerdiensten über Suchmaschinen und Webangebote der klassischen Massenmedien bis hin zu Chatbots und Sprachschnittstellen. 1 Martin Emmer, Gerhard Vowe, Jens Wolling 2011: Bürger online. Die Entwicklung der politischen OnlineKommunikation in Deutschland. UVK: Konstanz; Martin Emmer 2005: Politische Mobilisierung durch das Internet? Eine kommunikationswissenschaftliche Untersuchung zur Wirkung eines neuen Mediums. Reinhard Fischer: München. 2 Gerhard Vowe, Philipp Henn (Hg.) 2016: Political communication in the online world. Theoretical approaches and research designs. Routledge: New York.

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Gerhard Vowe

Abb. 1  Oktogon des strukturellen Wandels politischer Kommunikation (Quelle: Eigene Darstellung)

In einer Onlinewelt wird so grundlegend anders politisch kommuniziert, dass man von einem strukturellen Wandel der Öffentlichkeit sprechen kann, also des kommunikativen Raums, der prinzipiell für alle zugänglich ist (public space), von allen beobachtet werden kann ­(public eye) und in dem es um ­Themen von allgemeinem Interesse geht (public interest).3 Der gegenwärtige Wandel hat sich in den letzten fünf Jahren beschleunigt und verstärkt. Dies korrespondiert mit der rasanten Durchsetzung von Web-2.0-Medien, den sozialen Medien, die überall und jederzeit in Gestalt von Smartphones zur Verfügung stehen. Deshalb werde ich die aktuelle politische Kommunikation vergleichen mit der vor circa fünf Jahren. Die wiederum unterscheidet sich deutlich von der politischen Kommunikation vor zwanzig Jahren, als der Siegeszug des Internets begann, und erst recht von der in der Vorinternetzeit.4 Wie bekommt man diesen strukturellen Wandel analytisch in den Griff ? Grundlage meiner Analyse bilden sieben generelle Kommunikationsaspekte, die sich in Fragen fassen lassen: Wer kommuniziert mit wem? Was, wie, wo, wann, womit und wie effizient wird kommuniziert? Die Antworten zielen jeweils auf Akteure, Inhalte, Formen, Räume, Prozesse, 3 Jürgen Gerhards, Friedhelm Neidhardt 1991: Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit. Frage­ stellungen und Ansätze. In: Stefan Müller-Doohm und Klaus Neumann-Braun (Hg.): Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation. Beiträge zur Medien- und Kommunikationssoziologie. Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg: Oldenburg, 31 – 89. 4 Jay G. Blumler 2001: The third age of political communication. In: Journal of Public Affairs 1 (3), 201 – 209; Jürgen Habermas 2008: Ach, Europa. Kleine Politische Schriften XI. Suhrkamp: Frankfurt am Main.

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Techniken und Kosten von Kommunikation. Unter jedem Aspekt wird ein anderer Vektor des Wandels von Kommunikation sichtbar. Diese sieben Tendenzen sind sicherlich nicht die einzigen – darum das offene achte Feld und darum ein Oktogon (Abb. 1). In ihrer Gesamtheit sollen sie den strukturellen Wandel angemessen abbilden.

2. Digitalisierung Erster Aspekt: Womit wird kommuniziert? Wir verständigen uns mittels ­Zeichen, also mit Worten, Bildern, Tönen. Digitalisierung bedeutet im Kern: Immer mehr Z ­ eichen werden in den Code von 0 und 1 überführt – auch Tastsignale und Geruchssignale. Ein immer größerer Anteil unserer Kommunikation wird binär codiert und so übertragen. Durch Digitalisierung können alle Z ­ eichen maschinell verarbeitet werden. Digitalisierung ermöglicht also eine Computerisierung von Kommunikation. Kommunikation wird mehr und mehr durch Computernetze ermöglicht, organisiert und überwacht. Dies ermöglicht eine Algorithmisierung der politischen Kommunikation: Zwischen die Kommunizierenden schieben sich Rechenvorschriften. Dadurch gelingt es Google, Facebook oder Amazon, sich immer präziser auf die individuellen Präferenzen der Nutzer einzustellen – als Empfehlungen, als Ranking oder als Auswahl. Die Anwendung dieser Optionen für die politische Kommunikation steht erst am Anfang. Aber auch jetzt schon verändern sich die Techniken der politischen Kommunikation. Wahlkämpfe waren früher durchweg analog: Plakate, Kundgebungen, Versammlungen, Stände, Hausbesuche, TV-Duelle, Präsenz in der Presse, Telefonanrufe. Das ist alles nicht unwichtig geworden, aber es wird ergänzt und ersetzt durch digitale Instrumente. Wer politisch kommunizieren will, ob rechts oder links, ob oben oder unten, der oder die wird sich vor allem in einer digitalen Welt bewegen müssen. Er oder sie muss deshalb entsprechende Kompetenzen ausbilden, um diese Potenziale besser ­nutzen zu können als die Konkurrenten. Das bietet Risiken für traditionelle Kommunikatoren und Chancen für innovative Kommunikatoren, vor allem für Außenseiter. Die Digitalisierung habe ich an den Anfang gesetzt. Denn sie ist der Treiber des strukturellen Wandels. Digitalisierung verstärkt und beschleunigt die anderen Tendenzen wie Globalisierung. Das wird am beispiellosen Siegeszug global präsenter amerikanischer und chinesischer Internetplattformen in den letzten fünfzehn Jahren unmittelbar deutlich. Hier treibt die Digitalisierung die Globalisierung. Aber Digitalisierung determiniert den Wandel nicht, sie öffnet Optionen – das ist schon Wirkung genug. Jede technische Innovation bietet neue Optionen für Handeln und Erleben, sonst setzt sie sich nicht durch. Die Digitalisierung lässt das Spektrum der Handlungsmöglichkeiten geradezu explodieren – in der alltäglichen Lebensführung, in Produktion und Distribution von Gütern und Dienstleistungen, in Politik, Wissenschaft, Kunst oder

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Religion. Dies geschieht in einer extrem hohen Diffusionsgeschwindigkeit rund um den Globus, in Sprüngen, die man nun „disruptiv“ nennt. Diese Optionen öffnen sich für eine Vielzahl von Situationen, Personen und Organisationen. Wie diese Optionen genutzt werden, wann und von wem, das steht auf einem anderen Blatt. Dafür müssen noch weitere Faktoren hinzukommen, wie Kompetenzen, Gewohnheiten, Motive, Verhaltensweisen der anderen, aktuelle Umstände und Regeln. Die Optionen der Digitalisierung für die politische Kommunikation werden nicht von allen genutzt, aber vor allem von denen, die politische Kommunikation in Zukunft prägen, also von den digital natives. Auch deshalb ist das immer weniger die Kommunikationswelt der digital immigrants. Die Digitalisierung weiter Teile von Information und Kommunikation stellt die politischen Verhältnisse ebenso auf den Kopf, wie sie es mit den wirtschaftlichen oder familiären Verhältnissen tut. Und auch die „analoge“ Kommunikation in Copräsenz verändert sich in einem digital geprägten Umfeld.5

3. Ökonomisierung Der zweite Aspekt betrifft das Verhältnis von Aufwand und Ertrag. Wie effizient wird kommuniziert? Mit Ökonomisierung ist nicht nur Kommerzialisierung gemeint, also dass immer mehr Kommunikationsprozesse von kommerziellen Dienstleistungen durchdrungen werden, dass jemand damit Geld verdienen will. Ökonomisierung ist noch viel mehr: Es verschiebt sich das Verhältnis von Kosten und Nutzen bei Kommunikation. Die Effizienz wird gesteigert. Durch die Digitalisierung streben die Kosten für Kommunikation gegen null, und zwar nicht nur die Kosten für das Equipment, sondern auch für die Übertragung. Und nicht nur finanzielle Kosten, auch zeitliche Kosten: Ruck, zuck ist ein selbstfabrizierter Clip fertig und kann hochgeladen werden. Dies erweitert die Kommunikationsmöglichkeiten eines jeden Einzelnen. Jede Kohorte kann sich viel mehr Kommunikation leisten als der letzte Jahrgang. Für einen Leserbrief an die Regionalzeitung brauchte man früher mindestens eine Stunde, für einen Kommentar unter einem Onlineartikel braucht man höchstens eine Minute. Allerdings steigt der Aufwand, der erforderlich ist, um sich in der Vielzahl von Stimmen Gehör zu verschaffen. Digitalisierung senkt nicht nur die Kosten, sondern steigert auch den Nutzen, etwa durch größere Genauigkeit, Zuverlässigkeit und Geschwindigkeit der Kommunikation. Vor allem ermöglicht sie eine weitgehende Rationalisierung der Kommunikation. Damit ist gemeint: Die Digitalisierung bietet Möglichkeiten für den 5 Friedrich Krotz 2001: Die Mediatisierung des kommunikativen Handelns. Der Wandel von Alltag und sozialen Beziehungen, Kultur und Gesellschaft durch die Medien. Westdeutscher Verlag: Wiesbaden; ders. 2007: Mediatisierung. Fallstudien zum Wandel von Kommunikation. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden.

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Einzelnen, aber auch für Medien oder politische Organisationen, die Kommunikationsprozesse dichter als vorher zu kontrollieren, dann gezielt zu intervenieren und damit den Nutzen zu maximieren. Bei einem Besuch der Onlineredaktion einer Tageszeitung sieht man, wie in Echtzeit darauf reagiert wird, wenn bei einem Artikel die Clickraten herun­ tergehen. Dann wird nachgebessert. Das war früher so nicht möglich. Man verließ sich viel mehr auf Gespür und Erfahrung: Learning by Doing. Tradierte Routinen hatten einen hohen Stellenwert. Heute können Kosten und Nutzen von Kommunikationsoptionen viel präziser umrissen und abgewogen werden. Auch Politiker können den Erfolg von Kommunikationsmaßnahmen exakter als früher messen und aus den Ergebnissen für weitere Kampagnen lernen. Alle Formen von politischer Kommunikation können auf allen Stufen einer ständigen Kontrolle unterworfen und laufend optimiert werden. Das können Sie an der Provokationsstrategie von einigen AfD-Frontleuten deutlich sehen. Rationalisierung in d ­ iesem Sinne ist auf Daten angewiesen – eigene und fremde Daten, etwa zu den Nutzern der Kommunikationsangebote. Denn die Kontrolle von Aufwand und Ertrag muss sich auf Informationen stützen, die einen Soll-Ist-Vergleich ermöglichen. Daraus ergibt sich die Datafizierung 6 als dritte Facette von Ökonomisierung neben Kommerzialisierung (Kommunikationsprozesse werden zu Marktgütern) und Rationalisierung (Kontrolle von Kosten und Nutzen). Denn aus der Kontrolle über fremde Daten haben sich neue Geschäftsmodelle entwickelt. Anbieter verfolgen die Datenspuren der Nutzer und schließen auf deren individuelle Vorstellungen, Einstellungen und Verhaltensweisen. Mit diesen Daten können Computer trainiert werden, so dass sie das Verhalten immer besser voraussagen. Die amerikanischen und chinesischen Plattformbetreiber n ­ utzen die Daten und Algorithmen vor allem dafür, um die Möglichkeiten personalisierter Werbung zu verkaufen. Zwar kann man bei ihnen auch Daten erwerben, die für politische Zwecke sinnvoll sein können, etwa für die Profile potenzieller Wähler, aber dies ist bislang noch eine Marktnische, in der vor allem kleine Unternehmen spezielle Dienstleistungen anbieten, wie bis vor einiger Zeit Cambridge Analytica.7 Aber das wird sich ändern. In Zukunft dürfte es ökonomisch für einen Verlag sehr viel weniger interessant sein, ob jemand bereit ist, für politische Informationen zu zahlen, etwa für ein gedrucktes Nachrichtenmagazin; vielmehr dürfte interessanter werden, ob jemand bereit ist, für die Daten derjenigen zu zahlen, die sich politisch informieren und artikulieren. Dieser Jemand könnte eine Organisation sein, die politisches Marketing betreibt, eine Partei, eine Regierung. Bislang wird die Datafizierung

6 Andreas Hepp 2016: Kommunikations- und Medienwissenschaft in datengetriebenen Zeiten. In: Publizistik 61 (3), 225 – 246. 7 Matthew Rosenberg, Nicholas Confessore, Carole Cadwalladr 17. 03. 2018: How Trump Consultants ­Exploited the Facebook Data of Millions. In: The New York Times. Online: http://www.nytimes. com/2018/03/17/us/politics/cambridge-analytica-trump-campaign.html [08. 06. 2020].

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der politischen Kommunikation noch von den politischen Organisationen selbst vorangetrieben; dabei nehmen rechtspopulistische Organisationen vielfach eine Vorreiterrolle ein.8 Alle drei Facetten von Ökonomisierung bergen Chancen und Risiken für unser demokratisches Gemeinwesen: Einerseits ist es grundsätzlich sinnvoll, den Aufwand zu verringern, um kommunikative Zwecke zu erreichen, also zum Beispiel Streuverluste bei politischen Kommunikationskampagnen zu minimieren. Und die Chancen einer größeren Selbstkon­ trolle sind offensichtlich, wenn es also gelingt, die eigenen kommunikativen Aktivitäten besser zu kontrollieren. Aber die Risiken von Fremdkontrolle sind ebenso offensichtlich, denn dies schränkt ja individuelle Spielräume ein. Und es können auch sehr problematische Zwecke mit verringertem Aufwand erreicht werden: Eine „Stasi 2.0“ ist immer günstiger zu haben. In China werden Kontrollsysteme auf digitaler Basis breitflächig erprobt.

4. Pluralisierung Dritter Aspekt: Wer kommuniziert mit wem? Pluralisierung bedeutet: Die Konstellationen der Akteure nehmen an Vielfalt zu. Plastisch wird dies, wenn man sich politische Ausein­ andersetzungen als ein Kommunikationsnetz aus individuellen, kollektiven und korporativen Akteuren vorstellt.9 Wenn man auf diese Weise Auseinandersetzungen etwa um die Atomkraft oder die Nachrüstung in den 1980er Jahren rekonstruiert, so wird deutlich, dass es in diesen Auseinandersetzungen doch recht übersichtlich zuging. Es gab eine überschaubare Zahl von Sprechern wie Parteien, staatlichen Instanzen, Verbänden, Organisationen der Zivilgesellschaft, die jeweils die Interessen ihrer Klientel langfristig bündelten. Sie alle kommunizierten mittels einiger weniger Medienorganisationen mit ihren Zielgruppen – auch die waren überschaubar und gut einschätzbar. Im Vergleich dazu sind die Netze der politischen Kommunikation etwa zum Thema Migration oder Klimawandel sehr unübersichtlich geworden, weil es vor allem mehr und stärker unterschiedliche Knoten gibt. Es beteiligen sich mehr und stärker unterschiedliche Akteure als aktive Kommunikatoren. Es gibt nicht nur mehr Parteien und Parlamentsfraktionen, sie sind auch unterschiedlicher, wie etwa ein Vergleich der Bundestagsdebatten im Hinblick auf die Tonart zeigt. Und es gibt nicht nur mehr zivilgesellschaftliche Gruppen, sie sind auch unterschiedlicher und kurzlebiger, wie die „Gelben Westen“ zeigen. Sogar einzelnen 8 Andreas Jungherr 2016: Datengestützte Verfahren im Wahlkampf. In: Zeitschrift für Politikberatung (ZPB)/Policy Advice and Political Consulting 8 (1), 3 – 14. 9 W. Lance Bennett, Alexandra Segerberg 2012: The Logic of Connective Action. Digital Media and the Personalization of Contentious politics. In: Information, Communication & Society 15 (5), 739 – 768; ­Wolfgang Schweiger 2017: Der (des)informierte Bürger im Netz. Wie soziale Medien die Meinungsbildung verändern. Springer Fachmedien: Wiesbaden.

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Individuen gelingt es, mittels Onlinemedien Resonanz zu erzeugen, manchmal mit großen Auswirkungen, wie aktuell MeToo oder Fridays For Future belegen.10 Und es gibt nicht nur mehr mediale Plattformen, sie sind auch unterschiedlicher, denn nun spielen international agierende Plattformbetreiber mit. Auch die Multiplikatoren sind unterschiedlicher geworden, wie man an Influencern auf YouTube sehen kann.11 Es ändern sich nicht nur Quantität und Qualität der Knoten, sondern auch die Relationen. Einseitige Kommunikationsbeziehungen werden mit größerer Wahrscheinlichkeit wechselseitig. Denn grundsätzlich kann jeder Akteur vom Hörer zum Sprecher werden, und viel mehr Akteure als früher wollen dies auch. Es gibt nun niedrigschwellige Artikulationsformen wie Liken, Teilen, Kommentieren. Bislang hatten in den Netzen einige zentrale Knoten große Möglichkeiten, Kommunikationsströme zu lenken, zu drosseln oder zu verstärken, vor allem die etablierten Massenmedien. Die können nun auf neuen Wegen umgangen werden. Politiker können sich nun direkt an Bürgergruppen wenden und brauchen nicht erst Journalisten zu gewinnen. Vor allem populistische Spitzenkandidaten sind dadurch in Ämter gelangt, weil sie an den ihnen gegenüber kritisch eingestellten Medien vorbei ihre Zielgruppen gezielt und permanent erreichen konnten (wie Donald Trump, Nigel Farage, Jair Bolsonaro).12 So werden die Netze politischer Kommunikation vielgestaltiger, unübersichtlicher und fluider. Auch die Pluralisierung birgt politische Chancen und Risiken. Sicherlich ist es eine Chance für ein liberal-demokratisches Gemeinwesen, wenn sich für jeden die Möglichkeiten vergrößern, zur Willensbildung beizutragen, auch für einzelne Personen, auch für eher schwache Organisationen. Aber das bedeutet auch, dass die Akteure auf den politischen Flügeln diese Chance n ­ utzen und so die Mitte und damit das Gemeinwesen unter Druck setzen. Wir erleben in vielen Ländern, wie sich dadurch die Polarisierung verstärkt.13 Der Aufstieg des Populismus ist nicht allein durch soziale Netzmedien zu erklären, aber Twitter, Facebook und WhatsApp spielen eine gewichtige Rolle dabei, dass populistische 10 Birte C. Gnau, Eva L. Wyss 2019: Der #MeToo1-Protest. Diskurswandel durch alternative Öffentlichkeit. In: Stefan Hauser, Roman Opilowski und Eva L. Wyss (Hg.): Alternative Öffentlichkeiten. Soziale Medien ­zwischen Partizipation, Sharing und Vergemeinschaftung. transcript: Bielefeld, 131 – 166. 11 Annika Schach und Timo Lommatzsch (Hg.) 2018: Influencer Relations. Marketing und PR mit digitalen Meinungsführern. Springer Gabler: Wiesbaden. 12 A’ndre Gonawela, Joyojeet Pal, Udit Thawani, Elmer van der Vlugt, Wim Out, Priyank Chandra 2018: Speaking their mind. Populist style and antagonistic messaging in the tweets of Donald Trump, Narendra Modi, Nigel Farage, and Geert Wilders. In: Computer Supported Cooperative Work (CSCW) 27 (3 – 6), 293 – 326; Arthur S. Hayes 2018: Communication in the Age of Trump. New York. Peter Lang Publishing: New York. 13 Matthew A. Baum, Tim Groeling 2008: New Media and the Polarization of American Political Discourse. In: Political Communication 25 (4), 345 – 365. Shanto Iyengar, Yphtach Lelkes, Matthew Levendusky, Neil Malhotra, Sean J. Westwood 2019: The Origins and Consequences of affective polarization in the United States. In: Annual Review of Political Science 22 (1), 129 – 146; Shanto Iyengar, Sean J. Westwood 2014: Fear and loathing across party lines. New evidence on group polarization. In: American Journal of Political Science 59 (3), 690 – 707.

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Gruppen ihre ganz eigene Kommunikation ausbilden können. Denn über soziale Netzmedien können sich politische Kommunikationsnetze auch außerhalb von bestehenden Organisationsstrukturen bilden; es können innerhalb dieser Netze ­Themen gesetzt und Deutungsmuster verbreitet werden, die in den etablierten Medien ignoriert werden – und es können die Anhänger in ihren Auffassungen bestärkt werden, selbst wenn das generelle Meinungsklima dem entgegensteht. Die Effekte der „Schweigespirale“ 14 werden über die sozialen Netzmedien ausgehebelt.

5. Spezifizierung Vierte Tendenz: Was wird kommuniziert? Wie verändern sich die Kommunikationsinhalte, also die ­Themen, die Positionen, die Ausdrucksweisen? Hier interessiert mich weniger, ob mehr rechte oder mehr linke politische Inhalte. Sehr viel grundlegender ist die individuelle Spezifizierung. Was bedeutet das? Tag für Tag werden wir konfrontiert mit einem Überangebot an Möglichkeiten, uns politisch zu informieren und zu artikulieren. Die Möglichkeiten vermehren sich ständig, weil technische, ökonomische und soziale Barrieren immer niedriger werden, die bislang eine politische Artikulation erschwert hatten. Nachwachsende Kohorten sind im Schnitt besser ausgebildet und können sich deshalb vielfältiger ausdrücken.15 Das hat Chris Anderson in das Bild des Long Tail gefasst.16 Zwar gibt es noch Anbieter, die mit ihren Angeboten große Reichweiten erzielen, Bestseller, Blockbuster, Straßenfeger im Fernsehen. Aber man findet nunmehr auch eine Unmenge von Anbietern mit schnell und günstig erreichbaren sehr speziellen Angeboten: Die vielen Blogs, die Diskussionszirkel, die Schnappschüsse und Handyclips – das ist der lange Schweif ! Dieser lange Schweif macht scharfe Selektionen notwendig. Jeder muss sich ständig für etwas entscheiden – und damit gegen eine wachsende Zahl anderer Angebote. Welchem Thema gebe ich Vorrang vor anderen? Welche Position beziehe ich dazu und w ­ elche nicht? Wie bringe ich meine Position zum Ausdruck und wie nicht? Diese Auswahlen erfolgen nach Maßgabe individueller Präferenzen, mehr und mehr unterstützt durch automatisierte Verfahren. Denn es ist anstrengend, sich zu entscheiden, andauernd auszuwählen. Deshalb ist es attraktiv, die Auswahl zu delegieren, etwa an einen Plattformbetreiber. Der verspricht glaubhaft, sich an meinen individuellen Präferenzen zu orientieren. Die Inhalte werden damit individuell spezifiziert. 14 Elisabeth Noelle-Neumann 1980: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut. ­Langen-Müller: München. 15 Deutsche Shell Holding (Hg.) 2019: Jugend 2019. Eine Generation meldet sich zu Wort. Beltz: Weinheim. 16 Chris Anderson 2007: The long tail. Der lange Schwanz. Hanser: München.

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Dadurch unterscheiden sich die Auswahlen zunehmend z­ wischen Individuen, Gruppen, Zeitpunkten und Orten. Früher gab es einen breiten Sockel geteilter Inhalte, darauf wenige spezielle Elemente. Heute gibt es viele spezielle Elemente, darüber ein dünnes Dach geteilter Inhalte. Sicher sehen noch viele die Tagesschau, und das sorgt für eine generelle politische Basisinformation. Aber es werden immer mehr spezielle politische Informationsquellen genutzt – und die schieben sich in den Vordergrund.17 Für das einzelne Individuum bietet die Spezifizierung Chancen, die jeder gerne aufgreift: Ein Maßanzug passt besser als eine Standardgröße. Aber dadurch schwindet das Gemeinsame. Die Spezifizierung birgt Risiken für die Integration. Denn in den sozialen Medien kann man sich ständig seine Auffassungen bestätigen lassen. In den Facebook-Gruppen oder über WhatsApp habe ich bevorzugt mit denen zu tun, die mir ähnlich sind, die also auch ähnliche Meinungen haben. Und das verstärkt die Schlussfolgerung, man sei auch ganz allgemein in der Mehrheit und habe Recht, und die da oben mit „ihren“ Medien ­seien in der Minderheit und im Unrecht und deren veröffentlichter Meinung müsse man sich nicht fügen. Durch die Echokammern und Filterblasen schwindet das Gemeinsame, das die Gruppen, Szenen und Milieus überwölbt.

6. Globalisierung Fünfter Aspekt: Wo wird kommuniziert? Wie verändert sich die politische Kommunikation in räumlicher Hinsicht? Die Antwort ist: in und durch Globalisierung. Früher war politische Kommunikation weitgehend durch staatliche Grenzen bestimmt. ­Themen, Positionen, Strategien, Kandidaten waren lokal, regional oder national geprägt – je nach politischer Arena. Auch die Medien waren national geprägt – in der Reichweite, der inhaltlichen Orientierung, der Regulierung. Das alles ist aufgebrochen. Beispiel ­Themen: Heute ist unsere politische Agenda viel stärker bestimmt durch globale ­Themen wie Migration, Klima, Finanzmarkt, Welthandel oder Terrorismus. Präziser formuliert: Auch lokale Ereignisse, ein Attentat, ein Gewaltverbrechen, eine Firmenpleite sind mit anderen Ereignissen ganz woanders in einem globalen Netz verknüpft. Und die politischen Akteure und auch die Bürger verfolgen genauer, was woanders passiert, in Europa und in anderen Weltteilen, und beziehen das in ihre politische Kommunikation ein. Die 17 Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft / Universität Zürich (Hg.) 2019: Jahrbuch 2019. Qualität der Medien. Schwabe: Basel; Sascha Hölig, Uwe Hasebrink 2018: Nachrichtennutzung und soziale Medien. Befunde aus dem Reuters Institute Digital News Survey 2018. In: Media Perspektiven 12, 574 – 582; Raphael Kösters, Olaf Jandura 2018: Politische Kommunikation in heterogenen Lebenswelten. Kommunikationspraxis in politischen Milieus und Bedingungen ihrer Integration. In: Studies in Communication and Media 7 (2), 129 – 185.

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nationalen politisch-kulturellen Grenzen werden zunehmend überwölbt. Das erfordert von den Teilnehmern an politischer Kommunikation, dass sie ihren Horizont weiten und auf neue Weise globales Denken und lokales Handeln verknüpfen. Diese Globalisierung wird nicht überall als Chance gesehen. Dies zeigt die neue politisch-kulturelle Spannungslinie z­ wischen Heimat und Welt, z­ wischen Traditionalisten und Modernisten. Viele wünschen sich mehr Weltoffenheit, aber viele wünschen sich auch mehr Weltabgeschiedenheit. Das fordert gegenwärtig wie kein anderer Konflikt unsere politische Kultur heraus. Man denke an Pegida, an den Brexit oder an die Auseinandersetzungen um Migration in Europa und in den USA.

7. Dynamisierung Sechster Aspekt: Wann wird kommuniziert? Unter dem Zeitaspekt rücken die Kommunikationsprozesse ins Blickfeld. Die Tendenz ist dabei: Dynamisierung der politischen Kommunikation. Verglichen mit heute liefen politische Auseinandersetzungen früher doch in einem recht gemessenen Tempo ab. Über nichts wird von Politikern so viel geklagt wie über die Beschleunigung und Verdichtung: Es gebe keine Pausen, keine Auszeiten, keine Ruhezonen mehr. Politische Kommunikationsprozesse sind dynamischer geworden – länger, schneller, dichter und unvorhersehbarer. Wer an politischer Kommunikation teilhaben will, der muss sich d ­ iesem Rhythmus anpassen – und beschleunigt ihn damit weiter. Das um sich greifende Gefühl der Überforderung, der Erschöpfung ist vor allem dieser Beschleunigung geschuldet. Unter keinem Aspekt liegen Risiko und Chance so eng beieinander. Weitsichtige, langfristige Politik wird schwieriger. Es müssen kurzfristige Erfolge her. Die Empörungszyklen im Netz treiben die Verantwortlichen in eine „Sekundenpolitik“, die enorme Kraft kostet. Aber dafür sind wir alle mitverantwortlich – mit unseren ja nicht ganz unberechtigten Erwartungen an andere.

8. Hybridisierung Siebter und letzter Aspekt: Wie wird kommuniziert? Dabei geht es um den Modus von Kommunikation, um deren Formen. Vorherrschende Tendenz unter d ­ iesem Aspekt ist Hybri­disierung. Was damit gemeint ist, sieht jeder auf dem Display eines Smartphones. Dort findet man eng beieinander, was früher strikt getrennt war: Massenkommunikation wie Spiegel Online, Individualkommunikation wie WhatsApp, Organisationskommunikation wie Meine SPD , Gruppenkommunikation wie Facebook und Mensch-Computer-Kommunikation wie Siri. Ein Smartphone ist Ausdruck von Konvergenz: Bislang

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Getrenntes wächst zusammen und erlaubt neue, integrierte Kommunikationspraktiken. In der politischen Kommunikation jedes Einzelnen werden massenmediale, gruppeninterne und interpersonale Kommunikation eng verwoben. Dieser Hybridmodus wird für immer mehr Menschen alltägliche Routine. Ich kopiere eine Meldung bei Spiegel Online zu einer bekannten Vertreterin der Identitären, schicke sie an meine Facebook-Freunde, füge bei einem noch einen Kommentar hinzu, den die anderen nicht sehen können, und gebe bei Google Alerts in Auftrag, mich zu informieren, wenn wieder etwas zu der Vertreterin der Identitären publik wird. In weniger als einer Minute bin ich einmal quer durch die Kommunikationsformen gegangen – ohne Medienbruch! Früher hatte man für jede Kommunikationsform ein eigenes Gerät an seinem eigenen Platz: Das Fernsehgerät im Wohnzimmer, das Telefon im Flur, die Post im Briefkasten, die Fachzeitschrift auf dem Schreibtisch, das Lexikon im Regal. Das Internet ist eben nicht nur eine Informationsmaschine, ein Instrument zur Verbreitung von Botschaften in Form von Clips oder Streams. Das ist das Internet auch, aber das Internet gibt die Möglichkeit, Einzelne persönlich anzusprechen, sich in Gruppen auszutauschen, Aktivitäten zu organisieren, Spenden einzusammeln. Das alles und noch viel mehr kann diese Maschine! Und das kann politisch genutzt werden. Und das tun auch die Rechten und sogar die Rechtsextremisten. Immer mehr Menschen verknüpfen Massenkommunikation und Gruppenkommunikation und dadurch werden die sozialen Netzmedien zum neuen Nadelöhr, das politische Botschaften passieren müssen, wenn bestimmte Zielgruppen erreicht werden sollen. Facebook, Twitter, Tumblr, YouTube – damit arbeiten die neuen Gatekeeper öffentlicher Kommunikation. Auch das birgt Chancen und Risiken. So ist es eine Chance, wenn die Grenzen durchlässig werden und wenn die Herrscher im Land der Massenkommunikation, die Presseverlage und Rundfunkanbieter, an Macht verlieren. Aber es ist ein Risiko, wenn nun weite Gebiete der konvergenten politischen Kommunikation von international agierenden Plattformbetreibern beherrscht werden, die nur schwer in nationale Regulierung eingebunden werden können. Und erst recht birgt das Vordringen von Mensch-Computer-Kommunikation Chancen und Risiken. Sehr bald haben wir autonomes Fahren mit allen Problemen. Und bald wird auch das Steuern des Staatsschiffes stärker von Computern unterstützt.

9. Resümee Zusammengefasst: Die Leitfrage war: Wie verändern sich politische Kommunikation, Politik und Demokratie in der Onlinewelt? In meiner Antwort habe ich sieben Tendenzen der Veränderung nachgezeichnet, die sich zu einem strukturellen Wandel der Öffentlichkeit bündeln. Unterm Strich wird politische Kommunikation digitaler, effizienter, pluraler, individueller, globaler, dynamischer und hybrider, vorangetrieben durch die rasche Durchsetzung

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der Onlinemedien – und das birgt jeweils Risiken und Chancen für die Politik. Abschließend sollen drei Thesen über die Analyse hinausweisen. Eine erste These zur Bewertung des Wandels. Wie sollte man die Zukunft der politischen Kommunikation sehen – eher licht oder eher düster? Seit es das Internet gibt, hört man utopische und dystopische Stimmen – in unterschiedlicher Lautstärke. Gegenwärtig dominiert eine eher düstere Sicht. Das kann auch wieder anders werden. Meine These dazu lautet: Beide Sichtweisen sind gerechtfertigt, denn der strukturelle Wandel der Öffentlichkeit ist ambivalent. Er eröffnet Chancen insbesondere für Außenseiter. Er birgt Risiken für diejenigen, die bislang in Machtpositionen stehen, also für die herkömmlichen Medien und für die herkömmlichen Eliten. Um die Verteilung von Chancen und Risiken gibt es Konflikte. In denen kann nur bestehen, wer sich die entsprechenden kommunikativen Kompetenzen aneignet. Eine zweite These zur Gestaltung des Wandels: Was sollen wir tun, was sollen wir lassen? Der Wandel kann gestaltet werden – weil die Entwicklung offen ist. Gestaltung beginnt beim Einzelnen. Jeder kann für sich und sein persönliches Umfeld Regeln setzen, zum Beispiel wie lange die Kinder online sein sollen. Und auch in Organisationen kann gestaltet werden: Parteien oder Redaktionen können sich Regeln setzen, wie sie mit den veränderten Bedingungen umgehen. Und wir können auf nationaler und supranationaler Ebene durch bindende Entscheidungen die Entwicklung beeinflussen. Wir können den Spielraum durch Regeln ausweiten oder einschränken. Diese Regeln fallen sehr unterschiedlich aus, etwa in der Gesetzgebung – wenn man einmal die USA, Deutschland, China und die Türkei miteinander vergleicht. Meine These ist also: Wir sollten uns in der Gestaltung mehr auf Chancen orientieren, weniger auf die Risiken. Und das kann jede einzelne Person, jede Organisation und jedes Land tun. Und eine dritte und letzte These zur weiteren Entwicklung: Die Onlinewelt verändert sich in Schüben. Gegenwärtig sind wir im Übergang vom Web 2.0 zum Web 3.0. Das next big thing ist Künstliche Intelligenz. Künstliche Intelligenz wird auch für die politische Kommunikation eine zentrale Rolle spielen. Wir werden die Enkelin von Siri fragen: „Was gibt es für Konzepte, um das Rentenniveau zu stabilisieren?“ Und Siris Enkelin wird uns das übersichtlich ausbreiten, was sie im Netz gefunden hat. Und wenn wir sagen: „Lass mich bitte mit dem neoliberalen FDP-Stuss in Ruhe!“, dann wird sie maulen, aber das in Zukunft irgendwie camouflieren. Smart home, smart city, smart politics: Maschinen werden an Bedeutung für politische Entscheidungen gewinnen – so wie sie auch Bedeutung gewinnen für unsere Entscheidungen im Verkehr, in der Wirtschaft, Partnerschaft und überall sonst. Der Wahl-O-Mat, Bots und Alexa – das sind Vorzeichen einer erneut völlig veränderten Welt der politischen Kommunikation. Ich bin gespannt, wie wir diese Welt dann sehen werden – eher licht oder eher düster?

Fabian Virchow

‚Medienkrieg‘ Die populistische und extreme Rechte als mediale Akteurin

1. Einleitung Medienkrieg! Feldzug gegen die Meinungsfreiheit – unter d ­ iesem Titel firmierte Ende Juni 2019 eine Podiumsdiskussion, die im Rahmen eines Alternativen Kulturkongresses Deutschland angeboten wurde; nur wenige Tage zuvor hatte die Düsseldorfer Burschenschaft ­Rhenania-Salingia zu einem Vortrag zum Thema Massenmedienmacht und die machtstabilisierende Funktion von Massenmedien aus mediensoziologischer Sicht eingeladen.1 Und bereits Anfang Mai 2019 hatte die Fraktion der völkisch-autoritären Alternative für Deutschland (AfD) die Räume des Deutschen Bundestages zu einer 1. Konferenz der Freien Medien genutzt. Dies sind lediglich drei Beispiele dafür, dass sich die populistische und extreme Rechte systematisch mit Medien befasst und diesen eine zentrale Bedeutung bezüglich der Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zuschreibt. Die folgenden Ausführungen stellen zunächst die Wahrnehmung der Medienlandschaft seitens der extremen Rechten dar, skizzieren anschließend die Bandbreite des medienpolitischen Handelns dieser politischen Strömung und geben dann einen – aufgrund der Dynamik des Feldes notwendig unvollständigen – Überblick über zentrale Aktivitäten der populistischen und extremen Rechten off- und online.2 Der Beitrag schließt mit knappen Überlegungen zur Reichweite des Medienhandelns der extremen und populistischen Rechten.

1 Vgl. N. N.: AKD – Medienkrieg – Feldzug gegen die Meinungsfreiheit. Online https://www.youtube. com/watch?v=tOTLHItnufM [27. 07. 2019]; N. N.: Burschenschaftlicher Abend – Die Macht der Massen­ medien. Online: https://ps-af.facebook.com/events/rhenania-salingia-d%C3 %BCsseldorf/burschenschaftlicher-abend-die-macht-der-massenmedien/810074172705790/ [08. 06. 2020]. 2 Vgl. ausführlicher Fabian Virchow 2017: Medien als ‚Agenturen der Dekadenz‘ und Kampfplatz für ‚deutsche Interessen‘. In: Christoph Kopke und Wolfgang Kühnel (Hg.): Demokratie, Freiheit und Sicherheit. Festschrift zum 65. Geburtstag von Hans-Gerd Jaschke. Nomos: Baden-Baden, 221 – 238.

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2. Medien als ‚antideutsche Agenturen der Dekadenz‘ Der Wegfall des Lizensierungszwangs für Printmedien im Oktober 1949 brachte für diejenigen, die in der gerade gegründeten Bundesrepublik an völkischen und autoritären Gemeinschaftsvorstellungen festhielten und demokratische Gleichheitsvorstellungen ablehnten, neue Rahmenbedingungen, aber auch neue Spielräume mit sich. Unter Berufung auf die im Grundgesetz verankerte Meinungs- und Pressefreiheit entwickelte sich rasch ein vielfältiges Angebot an Verlags- und Presseerzeugnissen der sich wieder formierenden extremen Rechten,3 die es mit Büchern, Zeitungen und Zeitschriften zu zeitweise beträchtlichen Auflagen brachte. Mancher, der aufgrund der von den Spruchkammern verhängten Berufsverbote zunächst unter Pseudonym publiziert hatte, veröffentlichte seine Texte nun wieder unter dem eigenen Namen. Auch in den Redaktionen der auflagenstarken Blätter fanden sich Journalist*innen, die zuvor in der NS -Diktatur Karriere gemacht hatten. Gleichwohl zieht sich durch die Selbstwahrnehmung der extremen Rechten bis heute das Bild einer stets und systematisch verfolgten Minderheit, deren Möglichkeiten zur Verbreitung der eigenen Weltsicht durch Indizierungen, Beschlagnahmen und Strafverfahren unzulässig eingeschränkt worden s­ eien. In den Beschreibungen der Medienlandschaft durch die extreme Rechte dominieren entsprechend Wahrnehmungen, die für die Bundesrepublik Deutschland eine weitgehende quasidiktatorische Steuerung der Berichterstattung behaupten, so dass Beiträge, die „sich einer spezifisch deutschen Problematik unter deutschen Gesichtspunkten öffnen“,4 kaum zu finden ­seien und die liberale Presse „Totengräberarbeit am deutschen Volk“ 5 betreibe. Mit dem Bedeutungszuwachs des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er Jahren wurde auch dessen Informations- und Bildungsauftrag stärker akzentuiert, was unter anderem politische Magazinformate wie Panorama (1961), Monitor (1965) und Kontraste (1968) hervorbrachte. Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk steht die extreme Rechte seit vielen Jahrzehnten kritisch bis feindlich gegenüber – denn, so die Behauptung, wohl „kaum ein Tag [vergeht], an dem keine inländerfeindliche Sendung ausgestrahlt“ 6 werde. Bereits in den späten 1960er Jahren wandte sich die NPD gegen eine Erhöhung der Rundfunkgebühren; zur Begründung führte sie an, dass „durch Weglassen von Meldungen 3 Vgl. Heinz Brüdigam 1964: Der Schoß ist fruchtbar noch. Neonazistische, militaristische, nationalistische Literatur und Publizistik in der Bundesrepublik. Röderberg: Frankfurt am Main. 4 Andreas Molau 1995: Droht eine neue Zensur? In: Nation & Europa 45 (6), 9 – 13, hier 10. 5 N. N. 2006: Leitlinien ‚Feindpresse‘. In: Volk in Bewegung 7 (2), 19. 6 Karl-Heinz Sendbühler 1984: Lemke, Loch und Holocaust. Die Medienmafia. In: NHB-Report 16, 66 – 67, hier 66.

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und ungerechtfertigte Bevorzugung linksgedrallter Kommentatoren“ ein Missbrauch der „Monopolstellung“ stattfinde.7 Mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk sei eine „Meinungsdiktatur“ entstanden, die „der ‚Meinungsführung‘ in traditionellen Diktaturen weitgehend verwandt“ 8 sei. Vergleichbare Bewertungen finden sich in jüngerer Zeit auch in der Alternative für Deutschland (AfD); so legte der Landesverband Brandenburg nahe, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk ähnlich staatsnah sei wie in autoritären und totalitären Regimen;9 verbreitet sind bei der AfD Forderungen nach Kündigung der Rundfunkstaatsverträge und nach Abschaffung der Rundfunkgebühr mit dem Ziel der Schwächung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.10 Gerne würde man eine breite Bewegung von Boykotteur*innen des Rundfunkbeitrages ins Leben rufen.11 Einzelne Journalist*innen wurden von der extremen Rechten als „Meister der Hetze“,12 so die Bildunterschrift zum langjährigen NDR-Chefredakteur Peter Merseburger, und „linksradikale Geiferer“ 13 diffamiert. Um solchen „Vertretern der absoluten, aber falschverstandenen Freiheit in den Rundfunkanstalten Einhalt zu gebieten“, müsse dringend gehandelt werden. Entsprechend ist die Absetzung von Sendungen gefordert worden.14 Bilanziert man die Betrachtung und Bewertung medialer Strukturen, Akteure und Berichterstattung durch die extreme Rechte, so dominiert die These einer weitgehend homogenen Berichterstattung sowie insbesondere mit Blick auf die elektronischen Medien eine deutlich kulturpessimistische Perspektive, die gesellschaftlichen Niedergang, den Verlust traditioneller Werte und Erzählungen behauptet. Jugendliche, so Manfred Müller, lebten in „virtuellen Welten“, von denen sie in die „Klanghölle der Disco-Welt mit ihren Trancezuständen“ wechseln würden: „Zügellose Selbstverwirklichung, Ausleben der Triebe, materielle[r] Status und hemmungslose[r] Konsum“ hätten zuungunsten von „Disziplin, Ordnung, Opferbereitschaft, Gemeinschaftsbewußtsein“ 15 Platz gegriffen. Götz Kubitschek sprach angesichts 7 8 9 10 11 12 13 14

15

N. N. 1969: NPD gegen Gebührenerhöhung. In: Deutsche Nachrichten 5 (27), 12. J. Hahn- Butry 1967: Diktatur im Fernsehen. In: Deutsche Nachrichten 3 (47), 3. AfD Landesverband Brandenburg 2019: Landtagswahlprogramm für Brandenburg 2019. Potsdam, 8. Vgl. beispielsweise AfD Thüringen 2019: Leitantrag Landtagswahlprogramm 2019, 7 – 8; ähnlich AfD Landesverband Sachsen 2019: Trau Dich Sachsen. Dresden, 37. Vgl. N. N. 2019: Interview mit Olaf Kretschmann. In: Junge Freiheit 6, 3; Markus Schleusener 2019: Hunderte Klagen wären eine Herausforderung. In: Junge Freiheit 9, 17; Gil Barkei 2019: Wie kann ein weiteres Vorgehen aussehen? In: Junge Freiheit 16, 17. Henning Jäde 1970: Die Verfassung und das Fernsehmonopol. In: Deutsche Nachrichten 6 (19), 3. Siegfried Pöhlmann 1969: Schach dem linken Meinungsmonopol. In: Deutsche Nachrichten. 5 (39), 3. Dies betraf beispielsweise die WDR-Dokumentation Heia Safari – die Legende von der deutschen Kolonialidylle von Ralph Giordano. Angesichts vorangehender Versuche, kritische Stimmen zur Kolonialpolitik des Deutschen Kaiserreichs zum Schweigen zu bringen, war die von Ralph Giordano produzierte Sendung bewusst provokativ angelegt worden. Der WDR-Intendant Klaus von Bismarck verteidigte die Sendung, bemängelte intern jedoch vor allem die handwerkliche Umsetzung (vgl. E. Michels 2008: Geschichtspolitik im Fernsehen. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (3), 467 – 494). Manfred Müller 2003: ‚Medienkinder‘. In: Nation & Europa. 53 (7 – 8), 45 – 47.

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der zunehmenden Nutzung von elektronischen Medien und Kommunikationsmitteln von der „Verhausschweinung des Menschen“.16 Bereits Jahrzehnte zuvor hatte von Studnitz über einen von „den Sendern verbreitete[n] moralische[n] Defaitismus, die Abwertung aller echten Substanzen, die Untergrabung des Pflicht- und Staatsbewußtseins, die Verhimmelung der Gewalt, die Verhöhnung von Anstand und Sitte“ 17 geklagt. Mit Blick auf die 1956 erstmals erschienene Jugendzeitschrift Bravo hieß es, diese habe „die Zersetzung als überkommen empfundener Wertvorstellungen“ und die Ablehnung einer „soldatische[n] Prägung deutscher Männlichkeit“ 18 forciert. Das Medienangebot wird von der extremen Rechten wiederkehrend mit dem Verdikt der ‚Lizenzpresse‘ belegt und damit unterstellt, dass die mit der Neugründung von Zeitungen und Zeitschriften nach 1945 verbundene Zielsetzung der Förderung demokratischer Einstellungen ein Makel sei. Entsprechend formulierte Andreas Molau, ehemaliger Politiker der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands: Alles, was wir heute auf dem Pressemarkt finden und was auch nur annähernd gesellschaftliche und politische Bedeutung für sich beanspruchen darf, ist von Gnaden der alliierten

Sieger­mächte nach dem Krieg gegründet bzw. zugelassen worden. Man wußte sehr genau,

daß die Kontrolle über die Deutschen und ihre Umerziehung durch die Medien herausra-

gende Bedeutung hatte.19

Inzwischen hat die Formulierung ‚Lügenpresse‘ einen prominenten Platz in den Behauptungen der extremen Rechten zum Charakter der öffentlich-rechtlichen und eines Großteils der Printmedien eingenommen.20

16 Götz Kubitschek 2006: Die Diktatur der Aktualität. In: Junge Freiheit. 21 (5), 1. Kubitschek bezieht sich mit dem Begriff ‚Verhausschweinung‘ explizit auf Konrad Lorenz, der die Degenerationserscheinungen von Haustieren mit angeblichen Verfallserscheinungen bei Großstadtmenschen verglichen hatte. Zum Lorenz’schen biologistischen Determinismus siehe etwa T. J. Kalikow 1980: Die ethologische ­Theorie von Konrad Lorenz. Erklärung und Ideologie, 1938 bis 1943. In: H. Mehrtens, S. Richter (Hg.): Naturwissenschaft, Technik und NS-Ideologie. Frankfurt am Main, 189 – 214. 17 Hans-Georg von Studnitz 1977: Rundfunk und Fernsehen: wann kommt die Neuordnung? In: Nation Europa 27 (11), 9 – 12, hier 10. Zu Studnitz vgl. auch Nils Asmussen 1997: Hans-Georg von Studnitz – ein konservativer Journalist im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 45 (1), 75 – 119. Die Publikationstätigkeit von Studnitz in extrem rechten Blättern findet bei Asmussen allerdings keine Erwähnung. 18 Ellen Kositza 2006: Nichts mehr zu verlieren, das aber lustvoll. Fünfzig Jahre Bravo. In: Sezession 4 (15), 38 – 39, hier 39. 19 Molau 1995, 9. 20 Vgl. Volker Lilienthal und Irene Neverla (Hg.) 2017: Lügenpresse. Anatomie eines politischen Kampfbegriffs. Kiepenheuer & Witsch: Köln.

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3. Strategien und Handlungspraxen der populistischen und extremen Rechten Da aus Sicht der großen Mehrheit der extremen Rechten die Berichterstattung der Medien einen zentralen Stellenwert in der Auseinandersetzung um Macht hat, nimmt es nicht wunder, dass sie unterschiedliche Strategien entwickelt hat, um sich mit den eigenen Positionen möglichst umfangreich Gehör zu verschaffen – sei es mit Blick auf eine breite Öffentlichkeit, sei es hinsichtlich der Ansprache spezifischer Bevölkerungsgruppen. Zu diesen Strategien und Vorgehensweisen zählen insbesondere •  Versuche, journalistisches Personal der extremen Rechten in den etablierten Medien unterzubringen; •  Ansätze, ein professionalisiertes Medienhandeln zu entwickeln, durch das die Chancen auf Berücksichtigung in den etablierten Medien erhöht wird, zum Beispiel durch die Benennung von Pressesprechern, die regelmäßige Verteilung von Pressemitteilungen und Stellungnahmen oder durch die Produktion von berichtenswerten Ereignissen; •  Projekte zur Etablierung eigener Medienprodukte – s­ eien es Zeitschriften oder Angebote im Web 2.0; •  Praxen der Verweigerung gegenüber den als ‚Systemmedien‘ oder ‚Lügenpresse‘ angefeindeten Akteuren und Fokussierung auf die Produktion eigener Medien, die weitgehend exklusiv auf die eigene Gefolgschaft zielen. Als zusätzliche Handlungsoption sehen Teile der extremen Rechten die Möglichkeit an, Zeitungen und Rundfunkanstalten durch gezielte und abgestimmte Kampagnen unter Druck zu setzen. Entsprechend publizierten die Wochenzeitungen aus dem Verlag des extrem rechten Großverlegers Gerhard Frey (1933 – 2013) regelmäßig die Postanschriften der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten und forderten die Lesenden zu Zuschriften auf. Insbesondere im offen neonazistischen Spektrum ist zudem nicht erst seit der Wiederentdeckung des denunziatorischen Begriffs der ‚Lügenpresse‘ Mitte der 2010er Jahre eine Sichtweise verbreitet, in der „Medienmacher“ als „Haupttäter des menschenverachtenden Regimes“ 21 bezeichnet werden. Dies hat zu Demonstrationen vor Verlagsgebäuden, zunehmend auch zu direkten Drohungen und physischer Gewalt gegen Journalist*innen geführt.22 Bezüglich der AfD, die nach ihrer Gründung im Jahr 2013 zum zentralen Bezugspunkt der extremen Rechten in Deutschland geworden ist, schreibt der Kommunikationswissenschaftler Johannes Hillje: 21 Roland Wuttke 2006: Die totale Manipulation. In: Volk in Bewegung 7 (2) 4 – 6, hier 6. 22 Vgl. Frank Überall 2016: Fünfte versus Vierte Gewalt: Journalismus unter Beschuss. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 4, 75 – 82; Magdalena Obermaier, Michaela Hofbauer, Carsten Reinemann 2018: Journalists as targets of hate speech. In: Studies in Communication and Media 7 (4), 499 – 524.

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Das Verhältnis der AfD zum Journalismus wirkt auf den ersten Blick schizophren, doch es folgt

einem klaren Kalkül: Die AfD verteufelt die unabhängigen Medien als „Systempresse“, gleich-

zeitig braucht sie sie als Bühne für ihre Inszenierungen, Provokationen und Abgrenzungen zum

politischen Feind.23

Entsprechend folge der Delegitimierung der etablierten Medien der „Aufbau von parteigebundenen Alternativmedien im Internet“, um im Web 2.0 eine digitale Gemeinschaft zu schaffen. Schließlich gehe es um die „Aufmerksamkeitsmaximierung und Abgrenzung zum politischen Gegner in der medialen Arena“.24 Dabei arbeitet die AfD bewusst mit der Taktik, durch zugespitzte Formulierungen Skandale zu verursachen und sich nach der dann einsetzenden Kritik als Opfer angeblicher Beschränkungen der Meinungsfreiheit zu inszenieren.25 Zugleich stellt sie immer wieder selbst Einschränkungen der Pressefreiheit her, wenn sie Journalist*innen den Zugang zu Parteiveranstaltungen verwehrt, weil sie kritische Berichterstattung fürchtet. Demgegenüber bieten insbesondere Talkshows den Vertreter*innen der Partei eine gute Plattform, folgen diese doch in zentralen Teilen der Aufmerksamkeitsökonomie. Verschiedene Entwicklungen haben dazu geführt, dass rassistische und extrem rechte Medienangebote vermehrt mit Interesse aufgenommen und ihnen Glaubwürdigkeit entgegengebracht wird: Sie profitieren unter anderem von einer vielfach zu beobachtenden Uniformität der Berichterstattung sowie einer Störung des Vertrauens in die klassischen Medien, die durch eine an den Prozeduren des etablierten Politikbetriebs orientierte ritualisierte Berichterstattung und einen problematischen Umgang mit Fehlern in der Berichterstattung befördert worden ist.26

4. Medienangebote der populistischen und extremen Rechten offline 75 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus existieren auch in Deutschland noch immer zahlreiche Verlage, die rassistische, geschichtsrevionsistische, antisemitische und antifeministische Literatur anbieten, so beispielweise der Druffel & Vowinckel Verlag oder der Grabert- bzw. Hohenrain-Verlag. Mit Blick auf das über 1,6 Millionen Mal verkaufte Buch Deutschland schafft sich ab von Thilo Sarrazin ist zugleich daran zu erinnern, dass auch andere 23 Johannes Hillje 2017: Propaganda 4.0 – Die Erfolgsstrategie der AfD. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 62 (10), 49 – 54, hier 49. 24 Ebd. 25 Vgl. Bernd Gäbler 2017: Die AfD und die Medien. OBS: Frankfurt am Main. 26 Steffen Grimberg 2015: Das Ende der Deutungshoheit. Die Vierte Gewalt und die neue Macht der ­Vielen. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 9, 103 – 109.

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Verlage mit rassistischen Texten Geld verdienen. Jährlich kommen hunderte von Neuerscheinungen auf den Markt, von denen manche beträchtliche Auflagen erreichen. Blickt man auf die extrem rechte Presselandschaft der Bundesrepublik Deutschland, so lassen sich für die vergangenen Jahrzehnte tausende von Zeitschriften und Zeitungen, von Mitteilungsblättern und Zirkularen identifizieren, die von Organisationen und Vereinen – gelegentlich auch von Einzelpersonen – verantwortet wurden. So vielfältig die Zielgruppen der einzelnen Publikationen waren ( Jugend, Schüler*innen, Frauen, ehemalige und noch dienende Soldaten, Vertriebene, Burschenschafter …), so unterschiedlich waren auch Auflage und Erscheinungsdauer. Manche Projekte überlebten nicht einmal die Nullnummer, andere erschienen mehr als fünf Jahrzehnte und wurden so zu zentralen Bezugspunkten extrem rechter Strategiebildung und Theorieproduktion. Etliche verstanden sich als Organe von Parteien oder Vereinigungen, andere betonten ihre Unabhängigkeit. Angesichts der vielfach beschriebenen Krise der Printmedien, die auch auf den Bedeutungszuwachs des Internets zurückgeführt wird, ist es bemerkenswert, dass das Angebot an gedruckten Periodika stetig zunimmt. Dies gilt auch für die extrem rechte und nationalkonservative Presse, der es gelungen ist, in den letzten zehn Jahren mehrere neue Zeitschriften und Zeitungen am Markt zu platzieren, das heißt, d ­ iesem Titel neben Kontinuität auch Sichtbarkeit zu verschaffen, etwa mittels des dauerhaften Vertriebs durch den Pressegroßhandel. Zu nennen sind hier insbesondere die Wochenzeitung Junge Freiheit, die mit der Entstehung einer völkisch-nationalistischen Massenbewegung in den Jahren nach Erscheinen von Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab dauerhaft etabliert werden konnte, das Monatsblatt Zuerst!, das sich ohne externe Anzeigeneinnahmen aufgrund anderer Einnahmequellen des ehemaligen JN -Aktivisten Dietmar Munier trägt, das völkisch-souveränistische Blatt Compact von Jürgen Elsässer sowie in jüngerer Zeit Cato. Andere Titel – so etwa die Preußische Allgemeine Zeitung (vormals Das Ostpreußenblatt) – haben erfolgreich neue Leser*innenkreise erschlossen. Die Rechtswende von Zeitschriften wie Tumult macht zudem deutlich, dass die völkisch-nationalistische Massenbewegung über eine zahlenmäßig relevante akademisch gebildete und bürgerlich situierte Mittelschicht verfügt, die entsprechende finanzielle Ressourcen und Nachfrage mobilisieren kann. Diese trägt zudem infrastrukturell wichtige Projekte, wie zum Beispiel die in Berlin ansässige Bibliothek des Konservatismus. In der Vergangenheit haben insbesondere parteiunabhängige Publikationen der extremen Rechten den Versuch unternommen, im Rahmen von sogenannten Leser*innenkreisen oder Leser*innentreffen die Bindung z­ wischen der Zeitschrift und den Lesenden zu festigen und entsprechende Treffen auch mit dem Ziel der Verständigung über parteipolitisch aussichtsreiche Projekte zu n ­ utzen. Dies ist derzeit mit dem Erfolg der AfD weitgehend überflüssig geworden. Sieht man von den Blättern ab, die sich ungeschminkt einer Renaissance des Nationalsozialismus verschrieben haben, so beziehen sich – mal offensichtlich, mal eher

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indirekt – die Periodika der extremen und populistischen Rechten positiv auf diese Partei. Sie bieten deren Funktionär*innen und Abgeordneten eine Plattform, stellen Personal zur Verfügung oder versuchen, das politische Profil zu beeinflussen. Dass auch trotz des Bedeutungszuwachses webbasierter Informationsangebote Zeitungen und Zeitschriften nicht an Bedeutung verloren haben, hat mehrere Gründe. Erstens: Für die Aufrechterhaltung der Organisation, die Tradierung der gruppenspezifischen Weltdeutung und die Sozialisation neuer Gruppenmitglieder geben auch weiterhin viele Gruppen eigene Zeitschriften heraus. Entsprechende Publikationen haben vor allem eine nach innen gerichtete Funktion. Insbesondere diejenigen rechten politischen Strömungen oder Organisationen, die nicht nur ihr eigenes schmales Segment ansprechen wollen und das jeweilige Publikationsorgan vor allem als Organisationsersatz angelegt haben, ­können auf ein Printprodukt nicht verzichten. Für erhebliche Teile der Bevölkerung besitzen gedruckte Medien zudem noch immer eine höhere Glaubwürdigkeit als (reine) Internetmedien. Zweitens entsprechen die Druckprodukte weiterhin verbreiteten Lesegewohnheiten, nicht zuletzt des bereits genannten Spektrums der völkisch-nationalistischen Massenbewegung. Da diese in den letzten Jahren deutlich sicht- und hörbarer geworden ist, hat entsprechende Neugründungen ermutigt. Drittens erlauben technologische Innovationen und Globalisierung, wie zum Beispiel der Druck an Niedriglohnstandorten inzwischen die Gestaltung und die Produktion von hochwertigen Mehrfarbprodukten zu vergleichsweise niedrigen Kosten. Viertens: Ein Magazin wie Cato, das hinsichtlich Themenwahl, Sprache und visueller Gestaltung Dauerhaftigkeit und Beständigkeit ausstrahlen soll, erreicht ein rechtes, sich bildungsbürgerlich verstehendes Publikum. Ein vergleichbares Projekt wäre als Internetangebot kaum darzustellen beziehungsweise wenig erfolgreich. Vergleicht man die gegenwärtige Publizistik mit vorangegangenen Jahrzehnten, so lässt sich eine größere Vielfalt des Angebots feststellen: Diese bezieht sich auf den Erscheinungsrhythmus, das spezifische Profil sowie die thematische Schwerpunktsetzung einzelner Medien. Ob historische ­Themen (in Deutsche Geschichte), Militärfragen (in Deutsche Militärzeitung) oder jüngst die Neugründung Recherche D zu Wirtschaftsfragen – die Publizistik differenziert sich aus. Zugleich haben sich themenübergreifende Projekte wie die Junge Freiheit und die Zuerst! erfolgreich am Markt platziert, das heißt hier insbesondere: im freien Verkauf an Kiosken und damit jenseits eines eingeschränkten Kreises von Abonnent*innen. Diese Entwicklungen sind ohne die Entstehung der völkisch-nationalistischen Massenbewegung nicht denkbar – wie sie andersherum diese Bewegung weltanschaulich bilden und organisatorisch stabilisieren sollen.

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5. Medienhandeln der populistischen und extremen Rechten online Postdigitale Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass Digitalität auf eine Art und Weise untrennbar mit alltäglichem Handeln und sozialen Interaktionen verbunden ist, dass diese in ihren spezifischen Effekten und Wirkweisen kaum noch bewusst wahrgenommen wird. Eine klare Abgrenzung von Offline- und Onlinewelten ist kaum noch möglich. Es erscheint daher nicht sinnvoll, weiterhin von ‚den Medien‘ zu sprechen, wenn inzwischen eine unübersehbare Zahl von TV -Kanälen, Streamingplattformen, Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter, Reddit und Tumblr existieren. Insofern geht es nicht mehr darum, auf der Basis eines kleinen gemeinsamen Nenners ein möglichst großes Publikum anzusprechen; vielmehr werden ausgefeilte, algorithmusbasierte Marketingtechniken eingesetzt, um spezifische Gruppen mit speziell zugeschnittenen, häufig um Identitätsfragen zirkulierenden Angeboten zu erreichen. Wie die extreme und populistische Rechte alle Möglichkeiten des Internets im Allgemeinen und des Web 2.0 im Besonderen nutzt, so eng sind die Verknüpfungen z­ wischen ihren medialen Auftritten on- und offline. Damit tragen die Akteur*innen d ­ ieses politischen Spektrums mit ihren hybriden Medienformaten zu einem interaktiven Medienangebot bei, das hochgradig Wahlmöglichkeiten und neben den auf große Publika ausgerichteten Medienprodukten auch ­solche für sehr spezifisch Interessierte bietet. Dass die extreme Rechte in den USA, aber auch in Deutschland früh die Möglichkeiten des Internets und von geschlossenen Mailboxsystemen zur Kommunikation nutzte, ist inzwischen weitgehend bekannt.27 Gegenüber den ersten Plattformen wie etwa dem Widerstand BBS, an das in den frühen 1990er Jahren bis zu zweihundert neonazistische Nutzer*innen angeschlossen waren, erreichten spätere Plattformen ein Vielfaches an Teilnehmenden. Auf über 30.000 Mitglieder kam das im Jahr 2007 gegründete Thiazi.net; in einem öffentlichen Bereich fanden sich neben Kommentaren zu tagespolitischen Ereignissen auch den Holocaust leugnende Beiträge, Fantasien über die politische Situation nach der herbeigesehnten Machtergreifung sowie Berichte über Aktivitäten der extremen Rechten. Zugleich wurde die Plattform in einem nur für registrierte Mitglieder zugänglichen Bereich genutzt, um weiteres strafrechtlich sanktioniertes Material zum Download bzw. zum Kauf anzubieten: volksverhetzende Musik ebenso wie Schriften und Videos, in denen die systematische Ermordung des europäischen Judentums bestritten wurde. Seit Mitte Juni 2012 war die Webseite aufgrund von strafrechtlichen Ermittlungen offline; auch gegen die Betreiber der 27 Pete Simi, Robert Futrell 2010: American Swastika. Inside the White Power Movement’s Hidden Spaces of Hate. Rowman & Littlefield: Lanham; Kai Brinckmeier 2012: Bewegung im Weltnetz. Rechtsextreme Kommunikation im Internet. Peter Lang: Frankfurt am Main; Patricia Anna Simpson, Helga Druxes (Hg.) 2015: Digital Media Strategies of the Far Right in Europe and the United States. Lexington: Lanham.

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Plattform Nationale Revolution, auf der z­ wischen 2007 und 2014 unter anderem Mordaufrufe publiziert wurden, wurden Haft- und Geldstrafen verhängt. Mit dem Auftreten immer neuer internetbasierter Angebote haben sich auch die Möglichkeiten der extremen Rechten erweitert, Bild- und Tondateien kostengünstig, rasch und potenziell einer großen Zahl von Menschen zugänglich zu machen. Mit Blick auf die Ansprache einer breiten Öffentlichkeit lässt sich dabei nicht nur für Deutschland eine systematische Nutzung derjenigen Plattformen und Dienste durch die extreme/ populistische Rechte erkennen, die insbesondere bei jüngeren Menschen im Trend liegen. So verdankt die spanische VOX ihre jüngsten Wahlerfolge auch der gezielten Nutzung von Instagram, YouTube und WhatsApp zur Verbreitung von Bild- und Textnachrichten. Über eine in Anzeigen bekanntgemachte Telefonnummer, die Interessierte auf ihren Mobiltelefonen ihren Kontaktlisten hinzufügten, konnte die Partei mit einer Aussendung Zehntausende erreichen. Insbesondere Instant-Messaging-Dienste wie WhatsApp, Signal oder Telegram werden zur Verbreitung von Textnachrichten, Fotos, Videos und Dokumenten genutzt; vielfach finden sie Anwendung als Instrument, um kurzfristig zu rassistischen Demonstrationen und Versammlungen zu mobilisieren;28 in geschlossenen Gruppen bzw. aufgrund von Verschlüsselungsoptionen sind dies auch Plattformen, auf denen rassistische und antisemitische Gewaltakte diskutiert und vorbereitet werden. Mikrobloggingdienste wie Gab erlauben ebenfalls den Versand kurzer, SMS-ähnlicher Textnachrichten; Gab ist für Rassist*innen attraktiv, weil es sich unter dem Banner des Rechts auf freie Meinungsäußerung gegen Restriktionen und Löschungen positioniert. Twitter zählt jedoch in Deutschland zu den Mikrobloggingdiensten, die von vielen politisch weit rechtsstehenden Personen genutzt werden. Insofern ist dort eine sehr hohe Zahl von Nutzer*innen aktiv, die sich gegenseitig auf ihren Accounts folgen und vorurteilsgeprägte Tweets – etwa zu ­Themen wie ‚Migrantengewalt‘ oder ‚Genderwahn‘ – teilen. Facebook bietet auch politischen Aktivist*innen und Parteigliederungen bzw. Initiativen die Möglichkeit zur Erstellung von Profilen und zur Vernetzung durch den Versand von Botschaften an eine nicht beschränkte Zahl von Abonnent*innen. Pegida und eine große Zahl von AfD-Politiker*innen n ­ utzen diese Möglichkeit. Der langjährige Parteisprecher Jörg Meuthen hatte im Oktober 2019 knapp 130.000 Abonnent*innen, die Vorsitzende der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag, Alice Weidel, verzeichnet über 270.000 Abonnent*innen. Das ist deutlich mehr als beim Führungspersonal der meisten anderen Parteien. Die AfD arbeitet dabei mit stark standardisierten visuellen Elementen, die mit zugespitzten zitatförmigen Botschaften zu aktuellen politischen Entwicklungen kombiniert werden

28 Christina Brause 31. 08. 2018: Ein gut geteiltes Gerücht – und Tausende marschieren. In: Die Welt.

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und scharfe, auch abfällige Angriffe auf politische Gegner*innen enthalten. Bei weitem die meisten Hasspostings im Internet kommen von rechts.29 YouTube hat sich in jüngerer Zeit als ein wichtiges Medium der extremen/populistischen Rechten erwiesen. Dort werden nicht nur Mobilisierungsvideos für extrem rechte Veranstaltungen und programmatische Statements verbreitet; in großem Umfang finden sich Reden und Vorträge aller Strömungen der extremen und populistischen Rechten. Hierzu zählen Kanäle der Identitären Bewegung bzw. ihres Führungspersonals ebenso wie Reden von AfD-Politiker*innen, die zum Teil von der AfD bereitgestellt werden, zum Teil aber auch von Besucher*innen der jeweiligen Parteiveranstaltung gefilmt und anschließend ins Netz gestellt werden. Wie die AfD von ihren Auftritten in den verhassten „Systemmedien“ unter den eigenen Anhängern profitiert, kann man am Beispiel der Talkshow-Auftritte erkennen: Auf YouTube gibt es

diverse Videos, in denen Talkshow-Statements von AfD-Vertretern zusammengeschnitten sind.

Sie werden auf YouTube-Kanälen mit Namen wie Freie Propaganda hochgeladen und erreichen

Klickzahlen bis an die Million-Marke heran. Solche Videos erwecken den Eindruck der absoluten Dominanz von AfD-Politikern über die anderen Gäste und Souveränität gegenüber den

Fragen der Moderation.30

YouTube-Kanäle wie Laut gedacht bzw. der von Martin Sellner (Identitäre Bewegung) weisen ­zwischen 50.000 und über 100.000 Abonnent*innen aus. Ein relativ neues Phänomen sind rechte Influencer, denen es darum geht, möglichst viele Follower anzuziehen, indem sie Texte oder Videos produzieren und online stellen. Im Herbst 2019 gab es etwa zwanzig entsprechende Blogger in/aus Deutschland, die einen gewissen Bekanntheitsgrad im extrem rechten, antifeministischen und rassistischen Milieu hatten. Zum Teil berichten sie live von entsprechenden Versammlungen und streamen die bei dieser Gelegenheit gemachten Aufnahmen, also beispielsweise Redebeiträge oder Interviews, direkt in ihrem Kanal. Dieses Medium soll vor allem junge Menschen erreichen, für die YouTube neben Google inzwischen das zentrale Leitmedium auf der Suche nach Information geworden ist. Dass sich extrem rechte Gewalttäter auch auf Plattformen der Gamer-Community wie etwa Twitch oder Steam bewegen und dort versuchen, ihre Weltdeutung auch mittels dieser Medien zu kommunizieren, hat zuletzt der Terrorist Stephan Balliet demonstriert, der seine Morde und den versuchten Sturm einer Synagoge in Halle/Saale als Liveübertragung im Ego-Shooter-Modus inszenierte. Der von ihm verfasste Text präsentierte die Gewalttat als beispielgebend für weiße Rassist*innen. Bereits bei den rassistisch motivierten Morden in 29 Deutscher Bundestag 2019: Hasspostings im Internet im Jahr 2018. Drucksache 19/11908. 30 Johannes Hillje 2017: Propaganda 4.0 – Die Erfolgsstrategie der AfD. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 10, 49 – 54, 51.

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München im Juli 2016, in Christchurch im März 2019 sowie in El Paso im August 2019 war erkennbar, dass sich die Täter an Abläufen aus der Welt der Videospiele orientierten. Programme wie Discord dienen dazu, Gamer*innen zusammenzubringen; die Morde wurden live gestreamt über Portale wie Twitch oder 4chan.31

6. Zur Reichweite der Medienangebote der populistischen und extremen Rechten Insgesamt liegen wenig verlässliche Zahlen zu den Auflagen, der Reichweite und dem Nutzungsverhalten populistisch und extrem rechter Medienangebote vor. Vielfach kann den Eigenangaben wenig Glauben geschenkt werden, da diese nicht zuletzt mit dem Ziel der Profilierung des jeweiligen Projektes übertrieben werden, um weitere finanzielle Ressourcen zu erschließen oder persönliche Anerkennungsgewinne einzustreichen. Dass eine Nachfrage für entsprechende Angebote besteht, lässt sich nicht nur an den in kleiner Auflage erscheinenden und regelmäßig nur im Abonnement beziehbaren Zeitschriften ablesen, sondern auch daran, dass in den letzten zehn Jahren mehrere Zeitungen bzw. Zeitschriften auch im freien Verkauf etabliert werden konnten, deren verkaufte Auflagen in einem mittleren fünfstelligen Bereich liegen. Am Beispiel der Jungen Freiheit und der Compact lässt sich zudem verdeutlichen, dass nahezu alle ­solche Medienangebote zugleich digital bestehen und damit zusätzliche Reichweite generieren, zum Teil auch mit Formaten wie Compact-TV , AfD Kompakt TV und JF -TV , also YouTube-basierten Onlinefernsehangeboten, die mal als Wochenrückblick, mal mit thematischer Schwerpunktsetzung präsentiert werden. Vielfach haben jene Sendungen, die einen migrationsfeindliches Publi­ kum bedienen, ­zwischen 200.000 und 300.000 Aufrufe. Ein Teil des Publikums solcher Medienangebote sieht sich durch die dargebotene Deutung aktueller Ereignisse bestätigt. Da die tatsächliche Nutzung der Medienangebote kaum verlässlich zu messen ist, wird hier vorgeschlagen, der Frage der Reichweite und einer möglichen positiven Resonanz weniger entlang quantitativer Kennziffern, sondern strukturell nachzugehen. Eines der zentralen programmatischen Merkmale der extremen oder populistischen Rechten ist die nostalgische Vorstellung, dass der weiße, heterosexuelle Mann in seine frühere Machtstellung im öffentlichen Raum wie im familiären Leben zurückkehren möge. Die Opfererzählung, dass dieser sowohl durch Liberalismus und Feminismus, aber auch durch Migration seiner ‚naturgegebenen‘ Position beraubt worden sei, findet eine gewisse strukturelle Entsprechung in der Art und Weise, wie der Kampf um die Medien geführt wird. Es dominiert die Behauptung eines Opferstatus, bei der je nach Anlass unterschiedliche Facetten in den 31 Roland Sieber 2019: Virtuell vernetzter Rechtsterrorismus. Antifaschistisches Infoblatt Nr. 124 vom 11. 10. 2019. Online: https://www.antifainfoblatt.de/artikel/virtuell-vernetzter-rechtsterrorismus [08. 06. 2020].

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Vordergrund geschoben werden: Man stellt sich als bedrohte Minderheit dar, die kulturell randständig und zudem von Akten physischer Gewalt bedroht werde. Auch handele es sich um einen Angriff auf Konservative und nicht auf jenseits der Verfassung stehende Rechte. Ergänzend werden Fehler in der Berichterstattung der etablierten Medien ‚nachgewiesen‘ und dies als Ausweis moralischer und handwerklicher Überlegenheit des eigenen Lagers gefeiert. Während den liberalen Medien vorgeworfen wird, dass sie die demokratischen Grundlagen gefährdeten, werden sie zugleich im Rahmen einer Strategie der Validierung als Kronzeug*innen angeführt, wo es sich anbietet („Seht her, selbst die keineswegs als rechts geltende Zeitung sagt das auch!“). Diese unterschiedlichen Erzählstränge korrespondieren vielfach mit verschiedenen Sprecher*innenrollen: •  dem ‚populistischen Politiker‘, der mit skandalträchtigen Aussagen auf die Medienlogik zielt und darauf hofft, entsprechend sichtbar gemacht zu werden, •  dem ‚Insider‘, der selbst aus dem Journalismus kommt und daher besondere Glaubwürdigkeit für seine Kritik beansprucht, •  dem ‚Aktivisten‘, der beispielweise zum Boykott aufruft, •  dem ‚Bürger‘, der reklamiert, dass ‚die Medien‘ als weitgehend abgehobene Kaste völlig an der Lebensrealität ‚des Volkes‘ vorbei berichteten, •  dem ‚Fachmann‘, der sich als Experte für einen spezifischen Gegenstand ausgibt und aus dieser Warte heraus die Berichterstattung kritisiert, •  dem ‚Betroffenen‘, der sich als Opfer einer ungerechtfertigten Kritik oder Anfeindung inszeniert.32 Die Schärfe und die Grundsätzlichkeit der Kritik an bestehender journalistischer Praxis und den Strukturen der etablierten Medien variieren in den verschiedenen Rollen. Die verschiedenen Rollen erlauben es zugleich, unterschiedliche Publika anzusprechen und beim jeweiligen Level ihrer Skepsis oder Abneigung gegenüber den etablierten Medien abzuholen und die Glaubwürdigkeitskrise der etablierten Medien zu vertiefen. Weiterführend wird dann auf die jeweiligen Medienangebote (on- wie offline) der populistischen oder extremen Rechten verwiesen – in der Hoffnung, dort weitere Elemente dieser Weltdeutungen anschlussfähig präsentiert zu haben. Für eine weiterführende Auseinandersetzung mit den Medienangeboten der populistischen und extremen Rechten ist es wichtig, nicht nur deren Veränderungen hinsichtlich des inhaltlichen Profils, einer möglichen Radikalisierung der Positionen sowie ihrer jeweiligen Reichweite zu betrachten, sondern auch die Rezeption dieser Angebote stärker in den Blick zu nehmen. Mediennutzer*innen sind schließlich nicht passiv, sondern bewerten die Angebote, wählen Perspektiven und Argumente aus, während sie andere zurückweisen. 32 Tine Ustad Figenschou, Karoline Andrea Ihlebæk 2019: Media Criticism from the Far-Right. Attacking from Many Angles. In: Journalism Practice 13 (8), 901 – 905.

Sebastian Kurtenbach und Yann Rees

Neue Normalität Gesellschaftliche Folgen des Rechtspopulismus

1. Einleitung Rechtspopulismus ist kein neues, sondern mittlerweile ein etabliertes Phänomen in der bundesrepublikanischen Demokratie, doch ist seine Wirkung nicht allein auf die politische Kultur im Parlamentsbetrieb beschränkt. Es finden sich auch Signaturen der Bedrohung 1 im Alltag von Menschen, hergestellt durch öffentliche Debatten, alltägliche Anfeindungen und ausbleibende Solidarität, vorangetrieben durch Akteur*innen, ­welche vor allem einer autoritären und nationalistischen Agenda folgen. Dass es einen Zusammenhang z­ wischen Gewalt und rechtspopulistischen Argumentationsmustern gibt, ist spätestens seit dem rechtsterroristischen Anschlag von Christchurch deutlich geworden, bei dem fünfzig Menschen ums Leben kamen.2 Der rechtsterroristische Attentäter war in seinem online verbreiteten Manifest explizit auf Argumentationsstränge von Rechtspopulist*innen 3, wie einem 1 Wilhelm Heitmeyer 2018: Autoritäre Versuchungen. Suhrkamp: Berlin, 10. 2 Auch zu nennen ist der antisemitische Anschlag in Halle im Oktober 2019. Siehe dazu: N. N. 05. 10. 2020: Der Anschlag von Halle. Online: https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/316638/der-anschlagvon-halle [08. 06. 2020]. 3 Eine Reihe rechtspopulistischer Konzepte geht auf Ideen und Schriften der europäischen Neuen Rechten zurück. Rechtspopulistische Akteur*innen übernehmen weite Teile dieser Konzepte und tragen sie, teils leicht abgeändert, in den politischen Diskurs sowie die politischen Arenen. Die Grenzen z­ wischen der Neuen Rechten und Rechtspopulismus sind fluide. So bestehen z. B. zahlreiche Kontakte und ideologische Überschneidungen z­ wischen Repräsentant*innen der AfD und Akteur*innen der Neuen Rechten wie Götz Kubitschek oder der Identitären Bewegung (IB). Vgl. dazu z. B. Helmut Kellershohn, ­Wolfgang Kastrup (Hg.) 2016: Kulturkampf von rechts. AfD, PEGIDA und die Neue Rechte. Unrast Verlag: Münster. Unter dem Begriff „Rechtspopulismus“ fassen wir weniger eine geschlossene politische Ideologie als vielmehr einen „Modus der Kommunikation“. Ideologisch handelt es sich bei dem Phänomen des Rechtspopulismus in unseren Augen eher um ein Konglomerat aus verschiedenen Ideologemen und inhaltlichen Versatzstücken aus dem rechten politischen Spektrum. Die Bandbreite verläuft dabei sehr weit und umfasst neben anderen rechtsextreme (z. B. Verharmlosung von Naziverbrechen, Hetze gegen Nichtdeutsche), neurechte (z. B. „großer Austausch“, kultureller Rassismus), (erz-)konservative (z. B. LGBT-Rechte, Abtreibung) und marktradikale/neoliberale (z. B. Wirtschafts- und Sozialpolitik) Inhalte. Zum Kern des Rechtspopulismus zählt für uns ein bewusst provokatives Brechen mit gesellschaftlichen

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­ evölkerungsaustausch, eingegangen. Doch auch weniger drastische Gewalthandlungen B sind im Windschatten des Erfolgs des Rechtspopulismus in Deutschland zu sehen, wie die Debatte im Nachgang der Ermordung des Regierungspräsidenten von Kassel, Walter Lübcke, zeigt.4 Diese können, und das ist die eigentliche toxische Wirkung des Rechtspopulismus, zur neuen Normalität werden. In ­diesem Beitrag wird eben diese normalitätsverändernde Wirkung unwidersprochener Worte von Rechtspopulist*innen diskutiert, wofür exemplarisch die Stadt Bautzen herangezogen wird. Dort sind bereits heute Konturen möglicher gesellschaftlicher Folgen des Rechtspopulismus zu erkennen. Unsere These ist, dass durch einen rechtspopulistisch geprägten Diskurs nicht allein die Grenzen des Sag-, sondern auch des Machbaren verschoben werden können. Dadurch werden ausgrenzende Handlungen, bis hin zu Gewalt, gegenüber spezifischen Gruppen sozial legitimiert. Um diese These zu untersuchen, werten wir verschiedene Daten zur ostsächsischen Stadt Bautzen aus, ein Ort, an dem die Alternative für Deutschland (AfD) als parteipolitischer Ausdruck des Rechtspopulismus in Deutschland, bei der Bundestagswahl 2017 mit 32,8 Prozent besonders hohen Zuspruch erfuhr. Bei der Kommunalwahl am 26. Mai 2019 gewann die AfD 23,2 Prozent und das in Teilen nun rechtspopulistische Bürgerbündnis Bautzen (BBBz) 20 Prozent der Wähler*innenstimmen. Der vorliegende Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Nach der Einleitung wird im zweiten Kapitel der Forschungsstand zu Motiven zur Wahl rechtspopulistischer Parteien, räumlichen Mustern des Rechtspopulismus und Rechtspopulismus außerhalb des Parteienspektrums aufgearbeitet. Im dritten Kapitel wird das Konzept der Normalitätsverschiebung vorgestellt, dem theoretischen Kern des vorliegenden Beitrags. Im vierten Kapitel werden die Datengrundlage und das empirische Vorgehen beschrieben. Das fünfte Kapitel zeichnet eine durch den Rechtspopulismus mit verursachte veränderte Normalität am Beispiel der Stadt Bautzen nach. Das sechste Kapitel bildet das Fazit der Arbeit.

2. Forschungsstand Zur Annäherung an ein Verständnis der gesellschaftlichen Folgen des Rechtspopulismus werden zwei Stränge des sozialwissenschaftlichen Forschungsstandes zum Themenfeld aufgearbeitet; erstens das wohl am besten erforschte zu Wahlmotiven für rechtspopulistische Parteien. Hier können wir absehen, wer genau und wieso rechtspopulistische Parteien und politischen Normen, z. B. durch die Verschiebung der Grenzen des Sagbaren sowie einer aktiven Verrohung von Sprache und Umgangsformen in politischen Debatten. 4 Peter Tauber 19. 06. 2019: Dieser Feind steht rechts. In: Welt. Online: https://www.welt.de/debatte/ kommentare/article195520597/Peter-Tauber-Muessen-endlich-Artikel-18-des-Grundgesetzes-anwenden.html [01. 11. 2020].

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unterstützt. Zentral ist dabei die Wahlklientel der AfD. Dies ist für uns notwendig, um zu verstehen, w ­ elche Überzeugungen dadurch, bei einem Erfolg von Rechtspopulist*innen, den Diskurs prägen. Damit verwoben ist das bislang nur zweitrangig erforschte Feld der räumlichen Muster des Rechtspopulismus. Durch beide Aspekte können wir besser verstehen, unter ­welchen räumlichen Konstellationen Rechtspopulist*innen erfolgreich sind und ­welche Folgen sich dabei lokal abzeichnen können. Zweitens zeigen wir auf, ­welche Erkenntnisse zu rechtspopulistischen Diskursteilnehmer*innen außerhalb des Parteienspektrums bislang vorliegen und ­welche Wirkung sie auf die Herstellung eines ausgrenzenden sozialen Klimas haben können.

2.1 Individuelle und räumliche Muster der Wahl rechtspopulistischer Parteien Die empirische Sozialforschung hat vielseitige Motive für die Wahl von rechtspopulistischen Parteien in Deutschland, insbesondere der AfD, aufzeigen können. Zentral dabei sind die sozialstrukturelle Verortung sowie die Einstellungen der Wähler*innen der AfD. Im Kontext der Sozialstruktur lassen sich in der Forschungslandschaft durchaus ambivalente Ergebnisse feststellen. Dies ist vor allem an der intensiv diskutierten These der „Modernisierungsverlierer“ 5 festzumachen.6 „Modernisierungsverlierer“ zeichnen sich durch niedrige Statuslagen aus, das heißt vorrangig geringer Bildungsgrad und niedriges Einkommen, was als Motivation für die Wahl extremer Parteien betrachtet wird.7 Lengfeld kommt auf Grundlage von Umfragedaten des Meinungsforschungsinstituts infratest dimap aus dem Jahr 2016 zu dem Schluss, dass die These der „Modernisierungsverlierer“ im Kontext von AfD-Wahlerfolgen nicht ausreichend belegt sei.8 In ihrer Analyse der Bundestagswahl 2017 stellen Vehrkamp und Wegschaider fest, dass Menschen in sozial prekären Lagen mit 28 Prozent die größte Wähler*innengruppe stellen, doch bürgerlich-konservative Milieus kombiniert 46 Prozent der Wähler*innen ausmachen,9 was ebenfalls gegen die These der „Modernisierungsverlierer“ 5 Die These der „Modernisierungsverlierer“ findet nicht nur im Kontext von rechtspopulistischem Wahlerfolg Anwendung, sondern wurde auch im Kontext rechtsextremer Parteien diskutiert und empirisch überprüft, vgl. dazu z. B. Norbert Götz 1997: Modernisierungsverlierer oder Gegner der reflexiven Moderne? Rechtsextreme Einstellungen in Berlin. In: Zeitschrift für Soziologie 26 (6), 393 – 413. 6 Holger Lengfeld 2017: Die „Alternative für Deutschland“. Eine Partei für Modernisierungsverlierer? In: Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 69 (2), 209 – 232; Thomas Lux 2018: Die AfD und die unteren Statuslagen. Eine Forschungsnotiz zu Holger Lengfelds Studie Die „Alternative für Deutschland“. Eine Partei für Modernisierungsverlierer? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 255 – 273. 7 Markus Hadler 2004: Modernisierungsverlierer und -gewinner. Ihre Anteile, Wahrnehmungen und Einstellungen in einem 30 Staaten umfassenden Vergleich. In: SWS-Rundschau 44 (1), 7 – 32, hier 10 f. 8 Lengfeld 2017, 224 – 226. 9 Robert Vehrkamp, Klaudia Wegschaider 2017: Populäre Wahlen. Mobilisierung und Gegenmobilisierung der sozialen Milieus bei der Bundestagswahl 2017. Bertelsmann Stiftung: Gütersloh, hier 61.

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spricht. Lux 10 dagegen zeigt auf Basis der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus) von 2016, „dass Personen aus den niedrigeren Statuslagen […] eine stärkere Neigung zur Wahl der AfD aufweisen“ 11 als Personen aus höheren gesellschaftlichen Statuslagen. Dass die sozialstrukturelle Lage nicht als einzig ausschlaggebende Motivation für die AfD-Wahl herangezogen werden kann, verdeutlichen Bergmann und Kollegen.12 Sie zeigen, dass AfD-Wähler*innen sozioökonomisch im Schnitt solide gestellt s­ eien, sich allerdings von anderen Wähler*innengruppen durch ihren pessimistischen Blick in die Zukunft unterschieden.13 Auf der anderen Seite stellen Franz und Kolleg*innen 14 heraus, dass AfDWähler*innen in eher strukturschwachen, insbesondere dünn besiedelten und überalterten Regionen lebten, was die These der „Modernisierungsverlierer“ zumindest partiell stützt. Eindeutige Aussagen zur sozialstrukturellen Motivation zur Wahl rechtspopulistischer Parteien lassen sich demnach nicht treffen. Neben der soziostrukturellen Verortung stellen auch Einstellungsmuster von Wähler*innen einen Aspekt dar, der entscheidend zur Wahl rechtspopulistischer Parteien motiviert. Dabei lassen sich insbesondere bei Wähler*innen der AfD einige empirisch belastbare Aussagen treffen. In d ­ iesem Kontext spielen die Aspekte Zuwanderung und Ausländer*innenfeindlichkeit die entscheidenden Rollen. Auf Grundlage der Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) aus dem Jahr 2016 macht Schröder 15 deutlich, dass AfDWähler*innen sich durch ausländer*innenfeindliche Einstellungen von Wähler*innen anderer Parteien unterschieden.16 Auch die Daten der Mitte-Studien zeigen die ausländer*innen- und zuwanderungsfeindlichen Einstellungen von Sympathisant*innen der AfD auf.17 Bislang nur im geringen Umfang beachtet worden sind Studien zur räumlichen Verteilung des Erfolgs von Rechtspopulist*innen. Im Folgenden beziehen wir uns ausschließlich auf empirische Studien zu Deutschland und Nord- sowie Westeuropa. Diese spannen sich an der Kontakthypothese, der Konflikthypothese/Bedrohungshypothese sowie der Marginalisierungs-/Deprivations-/Globalisierungs-/Modernisierungsverliererhypothese auf,18 jeweils 10 Lux 2018. 11 Ebd., 267. 12 Knut Bergmann, Matthias Diermeier, Judith Niehues 2017: Die AfD. Eine Partei der sich ausgeliefert fühlenden Durchschnittsverdiener? In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 48 (1), 57 – 75. 13 Ebd., 72. 14 Christian Franz, Marcel Fratzscher, Alexander Kritikos 2018: AfD in dünnbesiedelten Räumen mit Überalterungsproblemen stärker. In: DIW-Wochenbericht 85. 15 Martin Schröder 2018: AfD-Unterstützer sind nicht abgehängt, sondern ausländerfeindlich. In: SOEPpapers 975. 16 Ebd., 18. 17 Andreas Zick, Beate Küpper, Daniela Krause 2016: Gespaltene Mitte, feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. J. H. W. Dietz Nachf.: Bonn, hier 173. Andreas Zick, Beate Küpper, ­Wilhelm Berghan 2019: Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19. Dietz Verlag: Bonn, hier 196. 18 Darüber hinaus gibt es sozialkulturelle Erklärungsansätze, w ­ elche an dieser Stelle aber außen vor gelassen werden.

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mit sehr unterschiedlichen Befunden. Am häufigsten wird die Kontakthypothese untersucht, die davon ausgeht, dass Kontakt ­zwischen Zuwanderer*innen und länger Ansässigen einen limitierenden Effekt auf Vorurteile habe.19 Häufig wird die Konflikthypothese als Alternativhypothese formuliert,20 weswegen beide folgend gemeinsam besprochen werden. Auf räumliche Muster übertragen bedeutet dies, dass, je höher der Ausländer*innenanteil eines Stadtteils ist, desto geringer müsste der Wahlerfolg rechtspopulistischer Parteien ausfallen. Hier finden sich aber keine konstanten Ergebnisse. So zeigt Steinmayr 21 am Beispiel österreichischer Kommunen einen negativen Zusammenhang ­zwischen der Anzahl Geflüchteter in der Stadt und dem Wahlerfolg der rechtspopulistischen FPÖ. Grundlage seiner Analyse sind Daten bei Kommunal- und Landtagswahlen von 2009 bis 2015, die er mit Daten zur ökonomischen Situation aber mit der Entfernung zur Grenze verknüpft. Zu einem gegensätzlichen Ergebnis kommen Otto und Steinhardt.22 Mittels einer Längsschnittuntersuchung von Wahlen zur Bürger*innenschaft in Hamburg sowie zum Deutschen Bundestag ­zwischen 1987 und 1999 auf der Stadtteilebene (n = 103), verknüpft mit Sozialstrukturdaten, zeigen sie einen positiven Zusammenhang z­ wischen dem Ausländer*innenanteil und der Wahl rechter Parteien. Insgesamt überwiegen in räumlichen Untersuchungen negative Befunde zur Kontakthypothese. Die Marginalisierungshypothese wiederum geht davon aus, dass Menschen sich in faktischer oder empfundener wirtschaftlicher Not bei Wahlen zu autoritären Parteien hinwenden, so vor allem zu rechtspopulistischen Parteien. Die Hypothese wird immer wieder vorgebracht,23 jedoch mit nur geringer Evidenz 24 oder nur in Verbindung mit sozialkulturellen Aspekten 25. Das zeigt sich auch in den raumbezogenen Studien zu Rechtspopulismus, beispielsweise anhand der Arbeit von Bergmann und Kolleg*innen.26 Sie verknüpfen Wahl-, Umfrage- und Sozialstrukturdaten miteinander, um den Wahlerfolg der AfD zu untersuchen. Allerdings ist das gefundene Muster nicht eindeutig, so dass die Autor*innen zu dem Schluss kommen, dass die Marginalisierungshypothese den komplexen Gründen der Wahl von Rechtspopulist*innen nicht gerecht werde. Hieran knüpft Kurtenbach an, 19 Gordon W. Allport 1954: The Nature of Prejudice. Cambridge u. a. 20 Herbert Blumer 1958: Race Prejudice as a Sense of Group Position. In: The Pacific Sociological Review, 1 (1), 3 – 7. 21 Andreas Steinmayr 2016: Exposure to Refugees and Voting for the Far-Right. (Unexpected) Results from Austria. In: IZA Discussion Paper 9790. 22 Alkis H Otto, Max F. Steinhardt 2014: Immigration and Election Outcomes – Evidence from City Districts in Hamburg. In: Regional Science and Urban Economics, 45 (1), 67 – 79. 23 Z. B. Lengfeld 2017. 24 Z. B. Lux 2018. 25 Philip Manow 2018: Die Politische Ökonomie des Populismus. Suhrkamp: Berlin. 26 Knut Bergmann, Matthias Diermeier und Judith Niehues 2018: Ein komplexes Gebilde. Eine sozio-ökonomische Analyse des Ergebnisses der AfD bei der Bundestagswahl 2017. In: Zeitschrift Für Parlamentsfragen, 49 (2), 243 – 264.

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der die unterschiedlichen regionalen Muster der Wahl der AfD bei der Bundestagswahl 2017 auf Ebene der Kreise und kreisfreien Städte untersucht.27 Das Ergebnis ist, dass es vor allem Räume mit einer relativ schlechten wirtschaftlichen Entwicklung in Kombination mit relativ weitverbreiteten fremdenfeindlichen Vorstellungen s­ eien, in denen Rechtspopulist*innen Zuspruch erführen.

2.2 Rechtspopulismus außerhalb des Parteienspektrums Dass der Rechtspopulismus tief in die Gesellschaft hinein- und weit über das Parteienspektrum hinauswirkt, zeigen zahlreiche Protestbewegungen, die sich vor allem seit dem verstärkten Zuzug Geflüchteter etablieren konnten. Als prominentestes Beispiel ist dabei die Pegida-Bewegung anzuführen. Pegida steht für „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ und wurde im Dezember 2014 in Dresden ins Leben gerufen. Die Teilnehmendenzahlen stiegen bei den als „Spaziergänge“ angemeldeten Demonstrationen in Dresden von zunächst 200 auf (einmalig) bis zu 25.000 an.28 Insgesamt ist Pegida als Teil einer „Protestbewegung von rechts“ 29 zu verstehen, die sich inhaltlich klar ausländer*innen- und migrationsfeindlich sowie völkisch-nationalistisch und EU-feindlich positioniert.30 Auf Grundlage von 1106 zwei- bis dreiminütigen Face-to-Face-Interviews bei Pegida-Kund­gebungen in Dresden kommen Vorländer und Kollegen 31 zu dem Schluss, dass die Motivationen zur Teilnahme vor allem drei Kategorien entsprächen. Mit Abstand am häufigsten wird „Unzufriedenheit mit der Politik“ (53,5 Prozent) genannt, daran schließen „Kritik an Medien und Öffentlichkeit“ (18,8 Prozent) und „Vorbehalte gegenüber Zuwanderern“ (14,2 Prozent) an.32 Daphi und Kolleg*innen kommen auf Grundlage von einer Befragung von PegidaDemonstrierenden (Face to Face und online) zu dem Schluss, dass es der Bewegung „im Kern um die Artikulation von ‚gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und […] einen kaum verhüllten Rassismus“ 33 gehe. Entscheidend für das Selbstverständnis von Pegida und 27 Sebastian Kurtenbach 2018: Ausgrenzung Geflüchteter. Eine empirische Analyse am Beispiel Bautzen. Springer VS: Wiesbaden. 28 Fabian Virchow 2017: Entgrenzung und Ordnung. Entstehung und Artikulation einer völkisch-nationalistischen Massenbewegung in Deutschland. In: Neue Kriminalpolitik 29 (1), 36 – 48, hier 42. 29 Christoph Kopke 2017: Verschwörungsmythen und Feindbilder in der AfD und in der neuen Protestbewegung von rechts. In: Neue Kriminalpolitik 29 (1), 49 – 61. 30 Virchow 2017. 31 Hans Vorländer, Maik Herold, Steven Schäller 2015: Wer geht zur PEGIDA und warum? Eine empirische Untersuchung von PEGIDA-Demonstranten in Dresden. In: Schriften zur Verfassungs- und Demokratieforschung, 1. 32 Ebd., 58. 33 Priska Daphi, Piotr Kocyba, Michael Neuer, Jochen Roose, Dieter Rucht, Franziska Scholl, Moritz S ­ ommer, Wolfgang Stuppert, Sabrina Zajak 2015: Protestforschung am Limit. Eine soziologische Annäherung an PEGIDA . ipb working papers: Berlin, 53.

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anderen rechtspopulistischen Bewegungen sei zudem, dass für sich in Anspruch genommen wird, das „Volk“ zu vertreten.34 An die Seite von Pegida sind zudem lokal organisierte Demonstrationen gegen die Unterbringung Geflüchteter getreten. Dabei sind insbesondere „Nein-zum-Heim“-Bewegungen hervorzuheben, die in vielen Landkreisen, Gemeinden und Städten aktiv waren und sind. In vielen Fällen verschwimmen dabei die Grenzen z­ wischen extremer Rechter, rechtspopulis­tischen Akteur*innen und der bürgerlichen Mitte. Diese Zusammenhänge sind in mehreren Lokalstudien empirisch aufgearbeitet worden.35 Wichmann und Lamberty 36 arbeiten am Beispiel einer „Nein-zum-Heim“-Bewegung im Landkreis Dahme-Spreewald heraus, dass die Agitation und Mobilisierung insbesondere über die sozialen Medien erfolge und sich die Bewegung als „Bürgerprotest“ inszeniere, um an Anschlussfähigkeit außerhalb des ­extrem rechten Spektrums zu gewinnen.37 Auf Grundlage von Medienberichten über Proteste gegen Asylunterkünfte im österreichischen Bundesland Oberösterreich kommen R ­ osenberger und Haselbacher unter anderem zu dem Ergebnis, dass insbesondere die vertikale Achse des Populismus 38 in Form von „Wir-gegen-die-da-oben“Narrativen bedient würden. Gleichzeitig mischten sich Akteur*innen aus verschiedenen gesellschaftlichen Spektren. Die Mobilisierung erfolge durch lokale Eliten; das Hauptziel der Proteste s­ eien meist die übergeordneten politisch-administrativen Ebenen.39

3. Normalitätsverschiebung Die Skizzierung des Forschungsstandes zeigt, dass sich die Diskussionen um den Rechtspopulismus vor allem auf seine Genese beziehen und weniger auf seine gesellschaftlichen Folgen. Hierzu finden sich nur wenige Arbeiten, ­welche die Wirkmächtigkeit der diskursiven und argumentativen Herstellung eines klaren vorurteilsbasierten Freund-Feind-Schemas offenbaren, wodurch einzelne Gruppen, zum Beispiel Muslim*innen oder Geflüchtete, exkludiert, abgewertet und häufig auch kriminalisiert werden. Beispielsweise zeigen Crandall und Kollegen 40 anhand einer Panelbefragung, dass vor und nach der Wahl von Donald J. Trump 34 Ebd., 43. 35 Vgl. Fabian Wichmann, Pia Lamberty 2015: Nein zum Heim? Flucht und Asyl als Thema der extremen Rechten im Landkreis Dahme-Spreewald. In: Journal EXIT-Deutschland. Zeitschrift für Deradikalisierung und demokratische Kultur 1. Sieglinde Rosenberger, Miriam Haselbacher 2016: Populistischer Protest. Mobilisierung gegen Asylunterkünfte in oberösterreichischen Gemeinden. In: SWS-Rundschau 56 (3), 399 – 421. 36 Ebd. 37 Ebd., 149. 38 Cas Mudde 2004: The Populist Zeitgeist. In: Government and Opposition 39 (4), 541 – 563. 39 Rosenberger, Haselbacher 2016, 416. 40 Christian S. Crandall, Jason M. Miller, Mark H. White 2018: Changing Norms Following the 2016 U. S. Presidential Election: The Trump Effect on Prejudice. In: Social Psychological and Personality Science 9 (2), 186 – 192.

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zum US-amerikanischen Präsidenten, die soziale Legitimierung von Gewalt gegen Latinos angestiegen sei, eine Gruppe, ­welche während des Wahlkampfes von Donald J. Trump teils massiv kriminalisiert und stigmatisiert wurde. Demnach wird durch einen rechtspopulis­ tischen Diskurs ein soziales Klima erzeugt, welches Gewalt Vorschub leistet. Ähnlich argumentieren auch Piatkowska und Hövermann 41 und legen anhand von Daten des European Social Survey dar, dass rechtsextreme sowie rechtspopulistische Parteien ein feindseliges Klima erzeugten, welches die Abwertung von Minderheiten zu legitimeren scheine. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Rees und Kollegen in einer Untersuchung auf Ebene aller deutschen Landkreise und kreisfreien Städte.42 Die Befunde selbst bieten aber noch keine theoretische Erklärung für die Abwertung, Ausgrenzung und die Legitimierung von Gewalt gegenüber spezifischen Gruppen durch einen gesellschaftlichen Diskurs. Hier scheint der Truth-Effekt einzutreten, was bedeutet, dass eine Information als wahr angesehen wird, wenn sie nur immer wieder wiederholt wird.43 So gelingt es Rechtspopulist*innen, ihre Gruppenkonstruktionen in die Gesellschaft zu tragen. In Deutschland sehen wir dies beispielsweise an der Überschätzung des Ausländer*innensowie Muslim*innenanteils in Bevölkerungsumfragen 44 oder der Verknüpfung von Gewalt und Migrationshintergrund, vor allem beim Gebrauch von Messern 45. Daran schließt sich das Thomas-Theorem an, welches besagt, dass, wenn Menschen eine Situation als real ansähen, sie auch in ihren sozialen Konsequenzen real würden.46 Wenn also eine Gruppe diskursiv kriminalisiert wird und dieser Konstruktion aufgrund von ständigen Wiederholungen auch geglaubt wird, ist es aus dem subjektiven Erleben heraus rational, ausgrenzend zu handeln und sogar Gewalt zuzulassen oder selbst auszuüben. Dass die Phänomene der Konstruktion sowie der Abwertung von gesellschaftlichen Gruppen sich empirisch belegen lassen, zeigen die zahlreichen Befunde zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.47 41 Sylwia J. Piatkowska, Andreas Hövermann 2018: A Culture of Hostility and Crime Motivated by Bias. A Cross-National Multilevel Analysis of Structural Influences. In: International Criminal Justice Review. 42 J. H. Rees, Y. P. Rees, J. M. Hellmann, A. Zick 2019: Climate of Hate. Similar Correlates of Far Right Electoral Support and Right-Wing Hate Crimes in Germany. In: Frontiers of Psychology 10, 2328. Online: doi: 10.3389/fpsyg.2019.02328 [01. 11. 2020]. 43 Lynn Hasher, David Goldstein, Thomas Toppino 1977: Frequency and the Conference of Referential Validity. In: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior, 16 (1), 107 – 112. 44 Ipsos 2019: Studie zur Kluft z­ wischen Wahrnehmung und Wirklichkeit. Deutsche schätzen soziale Realitäten oft falsch ein. Online: https://www.ipsos.com/de-de/studie-zur-kluft-zwischen-wahrnehmungund-wirklichkeit-deutsche-schatzen-soziale-realitaten-haufig [08. 06. 2020]. 45 Sebastian Kurtenbach 2019: Dialog von seinen Grenzen her denken. Orientierungspunkte in Zeiten autoritärer Bedrohungen. In: A. Gemeinhardt (Hg.): Die Praxis der Gesellschaftswissenschaften. 30 Jahre Schader-Stiftung. Verlag der Schader-Stiftung: Darmstadt, 51 – 61. 46 Hartmut Esser 1999: Soziologie. Spezielle Grundlagen Bd. 1. Situationslogik und Handeln. Campus: Frankfurt am Main, 63. 47 Wilhelm Heitmeyer (Hg.) 2002: Deutsche Zustände. Suhrkamp: Frankfurt am Main; zuletzt Andreas Zick, Beate Küpper, Wilhelm Berghan 2019: Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen

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Der aufgezeigte Pfad der Legitimierung gruppenbezogener Abwertung durch einen rechtspopulistisch geprägten Diskurs lässt wiederum einen Rückschluss auf die dahinter stehende gesellschaftliche Dynamik zu, denn die Ausgrenzung scheint relativ unwidersprochen vonstattenzugehen. Damit verschiebt sich das relationale Konstrukt der Normalität in Bezug auf die diskursiv abgewerteten Gruppen, was Vorurteile verfestigt und aus ihnen entspringende Handlungen als akzeptabel erscheinen lässt. Damit werden Abwertung und im schlimmsten Fall Gewalt zur Alltagserfahrung für manche Gruppen. Eine ­solche Normalitätsverschiebung 48 verläuft räumlich nicht synchron und tritt an manchen Orten eher auf als an anderen. Entscheidend sind dabei die jeweiligen räumlichen Rahmenbedingungen.49 Die toxische Wirkung ist, dass eine Normalitätsverschiebung am jeweiligen Ort nicht oder nur von einigen gesellschaftlichen Akteur*innen wahrgenommen wird, da sie in alltäglichen Handlungsroutinen oder in mündlichen oder schriftlichen Diskursen eingewoben ist und dadurch nur bei einer intensiven Reflexion des eigenen Handelns und der Umwelt erkennbar wird. Kurzum: Eine kritische Reflexion des eigenen Alltags ist ein anspruchsvoller Prozess, welcher kaum auf Dauer aufrechterhalten werden kann. Demnach manifestiert sich in der Folge einer Normalitätsverschiebung eine neue Normalität, die Ausgrenzung und Gewalt gegenüber spezifischen Gruppen mit sich bringt und asymmetrische Konfliktordnungen erzeugt.50

4. Eine exemplarische Untersuchung am Beispiel Bautzen Um die bislang theoretisch diskutierten gesellschaftlichen Folgen des Rechtspopulismus zu untersuchen, widmen wir uns im Folgenden der Analyse sozialer Prozesse in einer Kommune, in welcher die AfD bei der Bundestagswahl 2017 besonders erfolgreich war. Hinter der Fallauswahl liegt die Vermutung, dass bei einem solchen Extrembeispiel die Wirkung sozialer Mechanismen besonders deutlich zutage treten kann. Dazu wurde die Stadt Bautzen in der Oberlausitz ausgewählt, in der die AfD bei der Bundestagswahl sogar ein Direktmandat gewinnen konnte. Weiterhin sind dort auch außerparlamentarische rechtspopulistische Vereinigungen und Akteur*innen aktiv. Doch ist auch eine Gegenöffentlichkeit zu erkennen, was uns einen Erkenntnisgewinn durch Kontrastierung erlaubt.51

in Deutschland 2018/19. Dietz Verlag: Bonn. 48 Ebd., 286. 49 Kurtenbach 2018. 50 Ebd. 51 Siehe zu Bautzen auch die zehnteilige Arte-Reportage Bautzen. Online https://www.arte.tv/de/videos/​ 086134-001-A/bautzen-1-10/ [08. 06. 2020].

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Der Untersuchung liegt ein breiter und zeitlich geschichteter Datenkorpus unterschiedlicher Quellen zugrunde. Den Kern bilden 112 leitfadengestützte qualitative Interviews mit Bürger*innen, Geflüchteten, Politiker*innen und Vertreter*innen öffentlicher sowie zivilgesellschaftlicher Einrichtungen aus einer Erhebungsphase z­ wischen April und Juni 2017, also unmittelbar vor der Bundestagswahl. Hinzu kommen weitere, teils rekonstruktive, Datenquellen sowie Screenshots von Social-Media-Diskussionen, Videos und Fotos. Bei dem untersuchten Fallbeispiel Bautzen handelt es sich um eine sächsische Mittelstadt. Bautzen zählt aktuell ca. 40.000 Einwohner*innen und bildet sowohl das kulturelle als auch das administrative Zentrum der Oberlausitz und des Landkreises Bautzen, in dem insgesamt ca. 300.000 Menschen leben. Dresden ist in knapp einer Stunde zu erreichen. Bautzen ist bekannt für seine Altstadt, die jedes Jahr tausende Tourist*innen anzieht. Die lokale Wirtschaft basiert hauptsächlich auf mittelständischen Unternehmen im Industrieund Servicesektor, Tourismus sowie dem Hotel- und Gastgewerbe. Trotz der Tatsache, dass Bautzen das kulturelle Zentrum der Minderheit der Sorb*innen ist, ist Bautzen als ethnisch äußerst homogen einzustufen. Der Anteil an Ausländer*innen liegt bei ca. 2 Prozent und somit deutlich unter dem Bundesschnitt von etwa 9,5 Prozent, so sind Möglichkeiten des Kontakts maßgeblich reduziert. Auf dieser Grundlage ist der Zuzug Geflüchteter ab 2015 als ein für die Stadt prägendes Kristallisationsereignis einzustufen, das einen vorübergehenden Anstieg des Ausländer*innenanteils auf rund 5 Prozent zur Folge hatte. Ebenso erhöhte sich die Sichtbarkeit von „fremd“ (nichtweiß) aussehenden Menschen an öffentlichen Orten und Plätzen, wie dem zentralen Platz Kornmarkt oder anderen Bereichen der Innenstadt. Die Geflüchteten in Bautzen wurden vor allem in einem ehemaligen Hotel (Spreehotel) und einem vorherigen Bürogebäude (Green Park) untergebracht. Auf politischer Ebene hatte die Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU) in Bautzen mehr als zwei Jahrzehnte dominiert. Der Oberbürgermeister Alexander Ahrens trat jedoch als parteiloser Kandidat der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), der Linkspartei und des Bürgerbündnis Bautzen (BBBz) an und nach seiner Amtsübernahme 2015 zwei Jahre ­später in die SPD ein. Auch die rechtsextreme Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) spielt im politischen Geschäft in Bautzen eine Rolle. Sie erhielt etwa bei den Stadtratswahlen 2014, also ein Jahr vor dem vermehrten Zuzug Geflüchteter ab 2015, 5,8 Prozent der Stimmen.52 Bei der Kommunalwahl 2019 trat sie nicht mehr an. Seit 2017 konnte vor allem die AfD starke Zugewinne verzeichnen und erhielt bei der Bundestagswahl 32,8 Prozent der Zweitstimmen. Neben der parteipolitischen Rechten ist Bautzen auch als regionales Zentrum des organisierten Rechtsextremismus, insbesondere im Zusammenhang mit AntiAsyl-Aktivitäten, einzustufen.53 52 Vgl. https://www.bautzen.de/buerger-rathaus-politik/stadtpolitik/wahlen/ [29. 03. 2021]. 53 Verfassungsschutzbericht des Freistaates Sachsen 2016: Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen. Dresden.

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5. Beunruhigende Normalität Folgend wird unter fünf Teilperspektiven die Situation in Bautzen untersucht, die aus einer demokratienahen als beunruhigend und aus einer alltäglichen Perspektive als normal erscheint. Hier ist abzulesen, wie die diskursive Kraft des Rechtspopulismus im Alltag Spuren hinterlassen kann. Dazu wird im ersten Abschnitt die sich ständig verändernde Akteur*innenlandschaft umrissen, um einen Eindruck der lokalen Machtverhältnisse zu gewinnen, aber auch, wie sich Interessenkoalitionen bilden. Im zweiten Abschnitt werden das Spektrum der alternativen Medien sowie die Rolle von Social Media diskutiert. Der dritte Abschnitt stellt die diskursive Konzentration auf die Bautzener Altstadt in den Vordergrund. Daran anschließend wird im vierten Abschnitt die soziokulturelle Fragmentierung der lokalen Bevölkerung beleuchtet und abschließend im fünften Abschnitt mit der Rationalisierung des Ausschlusses eine der gesellschaftlichen Folgen des Rechtspopulismus näher besprochen.

5.1 Diskursakteure Die Anzahl und Aktivität der unterschiedlichen Akteur*innen in der Spreestadt ändern sich permanent. Deswegen ist es kaum möglich, einen vollständigen Überblick zu leisten. Daher ist die folgende Auseinandersetzung auch nicht als abschließend anzusehen. Beginnend mit den Einzelakteur*innen in der Stadt sind sechs Personen diskursprägend; zum einen der Oberbürgermeister der Stadt Bautzen, Alexander Ahrens. Deutschlandweit bekannt wurde Ahrens, als er am Rande von teils gewalttätigen Auseinandersetzungen z­ wischen Rechts­extremen und Geflüchteten sowie Unterstützer*innen der Geflüchteten mitsamt einer Hetzjagd durch die Innenstadt mit aufgebrachten Bürger*innen allein und spontan diskutierte. Er traf sich, auf Grundlage eines als Drohbrief an die Stadtgesellschaft klassifizierten Facebook-Posts, wenige Tage ­später mit drei Rechtsextremisten in seinem Amtszimmer, um einen Überblick über die Situation zu bekommen. Dieser Schritt wiederum brachte ihm vor allem aus der Zivilgesellschaft Kritik ein, da er für rechtsextreme Akteur*innen Legitimität erzeugte. Insgesamt bemüht sich Ahrens um Dialog und Verständigung in Bautzen. Weiterhin sind der Landrat Michael Harig (CDU) und sein Stellvertreter Udo Witschas (CDU) prägende Akteure. Harig nahm vor allem in der Zeit der Organisation der Unterbringung Geflüchteter eine wichtige Rolle ein. Trotz teils massiver Proteste und persönlicher Anfeindungen setzte Harig auf Dialog und die Einhaltung von geltendem Recht. Kritik brachte ihm ein, dass er sich im Rahmen einer Bürger*innensprechstunde mit dem ehemaligen NPD-Vorsitzenden traf, über dessen Wahl kurz zuvor der Landrat nicht informiert gewesen war. Harig hat vor allem eine moderierende und rechtsstaatliche Haltung eingenommen und sich in der Öffentlichkeit stets von Rechtsextremismus und der Ausgrenzung Geflüchteter distanziert. Sein Stellvertreter Witschas wiederum provozierte im Spätsommer

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2017 einen politischen Skandal. Während der Landrat selbst im Urlaub war, ereignete sich in der Bautzener Innenstadt ein medial vielbeachteter Vorfall z­ wischen offenbar rechtsextremen Jugendlichen und einem stadtbekannten und vorbestraften Geflüchteten. Die Polizei griff ein und beleidigte den Geflüchteten nach dessen Aussagen teils rassistisch.54 Angeheizt durch die mediale Debatte schien es, dass die Situation eskalieren werde, und im Rahmen dieser Gemengelage hatten der ehemalige NPD -Vorsitzende und der Vizelandrat offenbar Kontakt, unter anderem via Facebook. Der Vorwurf war, dass der Vizelandrat, der für das Ausländeramt zuständig war, personenbezogene Daten über den geflüchteten jungen Mann an einen Rechtsextremisten weitergegeben habe. Nach eigener Auskunft sei es die Strategie von Witschas gewesen, deeskalierend wirken zu wollen.55 Zwar lehnte Harig es ab, seinen Stellvertreter zu entlassen, d ­ iesem wurde aber bis Februar 2019 die Zuständigkeit 56 für das Ausländeramt entzogen. Doch auch drei Personen, die kein politisches Amt innehaben, sind zu nennen. Der bereits angesprochene ehemalige NPD-Vorsitzende Bautzens und heutiges Mitglied der Republikaner versucht laufend, den Diskurs in der Spreestadt mitzubestimmen. Dazu sucht er das Gespräch mit politischen Amtsträger*innen, organisiert Demonstrationen und ist in Social Media aktiv. So war er einer der drei Rechtsextremisten, die von Ahrens zum Gespräch eingeladen wurden. Er inszeniert sich selbst, trotz mehrerer Vorstrafen, als Law-and-Order-Politiker, der stets ehrlich sei und die Probleme des Landes anspreche. Weiterhin ist zu nennen der Bauunternehmer Jörg Drews, welcher mit Spenden und eigenem Engagement einen signifikanten Beitrag dazu geleistet hat, dass sich in Bautzen sowohl rechtspopulistische Plattformen als auch eine neurechte Medienlandschaft etablieren konnten. Er selbst wurde im Mai 2019 für das BBBz in den Stadtrat gewählt und konnte mit Abstand die meisten Erststimmen auf sich vereinen (5569 gegenüber den Zweitplatzierten Uwe Panitz von der AfD mit 3496 Stimmen). Zudem ist seine Firma einer der größten Einzelspender der AfD. Weiterhin spendet er bzw. seine Firma regelmäßig hohe Summen für den lokalen Sport und andere Einrichtungen, was zu dem Vorwurf geführt hat, dass er sich Sympathien erkaufen wolle.57 Im Februar 2019 war er einer der beiden Protagonist*innen, der die Diskussionsveranstaltung Bautzen – Wir müssen reden! in der Maria-Martha-Kirche mit organisierte (siehe Abschnitt 5.4). Die andere Teilnehmerin war die Demokratieaktivistin Annalena Schmidt. 54 Doreen Reinhard 10. 08. 2017: Rechtsextremismus. Bautzen, Tag und Nacht. In: Zeit im Osten 33. Online: https://www.zeit.de/2017/33/rechtsextremismus-bautzen-alexander-ahrens [08. 06. 2020]. 55 Antonie Rietzschel 22. 08. 2017: Ärger in Bautzen. CDU-Politiker mit gutem Draht zur NPD. In: Süddeutsche Zeitung. Online: https://www.sueddeutsche.de/politik/aerger-in-bautzen-cdu-politiker-mitgutem-draht-zur-npd-1.3636022 [08. 06. 2020]. 56 Vgl. https://www.mdr.de/sachsen/bautzen/bautzen-hoyerswerda-kamenz/udo-witschas-darf-auslaenderbehoerde-wieder-uebernehmen-100.html; [01. Juni 2019]. 57 Marleen Hollenbach 26. 07. 2018: Streit um Sternwarten-Sponsor. In: Sächsische Zeitung. Online: https:// www.saechsische.de/streit-um-sternwarten-sponsor-3982288.html [08. 06. 2020].

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Schmidt engagiert sich in verschiedenen Foren, aber auch als Bloggerin 58 für Demokratie und eine plurale Gesellschaft in Bautzen und ist regemäßig Anfeindungen bis hin zu Drohungen gegenüber der eigenen körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt. Sie wurde 2019 als parteilose Kandidatin auf der Liste der Grünen in den Stadtratswahl gewählt. Schmidt verließ aus privat-beruflichen Gründen im Herbst 2020 die Stadt, was ebenso ihr Ausscheiden aus dem Stadtrat bedeutete. Weiterhin sind einige Gruppierungen zu nennen, die sich der Integrationsarbeit zuwenden. Im Rahmen der Zuwanderung Geflüchteter hat sich in Bautzen das Bündnis Bautzen bleibt bunt gebildet, welches ein Zusammenschluss von Engagierten und Initiativen ist, die sich für die Integration Geflüchteter einsetzen. Zudem hat sich der Verein Willkommen in Bautzen gegründet, der zugleich Träger des vom Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF) finanzierten Projektes House of Resources ist, welches unterschiedliche Projekte koordiniert, wie zum Beispiel Sprachkurse für Geflüchtete. Von Seiten des Landkreises Bautzen wurde zudem eine Abteilung Integration im Ausländeramt etabliert. Zudem finden sich zahlreiche Gruppierungen, die einem rechtspopulistischen Milieu zuzuordnen sind und sich zumeist um Jörg Drews herum aufspannen, wobei es auch andere Organisatoren gibt. Dabei sind die Abgrenzungen ­zwischen den Gruppen teils fluide und so sind kaum Unterschiede ­zwischen Wir sind Deutschland, Bürger für Bürger und der 89er zu erkennen. Vor allem Wir sind Deutschland ist publizistisch aktiv (siehe Abschnitt 5.2). Diese rechtspopulistischen Plattformen organisieren Veranstaltungen, die meist als Vorträge mit anschließender Diskussion aufgebaut sind. Referent*innen kommen in der Regel aus einer konservativen bis hin zur nationalistischen Szene und wahren einen bürgerlichen Anschein (siehe Abschnitt 5.5), wobei Teile des Besucher*innenmilieus und auch der Referent*innen der Reichsbürger-Bewegung zumindest nahestehen. Eine weitere Gruppe von Initiativen hat sich im Umfeld der Mahnwachen für den Frieden im Kontext der Krise auf der Krim 2014 gebildet. Hier hat sich, unter dem Deckmantel einer Friedensbewegung, ein diverses Konglomerat von Verschwörungstheoretiker*innen, Reichsbürger, Rechtsextremist*innen sowie Antisemit*innen zusammengefunden. In Bautzen ist diese Gruppe maßgeblich an der Organisation des Bautzener Friedenspreises beteiligt, welcher Persönlichkeiten unter anderem aus der verschwörungstheoretischen Szene auszeichnet. Weiterhin sind einige rechtsextreme Gruppierungen in Bautzen sichtbar, wobei es noch zahlreiche weitere gibt, die in der Öffentlichkeit kaum bekannt sind oder gesehen werden.59 Eine dieser Gruppierungen ist die Rockergruppe Arian Brotherhood Eastside. Mitglieder sind durch ihre Rockerkutten leicht zu erkennen. Sie traten vor allem im Umfeld der 58 Siehe: https://www.schmanle.de [08. 06. 2020]; http://www.wahlsaechsin.de [08. 06. 2020]; https://twitter. com/schmanle?lang=de [08. 06. 2020]. 59 Siehe: Verfassungsschutzbericht Sachsen zum LK Bautzen 2018.

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Abb. 1  Proteste an der B96, eigene Aufnahme vom 10. 09. 2020

Auseinandersetzungen ­zwischen Rechten und Geflüchteten auf dem Kornmarkt im September 2016 in Erscheinung. Weniger klar umrissen sind die autonomen rechtsextremen Gruppen, ­welche auf eine relativ lange Tradition in der Oberlausitz zurückblicken. Hier gibt es einige Ankerpunkte, wie Balaclava Graphics, w ­ elche sowohl für die Veröffentlichung von Fotos von Gegendemonstrant*innen bei Aufmärschen Rechtsextremer verantwortlich sind, aber auch Szenematerial wie Aufkleber sowohl herstellt als auch vertreibt. Zudem sind sie auch auf rechtsextremen Veranstaltungen wie Rechtsrockkonzerten aktiv. Aus dem Umfeld dieser Initiative hatte ebenfalls mindestens eine Person am Treffen mit Ahrens im Umfeld der Auseinandersetzungen im Herbst 2016 teilgenommen. Mit dem Aufkommen der Coronavirus-Pandemie und den Maßnahmen zu ihrer Eindämmung hat sich an der B96 nahe Bautzen sonntags ­zwischen zehn und elf Uhr ein „stiller Protest“ entwickelt. Dort stehen Menschen, ähnlich wie bei Pegida-Demonstrationen, mit Fahnen und Plakaten, um ihre Ablehnung der (Bundes-)Regierung zu zeigen. Dominiert wird diese Protestform von Reichsflaggen und Symbolen aus extrem rechten und neurechen Verschwörungskontexten. Allerdings ist keine empirisch unterlegte Aussage darüber zu treffen, w ­ elche Milieus und Personen genau an den Protesten teilnehmen.

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Alles in allem zeigt sich, dass es in Bautzen einerseits gut vernetzte und ausdifferenzierte rechte bzw. nationalistische Gruppierungen gibt, die durch zahlreiche Veranstaltungen Einfluss auf den Diskurs nehmen können, wovon nicht zuletzt die AfD profitiert. Andererseits existieren zwar durchaus Gruppierungen, die dem sozialliberalen und demokratischen Spektrum zuzuordnen sind. Diese sind allerdings zum einen weniger nachdrücklich organisiert und zum anderen nicht so zahlreich. Hinzu kommt, dass die rechten Gruppierungen bereits deutlich länger in Bautzen auftreten. Kaum zu erkennen sind, mit Ausnahme des Landrats, Bemühungen, Wege ­zwischen einer entweder vor allem ablehnenden und vor allem akzeptierenden Haltung gegenüber Zuwanderung zu finden.

5.2 Alternative Medien – alternativer Diskurs – alternative Politik In der Oberlausitz hat sich eine „alternative“ Medienlandschaft etabliert, die vor allem rechtspopulistischen Plattformen nahesteht. Dabei kommt Social-Media-Plattformen und hier vor allem spezifischen Facebook-Gruppen eine diskursprägende Bedeutung zu. In mehreren Gruppen (zum Beispiel Bautzens Freunde oder auch Das ist Bautzen) werden regelmäßig politische Beiträge veröffentlicht, häufig mit einem rechtspopulistischen Duktus. Einige der Posts dokumentieren auch eine Nähe zum Rechtsextremismus, wie Abbildung 2 zeigt. Dort ist ein Foto im Rahmen einer Gedenkveranstaltung abgebildet, mit dem typischen Motiv eines regionalbekannten Rechtsextremisten, der auf rechtsextremen Demonstrationen Gegendemonstrant*innen fotografiert und diese Fotos online stellt sowie auf Rechtsrockkonzerten aktiv ist. Zudem dient die Webseite www.fuerunserezukunft.org als Informationsquelle sowohl für Menschen, die der rechtspopulistischen Szene als auch Verschwörungstheorien, aber auch Ideen aus der Szene der Reichsbürger nahestehen. Auch sind drei weitere Formate zu nennen, die der alternativen Medienlandschaft zuzurechnen sind. Mit dem Bautzener Boten 60 hat sich ein Blog etabliert, welcher eine deutliche Nähe zum Rechtspopulismus zeigt, was nicht zuletzt an der personellen Überschneidung des Geschäftsführers Frank Peschel liegt, der Landtagsabgeordneter der AfD im Wahlkreis 52, Bautzen ist.61 Hier finden sich auch neben Lokalnachrichten Kolumnen und Meinungsbeiträge, ­welche rechtspopulistische Botschaften transportieren. Die Zeitschrift Denkste!? wird von der Plattform Wir sind Deutschland herausgegeben und bedient sich sowohl einer autoritären Sprache als auch verschwörungstheoretischen und Reichsbürger-nahen Inhalten. Die Zeitschrift wird sowohl online vertrieben als auch lokal ausgelegt. Auch gibt es mit Ostsachsen TV einen Onlinefernsehsender, der auch Reichsbürger-nahe Inhalte transportiert, wie zum Beispiel ein über einstündiges Interview mit dem selbsternannten „König von 60 Siehe: https://www.bautzenerbote.de [08. 06. 2020]. 61 Siehe https://frankpeschel.de [08. 06. 2020].

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Abb. 2  Post aus der Gruppe Das ist Bautzen

Deutschland“,62 in dem die Positionen des Gesprächspartners entgegen geltenden Standards journalistischen Arbeitens nicht kritisch diskutiert wurden. Der Sender wird von David Vandeven geführt, der zugleich im BBB z bei der Kommunalwahl 2019 für den Stadtrat antrat, aber nicht in den Rat einzog. In der gleichen Liste bewarb sich auch Jörg Drews um ein Mandat, dessen Firma, Hentschke Bau, zu den Sponsoren von Ostsachsen TV gehört. Demgegenüber steht mit der Sächsischen Zeitung 63 eine etablierte Tageszeitung, allerdings mit zurückgehender Auflage. Im zugehörigen Lokalteil für Bautzen wurden zahlreiche Beiträge zu Zuwanderung, Protesten und Diskussionen mit sehr unterschiedlichen Perspektiven veröffentlicht. Trotzdem wird der Zeitung, vor allem in Social-Media-Foren, Einseitigkeit vorgeworfen. Die Sächsische Zeitung engagierte sich, gemeinsam mit dem Deutsch-Sorbischen 62 Siehe http://www.ostsachsen-tv.com/sofatalk-mit-dem-koenig-von-deutschland-peter-fitzek-was-­ verbirgt-sich-dahinter-reichsbuerger/ [08. 06. 2020]. 63 Verlegt von der DDV-Gruppe, ­welche sowohl Gruner und Jahr als auch ddvg gehört.

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Volkstheater Bautzen, beispielsweise im April 2019 in der Gesprächsreiche Zur Sache Bautzen um einen stadtweiten Dialog.64 Bei solchen Veranstaltungen werden grundlegende ­Themen für die Stadtgesellschaft aufgegriffen und diskutiert. Sie knüpfen indirekt an die Reihe Bautzener Gespräche an, ­welche von engagierten Bürger*innen und (ehemaligen) Amtsträger*innen, wie dem langjährigen Oberbürgermeister Christan Schramm, organisiert, aber 2017 eingestellt wurden. Zudem gibt es mit Oberlausitz TV einen Onlinesender, der Nachrichten aus der Region sendet.

5.3 Die ideologische Belagerung der Altstadt Bautzen ist eine innenstadtzentrierte Kommune, dort spielen sich weite Teile des öffentlichen Lebens ab, obwohl nur wenige Menschen auch dort wohnen. Im Kontrast dazu ist im bevölkerungsreichsten Stadtteil, dem Gesundbrunnen, der öffentliche Raum, mit Ausnahme der Spielplätze, eher verwaist. Die historische Altstadt wurde in den 1990er Jahren aufwendig saniert und ist heute eine Touristenattraktion Ostsachsens und Identitätsanker der Region. In den zahlreichen Facebook-Gruppen werden mehrmals wöchentlich Fotos der Altstadt mit Motiven wie der Orthenburg, des Reichenturms oder anderen markanten Gebäuden gepostet und finden stets Zuspruch. Einige der Interviews während einer Feldforschungsphase 2017 wurden in den Wohnungen der Befragten geführt und nahezu überall hing ein Bild der Altstadt. Daneben finden relativ häufig politische Veranstaltungen in der Innerstadt oder an ihrem Rande, auf dem Kornmarkt, statt. Auch sind fast alle Parteibüros in der Altstadt verortet. Damit kommt ihr zugleich eine symbolische Bedeutung zu, die rechtsextreme Gruppen besonders deutlich ­nutzen: Wer die symbolische Deutungshoheit über die Altstadt besitzt, besitzt sie über die gesamte Stadt. Doch auch linke Aktivist*innen versuchen, einen Deutungsanspruch zu formulieren. Die symbolisch umkämpfte Deutungshoheit verläuft vor allem auf der Symbolebene, deutlich zu erkennen anhand von Graffiti und Stickern mit politischen Inhalten. Hier waren im Erhebungszeitraum 2017 zahlreiche rechtsextreme Z ­ eichen zu finden, darunter der Sticker „Nazi Kiez. Unsere Stadt, unsere Regeln“, der in der rechtsextremen Szene relativ häufig Verwendung findet und Geländegewinne veranschaulichen soll.65 Doch diese Symbolstärke rechtsextremer Gruppen wird durch linksaktivistische Gruppierungen zumindest in Frage gestellt, indem Graffiti übermalt, durchgestrichen (gecrosst) oder durch einen Zusatz in ihrer Aussage umgedreht werden. Auch das Tragen von einschlägiger Szenekleidung mit 64 Ulli Schönbach 23. 04. 2019: Zweimal „Zur Sache Bautzen“. In: Sächsische Zeitung. Online: https://www. saechsische.de/zweimal-zur-sache-bautzen-5062656.html [08. 06. 2020]. 65 Dierk Borstel, Wilhelm Heitmeyer 2013: Menschenfeindliche Mentalitäten, radikalisierte Milieus und Rechtsterrorismus. In: Stefan Malthaner, Peter Waldmann (Hg.): Radikale Milieus. Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen. Campus: Frankfurt am Main, 339 – 368.

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Abb. 3  Screenshot Tweet

teils eindeutigen rechtsextremen Emblemen ist Alltag in der Spreestadt, wie Abbildung 2, ein Screenshot eines Tweets von Annalena Schmidt, veranschaulicht. Dahingehend werden Symbole, w ­ elche gegen eine nationalistische Gesinnung stehen, abgelehnt. Während der Feldforschung wurde beispielsweise beobachtet, dass eine junge Frau, w ­ elche eine Tasche mit einem kritischen Schriftzug gegenüber der Bundeswehr trug, von männlichen Jugendlichen angefeindet wurde. Der umkämpfte Raum der Altstadt wird auch zur Bühne von Gewalt. In nahezu allen Interviews mit Geflüchteten wird berichtet, dass die Altstadt nach Einbruch der Dämmerung unbedingt gemieden werde, da es dort zu gefährlich sei.66 Zudem fanden auf dem innerstädtischen Kornmarkt im September 2016 die gewaltsamen Auseinandersetzungen mitsamt einer Hetzjagd statt. Damit wird der Hegemonieanspruch nationalistischer Gruppen 66 Kurtenbach 2018, 216.

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im Zweifel mit Gewalt durchgesetzt. Das wiederum legt nahe, dass sich nationalistische Gruppen in dem symbolisch bedeutsamen Raum auch bestätigt fühlen, gewalttätig gegenüber Geflüchteten aufzutreten. Zudem spricht dies für eine Normalitätsverschiebung, da die normative Mitte offenbar keine Gewaltabstinenz mehr beinhaltet, solange es um (männliche) Geflüchtete geht.67 Dies anzusprechen und damit darauf hinzuweisen, dass es in Bautzen ein Problem mit Rassismus gibt, wird vor Ort bereits als Anmaßung verstanden, obwohl dies unter anderem auch aus dem Verfassungsschutzbericht des Freistaates Sachsen hervorgeht.68 Das Eingestehen eines solchen Problems stimmt aber nicht mit dem Selbstbild der Stadt überein. Daher finden sich vor allem in Kommentaren auf Social Media, aber auch bei Medien wie Denkste?! Mutmaßungen über eine Verschwörung, die zum Ziel haben solle, die Spreestadt zu verunglimpfen. Wer allerdings wie und aus welchem Grund ein solches Ziel verfolgen sollte, bleibt – wie für Verschwörungstheorien typisch – unklar.

5.4 Ein entsichertes Gemeinwesen Aus den Interviews sowohl mit Politiker*innen als auch mit Bürger*innen und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft geht hervor, dass Bautzen als zerrissene, zersplitterte und in letzter Konsequenz polarisiere Stadtgesellschaft wahrgenommen wird. Die Trennungslinie verläuft vor allem an der Haltung gegenüber Zuwanderung und Integration, mittlerweile auch bei ­Themen wie Klimaschutz oder Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie. Dabei ist zu beobachten, dass Befürworter*innen und Gegner*innen der Aufnahme Geflüchteter kaum miteinander diskutieren, sondern ihre eigenen Foren schaffen, wie exemplarisch genannt das rechtspopulistische Wir sind Deutschland einerseits und das zivilgesellschaftliche Bautzen bleibt bunt andererseits. Foren außerhalb ­dieses Spektrums sind rar, da zum Beispiel die ­Kirchen nur wenige Mitglieder haben. Auch Sportvereine können eine s­ olche Austauschplattform nur unzureichend bilden, da zum Beispiel dem größten Fußballverein Budissa Bautzen durch das Sponsoring von Hentschke Bau eine Nähe zu den Positionen von Jörg Drews und den von ihm unterstützen rechtspopulistischen Foren unterstellt wird. Die wahrgenommene Fragilität des stadtgesellschaftlichen Zusammenhalts wirkt dadurch verunsichernd, zeitgleich hat der Ton der kommunalpolitischen Auseinandersetzung durch den sich etablierten Rechtspopulismus an Schärfe gewonnen. Ein Versuch, diese Situation zu verändern, geht auf die Initiative der Stadt Bautzen zurück, ­welche durch die bereits genannte Reihe Bautzen – wir müssen reden Dialog in der Stadtgesellschaft anstieß. An der Moderation ist auch die Landeszentrale für politische Bildung 67 Ebd. 68 Verfassungsschutzbericht des Freistaates Sachsen 2017: Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen, Dresden.

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Sachsen beteiligt und ebenfalls die TU Dresden. Den Auftakt machte eine Veranstaltung, bei der Jörg Drews und Annalena Schmidt miteinander in einem Fish-Bowl-Format diskutieren sollten. Ein solches ermöglicht es dem Publikum, direkt an der Debatte teilzuhaben, wofür es aber einer relativ kleinen Runde und offener Raumgestaltung bedarf. Ursprünglich war ein eben solcher Rahmen geplant, doch das Interesse war so groß, dass die Stadt die Diskussionsrunde spontan in die Maria-Martha-Kirche verlegte, ­welche über mehr als achthundert Sitzplätze verfügt (die aber nicht ausreichten). Die Veranstaltung verlief turbulent und sorgte deutschlandweit für Schlagzeilen,69 denn Annalena Schmidt wurde unter anderem bei der Zitation des Grundgesetzes von weiten Teilen des Publikums verhöhnt und in der späteren Diskussion aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Spätere ­Veranstaltungen verliefen hingegen weniger hitzig. Diese Verunsicherung bezüglich des gesellschaftlichen Zusammenhalts wurzelt aber tiefer als nur in Bezug auf die Frage, ob Zuwanderung befürwortet oder abgelehnt wird. Bei der Auswertung der Interviews mit den Bürger*innen wurde deutlich, dass die biografischen Brüche, ­welche in der Wendezeit häufig auftraten, eine erste kollektive Erschütterung darstellen. Seither ist in den Familien daran gearbeitet worden, wieder einen respektablen Status zu erreichen, der vor allem durch ein gesichertes Einkommen ermöglicht wird. Mit dem Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft änderte sich allerdings auch das Anforderungsprofil der lokalen und regionalen Arbeitgeber*innen, wenn es überhaupt noch Arbeitsplätze gab, und es wurde für formell schlecht qualifizierte Arbeitnehmer*innen kaum mehr möglich, ein geeignetes Auskommen zu finden, auch weil es einschneidende Deindustrialisierungsprozesse gab. Hieran knüpft die zweite kollektive Erschütterungswelle an, denn in der Oberlausitz ist es normal, dass man zum Studium und auch häufig zur Ausbildung den Ort verlässt und in eine Großstadt, wie zum Beispiel Dresden oder Berlin, zieht. Das taten in den 2000er Jahren vor allem junge Frauen. Daher bemüht sich der Landkreis Bautzen auch um Rückkehrer*innen, was allerdings nur in begrenztem Umfang erfolgreich zu sein scheint. Zugleich pendelt häufig ein Elternteil unter der Woche in die alten Länder, um zu arbeiten. Der Effekt ist, dass das Familienleben in der Oberlausitz häufig nur auf Zeit stattfindet und Familien so ebenfalls instabil werden, während die Zukunftsaussichten vor Ort eher düster gesehen werden – und das unabhängig von Zuwanderung. Die hier skizzierten kollektiven biografischen Erschütterungen führen dazu, dass Bautzen zu einem ‚entsicherten Gemeinwesen‘ geworden ist.70 Dadurch herrscht einerseits ein Gestaltungspessimismus und andererseits die Bereitschaft, rechtspopulistische Botschaften aufzunehmen, auch weil sie Sicherheit versprechen oder zumindest als Protest interpretiert werden. 69 Antonie Rietzschel 09. 02. 2019: Gesellschaftsklima in Bautzen. „Geh doch weg“. In: Süddeutsche Zeitung. Online: https://www.sueddeutsche.de/politik/bautzen-ostdeutschland-stimmung-1.4323482 [08. 06. 2020]. 70 Kurtenbach 2018.

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5.5 Rationalisierung der Exklusion An die Seite teils offener Fremdenfeindlichkeit tritt sowohl in den Interviews als auch in Social-Media-Foren eine vorgebliche Intellektualisierung des Ausschlusses. Dazu tragen vor allem die rechtspopulistischen Plattformen wie Wir sind Deutschland, aber auch die alternative Medienlandschaft bei. Bei der vermeintlichen Rationalisierung des Ausschlusses wird eine unvereinbare Kulturdifferenz konstruiert, wobei Geflüchtete auch zum Symbol einer imperialistischen Politik gegen das Deutschsein objektiviert werden. Dadurch gelingt es Rechtspopulist*innen, eine Verbindung z­ wischen der Ausgrenzung Geflüchteter im Alltag und politischen Protest durch die Infragestellung eines als bevormundend empfundenen Systems zu knüpfen. Die bürgerlich anmutenden Foren, die sich so bilden, tragen damit zur Rationalisierung der Exklusion bei. In der Folge einer solchen narrativen Intellektualisierung des Ausschlusses finden neurechte Ideen, vermittelt durch rechtspopulistische Plattformen, Anschluss in der bürgerlichen Mitte, wodurch sich Deutungsmuster verändern können. Die konkrete Folge ist die Konstruktion einer neuen Normalität in der bürgerlichen Mitte mittels Rückgriffen auf neurechte Argumente und Ideologeme. Fragmente der neuen Normalität finden sich dabei sowohl in den Interviews als auch in der politischen Debatte. Bei einem Vergleich, wie auf verschiedenen Ebenen über Geflüchtete in Bautzen debattiert wird, fällt auf, dass in den überregionalen politischen Arenen, dem Deutschen Bundestag und dem Sächsischen Landtag, rechtsextreme Gewalt wesentlich deutlicher benannt wird als im Vergleich zu den lokalen Arenen, dem Kreistag Bautzen und dem Stadtrat Bautzen. Das lässt sich vor allem im Umfeld der Auseinandersetzungen z­ wischen Geflüchteten und Rechtsextremen im September 2016 auf dem innerstädtischen Kornmarkt feststellen. Während auf der überregionalen Ebene dies als rechtsextreme Gewalt verurteilt wird, wird der Konflikt auf der lokalen Ebene entpolitisiert und vornehmlich als Rangelei ­zwischen betrunkenen und „eventorientierten“ Jugendlichen dargestellt.71 Widersprüchlich mutet dann die Reaktion des Bürgermeisters auf einen online veröffentlichten Erpresserbrief aus der rechtsextremen Szene an die Stadt Bautzen (Abbildung 3) an, auf dessen Grundlage er drei Vertreter der rechtsextremen Szene zu einem Termin in sein Büro einlud.72 Der narrative Erfolg ist, dass 71 Ebd., 155. 72 „Mit sofortiger Wirkung werden wir uns für eine vorläufige Ruhepause in Bautzen einsetzen und jegliche Demonstrationen und Aktionen absagen. Begründung: Ab sofort werden wir Bautzens Politikern die Möglichkeit geben, Taten folgen zu lassen. Wir erwarten eine deutlich spürbare Verbesserung der Situation in unserer Stadt. Wir werden uns die Veränderungen anschauen und wöchentlich gemeinsam entscheiden, ob wir neu mobilisieren, oder ob die Veränderungen spürbar sind. Der DemonstrationsTermin am 07.10. bleibt bestehen. Es ist nun die Aufgabe der Etablierten, Versäumnisse einzuräumen und Missstände zu beseitigen. Wir werden künftig keine Gruppierungen von trinkenden, pöbelnden und aggressiven Asylbewerbern mehr dulden.

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Extremist*innen es geschafft haben, mit demokratischen Amtsträgern über die Situation in der Stadt zu verhandeln. Auch dadurch wurden sie normalisiert, eine Strategie, die vor allem der ehemalige NPD-Vorsitzende verfolgt.

6. Fazit Ausgangsthese der Arbeit war, dass durch einen rechtspopulistisch geprägten Diskurs nicht allein die Grenzen des Sag-, sondern auch des Machbaren verschoben werden können. In der Folge werden ausgrenzende Handlungen, bis hin zu Gewalt, gegenüber spezifischen Gruppen sozial legitimiert. Dafür haben wir mit Bautzen exemplarisch eine Stadt untersucht, in der rechtspopulistische Akteur*innen vergleichsweise viel Zuspruch erfahren. Konkret wurden fünf Einzelaspekte diskutiert. Die Analyse zeigt, dass die alltäglichen Spuren des Rechtspopulismus eine normalitätsbeeinflussende Wirkung auf den stadtgesellschaftlichen Zusammenhalt entfalten. Im Windschatten einer diskursiven Veränderung, in dem nationalistische Argumente zunehmend Raum einnehmen, kommt es dann dazu, dass Ausgrenzung gegenüber einer Minderheitengruppe wie Geflüchteten als akzeptiert und sogar rational erscheint. Zeitgleich wird das öffentliche Ansprechen von Gewalt als Affront oder Verschwörung gegen ein gesamtes Gemeinwesen gedeutet. Treiber*innen einer Normalitätsverschiebung sind rechtspopulistische Akteur*innen – und das auf mehreren Ebenen. Nicht allein öffentlich präsente Einzelpersonen, sondern der Aufbau einer medialen nationalistischen Teilöffentlichkeit, aber auch eine rechtspopulistische Zivilgesellschaft sind die organisatorischen Eckpfeiler einer solchen veränderten Normalität. Zudem verschwimmen über die alltäglichen und sich normalisierenden rechtspopulistischen Positionen und Argumente zunehmend die Grenzen z­ wischen extremen und bürgerlichen, politischen und gesellschaftlichen Akteur*innen. Flankiert wird dies durch eine nur schwache Gegenwehr demokratischer Akteur*innen, auch weil durch die Kreisgebietsreform von 2008 demokratisch gewählte Entscheidungsträger kaum mehr im Alltag bekannt sind und Demokratie so kaum erfahrbar ist.73 Weiterhin, so legt die Gesamtschau der Situation des Fallbeispiels nahe, ist eine Normalitätsverschiebung in einem ‚entsicherten Gemeinwesen‘ eher möglich, weil rechtspopulistische Akteur*innen die kollektive Verunsicherung eines Gemeinwesens ausnutzen.

Wir fordern nicht nur, wir bieten auch Lösungsansätze. Gern sind wir zu einem Gespräch mit Herrn Ahrens bereit. Wir weisen darauf hin, dass es sich lediglich um eine „vorläufige“ Ruhepause handelt. Sollte sich die Situation nicht schnell und spürbar ändern, werden wir kurzfristig weitere Veranstaltungen in Betracht ziehen.“ 73 Ebd., 71.

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Mögliche Auswege müssen vor allem fallbezogen gefunden werden. Für Bautzen ist sinnvoller Ausgangspunkt, dass die kollektive biografische Verunsicherung des Gemeinwesens ernst genommen und adressiert werden muss. Das betrifft zum einen die Historie der wahrgenommenen Entmündigung, vor allem in den Wendejahren. Tief verwurzelt ist hier die Furcht vor (erneutem) sozialem Abstieg; zum anderen aber auch die Fragilität familiärer Beziehungen durch fehlende Berufsperspektiven in der Region, vor allem für junge Menschen, die noch ihre Berufsausbildung durchlaufen müssen. Für die Oberlausitz wäre die Weiterentwicklung der lokalen Berufsakademie zu einer Hochschule eine sinnvolle Option, die auch regionalökonomische Effekte hätte. Wir wissen nun mehr über die gesellschaftlichen Folgen des Rechtspopulismus und der sich fragmentiert abzeichnenden neuen Normalität. Mit einer Normalitätsverschiebung zuungunsten einer offenen Gesellschaft geht die Legitimation der Ausgrenzung von Minderheiten einher, da diese in Alltagsroutinen verankert wird. Das öffentliche Ansprechen wirkt dann wie ein vorsätzlicher Angriff auf die eigene Lebensart, was Abwehrreaktionen provoziert. Folglich müssen die zugrunde liegenden strukturellen Ursachen adressiert werden, was sowohl eine Thematisierung von Rassismus, aber auch die Herstellung von sozialer Sicherheit auf individueller Ebene und der eigenen Familie bedeutet. Das sind komplexe Antwortbündel, die in ihrer Umsetzung Zeit und eines politischen Willens bedürfen. Die Alternative ist allerdings, dass eine neue Normalität entsteht, durch die sich rechtspopulistische Akteur*innen dauerhaft etablieren können, mit allen skizzierten Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Andreas Tietze

Die Aktion Zivilcourage e. V. und die sich wandelnde demokratische Bildungsarbeit

1. Einleitung Die Sächsische Schweiz und das Osterzgebirge: Wenige Kilometer östlich und um die sächsische Landeshauptstadt Dresden herum, erstreckt sich ein Landkreis, in dem ein ausgedehnter Naturpark, weite Wanderwege und atemberaubende Landschaftskulissen Menschen aus nah und fern anziehen. Nicht zuletzt die Naturvielfalt, die sich sanft in den Sandstein eingebogenen Rundungen der Elbe, die durch schmale Gassen geprägten Städte und malerischen Gemeinden sind seit Jahren gute Argumente für längere Aufenthalte in dieser Region. Doch der Landkreis war und ist bereits über Jahre auch für eine andere, eine unrühmliche Seite bekannt: Wikingjugend,1 Skinheads Sächsische Schweiz (SSS),2 Nationaler Widerstand Pirna, NPD, Haus Montag, Klub 451,3 die Gruppe Freital,4 das Nationale Versandhaus, Stahlwerk, Peckerwood Brotherhood 5 und einige mehr. Um es kurz zu fassen: „Das rechtsextremistische Personenpotenzial lag damit im sachsenweiten Vergleich im oberen Bereich“,6 und das seit Jahrzehnten. Übergriffe, Straftaten und Einschüchterungen waren Alltag ­zwischen Heidenau und Freital, Dippoldiswalde und Sebnitz. In diesen Alltag hinein gründeten 1998 junge Menschen aus der Region die Aktion Zivilcourage e. V. Von einer Initiative Weniger ist der Verein inzwischen zu einem sächsischen Kompetenzzentrum für politische Bildung und Beratung angewachsen. Als parteiunabhängige und zivilgesellschaftliche Organisation ist die Aktion Zivilcourage mit 193 1 Seit 1994 verbotene nationalsozialistische Jugendorganisation. Vgl. BV erwG 1999: Mitteilung vom 13. 04. 1999, 20/99. 2 Neonationalsozialistische Kameradschaft, seit 2001 verboten. Vgl. Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen 2016: Augen auf ! Sehen – Erkennen – Handeln, 13. 3 Szenetreffpunkte der rechtsextremen Szene im Landkreis, Vgl. Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen 2017: Internetatlas 2017, 20. 4 Vgl. Oberlandesgericht Dresden 2018: 07. 03. 2018, 4 St 1/16. 5 Vgl. Sächsischer Landtag, Valentin Lippmann 2018: Kleine Anfrage Drs.-Nr. 6/12405. 6 Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen 2019: Sächsischer Verfassungsschutzbericht 2018, 167 – 170.

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ehrenamtlichen Vereinsmitgliedern 7 und einem breiten Angebotsspektrum eine bedeutende Institution zur Stärkung der demokratischen Kultur auf kommunaler und sächsischer Ebene geworden. Doch wie konnte diese Entwicklung gelingen? Welche Erfolgsfaktoren waren ausschlaggebend und ­welche Meilensteine und Entwicklungen sorgten dafür, dass wenige Menschen sich in einer bedrohlichen Lage derart erfolgreich zusammenschließen und ein starkes Netzwerk zur Stärkung demokratischer Strukturen etablieren konnten? Welche Maßnahmen und Erfolgsindikatoren lassen sich auf andere Regionen übertragen und wie kann eine s­ olche Initiative heute in einer Zeit wirken, in der sich zugleich auch politische und gesellschaftliche Brüche offenbaren?

2. Zwischen Musik, Rechtsextremen und Verbündeten In der Sächsischen Schweiz der 1990er Jahre wurde zunehmend zum Problem, was sich bereits in der Nachwendezeit deutlich in den polizeilichen Kriminalstatistiken abzeichnete: Bedrohung, Gewalt, Säuberungsfantasien, nationalbefreite Zonen sowie eine fast unbescholtene und sich dynamisch ausbreitende rechtsextreme Szene. Überfälle, Gewalt und Bedrohungen waren nahezu an der Tagesordnung. Rechtsextreme Gruppen sahen in Abendveranstaltungen der Jugend eine willkommene Gelegenheit, um etwa neue Kader zu rekrutieren, Räume für sich zu beanspruchen und unliebsamen Personen mit Bedrohung und Gewalt zu begegnen. Diese Situation bewegte eine Gruppe von Jugendlichen zum Handeln: Die Betroffenheit über das Agieren rechtsextremer Parteien, die steigende Anzahl an Gewalttaten und die mit Abkehr und Gleichgültigkeit reagierende Gesellschaft von Verantwortungstragenden machten deutlich, dass Reaktionen und Aktionen zur Stärkung der Gesellschaft und zur Abwehr der extremistischen Umtriebe notwendig waren. Der Widerstand gegen rechtsextreme Rekrutierungsversuche und der Wunsch, den Ereignissen und Entwicklungen im Landkreis etwas entgegenzusetzen, waren jene zwei Triebfedern für das gemeinsame Handeln. Ein Geschichtslehrer und ein Pfarrer standen als enge Verbündete und Türöffner sowie als Wegbegleiter zur Verwaltung und den Sicherheits­behörden an der Seite der jungen Menschen. Sebastian Reißig, Geschäftsführer der Aktion Zivilcourage e. V. und einer der Mitinitiatoren aus der Anfangszeit des Vereins, äußert rückblickend:

7 Aktion Zivilcourage e. V. 2021: Jahresbericht der Aktion Zivilcourage e. V. 2020. Online: https://www. aktion-zivilcourage.de/Jahresbericht2020.pdf [22. 03. 2021].

Die Aktion Zivilcourage e. V. und die sich wandelnde demokratische Bildungsarbeit

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Die Vorbehalte uns gegenüber, waren in der Anfangszeit erstmal groß. Die Unsicherheit zur Polizei zu gehen oder in Gesprächen mit der Verwaltung nicht ernstgenommen zu werden, waren die größten Herausforderungen, die es zu lösen galt.8

3. Die Entwicklung vom politischen Akteur zum politischen Bildner Mit der Unterstützung wichtiger Persönlichkeiten aus Schule, K ­ irche und Verwaltung wuchs das Verständnis, dass es mit einmaligen Gesprächen bei Bürgermeistern und Amtsträgern nicht getan sei. Beginnend mit einer Buchlesung im Jahr 1997 und mit dem Wissen, dass Vertrauen und Gemeinsamkeit geschaffen werden müssten, gründete sich ein Runder Tisch mit Vertreterinnen und Vertretern von Polizei, Justiz, Parteien, Gewerkschaften und Verwaltung. Ziel ­dieses Runden Tisches war es nicht nur, Mittel und Wege zu finden, wie man rechtsextremen Phänomenen entgegentreten konnte, sondern auch gegenseitige Vorurteile auszuräumen: etwa Vorurteile z­ wischen Polizei und Jugend, Jugend und Verwaltung sowie ­zwischen Verwaltung und Politik. Aus Furcht wurde allmählich ein Mittel zur Selbsthilfe: der Name „Aktion Zivilcourage“ entstand, weil sich die Mitglieder der Gruppe in dem herrschenden Klima im Landkreis zunächst noch nicht trauten, mit ihren je eigenen Namen zu unterschreiben. Es musste also ein Name gefunden werden, welcher das Anliegen der Gruppe deutlich machte. Die Notwendigkeit für eine institutionalisierte Organisation zur Aufklärung, Bildung und Beteiligung wuchs zunehmend. Das Jahr 2001 brachte zudem eine entscheidende Wende. Mit einer Demonstration von achthundert Personen in Pirna setzte die Aktion Zivilcourage e. V. mit ihren Verbündeten ein deutliches Z ­ eichen gegen rechtsextremistische Umtriebe und Einschüchterungsversuche in der Stadt. Dieses deutliche Z ­ eichen wurde jedoch ebenso deutlich angegriffen. Etwa achtzig gewaltbereite Personen gingen auf die Demonstranten los, verletzten Teilnehmende und konnten wüten.9 „Dieses Ereignis war ein Wendepunkt, weil nunmehr klar war, dass es nicht nur bei runden Tischen und losen Strukturen bleiben konnte.“ 10 Mit Unterstützung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) konnte im Herzen der Stadt Pirna ein Büro bezogen werden. Damit war eine wichtige Voraussetzung geschaffen, um Ausstellungen, Theaterstücke, Gedenkstättenfahrten und Veranstaltungen zu organisieren.

8 Andreas Tietze 2019: Interview mit Sebastian Reißig zur Entstehung und Arbeit der Aktion Zivilcourage e. V. 9 Simone Rafael 2007: Pirna. Ideenschmiede gegen rechten Stumpfsinn. Online: https://www.mut-gegenrechte-gewalt.de/projekte/mutmacher/mutmacher-sachsen/aktion-zivilcourage [08. 06. 2020]. 10 Tietze 2019.

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Und mit dem Bundesprogramm Civitas 11 fand sich wenig s­ päter eine erste Säule, mit der eigene Ideen umgesetzt werden konnten. Mit der Wahl von Markus Ulbig 12 zum Pirnaer Oberbürgermeister 2001 war auch eine deutliche Neuausrichtung innerhalb der Stadtverwaltung verbunden. Dem deutlichen Reputationsschaden für die Region durch immerwährende Gewalttaten, daran anschließende Negativschlagzeilen in den Medien sowie rechtsextremen Wahlerfolgen 13 musste etwas entgegengesetzt werden. Mit dem Markt der Kulturen – einem internationalen und interkulturellen Stadtfest im Herzen der Sächsischen Schweiz – wurde ein Instru­ ment der Begegnung entwickelt, welches erstmalig 2002 durchgeführt wurde. Damit konnte ein anderes, deutlich positives ­Zeichen von der Region und dem Zusammenhalt der Zivilgesellschaft gesetzt werden. Mit dem damaligen Beauftragten für Extremismus der Stadt Pirna und heutigen Geschäftsführer des Landespräventionsrats Sachsen Sven Forkert wurde ein enger Wegbegleiter auf Initiative der Aktion Zivilcourage mit der Koordinierung der „Pirnaer Initiative gegen Extremismus und für Zivilcourage“ 14 in der Stadtverwaltung angebunden und zudem mit der Koordinierung des lokalen Kriminalpräventiven Rats betraut. Seit 1998 hat sich viel in der Stadt Pirna und in der Sächsischen Schweiz getan. Die Aktion Zivilcourage e. V. ist ein fester Bestandteil geworden. „Vertrauen schaffen, Vorurteile abbauen, Geduld üben und Glück, was die unzähligen Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter angeht“ 15 – das sind jene Erfolgsfaktoren, die das Pirnaer Modell der Zusammenarbeit ­zwischen Zivilgesellschaft, Verwaltung und Polizei erst möglich gemacht haben. Mit d ­ iesem Modell ist die enge Verzahnung der drei genannten zentralen Akteursgruppen im professionellen und präventiven Umgang mit extremistischen Entwicklungen umrissen.

4. Der Blick nach vorn und die Frage: Wirkt das, was wir tun? Im Jahr 2018 feierte die Aktion Zivilcourage e. V. ihr zwanzigjähriges Bestehen mit über 150 Gästen aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik. Die Entwicklung des Vereins sucht in ihrer Ausprägung ihresgleichen. Die Durchdringung der Gesellschaft und die daraus folgende 11 Ein Aktionsprogramm der deutschen Bundesregierung gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, das 2006 auslief. 12 Markus Ulbig, CDU, war von 2001 bis 2009 Oberbürgermeister der Stadt Pirna und von 2009 bis 2017 Sächsischer Staatsminister des Innern im Kabinett Tillich II. 13 Vgl. Patrick Gensing 2018: Hochburg des Rechtsextremismus. Online: https://www.tagesschau.de/­ faktenfinder/inland/rechtsextremismus-sachsen-101.html [26. 09. 2019]. 14 Pirnaer Initiative aus Vereinen, Verbänden und Verwaltung. 15 Andreas Tietze 2019: Interview mit Sebastian Reißig zur Entstehung und Arbeit der Aktion Zivilcourage e. V.

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Wirkung auf die gesamte Region können als Beispiel für eine erfolgreiche Gegenstrategie zu rechtsextremer Landnahme im öffentlichen Raum verstanden werden. Die Arbeit des Vereins ruht heute auf mehreren Standbeinen. Dazu zählen zunächst Bildungsprogramme und Fortbildungen für Kinder, Jugendliche und pädagogische Fachkräfte im Sozialraum Kita, Hort und Schule. Im außerschulischen Bereich etwa werden Angebote durchgeführt, die das selbstwirksame Engagement von Jugendlichen fördern sowie zivilgesellschaftliche Initiativen bei der Umsetzung ihrer Engagementvorhaben beraten. Ein weiterer wesentlicher Angebotsbereich stärkt den Sozialraum Kommune mit allen Akteurinnen und Akteuren, die für eine funktionierende und resiliente Gesellschaft wichtig sind: Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, Mitarbeitenden staatlicher Behörden sowie der Bürgerschaft. Ziel der Arbeit ist es, demokratische Einstellungen und Handlungskompetenzen zu stärken sowie die Selbstorganisation und die Beteiligungsmöglichkeiten verschiedener Menschen zu fördern. Zudem setzt sich der Verein für die Vernetzung aller relevanten Akteursgruppen einer Kommune ein, um extremistischen Phänomenen professionell und geschlossen entgegenzutreten. Die Aktion Zivilcourage versteht die Arbeit und das Wirken zentraler Verantwortungstragender als Vorbilder für den gesellschaft­lichen Zusammenhalt: Nur wenn Bürgermeister*innen, Vereinsvorsitzende und Leiter*innen weiterer Institutionen ein gemeinsames Verständnis vom gesellschaftlichen Zusammenhalt haben, kann effektiv extremistischen Entwicklungen entgegengetreten werden. Wenn Menschen in verantwortungsvollen Positionen in Vereinen, Verbänden und Kommunen sich ihrer eigenen Wirkmächtigkeit sowie den Entwicklungen extremistischer Phänomene bewusst sind, können sie professionell und kompetent demokratiefeindlichen Entwicklungen begegnen. Mit über 523 Beratungsgesprächen unter anderem mit Kommunen, Vereinen und Engagierten sowie mit einer dreistelligen Anzahl von Workshops und Bildungsangeboten an Schulen war der Bedarf an Angeboten der politischen Bildung und Beratung im Jahr 2018 ­ eichen nochmals höher als in den Vorjahren.16 Auf der einen Seite ist es ein deutliches Z der Wirksamkeit, dass zunehmend unterschiedliche Zielgruppen Gebrauch von etablierten Angeboten des Vereins machen. Von einem anderen Standpunkt aus zeigen diese Zahlen jedoch auch, dass Konflikte, extremistische Vorfälle oder Vorfälle herabwürdigender Natur konkrete Ergebnisse der zunehmenden gesellschaftlichen Verrohung in Taten und Worten der letzten Jahre sind.

16 Aktion Zivilcourage e. V. 2018: Statistische Erhebung über durchgeführte Beratungen und Bildungsangeboten.

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5. Das Pirnaer Modell: Handlungsoptionen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt Seit 2015 konnte man in Deutschland, speziell in Sachsen und vor allem in den sozialen Netzwerken, Mechanismen kommunikativer und gesellschaftlicher Verrohung beobachten. Zunehmend war es en vogue geworden, „mal endlich auszusprechen, was die anderen dachten“, und oft genug wurden verbale Entgleisungen als „mutig“ oder gar als „notwendig“ verharmlost. Chiliastische Sehnsüchte nach „Bürgerkriegen“, „Ausnahme-“ und „Chaos­ zuständen“ sowie die Beschwörung fehlender staatlicher Souveränität waren gerade in Bürgerversammlungen im gesamten Freistaat Sachsen oder in sozialen Netzwerken nahezu inflationär hör- und sichtbar. Vor d ­ iesem Hintergrund brachte sich die Aktion Zivilcourage bei der Durchführung von Dialogveranstaltungen mit beratendem Wissen ein und stellte dafür auch Moderatoren zur Verfügung. So wurden bei wichtigen Veranstaltungen Gesprächssituationen ermöglicht, die zumindest den Willen zur Sachlichkeit erkennen lassen konnten.17 Viel zu oft jedoch gelang selbst dies nicht. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach 2018 deshalb folgerichtig von einer kruden „Lust am Untergang“ und von bewusst schürenden „öffentlichen Abgesängen auf die Demokratie“.18 Gerade 2015 und die folgenden Jahre waren jedoch durch gesellschaftliche Herausforderungen und Umbrüche geprägt. Angebote interkultureller Kommunikation und ein professioneller Umgang mit gesellschaftlichen Problemen waren und sind zum Teil in Verwaltungsstrukturen noch immer nicht etabliert. Die gesellschaftlichen Verwerfungen ­zwischen politischen und staatlichen Institutionen auf der einen Seite und der Bevölkerung auf der anderen Seite waren und sind teilweise hausgemachte Probleme.19 So verschärften sich Unsicherheiten, eine Abwendung von „der Politik“ und schlussendlich auch gesellschaftliche Polarisierungseffekte nachhaltig. Entsprechend verstärkte sich auch eine Entwicklung der gesellschaftlichen Abspaltung und Abkapselung. Bereits vorhandene digitale Filter­blasen manifestierten sich zunehmend zu abgeschotteten verbalen wie ideologischen Festungswerken. 17 Von 2013 bis 2017 moderierte das Projekt Kommune im Dialog der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung über 160 kontroverse Bürgerversammlungen. Im Projektverbund Krisen Dialog Zukunft wertet die Aktion Zivilcourage e. V. gemeinsam mit der Technischen Universität Dresden und weiteren Partnern Kommunikationsprozesse aus und analysiert die Bedingungen erfolgreicher Moderationen in Krisensituationen. 18 Rede des Bundespräsidenten im Rahmen eines Besuchs des 27. Wissenschaftlichen Kongresses der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt vom 26. 09. 2018. Online: https://www.bundespraesident.de/shareddocs/Reden/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2018/09/180926DPVW-Kongress-Frankfurt.html [08. 06. 2020]. 19 Gerade im Bereich der bürgernahen Kommunikation gab und gibt es wahrnehmbare Defizite. Die Spannung aus zu viel und zu wenig Kommunikation wurde von zahlreichen Kommunen mangels ausreichender Zeitressourcen zugunsten von Intransparenz der Entscheidungen aufgelöst.

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In der Folge sind Abschottungstendenzen und Unsicherheiten nicht nur in der Bevölkerung, sondern vor allem auch auf den Ebenen der staatlichen Entscheidungsfindung zu registrieren. Diese Entwicklungen wirken nicht zuletzt auch wie eine Einladung für radikale und extremistische Kräfte, ­welche die Schwäche staatlicher Verfasstheit und etablierter Institutionen auszunutzen wissen. Mit den zunehmenden Abschottungstendenzen sind wiederum die Unsicherheiten staatlicher, wie nichtstaatlicher Institutionen bei ihrer notwendigen Zusammenarbeit gestiegen. Die Aktion Zivilcourage e. V. agiert in Anbetracht der aktuellen gesellschaftlichen Heraus­forderungen als lokale und überregionale Mittlerin, Bildnerin und als Stabilitätsanker. Während die Bildung und Weiterbildung von diversen Zielgruppen zu Entwicklungen und Ausprägungen extremistischer Phänomenbereiche bereits von Anbeginn an Kernbestandteil der Vereinsarbeit waren, entwickelte der Verein zunehmend eine wichtige Scharnierfunktion ­zwischen Zivilgesellschaft, Verwaltung und Sicherheitsbehörden mit dem Ziel, Vorurteile abzubauen, kurze Kommunikationswege zu etablieren und ein gemeinsames Verständnis vom gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schaffen. Im Kern dieser Arbeit steht das Verständnis, dass gesellschaftliche Verantwortungstragende durch ein vertrauensvolles Miteinander gestärkt, die unterschiedlichen Akteure der Arbeitsebene miteinander vernetzt und Fachwissen und Kompetenzen nachhaltig und regelmäßig vermittelt werden müssen. Gleichsam setzt die Vereinsarbeit bei ihren Vernetzungsbemühungen bewusst nicht auf Konfrontation, sondern auf Kooperation – und dies, obwohl Konfrontationen und gesellschaftliche Kontroversität als Kernelement demokra­ tischer und liberaler Gesellschaften gewünscht wird. ‚Gemeinsamkeit durch Kontroversität‘ wird als ‚gesellschaftliche Stärke‘ und als Möglichkeit der besseren Entscheidungsfindung begriffen. Aus d ­ iesem Verständnis heraus kann man gleichsam „mit allen“ sprechen und dennoch eigene Werte vertreten sowie deutlich machen, dass gesellschaftliche G ­ rundpfeiler in ihren Ausprägungen und Gestaltungsweisen diskutierbar, aber im Grundsatz nicht verhandelbar sind. Die politische Bildung gerät durch die derzeitigen politischen Entwicklungen in den ostdeutschen Bundesländern zunehmend unter Druck. Doch begreift der Verein die Situation und die grundsätzlichen Instrumente der gesellschaftlichen wie parlamentarischen Kon­ trolle als wichtige Chance, die Qualität der eigenen Angebote zu stärken und weiterzuentwickeln. Dementsprechend wird jedwede staatliche und nichtstaatliche Unterstützung als Chance und Auftrag gesehen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt nachhaltig zu stärken. Das gelingt nur, wenn Kommunikationswege geöffnet, Vorurteile abgebaut und mit Haltung und Respekt in gesellschaftliche Kontroversen gegangen wird.

Anna-Maria Schielicke, Cornelia Mothes und Antje Odermann

(A)Soziale Medien Hasskommentare im Internet als Radikalisierungsmoment

1. Einleitung Dass soziale Medien in den vergangenen Jahren zunehmend auch ein asoziales Potenzial offenbaren, zeigt sich in den derzeitigen gesellschaftlichen Debatten über das Thema ebenso wie in konkreten Einzelfällen. In unseren Workshops zum Thema Hate Speech begegneten uns immer wieder Menschen, die sich eine ‚Kommentardiät‘ auferlegt hatten, weil sie bei politischen ­Themen im Netz häufig mit verstörenden bis beängstigenden Äußerungen konfrontiert wurden und nicht damit umzugehen wussten. Tatsächlich ist davon auszugehen, dass rund ein Drittel der Kommentare auf Webseiten und in sozialen Medien irgendeine Form von Hate Speech enthält.1 Auf die unflätigste Weise werden dort Menschen beleidigt, diffamiert und nicht selten auch direkt bedroht. Drei von vier Internetnutzer/-innen gaben Ende 2016 in einer europaweiten Umfrage an, dass sie schon einmal direkt oder indirekt mit Hate Speech im Internet konfrontiert gewesen s­ eien.2 Zeitgleich wuchs die Zahl polizeilich erfasster Fälle von Volksverhetzung auf ein Rekordniveau.3 Mit Blick auf die im gleichen Zeitraum ansteigenden rechtsextremen Straftaten 4 wurden rasch Stimmen laut, die einen Zusammenhang ­zwischen dem rauer werdenden Ton im Netz und dem Anstieg von Straftaten vor allem aus dem rechten politischen Spektrum mutmaßten. Derartige Vermutungen konkretisierten sich in jüngster Vergangenheit 1 Zizi Papacharissi 2016: Democracy Online. Civility, Politeness, and the Democratic Potential of Online Political Discussion Groups. In: New Media & Society. 6 (2), 259 – 283; Marc Ziegele, Timo Breiner, ­Oliver Quiring 2014: What Creates Interactivity in Online News Discussions? An Ecplanatory Analysis of Discussion Factors in User Comments on News Items. In: Journal of Communication 64, 1111 – 1138. 2 Eurobarometer 2016: Media Pluralism and Democracy. Online: http://ec.europa.eu/information_society/ newsroom/image/document/2016-47/sp452-summary_en_19666.pdf [07. 06. 2020], 45. 3 Bundesministerium des Innern 2016: Polizeiliche Kriminalstatistik 2016. Online: https://www.bka.de/DE/ AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/PKS2016/pks2016_node.html [07. 06. 2020], hier 113. 4 Bundesministerium des Innern 2017: Verfassungsschutzbericht 2016. Online: https://www.verfassungs​ schutz.de/de/oeffentlichkeitsarbeit/publikationen/verfassungsschutzberichte/vsbericht-2016 [07. 06. 2020], hier 24.

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Anna-Maria Schielicke, Cornelia Mothes und Antje Odermann

nach dem mutmaßlich rechtsextrem motivierten Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Analysen von Kommentierungen auf Nachrichtenwebseiten und in sozialen Medien zeigen, dass vor allem aus dem rechten politischen Spektrum gern und viel kommentiert wird 5 und entsprechende Kommentierungen einen höheren Anteil an Hate Speech aufweisen. Bei dem Versuch, einen kausalen Zusammenhang z­ wischen Hate Speech und Hate Crimes herzustellen, ist jedoch Vorsicht geboten. Radikalisierung ist ein komplexer Prozess, in dem die Mediennutzung nur ein Rädchen unter vielen ist, wenngleich kein unwesentliches.6

2. Die Enthemmung des öffentlichen Diskurses Gerade mit den sozialen Netzwerken sind ganz neue Möglichkeiten der Selbstdarstellung, Mobilisierung, Vernetzung und Partizipation entstanden. Neben den traditionellen Institutionen der Nachrichtenvermittlung und Kommentierung ebnet das Internet nahezu jeder und jedem den Weg, mit wenig Aufwand und fast ohne Kosten seine Sicht auf die Dinge kundzutun. Der „Arabische Frühling“ oder die MeToo-Bewegung hätten ohne das Internet sicher nicht ihre Durchschlagskraft entwickelt. Der Markplatz der Meinungen, der für eine Demokratie essenziell ist, ist also erweitert worden. Was einst als demokratisierender Effekt des Internets gefeiert wurde,7 zeigt in den letzten Jahren aber auch deutlich seine Schattenseiten. Im wenig bis gar nicht regulierten Raum des Internets bleiben viel zu häufig extreme, beleidigende, volksverhetzende Äußerungen unkommentiert und werden nicht sanktioniert. Häufig – so auch in den Workshops, die wir zum Thema Hate Speech durchgeführt haben – wird in d ­ iesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass man als normale/-r Nutzer/-in nicht in der Lage sei einzuschätzen, ob es sich um einen strafbaren Inhalt handele oder nicht, und daher nicht interveniere, wenn man auf entsprechende Kommentare stoße. Dies sollte jedoch kein Kriterium sein. 5 Thomas N. Friemel, Mareike Dötsch 2015: Online Reader Comments as Indicator for Perceived ­Public Opinion. In: Martin Emmer und Christian Strippel (Hg.): Kommunikationspolitik für die digitale Gesellschaft. Freie Universität Berlin: Berlin, 151 – 172. 6 Peter Neumann, Charlie Winter, Alexander Meleagrou-Hitchens, Magnus Ranstorp, Lorenzo Vidino 2018: Die Rolle des Internets und Sozialer Medien für Radikalisierung und Deradikalisierung. In: PRIF Report 2018 (10). Online: https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK /hsfk_publikationen/prif1018.pdf [07. 06. 2020]. 7 Zizi Papacharissi 2016: Democracy Online. Civility, Politeness, and the Democratic Potential of Online Political Discussion Groups. In: New Media & Society 6 (2), 259 – 283; Marc Ziegele, Timo Breiner, Oliver Quiring: What Creates Interactivity in Online News Discussions? An Ecplanatory Analysis of Discussion Factors in User Comments on News Items. In: Journal of Communication 64, 1111 – 1138, hier 260.

(A)Soziale Medien

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Auch die Wissenschaft hat sich in den Anfangstagen der Erforschung von Hate Speech zunächst auf juristisch relevante Inhalte von Sprache konzentriert.8 Mittlerweile ist die Definition von Hate Speech jedoch erweitert worden und umfasst jegliches „inziviles“ verbales Verhalten.9 Grund für die Erweiterung des definitorischen Rahmens war unter anderem die Erkenntnis, dass auch nicht strafrechtlich relevante Ausdrucksformen radikalisierend wirken könnten und in der Prävention das Erkennen und die Analyse von Vorformen strafrechtlich relevanter Rede (und Taten) notwendig s­ eien. Wenngleich es im akademischen Kontext immer noch eine ganze Reihe von Definitionen für Hate Speech gibt, haben sich einige Merkmale allgemein durchgesetzt: Als Hate Speech werden Äußerungen bezeichnet, die auf Gruppen oder Einzelpersonen als Mitglieder bestimmter Gruppen zielen.10 Gruppen können dabei durch verschiedene Merkmale definiert sein. Besonders häufig sind das Herkunft, Geschlecht, Religion, politische Ausrichtung, Alter und sexuelle Orientierung.11 Inhaltlich ist ein wesentliches Merkmal von Hate Speech, dass sie Feindseligkeit impliziert, verbunden mit dem Wunsch, die Personen oder Gruppen zu verletzen oder gar zu beseitigen.12 Für Sponholz ist Hate Speech darüber hinaus nur der Teil sprachlicher Äußerungen, die sich an die Öffentlichkeit richten.13 Ein Beispiel für Hate Speech wäre etwa der Satz „Die Ausländer nehmen uns unsere Frauen weg“. „Die Ausländer“ werden hier als homogene Gruppe dargestellt, die der InGroup („uns“) gegenübergestellt wird. Der Out-Group („den Ausländern“) wird nun pauschal unterstellt, sie kämen ins Land, um Frauen zu rauben. Der In-Group wird hier also etwas weggenommen. Auch Frauen erfahren hier im Übrigen eine Diffamierung, da ihnen pauschal der freie Wille abgesprochen und ein Objektstatus zugewiesen wird. Pauschalisierungen dieser Art („die Politiker“, „die Ausländer“) sind dazu geeignet, Menschen zu deindividualisieren. Personen mit bestimmten Merkmalen werden nicht mehr als Einzelpersonen betrachtet, sondern nach ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe beurteilt. Wenn nun 8 Jennifer M. Allen, George H. Norris 2012: Is Genocide Different? Dealing with Hate Speech in ad PostGenocide Society. In: Journal Of International Law & International Relations 7 (1), 146 – 174, hier 158 – 168; Zeynep Özarslan 2014: Introducing Two New Terms into the Literature of Hate Speech. „Hate Discourse“ and „Hate Speech Act“. Application of „speech act theory“ into hate speech studies in the era of Web 2.0. Online: http://iletisimdergisi.gsu.edu.tr/download/article-file/82871 [07. 06. 2020], 57 – 59. 9 Für einen Überblick: Andrew Sellars 2016: Defining Hate Speech. Online: https://ssrn.com/abstract=​ 2882244 [07. 06. 2020]. 10 Robert Faris, Amar Ashar, Urs Gasser, Daisy Joo 2016: Understanding Harmful Speech Online. Online: https://ssrn.com/abstract=2882824 [07. 06. 2020], 5. Bhikhu Parekh 2006: Hate Speech. In: Public Policy Research 12 (4), 213 – 223, hier 214. 11 Karmen Erjavec, Melita Poler Kovačič 2012: „You Don’t Understand, This is a New War!“ Analysis of Hate Speech in News Web Sites’ Comments. In: Mass Communication and Society 15 (6), 899 – 920, hier 900. 12 Bhikhu Parekh 2006: Hate Speech. Public Policy Research 12 (4), 213 – 223, hier 214. 13 Liriam Sponholz 2018: Hate Speech in den Massenmedien. Springer: Wiesbaden, hier 58.

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bestimmten Gruppen immer wieder bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden (zum Beispiel rauben, morden, verraten), werden auch den Einzelpersonen diese Eigenschaften zugeschrieben. Dies führt nach gewisser Zeit zu einer negativen Stereotypisierung dieser Gruppen, was für einige schließlich auch aggressive Handlungen den Gruppen oder vermeintlichen Gruppenmitgliedern gegenüber legitimiert („Notwehrargument“). Phänomene der negativen Stereotypisierung, wie eben beschrieben, kennt die Wissenschaft schon aus dem vordigitalen Zeitalter. Im Netz ist es allerdings wahrscheinlicher, dass Personen s­ olche Pauschalisierungen und Diffamierungen äußern. Gleichzeitig ist es wahrscheinlicher geworden, dass derartige Pauschalisierungen und Diffamierungen in extremerer Weise geäußert werden. Man spricht in d ­ iesem Zusammenhang vom Online Disinhibition Effect,14 also von einem Enthemmungseffekt im Internet. Dieser wird vor allem durch die Möglichkeit befördert, im Netz anonym zu bleiben.15 Während man „offline“, also in Diskussionen außerhalb des Internets, jederzeit identifizierbar und damit auch kritisierbar ist, kann man sich im Netz hinter Fake-Profilen verstecken und entgeht so gesellschaftlicher und oftmals auch juristischer Sanktionierung. Mit den Ergebnissen von Lapidot-Lefler und Barak ist darüber hinaus anzunehmen, dass auch Nutzer/-innen mit nichtanonymisierten Profilen zu radikaleren Äußerungen im Netz neigten, da allein das Fehlen des Augenkontaktes in Onlinediskussionen zur Enthemmung führen könne.16

3. Laute Minderheiten, schweigende Mehrheiten Befördert wird die Enthemmung natürlich auch durch das Umfeld, in dem man sich bewegt. Insbesondere für Menschen, die grundsätzlich dazu tendieren, sich mit Inhalten auseinanderzusetzen, die ihrer eigenen Weltsicht entsprechen, wird befürchtet, dass die Onlinewelt eine ­solche aktive, einstellungskonforme Selektion über Algorithmen noch verstärkt. Basierend auf der von Nutzer/innen getroffenen Auswahl von Seiten, Profilen und Inhalten liefern Algorithmen Inhalte, die dem bisherigen Nutzungsverhalten weitgehend entsprechen. Gleichwohl es auch Nutzer/-innen gibt, die sich bewusst mit gegensätzlichen Standpunkten auseinandersetzen, und auch Algorithmen hin und wieder „nichtkonforme“ Inhalte präsentieren, ist die Befürchtung einer verstärkten Einseitigkeit bei der Informationsselektion im Internet nicht ganz unbegründet. 14 John Suler 2004: The Online Disinhibition Effect. In: CyberPsychology & Behavior 7 (3), 321 – 326. 15 Ian Rowe 2014: Civility 2.0: A Comparative Analysis of Incivility in Online Political Discussion. In: Information, Communication & Society 18 (2), 121 – 138; Arthur D. Santana 2013: Virtuous or Vitriolic. In: Journalism Practice 8 (1), 18 – 33. 16 Noam Lapidot-Lefler, Azy Barak 2012: Effects of Anonymity, Invisibility, and Lack of Eye-contact on Toxic Online Disinhibition. In: Computers in Human Behavior 28 (2), 434 – 443.

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Vermutet wird insbesondere, dass die aktive (von Nutzer/-innen ausgehende) und passive (von Algorithmen ausgehende) Selektion im Netz Echokammern entstehen lasse. Darunter werden weitgehend meinungshomogene Räume verstanden, die Nutzer/-innen wieder und wieder die eigene Meinung zurückspiegeln, wodurch diese permanent Bestätigung erfährt. Über die Zeit hinweg können sich so Weltsichten verengen und extremer werden. Auch wenn reine Echokammern wohl nicht existieren, zeigen Netzwerkanalysen für Facebook 17 und Twitter,18 dass sich Gruppen mit unterschiedlichen politischen Haltungen im Internet zunehmend separieren. Analysiert wurden in beiden Studien Profile von Politiker/-innen und Parteien sowie im Falle von Facebook auch von überregionalen Medienmarken. Während sich bei den meisten Parteien zwar durchaus eine Gruppenbildung zeigt, sind die Gruppen untereinander noch stark vernetzt und bilden letztlich eine große Gruppe. Davon deutlich separiert, wenngleich nicht ganz ohne Verbindungen zu den anderen Gruppen, zeigt sich eine Art „rechter Blase“ – vornehmlich bestehend aus Politikern der AfD sowie Medien des rechten Spektrums. Bewegt man sich, selbst gewählt oder durch die Funktionsweise von Algorithmen forciert, in weitgehend meinungshomogenen Räumen, besteht die Gefahr, dass man hinsichtlich der Wichtigkeit von ­Themen und der Verteilung von Meinungen zu falschen Einschätzungen kommt. Aber auch außerhalb der Echokammern kann es zum Beispiel durch einseitige Kommentierungen im Netz zu Fehlwahrnehmungen über die öffentliche Meinung kommen.19 In der Auswertung von Kommentaren auf den Webseiten von Tageszeitungen in der Schweiz kamen Friemel und Dötsch zu dem Ergebnis, dass Kommentierende im politischen Spektrum weiter rechts stünden als die Leser der Kommentare.20 Das hat einen Einfluss auf die Themensetzung in den Kommentarspalten und die Bewertungen der Kommentar; ein Umstand, der den Leser/-innen der Kommentare aber nicht bewusst ist. Sie nehmen an, dass die Kommentare ein Spiegel der öffentlichen Meinung ­seien. Hier setzt ein Phänomen an, welches ebenfalls aus dem vordigitalen Zeitalter bekannt ist – der Effekt der Schweigespirale.21 Menschen beobachten unablässig, ­welche ­Themen relevant sind und ­welche Meinungen und Einstellungen in der Öffentlichkeit vorherrschen. Sieht sich ein Mensch mit seiner Meinung in der Minderheit, tendiert er dazu, diese nicht mehr öffentlich zu äußern. Eine sich in den Kommentarspalten laut und häufig äußernde Gruppe mag dadurch zwar nicht die Mehrheit der Gesellschaft abbilden, wird jedoch durch 17 Süddeutsche Zeitung vom 29. 10. 2017: Der Facebook-Faktor. Online: http://gfx.sueddeutsche.de/apps/ e502288/www/ [07. 06. 2020]. 18 Markus Reuter 2017: Treue Gefolgschaft – so twittert die AfD. Online: https://netzpolitik.org/2017/treuegefolgschaft-so-twittert-die-afd/ [07. 06. 2020]. 19 Wolfgang Schweiger 2017: Der (des)informierte Bürger im Netz. Springer: Wiesbaden, hier 128 – 137. 20 Thomas N. Friemel, Mareike Dötsch 2015. 21 Elisabeth Noelle-Neumann 198: Die Schweigespirale: Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut. ­Ullstein: Frankfurt am Main.

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die beschriebenen Verzerrungen als ­solche wahrgenommen. Dies kann in einer Spiralwirkung münden: Die Minderheit wird immer mehr als eine Mehrheit wahrgenommen, da immer mehr Mitglieder der Mehrheit schweigen und sich aus den Diskussionen zurückziehen. Was für die verzerrte Wahrnehmung von Inhalten gilt, gilt auch für die verzerrte Wahrnehmung hinsichtlich der Intensität und Form der Präsentation. Je radikaler sich in Kommentierungen geäußert wird und je weniger dies sanktioniert wird, desto eher kommen Nutzer/innen zu der Einschätzung, dass diese Form der Meinungsäußerung gesellschaftlich akzeptabel sei – der Ton im Kommentarverlauf wird so immer rauer. Umgekehrt ziehen sich gemäßigtere Kommentierende aus der Diskussion zurück. In der Wissenschaft spricht man dann von einem Silencing Effect.22 In der bereits erwähnten europaweiten Umfrage gab jede/-r zweite Internetnutzer/-in an, sich nicht an Debatten zu beteiligen, die Hate Speech beinhalteten.23 Wenige ‚Laute‘ können so ganze Diskurse vergiften und schließlich sogar die öffentliche Meinungsbildung beeinflussen, weil Mitlesende (Bystander) hinsichtlich relevanter ­Themen, Meinungen und auch der Art der akzeptablen Meinungsäußerung falsche Schlüsse ziehen. So konnte bereits gezeigt werden, dass sich durch inzivile Äußerungen die Risikowahrnehmung verschärfe und die Gesellschaft als polarisierter wahrgenommen werde, als sie tatsächlich sei.24 Problematisch werden diese Äußerungen nicht zuletzt dadurch, dass sie sehr schnell Verbreitung finden, „viral gehen“ und im Cyberspace für lange Zeit, wenn nicht für immer, sichtbar bleiben.25 Konflikte und Provokationen ziehen zudem grundsätzlich weit mehr Aufmerksamkeit auf sich als gemäßigtere Stimmen. Das Internet ist eben nicht der vielzitierte Stammtisch, an dem derartige Äußerungen schon immer getätigt wurden. Anders als in einer schummrigen Kneipe stehen nicht nur drei Dutzend Leute nebendran und hören zu, sondern es sind tausende. In einer Analyse von Kommentarspalten der Profile der Jungen Freiheit, der Süddeutschen Zeitung und der taz mussten wir dabei feststellen, dass Kommentare, die Elemente von Hate Speech enthielten, signifikant mehr Likes erhielten als Kommentare ohne Hate Speech. Entsprechend der Logik des Netzes werden Kommentare mit vielen Likes anderen Nutzer/-innen wiederum prominenter präsentiert, so dass sich die Aufmerksamkeit für Hate-Speech-Kommentare nochmals steigert. 22 Thomas Zerback, Nayla Fawzi 2017: Can Online Exemplars Trigger a Spiral of Silence? Examining the Effects of Exemplar Opinions on Perceptions of Public Opinion and Speaking Out. In: New Media & Society 13 (3), 1034 – 1051. 23 Eurobarometer 2016, 48. 24 U. a. Ashley A. Anderson, Dominique Brossard, Dietram A. Scheufele, Michael A. Xenos, Peter Ladwig 2014: The „Nasty Effect“ Online Incivility and Risk Perceptions of Emerging Technologies. In: Journal of Computer-Mediated Communication 19 (3), 373 – 387; Hyunseo Hwang, Youngju Kim, Catherine U. Huh 2014: Seeing is Believing. Effects of Uncivil Online Debate on Political Polarization and Expectations of Deliberation. In: Journal of Broadcasting & Electronic Media 58 (4), 621 – 633. 25 Richard Delgado, Jean Stefancic 2014: Hate Speech in Cyberspace. Online: https://ssrn.com/abstract=​ 2517406 [07. 06. 2020].

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4. Statt Schweigen: Was man gegen Hass im Netz tun kann In unseren Workshops sind uns Menschen begegnet, die sich in toxische Diskussionen eingemischt und dort nahezu aufgerieben haben. Dies lag vor allem an falschen Erwartungen. Das Ziel dieser Interventionen war es überwiegend, die/den Kommentator/-in zu „überzeugen“. Dies ist jedoch oft ein aussichtsloser Kampf, weil die meisten Hater gar nicht an Diskussionen interessiert sind, eher eine Mission verfolgen und daher auch unzugänglich für Fakten und Argumente bleiben. Grundsätzlich unterscheidet man auf Seiten der Hater sogenannte soldiers, believers, players und watchdogs – also Soldaten, Gläubige, Spieler und Wachhunde.26 Soldiers gehören einer mehr oder weniger organisierten gesellschaftlichen oder politischen Gruppe an oder fühlen sich dieser zugehörig. Sie sind oft demokratiekritisch bis demokratiefeindlich und setzen Hate Speech als Mittel ein, um die eigene Ideologie zu kolportieren, die Gruppe zu verteidigen und den „Feind“ der (Eigen-)Gruppe zu zerstören. Believers hängen einer bestimmten Ideologie an und sehen für sich die Aufgabe darin, über Hate Speech eine Mission zu erfüllen. Bei beiden Gruppen handelt es sich um „Glaubenskrieger“, die eine politische Überzeugung sehr aktiv und fanatisch verfolgen und für gegenteilige Fakten und Argumente nicht zugänglich sind. Etwas gemäßigter, wenngleich nicht weniger provokativ, sind die player, die Hate Speech als Spiel ansehen. Ihnen geht es lediglich um die Provokation und Störung eines öffentlichen Diskurses. Watchdogs wiederum n ­ utzen Hate Speech, um auf soziale Probleme und Schieflagen aufmerksam zu machen, ohne einer bestimmten politischen Richtung oder Ideologie anzuhängen. Sie alle sind schwer von andersartigen Ansichten zu „überzeugen“. Dies sollte aber niemanden von der Gegenrede (Counter Speech) abhalten. Selbst wenn man nicht überzeugen kann, kann man doch auf Fehler in der Argumentation oder faktische Fehler hinweisen. Natürlich wird sich das Gegenüber selten davon beeindrucken lassen. Adressat der Intervention sollte aber ohnehin nicht der Hater“ selbst sein, sondern die tausenden Bystander, die diese Kommentare lesen. Der Hater mag für Fakten und Argumente unzugänglich sein – der Bystander ist es vielleicht nicht. Zumindest bekommt er den Eindruck, dass es noch andere Perspektiven auf ein Thema gibt, andere Quellen, die man heranziehen kann. Wichtig ist auf jeden Fall, den Hater nicht persönlich anzugreifen, sondern sachlich beim Thema zu bleiben. Wer auf die Einhaltung von Diskursregeln drängt, sollte dahingehend auch ein Vorbild sein. Wer sich nicht selbst in die oft zeitraubenden und enervierenden Kommentierungen einmischen kann oder will, hat noch die Möglichkeit, durch Likes seinen Standpunkt deutlich zu machen. In jeder Kommentarspalte findet man Beiträge von Nutzern, die sich auf eine Diskussion mit den Hatern einlassen und mit denen man „mitgehen“ kann. Diese kann 26 Karmen Erjavec, Melita Poler Kovačič 2012.

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man liken, um ihnen so mehr Aufmerksamkeit – und damit Unterstützung – zukommen zu lassen. Likes zeigen dem Beitragenden, dass er/sie nicht allein ist, und führen in einigen Netzwerken dazu, dass Kommentare mit vielen Likes anderen Nutzer/-innen prominenter angezeigt werden. Dies alles gilt natürlich nur für Kommentare, die nicht potenziell strafrechtlich sind. Wenn jemand andere Menschen „aus unserer Heimat [treiben]“ will oder „einen Ofen baut“, in dem „ihr alle im 5 Minuten Takt einziehen [könnt]“ oder der Ansicht ist, es „brennen noch zu wenige Asylunterkünfte“, sollte man diese auf jeden Fall anzeigen. Diese Beispiele wurden bereits als Volksverhetzung klassifiziert und mit Strafen belegt.27 In nahezu jedem Bundesland gibt es mittlerweile die Möglichkeit, online Anzeige bei der Polizei zu ­erstatten. Oft wird angenommen, dass daraufhin keine Sanktionierung erfolgt. Mit Blick auf die Urteile, die bereits gefällt wurden, ist dies jedoch ein Irrtum. Die freie Meinungsäußerung, festgeschrieben in Artikel 5 des Grundgesetzes, ist kein absolutes Recht – auch wenn einige Kommentierende vehement darauf pochen. Sie findet „ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre“.28 Zu den hier genannten Gesetzen gehören Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch, w ­ elche die Verwendung verfassungsfeind­ licher Symbole, Aufrufe zu Straftaten, Verleumdung, Beleidigung und üble Nachrede unter Strafe stellen. Auch die Betreiber von Webseiten und Netzwerken sind mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz 29 dazu verpflichtet, entsprechende Meldungen zu prüfen und Kommentare innerhalb von 24 Stunden gegebenenfalls zu löschen, ansonsten drohen horrende Strafen. Es gibt also neben der aktiven Einmischung vielfältige Möglichkeiten für jede/n Einzelne/n, die Entwicklung einer respektvollen und sachlichen Diskussion verschiedener Standpunkte im Internet zu unterstützen. Institutionen und Organisationen, die eigene Profile unterhalten oder Webseiten betreiben, ist weiterhin zu raten, eine Netiquette zu formulieren – ein Regelwerk, das für die Interaktionen auf der Webseite oder den Profilen gilt. Bei Verstoß gegen d ­ ieses Regelwerk sollten Kommentare mit dem Hinweis darauf gelöscht werden. So kann den Betreiber/innen einerseits nicht Wahllosigkeit vorgeworfen werden; andererseits wird deutlich, dass auch das Internet kein rechtsfreier Raum ist. So beiläufig die Internetnutzung manchmal erscheint: Für jede/n von uns ist es e­ ssenziell zu verstehen, dass das Internet ein öffentlicher Raum ist, den es genauso zu verteidigen 27 Stefan Schirmer 2017: Hetze und Sühne. In: Die Zeit 2017 (6). Online: http://www.zeit.de/2017/06/volks​ verhetzung-sachsen-justiz/seite-2 [07. 06. 2020]. 28 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 5, Absatz 2. Online: https://www.gesetze-iminternet.de/gg/art_5.html [07. 06. 2020]. 29 Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungs­gesetz – NetzDG). Online: https://www.gesetze-im-internet.de/netzdg/BJNR335210017.html [07. 06. 2020].

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gilt wie öffentliche Räume außerhalb des Internets. Jegliche Äußerungen, die man in einer Alltagssituation nicht dulden würde, sind hier in besonderer Weise nicht zu dulden. Jeder Kommentar ist hier zu verstehen, als würde er auf einem öffentlichen Marktplatz vor tausenden in ein Mikrophon gesprochen werden.

Simone Rafael

Echokammern und Filterblasen Vernetzung über Social Media

1. Einleitung In Echokammern verstärken sich Einstellungen, in Filterblasen verflacht die Informationsvielfalt – und was heißt das für rechtsextreme Kommunikation im Internet und in sozialen Netzwerken? Beispielhaft lässt sich so eine „Echokammer“, also ein Resonanzraum, in dem sich Botschaften verstärken, bis sie sich verselbstständigen, im August 2018 rund um die Ereignisse in Chemnitz beschreiben. Es beginnt mit Desinformation: Die rechts-alternative Szene 1 entwickelt zu einer bis damals nicht einmal ansatzweise aufgeklärten Tat, bei der ein 35-jähriger Chemnitzer nach einem Streit erstochen wurde, ein rassistisches Täterbild, das mit Absolutheitsanspruch verkündet wird und auf fruchtbaren Boden fällt. Es enthält: Flüchtlingsfeindlichkeit, Hass auf Demokratie und Politik, Selbstjustiz- bis Bürgerkriegsfantasien, „wir gegen die“. Es folgt eine massive Mobilisierungskampagne über Internet, soziale Netzwerke, Messengerdienste quer durch die gesamte rechts-alternative Szene – also von „bürgerlichen“ rassistischen Wutbürger*innen über Rechtspopulist*innen aus dem AfD-Umfeld bis zu rechten ­Hooligan- und Kampfsportgruppen, parteinahen und freien Neonazis und Rechtsextremen, Neurechten wie der Identitären Bewegung. Es ist interessant, sich im Detail anzusehen, wer miteinander aktiv wird und in Austausch tritt: Die Hooligangruppierung Kaotic Chemnitz postet auf Facebook:

1 Der Begriff „rechts-alternativ“ lehnt sich an den englischen Ausdruck „Alt-right“ an, welcher gemäß des Oxford English Dictionary als Abkürzung für die US-amerikanische „alternative Rechte“ steht und eine ideologische Gruppierung beschreibt, der extrem konservative und reaktionäre Ansichten zugeordnet werden und w ­ elche durch eine Ablehnung der Mainstreampolitik und der Nutzung der Onlinemedien zur Verbreitung von bewusst kontroversen Inhalten gekennzeichnet ist. Die Bezeichnung der „RechtsAlternativen“ wendet diese Zuordnung auf den deutschen Raum an. Konkreter ausgedrückt gehören hierzu rechtspopulistische und rechtsextreme Teile der Medienlandschaft abseits des Mainstreams (z. B. in Form von Blogs), Wortführer*innen in den sozialen Medien (besonders auf Facebook und Twitter), politische Bewegungen sowie rechtsradikale Politiker*innen der AfD.

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Simone Rafael

Unsere Stadt – unsere Regeln. Wir fordern ALLE Chemnitz Fans und Sympathisanten auf sich mit uns heute den 26. 08. 2018 um 16:30 vorm Nischel zu treffen! Lass uns zusammen

zeigen wer in der Stadt das sagen hat! Ehre Treue Leidenschaft für Verein und HEIMAT-

STADT [sic].2

Dies nehmen zunächst regionale flüchtlingsfeindliche Facebook-Gruppen wie Heimat und Tradition Chemnitz-Erzgebirge auf, aber auch andere Gruppen für rechtsextreme Hooligans. Nun verbreiten sich die Reichweite und die Mediennutzung. Der rechtsextreme Hiphopper Chris Ares drehte dazu einen Video-Rant (eine Schimpftirade) aus seinem Auto auf einem Feld, den sich 500.000 Menschen allein am ersten Tag auf ­YouTube ansehen. Ares bewarb sein Video in rechten Kanälen des Messenger Dienstes Telegram. Das islamfeindlich-rechtspopulistische Magazin Compact verstärkte die Botschaft weiter, mit zusätzlicher Desinformation: Der Ermordete habe Frauen vor einem Übergriff durch den Migranten ­schützen wollen und sei dabei „abgestochen“ worden. Diese Information gab es zu dem Zeitpunkt allerdings nicht. Die rechtsextreme Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD ) äußert sich auf Twitter, lokal und bundesweit. Alex Malenki von der neurechten Identitären Bewegung macht eine Instagram-Story: „Grade machen für Sachsen! Morgen, 18:30 Uhr hier“, mit Bild des Karl-Marx-Kopfes. Der Kreisverband Altmark West der Alternative für Deutschland (AfD) ruft mit dem Foto einer brennenden Kerze auf Facebook zur Demo: „Schöpft Kraft aus der Wut und Trauer!“ Das Imperium Fight Team (rechtsextreme Kampfsportgruppe) teilt die Kerze auch. Die flüchtlingsfeindliche Gruppe Wir für Deutschland WSD e. V. verstärkt: „!! Teilen!! Teilen!! Teilen!! Teilen!!“ In der Folge liefen bei der ersten Demonstration von Pro Chemnitz am 21. August 2018 bereits rund 2200 Teilnehmende durch die Stadt, wiederum begleitet von „alternativen Medien“ und rechten Videoblogger*innen, bis schließlich am 1. September 2018 sogar 6500 Vertreter*innen verschiedener Teile der rechts-alternativen Szene nach Chemnitz fuhren und gemeinsam auf der Straße standen. Ein Schulterschluss z­ wischen AfD, Pegida, „besorgten“ Bürger*innen, Hooligans, Neonazis, Identitären und Verschwörungsideolog*innen, wie er in sozialen Netzwerken schon lange üblich ist, auf realen Demonstrationen aber neu. Es stehen alkohol- oder erfolgstrunkene, gewaltaffine Neonazis, die den Hitler­gruß und nackte Hintern zeigen, neben rassistischen Omas, Pegida-Chef Lutz Bachmann und AfD-Funktionären wie Björn Höcke, Andreas Kalbitz, Uwe Junge oder Josef Dörr: Ein Schulterschluss auf der Straße des gesamten rechten Spektrums für Rassismus und gegen Demokratie. Hinterher postete die Alternative für Deutschland KV Ortenau auf Facebook ein Foto von Menschenmassen mit dem Hinweis „Chemnitz 1. 9. 2018“. Es ist ein 2 Screenshots aller Postings liegen der Autorin vor.

Echokammern und Filterblasen

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Bild aus Leipzig aus dem Jahr 1989 – und so endet der Ausflug in die rechts-alternative Echokammer wieder mit Desinformation.3 Soziale Netzwerke sind aktuell die größten Propagandaplattformen für Rechtsextremist*innen und Rechtspopulist*innen. Hier treffen sich viele verschiedene Akteure und Akteurinnen. Sie betreuen Kanäle und Seiten, die oft professionell und mit viel Engagement betreut werden, und produzieren unterschiedliche Formen von abwertendem Hass für viele Zielgruppen: vom jugendlichen Nazihipster über fundamentalchristliche Gendergegner*innen bis hin zu AfD-affinen Besorgtbürger*innen und offen den Nationalsozialismus feiernden Neonazis. Die rechtsextreme, rechtspopulistische, rassistische, verschwörungsideologische und demokratiefeindliche Szene, die im Internet so stark vernetzt ist, dass eine Abgrenzung schwerfällt und oft nur tonaler Natur ist, nutzt soziale Netzwerke intensiv und vielfältig: Propaganda verbreiten und Überzeugte vernetzen, Ideologie feiern, Musik und Bilder teilen, neue Mitglieder rekrutieren und zu Demonstrationen, Shitstorms und Gewalttaten mobilisieren. Sie bedroht Andersdenkende und Menschen, denen sie Feindstatus zuschreibt, beschimpft sie, um ihnen Energie zu rauben und sie zu verunsichern. Im wirkungsmächtigsten Fall konnte sie über Doxing, also die Veröffentlichung privatester Daten, diese mundtot machen. Und die Rechtsaußencommunity versucht mit großer Einsatzbereitschaft, auf Social-Media-Profilen und in Kommentarspalten reichweitenstarker Medien die Meinungsführerschaft zu übernehmen. Das verfolgen die Rechtsaußen-Hassposter umso grimmiger, weil es ihnen nur im Internet gelingt – und auch dies nur, wenn Gegenrede und Moderation fehlen.

2. Die Entwicklung von Hass der Rechtsaußencommunity online in Deutschland Betrachtet man die Entwicklung von rechtsextremen Netzwerken in Deutschland seit Etablie­rung des Internet, lassen sich folgende Nutzungstrends beobachten: Schon in der Frühzeit des Internets waren Neonazis unter den E ­ rsten, die die neue Technologie nutzten, weil sie sofort erfasst hatten, wie dies ihre konspirative Kommunikation wie auch öffentliche Agitation verändern konnte. Seit den späten 1980er Jahren nutzten sie Usenet und das beginnende World Wide Web, um sich vor allem untereinander zu vernetzen: um ihre Ideologie zu verbreiten und argumentativ zu festigen, um Geld zu verdienen (Musik, Versandhandel) und sich zu Gewalt zu verabreden. Dann folgte die 3 Miro Dittrich, Simone Rafael 2018: Online-Mobilisierung für Chemnitz. Bewegtbild-Hetze sorgt für Reichweite. In: Belltower.News. Online: https://www.belltower.news/online-mobilisierung-fuer-chemnitzbewegtbild-hetze-sorgt-fuer-reichweite-49176/ [20. Juni 2019].

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Zeit der Foren und Chats in den 1990er Jahren: Die rechtsextreme Szene nutzte hier vor allem geschlossene Foren für Vernetzung, Festigung der Ideologie und Feiern des rechtsextremen Lifestyles.4 Mit Einführung der Blogs, populär ab Ende der 1990er Jahre, wurde es immer einfacher, vom Empfänger zum Sender zu werden, und es begann in der rechtsextremen Internetszene eine Zeit intensiver Netzwerkbildung – und dies nicht nur innerhalb der deutschen Szene, sondern es wurden auch Verbindungen zu europäischen und weltweit agierenden Rechtsextremen gebildet, über Blogrolls und Artikelteilungen. Besonders intensiv wurde die Blogosphäre ab den frühen 2000er Jahren von „Autonomen Nationalist*innen“ 5 genutzt, eine rechtsextreme Jugendbewegung, der sich weltweit Gruppen anschlossen, die nun über das Internet Aktivitäten, Ideologie, Musik und Hass austauschen konnten.6 Die rechtsex­ treme Internetszene begann, sich nach außen zu wenden: Demonstrationstermine konnten geteilt und mehr Menschen mobilisiert werden. Mit den Blogs kamen die Kommentarspalten und mit den Kommentarspalten entstanden Trolling 7 und Hasskommentare, die rechtsextreme, rassistische und antisemitische Nutzer*innen auf politisch andersdenkenden Blogs hinterließen.8 In den frühen 2000er Jahren gingen die ersten sozialen Netzwerke online und w ­ ieder gehörten Rechtsextreme zu den ersten Nutzer*innen. Die Onlinestrategien differenzierten sich aus: Zwar gab es immer die offen neonazistische Szene, verwoben mit einer Anti-Political-Correctness-Trollszene, die sich vor allem gegenseitig feierte, Termine und Hassnarrative teilte und austestete, wie extrem Postings sein durften, bevor sie gelöscht wurden – oder bevor gar das ganze Profil gelöscht wurde, so dass „Wotan der 2.“ ein neues Profil „Wotan der 3.“ erstellen musste. Stärker aber entwickelte sich ein rechtsextremes Sendungsbewusstsein nach außen, der Wunsch nach einem Wirken in die Mehrheitsgesellschaft. Rechtsextreme sahen in den großen sozialen Netzwerken eine einmalige Chance, Rassismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und Demokratiefeindlichkeit in einem Maße zu normalisieren und wieder gesellschaftsfähig zu machen, wie es ihnen in der Offlinewelt verwehrt blieb. Federführend für diese Onlinestrategie war 4 Z. B. Störtebeker-Netz, Altermedia, Vgl. Burkhard Schröder 2008: Rechtsextreme im Internet. Usenet, Internet Relay Chat, Filesharing, Diskussionsforen, Verbände. In: Belltower.News. Online: https://www. belltower.news/rechtsextreme-im-internet-usenet-internet-relay-chat-filesharing-diskussionsforen-ver​ saende-28676/ [20. 06. 2019]. 5 Vgl. für Hintergrundinformationen: N. N. o. A.: Themenseite „Autonome Nationalist*innen“. In: B ­ elltwoer. News. Online: https://www.belltower.news/lexikon/autonome-nati[onalisten/ [20. 06. 2019]. 6 Vgl. Hannah Frühauf 2011: „Autonome Nationalisten“ stellen sich vor. Selbstdarstellungen im Internet. In: Belltower.News. Online: https://www.belltower.news/autonome-nationalisten-stellen-sich-vor-selbst​ darstellungen-im-internet-33508/ [20. 06. 2019]. 7 Meint die Störung von Internetdiskussionen. 8 Vgl. Redaktion Belltower.News 2008: Rechtsextreme im Internet. In: Belltower.News. Online: https:// www.belltower.news/rechtsextreme-im-internet-51004/ [20. 06. 2019].

Echokammern und Filterblasen

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in Deutschland damals die rechtsextreme Partei NPD : Im Parteiorgan Deutsche Stimme wurden am 9. September 2010 Verhaltensregeln veröffentlicht, wie sich NPD -Mitglieder als „normale Bürger*innen“ tarnen sollten – damals noch auf SchülerVZ und StudiVZ  –, um mit anderen Nutzer*innen ins Gespräch zu kommen und erst nach und nach die politischen ­Themen einfließen zu lassen. So bemühten sie sich, subtil im vorpolitischen Raum Hass und Abwertung zu verbreiten und zu normalisieren.9 Auch wenn sich rechtsextreme Profile in der Regel durch die Auswahl von Lieblingsfilmen, Musik und Zitaten bei genauerem Hinsehen durchaus erkennen ließen, muss diese Strategie der Mimikry als erfolgreich betrachtet werden: Demokratische Gegenwehr anderer Nutzer*innen war zu ­diesem Zeitpunkt äußerst gering, die sozialen Netzwerke als Unternehmen registrierten die Agitationen zwar, griffen aber, wenn überhaupt, nur bei der Zurschaustellung rechtsextremer, verbotener Symbolik ein.10 In den folgenden Jahren ließ sich in sozialen Netzwerken die Vernetzung, Verdichtung und Ausdifferenzierung der Rechtsaußen-Onlineszene quasi live beobachten. Anders als in der Offlinewelt vollzog sich hier allmählich ein Schulterschluss ­zwischen verschiedenen rechten Szenen, die offline noch Distanz wahrten. Über ­Themen, Narrative und Debatten in Kommentarspalten fand ein starker Austausch verschiedener Gruppen statt, vom extremistischen bis ins bürgerliche Spektrum. Neonazis, Rechtsextremist*innen, Rechtspopulist*innen, Islamfeind*innen, Rassist*innen, Antisemit*innen, Antifeminist*innen und Männerrechtler*innen, Nationalkonservative sowie Fans von Verschwörungsideologien fanden Gemeinsamkeiten und woben online an einer gemeinsamen Welterklärung und Feindbildentwicklung. Dieser Prozess beschleunigte sich ab 2013 mit dem Aufkommen von Antiflüchtlingsgruppen (Nein-zum-Heim-Netzwerk bundesweit, NPD-nah, HoGeSa im Hooliganumfeld), die noch stärker politische Agitator*innen und zuvor politisch nicht aktive Bürger*innen zusammenbrachten, was zu einer massiven Radikalisierung der bürgerlichen Unzufriedenen führte.11 Kulminationspunkt ist seit 2014 Pegida, erst im Internet und dann auf der Straße. Die Patrio­tischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes sind vor allem über Facebook organisiert und vernetzt.12 Der Facebook-Kanal, in seiner Hoch-Zeit mit 205.000 Fans, funktioniert überraschend simpel: mehr oder weniger nichtssagende Demonstrations­ 9 N. N. 2010: Die NPD in der virtuellen Welt. Deutsche Stimme online (Screenshot liegt vor, nicht mehr aufrufbar); Lutz Martin 2010: Die NPD unterwandert Facebook und StudiVZ . In: Die Welt. Online: https://www.welt.de/politik/deutschland/article7087244/Die- NPD -unterwandert-Facebook-undStudiVZ .html [20. 06. 2019]. 10 Vgl. Amadeu Antonio Stiftung (Hg.) 2011: Zwischen Propaganda und Mimikry. Neonazi-Strategien in Sozialen Netzwerken. Amadeu-Antonio-Stiftung: Berlin. 11 Vgl. no-nazi.net 2015: Monitoring. 225 mal „Nein zum Heim“ auf Facebook,. In: Belltwoer.News. Online: https://www.belltower.news/monitoring-225-mal-nein-zum-heim-auf-facebook-40440/ [20. 06. 2019]. 12 Später auch VK, WhatsApp-Gruppen.

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Simone Rafael

ankündigungen und Danksagungen durch das Administrationsteam – und unter jedem Post sofort fünfhundert bis eintausend Kommentare voll aggressiver Agitation gegen Geflüchtete, Muslim*innen, Politik und Presse; Bedrohungsnarrative über „kriminelle“ Migran­ t*innen 13 aus dubiosesten Quellen vermitteln Handlungszwang; Memes mit erlogenen Politiker*innenzitaten 14 und gefälschten Statistiken werden geteilt. Hier vollzieht sich die Radikalisierung der an der Diskussion Beteiligten erschreckend schnell. Zuvor biedere Alltagsrassist*innen verlieren alle Hemmungen, zumal die radikalsten Postings in dieser Szene den meisten Applaus sichern. Auch das Mitmischen offener Neonazis stört hier nicht.15 Zeitgleich begann der Onlineaufstieg der AfD, die in dieser Szene nicht nur ­Themen und Agitationsansätze fand, sondern vor allem viele Menschen, die ihren Rassismus und ihre Frustration auch politisch repräsentiert sehen wollten. Dies bot die AfD an, auch online. Insofern war es kein Wunder, dass ab 2015 die inzwischen gut vernetzte Rechtsaußenszene all ihre Klicks, Likes und Shares zusammenwarf, um die AfD zu unterstützen. So wurde die AfD rasch zur Partei mit den meisten Fans auf Facebook und Twitter. Diese hielt sie fortan mit immer professioneller, aber auch immer radikaler werdenden Sharepics und Videos bei Laune. Zugleich führten die größer werdenden Rechtsaußennetzwerke dazu, dass sich Onlineaktivitäten mit mehr Schlagkraft organisieren ließen. Dazu gehörten gezielte Übernahmeversuche der Meinungshoheit in Kommentarspalten großer Medienhäuser oder aber die Debattenstörung und Hate Speech auf demokratischen Seiten bis zu aggressiven verbalen Bedrohung von Menschen, die als „Feindbilder“ in der Szene galten, sowohl per Privatnachrichten als auch öffentlich. Onlinehass und Desinformation zur Zerstörung politischer Gegner*innen und demokratischer Debatten wurde ab 2017 von verschiedenen rechtspopulistischen bis rechtsex­ tremen Akteur*innen als Strategie ausgebaut. Ziel war die Normalisierung von Rassismus, Antisemitismus und völkischem Denken. Und dies gelang: Diskurse wurden zu autoritärer Weltsicht hin verschoben, rechtsextreme und abwertende Sprache ging in den allgemeinen Sprachgebrauch über.16

13 Vgl. die Webseite www.hoaxmap.org, die Lügen über Geflüchtete im Internet sammelt. 14 Vgl. Milla Frühling 2017: Debunking. Was steckt hinter diesen Geschichten von Halle-Leaks? In: B ­ elltower. News. Online: https://www.belltower.news/debunking-was-steckt-hinter-diesen-geschichten-von-halleleaks-43968/ 20. 06. 2019]. 15 Vgl. Simone Rafael 2016: Kam Pegida aus dem Internet? In: Amadeu Antonio Stiftung (Hg.): Peggy war da! Gender und Social Media als Kitt rechtspopulistischer Bewegungen. Amadeu Antonio Stiftung: Berlin, 37 – 41. 16 Z. B. „Gutmenschen“, „Lügenpresse“, „Altparteien“; vgl. Simone Rafael 2018: Die Sprache der rechten Sphäre und das Internet. In: Belltower.News. Online: https://www.belltower.news/die-sprache-derrechten-sphaere-und-das-internet-47340/ [20. 06. 2019].

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3. Aktuelle Strategien: Gamification und Hate-Speech-Trolling Ein neuer Trend zur Ansprache speziell von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist Gamification – also das Aufziehen von Onlinehasskampagnen als Spiel. Dabei geht es vor allem darum, Andersdenkende zu bedrohen und ihnen das (Online-)Leben so schwer zu machen, bis sie verstummen und sich zurückziehen. Sich als modern empfindende Nazis nennen das in Anlehnung an die amerikanische Alt-Right-Bewegung memetic warfare, also „memetische Kriegsführung“, das meint: Onlinekrieg durch Memes, also Bilder, die schnell und viel geteilt werden: über Kommunikationskanäle, wie aktuell etwa das eigentlich vor allem von Computerspieler*innen genutzte Netzwerk Discord, verabreden sich rechte Internetnutzer*innen zu Hassattacken auf andere, die sie als politische Gegner*innen wahrnehmen. Organisiert ist dies wie ein Kriegsspiel, in dem sich die Nutzer*innen vom „Bewährungsbataillon“ bis zum General hocharbeiten, indem sie „Tagesbefehle“ erfüllen. „Tagesbefehle“ rufen auf, Journalist*innen auf Twitter anzugreifen, TV-Sendern in deren Kommentarspalten zu suggerieren, ihre zu „flüchtlingsfreundliche“ Berichterstattung treffe den Publikumsgeschmack nicht mehr, oder YouTubeVideos durch gute und schlechte Bewertungen im Algorithmus hoch- oder hinunterzuranken.17 In Anleitungen wie dem geleakten Handbuch für Medienguerillas von einer Gruppe namens D Generation (2017) wird auch beschrieben, wie kein Register der Hasskommunikation ausgelassen werden solle:18 Neben mehr oder weniger „humorvollen Hass-Memes“ 19 sollen auch Beleidigungen und Beschimpfungen zum Einsatz kommen. Das Hineinziehen von Familienmitgliedern wird empfohlen, und jede Blockierung als Kapitulation des „Gegners“ und deshalb als Sieg verkauft: „Sollte man jedoch wirklich mal an jemand geraten der diskutieren kann und dem auch mit den

Kunstgriffen der Eristischen Dialektik nicht beizukommen ist, gibt es nur noch eins: Beleidigen. Und da ziehe jedes Register. Lass nichts aus. Schwacher Punkt ist oftmals die Familie. Habe

immer ein Repertoire an Beleidigungen, die Du auf den jeweiligen Gegner anpassen kannst.“ 20

Auch an anderen Stellen des Internets tauchen Strategiepapiere auf, die die Zielgerichtetheit rechts-alternativer Kommunikation darlegen. Auch die rechtsextreme Identitäre Bewegung 17 Vgl. Kira Ayyad 2018: Meme Wars. Wie „Reconquista Germanica“ auf Discord seine „Troll-Armee“ organisiert. In: Belltower.News. Online: https://www.belltower.news/wie-reconquista-germanica-aufdiscord-seine-troll-armee-organisiert-47020/ [20. 06. 2019]. 18 Vgl. Stefan Lauer 2018: Infokrieg für die Grundschule. „Reconquista Germanica“ und „D Generation“. In: Belltower.News. Online: https://www.belltower.news/infokrieg-fuer-die-grundschule-reconquistagermanica-und-d-generation-46716/ [20. 06. 2019]. 19 „Ein Gegner, der lacht, ist schon halb auf Deiner Seite.“ 20 Das Handbuch für Medienguerillas als PDF auf einer Monitoring-Internetseite: https://www.hogesatzbau. de/wp-content/uploads/2018/01/HANDBUCH-F%C3 %9CR-MEDIENGUERILLAS.pdf [20. 06. 2019].

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beschreibt etwa Kommunikationsverhalten für ihre Aktivist*innen: „Jeder unserer politischen Diskussionen hat ein klares Ziel: die Denkweise des Gegenübers zu verändern, damit er sich anders ausdrückt und verhält. Es gibt ein Grundschema für die Menschentypen, auf die wir treffen können.“ Für die gibt es dann Regeln: „Feindselige Menschen“ sollten „neutral gemacht“ werden, „so dass sie unsere Meinungsfreiheit anerkennen“. „Menschen, die uns nicht kennen“, sollten zu Sympathisant*innen gemacht werden: „Nicht zu viel unter Druck setzen; allgemeine Ängste und Grundwerte erfragen; zeigen, dass wir für seine Ideen kämpfen und einem gemeinsamen Feind gegenüberstehen.“ Sympathisant*innen wiederum sollten ermutigt werden, Aktivist*innen zu werden: „Ihnen zeigen, dass sie gebraucht und besonders sind“. Hier werden auch klassische Marketingelemente i­ntegriert, wie die „Bejahungskette“ 21 oder Suggestivfragen: „Du willst also die Grenzen öffnen und alle reinlassen?“ 22 Die Identitäre Bewegung (IB) zeichnet sich online auch durch die Vielfalt ihrer Ansprachekanäle aus – bis im Sommer 2018 Facebook und Instagram alle erkennbaren IB-Kanäle als zu einer Hassorganisation gehörig sperrten. Dazu äußerte sich IB-Kopf Martin Sellner und offenbarte dabei seine Instagram-Strategie: Servus, Leute. Ihr habt es vielleicht schon mitbekommen, mein Instagram-Profil wurde gelöscht.

Ich hatte da ein Profil mit rund 10 – 11.000 Followern, und ich habe das Profil seit mehreren

Jahren, und ich hab da eigentlich nur privaten Kram gepostet. Es war nicht so, mein hauptpolitisches Ding, es waren private Fotos, Urlaubsfotos aus den Alpen, Kinderfotos […]. Ich muss zugeben, es nervt mich ein bisschen, denn es hat mir schon Spaß gemacht, Instagram, und es

war auch für mich ein politisches Werkzeug, das ich gut n ­ utzen konnte, weil heute junge Leute

Facebook nicht mehr verwenden, und weil Instagram ein gutes Tool und Werkzeug ist, um diese emotionale Barriere abzusenken. Es wird dauernd behauptet, dass wir so schrec­kliche

Monster sind, wir bösen Patrioten und Neurechten, und wenn man ein bisschen Einblick ins

Privatleben zeigt, dann sehen die Leute: Das ist ja ein ganz normaler Typ! Und genau das ist auch nicht mehr gewollt.23

Auch ein Kommunikationspapier der rechtspopulistischen AfD von 2017 zeigt deren Kommunikationsstrategien und das Bewusstsein ihrer Rolle als politische Vertretung der „Wut auf den Straßen“: 21 „Wenn er deinen Argumenten drei Mal zustimmt, kann er sich beim letzten schwer aus der Affäre ziehen.“ 22 Vgl. Sebastian Lipp 2017: Interne Strategiepapiere der Identitären Bewegung geleaked. In: ZEIT ONLINE . Online: https://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2017/02/28/identitaere-bewegung-leak-strafforganisiert23168_23168 [20. 06. 2019]; Leaks von IB -Schulungspapieren in Mainz 2017, liegen der Autorin vor. 23 Martin Sellner 2018: Instagram Löschung. Wir sind in einer feindlichen Matrix. Online: https://twitter. com/martin_sellner/status/1002139440196784129?lang=de [20. 06. 2019].

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Viele Bürger wählen die AfD oder finden sie grundsätzlich wählbar, weil sie ­Themen anspricht

und Dinge beim Namen nennt, die den Altparteien nicht wichtig genug oder unlieb sind oder

auf die die Altparteien keine Antwort haben. Die AfD lebt gut von ihrem Ruf als Tabubreche-

rin und Protestpartei. Sei braucht sich dessen nicht zu schämen, sondern muss sich selbstbe-

wusst zu ihrer Aufgabe bekennen, dem Protest in Deutschland eine politische Richtung und ein Gesicht zu geben.

Eine Konsequenz: Die AfD muss – selbstverständlich im Rahmen und unter Betonung der freiheitlich demokratischen Grundordnung unseres Landes – ganz bewusst und ganz gezielt immer wieder

politisch inkorrekt sein, zu klaren Worten greifen und auch vor sorgfältig geplanten Provo-

kationen nicht zurückschrecken. Dabei muss die Seriosität allerdings gewahrt werden. […]

Je nervöser und je unfairer die Altparteien auf Provokationen reagieren desto besser. Je mehr sie versuchen, die AfD wegen provokanter Worte oder Aktionen zu stigmatisieren, desto

positiver ist das für das Profil der AfD. Niemand gibt der AfD mehr Glaubwürdigkeit als

ihre politischen Gegner.24

Wichtige Akteure: Alternative Medien Zunehmend an Bedeutung gewinnt bei der Netzwerkbildung und der Verbreitung von Desinformation und Narrativen 25 der Bedrohung die stetig wachsende Gemeinschaft „alternativer“, und das meint rechtsextremer, rassistischer, antisemitischer und verschwörungsideologischer Medien, die vor allem online ihre Echokammer finden, denn hier erzielen sie viel größere Reichweiten als im Printbereich. Das Magazin Compact etwa – Shootingstar der rechtspopulistisch-rechtsextrem-islamfeindlichen Querfrontszene der letzten Jahre – hat laut eigenen Mediadaten eine Auflage von 75.000 pro Monat. Die Webseite von Compact hat laut Similarweb im Februar 2018 rund 1 Million Besucher*innen, allein auf Facebook hat das Magazin rund 93.000 Fans. Compact ist spezialisiert auf rechtspopulistische Dramatisierungen und Falschinformationen. Beispielhaft die Schlagzeilen vom 22. März 2018: „­Patriot Putin – Partner für Europa“, „USA vs. China – Endkampf um die neue Weltordnung“, „Riesen­erfolg auf der Buchmesse – Linke Zensoren gescheitert“, „Akademiker-Aufstand 24 Vgl. Matthias Meisner 2017: Bundestagswahlkampf. AfD macht „geplante Provokationen“ zur Medienstrategie. In: Der Tagesspiegel. Online: https://www.tagesspiegel.de/politik/bundestagswahlkampf-afdmacht-geplante-provokationen-zur-medienstrategie/19279750.html [20. 06. 2019]; AfD-Manifest 2017: Die Strategie der AfD für das Wahljahr 2017 liegt der Autorin vor. 25 Vgl. Amadeu Antonio Stiftung (Hg.) 2017: Toxische Narrative. Monitoring rechts-alternativer Akteure. Amadeu Antonio Stiftung: Berlin.

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gegen Merkel“ 26 oder „US -Studenten wollen ›Vielfalt‹ statt Meinungsfreiheit“. Da sind toxische Erzählungen wie „Der Untergang ist nah“ oder „Aber auch der Widerstand ist da“ in Schlagzeilen gegossen – so soll bei den Lesenden ein Handlungsdruck erzeugt werden. Compact ist mittlerweile meinungsbildend für die gesamte rechts-alternative Szene im Internet, die mit der permanenten Verbreitung von Hass auf Minderheiten und Andersdenkende an einem Ziel arbeitet, das auch der Compact-Herausgeber Jürgen Elsässer im Gespräch mit dem neurechten Verleger Götz Kubitschek auf der Leipziger Buchmesse ganz offen benannte: Man wolle als „alternatives Medium“ mit daran arbeiten, „das System [zu] stürzen“.27 Gemeint ist damit nicht nur die amtierende Regierung, sondern gleich die parlamentarische Demokratie insgesamt. Götz Kubitschek war auch Gast bei der Diskussion am 8. März 2018 in Dresden, bei der sich der Schriftsteller Uwe Tellkamp wie ein lebender rechter Facebook-Feed gerierte und von „Gesinnungskorridoren“ in den „Mainstreammedien“ und einem „linksliberalen Meinungskartell“ sprach. Kubitschek gefiel das. Er meldete sich mit der Frage: „Sind Sie nicht der Meinung, dass der Riss, der durch die Gesellschaft geht, unbedingt sein muss? […] Also ich bin strikt dafür, dass der Riss noch tiefer wird, dass die Sprache noch deutlicher, noch konkreter wird.“ 28 Neben Elsässer ist Götz Kubitschek aktuell die zweite wesentliche Medienfigur der rechtsalternativen Sphäre. Zwar verlegt er mit Sezession (Auflage: 3000) nur eine Zeitschrift, deren Texte sich in pseudowissenschaftlichem Sprachduktus viel Gewichtigkeit zu geben versuchen. Im Internet verzeichnete sezession.de laut Similarweb im Februar 2018 allerdings etwa rund 350.000 Besuche. Auch durch seine Umtriebigkeit gewinnt Kubitschek an Gewicht: Am ebenfalls von ihm betriebenen Institut für Staatspolitik treffen sich die Teile der rechten Sphäre, die sich selbst für intellektuell führend halten. Mit seinem Antaios-Buchverlag verbreitet er nicht nur für Rechtsextreme wichtige Theorieschriften, wie die von Armin Mohler, sondern sorgt auch schon seit Jahren dafür, dass Buchmessen zu Anziehungspunkten für Rechtsextreme werden. Selbstredend ist er auch mit Elsässer, AfD-Funktionär*innen und Burschenschaftlern der flüchtlingsfeindlichen Crowdfunding-Organisation Ein Prozent für Deutschland verbunden.29 Das Internet macht es möglich. 26 Gemeint ist die Erklärung 2018. 27 Vgl. René Loch 2018: Rechte besprechen auf der Leipziger Buchmesse den Regimesturz + Video. In: Leipziger Internet Zeitung. Online: https://www.l-iz.de/bildung/leipzig-bildet/2018/03/Rechte-besprechen-aufder-Leipziger-Buchmesse-den-Regimesturz–210108 [20. 06. 2019]. 28 Vgl. Maren Lehmann 2018: Grünbein und Tellkamp. Wie das Schisma von Dresden entstand. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Online: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/geisteswissenschaften/dursgruenbeins-scherbengericht-in-dresden–15490867.html [20. 06. 2019] sowie https://www.youtube.com/ watch?v=u8TrevOZW9k [20. 06. 2019]. 29 Vgl. Trude Brinker, Miro Dittrich 2016: NGO der „neuen“ Rechten. „Ein Prozent für unser Land“. In: ­Belltower. News. Online: https://www.belltower.news/ein-prozent-fuer-unser-land-ngo-der-neuen-­ rechten-42110 [04. 10. 2019].

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Wer die Push-Nachrichten einer rechtspopulistischen „alternativen“ Newswebseite wie Journalistenwatch auf seinem Computer zulässt, wird fortan mindestens stündlich mit Horror­ meldungen aus Deutschland und der Welt versorgt: Ständig Gewalttaten durch Geflüchtete und Migrant*innen, quasi überall. Politiker*innen, die lügen, die Stasi wiedereinführen, die freie Meinungsäußerung abschaffen, undemokratisch AfD-Politiker*innen attackieren; Medien, die genau das Gleiche tun. Dazu NGOs oder Erzieher*innen und Lehrer*innen, die Kinder und Schüler*innen mit linksextremem Gedankengut indoktrinieren, bis alle Kinder mindestens schwule, muslimische, steinewerfende Kommunist*innen geworden sind. Das Hysterielevel auf Journalistenwatch ist riesig. Gute Nachrichten gibt es nur aus Kreisen der AfD, aber sie werden nur selten eingestreut, und selbst dann sind es Erzählungen von Hass und Kleinlichkeit: Wie etwa die AfD versucht, demokratische Initiativen zu gängeln oder grüne Politikerinnen anzugreifen. Die Welt, in der die Leser*innen von Journalistenwatch leben, ist also wirklich ein sehr trauriger Platz, ein sehr beängstigendes Szenario – indem ein Bürgerkrieg stündlich bevorsteht, Traditionen nichts mehr gelten oder aberzogen werden sollen, fremde Menschenmengen ins Land gelassen und mit Geld hofiert werden und, als würde das nicht reichen, man nicht mal mehr „N****“ sagen oder „Z*******“-Schnitzel essen darf – um sich abzureagieren. Journalistenwatch ( Jouwatch) verzeichnet laut Branchendienst Similarweb vier Millionen Besuche pro Monat auf der Webseite. Dazu kommen 30.000 Follower auf Facebook, 4500 auf Twitter, 2700 in den russischen VK-Netzwerken und 3200 Abonnent*innen auf YouTube. Um ­dieses Schreckensszenario zu entwerfen und zu verstärken, braucht Journalistenwatch nicht einmal eine große Redaktion. Denn die Seite grast schlicht die vielfältige rechts-alternativen Kanäle und Kommentare im Internet ab, die überregionalen und lokalen Blogs, andere „alternative“ Medien, die Social-Media-Seiten, die Twitter-Diskurse von konservativ über Neue Rechte bis ganz nach Rechtsaußen in den Neonazismus. Dann gibt sie deren Inhalte mehr oder weniger in eigenen Worten wieder, verlinkt sie und verbreitert so den Wirkungskreis. Bei einem Aufruf der Seite am 5. November 2019, befanden sich hier als vermeintlich redaktionelle Beiträge ein Video des rechtspopulistischen Videobloggers Tim Kellner,30 ein Video des rechtspopulistischen YouTube-Kanals W. I. M. – Wirtschaft Information Meinung,31 ein Video des AfD-Abgeordneten Dr. Gottfried Curio,32 ein Video des österreichischen Aktivisten der Identitären Bewegung Patrick Lennart 33 und ein Video der neurechten Sezession von Götz Kubitschek 34. Unter den Videos benennt Journalistenwatch die Strategie selbst: „jouwatch unterstützt die patriotischen Youtuber durch Abonnieren 30 31 32 33 34

„Merkels Krieg gegen Deutschland“. „Explosionen! Sprengstoff gegen Polizisten in Berlin 1000 Linksextremer. Aber Brief-Phantome rechts“. „Städte als ‚Sichere Häfen‘ sind unnötig und rechtswidrig!“ „Neues von rechts: Pankraz, Liederbuch, Alles Roger & mehr“. Heftvorstellung „Das politische Minimum“.

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und Teilen der Videos. Machen Sie das auch, um Ihre Solidarität zu zeigen. Die Youtuber danken es Ihnen“.35 Diese Inhalte werden nicht nur auf der Webseite eingestellt, sondern auch über den Jouwatch-Telegram-Kanal direkt aufs Handy der rund 3700 Abonnent*innen gespielt.36 Trotz dieser nicht sonderlich hohen Abonnent*innenzahl ist jeder Telegram-Post zu den Videos ­zwischen sechs- und achthundertmal gesehen worden – ein ­Zeichen für die enge Leser*innenbindung. Im Reigen der reichweitestarken Desinformationsportale voller abwertender und aufhetzender Falschinformationen lernen die Leser*innen der rechts-alternativen Medien, wie die Argumentationen funktionieren, und wenden sie dann in den Kommentarspalten und auf Social-Media-Präsenzen anderer, nichtrechter Medien an. Die Leser*innen teilen dabei natürlich auch Links und machen damit unentwegt Werbung. Sie gründen Seiten oder Gruppen auf Facebook oder VK .com zu Einzelaspekten oder zur Vernetzung, sie giften auf Twitter oder per persönlicher Nachricht gegen Menschen, die sie als politische Gegner*innen wahrnehmen. Auf WhatsApp oder Telegram finden Falscherzählungen und Dramatisierungen der rechts-alternativen Szene ebenfalls Verbreitung – hier auch gerne mit Aufrufen zu Aktionen verbunden, von Demonstrationen und Meme-Angriffen im Internet bis zu rechtsterroristischer Gewalt. So entstehen die Echokammern, in denen das Internet eine massive Verstärkerfunktion bekommt. Die Menschen, die sich nur noch aus diesen Social-Media-Netzwerken informieren, bekommen nach und nach ein derart verzerrtes Bild der Realität, dass sie sich wirklich in einer angeblich „unterdrückten“ Mehrheit wähnen – und damit zur Handlung bereit werden. Bestenfalls ist diese Handlung dann die Wahl rechtspopulistischer Parteien, schlimmstenfalls Gewalt gegen Flüchtlingsunterkünfte oder Menschen. Praktisch hat d ­ ieses System ein weiterer rechtsextremer Onlineakteur beschrieben, der rechtsextreme Sven Liebich, der den Blog und die Social-Media-Seiten von Halle Leaks betreut. In einem YouTube-Video beschreibt er die Mobilisierung für eine Demonstrationen in Halle im September 2018: Die Demonstration war sehr, sehr erfolgreich. Die Lügenpresse hat noch am Sonnabend kolportiert, es wäre gar keine Demonstration angemeldet. Es war so ein martialischer Aufruf, „Holen

wir uns unser Land zurück“ […]. Und die Lügenpresse hatte da keinen Anlaufpunkt, dass da

mobilisiert wurde. […] Auf jeden Fall: Die Lügenpresse sagt, ja, es war ein Aufruf im Inter-

net […]. Sie vergessen dabei, dass es da ja keine zentrale Seite geben muss, die aufruft. Es gibt mittlerweile virale Netzwerke, Telegram, WhatsApp und so was. Ich meine, das machen die

35 Zitiert nach: N. N. 2019: „Das politische Minimum“. In: Sezession 92. Online: https://web.archive.org/ web/20191106154310/https://www.journalistenwatch.com/2019/11/05/das-minimum-sezession/, jouwatch [05. 11. 2019]. 36 Screenshots aller Postings liegen der Autorin vor.

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Linksläuse nicht anders. Da meldet sich ja keiner beim Redakteur der Lügenpresse und sagt:

Hey, hier gibt es schon 500 Likes, da wird wohl mobilisiert. Nein, das geht über private Messengerdienste und Verteilerlisten. Ich weiß gar nicht, in welchem Zeitalter diese linksgrünversifften

Reporter leben, wenn sie das nicht wissen.37

Das Videonetzwerk YouTube ist auch der Ort, wo das Phänomen der Filterblasen in Reinkultur beobachtet werden kann. Die Idee der Filterblase geht auf die These des Medienwissenschaftlers Eli Pariser zurück. Pariser beschreibt, wie personalisierte Algorithmen dafür sorgten, dass die Informationsauswahl eindimensional werde, weil den Nutzer*innen immer ähnliche Inhalte zu denen vorgeschlagen würden, die sie zuletzt angesehen hätten.38 Wer sich im September 2018 über die anfangs erwähnten Ereignisse in Chemnitz auf YouTube informieren wollte, bekam unter den ersten zehn gelisteten Videos sechs rechtsex­ treme oder rechtspopulistische Videos angeboten. Videos von Russia Today (RT) Deutsch 39 und IB-Kopf Martin Sellner,40 von den Rechtsaußen-YouTubern Hagen Grell,41 Henryk Stöckl 42 und Oliver Flesch 43 und vom amerikanischen Alt-Right-Kanal Red Pill 44. Wer sich eines dieser Videos ansieht, bekommt am Ende mehr solcher Videos vorgeschlagen.45 Und mit jedem ähnlichen Video gewinnen die Inhalte bei den Zusehenden an Glaubwürdigkeit, wie Menschen berichten, die sich über YouTube radikalisiert haben.46 Das Unternehmen Google bzw. YouTube hat inzwischen seine Kriterien für Nachrichteninhalte dahingehend angepasst, dass zu aktuellen Nachrichtenthemen den Suchenden immer zuerst qualifizierte journalistische Inhalte angezeigt werden – auch wenn die rechten Hetzvideos die höheren Reichweiten haben.47 Denn das ist der Grund, warum sie zunächst vorgeschlagen wurden. 37 Sven Liebich 2018: Nächste Montagsdemo in Halle am 24.9. ab 18 Uhr Riebeckplatz – TEILEN WEITERSAGEN. Online: https://www.youtube.com/watch?v=FpUvatOkvk4 (inzwischen gelöscht) [25. 09. 2018], ab Min. 2:55, inzwischen gelöscht. 38 Vgl. Mirjam Hauck, Johannes Kuhn 2012: Eli Pariser und die „Filter Bubble“. Ausweitung der Komfortzone. In: Süddeutsche Zeitung. Online: https://www.sueddeutsche.de/digital/eli-pariser-und-die-filterbubble-ausweitung-der-komfortzone-1.1303419 [20. 06. 2019]. 39 „Was ist wirklich in Chemnitz passiert?“ 40 „Mord in Chemnitz und der Zorn der jungen Männer“. 41 „Chemnitz ist unschuldig! Politik und Medien nicht!“ 42 „Chemnitz: Es reicht!“ Demo – Eine REVOLUTION hat begonnen!“ 43 „Chemnitz: Der (geleakte) Haftbefehl“. 44 „German Riots in Chemnitz following murder: The Breaking Point for Migration?“ 45 Vgl. Miro Dittrich, Simone Rafael 2018: Online-Mobilisierung für Chemnitz. Bewegtbild-Hetze sorgt für Reichweite. In: Belltower News. Online: http://www.belltower.news/online-mobilisierung-fuer-chemnitzbewegtbild-hetze-sorgt-fuer-reichweite-49176/ [20. 06. 2019]. 46 Vgl. Kevin Roose 2019: The Making of a YouTube Radical. In: New York Times. Online: https://www. nytimes.com/interactive/2019/06/08/technology/youtube-radical.html [20. 06. 2019]. 47 Vgl. Simone Rafael 2018: YouTube ändert Nachrichten-Anzeige. Verlässliche Quellen vor rechten Blogs. In: Belltower.News. Online: https://www.belltower.news/youtube-aendert-nachrichten-anzeige-verlaess​ liche-quellen-vor-rechten-blogs-49370/ [20. 06. 2019].

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Gegenrede Was können wir aus diesen Analysen ziehen? Hass und abwertende Agitation im Internet sind in der Regel nicht das Ergebnis einer plötzlich verschobenen Grundeinstellung der Gesellschaft, sondern es ist gezielte, strategische Kommunikation mit einem zutiefst antidemokratischen Ansatz: Es geht nämlich nicht um den Austausch von Meinungen, es geht um Angriff, Kampf, Abwertung und Überwältigung der „Gegner“, die am besten verstummen sollen. Das Mittel dazu ist Beschimpfung und Bedrohung. Ziel ist natürlich, die Werte und Normen der Gesellschaft real zu verschieben. Was heißt das für Gegenrede? Zielgruppe der demokratischen Kommunikation sollten nicht in erster Linie die ideologisch gefestigten Rechtsextremen, Rechtspopulist*innen, Rassist*innen sein, sondern die (vielleicht noch schweigenden) Demokrat*innen, die gestärkt werden können. Es geht darum, von Hassangriffen Betroffene zu unterstützen, argumentativ Unentschlossene zu überzeugen und Hater*innen Grenzen zu setzen, durch sachliche oder engagierte Moderation von Social-Media-Kanälen. Des Weiteren sollten demokratische Akteur*innen Social Media als Meinungsbildungsraum ernst nehmen und ihn neugierig und engagiert ­nutzen, um eigene Werte und ­Themen voranzubringen. Dafür braucht es Community-Building – also mehr Unterstützer*innen, Kolleg*innen, Wähler*innen, die im Internet ihre Stimme für Demokratie erheben. Dabei hilft es, konstruktiv Argumentationslinien auszutauschen und gemeinsam Gegenrede zu organisieren, statt sich in Grabenkämpfe in der demokratischen Community zu verlieren. Eine Konzentration auf gemeinsame Grundwerte und eine größere Solidarität sind hierzu Grundideen. Wenn es um Gegenerzählungen geht, denken die meisten ans Debunking und Gegenargumentation. Das ist wichtig, nimmt aber immer die abwertende Themensetzung auf. Genauso wichtig ist das aktive und positive Eintreten für demokratische Werte, Grundüberzeugungen, Visionen darüber: In welcher Welt wollen wir leben? An positiven Erzählungen von Gleichwertigkeit, Freiheit und solidarischer Gesellschaft hat das Internet weiterhin Bedarf. Eines wird in der Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen Erzählungen ebenfalls deutlich: Die Rechtspopulist*innen sind gut darin, ihre Finger in Wunden zu legen, sprich ­Themen zu finden, die demokratische Akteur*innen umgehen, weil ihnen die Antwort selbst schwerfällt. Aber es braucht eine Gesellschaftskritik von realen Problemen – und die muss aufzeigen, wie diese Probleme bearbeitet werden können, ohne auf Verallgemeinerungen, Gruppenabwertungen oder Sündenböcke zurückzugreifen.48

48 Für konkrete Hilfestellungen im Umgang mit Hass online: Amadeu Antonio Stiftung 2018: Flyerreihe. Was tun gegen Hate Speech? Online: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/flyerreihe-was-tungegen-hate-speech-38915/ [10. 05. 2020].

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Wenn der Wunsch existiert, die ‚Sorgen und Ängste der Bürger*innen‘ ernst zu nehmen, ist es kommunikativ wichtig, nicht deren Fehlschlüsse oder Ängste zu unterstützen, sondern vielmehr die dahinter stehenden Bedürfnisse herauszufinden und anzuerkennen, also etwa die Suche nach Sicherheit, Stabilität im Leben, Gerechtigkeit, Identität oder einem positiven Selbstbild. Dann geht es darum zu vermitteln: Ist Rassismus wirklich die Lösung für dein Bedürfnis? Oder lässt sich eine realistischere Handlungsmöglichkeit finden? Und natürlich sollten auch die Sorgen und Ängste derjenigen berücksichtigt werden, die sich wegen des Erstarkens des Rechtspopulismus Sorgen um die Demokratie in Deutschland machen.

Stefan Heerdegen

RechtsRockkonzerte in Thüringen Entwicklung, Funktionen und Herausforderungen für die Zivilgesellschaft – Erfahrungen aus elf Jahren Praxis

Im vorliegenden Beitrag werden Zahlen und Analysen zur RechtsRocksituation in Thüringen vorgestellt. Dabei stützt sich die Mobile Beratung in Thüringen (MOBIT ) auf seit 2007 kontinuierlich erstellte Jahreschroniken, in denen die bekannt gewordenen Konzerte der Neonaziszene aufgeführt sind, und auf die Erfahrungen aus der Beratungsarbeit seit 2001. Im Einzelnen werden die Zählungskriterien, verschiedene Konzertformate, begünstigende Faktoren in Thüringen sowie die Herausforderungen für die Zivilgesellschaft beschrieben. Der vorliegenden Beitrag benennt Auswirkungen, die fehlende Gegenproteste haben.

1. Auf hohem Niveau Seit zwölf Jahren veröffentlicht die Mobile Beratung in Thüringen: Für Demokratie – Gegen Rechtsextremismus (MOBIT) eine Zählung extrem rechter bzw. neonazistischer Konzerte, sogenannter RechtsRockkonzerte. Zwischen 2007 und 2014 bewegte sich die jährliche Anzahl im Durchschnitt bei 25 Konzerten. Thüringen befand sich damit bereits im vorderen Drittel im bundesweiten Vergleich. Im Jahr 2015 verdoppelte sich die Anzahl nahezu auf 46. Auch in den folgenden zwei Jahren setzte sich diese Entwicklung fort. Im Jahr 2017 wurden 60 und im Jahr 2018 sogar 71 Konzerte gezählt. Aus Sicht der Mobilen Beratung dürften im bundesweiten Vergleich die meisten kommerziellen RechtsRockkonzerte in Thüringen stattgefunden haben. Höchststände zeigen sich auch bei einem näheren Blick auf die Teilnehmendenzahlen. Beispielsweise fanden 2016 und 2017 in Thüringen je fünf, 2018 vier Großveranstaltungen/Open-Air-Konzerte statt. Bei ­diesem Konzertformat der extrem rechten Szene lassen sich die meisten Besucher*innen mobilisieren. Diese öffentlichen Veranstaltungen verzeichneten bereits 2016 insgesamt einen Höchststand an Teilnehmenden (ca. 4800 Personen) in Thüringen. Im Jahr 2017 besuchten sogar fast 10.000 Neonazis die fünf organisierten Großevents. 2018 sanken die Zahlen auf 3320 Teilnehmende. Dies dürfte sich

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Stefan Heerdegen

Abb. 1  6.000 Teilnehmende auf dem Rock gegen Überfremdung II im südthüringischen Themar am 15. 07. 2017 (Bildrechte: MOBIT)

jedoch mit der gestiegenen Repression und der aktivierten zivilgesellschaftlichen Gegenwehr erklären und nicht mit einer Unbeliebtheit des Formats bei Neonazis. Am 7. Mai 2016 kamen rund 3500 Neonazis zum Rock für Meinungsfreiheit / Live-Hate 4 nach Hildburghausen. Am 15. Juli 2017 nahmen etwa 6000 Personen an einem Konzert mit dem Namen Rock gegen Überfremdung 2 in Themar teil (siehe Abb. 1). Damit war es eines der größten Neonazikonzerte Europas. Beide Konzerte waren in dem jeweiligen Jahr die meistbesuchten neonazistischen Konzertveranstaltungen in der Bundesrepublik. Entscheidend für den Anstieg der Zahl der RechtsRockkonzerte ist jedoch vor allem der Zuwachs an sogenannten Liederabenden. Der Anteil ­dieses Konzertformats stieg im vergangenen Jahr 2018 auf 45 Termine an.

2. Was zählt MOBIT als RechtsRockkonzert? Mitte der 2000er Jahre beobachtete MOBIT bei der Recherche und Dokumentation extrem rechter Ereignisse eine stärker werdende Bedeutung von Musik. Dabei beschränkte sich die Szene nicht auf einen Musikstil. Ein einheitliches Genre „Nazirock“ hat es nie gegeben. So ist die Bezeichnung „RechtsRock“ stilistisch irreführend. Tatsächlich müssen alle Stilrichtungen extrem rechter Musik gezählt werden.

RechtsRockkonzerte in Thüringen

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Mit dem Zählen von RechtsRockkonzerten verfolgt MOBIT das Ziel, alternativ zu staatlichen Angaben eine zivilgesellschaftliche Quelle anzubieten. Die Beratungserfahrungen zeigen: Zu oft wurden RechtsRock-Konzerte als unpolitische Veranstaltungen dargestellt, die eher zufällig auch ein neonazistisches Weltbild pflegen. MOBIT hingegen verweist explizit auf die politische Nutzung von Musik in der Szene. Der Wegbereiter des RechtsRocks, Ian Stuart Donaldson, beschreibt die Funktion von Konzerten folgendermaßen: Man geht auf ein Konzert und hört sich eine Gruppe an, der man recht gibt. Das ist viel angenehmer als zu einer politischen Versammlung zu gehen. Und wir können viel mehr Leute erreichen auf diese Weise. Und vielleicht, wenn sie sich die Texte anhören und daran glauben, was

gesagt wird, beginnen sie sich in einer nationalistischen Gruppierung in ihrem eigenen Land zu engagieren. Und das kann doch wirklich nur gut sein.1

Demnach können Konzerte als musikalische Propagandaveranstaltungen begriffen werden, um einerseits „Menschen jenseits jeglicher Parteien-Politik zu politisieren und andererseits als gestalterische Kraft eine eigene Erlebniswelt für die bereits politisch Aktiven zu schaffen“.2 Daher sind sie eben keine harmlosen, vernachlässigbaren Begleitveranstaltungen, sondern haben eine zentrale Funktion in der extrem rechten bzw. neonazistischen Szene. MOBIT weist jährlich nach, wie intensiv ­dieses Mittel von der extremen Rechten genutzt wird, um ihre menschenverachtende Ideologie zu verbreiten und zu festigen. Daraus lassen sich die entscheidenden Kriterien ableiten, was MOBIT als RechtsRock betrachtet – Texte der dargebotenen Musik, die Zuordnung der Musiker*innen, der Teilnehmenden und des Veranstaltungsorts zur extrem rechten Szene. Es gibt jedoch jedes Jahr Fälle, die genauer geprüft werden müssen, weil eines der Kriterien nicht oder nicht eindeutig erfüllt ist. Dann muss abgewogen werden, ob die anderen Kriterien so schwer wiegen, dass diese Konzerte in die Chronik aufgenommen werden.

3. Konzertformate In Thüringen waren in den vergangenen Jahren alle gängigen Konzertarten zu finden. Das gilt sowohl für Musikstile und deren Mix als auch für die Formate. RechtsRockkonzerte sind hierbei unterscheidbar hinsichtlich ihrer Öffentlichkeit bzw. öffentlichen Bewerbung, 1 Karl-Heinz Käfer 1994: Lieder der Verführung. Online: https://www.youtube.com/watch?v=468RLa9swxw [08. 06. 2020]. Übersetzung des Beitragsautors aus englischem Original, 7:05 Min. 2 Christian Dornbusch, Jan Raabe 2002: 20 Jahre RechtsRock. Vom Skinhead-Rock zur Alltagskultur. In: dies. (Hg.): RechtsRock. Bestandsaufnahme und Gegenstrategien. Unrast-Verlag: Münster, 19 – 50, hier 20.

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der üblichen Teilnehmendenanzahl oder der Wahl des Ortes. Unabhängig vom Format oder vom jeweilig angebotenen Musikstil sind RechtsRockkonzerte Veranstaltungen, bei denen der Nationalsozialismus glorifiziert wird, bei denen rassistische und antisemitische Ideologie verbreitet sowie Demokratie, Menschenwürde und Humanismus abgelehnt werden.

3.1 Lieder- oder Balladenabende Häufig finden in Thüringen sogenannte Balladen- bzw. Liederabende statt. Sie machten im letzten Jahr fast zwei Drittel aller RechtsRockkonzerte in Thüringen aus. Diese Veranstaltungen können ohne großen Aufwand organisiert werden und eignen sich insbesondere für kleine, überschaubare Kreise von Teilnehmenden. Um diese zu erreichen, wird wenig öffentliche Werbung benötigt. Ein kleiner Personenkreis findet sich auch über unverbindliche und kurzfristige Absprachen zusammen. Zuweilen finden gerade im Sommer s­ olche kleineren Lieder- oder Balladenabende auch unter freiem Himmel auf Privatgrundstücken statt. Zudem begünstigen Liederabende eine intime, vertraute Atmosphäre und eignen sich daher gut als „Abendprogramm“ im Anschluss an Propaganda- oder Parteiveranstaltungen. Aufgrund der geringen Größe dürfte ­dieses Format nur sehr bedingt finanzielle Gewinne verbuchen.

3.2 „Klassische“ RechtsRockkonzerte Der Aspekt der Gewinnerzielung ist eher bei Konzerten zu vermuten, bei denen mehrere RechtsRockbands auf der Bühne stehen. Hier ist das Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben komplexer. Zu erwartende Teilnehmende müssen mit öffentlicher Werbung angesprochen, ein attraktives Bandprogramm zusammengestellt, die Bands entlohnt sowie Saal und Musikanlage gemietet werden. Die momentan hierfür größte Konzertlokation in Thüringen ist das Veranstaltungszentrum Erfurter Kreuz in Kirchheim bei Arnstadt. Von 2009 bis 2018 zählte MOBIT hier 71 Konzertveranstaltungen.3 Oft wird für diese Konzerte im Internet geworben. Bei einem Eintrittspreis von bis zu 25 Euro und etwa 200 Besucher*innen sind Einnahmen in Höhe von bis zu 5000 Euro möglich. Eine umfassende Kalkulation dieser RechtsRockkonzerte bleibt jedoch spekulativ, zu viele Einnahme- und Ausgabeposten sind unbekannt. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass diese Konzerte ein Einnahmeplus erwirtschaften können. Daher eignet sich d ­ ieses Format auch als „Soli-Party“, um Geld für inhaftierte Neonazis, Prozesskosten oder eigene Immobilienprojekte zu sammeln. Die bundesweiten Kontakte der thüringischen Konzertveranstalter*innen erlauben es mittlerweile sogar, auf öffentliche 3 MOBIT e. V. 2020: Chronik extrem rechter Aktivitäten in Thüringen. Online: https://mobit.org/chronikextrem-rechter-aktivitaeten-in-thueringen/ [08. 06. 2020].

RechtsRockkonzerte in Thüringen

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Werbung zu verzichten. Trotz fehlender oder geringer öffentlicher Werbung im Internet fanden gut besuchte Veranstaltungen in Kirchheim statt. Mittlerweile läuft ein Großteil der Bewerbung für die Konzerte über Gruppen bei Messengerdiensten. Zu der hier beschriebenen, eher „klassischen“ Konzertart werden hin und wieder kleinere Konzertberichte verfasst. Denen ist zu entnehmen, dass die Verfasser*innen das RechtsRock­ konzert mit einem politischen Bewusstsein besuchen. Man lobt politische Aussagen der Bands, das Vorhandensein von Informationsständen politischer Gruppen oder freut sich über das Treffen mit „Gleichgesinnten“. Gleichzeitig motivieren aber auch das Gemeinschaftserlebnis und das Vergnügen.

3.3 Großveranstaltungen – Die Massenevents der Szene Die Großveranstaltungen unterscheiden sich deutlich von den anderen Konzertformaten: Ein zentrales Unterscheidungsmerkmal bildet die Anmeldung nach dem Versammlungsrecht bei den zuständigen Ordnungsämtern. Daher werden diese Veranstaltungen behördlich als Kundgebungen behandelt und bewertet. Nach Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gelten als Versammlungen im Sinne des Gesetzes Veranstaltungen, die „auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung“ 4 zielen. Es handelt sich demnach um Versammlungen, bei denen der Austausch über politische Ansichten befördert werden soll. Dieser kommunikative Zweck lässt dabei offen, wie die Verständigung ­zwischen Redner*innen und Publikum oder im Publikum selbst geschieht. Die zum Versammlungsmotto passende Botschaft darf daher auch durch Gesang artikuliert und die Meinungskundgabe durch Mitsingen des Publikums bestärkt werden. Ungeachtet einer juristischen Bewertung als politische Versammlung erfüllen diese Großveranstaltungen die RechtsRockkonzertkriterien von MOBIT. Diese Events haben zudem eine deutlich größere Anziehungskraft für neonazistische Konzertbesucher*innen als andere Formate. Konzerte als Großveranstaltungen finden in Thüringen seit 2002 statt. Damals protestierten Neonazis in Jena mit einer Mischung aus Redebeiträgen und musikalischen Anteilen für ein eigenes „Nationales Jugendzentrum“. Seither fanden in Thüringen insgesamt 54 derartige Versammlungen mit erheblichem musikalischem Anteil statt. Die meisten dieser Großveranstaltungen zogen einige hundert Teilnehmende an, zehn überschritten die Eintausendmarke. Offensichtlich stört der zwangsläufig öffentliche Charakter der RechtsRockgroßveranstaltungen die Besucher*innen nicht. Entscheidend für die Mobilisierung ist ein attraktives Angebot an Bands, Redner*innen und Verkaufs- bzw. Informationsständen. 4 Bundesverwaltungsgericht 2006: Aktenzeichen 6 C 23.06. Leitsatz. Online: https://www.bverwg.de/​ 160507U6C23.06.0 [08. 06. 2020].

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Dieses Konzertformat eignet sich aufgrund seiner hohen Teilnehmendenzahlen besonders als Einnahmequelle. Die chronisch unterfinanzierte Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD), die den Großteil dieser Konzerte im öffentlichen Raum durchführte, setzte Anfang der 2010er Jahre auf Spenden, um ihre Finanzen aufzubessern.5 Der Zuschnitt des RechtsRockkonzerts als Open Air mitsamt den Begleiterscheinungen wie Essens- und Getränkeversorgung ließ in den letzten Jahren steigende Eintrittspreise zu. Inzwischen werden diese auch als s­ olche öffentlich kommuniziert, während früher eher von „Spenden“ die Rede war. Bereits beim Rock für Deutschland 2009 in Gera wurden die Konzertbesucher*innen zur „Spende“, richtiger zur Entrichtung eines Eintrittsgelds in Höhe von 15 Euro angehalten.6 Dies verdeutlicht, dass bei dieser Mischung aus kommerziellem Konzert und Kundgebung auch starke finanzielle Interessen bestehen. 2012 veröffentlichte die NPD, sie habe im zurückliegenden Jahr insgesamt 21.385 Euro als Spenden bei den Großveranstaltungen eingenommen.7 Die Einnahmen allein aus Eintrittszahlungen dürften in den letzten Jahren allgemein angestiegen sein, werden doch Eintrittsgelder in Höhe von bis zu 35 Euro im Internet kommuniziert. Mit den drei Veranstaltungen in Themar im Jahr 2017 (Rock gegen Überfremdung 2, Rock für Identität/Live-Hate 5, Rock gegen Links) könnten mehr als 250.000 Euro an Einnahmen durch Eintrittsgelder erzielt worden sein. Diese dürften jedoch nicht mehr in NPD-Kassen geflossen sein. Wahrscheinlicher ist, dass diese beträchtlichen Summen eher für Geschäfte, Projekte und Immobilien der Veranstalter*innen verwendet wurden.

4. Begünstigende Faktoren für RechtsRockkonzerte Der wichtigste Faktor für die Zunahme der RechtsRockkonzerte in Thüringen sind die Immobilien, die der Szene gehören oder zur Verfügung stehen. In den letzten zehn Jahren fand insgesamt mehr als die Hälfte aller Konzerte in Neonaziimmobilien statt. Der Anteil der RechtsRockkonzerte in den Szeneimmobilien lag anfangs der MOBIT-RechtsRockChronik bei rund 20 Prozent. Er wurde jedoch kontinuierlich ausgebaut und stieg in den letzten drei Jahren auf 75 – 80 Prozent an. Es ist kaum mehr nötig, Wirte etwa mit fingierten Geburtstagsfeiern, die sich ­später als RechtsRockkonzert herausstellen, zu täuschen. Die Möglichkeiten in „sicheren“ Immobilien sind ausreichend.

5 NPD Thüringen 2011: Antrag des Landesvorstandes „Haushalt des Landesverbandes für 2011. „Den Landtagswahlkampf finanziell im Blick“. 6 Finanzgericht Thüringen 2015: Aktenzeichen 1 K 743/12. Unter Entscheidungsgründe 1. a) Wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb. Online: https://www.iww.de/quellenmaterial/id/182568 [08. 06. 2020]. 7 NPD Thüringen 2012: Leitantrag des Landesvorstandes „Gemeinsam. Entschlossen. Erfolgreich“.

RechtsRockkonzerte in Thüringen

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Eine gleichgültige oder verharmlosende Haltung bei den zuständigen Behörden, aber auch bei Anwohner*innen bzw. lokaler Zivilgesellschaft begünstigt, dass sich Szeneimmobilien als Veranstaltungsorte für RechtsRockkonzerte etablieren können. Es ist eine weitverbreitete Haltung bei den extremen Rechten und auch bei Neonazis, dass sie für sich in Anspruch nehmen, für eine „schweigende Mehrheit“ der Bevölkerung zu sprechen. Daher deuten Neonazis ausbleibenden Widerspruch oder Protest schnell als Zustimmung zu ihrem Handeln. Beispielsweise sprach der damalige Thüringer NPD-Landesvorsitzende Patrick David Wieschke dies in einem Flugblatt anlässlich eines Parteitags an: Wir wissen freilich, daß kaum mehr als ein Dutzend Kirchheimer diesen Protesten beiwohnten. Daher möchte ich mich im Namen der Nationaldemokraten bei allen Bürgern des Ortes für die Gastfreundschaft bedanken […]. Nach dem Parteitag werden Medien und linke Gruppen

wieder behaupten, daß sich der gesamte Ort erneut gegen die NPD gewehrt habe. Sie und ich wissen, daß dies nicht so ist.8

Analog kann auch für Veranstalter*innen von neonazistischen Konzerten das Fehlen von strengen Auflagen oder einer Gegenkundgebung als implizite Einladung aufgefasst werden. In gleicher Weise werden polizeiliche Maßnahmen eingeordnet. In Konzertberichten wird das Verhalten der Polizei oft thematisiert. Engagiertes, repressives Vorgehen von Einsatzkräften erscheint darin dem Konzerterlebnis abträglich. Hingegen werden oberflächliche Maßnahmen zwar erwähnt, aber letztlich hingenommen und nicht als Problem angesehen.

5. Herausforderungen für die Zivilgesellschaft So unterschiedlich die Konzertformate sind, so differenziert könnten auch die Formen zivilgesellschaftlicher Gegenwehr sein. Tatsächlich findet man jedoch nur unmittelbaren Protest gegen die neonazistischen Großveranstaltungen vor. Gegen die große Anzahl an Lieder- bzw. Balladenabenden und gegen die anderen RechtsRockkonzerte in Thüringen sind MOBIT keine Protestaktionen bekannt. Diese Konzerte finden zumeist in den Abendstunden an Wochenenden statt. Nicht selten stellen sich Aktive aus den diversen Bündnissen und Initiativen gegen Rechts(extremismus) deshalb die Frage, ob von einer Gegenveranstaltung überhaupt jemand Notiz nähme. Bisher zumindest konnte sich kein Bündnis in Thüringen dafür entscheiden, wirklich regelmäßig gegen RechtsRockkonzerte und Liederabende zu protestieren. Vor den meistgenutzten Konzertimmobilien hätte dies etwa ein Dutzend Protestaktionen pro Jahr bedeutet. Dazu kommt, dass nach Einbruch der Dunkelheit auch 8 NPD-Thüringen 2014: Wir laden Sie ein! Flugblatt verteilt am 14. 03. 2014. Rechtschreibfehler im Original.

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Erwägungen zur körperlichen Unversehrtheit eine stärkere Rolle spielen, so dass direkter Protest ausbleibt. Bei sehr aktiven lokalen Bündnissen spielen die RechtsRockkonzerte in der Arbeit aber durchaus eine Rolle. Allerdings existiert kein Bündnis und keine Initiative ausschließlich, um Widerstand gegen RechtsRockkonzerte zu leisten. Die Engagierten verfolgen allgemeinere Zielstellungen. Die meisten analysieren die extreme Rechte als ein sich ausbreitendes gesamtgesellschaftliches Problem und wollen dem auch in allen Facetten entgegentreten. Da bildet die Beschäftigung mit RechtsRock nur einen Teilaspekt. Regelmäßige Aktionen würden womöglich nur die vorhandenen Kräfte einseitig verschleißen. Aufgrund begrenzter Kräfte konzentrieren sich die meisten lokalen (Aktions-)Bündnisse und Initiativen auf die Auseinandersetzung mit den Großveranstaltungen der extremen Rechten. Gegen diese Events der neonazistischen Szene ist meist ein mittel- oder sogar langfristiges Mobilisierungskonzept nötig und möglich. Es besteht in diesen Fällen ausreichend Zeit, um das Für und Wider einzelner Aktionsvorschläge zu diskutieren. Auch neue, kreative Ideen können einbezogen werden. Wenn ­zwischen Bekanntwerden des Termins der Großveranstaltung und dem Termin selbst ein paar Monate liegen, ist ebenso Zeit für inhaltliche Veranstaltungen, wie Expert*innenvorträge, Podiumsdiskussionen, Bürger*innenversammlungen, Aktionskonferenzen oder Transferveranstaltungen für eine breitere Öffentlichkeit. Ein Beispiel dafür ist das Bürgerbündnis in Gera, in dem Menschen mehr als zehn Jahre lang Gegenaktionen gegen Rock für Deutschland organisierten. Über die Jahre haben sich auch kontinuierlich inhaltliche Veranstaltungen als sinnvoll herausgestellt. So wird die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Erscheinungsformen der extremen Rechten verstetigt. Dafür hat Gera begünstigende Faktoren: Erstens die Größe der Stadt (etwa 100.000 Einwohner*innen), zweitens meist nur eine große Neonaziaktion pro Jahr und drittens findet diese planbar im gleichen Zeitraum statt, das heißt, die Engagierten wissen, was auf sie zukommt. Im südthüringischen Themar waren die Einwohner*innen hingegen im Jahr 2017 in relativ k­ urzen Abständen mit drei derartigen Großveranstaltungen konfrontiert, von denen gleich die erste versprach, das am stärksten besuchte RechtsRockereignis seit Jahren zu werden. Zudem musste sich das Bündnis in Themar überhaupt erst einmal konstituieren. Angesichts einer Einwohner*innenzahl von knapp 3000 Menschen verteilten sich die notwendigen Organisationsaufgaben auf einen deutlich kleineren Personenkreis. Allerdings konnten hier viele Absprachen auch direkter und unkomplizierter getroffen werden. Es bleibt eine schwierige Herausforderung für ein Bündnis wie das in Themar, obwohl von vergleichsweise vielen Aktiven getragen, dieser Schlagzahl an neonazistischen Konzerten und Versammlungen in Zukunft stetig etwas entgegenzusetzen. Vielfältige Gegenveranstaltungen haben den Zweck, öffentlich Widerspruch gegen diese Neonazikonzerte zu demonstrieren. Sie dienen aber auch dazu, gesellschaftlichen Druck bei den zuständigen Ämtern, lokalen und regionalen Entscheidungsträger*innen und der

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Politik aufzubauen. Wenn jedoch von Behörden die Gefahr für die Demokratie eher bei der Zivilgesellschaft statt bei den Neonazis verortet wird und folglich zivilgesellschaftlicher Protest eher erschwert oder gar verhindert wird, begünstigt dies die Feind*innen von Demokratie und Menschenrechten. Daher stimmt es hoffnungsvoll, dass sich Aktive aus ganz Thüringen im Jahr 2018 verstärkt solidarisch bei den Protestaktionen unterstützten. Einige schlossen sich in der Initiative Wir für Thüringen zusammen, um einander bei Versammlungsanmeldungen zu unterstützen. Außerdem brachte die Gruppe eine Petition in den Thüringer Landtag ein, wonach die Landesregierung die zuständigen Versammlungsbehörden stärker unterstützen möge. Des Weiteren will die Initiative durch Bundesverwaltungsgericht oder Bundesverfassungsgericht eine Weiterentwicklung der Rechtsprechung zum Versammlungsrecht erreichen. Aus ihrer Sicht überdehnt die Praxis der Neonazis bei den Anmeldungen von RechtsRockkonzerten als politische Kundgebungen die Versammlungsfreiheit.9 Das Thüringer Innenministerium gründete als Reaktion auf die Petition eine Taskforce, die nun tatsächlich die Behörden bei den repressiven Maßnahmen gegen RechtsRockkonzerte unter dem Deckmantel der Versammlungsfreiheit unterstützt. So haben überlegtere Anmeldungen von Protestversammlungen und ein entschiedeneres Vorgehen von Versammlungsbehörde und Polizei das Event Tage der nationalen Bewegung-2 im Jahr 2019 für die neonazistischen Veranstalter und Besucher*innen spürbar unattraktiver werden lassen. Es ist aber darüber hinaus notwendig, nicht beim direkten Protest gegen einzelne Neonazi­ konzerte stehen zu bleiben. Eine entschiedene antirassistische und demokratische Haltung muss in Zeiten eines raumgreifenden allgemeinen Rechtsrucks medialen, öffentlichen und politischen Druck aufbauen, um die demokratische Gesellschaft gegen deren Feind*innen zu verteidigen.

9 N. N. 2019: Rechtsrock vs. Versammlung. Online: https://www.openpetition.de/petition/online/rechtsrockvs-versammlung [08. 06. 2020]; Thüringer Landtag 2019: Öffentliche Anhörung zum Thema Rechtsrock. Online: https://www.thueringer-landtag.de/service/presse/pressemitteilungen/oeffentliche-anhoerungdes-petitionsausschusses-zum-thema-rechtsrock/ [08. 06. 2020].

TEIL V: CODA

Steven Schäller, Raj Kollmorgen und Johannes Schütz

Umkämpfte Mitte in den Krisen der Gegenwart Von der Nouvelle Droite zum Coronavirus-Protest

1. Einleitung An dieser Stelle bietet sich nun die Gelegenheit, einen Blick zurückzuwerfen und zu fragen, was aus den versammelten Beiträgen für die Zukunft zu lernen ist. In der Einleitung zu ­diesem Band wurde eine ganze Reihe von Fragen aufgeworfen. Dabei ging es nicht allein darum, jede einzelne dieser Fragen mit einer Antwort zu versehen. Oftmals ist es bereits ein lohnendes Ziel, eine Frage als relevante Frage zu konturieren oder eine Perspektive herauszuarbeiten, die erst eine Fragestellung – und damit die Identifikation eines Problems – ermöglicht. Indem der Band an die Tagung Die neue Mitte?, die vom 17. bis 19. November 2018 im Deutschen Hygiene-Museum Dresden stattfand, anknüpft, schließt er auch an die dort adressierten Probleme und Fragen an: Gegenständliches Problem aller Beiträge sind jene rechten Strömungen und Bewegungen, die sich durch organisatorische und ideologische Innovationen auszeichnen und deren Ausgreifen vom populistischen bis extremen rechten Rand in eine vorgestellte, mal bürgerliche, mal politische ‚Mitte‘ die öffentliche Aufmerksamkeit dominiert. Aus dieser Perspektive geraten Akteure und Akteurstypen, deren ideologische Angebote, ihre Ziele und Strategien sowie die Frage nach deren Verhältnis zur freiheitlichdemokratischen Grundordnung in den Blick. Die Herausgeber des Bandes versprechen sich von dieser Herangehensweise eine informierte Perspektive auf jene Heraus­forderungen der liberal-demokratischen Gesellschaft, die seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit beherrschten, die aber als Tiefenphänomene deutlich weiter zurückreichen und natürlich auch über das Jahr 2015 hinaus. Ein erster Indikator dafür ließe sich an jenen Ereignissen und Entwicklungen ableiten, die seit etwa Mitte der 2000er Jahre mit den Erschütterungen an den internationalen Finanzmärkten unter den Begriffen der Krise firmieren: etwa die Finanz- Euro- und Schuldenkrise, sodann natürlich die Flüchtlings- und die Migrationskrise. Und zuletzt gehört in diese Reihe natürlich die Coronavirus-Krise. Allen diesen Entwicklungen gemein scheint eine gesellschaftsweit verbreitete Diagnose zu sein, dass diese Krisen nicht allein ein Ereignis für sich sind, sondern

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auch auf anderes verweisen. Was d ­ ieses ‚Andere‘ ist, darüber gibt es verschiedene, zum Teil auch sehr stark voneinander abweichende Deutungen. Aus einer wissenschaftlichen Perspektive repräsentieren Erschütterungen am Finanzmarkt, eine mangelnde Solidarität in der Europäischen Union, ablesbar am augenscheinlich nicht funktionierende Flüchtlingsregime an den Außengrenzen der EU , sowie die Belastungen aller öffentlichen Institutionen, insbesondere der des öffentlichen Gesundheitssektors in der gegenwärtigen Pandemie, vornehmlich Herausforderungen der wohlfahrtsdemokratisch-kapitalistischen Ordnung. Diese Herausforderungen können aber für all diejenigen, die von ihnen persönlich und nachhaltig betroffen werden, etwa in Gestalt finanziellen Ruins oder Arbeitslosigkeit, Entfremdung und Verunsicherung im Alltag, Gewalterfahrung oder ernsthafter Erkrankung als handfeste Verluste oder mindestens Bedrohungen wahrgenommen werden. Eine s­ olche Perspektive führt unweigerlich zu anderen Reaktionsmustern und Einstellungen als etwa jene durch einen nüchternen, sachlichen Blick auf statistische Daten und größere Zusammenhänge informierte Perspektive. Und dann wären da noch jene Akteure, um die es in ­diesem Band hauptsächlich geht und für die augenscheinlich die genannten Krisen mehr sind als bloße Herausforderungen der liberal-demokratischen Ordnung. Für diese handelt es sich vielmehr um übergreifende Krisensymptome entgrenzter liberal-kapitalistischer Ökonomien und politischer Ordnungen, die sich einem universalen Menschrechtsparadigma verpflichtet sehen. Dabei kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass jene Akteure sich von diesen Krisen nähren. Das machen unter anderem die vielen Ausfälle populistischer Akteure deutlich, darunter zuletzt der Skandal um den ehemaligen AfDBundestagsfraktionssprecher Christian Lüth, der eine Verschärfung bestehender Krisen herbeisehnt, weil dies die eigenen politischen Positionen und deren Zustimmung in der Bevölkerung zu stärken verspricht.1 Doch bevor die These einer noch in der Coronavirus-Pandemie erkennbaren allgemeinen Krise liberal-demokratischer Ordnungen näher beleuchtet wird, werfen wir in einem ersten Schritt einen Blick zurück auf die Ergebnisse d ­ ieses Bandes. Dazu legen wir zunächst dar, ­welche innovativen ideologischen Angebote, Ziele und Strategien der rechten Szene und insbesondere der Neuen Rechten in jüngerer Zeit zu beobachten sind. Anschließend skizzieren wir auf der Grundlage der Beiträge jene gesellschaftsstrukturellen Kontexte, sozialen Lagen und Milieus, an die die rechte Szene anzuknüpfen versucht. In einem nächsten Schritt zeigen wir dann, mit ­welchen Aktionsformen und Praktiken konkrete Gruppierungen ansetzen und w ­ elche Gegenstrategien auf den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen erfolgversprechend sind. Dazu zählt insbesondere auch ein besonderer Blick auf die mediale Verfasstheit der Öffentlichkeit, die neben dem konkreten Handeln vor Ort einen weiteren Raum der Auseinandersetzung darstellt. 1 Markus Wehner 29. 09. 2020: „Erschießen“ oder „vergasen“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.

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Anschließend werfen wir einen exemplarischen Blick auf die jüngsten, rund um die Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie entstandenen Proteste und Widerstandsmilieus, um an d ­ iesem Beispiel zunächst zu zeigen, dass für einige Akteure der Neuen Rechten Krisen eine gewisse Austauschbarkeit besitzen und für viele widerständig gesinnte Bürger diese Krisen mit einiger Wahrscheinlichkeit auch eine Ventilfunktion für eine tieferliegende Unzufriedenheit mit dem liberal-demokratischen Institutionenensemble zum Ausdruck bringen. Zuletzt skizzieren wir daher eine mögliche Ursache für diese Unzufriedenheit, die sich auf die von Hans Vorländer gebrauchte Formel von einem Auseinandertreten von „Demokratie als repräsentativem politischen Entscheidungssystem und Demokratie als gesellschaftlicher Lebensform“ 2 bringen lässt.

2. Was wir wissen: Die (neue) Mitte als politischer Sehnsuchtsort der Rechten 2.1 Ideologien, Ziele, Strategien Die Frage nach einem historischen sowie geografischen Ausgangspunkt ideologischer Innovationen sowie nach neuen Zielen und Strategien der Neuen Rechten findet eine erste Antwort in Frankreich. Danilo Scholz legt im Gespräch mit Philipp Felsch dar, dass eine sich Ende der 1960er Jahre formierende Nouvelle Droite maßgebliche theoretische Innovationen angestoßen hat, die über Frankreich hinaus wirksam geworden sind. Ihrerseits ist diese Nouvelle Droite nicht denkbar ohne ihre spezifischen Vorläufer aus der Gegenrevolution in der Folge der Ereignisse von 1789. Eine s­ olche gegenrevolutionäre, reaktionäre Ideologie vertrat zunächst eine Wiederherstellung des Staatskatholizismus, einen rigiden Antiegalitarismus sowie einen restaurativen Monarchismus. Als Feindbilder dienten bereits in diesen historischen Kontexten Jean-Jacques Rousseau und dessen Prinzip der Volkssouveränität sowie die großen Metropolen und deren korrumpierende Wirkung auf die Natur des Menschen. Dieser ideologische Kern der Rechten in Frankreich erfuhr etwa mit Charles Maurras, dem Gründer der Action Française, Ende des 19. Jahrhunderts eine wichtige Aktualisierung. Die beiden ideologischen Säulen des Katholizismus und des Monarchismus blieben erhalten, die großstädtische Lebensform, kontrastiert durch ein tugendhaftes ländliches Leben, erhielt eine entscheidende Anreicherung durch einen Formen und Werte zersetzenden Intellektualismus und Antisemitismus. Maurras gilt auch heute noch, etwa für Marion Maréchal, Nichte von Jean Marie Le Pen und innerparteiliche Konkurrentin von dessen Tochter Marine Le Pen, als wichtiger Anknüpfungspunkt theoretischer Auseinandersetzungen.

2 Hans Vorländer 12. 07. 2011: Spiel ohne Bürger. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.

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Für die Vertreter der Nouvelle Droite boten die Action Française, die französische Nieder­ lage im Algerienkrieg sowie die dräuenden gesellschaftsweiten Liberalisierungen infolge der 1968er-Studentenproteste Anknüpfungspunkte einer neuen Theoriearbeit. So führte insbesondere Dominique Venner, ein Veteran des Algerienkrieges, in der Zeitschrift Europe-Action eine theoretische Auseinandersetzung zur Zukunft der französischen Rechten, und Alain de Benoist schob mit der Gründung des Groupement de recherche et d’études pour la civilisation européenne, kurz GRECE, im Jahr 1968 entscheidende theoretische Innovationen an. Der Nationalstaat galt nun in Kreisen der Nouvelle Droite nicht mehr als wichtigster Bezugspunkt des politischen Denkens; zugleich entwickelte sich eine gewisse Distanz zu revolutionären Aktionen, die noch die Action Française auszeichnete. Und zuletzt verstand sich diese Nouvelle Droite als ein europäischer Akteur, der damit anschlussfähig an andere rechtsnationale Diskurse wurde. Insbesondere über das persönliche Verhältnis ­zwischen Alain de Benoist und Armin Mohler, zentrale Figur der deutschen Neuen Rechten, entwickelte sich ein reger Theorieaustausch, der für rechte Diskurse in der alten Bundesrepublik von entscheidender Bedeutung ist.3 Über die Achse de Benoist-Mohler fand so etwa die Beschäftigung der Nouvelle Droite mit dem italienischen Kommunisten Antonio Gramsci und dessen Hegemoniekonzept Eingang in die deutschsprachige Diskussion. Aber auch institutionell diente das französische GRECE als Vorbild, insofern die Gründung des Insti­ tuts für Staatspolitik (IfS) den Versuch darstellte, eine gewisse Verstetigung der Diskurse zu erreichen.4 In der deutschen Diskussion ist de Benoist eine bewundernde Distanznahme gewiss. So wird er einerseits als maßgeblicher Theoriearbeiter der Metapolitik gewürdigt. Andererseits aber wird ihm in bestimmtem Maße Kritik zuteil, da er die christliche Tradition problematisiere und zudem seine gesamte Kraft auf die Theoriearbeit fokussiere. Martin Sellner etwa lässt in Würdigungen von de Benoist stets die Kritik mit ein, dass dieser mit der Bevorzugung der Theoriearbeit die praktische Wirksamkeit rechter Ideen vernachlässige. Genau deswegen benötige eine rechte Metapolitik jenen aktivistischen Arm des öffentlichkeitswirksamen Straßenprotests, den Sellner mit anderen in Form der Identitären Bewegung Österreichs 2012 begründete.5 Neben der Metapolitik ist der Ethnopluralismus ein zweiter wichtiger ideologischer Grundbegriff der Nouvelle Droite. Scholz hebt im Interview hervor, dass es sich um eine 3 Vgl. Alain de Benoist 1983/84: Aus rechter Sicht, 2 Bde., Grabert: Tübingen. Sowie Armin Mohler 2011: Gegen die Liberalen. Antaios: Schnellroda. Analytisch: Volker Weiß 2017: Die autoritäre Revolte: Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes. Klett-Cotta: Stuttgart. 4 Vgl. Helmut Kellershohn 2015: Das Institut für Staatspolitik und das jungkonservative Hegemonieprojekt. In: Stephan Braun, Alexander Geisler, Martin Gerster (Hg.): Strategien der extremen Rechten. Wiesbaden: Springer, 439 – 467. 5 Vgl. Martin Sellner 2017: Identitär! Geschichte eines Aufbruchs. Antaios: Schnellroda, 102 – 104 sowie Steven Schäller 2019. Biographisches Portrait: Martin Sellner. In: Jahrbuch Demokratie & Extremismus 31. Baden-Baden: Nomos, 193 – 209.

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Idee handele, „die von links nach rechts wanderte“. So habe der Ethnopluralismus seine Wurzeln in den ethnologischen Forschungen von Claude Lévi-Strauss. In d ­ iesem Kontext etwa wird der Begriff des Ethnozids geschöpft und bezieht sich noch auf die gezielte Vernichtung indigener Völker und deren Kulturen in Südamerika. Von Henning Eichberg stammt der maßgebliche Aufsatz Ethnopluralismus. Eine Kritik des naiven Ethnozentrismus und der Entwicklungshilfe, mit dem der Ethnopluralismus in die deutsche Diskussion ein­ ieses Begriffs aus ‚linken‘ Theoriezirkeln geht geführt wird.6 Die folgenreiche Aneignung d mit einer spezifischen Reinterpretation einher: Übernommen wird die kulturrelativistische Prämisse, wonach keine Kultur mehr wert sei als andere. Aus der Zurückstufung eines Überlegenheitsdenkens westlicher Kulturen gegenüber dem globalen Süden und Osten wird jedoch in den Interpretationen der Neuen Rechten ein Konzept, wonach die Reinheit und das Überleben der europäischen Völker bedroht sei durch Migration auf der einen Seite und ein alles zersetzendes, liberales anything goes pluralisierter, heterogener Lebensmodelle auf der anderen Seite. So entwickelt sich zuerst die französische Nouvelle Droite und in deren Fahrwasser auch die deutsche Neue Rechte zur „Speerspitze der ethnischen Diversity“ (Scholz), die jedoch Vielfalt als schützenwerte Kategorie allein auf der Ebene der Völker anerkennen mag. Auf diesen Grundbegriffen ruht zuletzt die ­Theorie vom „Großen Austausch“ oder der „Umvolkung“ auf, die ihren Ausgangspunkt bei Renaud Camus nimmt 7 und im Rahmen einer Kampagne der Identitären Bewegung Österreichs mit zahlreichen öffentlichkeitswirksamen Aktionen im deutschsprachigen Raum bekanntgemacht wurde. Mit ­diesem skizzenhaften Einstieg in eine ideologische Genese der Neuen Rechten in Frankreich und in der Bundesrepublik eröffnen sich mehrere Fragen, etwa zum Status einer öffentlichen Rede von der Neuen Rechten, vom Transfer abstrakter Theorien in die politische Wirklichkeit, von spezifischen Merkmalen der deutschen Neuen Rechten in Abgrenzung zur Nouvelle Droite sowie zu ihrem Verhältnis zu anderen ideologischen und politischen Strömungen. Der Status einer öffentlichen Rede über das Neue an der Neuen Rechten evoziert Fragen nach einem Vorher und Nachher, nach Entwicklungen und Veränderungsdynamiken mit Blick auf aktualisierte Ideologien und neu hinzukommende Akteure. Mit Johannes Schütz lässt sich dagegen die Rede von der Neuen Rechten vor allem als eine Strategie zur Bewältigung von Brüchen innerhalb der rechten Szene lesen. So kam der Begriff in der Geschichte der Bundesrepublik schon mehrfach zur Anwendung und verwies auf je spezifische Akteure, die ideologische und strategische Neuansätze wagten. Historisch werden ­solche Brüche etwa Anfang der 1970er Jahre durch die Aktion Neue Rechte markiert, die 6 Vgl. Henning Eichberg 1973: Ethnopluralismus. Eine Kritik des naiven Ethnozentrismus und der Entwicklungshilfe. In: Junges Forum 5, 3 – 12. 7 Vgl. Renaud Camus 2011: Le grand remplacement. Editions David Reinharc: Neuilly-sur-Seine.

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sich durch eine Wendung hin zu antiimperialistischen Positionen von der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) abgrenzte, womit diese ohne eigenes Zutun zur ,alten Rechten‘ wurde. Auch der Diskurs um die Neue Rechte in den 1990er Jahren des vereinigten Deutschlands zeigt einen Wandel an, der begrifflich durch die Selbstbezeichnung als eine Neue Rechte markiert wurde. In einem publizistischen und institutionellen Neuaufbruch, der Gründung neuer Publikationsorgane, wie etwa der Wochenzeitung Junge Freiheit und der Zeitschrift Sezession sowie der Gründung des Instituts für Staatspolitik, entstanden intellektuelle Experimentierfelder für eine neue Generation rechter Aktivisten. Spezifikum dieser Neuen Rechten war eine Theoriearbeit, die nach innen integrierend und nach außen metapolitisch agierte. So zeigten die Akteure des rechten Aufbruchs der 1990er Jahre einerseits der rechten Szene die allen gemeinsamen antidemokratischen, antiliberalen und antiegalitären Aspekte auf, die als Gesamtpotenziale der Szene zu verstehen s­ eien. Andererseits wurde mit Blick auf die als ideologisch unverdächtig beschriebene sogenannte Konservative Revolution 8 ein metapolitisches Paket geschnürt, das konservativen, nationalen, völkischen und rechtschristlichen Milieus angeboten wurde als Alternative zum parteiförmig organisierten, aber nur als halbherzig empfundenem Konservatismus der Unionsparteien. Vor ­diesem Hintergrund ist mit Schütz vor einer allzu leichtfertigen Verwendung des Begriffs der Neuen Rechten zu warnen. Als heuristische Analysekategorie ist der Begriff nur dann sinnvoll, wenn die historische Dimension der Rechten insgesamt im Blick bleibt. Und das heißt dann auch, dass die Selbstbeschreibung als Neue Rechte immer auch Versuche der Reaktualisierung und der Anpassung an die Zeitläufe anzeigt. So sollte neben der empirischen Beobachtung einer erfolgreichen Selbstinszenierung der Neuen Rechten als Neue Rechte und ‚wahre Konservative‘ immer auch die analytische Perspektive stehen, die die ideologischen Kontinuitäten im Blick behält. Ein solcher doppelter Blick auf das Phänomen ist nicht zuletzt auch deswegen angezeigt, weil sich die Akteure der Neuen Rechten anschicken, neben reiner Theoriearbeit und ideologischer Selbstverortung auch politisch-praktisch wirksam zu werden. Anknüpfen können sie dabei einerseits an vorhandene gesellschaftliche Gelegenheitsstrukturen. Andererseits lässt sich jedoch auch beobachten, wie die Akteure der Neuen Rechten bereits die Früchte ihrer metapolitischen Arbeit ernten können. In der ersten Hinsicht kann mit Alexander Häusler darauf verwiesen werden, dass sozioökonomische und kulturelle Umbrüche sowie Veränderungen des Parteiensystems den diskursiven Strategien der Neuen Rechten den Boden bereiteten. Diese knüpfen dann an gesellschaftlich vorfindbare Gelegenheitsstrukturen an und greifen passende ­Themen auf, um diese in ihrem Sinne zu deuten, etwa im 8 Vgl. dazu Armin Mohler 1950: Die konservative Revolution in Deutschland 1918 – 1932: Grundriß ihrer Weltanschauungen. Vorwerk: Stuttgart. Kritisch dazu Stefan Breuer 1993: Anatomie der Konservativen Revolution. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt.

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Rahmen der Eurokrise und den Debatten um zwei Buchpublikationen von Thilo Sarrazin, aber auch um die s­ päter einsetzende Fluchtmigration sowie den Islam als Feindbild und Bedrohung des ‚Abendlandes‘. Am Beispiel der Alternative für Deutschland lässt sich so nachvollziehen, w ­ elche Häutungen die Partei durchmachte, um zuletzt als rechtspopulistische Partei in Erscheinung zu treten, bei der einzelne Mitglieder, aber auch inoffizielle Parteigliederungen vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Der Wandel von einer neoliberalen, eurokritischen Partei hin zu einer Partei mit völkischen Elementen ist dabei nicht zu übersehen: „In der Partei verdichten sich rechtspopulistische Ansprache mit autoritären Staatsvorstellungen und völkisch-nationalistischen Ansichten zu einem völkisch-autoritären Populismus“ 9 (Häusler). Dies muss auch als Ergebnis neurechter Einflussnahmen auf die AfD verstanden werden.10 In der zweiten Hinsicht zeigen sich die Früchte der metapolitischen Arbeit der Neuen Rechten in Gestalt einer erst in jüngerer Zeit auf den Straßen aktiven Zivilgesellschaft von rechts. Die Erscheinungsformen eines solchen „autoritären Nationalradikalismus“ (Nattke) haben in den Jahren seit 2015 die Bilder des rechten Spektrums dominiert und damit nicht zuletzt auch bisher etablierte Akteure wie etwa Neonazis und die NPD aus der öffentlichen Aufmerksamkeit verdrängt. An den Mobilisierungserfolgen einer rechten Zivilgesellschaft lässt sich aber auch ablesen, mit welcher Strategie die Neue Rechte in d ­ iesem aktivistischen Milieu vorgeht. Von Michael Nattke wird diese Strategie als Gleichklang von Abgrenzung und Schulterschluss beschrieben: So zeige sich auf der formalen Ebene eine strikte Abgrenzung der sich in bürgerlichem Habitus übenden zivilgesellschaftlichen Protestakteure von neonazistischen Kameradschaften und anderen gewaltbereiten Rechtsextremisten. Gleichzeitig aber wachse in der Szene das Verständnis für die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen rechten Bewegung.11 Verdeutlichen lässt sich dies anhand der Ereignisse in Chemnitz im Spätsommer 2018, wo in der Folge einer Gewalttat rechtsextreme und rechtspopulistische Akteure etwa 10.000 Teilnehmer für eine Demonstration mobilisieren konnten und damit das Potenzial demonstrierten, welches aus der vielgestaltigen rechten Szene zusammen­gefügt werden könne. Daher, so Nattke, setzte sich eine Auffassung durch, wonach der Erfolg weniger in einem Führerprinzip und stattdessen im Bewegungscharakter der rechten Szene zu finden sei. Die theoretischen Vorarbeiten zeigten also auch in der Hinsicht Wirkung, die starke Ausdifferenzierung innerhalb der rechten Szene aufzufangen. Wie diese Integrationsbemühungen einer stark heterogenen rechten Szene konkret aussehen, hat Sebastian Dümling exemplarisch anhand der mittelalterlichen Reichsidee und 9 Häusler in diesem Band, S. 72. 10 Maik Herold und Steven Schäller 2020: Pegida und die AfD: z­ wischen Konvergenz, Konkurrenz und Kooperation. In: Uwe Backes und Steffen Kailitz (Hg.): Sachsen – eine Hochburg des Rechtsextremismus? Vandenhoeck und Ruprecht: Göttingen, 127 – 154. 11 Benedikt ­Kaiser 2017: Mosaik-Rechte und Jugendbewegung. In: Sezession 77, 46 – 47.

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deren Bedeutung für das rechte Lager darlegen können. So ermöglicht der Begriff des Reiches zunächst eine Leitunterscheidung durch einen kommunikativen Code der Eingeweihten. Auf diese Weise wird ­zwischen Angehörigen der eigenen Gruppe (In-Group) unterschieden, die mit der mittelalterlichen Reichsidee einen spezifischen Sinn verbinden können, und allen anderen (Out-Group), für die dieser Begriff und die damit verbundenen Ideen keine aktuelle politische Relevanz haben. In einer weiteren Unterscheidung wird die mittelalterliche Reichsidee auf eine spezifische Weise mit Sinn aufgeladen: Das Reich sei in Abweichung vom Erkenntnisstand der Mittelalterhistoriker gerade nicht als weltliches Universalgefüge der gesamten Christenheit zu interpretieren, sondern als ein spezifisch deutsches Reich. In dieser Fassung der mittelalterlichen Reichsidee konvergieren alte Rechte, wie etwa Hans-Dietrich Sander, der in den frühen 1990er Jahren in den Staatsbriefen die ghibellinische Reichsidee zu revitalisieren suchte, und Götz Kubitschek, der auf diese Weise integrierend in das altrechte Milieu hineinwirkt.12 Ein Blick auf die ideologischen Innovationen, Strategien und Ziele der Neuen Rechten bliebe jedoch unvollständig, wenn nicht auch danach gefragt wird, inwiefern diese metapolitisch an der Ausweitung des eigenen Wirkungsbereichs arbeitet. Instruktive Hinweise dazu liefern die Analysen von Liane Bednarz zu den Grenzverwischungen z­ wischen konservativen und rechten Milieus. Auch wenn diese in der Bundesrepublik gerade in der politischen Debatte ein Stück weit zusammengedacht werden, beharrt Bednarz auf der analytischen Unterscheidung ­zwischen beiden Milieus. Zunächst hält Bednarz fest, dass sich Konservative bundesrepublikanischer Prägung in drei Merkmalen von der Rechten unterscheiden: So opponierten Konservative nicht aus Prinzip gegen sozialen Wandel, gegen progressive und emanzipatorische Bewegungen. Ihr Anliegen sei nicht, Fortschritt zu stoppen, sondern diesen gesellschaftsverträglich auszugestalten. Konservative ­seien auch nicht „per se gegen die liberale Moderne“ (Bednarz). Ein kulturpessimistischer Habitus sei ihnen ebenso fremd wie ein permanentes Anstürmen gegen den Zeitgeist. Historisch betrachtet ist der Konservatismus bundesrepublikanischer Prägung als eine abwehrende und lernende Reaktion auf rechtes Denken zur Zeit der Weimarer Republik zu verstehen: Was auch heute noch rechtes Denken auszeichnet – Antipluralismus, Antiliberalismus, völkisch-homogenes Denken –, ist gerade nicht Wesensmerkmal des Konservatismus. Mit der zu beobachtenden Selbstetikettierung als Konservative unternehmen Akteure der Neuen Rechten jedoch wiederholte Ausritte in benachbartes Terrain und stießen dabei, so die Beobachtungen von Bednarz, seit etwa den 2010er Jahren zunehmend auf Anklang insbesondere in jenen Milieus, die lange Zeit auch mit von den Unionsparteien repräsentiert worden ­seien. So kann Bednarz zeigen, wie sich Akteure der Neuen Rechten als Auffangbecken für 12 Vgl. den Beitrag von Dümling in ­diesem Band für eine Übersicht zu der hier und im Folgenden angesprochenen Literatur.

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ein rechtschristliches Milieu anböten, welches vom Parteiensystem entfremdet erscheine und sich politisch nicht mehr repräsentiert sehe. Als thematischen Türöffner identifiziert Bednarz unter anderem Thilo Sarrazin und sein Buch Deutschland schafft sich ab.13 Die von Sarrazin dort reproduzierten Thesen, etwa zu genetisch bedingten kognitiven Nachteilen unter größtenteils muslimischen Migranten aus dem Nahen Osten und dem arabischen Raum, stießen auf erheblichen Anklang, nicht zuletzt auch unter rechten Christen. Daneben gesellte sich dann im Laufe der Zeit eine Reihe von ­Themen im Bereich der gesellschaftlichen Werte- und Lebensmodelldebatten, etwa „Frühsexualisierung von Kindern“, Homosexualität oder „Gendermainstreaming“, die mit Blick auf gesellschaftliche Mehrheiten so geführt und entschieden wurden, dass ein rechtschristliches Milieu über eine zunehmende Zuspitzung eigener Positionen nicht nur öffentlich sichtbarer wurde, sondern auch deutlich in die Nähe der Neuen Rechten rückte. Vor ­diesem Hintergrund ist etwa der Erfolg von Beatrix von Storch – Mitgründerin der Zivilen Koalition, einer rechtschristlichen Lobbygruppe – gerade in der AfD einzuordnen. Zuletzt also wäre an dieser Stelle zu fragen, wie die AfD, die als eurokritische Professorenpartei startete und mittlerweile so viele verschiedene Strömungen des rechten Milieus von rechtsextremen Proponenten des Flügels bis hin zu rechtschristlichen Gruppierungen vereint und dabei auch wesentlichen Impulse der Neuen Rechten aufnimmt, einzuordnen ist. Inwiefern kann von ihr (noch) als einer populistischen Partei gesprochen werden? An dieser Frage lässt sich nicht zuletzt das Dilemma einer Wissenschaft beobachten, deren Gegenstand – der Populismus – einerseits im Sinne eines politischen Kampfbegriffs emotional aufgeladen ist und fixiert erscheint und der sich andererseits als Feld sozialer und politischer Akteure dynamisch verhält.14 Claire Moulin-Doos zeigt in einer nüchternen Durchsicht der aktuellen wissenschaftlichen Debatten zum Thema, warum es sinnvoll sei, den Populismusbegriff nicht zu weit zu fassen. So existierten auf der einen Seite für zahlreiche adjektivische Zuschreibungen zum Populismus bereits etablierte Konzepte. Moulin-­Doos argumentiert hier für eine sachliche Trennung und gegen eine Vermischung der Konzepte, wenn sie beispielsweise dafür plädiert, Demagogie auch weiterhin als ­solche zu beschreiben und diese nicht zu einem Wesenskern des Populismus aufzuladen. Für Moulin-Doos besteht Populismus in seinem Wesenskern aus einer Unterscheidung ­zwischen Volk und Elite.15 Diese Unterscheidung steht linken wie rechten Politikern zur Verfügung. Rechte Populismen fokussieren dabei zusätzlich auf eine ethnisch konnotierte Identität. Mit d ­ iesem Begriffswerkzeug ist die AfD dann neben weiteren Zuschreibungen eben auch als rechtspopulistische 13 Thilo Sarrazin 2010: Deutschland schafft sich ab. Deutsche Verlags-Anstalt: München. 14 Vgl. Steven Schäller 2016: Begriffe und Befunde: Populismus in der politikwissenschaftlichen Forschung. In: Zeitschrift für Politische ­Theorie 7, 2, 221 – 231. 15 Diese grundlegende definitorische Unterscheidung wird von vielen anderen Beiträgen ­dieses Bandes aufgegriffen. Vgl. als Pars pro toto den Beitrag von Kollmorgen in ­diesem Band.

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Partei zu beschreiben. Aus der Perspektive der Neuen Rechten dagegen kennzeichnet diese Zuschreibung als rechtspopulistischer Akteur lediglich ein Mittel der Politik, um eigene Inhalte transportabel zu machen.

2.2 Gesellschaftliche Kontexte Die hier beschriebenen Ideologien, Strategien und Ziele der Neuen Rechten sind in gesellschaftliche Kontexte eingebettet, an die angeknüpft werden kann und zu denen sich die Akteure verhalten müssen. In einem zweiten Schritt muss daher die Aufmerksamkeit der Frage gelten, w ­ elche Milieus, w ­ elche Einstellungen und Habitusformen, w ­ elche gesellschaftlichen Gruppen von den Akteuren der Rechten adressiert werden. In erster Linie sind hier jene Wählerschichten angesprochen, die sich die AfD erschließen konnte, sowie auch jenes Protestpotenzial, das seit 2014 unter der Flagge einer Zivilgesellschaft von rechts deutlich sichtbar auf die Straßen des Landes geht. Wodurch aber zeichnen sich diese Teile der Gesellschaft aus und was macht sie empfänglich für die Botschaften aus dem neurechten Lager? Silke van Dyk setzt sich in ihren soziologischen Analysen kritisch mit jenen Deutungen auseinander, die Einstellungen und Wahlverhalten für rechtspopulistische und rechtsautoritäre Parteien monokausal auf eine sogenannte ökonomische Notwehr deklassierter Schichten oder dem entgegengesetzt allein als eine autoritäre Wende erklären. Insbesondere das Argument der ökonomischen Notwehr hat für van Dyk zwei problematische Seiten. Denn einerseits scheine in den aktuellen Debatten um das Notwehrargument jeweils auch eine Exkulpationsstrategie auf, wenn allein mit dem Hinweis auf eine Notwehr begründende Zwangslage tieferliegende Ursachen, wie etwa rassistische Einstellungen, nicht weiter verfolgt würden. Dabei stünden Deklassierung und Rassismus in einem empirisch beobachtbaren Zusammenhang. Andererseits zielt van Dyks Kritik an dem ökonomischen Notwehrargument auf die damit einhergehende Unterstellung, dass der falsche Fokus linker Politik auf Antidiskriminierung, Multikulturalismus und Diversität die deklassierte weiße männlichen Arbeiterschaft gerade in die Arme rechtspopulistischer Parteien getrieben habe. Die Beobachtung, dass die Hinwendung eines Teils der Linken zu eher kosmopolitischen ­Themen wiederum zu einer Abwendung einer sogenannten – auch männlichen und weißen – Arbeiterschaft geführt habe, mag empirisch zutreffend sein. Van Dyk weist aber auch darauf hin, dass der Vorwurf einer Dethematisierung der Klassenfrage, wie er etwa von Mark Lilla nach der Wahlniederlage 2016 an die stark an urbane, kosmopolitische ­Themen orientierte Kampagne Hillary Clintons gerichtet wurde,16 fehlgehe. Denn die Unterstellung einer Entmaterialisierung antirassistischer und feministischer Positionen bilde erst die Voraussetzung 16 Mark Lilla: The End of Identity Liberalism. In: The New York Times. Online: https://www.nytimes. com/2016/11/​20/opinion/sunday/the-end-of-identity-liberalism.html [29. 10. 2020].

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für jene Gegenüberstellungen weißer, männlicher Arbeiterschaft mit progressiven emanzipatorischen Ansätzen. Neben die Kritik bestehender Deutungen rechtspopulistischer Wahlerfolge stellt van Dyk zugleich auch eine Analyse der Einstellungsmuster der Wähler und Wählerinnen. Typisches Merkmal dieser Wählergruppen sei die Angst vor Statusverlust in Verbindung mit einer bestimmten Vorstellung von wohlfahrtsstaatlicher Gerechtigkeit: So ziele die Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien auf „die Sicherung ihrer Positionen zu Lasten anderer, sie wollen eben nicht, dass sie mit Frauen in Führungspositionen konkurrieren, sie wollen eben nicht, dass MigrantInnen Ansprüche auf Sozialleistungen haben“ (van Dyk). Es handelt sich bei dieser Wählergruppe also um eine „Idee sozialer Gerechtigkeit, die ganz stark mit einer exklusiven Solidarität arbeitet, nämlich ein Kollektiv definiert, für das diese Ansprüche und Sicherheit gelten sollen“. Eine AfD, die diese Haltungen sozialpolitisch und programmatisch adressiere, ordne sich in die Tradition des Rassemblement National oder der NPD mit ihren national-sozialen Angeboten ein. Faktisch ist diese Frage in der AfD immer noch umstritten, kämpft doch ein neoliberaler Teil der Partei um das Erbe der AfD als eurokritische Professorenpartei, während ein anderer Teil der Partei um Björn Höcke und andere die benannten Einstellungen eines Teils der Wählerschaft mit einem sozialpolitischen Programm erreichen möchte. Hierin sieht sich Höcke nicht zuletzt auch sekundiert durch Akteure der Neuen Rechten, zuletzt etwa Benedikt K ­ aiser, der dazu ein programmatisches Buch mit dem Titel Solidarischer Patriotismus geschrieben hat.17 Mit Blick auf die oben angesprochene zweite Deutung einer autoritären Wende bei einem Teil der Bevölkerung lässt sich Kritisches bei Matthias Quent finden. Konstatiert er zunächst, dass in der sogenannten politischen Mitte immer schon auch extreme Ansichten verbreitet gewesen ­seien, widerspricht er im Folgenden jenen Schlussfolgerungen, die einen Drift nach rechts der politischen Mitte diagnostizieren. So sei zwar die politische Mitte in der Bundesrepublik „nie ein Hort der Menschenfreundlichkeit gewesen“. Allerdings legen aktuelle Daten der politischen Kulturforschung nahe, dass eine Radikalisierung nur an den Rändern zu beobachten sei, die sich als zunehmende Polarisierung der Bevölkerung beschreiben lasse. Die Radikalisierung am rechten Rand erklärt Quent mit dem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust rechter Ideologien und Akteure, nicht jedoch mit einer gleichsam die Radikalisierung nachvollziehenden Bevölkerung. „Stattdessen kommt es immer wieder wellenförmig zum Aufbegehren der radikalen Rechten und zur Mobilisierung des latenten rechtsradikalen Potenzials.“ Mit Blick auf die Empfänglichkeit religiöser Milieus für neurechte Ideologeme konnte dem Beitrag von Liane Bednarz bereits entnommen werden, dass sich insbesondere rechtschristliche Milieus in besondere Weise den Botschaften der Neuen Rechten geöffnet hätten. 17 Benedikt ­Kaiser 2020: Solidarischer Patriotismus. Die soziale Frage von rechts. Antaios: Schnellroda.

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Oliver Hidalgo dagegen legt dar, dass die Zugehörigkeit zum Christentum gegenüber Islamophobie und Muslimfeindlichkeit ein tendenziell immunisierender Faktor zu sein scheine. Die Verteidigung des Abendlandes wird dagegen vor allem von säkularen Akteuren getragen. Womöglich handele es sich jedoch beim „Abendland“ nur um einen symbolischen Platzhalter in einer polarisierten Freund-Feind-Konstellation, in der die Religion von den Verteidigern des Abendlandes als Sinnstifter der eigenen Kultur umfunktionalisiert werde.18 Und gerade weil die Inanspruchnahme des religiösen Erbes des Abendlandes den säkularen Akteuren einen Legitimationsgewinn verspreche, werde die Religion zur „Schlüsselfrage in der politischen Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus“ (Hidalgo). Dabei dürfe man sich nicht auf die diskursiven Prämissen der Neuen Rechten einlassen, etwa auf die verkürzte Frage, ob der Islam zu Deutschland gehöre oder eben nicht. In solchen Fragen sei eine Freund-Feind-Unterscheidung nicht hilfreich, sondern allein der differenzierte Blick auf jene, die eine Religion praktizierten und diese streng, radikal, fanatisch oder formalistisch, gemäßigt, tolerant ausübten. Zuletzt rücken noch die Besonderheiten der ostdeutschen Bundesländer in den Mittelpunkt. Hier liefert Rebecca Pates zunächst eine Miniatur über die ostdeutschen Besonderheiten. So stehe mit dem „Osten“ bereits ein bestimmtes Narrativ der Wahrnehmung der ostdeutschen Bundesländer und der dort lebenden Bevölkerung zur Verfügung. Dieses Narrativ, unabhängig davon, wie es konkret beschrieben werden könne, verhindere aus Sicht der Bevölkerung eine angemessene Problemartikulation, Problemwahrnehmung und Problemverarbeitung durch die Institutionen des Landes. Mit dem Wolf – sowohl als animalischer Kreatur wie auch als Symbol – kehre ein Signifikant zurück, mit dem Problemwahrnehmungen der betroffenen Bevölkerung so reformuliert werden könnten, dass diese auch gehört würden. „So wird der Wolf zu einem Protagonisten in einer Angstpolitik, die es der AfD und anderen Kleinparteien erlaubt, sich als diejenigen zu profilieren, die dem ‚kleinen Mann‘ zuhören und dessen Sorgen ernst nehmen, und derweil diese Sorgen auch in eine anti-migratorische, anti-urbane, anti-Grüne Politik ummünzen“ (Pates). Bemerkenswert an dieser Miniatur sei, dass der diskursiv erzeugte Wolf sowohl für identitätserschütterte Ostdeutsche wie auch für Migranten einstehen könne. Neben dieser Fallstudie findet sich von Raj Kollmorgen eine Analyse der ostdeutschen Besonderheiten aus einer historisch-soziologischen Perspektive. Kollmorgen geht dabei auf strukturelle, institutionelle und kulturelle Entwicklungspfade ein. Ausgehend von den Kolonisierungsbewegungen des 10. und 11. Jahrhunderts, die zugleich immer auch Verdrängungen von slawischen Völkern gewesen s­ eien, weist er auf die geografische Randlage der ostelbischen Gebiete mit allen politischen, kulturellen und sozialen Folgerungen hin. Von 18 Vgl. analog dazu auch den Beitrag von Kollmorgen in ­diesem Band, der eine Spannungslage ­zwischen Entchristianisierung und antireligiösen Affekten gerade in den ostdeutschen Bundesländern diagnostiziert.

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einer besonders ausgeprägten Heimatverbundenheit aufgrund permanenter Bedrohungen in der Randlage über die hier ihren Ausgang nehmende Reformation bis hin zur Industria­ lisierung im 19. Jahrhundert und der Deindustrialisierung in den 1990er Jahren bündelt Kollmorgen zahlreiche Ursachen in der Skizze einer Sozial- und Mentalitätsgeschichte, mit der der besondere Erfolg der AfD in den ostdeutschen Bundesländern genauso plausibel gemacht werden kann wie auch die vorfindbaren Verunsicherungen von Teilen der ostdeutschen Bevölkerung, deren Erwartungsenttäuschungen und Missachtungserfahrungen sowie die als ungerecht empfundenen Umverteilungspolitiken, s­ eien es jene im Rahmen der Transformation der 1990er Jahre, die vor auch allem zulasten der ostdeutschen Bevölkerung gehenden Hartz-IV-Reformen oder die strikten und alternativlos angepriesenen Sparpolitiken öffentlicher Haushalte, deren Grundsätze seit der Euro- und Finanzkrise dann doch nicht mehr gelten sollten. Die in Studien zur politischen Kulturforschung wie auch in den Wahlergebnissen gleichermaßen zum Ausdruck kommende Empfänglichkeit der Wählerschaft in den ostdeutschen Bundesländern für rechts- wie linkspopulistische Parteien lasse sich daher plausibel nur mit einem aufwendigen Marsch durch die Geschichte nachvollziehen. In der Zusammenschau der zahlreichen relevanten Faktoren wird vor allem das komplexe Zusammenspiel historisch gewachsener sozialer Strukturen, regionaler Mentalitäten und aktueller politischer Herausforderungen deutlich.

2.3 Handlungsfelder Die letzten beiden Teile des Bandes fokussieren auf Handlungsfelder und nehmen diese Problematik aus zwei verschiedenen Perspektiven in den Blick. Auf der einen Seite richtet sich der Blick auf rechte Akteure und deren gesellschaftliche Einbettung in spezifische Handlungsfelder. Auf der anderen Seite werden insbesondere die dynamischen Wandlungen der Medienlandschaft untersucht und es wird gezeigt, inwiefern der Wandel von Öffentlichkeit und Kommunikationsmedien zu einem Wandel der Akteursstrukturen führen kann. Allen Beiträgen ist gemein, dass sie von Autorinnen und Autoren beigesteuert werden, die mal mehr, mal weniger nah an der Praxis sind und auch aus ihrer Arbeit berichten. Die Darlegungen sind hier zumeist mit einer evaluierenden Perspektive konkreter Demokratiearbeit verbunden. Die Beiträge sind so immer auch ausgerichtet an der Frage, was bislang getan wurde, was nicht funktionierte in der Auseinandersetzung mit der rechten Szene, was gut funktionierte und wie letztlich das Wissen um Erfolgsfaktoren in andere Handlungsfelder übertragen werden kann. Die Erkenntnisse aus den Berichten zu diesen Handlungsfeldern gliedern sich in vier Teilbereiche: erstens Analysen zu rechten Lebenswelten und deren Strategien der Selbstrepräsentation in lokalen Kontexten, zweitens dem spezifischen Veranstaltungsformat des rechten Rockkonzertes als Großveranstaltung, drittens den sozialen Medien als einem

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umkämpften Raum der politischen Öffentlichkeit und viertens der Selbstermächtigung der Zivilgesellschaft im Angesicht von permanenter Bedrohung durch rechte Gewalt und Versuchen der Landnahme im öffentlichen Raum. Erstens: Wenn in dem vorliegenden Band von „rechten Lebenswelten“ gesprochen wird, dann sind zumeist spezifische Lebensmodelle der rechten Szene gemeint, ­seien es ländliche Lebensformen wie bei den völkischen Siedlern, sei es eine aktivistische Lebensform wie bei der Identitären Bewegung. In den Blick geraten aber auch jene Versuche, größere Gemeinden zu unterwandern und eine Dominanz im öffentlichen Raum und im kulturellen Leben zu erlangen. Gemeinsam ist diesen Vorgehensweisen ein Ansatz der Tarnung eigener ideologischer Absichten und eine Strategie der Selbstverharmlosung. Das zeigt sich etwa am Beispiel der völkischen Siedler, wenn diese, wie Marius Hellwig ausführt, zu vermeintlich harmlosen rituellen Aktivitäten wie Liederabenden, Sonnenwendfeiern und Theateraufführungen einlüden und als Gäste nicht nur die einschlägig bekannten Kader von NPD und AfD, „völkische Sippen“ und „völkische Jugendbünde“ vor Ort s­ eien, sondern auch arglos berichtende Journalisten. Das zeigt sich aber auch am Beispiel der Identitären Bewegung, die von Andreas Speit als ein reaktionärer Klan porträtiert wird. Die Identitäre Bewegung weise eine Einordnung in das Links-Rechts-Schema als veraltet von sich und inszeniere sich als moderne Jugendbewegung mit ansprechendem Lifestyle, einem aufregenden Aktivistenleben und dem Gefühl, einer neuen politischen Avantgarde zugehören zu dürfen. Faktisch aber handele es sich um eine straff organisierte und hierarchisch aufgebaute Gruppe. Im Fall der völkischen Siedler falle es Verantwortlichen vor Ort häufig nicht leicht, die Probleme zu identifizieren und klar zu benennen. Das hängt nicht zuletzt auch damit zusammen, dass es zur Strategie der Völkischen gehört, möglichst unauffällig aufzutreten und sich vor Ort konstruktiv einzubringen. Erfolge können völkische Siedler vor allem in jenen Regionen verzeichnen, in denen der demografische Wandel zu einer Überalterung der Bevölkerung geführt hat und das Wegbrechen der öffentlichen Infrastruktur zu einem Teil der Lebensrealität geworden ist. Eine demokratische Zivilgesellschaft ist in solchen Kommunen oftmals nicht mehr präsent oder aber zu schwach, um im Rahmen von Aufklärungsarbeit noch wirksam dagegenhalten zu können. Dass die Strategien der Besetzung öffentlicher Räume inzwischen ein weitaus größeres Maß erreicht haben als nur einige kleine Dörfer im Nordosten Niedersachsens und Mecklenburg-Vorpommern, zeigen Sebastian Kurtenbach und Yan Rees am Beispiel der Stadt Bautzen. Hier habe sich eine gut vernetzte Szene mit einem rechten Lifestyleangebot, mit alternativen Medien, finanzkräftigen Mäzenen, politischen Aktivisten und einem aufnahmebereiten bürgerlichen Vorfeld entwickelt, die das politische Klima in der Stadt nachhaltig zu ihren Gunsten beeinflusst hätten. Kurtenbach und Rees sprechen von der konstruktiven Leistung einer neuen Normalität, die in der Stadt Einzug gehalten habe und in deren Rahmen eine Verschiebung des Sagbaren, aber auch das Machbaren registriert werden könne.

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Vor d ­ iesem Hintergrund einer neuerlichen Landnahme im öffentlichen Raum durch rechte Akteure und den damit verbundenen Akzeptanzgewinnen und Mobilisierungserfolgen ergibt sich die Frage, wie offenkundige Versuche der Tarnung eigener Ideologien und eine Selbstverharmlosung mit einer Haltung in Verbindung zu bringen ist, die glaubhaft jede Verbindung mit nationalsozialistischem Gedankengut von sich weisen kann. Jan Lohl analysiert dabei jene psychosozialen Prozesse, die es ermöglichten, selbstbewusst Stolz auf die Leistungen eigener Vorfahren kundzutun und auch gegenüber anderen einzufordern und gleichzeitig Zuschreibungen als mutmaßlich rechtsextrem von sich weisen zu können. Zweitens: Für die rechte Szene, so führt Stefan Heerdegen aus, s­ eien Großveranstaltungen, wie etwa die so genannten RechtsRockkonzerte, eine wichtige Möglichkeit der Vernetzung, der Selbstvergewisserung und zuletzt auch der symbolischen Repräsentation im öffentlichen Raum. Heerdegen, der für die Mobile Beratung Thüringen (MOBIT) tätig ist, zeigt auf, w ­ elchen Herausforderungen die Zivilgesellschaft, die Verwaltung und auch die Sicherheitsbehörden bei solchen Veranstaltungsformaten begegneten. Nicht immer könne die Zivilgesellschaft einem RechtsRockkonzert etwas entgegensetzen. Häufig stelle sich den Aktivisten die Frage, ob es sich lohne, in einem kleinen Dorf in der Dunkelheit vor einem abgeschirmten Privatgelände zu demonstrieren. Die öffentliche Aufmerksamkeit sei viel zu häufig gerade nicht vorhanden. Zu denken sei hier insbesondere an die RechtsRockkonzerte im thüringischen Themar, die zwar im Rahmen konjunktureller Aufmerksamkeitswellen in den Fokus der überregionalen Medien gerieten, dann aber auch wieder in der Versenkung verschwänden. Ein funktionierendes Beispiel sei dagegen in der thüringischen Stadt Gera zu erkennen. Hier findet jedes Jahr ein Konzert der rechten Szene im Stadtpark statt. Es gebe drei Gründe für den erfolgreichen Gegenprotest: Zunächst scheine Gera – und damit auch im Gegensatz zu Themar – mit etwa 100.000 Einwohnern ein hinreichendes Mobilisierungspotenzial in der Zivilgesellschaft zu bieten.19 Zudem handele es sich „lediglich“ um ein einziges Event im Jahr, so dass die Ressourcen der Engagierten geschont würden. Und schließlich sei das Ereignis in Gera durch den jährlichen Rhythmus zu einem festen Termin verhältnismäßig planbar. Darüber hinaus verweist Heerdegen auf ergänzende Erfolgsfaktoren. Es liege nicht allein an der Zivilgesellschaft, den Konzertveranstaltungen erfolgreich zu begegnen. Während der Sinn zivilgesellschaftlichen Gegenprotests vor allem darin zu suchen sei, der rechten Szene nicht den öffentlichen Raum zu überlassen, stünden den kommunalen und Sicherheitsbehörden Möglichkeiten zur Verfügung, etwa durch eine strenge Beauflagung der Veranstaltung oder durch ein konsequentes Vorgehen der Polizei, das ,positive Erleben‘ der Konzertbesucher nachhaltig zu beschränken. 19 Schreiber und Kotzybik in ­diesem Band legen jedoch dar, dass auch sehr viel kleinere Kommunen in der Lage s­ eien, Konzepte der Gegenwehr zu entwerfen und eine hinreichende Mobilisierung für einen sichtbaren Gegenprotest sicherzustellen.

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Wie ein erfolgreicher Gleichklang z­ wischen Zivilgesellschaft, Kommunalverwaltung und Sicherheitsbehörden gestaltet werden kann, zeigt dann im Detail die Fallstudie von Cäcilia Schreiber und Lukas Kotzybik zum Ostritzer Friedensfest. Dabei kommen sie zu ähnlichen Ergebnissen wie bereits Heerdegen. In Ostritz findet seit jüngerer Zeit eine RechtsRockveranstaltung statt. Vor Ort hat sich gegen diese Veranstaltung eine Initiative gebildet, die auf drei organisatorischen Säulen aufruht: die erste Säule besteht aus einem sogenannten Orga-Team, zusammengesetzt aus einigen besonders engagierten Bürger. Die zweite Säule bildet die Kommune, vertreten durch die Bürgermeisterin. Und die dritte Säule besteht aus einer Institution der politischen Bildung. Dabei handelt es sich um das internationale Begegnungszentrum Sankt Marienthal (IBZ). Zwischen diesen drei Säulen herrscht eine klare Aufgabenverteilung. So übernimmt das Orga-Team etwa die Öffentlichkeitsarbeit und die Sicherstellung der Infrastruktur bei der Organisation des Friedensfestes. Die Kommune fungiert als Schnittstelle zu Polizei, Verfassungsschutz, dem Landratsamt und zur Staatskanzlei. Und das IBZ tritt als Anmelder der Veranstaltung auf. Damit diese drei Säulen miteinander harmonieren, braucht es einen unabhängigen Akteur, dessen Aufgabe darin bestehe die drei Säulen in der nicht immer konfliktfreien Zusammenarbeit zu beraten und arbeitsfähig zu halten. Dabei sei es wichtig, dass dieser Akteur – in Ostritz war das das Institut B3 – nicht selbst aktiv in die Gestaltung eingreife. Aus den Analysen von Schreiber und Kotzybik lassen sich einige Handlungsempfehlungen ableiten. Zu den wichtigen Faktoren gehörten die Beratungsoffenheit der Akteure vor Ort. Bei diesen müsse sich zudem eine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit allen bestehenden lokalen Strukturen zeigen, und diese Bereitschaft äußere sich dann vor allem darin, Vorbehalte aus dem kommunalpolitischen Alltag hinter sich lassen zu können sowie den gemeinsamen liberal-demokratischen Grundkonsens nicht aus den Augen zu verlieren. Schließlich solle das alternative Gegenangebot, im Ostritzer Fall das Friedensfest, positiv und konstruktiv sein. So legitim eine Gegendemonstration auch sei, in den Augen der Autoren erscheint es besonders wichtig, dass das gegen die Rechtsextremen gerichtete Ereignis selbst hinreichend attraktiv sein müsse, um die Bürger vor Ort zu mobilisieren. Und genau dies sei in Ostritz gelungen. Das Friedensfest sei auf großen Zuspruch der Ostritzer getroffen und habe nicht zuletzt ein positives Bild der kleinen Stadt im äußersten Zipfel Ostsachsens erzeugt. Drittens: Das nächste Handlungsfeld in dem vorliegenden Band bezieht sich auf die klassischen und neuen sozialen Medien. Hier konvergieren die Analysen in mindestens zwei Aspekten. Zum einen zeigen die Beiträge von Gerhard Vowe, Fabian Virchow und Simone Rafael, wie sich die rechte Szene den dynamischen Medienwandel zunutze gemacht habe. Zum anderen zeigen Anna Maria Schielicke et al. sowie Simone Rafael Strategien des Umgangs mit den beobachtbaren Phänomenen auf. In der ersten Hinsicht ist zunächst zu bemerken, dass der Wandel der politischen Kommunikation von einer ganzen Reihe von Faktoren, wie etwa der Digitalisierung, der

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Ökonomisierung der Dynamisierung und der Hybridisierung von Kommunikationsformen, bestimmt sei. Das Bemerkenswerte an diesen Transformationsprozessen ist Gerhard Vowe zufolge die Ambivalenz d ­ ieses Strukturwandels der Öffentlichkeit. Auf der einen Seite ergäben sich so zahlreiche neue Chancen der Kommunikation für bisherige Außenseiter. Es ergäben sich aber auch Risiken für die Bewahrer des Status quo, etwa die herkömmlichen Medien. Bemerkenswert an dieser Beobachtung sei vor allem, dass Chancen und Risiken asymmetrisch verteilt s­ eien: die einen könnten im Wesentlichen nur gewinnen, die anderen hätten viel zu verlieren. Virchow dagegen hebt vor allem auf den strukturellen Wandel der Medienlandschaft ab und zeigt, dass sich in den vergangenen zwanzig Jahren zahlreiche Neue Rechte Medien etabliert hätten, darunter das Wochenblatt Junge Freiheit, des Monatsblatt Zuerst!, die Magazine Compact, Cato und Tumult sowie die Preußische Allgemeine Zeitung. Dieser strukturelle Medienwandel werde nicht zuletzt auch „über eine zahlenmäßig relevante akademisch gebildete und bürgerlich situierte Mittelschicht“ (Virchow) gestützt. Zudem lasse sich beobachten, dass rechte Akteure als vormalige Außenseiter den Medienwandel tatsächlich zu ihren Gunsten gestalteten. Mithilfe von YouTube oder Telegram-Kanälen, Podcasts, Twitter, Instagram und zuletzt auch Computerspielen würden vielfältige mediale Transmissionsriemen benutzt, um die Szene zu vernetzen, um die Normalisierung von Rassismus, Antisemitismus und völkischen Denkens zu betreiben und um den politischen Gegner aus dem kommunikativen Raum zu verdrängen. So entstehe ein vielfältiges Medienangebot der rechten Szene, mit dem es auf Konsumentenseite leichter werde, die klassischen Medien zu umgehen und Informationsangebote aufzugreifen, die die eigene Weltsicht bestätigten, ohne dabei die Komplexität der Vorgänge noch erfassen zu müssen. Rafael beschreibt an dieser Stelle sehr plastisch die Entstehung von Echokammern und Filterblasen, die eine mentale und soziale Abschottung zur Folge hätten und zur Radikalisierung beitragen könnten. In der zweiten Hinsicht wird bei Simone Rafael und bei Anna Maria Schielicke et al. die vieldiskutierte Frage aufgegriffen, ob man mit Rechten reden solle. Die pointierte Zuspitzung dieser Frage versinnbildlicht bereits die Wagenburgmentalität, die in dieser Diskussion Einzug gehalten hat. So wird auf der einen Seite unterstellt, dass das Reden mit Rechten in unzulässiger Weise zu Prozessen der Aufwertung von deren Positionen führe. Hinzu komme, dass das knappe Gut der Aufmerksamkeit der demokratischen Öffentlichkeit bei ganz anderen benachteiligten und marginalisierten Gruppen besser aufgehoben sei. Auf der anderen Seite wird behauptet, Gespräche mit Rechten dienten dazu, deren Sorgen und Nöte besser zu verstehen, um diese anschließend besser bearbeiten zu können. Außerdem hätten ­solche Gespräche auch eine heilsame Ventilfunktion, wenn öffentliches Dampfablassen von der Aufmerksamkeit der Verantwortlichen begleitet werde. Dass die betreffende Problematik ungleich komplexer ist, zeigen jedoch die beiden Beiträge von Simone Rafael und Anna Maria Schielicke et al. So macht Rafael den Aspekt stark, dass

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Gegenrede als strategisches Ziel immer die Unentschlossenen, die nach überzeugenden Argumenten Suchenden in den Blick zu nehmen habe. Dagegen sei es unrealistisch, im Gespräch darauf zu setzen, überzeugte Rechtsextremisten und Menschenfeinde von ihren Positionen abzubringen. In die ­gleiche Kerbe schlagen Anna Maria Schielicke et al., wenn sie für einen Ansatz votieren, in dessen Rahmen man sich durchaus auf Diskussionen im Internet einlassen solle, allerdings mit einer realistischen Zielsetzung. Unrealistisch sei es, das direkte Gegenüber von der eigenen Position überzeugen zu wollen. Realistisch dagegen sei es, die zahlreichen Beobachterinnen dieser öffentlichen Kommunikationsakte im Blick zu behalten, und adressiert an diese eine öffentliche Gegenrede zu führen. Natürlich, so sind die Autorinnen zu verstehen, müsse man mit Rechten streiten, man müsse ihnen Argumente entgegensetzen; dies alles jedoch nicht mit dem Ziel, diese Personen zu überzeugen, sondern um im öffentlichen Raum Position zu beziehen. Dabei gehe es in erster Linie um öffentliche Präsenz, um die Abwehr symbolischer Vereinnahmungsversuche und um das Werben um Unentschlossene. Viertens: Am Ende der Betrachtung stehen exemplarisch zwei Akteure der Zivilgesellschaft, die bereits seit Jahren und Jahrzehnten aus verschiedenen Richtungen auf das Phänomen rechter Akteure und rechter Gewalt blicken. Andrea Hübler, die für die Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie Sachsen e. V. (RAA Sachsen e. V.) tätig ist, zeichnet in einer dichten Analyse die veränderten Arbeitsbedingungen seit etwa 2013 nach. Der Verein, der Beratungen für Opfer rechter Gewalt zu seinem Kerngeschäft zählt und damit Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt Unterstützung beim Umgang mit Behörden gibt, verzeichnet spätestens seit 2013 eine Veränderung. Hübler spricht hier von einem politischen Klimawandel, der sich in Sachsen etwa durch die sogenannten Lichtelläufe in Schneeberg bereits sehr frühzeitig angekündigt oder durch die zunehmend von Vorbehalten geprägte Diskussion über die Aufnahme Geflüchteter abgezeichnet habe. Im Rahmen ­dieses politischen Klimawandels stiegen auch rassistisch motivierte Gewalttaten an, etwa im Kontext von Demonstration gegen die Aufnahme von Geflüchteten, bei Busblockaden oder bei Turnhallenbesetzungen. Der RAA Sachsen e. V. registrierte in dieser Zeit mehr Anfragen von Betroffenen, jedoch nicht allein wegen rassistischer Gewalttaten. Aus der täglichen Arbeit mit Opfern rechter Gewalt s­ eien einige Forderungen nach Verbesserungen in ­diesem Handlungsfeld abzuleiten. Hübler rät zu einer Fortführung der Diskussion über die Ursachen rechter Gewalt, flankiert durch eine wissenschaftliche Erforschung des Problemfeldes. Sie unterstreicht aber auch die Wichtigkeit einer empathischen Zuwendung der Mehrheitsgesellschaft zu Opfern rechter Gewalt, die sich oft genug alleingelassen fühlten. Mit Blick auf die Arbeit der Sicherheitsbehörden schließen sich weitere Forderungen an: Hübler spricht sich dafür aus, die Verharmlosung rechter Gewalt und Verfahrensverschleppungen zu beenden und Beamte für Mechanismen der Täter-Opfer-Umkehr zu sensibilisieren. Zu erreichen sei dies etwa durch Reformen bei

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Polizei und Justiz sowie durch Aus- und Weiterbildungen. Darüber hinaus solle die Erfassung rechtsmotivierter Gewalt verbessert werden, etwa indem Definitionssysteme z­ wischen Polizei und Justiz aufeinander abgestimmt und Statistiken regelmäßig veröffentlicht würden. Aus dem Blickwinkel der Prävention berichtet Andreas Tietze über die Arbeit der Aktion Zivilcourage e. V., beheimatet in der nahe bei Dresden gelegenen Stadt Pirna. Der Verein wurde 1998 in einem gesellschaftlichen Kontext gegründet, über den auch bundesweit berichtet wurde. Stichwörter sind hier die Aktivitäten der Wikingjugend, der Skinheads Sächsische Schweiz (SSS), des Nationalen Widerstands Pirna, der NPD und der Peckerwood Brotherhood. Im Rahmen seiner Tätigkeiten entwickelte sich der Verein zu einem wichtigen Baustein bei der Zurückdrängung der rechten Szene. Das sogenannte Pirnaer Modell brachte unter vermittelnder und koordinierender Mitwirkung der Aktion Zivilcourage drei wesentliche Akteure ins Gespräch: Vertreter der Zivilgesellschaft, die kommunale Verwaltung und die Polizei. Durch die enge Verzahnung der Arbeit dieser drei Akteure im professionellen und präventiven Umgang mit extremistischen Bestrebungen sei es gelungen, rechtsextreme Aktivitäten in Pirna einzudämmen und den öffentlichen Raum als angstfreien Ort der Begegnung einer demokratischen Zivilgesellschaft zurückzugewinnen. Mit ihrer Arbeit nimmt die Aktion Zivilcourage eine wichtige Scharnierfunktion z­ wischen Zivilgesellschaft, Verwaltung und Sicherheitsbehörden ein, sichert kurze Kommunikationswege und arbeitet an einem gemeinsamen Verständnis vom gesellschaftlichen Zusammenhalt.

3. Coronavirus-Krise und Krise der Demokratie Blickt man nun auf die Ergebnisse des vorliegenden Bandes, auf die Veränderung in der politischen Kultur seit Mitte der 2010er Jahre, die Erfolge der rechten Szene und hier insbesondere der Neuen Rechten, so kann man die Bilanz ziehen, dass es sich zunächst um ein ideologisch klar abgrenzbares Phänomen handelt, das etliche Erfolge bei der Verbreiterung des eigenen Milieus, bei der Normalisierung einstmals politisch anstößiger Positionen, bei der Polarisierung der Diskurse und der Mobilisierung des Unterstützerfeldes erzielen konnte. Zu Besorgnis unter politischen und wissenschaftlichen Beobachter*innen führte dabei vor allem der Umstand, dass die Unterstützerpotenziale der rechten Szene nicht mehr allein in abseitigen, klandestinen Kreisen zu suchen sind, sondern augenscheinlich unterschiedliche Gruppen der Bürgerschaft für deren ­Themen ansprechbar wurden. Dazu wird unter anderem die These vertreten, dass diese Offenheit von Teilen der Bürgerschaft auf gemeinsam geteilten menschenfeindlichen, völkischen und rassistischen Motiven beruht. So sehr diese Analysen der politischen Kulturforschung Plausibilität für die geteilten Einstellungen beanspruchen können, so wenig erweisen sie sich jedoch angesichts der aktuellen Corona­virus-Proteste in der Lage, die neuerlich aufflammende Demonstrationsbereitschaft

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in überraschend weiten Teilen der Bürgerschaft zu erklären. Die große Bereitschaft größerer Bevölkerungsgruppen, in krisenhaften Zeiten eher abseitigen und unterkomplexen Thesen von selbsternannten Experten aus dem Internet zu vertrauen und im gleichen Atemzug eine, sicherlich nicht alternativlose, aber zumindest auf sachlichen Erwägungen und rationalen Kalkülen beruhende Politik in toto abzulehnen, wirft ein besonderes Schlaglicht auf den Charakter von regelmäßig aufflammenden Krisenprotesten. Womöglich artikuliert sich hier ein thematisch höchst offenes Protestpotenzial in der Bevölkerung, welches heterogene Krisen zum Anlass für Handeln nimmt. Danach wäre das gemeinsame Moment zahlreicher Proteste der vergangenen zwanzig Jahre – von den bundesweiten Anti-Hartz-IV- und Montagsdemonstrationen über die vor allem im süddeutschen Raum beheimateten Demonstrationen von „besorgten Eltern“ gegen Frühsexualisierung sowie die Stuttgart-21-Demonstrationen bis hin zu Pegida und eben zuletzt auch die Proteste gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie – keineswegs nur ein grassierender Rechtspopulismus oder schlicht ein Bedürfnis nach Regierungs- oder Elitenkritik. Aus einer solchen Perspektive schließt sich die Frage an, was den Protestierenden gemein ist und womit in Zukunft noch zu rechnen sein wird, denn an Anlässen für Krisenwahrnehmungen wird wahrscheinlich auch künftig kein Mangel sein.

4. Coronavirus-Widerstand im Profil Als Ende Dezember 2019 die zunächst noch spärlichen, wenngleich dennoch sehr bedrohlichen Berichte aus Wuhan in China ihren Weg in die deutschen Medien fanden, herrschte anfangs hier wie auch weltweit eine unbesorgte Haltung, was die persönliche Betroffenheit anging. Der Ernst der Lage wurde in der Bundesrepublik Deutschland auch dann noch nicht in größerem Maße erkannt, als die ersten Infektionsfälle Ende Januar 2020 bekannt wurden. Erst die seit dem Februar in zunehmender Zahl veröffentlichten besorgniserregenden Berichte aus Norditalien, das mit Blick auf den Infektionsverlauf etwa drei bis vier Wochen Vorsprung vor der Bundesrepublik hatte, führten zu einer schrittweisen Umkehr der öffentlichen Wahrnehmung. Ab Mitte März griff die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den Landesregierungen zu energischen Maßnahmen, wie etwa Kontaktbeschränkungen, der Schließung vieler öffentlicher Einrichtungen, wie Universitäten, Schulen und Kitas, dem Verbot von Großveranstaltungen oder als weitreichender Grundrechtseingriff auch zu einem Versammlungsverbot, das jedoch vor dem Bundesverfassungsgericht nicht bestehen konnte. Flankiert wurden diese Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie von der sogenannten AHA-Formel: Abstand halten, Hygiene beachten, Alltagsmaske tragen. Erweitert wurde diese Formel s­ päter dann auf AHA+L+A: Die Bedeutung des Lüftens geschlossener Räume sowie die Nutzung der App zur Kontaktnachverfolgung waren hinzugekommen.

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Mit der Einführung der Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie zeigte sich die Bevölkerung im Großen und Ganzen einverstanden.20 Flächendeckende Verstöße gegen die Vorschriften wurden im Rahmen eines ersten Maßnahmenpakets, das ab Anfang Mai 2020 schrittweise wieder aufgehoben wurde, nicht bekannt. Gleichwohl formierte sich in zahlreichen Städten ab Ende März ein früher und zunächst sehr heterogen erscheinender Protest, der sich einerseits diffus gegen Grundrechtseinschränkungen richtete, andererseits aber auch bekannte Protestmotive aus der Szene der Impfgegner, der Esoteriker, der Rechtsextremisten und Reichsbürger, in geringem Maße aber auch aus Teilen des linken Lagers erkennen ließ. Die Vielgestaltigkeit des Protests ließ sich auch an den mitgeführten Plakaten und Bannern erkennen: Dort gaben sich Demonstrierende zu erkennen, die sich in die Tradition der friedlichen Revolution von 1989 einreihen wollten („Wir sind das Volk“), Anhänger von Verschwörungstheorien mit Bezug auf die Weltgesundheitsorganisation und die weltweite Suche nach einem Impfstoff („Gib Gates keine Chance“) sowie Demonstrierende, ­welche die sie betreffenden freiheitsbeschränkenden Maßnahmen in eine Reihe mit dem nationalsozialistischen Regime stellten und auf diese Weise eine zumindest naive und egozentrische Holocaust-Relativierungen betrieben, etwa durch Vergleiche der eigenen Lage mit Anne Frank oder durch das Tragen von gelben Sternen, auf denen die Wörter „Impfgegner“ oder „ungeimpft“ prangten.21 Bei den Kundgebungen zu den Protesten wurden Reden gehalten, die an die inzwischen etablierten populistischen Narrative von einer korrupten und nur auf ihren Vorteil bedachten Elite einerseits und einem in die Irre geleiteten und dem Verderben entgegengehenden Volk andererseits anschließen. Die in nicht wenigen Reden zum Ausdruck kommende Eliten- und Systemfeindlichkeit mündet auch in Aufrufe zum Widerstand im Namen eines einheitlich gedachten Volkes.22 Insofern wies der Protest klassische populistische Merkmale auf (siehe die Beiträge von van Dyk und Kollmorgen). Geografisch waren die Proteste über die gesamte Republik verteilt, bildeten aber Schwerpunkte im Südwesten der Republik, etwa in Stuttgart, aber auch in Frankfurt am Main und vor allem in Berlin. Organisiert wurden diese Proteste zunächst von einer vielgestaltigen Szene, deren Erscheinungsbild nicht immer auf einen Begriff zu bringen war. Zu den ersten Protestinitiativen im Frühjahr 2020 zählte unter anderem die Gruppe Nicht ohne uns!, die beachtliche Mobilisierungserfolge in Berlin verzeichnen konnte, sowie Querdenken 711 und Widerstand 2020. 20 Vgl. Annelies G. Blom 2020: Zum gesellschaftlichen Umgang in der Corona-Pandemie. Ergebnisse der Mannheimer Corona-Studie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 70, 35 – 37, 16 – 22, hier: 19 f. 21 Klaus Hillenbrand 20. 05. 2020: Alte Feindbilder neu. In: taz. Online: https://taz.de/Antisemitismus-inder-Coronakrise/!5686971 [29. 10. 2020], Oliver Bock 04. 08. 2020: „Judenstern“ auf Demos verboten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 35, Alexander Jürgs 13. 11. 2020: „Die Bewegung wird immer aggressiver“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 34. 22 Vgl. ebd.

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Daneben treten einige Einzelakteure in Erscheinung, wie etwa der Sänger Xavier Naidoo, der mit veganen Rezepten bekannt gewordene Koch Attila Hildmann, der als „Volkslehrer“ auftretende Nikolai Nehrling und mit Ken Jebsen auch ein bekannter YouTuber der alternativen Medienszene.23 Gerade Querdenken 711 konnte unter den Protestinitiativen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus am dauerhaftesten und in personeller Hinsicht am kontinuier­ lichsten mobilisieren. Der Name Querdenken 711 leitet sich von der Telefonvorwahl Stuttgarts ab, womit einerseits die Beheimatung der wichtigsten Querdenker-Protestbewegung im süddeutschen Raum markiert wurde.24 Andererseits wurde damit auch zum Ausdruck gebracht, dass es bundesweit zahlreiche weitere lokale Querdenken-Initiativen gibt, die sich durch eine jeweils der Telefonvorwahl entsprechende Ziffernfolge voneinander unterschieden. Mediale Präsenz konnte aber vor allem die Stuttgarter Initiative verzeichnen, die organisatorisch eng mit dem Unternehmer Michael Ballweg verknüpft war und die im Laufe des Jahres 2020 den Anspruch erhob, als legitime Vertretung der gesamten im bundesdeutschen Raum aktiven Querdenker-Initiativen verstanden zu werden.25 Von ehemaligen Mitstreitern, die der Bewegung im Streit den Rücken gekehrt haben, wird die Organisationsstruktur als ein hierarchisches System beschrieben, das maßgeblich von Michael Ballweg kontrolliert und ­ elche ideologische gesteuert werde.26 Dieser nehme auch entscheidenden Einfluss darauf, w Richtung die Protestinitiative einschlage und an w ­ elche in der Gesellschaft vorhandenen ideologischen Strömungen angedockt werde. So hatte Querdenken 711 entgegen öffentlicher Verlautbarung, in denen eine Distanz zu Extremisten insbesondere von der rechten Seite des politischen Spektrums artikuliert wird, im Rahmen eines Arbeitstreffens in der dritten Novemberwoche 2020 den Austausch mit Peter Fitzek, einem der wenigen bekannten Vertreter der Szene der Reichsbürger, gesucht und unter anderem über „Demonstrationsformate“, ein „unabhängiges Geld- und Finanzsystem“ sowie über „Gesundheitsvorsorge“ sprechen wollen.27 Ende Dezember 2020 rief Ballweg zu einer Pause der Protestaktivitäten auf, wohl auch unter dem Eindruck steigender Infektions- und Todeszahlen in der Coronavirus-Pandemie sowie zunehmend schmaler werdender Chancen, einmal erteilte Demonstra­ tionsauflagen und -verbote gerichtlich erfolgreich anfechten zu können.28

23 Vgl. Verena Stern 2020: Corona-Krise: Was bedeuten die Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Pandemieeindämmung? In: Bundeszentrale für politische. Bildung. Themenseite Coronavirus. Online: https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/coronavirus/311575/protest [29. 10. 2020]. 24 Rüdiger Soldt 23. 05. 2020: Protesthochburg Stuttgart. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. 25 Gustav Theile 25. 11. 2020: Markenstreit um „Querdenken“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. 26 Stefan Tomik und Rüdiger Soldt 26. 11. 2010: Audienz bei König Peter I. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. 27 Ebd. 28 Swaantje Marten 31. 12. 2020: Keine Demos in Berlin. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.

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Am 1. August 2020 erzielte die Querdenken-Bewegung mit einer ‚Großdemonstration‘ in Berlin, zu der zusammen mit einige anderen Initiativen bundesweit aufgerufen wurde, einen beachteten Mobilisierungserfolg. Diese Demonstration richtete sich gegen die Maßnahmen zum Infektionsschutz. Die Vorschriften zu den Hygienemaßnahmen wurden von den Teilnehmenden konsequenterweise auch nicht eingehalten, was zur Auflösung der Demonstration durch die Polizei führte. Am Rande der Demonstration wurden auch Journalisten Ziel von Übergriffen. Im Anschluss entspann sich eine Debatte um die Gründe für die Auflösung sowie um die Teilnehmerzahlen. Die Veranstalter verbreiteten Zahlen von bis zu 1,3 Millionen Protestierenden, während die Polizei von etwa 30.000 sprach. Am 29. August 2020 rief Querdenken 711 zu einer erneuten Demonstration in Berlin auf, zu der sich nach Polizeiangaben 38.000 Menschen versammelten. Dieser Veranstaltung waren juristische Auseinandersetzungen vorausgegangen. Der Berliner Innensenator versagte den Anmeldern mit Blick auf die zu erwartenden Verstöße gegen die Auflagen im Rahmen des Infektionsschutzgesetztes die Genehmigung. Die Anmelder wiederum klagten dagegen erfolgreich vor Gericht.29 Im Laufe der Veranstaltung kam es dann auch zu dem symbolisch bedeutungsvollen und im Vorfeld in den sozialen Medien angekündigten „Sturm auf den Reichstag“, der sich praktisch in einer k­ urzen Besetzung der Stufen des Reichstags niederschlug. Die Demonstrierenden trugen unter anderem die schwarz-weiß-rote Reichsflagge mit sich, was zu empörten Reaktionen führte. Unmittelbar im Anschluss an die erste Demonstration vom 1. August 2020 führten auch Vertreter der Neuen Rechten eine Debatte um die Anschlussfähigkeit an die Proteste sowie die Instrumentalisierbarkeit für die eigenen Ziele. Martin Sellner deutet die Protestierenden als „unbewusste Schicksalsgemeinschaft“, als „‚somewheres‘ die auf den Nationalstaat angewiesen sind“, zugleich aber als Globalisierungsverlierer einer entgrenzten, globalen Ökonomie verstanden werden müssten. Gleichzeitig repräsentierten diese ein revolutionäres Potenzial, das es zu n ­ utzen gelte und in eine bestimmte Richtung zu lenken sei.30 Andere Vertreter der Neuen Rechten zeigten sich in der Frage nach der Formbarkeit der Protestierenden deutlich reservierter und distanziert.31 Gleichwohl werfen diese Interventionen die Frage nach den Protestmotiven, den Einstellungen der Demonstrierenden, ihren Haltungen zur Demokratie und zum freiheitlichen Verfassungsstaat auf. Im Gegensatz zu früheren Protestinitiativen, wo erste Studien bereits nach wenigen Wochen verfügbar waren, gibt es – womöglich pandemiebedingt – nur wenige empirische Untersuchungen zum Thema. Neben einer qualitativen, die Genese der Proteste nachzeichnenden Perspektive, wie sie oben bereits eingenommen 29 Vgl. Markus Wehner 29. 08. 2020: Furcht vor Ausschreitungen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. 30 Vgl. Martin Sellner 04. 08. 2020: Coronademos – Proxythema & „Lucke-Effekt“. In: Sezession im Netz. Online: https://sezession.de/63203/coronademos-proxythema-lucke-effekt [29. 10. 2020]. 31 Vgl. Götz Kubitschek 03. 09. 2020: Wachsende Ringe – Tagebuch (4), in: Sezession im Netz. Online: https://sezession.de/63288/wachsende-ringe-tagebuch–4 [29. 10. 2020].

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wurde, können aus empirischen Studien nur vereinzelte Ausschnitte zusammengetragen werden, um diese zu einem größeren Bild zusammenzusetzen, das sowohl die Folgen der Maßnahmen zur Pandemieeindämmung in der gesamten Bevölkerung wie auch fokussierte Analysen im Protestmilieu in den Blick nimmt. Erste Daten finden sich zunächst in der Mannheimer Coronavirus-Studie, die von März bis Juli 2020 durchgeführt wurde und an der wöchentlich etwa 3600 Teilnehmer aus der gesamten Bevölkerung teilnahmen. Ende März wurden hohe Zustimmungsraten zu Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie, etwa zur Schließung von Universitäten, Schulen und Kindertagesstätten, zu Grenzschließungen und Veranstaltungsverboten aufgezeichnet. So lagen in der dritten Märzwoche die Zustimmungsraten zu diesen Maßnahmen bei über 90 Prozent der Befragten. Ab etwa Mitte April sinken diese Werte dann, insbesondere für Schließungen von Kinderbetreuungs- und Bildungseinrichtungen. Hier kommen womöglich bereits erste Ermüdungserscheinungen durch die Belastungen der Beschulung von Kindern zu Hause zum Tragen. Ab Mitte Mai sinken die Zustimmungswerte zu den genannten Maßnahmen unter 50 Prozent. Andere Maßnahmen, wie etwa eine allgemeine Ausgangssperre, die Einstellung des Fern- und Nahverkehrs sowie die Ortung von Personen über Funkzellen ohne deren Erlaubnis kommen zu keinem Zeitpunkt über einen Wert von 50 Prozent Zustimmung.32 Nicht alle Teile der Bevölkerung waren von den Maßnahmen gleichermaßen betroffen. Instruktiv ist hier die Frage der Mannheimer Coronavirus-Studie zu den Auswirkungen der Kontaktbeschränkungen auf die persönliche Beschäftigungssituation. Ende Juni waren immerhin von jenen Befragten, die noch im Januar 2020 erwerbstätig gewesen waren, schon wieder 61,4 Prozent der Befragten wie gewohnt auf Arbeit. 4,1 Prozent waren weiterhin ausschließlich im Home Office tätig, 18,2 Prozent arbeiteten teils im Homeoffice, teils am gewohnten Arbeitsplatz. Dagegen waren auch nach Aufhebung der Maßnahmen Mitte Mai noch 14,2 Prozent der Befragten in Kurzarbeit oder als Selbstständige mit reduzierter Arbeitszeit tätig. 0,4 Prozent befanden sich in Freistellung mit Lohnfortzahlung. 0,5 Prozent der Befragten befanden sich in Freistellung ohne Lohnfortzahlung sowie als Selbstständige ohne Arbeit. 1,3 Prozent der noch im Januar Erwerbstätigen waren nun arbeitslos. Die Auswirkungen auf das persönliche Umfeld können damit schon als beträchtlich bezeichnet werden, wenngleich die wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen die größten Härten aufgefangen hatten. Damit stellt sich die Frage, wie die Bevölkerung auf die Proteste im Frühjahr 2020 blickte. Einer Onlineumfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey zufolge hatten mehr als 70 Prozent der Befragten Mitte Mai kein Verständnis für die Proteste, während rund 25 Prozent mit Verständnis auf die Protestierenden und deren Anliegen schauten. Mit Blick auf 32 Vgl. Blom 2020, 19 f.

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Parteipräferenzen zeigten vor allem die Anhänger der Alternative für Deutschland (AfD) mit 77 Prozent sowie die Anhänger der Freien Demokraten (FDP) mit 53 Prozent Verständnis für die Protestierenden. Am wenigsten konnten die Protestierenden mit dem Verständnis von Seiten der Anhänger der CDU rechnen.33 Das fehlende Verständnis gegenüber den Protestierenden könnte mit den positiven Einschätzungen der Bevölkerung zum Krisenmanagement der Bundesrepublik während der ersten Welle der Pandemie im Frühjahr und Sommer 2020 zusammenhängen. Insbesondere der internationale Vergleich macht diese vergleichsweise hohen Zustimmungswerte in der Bundesrepublik sichtbar. In einer Studie wurden Teilnehmer aus Großbritannien, Polen, Frankreich, Italien, den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland zu den Leistungen ihrer Regierung während der Pandemie befragt. Die Bundesrepublik erzielte in der Einschätzung der befragten deutschen Teilnehmer durchweg die besten Werte. Bei der Bewertung des eigenen Regierungshandelns als demokratisch (Zustimmung: 70 Prozent versus Ablehnung 31 Prozent), kompetent (72 Prozent versus 28 Prozent) und gerecht (69 Prozent versus 31 Prozent) lagen die Werte bis zu 29 Punkte über denen anderer Staaten. In allen drei Kategorien gaben die Befragten zum Teil deutliche höhere Zustimmungswerte an als die Befragten in den anderen Ländern. Demzufolge stimmten dann auch 68 Prozent der deutschen Befragten folgender Aussage zu: „Der Umgang meines Landes mit der Krise hat mich stolzer auf mein Land gemacht“. Nur 39 Prozent der befragten Franzosen und der Briten stimmten dieser Aussage zu. Da Deutschland die erste Welle der Pandemie vergleichsweise gut bewältigt hatte, waren dann auch die Fragen nach den Sorgen der Befragten mit Blick auf Arbeitsplatzverlust, finanzielle Probleme, Erkrankung am Coronavirus und dem Ausbruch einer zweiten Welle im Vergleich mit den anderen europäischen Ländern am geringsten ausgeprägt.34 Gleichwohl nahm die öffentliche Diskussion um den Sinn der Maßnahmen mit deren Ende Mitte Mai an Fahrt auf. Als eine der Ursachen für die kritische bis ablehnende Haltung zu den Maßnahmen der Bundesrepublik zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie kann das sogenannte Präventionsparadox angeführt werden. Danach führt der Erfolg der einschneidenden Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu Zweifeln an deren Notwendigkeit, ihrer Härte, Dauer und Reichweite. Vermuten lässt sich, dass kritische Haltungen dann stark ausgeprägt sind, wenn die persönliche Betroffenheit gerade nicht gegeben ist und so die möglichen Gefahren der Pandemie systematisch unterschätzt werden. Mit Blick 33 Vgl. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-proteste-mehrheit-der-deutschen-hat-keinverstaendnis-fuer-corona-proteste-a-9582e8db-610d-414d-8ecb-31e839a6f746 [29. 10. 2020]. 34 Vgl. Laura-Kristine Krause, Jérémie Gagné und Gesine Höltmann 2020: Vertrauen, Demokratie, Zusammenhalt: wie unterschiedlich Menschen in Deutschland die Corona-Pandemie erleben. Online: https://www.moreincommon.de/media/gu2h03pc/more-in-common_studie-corona-zusammenhalt.pdf [29. 10. 2020], 10 – 14.

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auf die Daten lässt sich zumindest eine begründete Vermutung über die zunehmende Verbreitung von Kritik an den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie in Deutschland ableiten. Denn die persönliche Betroffenheit ist in Deutschland im Vergleich zu den anderen fünf europäischen Ländern sowohl am geringsten bei der Frage nach einer Bekanntschaft mit einer Person, die an Covid-19 erkrankt oder verstorben ist, wie auch bei der Frage nach der Bekanntschaft mit einer Person, die ihren Arbeitsplatz aufgrund der Coronavirus-Krise verloren hat.35 Damit könnte erklärt werden, warum die Bundesrepublik nach dem Ende der einschneidenden Maßnahmen im Sommer mit die europaweit größten Mobilisierungen von Protestierenden erlebt hatte und sich hier ein Widerstandsmilieu herausschälte, das wohl noch länger auf den Straßen präsent sein wird. Diesen Protestierenden hat sich zunächst eine Untersuchung der Universität Konstanz gewidmet. Gegenstand der Untersuchung sind die vor allem im südwestdeutschen Raum, aber auch in Berlin mobilisierenden Querdenker und damit eine der wichtigsten Protestinitiativen. Am 4. Oktober 2020 führte eine Forschungsgruppe eine Befragung unter Teilnehmern der sogenannten Erntedank-Demonstration in Konstanz durch. Die Kundgebung wurde vom Konstanzer Ableger der Querdenker – Querdenken 773 – organisiert. Den Beobachtungen der Studienverantwortlichen zufolge handelt es sich bei Querdenken um eine „unstrukturierte, nicht strategisch agierende, offene Bewegung“. Verbindende Elemente unter den Protestierenden können in der Ablehnung der Pandemiepolitik, einer „Staatsphobie“ und einem großen Misstrauen gegenüber staatlichen und parteipolitischen Eliten gesehen werden. In diese Richtung weisen auch die Studienergebnisse: So setzten sich die Demonstrationen verhältnismäßig heterogen zusammen, sowohl mit Blick auf sozioökonomische Parameter wie auch mit Blick auf die politischen Einstellungen. Bemerkenswert sind etwa eine Überrepräsentation von Personen mit höheren Bildungsabschlüssen sowie von Selbstständigen.36 Beobachtet werden kann zudem eine gewisse Neigung zu alternativen Wissenssystemen: Gruppierungen wie etwa Impfgegner werden von den Befragten zu 57 Prozent als unterstützenswert eingeordnet, 16 Prozent geben dies für esoterische Gruppen an, weitere 39 Prozent stimmten der Aussagen zu, dass alternativmedizinische Angebote denen der Schulmedizin vorzuziehen s­ eien. Politisch ordnet sich die Mehrheit der Befragten zu 61 Prozent als interessiert ein, jedoch gaben auch 55 Prozent an, keiner politischen Partei nahezustehen. Unter jenen den Parteien, die noch am ehesten unter den Befragten auf Zustimmung stoßen, ragen die Werte für die Grünen mit 14 Prozent ­heraus. Die anderen Parteien dagegen verzeichnen nur einstellige Zustimmungswerte. Überdies zeigt sich ein typisches Bild mit Blick auf das Vertrauen gegenüber den Institutionen des Landes: Insbesondere den politischen 35 Vgl. Ebd., 12. 36 Sebastian Koos 2021: Die „Querdenker“. Wer nimmt an Corona-Protesten teil und warum? Ergebnisse einer Befragung während der „Corona-Proteste“ am 04. 10. 2020 in Konstanz. Universität Konstanz, 3.

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Institutionen, wie etwa dem Bundestag und der Bundesregierung, aber auch den Medien bringen die Befragten ein besonderes Misstrauen entgegen. Dementsprechend versorgt sich eine Mehrheit der Teilnehmer auch mit Informationen über alternative Medienkanäle sowie über die sozialen Medien.37 Pointiert werden daher die Protestierenden als „Misstrauensgemeinschaft“ und als Vertreter einer „alternativen Wissens­gemeinde“ beschrieben. Darüber hinaus scheinen die Protestierenden für eher abseitige Anschauungen zu den Ursachen der Pandemie und gegenüber vermeintlich tieferen Wahrheiten über das Regierungshandeln offen zu sein.38 Diese Neigungen lassen sich auch aus anderen Befunden herauslesen.39 Gerade diese Diagnosen deuten auch das Mobilisierungs- und Radikalisierungspotenzial der Querdenker an, wie sich dies bei den Protesten in Berlin und Leipzig bereits gezeigt hatte.40 Vertiefende Einblicke bietet eine Studie der Universität Basel. Im Rahmen einer Onlinebefragung vom 18. bis 24. November 2020 wurden Mitglieder von Chatgruppen des in der Protestszene beliebten Messengerdienstes Telegram um Beantwortung eines umfangreichen Fragebogens gebeten. Die unbekannte Grundgesamtheit sowie die Möglichkeit der Teilnahme durch Selbstselektion sind bei der Interpretation der Daten zu berücksichtigen.41 Vor ­diesem Hintergrund bietet die Studie gleichwohl die derzeit umfassendste Analyse zur soziodemografischen Zusammensetzung der Unterstützer von Coronavirus-Protesten sowie über deren politische Einstellungen. Demnach setzt sich das Protestmilieu überwiegend aus Männern zusammen. Es finden sich im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich viele Selbstständige sowie Personen mit Hochschulabschluss unter den Befragten. Bemerkenswert sind zum einen das Wahlverhalten bei der vergangenen sowie die Wahlabsicht bei der nächsten Bundestagswahl. So stimmten von den Befragten bei der letzten Bundestagswahl 23 Prozent für die Grünen, 18 Prozent für Die Linke sowie 15 Prozent für die AfD. CDU/CSU, FDP und SPD folgen mit jeweils 10, 7 und 6 Prozent. Bei der Wahlabsicht für die kommende Bundestagswahl verlieren dann alle Parteien außer der AfD, die größten Abgänge bei der Wahlabsicht aber verzeichnen die Grünen: So geben 27 Prozent der Befragten an, künftig die AfD zu wählen, 6 Prozent würden die FDP wählen, 5 Prozent die Partei Die Linke. Auf Grüne und CDU/CSU entfielen in dieser Konstellation jeweils 1 Prozent, auf die SPD dagegen 0 Prozent. Daraus lässt sich schließen, dass es sich bei der 37 38 39 40

Vgl. ebd., 4 – 10. Vgl. Rüdiger Soldt 07. 10. 2020: Bunte Misstrauensgemeinschaft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Vgl. Krause, Gagné, Höltmann, 26. Bei der Kundgebung der Querdenken-Bewegung in Leipzig am 07. 11. 2020 kam es am Rande auch zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen die Polizei und Journalisten. Vgl. Julius Geiler 08. 11. 2020: Wie konnte die „Querdenken-Demo“ in Leipzig so eskalieren? In: Tagesspiegel. Online: https://www.tagesspiegel.de/ politik/kritik-an-polizeistrategie-wie-konnte-die-querdenken-demo-in-leipzig-so-eskalieren/26603100. html [03. 12. 2020]. 41 Oliver Nachtwey, Robert Schäfer und Nadine Frei 2020: Politische Soziologie der Corona-Proteste. Universität Basel: Basel: 3 – 4.

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Querdenken-Bewegung um ein Milieu handelt, das „eher von links kommt, aber stärker nach rechts geht“.42 Zum anderen zeichnen sich die Befragten aus dem Coronavirus-Protestmilieu durch medienkritische, experten- und elitenkritische Einstellungen aus. Zugleich zeigen sie sich offen für Argumente, die die Gefahr des Coronavirus verharmlosen, sowie für Verschwörungsdenken. Gerade beim Verschwörungsdenken offenbaren sich aber überraschende Einblicke: So zeigt sich eine Neigung zu Verschwörungsdenken mit Blick auf die ­Eliten in der Politik und in den Medien, soweit dies die Maßnahmen zur Eindämmung der ­Coronavirus-Pandemie betrifft. Jedoch lässt sich in Hinsicht auf die Klimapolitik und die damit verbundenen Annahmen zum Klimawandel gerade kein nennenswertes Verschwörungsdenken unter den Befragten nachweisen.43 Ein ähnlich komplexes Bild kann mit Blick auf (rechts-)populistische und (rechts-)autoritäre Einstellungen gezeichnet werden: So erweisen sich die Befragten bei einschlägigen populistischen Topoi, wie etwa volksfeindlich agierenden Eliten und fehlender Meinungsfreiheit, durchaus als auffällig. Jedoch sind die Befragten in keinem besonderen Maße fremden- und islamfeindlich oder neigten dazu, den Nationalsozialismus zu verharmlosen. Auch zeigen sich keine nennenswerten Befunde bei rechtsautoritären Einstellungen. Ergänzend kommt hinzu, dass die Befragten zu nicht unwesentlichen Teilen der Anthroposophie und esoterischem Denken zuneigen. Alternativmedizin, ganzheitliches spirituelles Denken sowie der Wunsch, die eigenen Kinder in einem antiautoritären Geist zu erziehen, ergeben eine eigentümliche Mischung. Die Befragten entsprechen mithin „nicht unbedingt dem Bild einer rechten Bewegung“.44 Offenkundig setzen sich die Befragten in Teilen auch aus einem eher links geprägten, antiautoritären, staatskritischen, ökologischen und anthroposophisch-esoterischen – in Teilen auch antirationalen und wissenschaftsskeptischen – Milieu zusammen, das sich auf eine Wanderung durch das politische Spektrum begeben hat. Dabei bleibt festzuhalten, dass die Bewegung insgesamt „nach rechts offen ist und über ein beträchtliches immanentes Radikalisierungspotential verfügt“.45 Zuletzt bleibt die Frage zu beantworten, in welchem Verhältnis die Kritiker der Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie zu „alternativen Fakten“ stehen. Befunde internationaler Studien legen nahe, dass der Glaube an Verschwörungstheorien auch die Wahrscheinlichkeit steigen lässt, Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit dem Coronavirus aufsitzen. Befragte aus den USA, dem Vereinigten Königreich und aus Kontinentaleuropa, 42 43 44 45

Ebd., 52. Ebd., 53. Ebd., 54. Ebd., 54. Genau auf diesen Aspekt sind die Bemühungen von Martin Sellner fokussiert. Vgl. Martin S ­ ellner 04. 08. 2020: Coronademos – Proxythema & „Lucke-Effekt“. In: Sezession im Netz. Online: https://sezession. de/63203/coronademos-proxythema-lucke-effekt [29. 10. 2020].

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die solchen Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit dem Coronavirus anhängen, haben zudem einen geringeren Bildungsgrad als der Durchschnitt der Bevölkerung. Eine zweite Studie mit Befragten aus dem Vereinigten Königreich kann zeigen, dass jene Teilnehmer*innen der Studie, die Verschwörungstheorien Glauben schenken, einerseits Social Media gegenüber klassischen Medien als Informationsquellen bevorzugen und andererseits in großem Maße dazu neigen, sich empfohlenen Gesundheitsmaßnahmen zu verweigern.46 In einer Gesamtschau ergeben die bislang vorliegenden Befunde in etwa folgendes Bild: Die Gegner und Gegnerinnen der Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie sind im Rahmen von öffentlichen Demonstrationen mobilisierbar. Während ein Teil von Sorgen um unnötige Grundrechtsbeschneidungen und wirtschaftlichen Existenzängsten umgetrieben wird, die gegenüber den staatlichen Entscheidungsträgern mit dem rationalen Ziel der öffentlichen Darstellung und Berücksichtigung in den weiteren Verhandlungen artikuliert werden, geben andere Teile verstörende Botschaften zum Funktionieren unserer Demokratie von sich, akzeptieren unproblematisch die Anwesenheit von Rechtsextremisten oder Reichsbürgern und vertreten in einem gewissen Maße auch Verschwörungstheorien. Ihre Informationen beziehen sie dabei hauptsächlich aus den sozialen Medien. Die Verachtung gegenüber den klassischen Medien und deren Vertretern äußern sie offen auf den Kundgebungen, mitunter auch durch vereinzelte Gewaltausbrüche gegenüber Journalist*innen. Ihre Verachtung bezieht sich aber oft nicht allein nur auf diese, sondern insgesamt auf die „Eliten“ und das „System“. Sie bringen sich dazu selbst in einen Gegensatz und betrachten sich als Vertreter*innen und Stimme des „wahren Volkes“, welches sie – trotz der wahrnehmbaren Vielfalt auf den Demonstrationen – als ein einheitliches Volk fiktionalisieren, das unterdrückt werde und demzufolge befreit werden müsse. Diese Skizze des Protestmilieus sowie weiterer Radikalisierungsdynamiken machen es nachvollziehbar, dass Ende 2020 einzelne Landesverfassungsschutzämter zu dem Schluss gekommen sind, es handele sich bei Teilen des Coronavirus-Protestmilieus um Gruppierungen, die im Blick gehalten werden müssten.47 Die Frage bleibt, was die Protestierenden bei den Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie mit anderen Protestinitiativen verbindet. Auf den ersten Blick scheint bei den Demonstrierenden der vergangenen Jahre eine hohe Toleranz für Personen und Positionen vorhanden zu sein, die im Rahmen der hegemonialen 46 Vgl. Neophytos Georgiou, Paul Delfabbro und Ryan Balzan 2020: Covid-19-related conspiracy beliefs and their relationship with perceived stress and pre-existing conspiracy beliefs. In: Personality and Individual Differences. Online: https://doi.org/10.1016/j.paid.2020.110201 [29. 10. 2020] sowie Daniel Allington, Bobby Duffy, Simon Wessely, Nayana Dhavan and James Rubin 2020: Health-protective behaviour, social media usage and conspiracy belief during the COVID–19 public health emergency. In: Psychological Medicine. Online: https://doi.org/10.1017/S003329172000224X [29. 10. 2020]. 47 Swaantje Marten und Rüdiger Soldt 03. 12. 2020: Sind die „Querdenker“ ein Fall für den Verfassungsschutz? FAZ.NET. Online: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/sind-die-querdenker-ein-fall-fuerden-verfassungsschutz-17083526.html [03. 12. 2020].

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politischen Diskurse als anstößig gelten, als Verletzung des „antitotalitären Grundkonsenses“, der in der Bundesrepublik lange Zeit als gemeinsame Basis alles politischen Auseinandersetzungen unterstellt wurde. Mit dem Verlassen ­dieses – jedenfalls vielfach angenommenen –Grundkonsenses sind nicht allein rechtsextreme Positionen gemeint. Eingeschlossen sind hier ebenso geschichtsvergessene Vergleiche der Bundesrepublik mit totalitären Regimen, antiaufklärerische und wissenschaftsfeindliche Haltungen etwa gegenüber der „Schulmedi­zin“, den Klimawissenschaften oder der (vor-)schulischen Pädagogik, aber auch ein sich antiautoritär gerierender Gestus gegenüber den Institutionen der Bundesrepublik und deren Führungskräften insgesamt. Damit klingt diese Skizze in weiten Teilen wie eine generische Beschreibung von populistischen Protestmilieus der vergangenen zwanzig Jahre. Deswegen soll an dieser Stelle abschließend die Frage aufgeworfen werden, inwiefern sich die Coronavirus-Proteste in ein größeres Panorama der Krisendiskurse einordnen lassen. Löst man die zahlreichen Protestbewegungen der vergangenen zwanzig Jahre von ihren konkreten Kontexten und Anlässen, so scheinen zwei Aspekte durchgehend beobachtbar. Zunächst macht sich im Protest der Unzufriedenen – ­seien es die Anti-Hartz-IV-Demonstrationen, Pegida und nun aktuell die Coronavirus-Proteste – eine Stimmung bemerkbar, mit der die Protestierenden sich selbst in einen fundamentalen Gegensatz zu den vorgestellten politischen Repräsentationseliten bringen. Dieser Gegensatz ist dann vollständig, wenn sie sich selbst als die „wahren“ Vertreter der Interessen des Volkes inszenieren und den Eliten, dem ‚System‘, den Medien einen vollständigen Kontaktverlust bescheinigen. In ­diesem Zusammenhang appellieren sie an demokratische Ideale, an Selbstbestimmung und Autonomie des Volkes, die durch das parlamentarische System und sinistere Interessen von im schattigen Dunkel stehenden Mächten verfälscht würden. Das sind auf der definitorischen Ebene typische Ausprägungen von Populismen. Vertiefend kommt hinzu, dass sich jenseits der je spezifischen Zielrichtung und Artikulation des Protests eine Entfremdung von den demokratischen Institutionen ausdrückt, die beachtliche Ausmaße angenommen hat. Dazu kann etwa auf die Befunde der politischen Kulturforschung verwiesen werden, die bei der Frage nach der Zufriedenheit mit der Idee der Demokratie und der Performanz des politischen Systems übergreifend ­zwischen 2000 und 2015 einen, wenn auch nicht ungebrochenen Anstieg der Zufriedenheit anzeigen. Ab 2014/2015 jedoch wurden zunächst bei gegen die EU- und die Migrationspolitik der Bundesregierung Protestierenden ein hohes Maß an Distanzierung und Entfremdung von der Demokratie der Bundesrepublik gemessen. Das machen die Befragungen unter den Demonstrierenden bei Pegida in Dresden genauso deutlich wie auch die vorangegangenen Darstellungen zu den Coronavirus-Protesten.48 48 Eine ausführliche Diskussion der angesprochenen Befunde zur Zufriedenheit mit der Demokratie als Idee und der Performanz des politischen Systems über den Zeitverlauf findet sich bei Hans Vorländer, Maik Herold und Steven Schäller 2018: PEGIDA and New Right-Wing Populism in Germany. Palgrave Macmillan: Basingstoke, 138 – 144.

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Die Frage ist, ob sich hinter diesen kriseninduzierten Protesterscheinungen mehr verbirgt, als es die konkreten Anlässe von Arbeitsmarktreformen, Fluchtmigration und Pandemiebekämpfung vordergründig andeuten. Womöglich haben die Ostdeutschen tatsächlich eine gewisse Avantgarderolle übernommen, als Pegida auf den Straßen mobilisierte und sich eine rechte Zivilgesellschaft formierte, die auch mit dem lange begonnenen Umbau des Parteiensystems seit Anfang der 1990er Jahre angezeigt hat, dass sie die alte Bundesrepublik mit ihren gefestigten Institutionen mindestens in Teilen hinter sich lassen möchte. Diese Avantgarderolle haben die Protestierenden in den ostdeutschen Bundesländern aber im Rahmen der Coronavirus-Proteste partiell an die Protestierenden im südwestdeutschen Raum und in Berlin abgetreten. Jetzt sind es diese, die lautstark nach Systemwechsel, mehr Demokratie und „wahrer“ Freiheit rufen. Damit soll nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass in den ostdeutschen Bundesländern mit Blick auf die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus nur Zustimmung zu beobachten wäre. Das ist offenkundig nicht der Fall. Aber der Leuchtturmcharakter, den Dresden mit Pegida ab 2015 eingenommen hatte und der in einigen Deutungen d ­ ieses Protestes sinnbildlich auf die gesamten ostdeutschen Länder ausgeweitet wurde, kann heute nicht mehr uneingeschränkt behauptet werden. Womöglich zeigen die hier versammelten Protestphänomene ein fundamentaleres P ­ roblem an, welches auf eine Krise der Demokratie verweist, die unter anderem als postdemokratische Deformation der Institutionen der verfassten Demokratie beschrieben worden ist.49 Jedoch lässt sich das Phänomen einer krisenverknüpften Protestserie vielleicht angemessener beschreiben mit dem Auseinanderfallen zweier demokratischer Dimensionen, die auf weitere gesellschaftliche Transformationen verweisen. Diesen Veränderungen muss sich die moderne Demokratie stellen und sie muss ihnen gerecht werden, wenn sie sich im Wettbewerb der Systeme z­ wischen Theokratien, staatskapitalistischen Einparteiensystemen und defekten Demokratien bewähren will. Die erste der angesprochenen Dimensionen der Demokratie besteht aus kulturellen Praktiken, die dem Anspruch auf Autonomie und Selbstregierung in der unmittelbaren Lebenswelt der Bürger in verfassten Demokratien gerecht werden müssen. In zahlreichen Sozialisationsagenturen, von Schulen über Vereine, ­Kirchen bis zu Gewerkschaften und Parteien, kann jeder Bürger demokratische Praktiken einüben und gleichzeitig schätzen lernen. Die zweite Dimension der Demokratie wird durch das System der demokratischen Herrschaftsinstitutionen gebildet, die ihre Legitimation aus dem Willen der Bürger beziehen und mehr oder weniger autonom ­zwischen den Wahlen agieren, nicht jedoch ohne Rückkoppelung an Bürger*innen und deren Artikulations- und Kontrollbedürfnisse. Beide Dimensionen der Demokratie unterliegen jedoch fundamentalen Veränderungen. Die kulturellen Praktiken der unmittelbaren demokratischen Lebenswelt wandeln 49 Vgl. Colin Crouch 2008: Postdemokratie. Suhrkamp: Frankfurt a. M.

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sich schleichend, dessen Konsequenzen noch nicht in Gänze überblickt werden können. So verzeichnen Studien zum bürgerschaftlichen Engagement zwar auf der einen Seite einen steten Zuwachs an Engagierten sowie eine Ausdifferenzierung der Engagementfelder.50 Auf der anderen Seite zeigen sich gegenläufige Tendenzen. So nimmt etwa die Zeit, die Einzelne für bürgerschaftliches Engagement einsetzen, kontinuierlich ab.51 Rückläufig sind seit Jahrzehnten auch die Mitgliederzahlen der gesellschaftlich verbindenden und verbindlichen Sozialisationsagenturen, die für die kulturellen Praktiken der unmittelbaren demokratischen Lebenswelt von großer Bedeutung sind. Die Mitgliedschaft dokumentiert eine längerfristige Bindung und wirkt häufig als Gelegenheitsstruktur für ein Anknüpfen an ein konkretes Engagementhandeln. So verzeichnen etwa die großen gewerkschaftlichen Interessenorganisationen, die ­Kirchen und die politischen Parteien seit Jahren einen steten Abfluss an Mitgliedern, der in der Gesamtsumme auch nicht durch Neueintritte aufgefangen werden kann.52 Die Chancen zum Einüben demokratischer Praktiken in der unmittelbaren Lebenswelt der Bürger werden geringer, und demokratische Kulturtechniken gehen dadurch womöglich verloren. Darunter leidet die Streitkultur im Allgemeinen, widerstreitende Meinungen werden nicht mehr ausgehalten, Konflikt wird nicht mehr als produktiver Prozess verstanden, der zu besten Lösungen führen kann. Das institutionelle System der Demokratie dagegen agiert parallel zu diesen Entwicklungen in der Zivilgesellschaft auf eine Weise, die häufig als technokratisierte Sachpolitik, als TINA -Politik („There Is No Alternative“) beschrieben wird. Damit ist der Umstand bezeichnet, dass Politiken häufig besonders dann erfolgreich durchgesetzt werden, wenn diese im Rahmen der politischen Kommunikation als alternativlos gekennzeichnet werden. Eine Politik aber, die für sich in Anspruch nimmt, unter den gegebenen Bedingungen vernünftigerweise keine Alternative zu haben, rückt den politischen Streit in die Nähe unvernünftigen Handelns. Hinzu kommen Transformationsprozesse, die auch das institutionelle System der Demokratie unter Druck setzen. Legitimation geht verloren, weil zahlreiche Entscheidungskompetenzen in trans- und internationale Regime abwandern. So besteht der „Fluch“ Europas darin, im Rahmen einer outputlegitimierten Politik auf eine Ausweitung der Kompetenzen der EU zu setzen. Unter der Verlängerung der Legitimationsketten von den nationalen Wahlen bis hin zu den Gremien der EU leidet dann aber die Inputlegitimation, die Erleb- und Erfahrbarkeit der Tatsache, dass die Entscheidungen, die 50 Vgl. Julia Simonson, Claudia Vogel, Clemens Tesch-Römer 2016: Freiwilliges Engagement in Deutschland. Zentrale Ergebnisse des Freiwilligensurveys 2014. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Berlin, 9 – 12. 51 Vgl. ebd., 10. 52 Vgl. Mareike Alscher, Dietmar Dathe, Eckhard Priller, Rudolf Speth 2009: Bericht zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland. Wissenschaftszentrum Berlin: Berlin, 50 – 52.

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aus Brüssel kommen, tatsächlich auch durch eine demokratische Wahl vor Ort angestoßen und durch partizipative Willensbildung legitimiert worden sind. Eine solchermaßen beschriebene Verlängerung der Legitimationsketten bedroht die Akzeptanz politischer Entscheidungen. Oft genug stiehlt sich die nationale Politik mit Verweis auf die Entscheidungen in Europa aus der Verantwortung, obwohl die Minister*innen in den Gremien der Europäischen Union die Beschlüsse mitgetragen haben, die sie zu Hause nicht mehr argumentativ vertreten wollen.53 Womöglich lassen sich diese Diagnosen auch aus den Beschwerden der Protestierenden herauslesen. Zu entschuldigen sind die damit einhergehenden geschichtsklitternden Verharmlosungen, rechtsextremen Einstellungen, sowie ein antiwissenschaftlicher und irrationaler Habitus, der Heilpraktikerinnen und Hitler-Verehrer einträchtig nebeneinander stehen lässt, nicht. Aber womöglich lässt sich so besser verstehen, mit ­welchen Herausforderungen die verfasste Demokratie gegenwärtig konfrontiert wird, wenn die nächste Krise eine weitere Protestlawine anstoßen wird und abermals – dann jedoch nicht mehr auf überraschende Weise – eine ‚neue Mitte‘ auf den Straßen in Erscheinung tritt. Diese wird mit hoher Wahrscheinlichkeit in routinierter Selbstgewissheit und aus einem populistischen Gestus heraus ein individualisiertes Partizipationsbegehren artikulieren und sich als Abwehrfront gegenüber den autoritär auftretenden Machtansprüchen volksferner Eliten inszenieren. Als ‚neue Mitte‘ zeichnet sie sich durch politisch-kulturell geschlossene Milieus, polarisierte Diskurse und eine weitgehende Ignoranz gegenüber Extremismen und antidemokratischen Ideologien jeder Couleur aus. Damit aber droht diese ‚neue Mitte‘ selbst nicht nur zum Indikator, sondern auch zum Träger einer Krise der rechtsstaatlich verfassten, repräsentativen Demokratie zu werden. Darüber müssen wir streiten.

53 Vgl. Pars pro toto Crouch 2008, Wolfgang Merkel (Hg.) 2016: Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von ­Theorie und Empirie. Springer: Wiesbaden; Andreas Reckwitz 2019: Das Ende der Illusionen: Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Suhrkamp: Berlin; Claus Offe 2016: Europa in der Falle. Suhrkamp: Berlin.

Autor*innenverzeichnis

Dr. Liane Bednarz ist Publizistin und Juristin mit dem Schwerpunkt Neue Rechte, Populismus und religiöse Bewegungen. Sie ist regelmäßige Gastkommentatorin (online) beim SPIEGEL. Dr. Sebastian Dümling ist Oberassistent am Seminar für Kulturwissenschaften und Europäische Ethnologie an der Universität Basel. Dort forscht er zu Geschichtsdiskursen in gegenwärtiger Politik sowie Popkultur. Dr. Philipp Felsch ist Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Alexander Häusler ist Sozialwissenschaftler und beruflich tätig als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsschwerpunktes Rechtsextremismus/Neonazismus der Hochschule Düsseldorf (www.forena.de). Gemeinsam mit Fabian Virchow ist er Herausgeber der E ­ dition Rechtsextremismus bei Springer VS. Stefan Heerdegen ist langjähriger Berater bei der Mobilen Beratung in Thüringen. Für Demokratie – Gegen Rechtsextremismus (MOBIT). Beratungen im Kontext RechtsRock gehören dabei, wie die dafür notwendigen Recherchen und Dokumentationen, zu seinen beständigen Arbeitsbereichen. Marius Hellwig ist Historiker und freiberuflicher politischer Bildner. Zu seinen Arbeitsfeldern zählen der völkische Rechtsextremismus, rechte Esoterik und Rechtsextremismus im Umwelt- und Naturschutz. Dr. Oliver Hidalgo ist apl. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Regensburg und Akademischer Oberrat a. Z. am Institut für Politikwissenschaft der WWU Münster. Dort forscht er zu ­Themen der Politischen ­Theorie und Ideengeschichte, zur Demokratietheorie, zu Politik und Religion, zur Staatstheorie, zu Populismus und Integration sowie zu Demokratie und Digitalisierung. Andrea Hübler ist Politikwissenschaftlerin mit den Schwerpunkten rechte Gewalt und extreme Rechte. Sie arbeitet als Fachreferentin bei der Opferberatung support des RAA Sachsen e. V.

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Autor*innenverzeichnis

Dr. Raj Kollmorgen ist Professor für Management Sozialen Wandels und Proktor Forschung an der Hochschule Zittau/Görlitz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in gesellschaft­ lichen Transformationsprozessen, politischen Radikalismen und Populismen sowie innovativer Regionalentwicklung und politischer Partizipation im ländlichen Raum. Lukas Kotzybik (M. A.) ist Mitarbeiter beim Arbeiter-Samariter-Bund Regionalverband Zittau/Görlitz e. V.. Dort ist er zuständig für die Koordination und Fortbildung von Ehrenamtlichen. Dr. Sebastian Kurtenbach ist Professor für Politikwissenschaft/Sozialpolitik am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Münster. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Stadt-, Migrations- und Konfliktforschung. Dr. Jan Lohl, Dipl. Sozialwiss. und Supervisor (DGSv), Professor für Erwachsenenbildung und Leiter des Institutes für Fort- und Weiterbildung an der Katholischen Hochschule Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte sind Psychoanalytischen Sozialpsychologie, Tiefenhermeneutik, Beratung, Supervision und Organisationsanalyse sowie Rechtsextremismus. Dr. Cornelia Mothes ist Professorin für Medienmanagement und Journalistik an der Hochschule Macromedia in Leipzig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Journalismus, politische Kommunikation und Medienpsychologie. Dr. Claire Moulin-Doos ist Politikwissenschaftlerin und habilitiert im Bereich Didaktik der politischen Bildung an der Universität Kassel. Zuletzt vertrat sie die Professur für Politische Bildung an der Universität Passau. Ihre Forschungsinteressen sind u. a. Demokratietheorien, Menschenrechtsdiskurse, Verrechtlichung des Politischen, schulische politische Bildung und ihre Legitimationsdiskurse. Michael Nattke ist Fachreferent im Kulturbüro Sachsen e. V. Dort beschäftigt er sich mit rechtsextremen Strukturen und politischen Einstellungen in Ostdeutschland. Simone Rafael ist Chefredakteurin der Plattform „www.belltower.news – Netz für digitale Zivilgesellschaft“ und Leiterin des Digitalbereichs der Amadeu Antonio Stiftung. Sie arbeitet seit 2002 zu Rechtsextremismus online und zu Gegenstrategien für eine demokratische digitale Debattenkultur.

Autor*innenverzeichnis

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Antje Odermann ist Koordinatorin des Projektes Berufstandem bei „Willkommen in Löbtau e. V.“. Das Projekt unterstützt Menschen mit Migrationshintergrund bei der Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Dr. Rebecca Pates ist Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig. Dort beschäftigt sie sich mit Identitätspolitik und Nationalismus. Dr. Matthias Quent ist Soziologe und Gründungsdirektor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Rechtsradikalismus, Radikalisierung und Hasskriminalität. Yann Rees (M. A.), ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für interdisziplinäre Konfliktund Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld, am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) am Standort Bielefeld sowie am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Münster. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der extremen Rechten und räumlichen Aspekten des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Dr. Anna-Maria Schielicke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationswissenschaft der TU Dresden. Ihre Forschungsschwerpunkte sind politische Kommunikation und Medienpsychologie. Danilo Scholz ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am K ­ ulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Er beschäftigt sich mit der politischen Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und arbeitet derzeit an einer intellektuellen Biographie des russischstämmigen Philosophen Alexandre Kojève (1902 – 1968). Cäcillia Schreiber ist Projektmanagerin im Internationalen Begegnungszentrum St. Marienthal und dort im Bereich der Politischen Bildung im ländlichen Raum tätig. Dr. Johannes Schütz ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Dresden. Er forscht und lehrt zur Geschichte von nationalen Identitätsfiguren, Heimatkonstruktionen und historischen Ausprägungen des Rechtsextremismus. Dr. Steven Schäller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) an der TU Dresden.

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Andreas Tietze ist seit 2017 Referent der Aktion Zivilcourage e. V. Im Projekt „Gemeinsam stark für Demokratie“ berät und vernetzt er Verantwortungtragende in Kommunen und verantwortet die Ausbildung von Moderatoren für Krisensituationen in Sachsen. Dr. Silke van Dyk ist Professorin für Politische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie lehrt und forscht zu den Themenfeldern Politische Soziologie, Soziologie der Sozialpolitik und des Wohlfahrtsstaats, Soziologie des Alters und der Demografie sowie Perspektiven der Gesellschaftskritik. Dr. Fabian Virchow ist Professor für Theorien der Gesellschaft und Theorien politischen Handelns an der Hochschule Düsseldorf. Als Leiter des Forschungsschwerpunktes Rechtsextremismus forscht und publiziert er zur Geschichte, Weltanschauung und politischen Praxis der populistischen/extremen Rechten. Dr. Gerhard Vowe ist Seniorprofessor für Kommunikationswissenschaft am Institut für Sozialwissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und am Center for Advanced Internet Studies (CAIS) in Bochum. Er forscht zur Veränderung der politischen Kommunikation in der Onlinewelt.