Die Mitte als Kampfzone: Wertorientierungen und Abgrenzungspraktiken der Mittelschichten 9783839440346

Members of the middle class find themselves in a socio-structural 'sandwich position' that requires the perman

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Die Mitte als Kampfzone: Wertorientierungen und Abgrenzungspraktiken der Mittelschichten
 9783839440346

Table of contents :
Inhalt
Editorische Notizen
Zur Einleitung: Die gesellschaftliche Mitte als Kampfzone – Perspektiven und Fragestellungen
Die Mitte der Gesellschaft
Die Entstehung der Mitte — Ein Paradigma in Politik und Gesellschaft
Die soziale Mitte und ihr Staat: Eine soziologische Skizze
Vermessungen der Mitte
Deutschlands Mittelschicht in Abstiegsangst? Eine Betrachtung aus ökonomischer Perspektive
Statuspanik in der Mittelschicht? Aktuelle Befunde aus der Einstellungsforschung
Die unzufriedene Mitte und die politischen Folgen: Gerechtigkeitsperzeptionen und Wahlabsichten im Wandel
Wertorientierungen und Normalitätskonstruktionen
Von Generation zu Generation: Strategien des Statuserhalts im Kontext von Familien- und Berufsmentalitäten in der Mittelschicht
Paar- und Familienleitbilder der ›Mitte‹ zwischen Persistenz und Wandel Eine paar- und heteronormativitätskritische Perspektive
Separate, but central? Distinktionspraktiken und Normalitätsanspruch der Mittelschicht in der medialen Repräsentation
Abgrenzungen und Ausschlüsse
Die ewige Mitte und das Gespenst der Abstiegsgesellschaft
Kosmopolitische Heimat: Räumliche Selbstvergewisserung im Brennglas transnationaler Ungleichheitskonflikte
Die Mitte und ihr Anderes: Flexibilisierte Randzonen des Sozialen in Zeiten des Rechtspopulismus
Rechtspopulistische Mittelschichten als Gefährder gesellschaftlicher Ordnung: Eine theoretische Skizze
Befindlichkeiten und Handhabungen
Klassen und Klassifikationen: Symbolische Grenzziehungen in der deutschen Ungleichheitsstruktur
Über Proletarität und Abgrenzungspraktiken: Beobachtungen im unteren Dienstleistungssegment
Wer bin ich oder wo bin ich? Identitätsarbeit Mittelschichtsangehöriger in Insolvenz
In der Welt sein: Zur Anverwandlung von Raum und Zeit der Mittelschichten
Die Mitte der Gesellschaft – eine Reprise zweiter Ordnung
Der Mittelschicht-Bias der soziologischen Zeitdiagnostik
Zu den Autorinnen und Autoren

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Nadine M. Schöneck, Sabine Ritter (Hg.) Die Mitte als Kampfzone

Gesellschaft der Unterschiede  | Band 44

Nadine M. Schöneck, Sabine Ritter (Hg.)

Die Mitte als Kampfzone Wertorientierungen und Abgrenzungspraktiken der Mittelschichten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4034-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4034-6 EPUB-ISBN 978-3-7328-4034-2 https://doi.org/10.14361/9783839440346 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Editorische Notizen  | 9 Zur Einleitung Die gesellschaftliche Mitte als Kampfzone – Perspektiven und Fragestellungen Nadine M. Schöneck und Sabine Ritter | 11

D ie M itte der G esellschaft Die Entstehung der Mitte — Ein Paradigma in Politik und Gesellschaft Herfried Münkler | 29

Die soziale Mitte und ihr Staat Eine soziologische Skizze Berthold Vogel | 39

V ermessungen der M itte Deutschlands Mittelschicht in Abstiegsangst? Eine Betrachtung aus ökonomischer Perspektive Judith Niehues | 53

Statuspanik in der Mittelschicht? Aktuelle Befunde aus der Einstellungsforschung Holger Lengfeld und Jessica Ordemann | 69

Die unzufriedene Mitte und die politischen Folgen Gerechtigkeitsperzeptionen und Wahlabsichten im Wandel Ursula Dallinger | 85

W ertorientierungen und N ormalitätskonstruk tionen Von Generation zu Generation Strategien des Statuserhalts im Kontext von Familien- und Berufsmentalitäten in der Mittelschicht Miriam Schad und Nicole Burzan | 109

Paar- und Familienleitbilder der ›Mitte‹ zwischen Persistenz und Wandel Eine paar- und heteronormativitätskritische Perspektive Christine Wimbauer, Julia Teschlade, Almut Peukert und Mona Motakef | 125

Separate, but central? Distinktionspraktiken und Normalitätsanspruch der Mittelschicht in der medialen Repräsentation Marlon Barbehön, Marilena Geugjes und Michael Haus | 143

A bgrenzungen und A usschlüsse Die ewige Mitte und das Gespenst der Abstiegsgesellschaft Stephan Lessenich | 163

Kosmopolitische Heimat Räumliche Selbstvergewisserung im Brennglas transnationaler Ungleichheitskonflikte Cornelia Koppetsch | 179

Die Mitte und ihr Anderes Flexibilisier te Randzonen des Sozialen in Zeiten des Rechtspopulismus Silke van Dyk | 197

Rechtspopulistische Mittelschichten als Gefährder gesellschaftlicher Ordnung Eine theoretische Skizze Uwe Schimank | 217

B efindlichkeiten und H andhabungen Klassen und Klassifikationen Symbolische Grenzziehungen in der deutschen Ungleichheitsstruktur Patrick Sachweh, Sarah Lenz und Debora Eicher | 243

Über Proletarität und Abgrenzungspraktiken Beobachtungen im unteren Dienstleistungssegment Friederike Bahl | 261

Wer bin ich oder wo bin ich? Identitätsarbeit Mittelschichtsangehöriger in Insolvenz Patricia Pfeil, Marion Müller und Udo Dengel | 277

In der Welt sein Zur Anverwandlung von Raum und Zeit der Mittelschichten Gunter Weidenhaus | 295

D ie M itte der G esellschaft – eine R eprise zweiter O rdnung Der Mittelschicht-Bias der soziologischen Zeitdiagnostik Oliver Dimbath | 313

Zu den Autorinnen und Autoren  | 331

Editorische Notizen

Im Nachgang des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der Ende September 2016 an der Universität Bamberg stattfand, und auf dem wir eine Ad-hoc-Gruppe zum Thema »Legitime Ungleichheiten? Wertorientierungen und Abgrenzungspraktiken der Mittelschichten« organisiert hatten, trat der transcript Verlag mit einer Veröffentlichungsanfrage an uns heran. Knapp zwei Jahre, gut 1.500 E‑Mails, 21 Telefonate und drei arbeitsintensive Herausgeberinnentreffen in Bochum später ging das Gesamtwerk dann tatsächlich an den Verlag. Es weist in drei Hinsichten eine gewisse Heterogenität auf: Die Verantwortung für gendersensible Sprache haben wir ganz in die Hand der Autorinnen und Autoren gelegt; einige Beiträge sind lediglich durch Abschnittsüberschriften gegliedert, in anderen wird eine numerische Systematik genutzt; auch die Entscheidung über die Anordnung von Autorinnen und Autoren in Literaturkurzbelegen haben wir den Beitragenden überlassen. Hier zeigt sich, dass die Soziologie – zum Glück! – ein multiparadigmatisches, offenes und allein dem guten Argument und der belastbaren Schlussfolgerung verpflichtetes Fach ist. Unser Dank gilt an erster Stelle unseren Autorinnen und Autoren, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass dieser Sammelband zwischen zwei Soziologiekongressen entstehen konnte. Des Weiteren danken wir Carolin Bierschenk und Michael Volkmer vom transcript Verlag in Bielefeld für die umsichtige Betreuung unseres Buchprojekts, Doreen Ensemeier, Angela Großkopf, Sophie Krone und Lena Wollenberg aus Bremen für die großartige Unterstützung im Zuge der Manuskripterstellung sowie Angelika Wulff aus Witten/Ruhr für ihr sehr sorgfältiges Korrektorat. Bochum und Hamburg im August 2018 Nadine M. Schöneck und Sabine Ritter

Zur Einleitung Die gesellschaftliche Mitte als Kampfzone – Perspektiven und Fragestellungen Nadine M. Schöneck und Sabine Ritter

»We really lived here, me and my brother, my mum and dad, and, yeah, it seemed like that was life, that’s the way life is…«, plauderte Paul McCartney im Frühjahr 2018 in der Küche seines Elternhauses in Liverpool:1 Das Leben in einer musikalischen Familie, ökonomisch leidlich saturiert, bildungsorientiert, stabilisiert durch den »midcentury social compromise« (Crouch 1999: 53) und beheimatet in einem gutbürgerlichen Reihenhaus in Suburbia, hat der Ex-Beatle weit hinter sich gelassen. Sein Blick auf diese Mittelschichtsjugend scheint – wie viele seiner Songtexte ebenfalls andeuten, man denke nur an »Penny Lane« – kein nostalgisch-verklärender, sondern vielmehr ein lakonisch-wohlwollender zu sein. Auf das Klavier im Wohnzimmer, die väterliche Ablehnung von Amerikanismen wie »yeah, yeah, yeah« (»Son, couldn’t you sing ›yes, yes, yes‹«?), das Singen im Kirchenchor, den Spülstein für die Wäsche in der Küche, die Eile beim Auf bruch zu Schule und Arbeit. Das war, so McCartney, eben das Leben – in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Zweifellos: Der Weg, den er von diesem Reihenhaus aus genommen hat, ist exzeptionell. Aber er stellt eben doch eine derjenigen Geschichten dar, die sich aus der Solidität der Mittelschicht heraus entwickelt haben. Der Nimbus, der der Mittelschichtsgesellschaft anhaftet, ist gewaltig und strahlt hell. Makroperspektivisch lässt sich die Strahlkraft dieses Gesellschaftstyps damit erklären, dass weniger ungleiche, eben stärker mittelschichtige Gesellschaften grundsätzlich als wünschenswert gelten (Littrell et al. 2010; Wilkinson/Pickett 2009), weil sie insbesondere mit wirtschaftlicher Prosperität (Amoranto et al. 2010; Easterly 2001; Ravallion 2010), politischer Stabilität (Acemoglu/Robinson 2006; Barro 1999; Birdsall 2015; Solimano 2008) und 1 | Der Clip mit der kompletten Sendung findet sich unter https://www.youtube.com/ watch?v=QjvzCTqkBDQ (09.08.2018), die hier zitierte Stelle an der Position 09:45.

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gesellschaftlicher Kohäsion (Larsen 2013) assoziiert werden. Mikroperspektivisch verheißt eine zwiebelförmige Gesellschaftsstruktur – gewissermaßen per definitionem – ausreichend Bewegungsmöglichkeiten und Spielraum für auf die Geltung meritokratischer Aufstiegsprinzipien vertrauende Menschen. Während sich jedoch in den vergangenen rund drei Jahrzehnten in zahlreichen Schwellenländern relativ prosperierende Mittelschichten herauszubilden begonnen haben (Das 2009; Kharas 2010; Ravallion 2010; Wilson/Dragusanu 2008) und – global betrachtet – die Ungleichheit zwischen den Ländern abnimmt, nimmt sie innerhalb vieler Länder der OECD wieder zu (Alderson et al. 2005; Brady 2009; DiPrete 2005; Milanović 2016; OECD 2008, 2011; Weeks 2005). Seit den 1980er, spätestens 1990er Jahren werden objektive Schrumpfungstendenzen und subjektive Abstiegssorgen der Mittelschichtsangehörigen vieler westlich geprägter Gesellschaften intensiv debattiert (Bigot et al. 2012; Ehrenreich 1989; Grabka/Frick 2008; Littrell et al. 2010; Newman 1988; Pressman 2007; Steijn et al. 1998). Zwar wissen wir, dass das kollektive Selbstbild von Angehörigen einer Gesellschaft und etwa die Einkommensstruktur einer Gesellschaft voneinander abweichen können (Niehues 2014; Schöneck 2017). Aber wir wissen auch, dass Wahrnehmungen – selbst verzerrte – nicht selten einstellungsrelevanter als Realitäten sind (Alesina et al. 2004; Gimpelson/Treisman 2015), sodass die gefühlte Wirklichkeit als eine eigenständige Dimension der Realität bezeichnet werden kann (Glatzer 2008, 2012). Die starke Anziehungskraft der Mittelschichtsgesellschaft lässt sich schließlich auch in Mehrländerbefragungen wie etwa dem International Social Survey Programme (ISSP) nachweisen: Während gut 60 Prozent der zuletzt im Jahr 2009 rund 56.000 Befragten in 41 Ländern annahmen, in einer (sehr) ungleichen Gesellschaft zu leben, wünschte sich gut die Hälfte der Befragten, in einer Mittelschichtsgesellschaft zu leben. In Deutschland erkannte zu der Zeit noch nicht einmal jeder Fünfte eine Mittelschichtsgesellschaft, demgegenüber waren es gut 57 Prozent, die in der Mittelschichtsgesellschaft den idealen Gesellschaftstypus sahen. Es stellt sich also die Frage: Wenn das Modell der Mittelschichtsgesellschaft für das insbesondere westlich orientierte Nachkriegseuropa dermaßen bestimmend und leitend war, wenn Göran Therborn (2012: 15) gar von einem »middleclass century« spricht – warum wird dann in der akademischen, der medialen und der politischen Öffentlichkeit über die Mitte, die Mittelschichten, deren (angebliches) Schrumpfen, deren Statuskämpfe und deren Verängstigung seit Jahren leidenschaftlich diskutiert (allein für die Lage in Deutschland: Beise 2009; Bosch/Kalina 2015; Burkhardt et al. 2012; Burzan et al. 2014; Heinze

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2011; Herbert-Quandt-Stiftung 2007; Koppetsch 2013; Mau 2012; Nachtwey 2016; Schimank et al. 2014; Vogel 2009)?2 Inzwischen hat die Debatte dramatisch an Fahrt aufgenommen. Anfang 2017 diagnostizierte das Fernsehmagazin »Panorama« die »Krise der Mittelschicht« und berichtete über die »Wachstumsverlierer« unter den Mittelschichtsangehörigen. Anlässlich des SPD-Bundestagswahlkampfs im selben Jahr, der das Thema »Soziale Gerechtigkeit« in den Fokus gerückt hatte, wurde in der ZEIT kontrovers über die Frage debattiert, ob die Mitte denn nun unter verstärktem Druck sei, ob die Ungleichheit zugenommen habe – oder ob nicht (vgl. zum Beispiel Fratzscher 2017). Der hohe Anteil an Zweitstimmen, den die rechtspopulistische »Alternative für Deutschland« (AfD) bei eben dieser Bundestagswahl 2017 für sich verbuchen konnte, wird wiederum von anderen Betrachtern und Beobachterinnen als Indiz einer Spaltung der Gesellschaft gewertet: Dabei wird diskutiert, ob diese Spaltung primär sozioökonomischer Natur sei, also vor allem Einkommens- und Vermögensungleichheiten geschuldet, oder ob sie vielmehr kulturellen Ursprungs wäre (Reckwitz 2017: 371-423). Diagnostiziert wird ein Auf brechen der Gesellschaft in einen (größeren) Teil modernisierungsbefürwortender und in einen (kleineren) modernisierungsskeptischer Bürgerinnen und Bürger. Scharf zugespitzt schrieb im Zuge der hitzigen Auseinandersetzung um den Rücktritt Mesut Özils aus der deutschen Fußballnationalmannschaft im Juli 2018 die Kolumnistin Margarete Stokowski über die, mit Wilhelm Heitmeyer gesprochen, »deutschen Zustände«: »Wie integriert man sich in eine Gesellschaft wie diese, die immer gespaltener ist und an Hetze immer gewöhnter? Wie integriert man sich in eine Gesellschaft, von der Studien immer wieder bezeugen, dass die allermeisten Leute sich zwar zur politischen Mitte zählen, ihnen dies aber nicht widersprüchlich dazu erscheint, rassistische, antisemitische, homophobe Haltungen zu vertreten?« (Stokowski 2018). Eine nochmals alternative, mit der vorgenannten Argumentation jedoch keineswegs unvereinbare Position ist die These einer über längere Zeit verdrängten Klassenproblematik: »Weil es aussichtslos erscheint, als ungerecht empfundene Verteilungsverhältnisse grundlegend zu korrigieren, neigen Lohnabhängige spontan dazu, Auseinandersetzungen zwischen oben und unten in Konflikte zwischen innen und außen umzudefinieren« (Dörre et al. 2018: 1; vgl. zur »Entsorgung der Klassenfrage« auch Kadritzke 2017). Auch wir schreiben von der »Mitte als Kampfzone«: Was geschieht in und mit der Mitte der Gesellschaft in Deutschland? Ist die vieldiskutierte Krise der 2 | Dass die Mittelschichtsthematik von erheblicher gesamtgesellschaftlicher Bedeutung ist, lässt sich unter anderem auch daran erkennen, dass »Aus Politik und Zeitgeschichte«, die Beilage der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Wochenzeitung »Das Parlament«, ihr im Rahmen einer Trilogie das mittlere Heft widmete: Oben (Heft 15/2014), Mitte (Heft 49/2014) und Unten (10/2015).

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Mittelschicht eine Selbstdiagnose bar objektiver Grundlage? Denn immerhin – und auch in diesem Band – ist die Inszenierung der Mittelschicht nicht zuletzt eine wissenschaftliche, mediale und politische Selbstinszenierung. Ist es tatsächlich so, dass sich die Mitte zunehmend von dem wohlfahrtsstaatlich flankierten (Nachkriegs-)Projekt, das sie in Westeuropa und Deutschland groß gemacht hat, verabschiedet? Und: In welchem Verhältnis steht sie zu Rechtspopulismus, Rassismus, Exklusion? Angehörige der Mittelschichten befinden sich seit der Etablierung von Mittelschichtsgesellschaften in einer potenziell herausfordernden ›Sandwich-Position‹ zwischen oben und unten: Je nach Perspektive sind sie relativ depriviert beziehungsweise privilegiert. Ihr Standing im hierarchischen Ungleichheitsgefüge bedarf einer kontinuierlichen Justierung der eigenen Lebensführung und ihrer Maximen. Damit lastet ein gewisser Druck auf Mittelschichtsangehörigen. In Zeiten größerer gesellschaftlicher Veränderungen, die durch die Folgen fortwährender Globalisierung, arbeitsmarkt- und berufsstrukturellen Wandels, sozialstaatlichen Um- beziehungsweise Abbaus und verschärften Bildungswettbewerbs, aber auch – in jüngster Vergangenheit und Gegenwart – durch eine deutlich gestiegene Zuwanderung und das Erstarken rechtspopulistischer Parteien gekennzeichnet sind, fühlen sich viele Mittelschichtsangehörige unter nochmals erhöhtem Druck. Zugleich tragen sie durch ihr (sozial-) strukturformendes Entscheiden und Handeln häufig dazu bei, dass der diffuse Druck innerhalb der Gesellschaft wächst. Aus ungleichheitssoziologischer Perspektive interessiert uns vor diesem Hintergrund insbesondere die Frage, welche mehr oder weniger bewussten Strategien der Selbstpositionierung beziehungsweise Selbstpositionierungsstärkung durch intensivierte Abgrenzung – nach oben wie auch nach unten – Angehörige der Mittelschichten verfolgen. Zudem richten wir den Scheinwerfer auf subjektive ungleichheitssensible Wahrnehmungen. Aus kultursoziologischer Perspektive interessieren uns einerseits die Antriebsmomente solcher Abgrenzungspraktiken, die sich in schichtspezifischen Wertorientierungen manifestieren. Andererseits lassen sich entlang zum Beispiel symbolischer, normativer oder auch ökonomischer Wahrnehmungs- und Deutungsmuster die Rahmenbedingungen ausmachen, die die Selbstvergewisserung und permanente Reproduktion der Mittelschichten sicherstellen. Neben einer fokussiert ungleichheits- respektive kultursoziologischen Perspektive ist auch eine amalgamierende Betrachtung neuerer Wertorientierungen und Abgrenzungspraktiken von Mittelschichtsangehörigen denkbar. Zu den zu beantwortenden Leitfragen, die wir den Beitragenden stellten, zählen beispielsweise die folgenden: • In welchem Verhältnis stehen (sich wandelnde) objektive Lebensbedingungen und (kollektiv-)subjektive ›Programmatiken‹, das heißt Ungleichheits-

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und Gerechtigkeitsdiskurse, aber auch Wertorientierungen der sozialen Mitte? • Woran erkennen Mittelschichtsangehörige einander? Durch welche symbolischen und habituellen Praktiken setzen sie sich sichtbar von oben beziehungsweise unten angrenzenden Schichten ab? • Welches sind die Normalitätsfolien, vor denen Mittelschichtsangehörige ihre Wertorientierungen konstruieren – und welche Praktiken resultieren daraus? • Nimmt ›die Mitte‹ die sie umgebende Gesellschaft wirklich einhellig wahr, handelt sie tatsächlich einem weitestgehend uniformen Modell folgend – oder lassen sich vielmehr unterschiedliche Mittelschichtssegmente erkennen, die möglicherweise sogar Tendenzen der Divergenz aufweisen? Um uns Antworten auf diese Fragen zu nähern, haben wir hier 17 sozialwissenschaftliche Texte zusammengestellt, die die Mitte in Deutschland aus den unterschiedlichsten Richtungen in den Blick nehmen. In ihren konzeptionelltheoretisch wie auch empirisch vielfältigen Zugangsweisen und mit ihren teils kontroversen Befunden decken sie ein breites Spektrum der aktuellen Debatte um die Mittelschichten ab und bieten historische, politologische, ökonomische, ungleichheits- und kultursoziologische Auf- und Einsichten. Wir verzichteten bewusst auf eine (zum Beispiel sozioökonomische oder kulturelle) Vorab-Definition des Mittelschichtsbegriffs, um zu vermeiden, unseren Autorinnen und Autoren einen – im Zweifelsfall: unseren höchstpersönlichen – Zugang zur Mittelschichtsthematik zu oktroyieren. Vielmehr fanden wir es hochspannend und auch inhaltlich ertragreich, mit erwartbar deutlich unterschiedlichen Annäherungen an den facettenreichen Mittelschichtsbegriff rechnen zu können. Je nach Fragestellung dürfte schließlich auch die spezifische Perspektive (etwa auf Wertorientierungen und Abgrenzungspraktiken in bestimmten Segmenten der tendenziell ja doch recht breiten und heterogenen deutschen Mittelschicht) eine Rolle spielen. Darüber hinaus deuten zum Beispiel poststrukturalistische Ansätze die Diversität der Mittelschichtsdefinitionen als Indiz dafür, dass die Mitte ein Produkt machtvoll strukturierter Diskurse ist. Eine vereinheitlichende Vorab-Definition für sämtliche Beiträge wäre daher auch theoretisch und methodologisch gänzlich unangemessen gewesen. Der Band beginnt mit zwei allgemeinen Überlegungen zur Mitte der Gesellschaft. Aus einer quantifizierenden Makroperspektive widmen sich die darauffolgenden drei Beiträge sozialstrukturellen und ökonomischen Gesichtspunkten der »Mitte als Kampfzone«. Dass und wie die Mitte gleichermaßen Konstrukteur wie Container von entschiedenen und entscheidenden Werten und Normen ist, dass und wie sie Ein- und Ausschlüsse betreibt, diskutieren die folgenden sieben mikrosoziologischen, diskursanalytischen und theoretischen Beiträge. Es schließen sich vier Abhandlungen an, die zumeist auf

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empirischem Weg Befindlichkeiten und Handhabungen einerseits und mittelschichtige Selbstvergewisserungen andererseits untersuchen. Den Schluss bildet ein Beitrag, der die sozialwissenschaftliche Diskussion um die Mittelschichten insgesamt kritisch beleuchtet – eine Meta-Analyse, die wiederum selbst von einem Sozialwissenschaftler vorgenommen wird. Im Einzelnen: Am Anfang der Sammlung stehen zwei etwas kürzere Texte, die – der eine ideengeschichtlich, der andere ungleichheits- und wohlfahrtsstaatssoziologisch – den Rahmen abstecken für die weiteren Beiträge zur Mitte, zu Mittelklassen, Mittelschichten und ihren Status- und Abgrenzungskämpfen. Herfried Münkler stellt die Mitte als die deutsche Gegenwartsgesellschaft dominierende Ordnungskategorie vor und erachtet die hiesige Mitte-Mentalität als überaus stabil. Woher rühren diese Dominanz und Stabilität? Die »Herrschaft der Mittleren« ist ein seit der Antike keineswegs unumstrittenes, jedoch hochwirksames räumliches Denkmodell politischer Ordnung, dessen Alternative – die Idee von Fortschritt, Stillstand, Rückschritt, also von strukturbildenden Zeitdimensionen – wegen kultureller und politischer Kontextbedingungen in den Hintergrund gerückt ist. So ist die Mitte das Orientierungsfeld der Deutschen – und bleibt es voraussichtlich bis auf Weiteres. Berthold Vogel betont, dass die Mitte, konkretisiert als erwerbstätige Mittelklasse, analytisch wie politisch untrennbar mit dem arbeitenden Sozialstaat verbunden ist. Er öffnet damit eine zweite wesentliche Perspektive, der dieser Sammelband verpflichtet ist, nämlich eine ungleichheitssoziologische: Der soziologische Blick auf den Staat ist immer zugleich ein nach Ungleichheit forschender, und umgekehrt kommt eine umfassende Sozialstrukturanalyse nicht umhin, die staatliche Prägung der Sozialordnung mit zu beachten. Dementsprechend skizziert Berthold Vogel in zehn Punkten die Zukunft der Mittelklasse unter Bedingungen ihrer Verunsicherungen und Fragmentierungen durch den sich wandelnden Sozialstaat. Die anschließenden drei Beiträge nehmen sich Vermessungen der Mitte an und diskutieren sozioökonomische und politische Fragen der (vermeintlichen?) Krise der Mittelschichten. Judith Niehues blickt – nach einer Erörterung der Vielfalt gängiger Mittelschichtsdefinitionen – unter einem dezidiert ökonomischen Gesichtspunkt auf die Entwicklung der Mittelschichten in Deutschland und bereitet damit eine objektive Grundlage für die Einordnung subjektiver Bewertungen. Ihrer sich auf sozialwissenschaftliche Analysen stützenden und auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zurückgreifenden einkommensbasierten Mittelschichtsdefinition zufolge erweist sich die »Mitte im engen Sinne« nach vorherigen Schwankungen insbesondere im vergangenen Jahrzehnt als bemerkenswert stabil: Ihr gehört beständig etwa die Hälfte aller Haushalte an. Mit diesem Befund versucht sie, alarmistische Meldungen, denen zufolge die

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Mittelschicht immer weiter ausgedünnt werde, zu entkräften. Darüber hinaus zeigt sie anhand von Daten der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS), dass auch die starke Adhäsionskraft der Mitte in Bezug auf die subjektive Schichteinstufung der Befragten und der insgesamt weit verbreitete wirtschaftliche Optimismus in deutlichem Kontrast zur medialen Berichterstattung stehen – allerdings, darauf weist Judith Niehues auch hin, empfinden seit der Wiedervereinigung regelmäßig mehr als zwei Drittel der Befragten die wirtschaftlichen Verhältnisse als (tendenziell) ungerecht. Holger Lengfeld und Jessica Ordemann gehen der Frage nach, wie sich die den Mittelschichten in Deutschland vielfach zugeschriebene Angst vor einem sozialen Abstieg im Verlauf von drei Jahrzehnten (1984 bis 2014) entwickelt hat. Anhand von Daten des SOEP zeigen sie, dass in (West-)Deutschland von Mitte der 1980er Jahre bis Mitte der 2000er Jahre alle Schichten einen stetigen Anstieg von Abstiegsangst – bemessen über die Sorge vor einem Arbeitsplatzverlust – aufwiesen. Seither waren diese Sorgen bis zum Ende des Beobachtungszeitraums 2014 stark rückläufig. Es fällt zudem auf, dass sowohl während des Anstiegs als auch des Rückgangs der Abstiegsangst die mittlere Mittelschicht besonders starke Reaktionen zeigte. Entsprechend formulieren Holger Lengfeld und Jessica Ordemann ihre »These der mittleren Mitte als sensibles Zentrum der Gesellschaft«. Ursula Dallinger widmet sich der Frage, ob die vieldiskutierte »Krise der Mittelschicht« veränderte Gerechtigkeitsperzeptionen und verteilungspolitische Präferenzen befördert, die dann neue klassenübergreifende Koalitionen nach sich ziehen. Ausgehend vom in Wohlfahrtsstaatsforschung und politischer Ökonomie etablierten Konzept des Mittelschichts- beziehungsweise Medianwählers, demzufolge – holzschnittartig formuliert – die Entscheidungen politischer Parteien maßgeblich von den (Umverteilungs-)Präferenzen der Mittelschicht abhängen, greift sie auf Daten des ALLBUS zurück und zeichnet für den Zeitraum von 1994 bis 2014 die Entwicklungen von Gerechtigkeitsperzeptionen und Wahlabsichten verschiedener sozialer Schichten nach. Ursula Dallingers besonderes Augenmerk ist dabei auf drei Mittelschichtssegmente gerichtet: Für diese weist sie – insbesondere ab 2008 – ein auffallend hohes Maß an wahrgenommener Ungerechtigkeit nach. Der Einfluss dieser Ungleichheitskritik auf die über die »Sonntagsfrage« ermittelten Wahlabsichten fällt allerdings divergent aus: Während die obere Mittelschicht – vor allem bei wahrgenommener Ungerechtigkeit – zu einer klassenübergreifenden Koalition mit der Oberschicht neigt und Parteien des grün-alternativen Lagers wählt, neigt die untere Mittelschicht – in Abhängigkeit von ihrem (Un-)Gerechtigkeitsempfinden – zur Wahl linker oder konservativer Parteien. Unter der Überschrift »Wertorientierungen und Normalitätskonstruktionen« sind drei Beiträge versammelt, die tiefergehend eruieren, ›wie die Mitte

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tickt‹: welchen Maximen die Angehörigen der Mittelschicht folgen, unter welchen Vorzeichen sie Lebensführung betreiben, was sie als ›normal‹ erachten. Miriam Schad und Nicole Burzan interessiert dabei besonders die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Mentalitäten in der Mitte und dem familiären Statuserhalt. Um zu erfahren, wie Mittelschichtsangehörige auf Statusirritationen reagieren, führten sie Interviews mit Mitgliedern aus drei Generationen zweier Mittelschichtsfamilien. Die Befunde ihrer explorativen Studie zeigen, dass Leistungswille, Fleiß sowie die Bereitschaft zum Aufschub von Bedürfnisbefriedigung, familiale Solidarität und entschiedenes Statusbewusstsein geteilte Werte der Mittelschicht sind – und dass es zugleich sehr unterschiedliche Arten der Statusreproduktion gibt, die Miriam Schad und Nicole Burzan als einem »Unterstützung-Narrativ« beziehungsweise als einem »VerantwortungsNarrativ« folgend beschreiben. Christine Wimbauer, Julia Teschlade, Almut Peukert und Mona Motakef untersuchen – quasi in Umkehrung der Perspektive des vorigen Beitrags – die Mitte der Gesellschaft auf ihre Paar- und Familienbilder. Was nämlich überhaupt »Familie« ist, bleibt bis auf Weiteres umkämpft. Die heterosexuelle »Normalfamilie« dient nach wie vor als Folie für legitime Formen des Zusammenlebens. Die Autorinnen diskutieren die Beständigkeiten und den Wandel von Leitbildern für das Paar- und das Familienleben in der Mitte der deutschen Gesellschaft. Sie spannen dabei den Bogen von soziologischen Perspektiven auf Liebe und Familie über dominante Vorstellungen, aber auch Realitäten von Familie bis hin zur Darstellung tatsächlicher familialer Praxen jenseits der heterosexuellen »Normalfamilie«. Die Rolle der gesellschaftlichen Mitte hinsichtlich der Persistenz und des Wandels dieser Leitbilder ist dabei ambivalent: Sie ist sowohl die Bewahrerin alter, überkommener Vorstellungen als auch Ort von Neuerungen, von ›abweichenden‹ Wertvorstellungen und Lebensformen. Marlon Barbehön, Marilena Geugjes und Michael Haus schließlich analysieren aus diskurstheoretischer Sicht empirisch die mediale Repräsentation der Distinktionen und Normalitätsansprüche der Mittelschicht. Deren Werte und Lebensstile sind von diesem Standpunkt aus Attribute, die der gesellschaftlichen Mitte – hier: durch bürgerliche Qualitätszeitungen – zugeschrieben werden und so zu ihrer (Re-)Konstruktion beitragen. Derart wird sie in diesem Beitrag weder sozialstrukturell noch ökonomisch und auch nicht milieusoziologisch gefasst. Vielmehr ist die Mittelschicht, so das Argument, ein »leerer Signifikant«, ein Diskursprodukt, in dem ein scheinbar Allgemeines unterschiedliche, teils widerstreitende Positionen und Äußerungen in sich aufnimmt und dadurch selbst bar konkreter Bedeutungsgehalte, also leer und äußerst anschlussfähig, wird. Diskurse erzeugen mit einem Gegenstand wie der Mittelschicht stets ein Äußeres, das Andere seiner selbst: Indem sie als arbeitend, gebildet, autonom und vernünftig gezeichnet wird, sind andere Schichten all dies genau nicht. Die medial konstruierte Mittelschicht ist mit-

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hin eine distinkte, sich distinguierende und gleichzeitig Normalität und gesellschaftliche Standards verkörpernde Einheit. Nachdem dergestalt diverse Deutungsangebote zu den Werten, Normen und Normalitätsvorstellungen der Mitte ausgebreitet sind, richten die folgenden vier Beiträge ihr Augenmerk aus unterschiedlichen analytischen Perspektiven auf die Abgrenzungs- und Schließungsprozesse, die sich im globalen Norden in Form eines drohenden Siegeszugs des Rechtspopulismus manifestieren. Stephan Lessenich dekonstruiert vor dem Hintergrund des deutschen Mittelschichtsdiskurses der Sozialstrukturanalyse seit Theodor Geiger nicht nur die Rede von den Abstiegsängsten und -kämpfen sowie den Mitte-Begriff selbst als Kategorie des Ein- wie des Ausschlusses, sondern auch die (vermeintliche) Erfolgsgeschichte der nordatlantischen, aufstiegsorientierten Mittelschichtsgesellschaften. Diese Geschichte ist nämlich zugleich diejenige kaum sichtbarer »weiblicher und migrantischer Zuarbeit« sowie weltweiter Ausbeutung und Externalisierung ökologischer Kosten. Deren Erträge, so die These von Stephan Lessenich, sollen in gegenwärtig stattfindenden »Mittelklassenkämpfen« erhalten und abgesichert werden. Cornelia Koppetsch entwickelt ihre Argumentation zur räumlichen Selbstvergewisserung und darauf auf bauenden Abgrenzung der Mittelschichten in Zeiten des Entstehens transnationaler Klassen ausgehend von der Diagnose, dass derzeit ein neuartiger Heimatdiskurs stattfindet. Auch hier ließe sich von »Mittelklassenkämpfen« sprechen, und zwar von solchen zwischen denjenigen Teilen der Mittelschicht, die einen kulturkosmopolitischen Lebensstil pflegen – grosso modo: die Akademikerklasse –, und denjenigen, die mit weniger kulturellem Kapital ausgestattet einem eher nativistischen Heimatverständnis anhängen. Beide Mittelschichtsgruppen sind Produkte der Transnationalisierung wirtschaftlicher Wertschöpfung und politischer Steuerung, die neue, nationenübergreifende Klassenstrukturen mit sich bringen: Während die urban geprägten akademischen Fraktionen der Mitte von der Globalisierung profitieren und zur transnationalen Oberschicht werden, drohen die (noch) national etablierten Mittelklassen mit ländlicher oder kleinstädtischer Verwurzelung global abgehängt zu werden – weshalb, so Cornelia Koppetschs Argument, der Kampf um soziale Stabilität ihnen zum Kampf um heimatliches Terrain wird. Sylke van Dyk plädiert dafür, die gegenwärtigen sozialstrukturellen und sozioökonomischen Herausforderungen der gesellschaftlichen Mitte auch mit poststrukturalistischem, praxis- und diskurstheoretischem Instrumentarium zu analysieren. Derart, so ihr Argument, lässt sich das Zusammenspiel von Normativität und Mitte – hier: unter Bedingungen ihrer Erschütterung – erkennen und fruchtbar untersuchen. Wie schon Marlon Barbehön, Marilena Geugjes und Michael Haus kommt auch Sylke van Dyk zu dem Schluss, dass es sich bei der Mitte um einen »leeren Ort des Allgemeinen«, um einen »empty

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signifier« im Sinne Ernesto Laclaus handelt. Sie geht nun der Frage nach, was das Außen, das radikal Andere der Mitte ist, das diese erst konstituiert, und wie es sich entlang der Ränder des Sozialen seit der fordistischen Ära gewandelt hat. Am Ende steht die Einsicht, dass derzeit nicht allein Verteilungsfragen verhandelt werden, sondern auch Fragen nach Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zur sozialen Mitte im Zuge einer Bewertung von Subjektivitäten als ›normal‹ – oder eben als anders, als unpassend, als auszuschließend. Uwe Schimank entwirft in seinem Beitrag eine Typologie der Mittelschichten und skizziert entlang verschiedener Konstellationen und ihrer Bezüge zur Unter- und Oberschicht ein theoretisches Modell, das hier dem beschreibenden Erklären der Genese der rechtspopulistischen Mitte dient. Die zentralen Parameter der vier Typen beziehungsweise Fraktionen sind ihre jeweiligen Ausstattungen und Ausstattungsrelationen mit ökonomischem und kulturellem Kapital. Kennzeichen der Mittelschichten ist, dass sie dieses Kapital zur »investiven Statusarbeit« (Schimank et al. 2014) nutzen. Diese Arbeit in eigener Sache hat die Mitte in den vergangenen Jahrzehnten unter Bedingungen des kulturellen Siegeszugs von Identitätspolitiken einerseits und der Rückkehr verstärkter sozioökonomischer Ungleichheit andererseits verrichtet. Ihre einzelnen Fraktionen wurden hiervon höchst unterschiedlich tangiert und in ihren Positionen im sozialen Gefüge beeinflusst. Sie stehen sich heute als sogenannte neue Mittelklasse (gut ausgestattet mit kulturellem Kapital) und als alte (eher nicht akademisch situierte) gegenüber. Erheblichen Teilen Letzterer attestiert Uwe Schimank massive Verunsicherung darüber, dass die eigene Position zukünftig zu unsicher für fortgesetzte investive Statusarbeit sein könnte: Als Ausgleich, als Ersatz für nicht mehr ausreichende Kapitalausstattungen wird dann womöglich die Zugehörigkeit zum »deutschen Volk« in Anschlag gebracht. Grenzziehungspraktiken, Identitätsbehauptungen sowie Befindlichkeiten der Mittelschichtsangehörigen werden in den anschließenden vier Beiträgen empirisch untersucht. Patrick Sachweh, Sarah Lenz und Debora Eicher nehmen im Kontext einer subjektorientierten Sozialstrukturanalyse eine mikrosoziologische Innenperspektive auf soziale Klassen ein und fragen danach, wie Angehörige unterschiedlicher hierarchisch angeordneter Gesellschaftssegmente ihre eigene Lage wahrnehmen – und wie sie sich respektive andere klassifizieren. Hierzu greifen sie im Anschluss an Michèle Lamont auf das Konzept der »symbolischen Grenzziehungen« zurück, durch das »die Objektivität ungleicher sozialer Lagen und Lebensverhältnisse Eingang ins Alltagsbewusstsein der Menschen« findet. Als empirisches Material dienen ihnen qualitative Interviews und Gruppendiskussionen. Ihre Typologie der gruppenspezifischen Selbst- und Fremdbilder arbeitet symbolische Grenzen und distinkte soziale Identitäten heraus: Während mittlere Klassen einen »Ethos der Mäßigung und

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des planvollen Realismus« pflegen, folgen die oberen Klassen einem »Ethos der Distinktion und der Kultiviertheit« – beide Segmente positionieren sich also über sozioökonomische und kulturelle Grenzziehungen zu ihrer sozialen Umwelt. Den unteren Klassen bleibt in Ermangelung nennenswerter sozioökonomischer und kultureller Ressourcen hingegen nichts weiter, als sich durch moralische Grenzziehungen zu platzieren und einen »Ethos der Solidarität und des Abgebens« zu kultivieren. Friederike Bahl fokussiert auf einen speziellen, in der Mittelschichtsdebatte häufig unterbelichteten Teil des in sich ausdifferenzierten mittleren Segments bereits stark tertiärisierter (Erwerbs-)Gesellschaften: Sie untersucht Angestellte in Routinedienstleistungsberufen. Während die ungleichheitssoziologische Diskussion um die gesellschaftliche Mitte von einer »Chancenrhetorik« geprägt ist und Zukunftssorgen für weite Teile der gesellschaftlichen Mitte qualifizierter Dienstleistungstätigkeiten in eins gesetzt werden mit Sorgen um Statuserhalt und Aufstiegsoptionen, greift im unteren Dienstleistungssegment die »Logik marktbezogener Statusfatalität«. Hier geht es bisweilen ums nackte, nach Möglichkeit sozialstaatsunabhängige Überleben, und die der Mittelschicht so häufig attribuierte entscheidungs- und handlungsleitende Zukunftsorientierung entbehrt jeglicher alltagspraktischen Bedeutung. Friederike Bahl hebt hervor, dass in einer erwerbszentrierten Gesellschaft die Frage der Ungleichheit »immer noch eng mit der Frage nach der Zukunft der Arbeit verbunden« ist. Patricia Pfeil, Marion Müller und Udo Dengel widmen sich einem biographisch heiklen Thema, nämlich der Überschuldung und Insolvenz von Mittelschichtsangehörigen. Ihnen geht es um die Frage, wie Mittelschichtsangehörige mit dieser krisenhaften Erfahrung umgehen und welche Praktiken sie entwickeln, um (sich) ihre Identität als Mittelschichtsangehörige zu bewahren. Zu diesem Zweck führten sie über einen Zeitraum von drei Jahren jeweils drei Interviews mit 14 betroffenen Paaren sowie einigen Einzelpersonen mittleren Alters. Anhand der drei symbolträchtigen und identitätsstiftenden Mittelschichtsmerkmale Wohnen, (Alltags-)Mobilität und Urlaub schildern sie die intensiven Bemühungen überschuldeter und insolventer Mittelschichts­ angehöriger, ›Normalität‹ unter Auf bietung aller Kräfte zu wahren. Sie machen deutlich, »dass die Zugehörigkeit zur Mittelschicht aufgrund des Status ›überschuldet/insolvent‹ nicht mehr unhinterfragt besteht, sondern von den Betroffenen explizit hergestellt werden muss.« Die in der Gegenwartsgesellschaft verbreitete Fixierung auf (bezahlte) Erwerbsarbeit lässt Betroffene mitunter – ersatzweise – ein Ehrenamt ausführen. Eine weitere Form des ›Doing Mittelschicht‹ besteht in der läuternden »Rückbesinnung auf tradierte Werte«, wie sie beispielsweise in den (noch) weitgehend nicht-ökonomisierten Sphären der Familie oder der Naturverbundenheit anzutreffen sind.

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Gunter Weidenhaus fragt nach der sozialen Raum- und Zeitkonstitution von Mittelschichtsangehörigen: Wie stellen sie sich räumlich und zeitlich in die Welt? Auf der Grundlage zweier qualitativer Studien ermittelt er explorativ zwei sich deutlich unterscheidende Modi der Anverwandlung von Raum und Zeit. Als »klassisch« bezeichnet Gunter Weidenhaus das »konzentrisch-lineare« Modell, das durch eine linear biographisierende Aneignung der Zukunft und eine konzentrische Raumkonstitution – nämlich um das eigene Zuhause und den Wohnort herum – charakterisiert ist. Angesichts gesellschaftlicher Dynamiken, die sich insbesondere in Form von Beschleunigung und Flexibilisierung äußern und einst stabile institutionelle Rahmenbedingungen brüchig werden lassen, ist dieser Typus allerdings in die Krise geraten. In Reaktion auf diese Veränderungen hat sich als Alternative zum »konzentrisch-linearen« Modell das »netzwerkartig-episodische« Modell entwickelt: Orte verlieren an Relevanz – an ihre Stelle treten »Atmosphären, Szenen und unspezifische Optionen«, die mit bestimmten Lokalitäten assoziiert sind –, und das eigene Leben wird als projektförmig begriffen. Oliver Dimbath formuliert im Abschlussbeitrag die starke These, dass soziologische Zeitdiagnosen einem Mittelschicht-Bias unterliegen: Zeit- und Gesellschaftsdiagnosen, die als scharf zu lesende Beobachtungen der Gesellschaft oftmals an der Schnittstelle zwischen Sozialstrukturanalyse und Public Sociology verortet sind, werden in aller Regel von Angehörigen der sozialen Mittelschichten für Angehörige der sozialen Mittelschichten verfasst und handeln von typischen Angelegenheiten der sozialen Mittelschichten. Diese »Tendenz hin zur Fokussierung der soziodemographischen Mitte« mündet in eine latente Hegemonialstellung der Mittelschichten, ihres der gesamten Gesellschaft pars pro toto verordneten seismographischen Instrumentariums und ihres Werthorizonts. Eine solche Mittelschichtsdominanz ist bei genauerem Hinsehen unverkennbar – sie ist in ihrer Genese und in ihren Effekten allerdings erklärungsbedürftig. Dem geht Oliver Dimbath in seinem diesen Sammelband abschließenden Beitrag, der etliche Aspekte der vorangegangenen Diskussionen explizit oder implizit anführt und zugleich von einer Meta-Ebene betrachtet, nach. Wir hoffen, dass Ihre Lektüre der hier von uns versammelten und von den Beitragenden entwickelten Begriffe, Sichtweisen, Zugänge, Diagnosen und – ja, auch dies! – Empfehlungen zur »Mitte als Kampfzone« dazu führt, produktiv miteinander ins Gespräch zu kommen und weiterführende Fragen, Ideen und vielleicht Lösungsmöglichkeiten für ernsthafte und drängende gesellschaftliche Probleme zu initiieren.

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Die Mitte der Gesellschaft

Die Entstehung der Mitte — Ein Paradigma in Politik und Gesellschaft 1 Herfried Münkler

A ntike und spätmit tel alterliche A nfänge einer »H errschaf t der M it tleren « Die Vorstellung, dass »die Mittleren« in der Ordnung des Gemeinwesens dominieren sollen, taucht bei dem griechischen Gesetzgeber Solon erstmals auf, und zwar als Ausgleich zwischen Ober- und Unterschicht: »Denn dem Volk gab ich Befugnis so viel wie genug ist, von seiner Ehre nichts nahm ich und tat nichts hinzu. Doch zu denen man aufsah des Reichtums halber, die Mächt’gen, auch die ließ ich nur das haben, was ihnen gebührt, stellte mich hin und deckte den Schild meiner Macht über beide. Siegen entgegen dem Recht ließ ich nicht die und nicht die« (zitiert nach Fränkel 1962: 258). Das war im siebten vorchristlichen Jahrhundert eine durchaus revolutionäre Idee, denn bis dahin hatten »die Oberen«, hoi kaloi kai agathoi, die Schönen und Guten, wie sie sich selber nannten, in jeder Hinsicht das Sagen gehabt. Aber die Adelsfamilien hatten mitsamt ihrem jeweiligen Anhang gegeneinander um die Herrschaft gekämpft, und so waren die Städte in immer neuen Bürgerkriegen versunken. Dieser Kampf der Adelsfaktionen ist typisch für die Auflösung einer traditionalen Ordnung; er lässt sich nicht nur in den Stadtstaaten der griechischen Antike, sondern auch in denen des spätmittelalterlichen Italiens beobachten: Hatte eine Adelsfamilie die Oberhand gewonnen, trieb sie die konkurrierenden Familien ins Exil, wo diese dann neue Kräfte sammelten und Bündnisse mit den herrschenden Familien anderer Städte organisierten, um schließlich mit Waffengewalt in ihre Heimatstadt zurückzukehren und dort wieder die Macht zu übernehmen. Danach ging der Machtkampf mit umgekehrten Vorzeichen weiter, und wenn nicht eine der beiden Seiten erschöpft 1 | Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen leicht modifizierten Wiederabdruck des Aufsatzes von Herfried Münkler, der erstmals in »Aus Politik und Zeitgeschichte« (Heft 49/2014) erschienen ist.

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aufgab oder von ihren Gegnern »mit Stumpf und Stiel« ausgerottet wurde, so war dies ein im Prinzip endloser Kampf. Auf Dauer war das für die politisch und wirtschaftlich aufstrebenden Städte ruinös. Es musste eine Lösung gefunden werden. Solons Vorschlag einer Herrschaft des Rechts als Mitte zwischen dem einfachen Volk und den Mächtigen zielte in diese Richtung. Der ruinöse Konflikt sollte durch einen fairen Kompromiss beendet werden. Die miteinander konkurrierenden Adelsfaktionen waren vertikal, also von oben nach unten, organisiert. Vor allem in den unteren Schichten der Gesellschaft sammelten die Aristokraten eine Anhängerschaft, die sie bewaffneten, mit deren Hilfe sie die Kämpfe austrugen oder ihre Widersacher tyrannisierten. Diese Mischung aus Schlägerbande und Kampfverband wurde von den Aristokraten alimentiert, um eine verlässliche Gefolgschaft zu bekommen. Diese Rechnung ging aber nicht immer auf, jedenfalls dann nicht, wenn aus den Reihen der »Unteren« eigene Anführer erwuchsen, von denen die Vorstellung lanciert wurde, man solle künftig nicht mehr für die Interessen einer Adelsfamilie kämpfen, sondern für die eigenen Interessen, die der »Unteren« eben. So entwickelten sich gegen die vertikalen Gefolgschaftsstrukturen ansatzweise horizontale Solidaritätsvorstellungen, in denen man eine Frühform des Klassenkampfs sehen kann – jedenfalls haben das einige Historiker getan. Aber der Zusammenhalt der Unteren war nur rudimentär, und so waren sie auf Anführer angewiesen, ohne die sie keine politische Handlungsfähigkeit besaßen. Sowohl in den griechischen Städten der Antike als auch in den italienischen Städten des späten Mittelalters wurden diese Anführer häufig zu Tyrannen, wie man sie allgemein bezeichnete, da ihre Herrschaft sich nicht auf die Legitimitätsvorstellungen des Adels, sondern auf das Gewaltpotential ihrer Anhängerschaft stützte. Die Errichtung einer Tyrannis wurde so zu einer weiteren Alternative gegenüber den Kämpfen der Adelsfaktionen und der Suche nach einer Mitte als Herrschaft des Rechts. Die Tyrannen fanden über ihre unmittelbare Entourage hinaus Anhänger, weil sie für Ruhe und Ordnung sorgten.2 Idealtypisch betrachtet gab es also drei Modelle politischer Herrschaft: die traditionsgestützte der alten Adelsfamilien, die aber prekär war, weil diese immer wieder gegeneinander kämpften; die gewaltgestützte Macht der Tyrannen, die für Ruhe und Sicherheit sorgte, aber permanent in der Gefahr stand, in eine Willkürherrschaft umzuschlagen, und die Idee einer an der Mitte ausgerichteten Herrschaft des Rechts, deren Problem jedoch war, dass es dafür vorerst keine starke soziale Trägerschaft gab. Mit der Zeit freilich wurde die Herrschaft der Tyrannen unerträglich, die Abgaben, die den Bürgern zwecks Finanzierung der Leibgarde und des zunehmend luxuriösen Lebensstils der Tyrannen auferlegt wurden, wuchsen 2 | Zur Geschichte der Tyrannis im antiken Griechenland vgl. Helmut Berve (1967); zur Tyrannis im spätmittelalterlichen Italien immer noch Jacob Burckhardt (1976: 27ff.).

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ständig, und jeder Widerspruch, der sich dagegen erhob, wurde mit Gewalt unterdrückt. Kurzum, die Tyrannis wurde zu dem, was man heute darunter im Allgemeinen versteht (Snyder 2017). Die Formierung der Mittleren als einer gesellschaftlichen Gruppe, die Anspruch auf die Herrschaft in den Städten erhob, erfolgte somit in Auseinandersetzung mit zwei bedrohlichen Herausforderungen: den permanenten Machtkämpfen der Adelsfaktionen, der »Oberen«, die keine stabile Herrschaftsordnung mehr auszubilden vermochten, und einer sich in hohem Maße auf die unteren Schichten stützenden Tyrannis, die zwar den Bürgerkrieg im Innern beendet, aber die finanzielle Belastung für die Ruhe im Innern drastisch gesteigert hatte. Von ihrer Mentalität her war die zunächst relativ kleine Gruppe der Mittleren eigentlich gar nicht auf die Herrschaft aus und sah darin eher eine Last, der sie gerne aus dem Weg gegangen wäre; angesichts der bestehenden Alternativen ließ sie sich jedoch zunehmend auf dieses Projekt ein. Damit wird sogleich aber auch die Achillesferse einer Herrschaft der Mittleren sichtbar: dass sie sich gar zu gerne wieder aus dieser Verpflichtung, die sie mehr denn andere als Last empfinden, zurückziehen wollen. Ist, schematisch betrachtet, die Machtausübung durch die »Oberen« infolge deren exzessiver Machtansprüche, ihres Ehrgeizes und ihres Konkurrenzbewusstseins für die Mittelschichten gefährlich, und besteht die Gefahr einer Herrschaft der »Unteren« darin, dass sie auf Führer angewiesen sind, die ihre Eigeninteressen nicht nur über das Wohl des Gesamtverbands, sondern auch über das ihrer unmittelbaren Anhängerschaft stellen, so ist die politische Ordnung der Mittleren auf Dauer durch deren begrenztes Interesse an Herrschaftsausübung bedroht. Sie verstehen die von ihnen gepflegte Ordnung als Bürgerschaft und nicht als Herrschaft (Gebhardt/Münkler 1993), entwickeln dabei im wohlverstandenen Eigeninteresse normative Leitideen der Machtausübung und begrenzen so den materiellen wie immateriellen Mehrwert, den sie aus der Innehabung von Macht ziehen können. So wird aus dem großen Vorzug einer Herrschaft der Mittleren, nämlich deren reduzierter Lust an der Macht, deren größere Gefährdung, die darin besteht, dass die Anreize der Machtausübung für die gesellschaftliche Mitte zu gering sind, um deren Belastungen und Beschränkungen dauerhaft auf sich zu nehmen. Das hat sich bis heute nicht geändert. Die Herrschaft der Mittleren steht in der Gefahr des Austrocknens.

D er ideengeschichtliche S treit um die M it te als M assstab und M achthaber Die erste große politiktheoretische Kontroverse um die Eignung der gesellschaftlichen Mitte als normativer Maßstab und Inhaber der politischen Direktionsgewalt ist zwischen dem Philosophen Platon und dessen Schüler Aristo-

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teles ausgetragen worden.3 Platons Kritik an der athenischen Demokratie ist über weite Strecken eine Kritik am Ordnungsmodell der Mitte, wie es in Athen unter vergleichsweise starkem Einbezug der unteren Schichten politisch-institutionelle Gestalt gewonnen hatte. Der Gegenentwurf, den Platon in seiner Politeia entwickelt, läuft auf eine Herrschaft der Besten hinaus: Frieden und Gerechtigkeit in den Städten, so die These, würden erst dann herrschen, wenn die Philosophen Könige oder die Könige Philosophen geworden seien, wie die berühmte Formel bei Platon lautet. Das Qualifikationskriterium für die Herrschaftsausübung ist danach nicht die Herkunft oder die Macht der Familie, wie im alten aristokratischen Modell, sondern Weisheit im Sinne eines Wissens um das optimale Zusammenwirken der gesellschaftlichen Teile, und das nicht nur in funktionaler, sondern auch in ethischer Hinsicht. Platon ist der Begründer einer normativ ausgerichteten Theorie der Eliteherrschaft, wenn denn unter Elite nicht die bloße Inhabe von Macht verstanden wird, wie das in den modernen Elitetheorien bei Mosca, Pareto und Michels der Fall ist,4 sondern der Elitegedanke mit einem komplexen Auswahlprozess verknüpft ist, in dem Qualifikationskriterien über den Zugang zur Innehabung der Macht entscheiden. Weisheit, so Platons Vorstellung, soll in Verbindung mit Eigentumslosigkeit sowie einer Nichtidentifizierbarkeit der eigenen Kinder in den Kohorten des Nachwuchses dafür sorgen, dass Machtmissbrauch und sittliche Korruption der Elite ausgeschlossen ist. Das war ein dezidierter Gegenentwurf zum Modell der Machtausübung durch die Mittleren, die immer im Verdacht stehen, bloß mittelmäßig und gerade nicht die Besten zu sein, die in einer Gesellschaft zu finden sind. Dementsprechend haben sich die Vertreter elitistischer Politikmodelle immer wieder über die Mitte lustig gemacht. Insbesondere die Philosophie Friedrich Nietzsches ist – auch wenn sie selbst darin gar nicht so eindeutig ist – von vielen ihrer Anhänger als eine scharfe Absage an die Mitte im Sinne der Mittelmäßigkeit verstanden worden. Inbegriff und Symbol dieser Mittelmäßigkeit ist der Spießer beziehungsweise Spießbürger, der gerade nicht das Herausragende und Hervorstehende verkörpert, sondern in einer Verbindung von Traditionalität und Gewöhnlichkeit auf der Gesellschaft lastet und alles erdrückt, was in ihr nach Besonderheit strebt. Eine gemilderte Variante dieser Mitte-Kritik findet sich bei Wilhelm Busch, dessen Bilder-Geschichten im Anschluss an Arthur Schopenhauer davon erzählen, wie ein unbändiger Wille nur Unheil und Zerstörung anrichtet, während genügsame Selbstbescheidung für die meisten Menschen die klügste Vorgabe ihres Lebensentwurfs wäre – wäre, 3 | Eine detaillierte Darstellung der ideengeschichtlichen Kontroversen um die politische Rolle der Mitte findet sich bei Münkler (2010: 75-136). Dort Einzelnachweise der nachfolgend herangezogenen Autoren, auf die hier verzichtet wird. 4 | Zur Debatte dessen vgl. Herfried Münkler et al. (2006).

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weil die meisten nicht von sich aus dazu fähig sind, sondern dafür erst Rückschläge und Enttäuschungen, Krisen und Katastrophen erfahren müssten. Das Sich-Einfinden mit dem Mittleren ist danach Einsicht in die beschränkten eigenen Fähigkeiten; es ist kluge Resignation angesichts der zerstörerischen Folgen von Selbstüberschätzung. Die Mitte wird von Busch mit einem milden Lächeln als das den meisten Menschen Angemessene und Bekömmliche empfohlen: »Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, das man lässt.« – Mitte ist danach kluge Resignation (vgl. Ehrlich 1962). Diese vornehmlich ethisch und ästhetisch ausgelegte Kritik an der Mitte, zumindest diese Distanzbekundung ihr gegenüber, hat insofern politische Implikationen, als sie die Mitte in den Ruch der bloß zweit- oder drittbesten Lösung des Problems stellt. Das haben die antiken Politiktheoretiker, die auf die Mitte als Antwort auf das Problem des Zerfalls der traditionalen Ordnung gesetzt haben, indes keineswegs so gesehen. Aristoteles, der Platons Ideal der Philosophenherrschaft verworfen hat, weil es, wenn es tatsächlich realisiert sei, völlig inflexibel sei gegenüber innergesellschaftlichen Dynamiken und Veränderungen der äußeren Konstellationen, hat die Herrschaft der Mittleren ausdrücklich nicht als Resignation gegenüber einer unmöglichen Herrschaft der Besten angesehen, sondern hat die Mitte und das Beste konzeptionell miteinander verbunden. Für Aristoteles waren die Mittleren nämlich gerade nicht die große Masse der Gesellschaft, die es zu mehr als zum Mittelmaß nicht gebracht hatte, wie eine nietzscheanisch inspirierte Sicht sie klassifizieren würde, sondern die Mittleren waren für ihn die Virtuosen beim schwierigen Treffen eines Ziels, das in der Mitte zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig lag. In diesem Sinne ist für Aristoteles die Mitte kein Zustand, sondern eine permanente Herausforderung, der man sich immer wieder aufs Neue stellen muss. Um dies zu verdeutlichen, hat sich Aristoteles des Bildes der Bogenschützen bedient, die dann die besten sind, wenn sie die Mitte und nicht die Ränder einer Zielscheibe treffen. Die Mitte zu treffen ist darum so schwer, weil sie die geringste Ausdehnung hat und man sie am ehesten verfehlt. So muss man beim Anvisieren des Zieles die Schwerkraft des Pfeils und die Auswirkung dessen auf seine Flugbahn einrechnen. Mit anderen Worten: Man muss so tun, als wolle man über das Ziel hinausschießen, um es optimal, das heißt in der Mitte, zu treffen. Auf das Verhalten der Menschen bezogen, heißt das für Aristoteles, dass man die eigenen Neigungen, Vorlieben und Abneigungen immer im Auge haben muss, wenn man die Mitte treffen will. Tapferkeit, so Aristoteles’ Überlegung, ist die Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit, Freigebigkeit die Mitte zwischen Geiz und Verschwendungssucht. Wer von sich weiß, dass er zu Feigheit neigt, muss sich so verhalten, als sei er tollkühn, um tatsächlich tapfer zu sein; wer wiederum zu Verschwendungssucht neigt, muss sich seinen eigenen Vorstellungen zufolge wie ein Geizkragen benehmen, um

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als freigebig angesehen zu werden. Diese zunächst ethischen Überlegungen hat Aristoteles auf die Ordnung des Politischen übertragen und die politische Mitte als eine Position definiert, die nicht nur gegenüber den Reichen und Mächtigen sowie gegenüber den Armen und Abhängigen gleichen Abstand hält, sondern die auch die größte Distanz zu den mit den jeweiligen gesellschaftlichen Positionen verbundenen ethischen Dispositionen und Verhaltensweisen hat. Ein mittleres Einkommen beziehungsweise Vermögen war dabei nach Aristoteles’ Auffassung eine gute Voraussetzung, aber es war bei weitem nicht hinreichend, um den Anforderungen der Mitte zu genügen. Dafür war es vielmehr erforderlich, immer wieder die Dynamik von Oben und Unten, Reich und Arm auszugleichen, um das Gefüge des Stadtstaates in der Balance zu halten. Die Mitte war somit die ethisch wie politisch anspruchsvollste Position, an der man sich orientieren konnte, und insofern stellte sie für Aristoteles das eigentliche Elitemodell dar. Die aristotelische Mitte-Philosophie ist für all diejenigen, die sich heute der gesellschaftlichen und politischen Mitte zurechnen, alles andere als ein politisch-ethischer Tranquilizer, sondern ein Anreger und Aufreger, der die Mitte als eine kolossale Herausforderung und Anstrengung herausstellt. Das wird gerne übersehen, und zwar gerade von denen, die sich selbst als Mitte begreifen und bezeichnen. In Aristoteles’ Definition ist die Mitte also kein Rabatt gegenüber den Anforderungen der Exzellenz, sondern vielmehr deren Akzentuierung. Das hat mit dem Erfordernis des Ausbalancierens der Extreme zu tun, wie man das Bild der die Mitte einer Zielscheibe anvisierenden Bogenschützen ins Politische übersetzen kann. Die Mittleren müssen das rechte Maß kennen, um eine Gesellschaft in der Balance zu halten. Sie müssen die einen fordern und die anderen beruhigen und zurückhalten, und dazu müssen sie genau wissen, auf wen sie wie einzuwirken haben. Um die Mitte zu halten und zu bewahren, bedürfen deren Angehörige nicht nur ethische Eigenschaften, sondern auch gesellschaftliche Kenntnisse und politisches Wissen. Sie müssten gerecht und politisch klug sein – eine Verbindung, die nicht gerade häufig anzutreffen ist und von der Aristoteles gemeint hat, dass sie, wenn überhaupt, in der politischen Mitte zu verorten sei.

M it te oder F ortschrit t : z wei alternative D enkmodelle politischer O rdnun g Die Vorstellung von der Mitte als Pazifizierer des aristokratischen Machtkampfs und Verhinderer des Aufstiegs von Tyrannen entwickelte sich bei den Griechen und dann erneut bei den Italienern der Renaissance im städtischen Rahmen, während bei großräumlich angelegten Ordnungen die Herrschaft (in der Regel die eines Monarchen) nicht in Frage gestellt wurde. Es bedurfte

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einer Bürgerschaft, die horizontale Zusammengehörigkeitsvorstellungen ausgebildet hatte, um das vertikale Strukturmodell von Herrschaft und Untertanentum in Frage zu stellen und abzulösen. Der Anspruch der »Mittleren«, das Gemeinwesen ordnen und regieren zu können, war historisch an den Aufstieg der Städte gebunden – und zwar selbständiger Städte mittlerer Größe, während Großstädte im Zentrum von Großreichen gegenüber der Vorstellung der Mitte auf Distanz blieben: Hier wurde Herrschaft mit Hilfe eines professionellen Apparats und seiner Erzwingungsstäbe ausgeübt, womit klar war, dass die damit verbundenen Aufgaben nicht von einer Honoratioren- beziehungsweise Dilettantenverwaltung durch die mittleren Bürger übernommen werden konnten. Herrschaft der Mittleren beziehungsweise der Mitte hieß über die längste Zeit nämlich auch, dass auf eine Professionalisierung des Politikbetriebs verzichtet wurde und die Bürger im Reihendienst die Ämter und Aufgaben übernahmen. Nur so glaubte man, den mit der Idee der Mitte verbundenen Gedanken der Gleichheit der Mittleren aufrechterhalten zu können. Im Honoratiorensystem der deutschen Kommunalverfassung des 19. und noch 20. Jahrhunderts ist diese Vorstellung noch einmal aufgelebt, bis sie durch die Professionalisierung der kommunalen Spitzen in Form von Verwaltungsjuristen überlagert und allmählich beseitigt worden ist. Inzwischen bringt die Mitte der Gesellschaft kaum noch die Zeit und das Interesse auf, sich um die Gemeinde, in der man lebt, zu kümmern und für deren Selbstverwaltung Sorge zu tragen. Grundsätzlich ist die Vorstellung von der Mitte als Ordnungszentrum von Gesellschaft und Politik alternativ zu der Vorstellung, Politik sei ein beständiger Kampf zwischen den Kräften des Fortschritts und denen der Beharrung, womöglich gar des Rückschritts, also der Reaktion. Die Mitte, gleichgültig, ob sie nun auf »oben und unten« oder »links und rechts« bezogen wird, ist eine Ordnungsprojektion im Raum, während sich die Zuordnungskategorien Fortschritt, Rückschritt und Stillstand auf die Strukturen von Zeit beziehen. Beide Modelle gehen von unterschiedlichen Maßgrößen aus, die sie ihrer Ordnung zugrunde legen, und deswegen widersprechen sie einander nicht unmittelbar, sind aber auch nicht miteinander zu kombinieren. Wo eine politische Ordnung wesentlich durch die Herausstellung der Mitte beschrieben wird, tritt die Idee einer geschichtlichen Entwicklung und der politischen Positionierung in ihr in den Hintergrund. Wenn dagegen die Positionierung in einem geschichtlichen Entwicklungsmodell zum Maßstab der politischen Zuordnung geworden ist, spielt die Mitte kaum noch eine Rolle: Avantgarde und Reaktion sind dann als Hauptkontrahenten ins Zentrum getreten. Was hier beobachtet und bewertet wird, ist das Gegeneinander von Beschleunigern und Aufhaltern einer Entwicklung. Das heißt, dass die politische Ordnung im Hinblick auf einen zentralen Gegensatz beschrieben wird, um den sich alles dreht, während in der verräumlichten Ordnung von links und rechts, oben und unten eher der Ausgleich zwischen den Gegensätzen und die

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Bändigung der politischen Fliehkräfte im Zentrum der Beobachtung stehen. Sicherlich kann man die politischen Positionen von links und rechts auch in die von Beschleunigung und Entschleunigung übersetzen (jedenfalls, wenn unter »rechts« politisch konservative Positionen verstanden werden), aber die Beurteilung und Bewertung des damit Bezeichneten unterscheiden sich klar voneinander. Die Vorstellung von der gesellschaftlichen und politischen Mitte sowie deren Rändern folgt erkennbar anderen Parametern als die von Fortschritt und Rückschritt. Welches der beiden Modelle jeweils präferiert wird, hat mit kulturellen Rahmenbedingungen, wie etwa der Verzeitlichung von Ordnungsmodellen seit dem 18. Jahrhundert,5 und den jeweiligen politischen Herausforderungen zu tun. Die Geschichte der Weimarer Republik etwa lässt sich eher in Begriffen des politischen Raumes denn der politischen Zeit als Kampf der Extreme und Erosion der Mitte beschreiben. Die Begrifflichkeit von Fortschritt und Rückschritt ist nur schwer anwendbar, ohne selbst zur Partei zu werden. Mitunter nämlich werden die beiden Ordnungsmodelle zu Orientierungsangeboten der politischen Parteien, die darüber auf die Identifikationsmuster und Orientierungsbedürfnisse ihrer Mitglieder und Anhänger Einfluss nehmen. Für die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland ist festzuhalten, dass seit etwa zwei Jahrzehnten die Vorstellung von Fortschritt und Rückschritt eine geringere Rolle spielt als die der Mitte und ihrer Ränder.

D ie M it te als O rientierungsfeld der D eutschen Es gibt Demokratien, die wesentlich durch den Gegensatz zweier politischer Parteien beziehungsweise Richtungen gekennzeichnet sind, in denen der Wähler also unmittelbar über Regierung und Opposition entscheidet, und solche, in denen fast alle politischen Parteien bestrebt sind, sich als Kraft der Mitte darzustellen, um aus der Mitte des politischen Spektrums heraus durch die Wahl geeigneter Koalitionspartner die Regierung zu bilden. In den USA, Großbritannien, für lange Zeit auch in Frankreich und Italien war Ersteres zu beobachten: Hier waren beziehungsweise sind nach wie vor Wahlkämpfe eine Zeit der Polarisierung und der Zuspitzung politischer Programme und Profile. In Deutschland und einigen kleineren Ländern West- und Mitteleuropas ist das anders: Hier unterscheiden sich die großen Parteien stärker durch das Angebot an Personal als durch die Programmatik und als regierungsfähig gilt nur – beziehungsweise ist nur –, wer den Anspruch geltend machen kann, die gesellschaftliche und politische Mitte zu besetzen (Münkler 2010: 225ff.). In diesen beiden Grundtypen der Demokratie kommen institutionelle Regelungen, wie Mehrheits- versus Verhältniswahlregeln oder präsidiale ver5 | Auf diesen Punkt hat Reinhart Koselleck (1979) immer wieder hingewiesen.

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sus parlamentarische Demokratie, zum Ausdruck, aber auch historische Erinnerungen an ein politisches Scheitern, aus dem gelernt zu haben man für sich in Anspruch nimmt, sowie schließlich soziokulturelle Mentalitäten und die jeweilige Sozialstruktur. Eine Gesellschaft, die sozialstrukturell eher dem Umriss einer Zwiebel als dem einer Pyramide oder gar einer Eieruhr ähnlich ist, also eine überaus starke Mitte hat beziehungsweise in der sich der Großteil der Bürger sozial den mittleren Schichten zurechnet, hat eine starke Neigung, das politische Spektrum ebenfalls stark auf die Mitte hin auszurichten. In Deutschland ist dies in besonderem Maße der Fall und neben wahlrechtlichen Regelungen, von denen die Parteien der Mitte begünstigt und die der äußeren Ränder benachteiligt werden (Fünf-Prozent-Regel), spielt dabei die immer wieder warnend ins Spiel gebrachte Erinnerung an die Weimarer Republik eine entscheidende Rolle: Diese Republik sei, so die Mahnung, durch die Erosion der politischen Mitte und die Flucht in die Parteien der äußersten Rechten und äußersten Linken zerstört worden. Lässt man die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Revue passieren, so fällt auf, dass bis zum Ende der 1990er Jahre Regierungswechsel durch ein verändertes Koalitionsverhalten der FDP, aber nicht durch eine grundlegende Verschiebung des politischen Spektrums zustande kamen: Den Kanzler stellte die Partei, der es gelungen war, mit der FDP eine Koalition zu bilden. Erst mit der Abwahl Helmut Kohls und der Bildung der rot-grünen Regierung Schröder/Fischer wurde diese Regel durchbrochen, und mit dem offenbar irreversiblen Bedeutungsverlust der FDP in den letzten Jahren dürfte eine Rückkehr dazu ausgeschlossen sein. Parallel dazu haben sich mit dem Aufstieg der Partei »Die Linke« sowie der »Alternative für Deutschland« Akteure auf den Außenpositionen des politischen Spektrums platziert, die sich dort für längere Zeit halten dürften. Entsprechend der Mitte-Orientierung könnte dies zur Folge haben, dass zumindest auf Bundesebene für längere Zeit Regierungsbildungen auf Koalitionen von CDU/CSU und SPD hinauslaufen, während auf Länderebene in ausgewählten Fällen das Experiment eines Links- beziehungsweise Rechtsbündnisses gewagt wird, um die Reaktion der Wähler darauf zu beobachten. Es ist nicht grundsätzlich auszuschließen, dass es im Gefolge dessen in Deutschland zu einer Umstellung des politischen Systems von einer auf die Mitte hin ausgerichteten Ordnung zu einer Blockbildung rechts und links der Mitte kommen kann, doch ist eine solche fundamentale Veränderung zur Zeit noch nicht zu erkennen. Es steht vielmehr zu vermuten, dass es dazu nur dann kommen kann, wenn es in Deutschland auch zu einer sozialen Polarisierung kommt, bei der die starken mittleren Schichten der Gesellschaft aufgerieben würden. Auch das ist zurzeit, trotz einiger lautstarker publizistischer Warnungen, noch nicht erkennbar, ist aber angesichts der Unsicherheit weltwirtschaftlicher Entwicklungen und weiterer Krisen im Euro-Raum nicht grundsätzlich

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auszuschließen. Die für die Bonner wie die Berliner Republik charakteristische Mitte-Orientierung der Deutschen ist sicherlich nicht in Stein gemeißelt, aber sie ist zu tief in den politischen Mentalitäten der Deutschen verankert, als dass sie in einer kürzeren Zeitspanne verschwinden würde.

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Die soziale Mitte und ihr Staat Eine soziologische Skizze Berthold Vogel

Wer soziale Ungleichheit und gesellschaftliche Klassenverhältnisse analysiert, muss über die Gestalt, Verfassung und Arbeitsweise des Sozial- und Rechtsstaats sprechen. Die Soziologie des Staates ist daher immer auch Ungleichheitsforschung – und Sozialstrukturanalyse ist stets Bestandteil einer Diagnostik staatlich geprägter Sozialordnung. Auf diesen Zusammenhang und dieses Wechselspiel weisen die zehn Punkte dieser Skizze zur Zukunft der Mittelklasse hin. In den Konflikten und Interessen, in der Vitalität und Mentalität, in den Aufstiegshoffnungen und Abstiegssorgen der sozialen Mitte spiegeln sich mithin manifeste sozial- und rechtsstaatliche Verteilungs- und Ressourcenfragen. Die Entwicklung der sozialen Mitte korrespondiert mit dem Wandel des (arbeitenden) Staates. Die Befassung mit der Mitte der Gesellschaft ist im folgenden Text keine Milieubeschreibung, sondern der Versuch, das gesellschaftliche Ganze in den Blick zu nehmen. Die Argumentation wechselt dabei zwischen These und Befund, zwischen theoretischer Deutung und empirischen Hinweisen, zwischen Begriff und Beschreibung.

1. Der Wohlfahrtsstaat hat klassenbildende Effekte Gesellschaften mit einer breit gefächerten und wohlhabenden Mittelklasse sind Staatsprodukte. Denn nur dort, wo der Wohlfahrtsstaat als Arbeitgeber, Rechtsrahmen und Sozialgestalter präsent ist, finden sich die strukturellen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Etablierung einer starken, die gesellschaftlichen Verhältnisse prägenden Mittelklasse (Hilpert 2012; Vogel 2009). Die staatlichen Effekte auf die soziale Ungleichheitsentwicklung sind evident. Zentrale Faktoren sozialer Klassenbildung sind historisch und im internationalen Vergleich die öffentlichen Dienste, die Expansion der politischen und rechtlichen Verwaltung sowie die Etablierung staatlicher Daseinsvorsorge. Sie sind Orte beruflicher Karrieren, sozialer Statusbildung und materieller Sicherung. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägt die

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Entwicklung des »sorgenden Staates« (de Swaan 1993) eigenständige Soziallagen. Dieser »sorgende Staat« – nicht im Sinne der Fürsorge, sondern der Bereitschaft zur Gestaltung der sozialen Verhältnisse und Beziehungen – schafft die Voraussetzungen für individuelle Freiheiten, Gestaltungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume in der Lebensführung. Jeder berufliche und soziale Aufstieg, jede Form der Statussuche und der Mühe um Statussicherung haben politische und rechtliche Grundlagen. Die Analyse sozialer Ungleichheit muss diese rechtlichen Funktionsbedingungen und politischen Wirkkräfte moderner Staatlichkeit im Auge behalten.

2. Die Staatsbedürftigkeit der Mitte In der Sichtweise Abram de Swaans ist der Wohlfahrtsstaat ein strategisches Umfeld, in dem die Mitglieder einer Gesellschaft die Möglichkeit erhalten, berufliche und soziale Karrieren zu planen, zu gestalten und zu kalkulieren. Insofern ist das immer wieder herangezogene Bild des Wohlfahrtsstaates, der die Menschen in ihren Aktivitäten lähmt und sich wie Mehltau auf individuelle wie familiäre Energien legt, historisch und zeitdiagnostisch abwegig. Vielmehr öffnet gerade der expansive Staat breiten Schichten der Bevölkerung Aktionsspielräume, um andere, eigene und neue (erwerbs-)biographische Wege gehen zu können. Das lässt sich beispielsweise an den Biographien derer ablesen, die im Bildungssektor, in den gesundheitlichen Einrichtungen oder in der öffentlichen Verwaltung Beschäftigung gefunden haben; bei vielen von ihnen handelt es sich um Bildungsaufsteigerinnen und -aufsteiger. Diese Dynamik ist selbst in heutigen Zeiten von »new public management« und der Kommerzialisierung wie auch Privatisierung von öffentlichen Aufgaben noch deutlich spürbar (vgl. Schultheis et al. 2014). Vergleichbare Prozesse beschreibt Andreas Reckwitz (2017) in seinem Band »Gesellschaft der Singularitäten«, wenn er die »neue Mittelklasse« als das Produkt der Bildungsexpansion und der Akademisierung der Arbeitswelt vorstellt. Von der Staatsbedürftigkeit der Mittelklasse, gestern wie heute, ist allerdings bei Reckwitz nicht die Rede, obgleich die von ihm skizzierte neue, akademisch gebildete Mittelklasse, die als »good performer« auf die Singularität ihrer Aktivitäten bedacht sind, weit überwiegend von öffentlichen Investitionen und Förderaktivitäten lebt. In gewisser Hinsicht ist die Staatsbedürftigkeit das »soziale Unbewusste« einer mittelklassegeprägten Gesellschaft, das erst dann offensichtlich wird, wenn öffentliche Ressourcen in Frage stehen.

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3. Etablierung und Aufstieg – der Wohlfahrtsstaat verändert das gesellschaftliche Klima Wer gewinnt – in historischer Perspektive – im Zuge wohlfahrtsstaatlicher Expansion neue soziale Freiheitsspielräume und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten? Zu den Gewinnern zählen ein Gutteil der qualifizierten, um Aufstieg bemühten Arbeiterschaft, die jüngere Generation der nach 1945 Geborenen und auch der weibliche Teil der Erwerbsbevölkerung. Die Voraussetzungen für »ein Stück eigenes Leben«, von dem Elisabeth Beck-Gernsheim (2008) in den 1980er Jahren sprach, liegen im Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Dessen Expansion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts justiert die Machtbalancen zwischen den Geschlechtern neu. Die soziale Mitte gewinnt eine neue Gestalt. Die Professionalisierung lehrender, beratender und medizinisch versorgender Tätigkeiten sowie die Erwerbskarrieren in den öffentlichen Diensten und in den Verbänden der Wohlfahrtspflege stärken die Mitte der Gesellschaft. Dieser Prozess hält immer noch an. Ein gutes Beispiel sind die Diskussionen um die Professionalisierung der frühkindlichen Erziehung oder auch die sehr zähen Fortschritte der Debatte um die Aufwertung pflegerischer Tätigkeiten. Grundsätzlich gilt, dass der Wohlfahrtsstaat der europäischen Nachkriegsjahrzehnte eigene soziale Orte und Lebenslagen prägte (vgl. Judt 2006). Mit der Etablierung einer neuen, staatsbedürftigen Mittelklasse entstehen zukunftsorientierte, aufstiegsbemühte, aber auch statusbesorgte Mentalitäten. Die sozialstrukturelle und mentale Seite moderner Wohlfahrtsstaaten reflektiert die Etablierung berufsmobiler und in ihrer sozialstrukturellen Dynamik auf Wachstum und Fortkommen ausgerichteter Aufsteigergesellschaften.

4. Die Triebfeder der Aufsteigergesellschaft ist der öffentliche Dienst Der öffentliche Dienst ist soziologisch betrachtet alles andere als ein betulicher Ort sozialer Stabilität und mentaler Langeweile. In seiner Entwicklung lässt sich vielmehr die Dynamik einer Aufsteigergesellschaft gut nachzeichnen. Exemplarisch steht hierfür die staatliche Regie des allgemeinen und öffentlichen Bildungssystems: Ohne Staatsintervention keine sozialstrukturell nachhaltigen und mentalitätsprägend wirksamen Bildungsprozesse. Es ist ein sozialhistorisches Grundgesetz, das sich mit der Etablierung eines allgemeinen und öffentlichen Bildungswesens Staatsbewusstsein und Aufstiegsdynamik entwickeln. Burkart Lutz (2005) betont in seinen Analysen zur historischen Entwicklung von Arbeitsmärkten und Beschäftigungsformen, dass seit dem 19. Jahrhundert der Zuwachs an höherer Bildung und Staatsexpansion untrennbar miteinander verbunden sind. Ein besonderes Augenmerk verdie-

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nen im Kontext von arbeitendem Staat und Klassenbildung die Bediensteten, Beamten und Erwerbstätigen in der Staats-, Länder- und Kommunalverwaltung, ebenso Richter und Justizpersonal sowie die Beschäftigten in der mittelbaren öffentlichen Verwaltung. Die Finanzverwaltung, das Zollwesen, der öffentliche Nahverkehr, die Forstämter und das Bauwesen, die Wirtschaftsförderung oder die Kulturpflege, aber auch die gesetzlichen Versicherungen, die Polizei, die Unfallkassen oder die Arbeitsverwaltung – sie alle repräsentieren öffentliche Dienstleistungen. Hier sind die Bediensteten des arbeitenden Staates tätig, die Professionellen für öffentliche Wohlfahrt, Sicherheit und Daseinsvorsorge. Zum arbeitenden Staat zählen weiterhin auch die in freier Trägerschaft und privatgewerblich erbrachten sozialen Dienste. Das Spektrum dieser Dienste reicht von Kindergärten über Einrichtungen der Jugend- und Familienhilfe, der Altenpflege, der Drogenberatung bis hin zum betreuten Wohnen von behinderten Menschen, der Verbraucherberatung oder der Migrantenhilfe.

5. Die neue Mitte: Dienst- und Versorgungsklassen Mit welchem soziologischen Begriffsapparat können wir nun operieren, wenn wir nach der Klassenbildung im Wohlfahrtsstaat fragen? Zunächst sehen wir seit den 1950er Jahren in allen entwickelten Gesellschaften die Mittelklasse semiprofessioneller und akademischer Berufe in der Verwaltung und Infrastrukturplanung, in Sorge-, Erziehungs- und Gesundheitsberufen. Deren Staatsgebundenheit steht gegen die wirtschaftlich selbständige Mittelklasse der Handwerker, Händler und Bauern. Die soziologische Diagnostik hat auf diese Differenzierung der Mittelklasse reagiert. Ralf Dahrendorf (1965) fixierte das Thema am Beispiel der »Dienstklassen«, die nicht nur auf das steigende Qualifikationsniveau und das Schrumpfen manuell-industrieller Berufe verweisen, sondern auch auf die Expansion öffentlicher Güter und Beschäftigungsformen. Ein weiterer Begriff, der hier in den Blick kommt und von Rainer M. Lepsius (1990) eingeführt wurde, ist der der »Versorgungsklassen«. Dieser Begriff erweitert die von Max Weber getroffene Unterscheidung zwischen Besitz- und Erwerbsklassen. Wir können daher in sozialhistorischer, aber auch in zeitdiagnostischer Perspektive die Kategorien der Dienstklassen und der Versorgungsklassen als Prototypen wohlfahrtsstaatlicher Klassenbildung betrachten. Zunächst zum Begriff der Versorgungsklasse. In diesem Begriff spiegeln sich die Staatsbedürftigkeit der modernen Sozialstruktur und Lebensführung sowie die wachsende Abhängigkeit weiter Kreise der Bevölkerung von staatlichen Transferleistungen. »Versorgungsklasse soll eine Klasse insoweit heißen, als die Unterschiede im sozialpolitischen Transfereinkommen und Unterschiede in der Zugänglichkeit zu öffentlichen Gütern und Dienstleis-

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tungen die Klassenlage, das heißt die Güterversorgung, die äußere Lebensstellung und das innere Lebensschicksal bestimmen« (Lepsius 1990: 128). Im Unterschied zu den Besitz- und Erwerbsklassen ist für die Kategorie der Versorgungsklasse entscheidend, dass sie sich nicht infolge des Marktaustausches bildet, sondern sich durch politisch-administrative Maßnahmen formiert. So werden in der Versorgungsklasse all diejenigen zusammengebunden, die ihr Einkommen direkt oder indirekt über den Staat beziehen: die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und der Staatsbürokratie, aber auch die Rentenempfänger, die Sozialhilfebezieher, die Arbeitslosen, die Studierenden, die Stipendien oder sonstige öffentliche Unterstützungsleistungen beziehen. Der Begriff Versorgungsklasse signalisiert zwar Fürsorge, Zuwendung, Beruhigung und Konfliktdämpfung. Zugleich ist mit dem Konzept der Versorgungsklassen aber ein nachdrücklicher Hinweis auf beständige Konflikte um staatliche und politische Diskriminierung und Privilegierung verbunden. Diese Konflikte drehen sich um die Macht-, Zugangs- und Verteilungschancen zwischen Frauen und Männern, Erwerbstätigen und Nichterwerbstätigen, Familien und Alleinlebenden, Ausländern und Inländern sowie zwischen Wohlfahrtsstaatsgenerationen. Insbesondere an der Generationenfrage werden im Falle der Versorgungsklassen soziale und materielle Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Kohorten der Beitragszahler und der Leistungsempfänger thematisiert. In der Diskussion des Konzepts der Versorgungsklassen macht Lepsius darauf aufmerksam, dass das staatliche Transfersystem gerade nicht zu einer weitgehenden Homogenisierung sozialer Lagen führt, sondern – umgekehrt – neue und politische Formen sozialer Ungleichheit produziert. Auf diese Weise entstehen durch wohlfahrts- und sozialpolitische Interventionen immer positiv und negativ privilegierte Versorgungsklassen. Die Verteilungskonflikte im Umfeld der Versorgungsklassen sind demzufolge nicht nur Konflikte um staatlich regulierte Umverteilungsprozesse, sondern auch politische und rechtliche Absicherungs- und Anerkennungskonflikte um erreichte oder verweigerte Statuspositionen.

6. Status und Herrschaft – Aspekte einer Mittelklassegesellschaft Mit dem Begriff der Dienstklassen ist der säkulare wirtschaftliche Strukturwandel von produktions- zu dienstleistungszentrierten Gesellschaften angesprochen. In den Dienstklassen manifestieren sich aber auch die Expansion staatlicherseits geschaffener Beschäftigungsfelder und die Etablierung verwaltungsbezogener Lauf bahn- und Statusordnungen. Schließlich verbinden sich im Begriff der Dienstklasse weiterführende sozialstrukturanalytische Überlegungen mit herrschafts- und konfliktsoziologischen Fragestellungen. Die Klassenanalyse ist für Dahrendorf immer auch eine Soziologie politischer

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Herrschaft und sozialer Konflikte. Die Klassen- und Statusordnung der Gesellschaft ist Ausdruck und Spiegel politischer Auseinandersetzung und Kräfteverhältnisse. Dahrendorf (1965: 106) sieht den Ursprung der Dienstklassen »in jenem Prozess der Arbeitsteilung der Herrschaft, der in neuerer Zeit, den Gesetzen umfassenderer Aufgaben der Daseinsvorsorge in Staat und Wirtschaft folgend, nicht nur die öffentliche Verwaltung, sondern auch die anderen Institutionen erfasst hat. Das bedeutet aber, dass jedes Mitglied der Dienstklasse einen zwar zuweilen bis zur Unkenntlichkeit geringen, aber darum nicht minder selbstbewusst zur Schau getragenen Anteil an der Ausübung von Herrschaft hat«. Abram de Swaan (1993) spricht in diesem Zusammenhang auch von der Etablierung von Verteilerklassen und -milieus. Bei Erikson und Goldthorpe (2001) verweist der Begriff der Dienstklassen schließlich nicht nur auf formale Verschiebungen in der Beschäftigungsstruktur, sondern auch auf qualitative Veränderungen der Arbeitswelt und auf die Neuordnung sozialer Statuspositionen.

7. Die Fragmentierung der Mitte – Folgen des Struktur wandels des Öffentlichen Wie aber geht es weiter mit der Mittelklasse, wenn sich der Wohlfahrtsstaat als arbeitender Staat verändert – und mit ihm die professionellen Kulturen öffentlicher Güter und Dienstleistungen? Fragmentiert sich die Mittelklasse im Zuge der Fragmentierung öffentlicher Beschäftigungsverhältnisse (vgl. Vogel/Pfeuffer 2016; Vogel 2017)? Welche Bindekraft haben die professionellen Milieus in der Mitte der Gesellschaft, wenn sich die Unverbindlichkeit von Arbeitsverhältnissen (auch außerhalb des öffentlichen Sektors) normalisiert? Wie verändert sich die Mittelklasse, wenn in Zeiten wohlfahrtsstaatlicher Neujustierung die Zusage der Statussicherung zurückgezogen wird? Die soziale Mitte war über viele Jahrzehnte ein wichtiger Ort wirtschaftlicher Homogenisierung und eine Zone betrieblicher und beruflicher Aufstiegschancen. Das hat sich nicht grundsätzlich verändert, aber in wichtigen Details sind markante Brüche zu erkennen, die für die Fragen der politischen Relevanz sozialer Ungleichheit von hoher Bedeutung sind. Auf eines dieser Details macht eine Studie zu Erwerbsbiographien in Zeiten arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Neujustierungen aufmerksam (vgl. Grimm et al. 2013). Im Zuge der arbeitsmarktpolitischen Reformagenda (»Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«, vulgo: Hartz-Gesetze) etabliert sich eine neue Zwischenzone in der Arbeitswelt, in der sich Arbeitsgelegenheiten und mehr oder weniger langfristige private oder staatlich geförderte Beschäftigungsverhältnisse in regelmäßiger Unregelmäßigkeit abwechseln. In dieser Zwischenzone bewegen sich Erwerbstätige, die insbesondere der »unteren Mittelklasse« zuzurechnen sind: fleißige Leute, die sich anstrengen, den Anschluss an Wohlstand und

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Wohlfahrt zu halten; ehrgeizige Leute, die vieles dafür tun, zur Mitte der Gesellschaft zu zählen; zukunftsorientierte Leute, die gerade mit Blick auf die Generationenfolge darum bemüht sind, ihren Kindern die Sicherheit und Gewissheit zu ermöglichen, um die sie selbst ihr Leben lang zu kämpfen haben. Diese untere Mittelklasse steht mehr und mehr unter dem Druck des Wechselspiels prekärer Beschäftigung, volatiler Lebensführung, ungewisser beruflicher Perspektiven und staatlicher Beaufsichtigung.

8. Die Zentralität der unteren Mittelklasse Die untere Mittelklasse ist konstitutiv für eine Aufsteigergesellschaft. Der Wunsch nach sozialer Anerkennung, nach beruflichem Erfolg, nach Verbindlichkeit und Verlässlichkeit ist hier in besonderer Weise ausgeprägt. Doch wenn Anstrengungen ins Leere laufen, wenn Energie ohne Effekte verpufft, dann bilden sich Ressentiments und Vorbehalte gegenüber einer Gesellschaft, die Leistung fordert, aber nicht prämiert. Professionalität wird entwertet, Berufsethos findet keine Anknüpfungspunkte. Daher ist es aus soziologischer Sicht notwendig, der unteren Mittelklasse (also beispielsweise den kaufmännischen Angestellten oder den Verwaltungsfachkräften, den Vorarbeitern oder den Industriemeistern) mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Sozialhistorisch hat diese Klassenfraktion (bisweilen auch als »Kleinbürgertum« bezeichnet) stets eine wichtige Brückenfunktion zwischen Arbeiterschaft und Mittelklasse erfüllt. Sie war ein Transmissionsriemen, der die berufliche und soziale Aufwärtsmobilität getragen und auf diese Weise zur Legitimation einer pluralen, marktorientierten und letztlich auch ungleichen Gesellschaft beigetragen hat. Die untere Mittelklasse war aber immer auch ein Ort gewerkschaftlicher Aktivität und bürgerschaftlichen Engagements in Kirche und Verein, um auch auf diese Weise Anschluss zur Mitte der Gesellschaft zu halten. Man könnte sagen: Sie war ein wichtiger lokaler Faktor, eine Trägergruppe lokalen Zusammenhalts. In ihrer Aufstiegsorientierung und in ihrem Willen, am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt teilzuhaben, war die »lower middle class« stets auch an einer gedeihlichen Entwicklung ihres gesellschaftlichen Umfelds interessiert. Gemeinwohl war und ist in dieser Perspektive auch eine Angelegenheit von eigenem Interesse. Die Rede von einer Abstiegsoder Absteigergesellschaft (vgl. Nachtwey 2016) bleibt in dieser Hinsicht ungenau. Sie verallgemeinert diese partikulare Erfahrung. Denn nicht »die« Mitte ist abstiegsbedroht – es sind spezifische Berufsgruppen und Sozialmilieus, die mehr und mehr unter Deklassierungsgefahr geraten. Ihre Sorgen erhalten zudem Nahrung aus der Tatsache, dass eben nicht »die« Mitte absteigt, sondern spezifische Berufsgruppen in »der« Mitte von der wirtschaftlichen Entwicklung durchaus profitieren. Nicht Abstieg ist das Etikett der sozialen Dynamik

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in der Mitte der Gesellschaft, sondern die Gleichzeitigkeit von Statusstabilität, neuen Aufsteigern und aktuell Abstiegsbedrohten.

9. Reproduktionskrise: Über das Ende der sozialen Mitte, wie wir sie kannten? Wenn wir über die untere Mittelklasse und ihre Verwundbarkeit beziehungsweise Prekarität sprechen, dann sehen wir eine veritable Reproduktionskrise der Mittelklasse – insbesondere im oben angesprochenen Sinne als Versorgungs- und Dienstklasse. Das Verhältnis von Staat und Mittelklasse hat sich verändert. Die ehemals sehr wirkmächtigen Homogenisierungsmaschinen der Erwerbsarbeit und des Staats (öffentliche Güter und Dienstleistungen) sind heute zu Orten der Differenzierung geworden. Mit Arbeit und Staat ist kein kollektives Aufstiegsversprechen mehr verbunden – nur noch ein selektives. Doch wenn Aufstiegswege blockiert sind oder zumindest schwierig werden, dann steht ein sozialkulturelles Muster, ja eine kollektive gesellschaftliche Erwartungshaltung und Mentalität infrage, die stets die Verbindung von arbeitendem Staat und professioneller Mittelklasse getragen hat. Die Reproduktionskrise der Mitte ist daher nicht nur ein ökonomisches Problem, sondern auch ein legitimatorisches. Sie hat Folgen für Zustand und Zukunft der Demokratie. Doch die Reproduktionskrise bestimmter Klassenfraktionen ist nur die eine Seite der aktuellen Entwicklung in der sozialen Mitte der Gesellschaft. Denn es ist auch davon auszugehen, dass es bestimmten professionellen (bürgerlichen?) Milieus in der Mittelklasse nach wie vor gelingt, individuelle und familiäre Statuspositionen zu stabilisieren: Das gilt für Mediziner und Handwerker, für Techniker und Lehrer. Hier funktioniert offensichtlich die Verbindung von öffentlichen Leistungen und privatem Berufserfolg. Wäre es nicht eine interessante Frage, auf der Suche nach der Wirklichkeit der Mittelklasse die Prozesse der Reproduktionskrise mit den Dynamiken der Statusstabilisierung in Verbindung zu bringen? Und welche Rolle spielt bei alledem der Strukturwandel der öffentlichen Dienstleistungen beziehungsweise der Bewirtschaftung öffentlicher Güter, kurz: der Strukturwandel des Wohlfahrtsstaates?

10. Wohlstandskonflikte – und das antidemokratische Ressentiment Eine abschließende Anmerkung zu einer aktuellen Frage der Zeit: Woraus speist sich der Erfolg populistischer Parteien in westlichen Demokratien und die Sehnsucht nach Autokratie in postsozialistischen Staaten? Sind es die Deklassierungserfahrungen der Abgehängten und die wachsende Armut? Sind es die Erfahrungen, in abgehängten Regionen und in abgeschriebenen Stadt-

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teilen zu wohnen? Sind es die pauschalen Sorgen vor den Folgen der Digitalisierung der Arbeitswelt und globalen ökonomischen Unsicherheiten? Das alles spielt sicher eine Rolle – von den konkreten Abstiegssorgen der unteren Mittelklasse war schon die Rede. Vieles spricht aber auch dafür, dass antidemokratische Ressentiments und autoritäre Wünsche mit einer Abwehrhaltung verknüpft sind, mit der Sorge von Aufsteigern um die Früchte ihres Erfolgs. Wohlstandsverteidigung und Wohlstandskonflikte treiben Ressentiments an. Im Kern geht es um die Konservierung des Erreichten. Diese Haltung ist durchaus typisch für eine Gesellschaft, in der viele selbst oder in der Familie Aufstiege erlebt haben. Veränderungen erleben sie als Irritation, Neuankömmlinge als Angreifer auf den eigenen Wohlstand, technische und soziale Innovation als Infragestellung des eigenen Lebensstils. All das adressieren der neue Populismus und Autoritarismus. Es ist daher an der Zeit, offensichtliche Wohlstandskonflikte und berechtigte Wohlstandssorgen in der Mitte der Gesellschaft als Herausforderung unserer Demokratie und unseres Rechtsstaats aufzugreifen. An Konflikten und Differenzen kann eine demokratische Gesellschaft zugrunde gehen. Sie kann aber auch an ihnen wachsen. Hierfür muss sie freilich neue institutionelle Antworten auf Konflikte finden. Insofern ist die Frage nach dem Zusammenhang von staatlichem und sozialem Strukturwandel keineswegs nur eine akademische oder sozialstrukturanalytische. In dieser Frage bündeln sich auch die Zukunftschancen rechts- und sozialstaatlicher Institutionen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten etablieren konnten. Die Mitte und ihr Staat – aus diesem Verhältnis müssen neue konfliktregulierende Institutionen entstehen, die den Provokationen des gesellschaftlichen Wandels – Demographie und Migration, Digitalisierung und Prekarität, Gemeinwohl und Privatisierung – eine Form geben, die soziale Sicherheit und bürgerschaftliche Rechte auch in Zukunft ermöglicht. Die Mitte und ihr Staat – das ist auch eine Frage nach der Zukunft des Öffentlichen: des öffentlichen Dienstes und der öffentlichen Güter, der Daseinsvorsorge und des Gemeinwohls. An dieser Schnittstelle im Verhältnis von Staat und Gesellschaft werden Fragen der Solidarität und der Subsidiarität verhandelt, mithin Qualitätsfragen des sozialen Ganzen.

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Vermessungen der Mitte

Deutschlands Mittelschicht in Abstiegsangst? Eine Betrachtung aus ökonomischer Perspektive Judith Niehues

Als Stabilitätsanker zwischen Arm und Reich wird die Mittelschicht häufig als Gradmesser für den gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhalt gesehen. Meldungen, denen zufolge sie immer weiter zulasten der Ränder ausdünnt, werden daher als besorgniserregend empfunden. Doch auch wenn in der politischen und medialen Öffentlichkeit vielfach die sogenannte Mittelschicht zitiert wird, handelt es sich dabei weder um einen selbsterklärenden Begriff, noch gibt es eine verbindliche Abgrenzung oder Definition dieser Schicht. Auch in der Bewertung der ökonomischen und sozialen Entwicklung der Mittelschicht kommen Studien keineswegs zu einheitlichen Befunden: Einige Studien stellen ein Schrumpfen der Mittelschicht fest (Grabka et al. 2016; Horn et al. 2017), andere wiederum konstatieren eine auch längerfristig sehr stabile Entwicklung (BMAS 2017; Niehues 2017). Neben der anhaltenden Diskussion, ob die ökonomisch definierte Mittelschicht nun langfristig schrumpft oder nicht, rückt zunehmend auch deren gefühlte Situation ins Zentrum der Debatten. Gesellschaftliche Veränderungen wie die zunehmende Modernisierung und Individualisierung, Einflüsse der Globalisierung und Prozesse der Digitalisierung – all dies kann zu einer wachsenden Verunsicherung der Gesellschaft führen. Für die Mittelschicht, die stets bestrebt ist, mindestens den sozialen Status zu bewahren und ihn nach Möglichkeit zu verbessern, gilt dies in besonderer Weise. Insbesondere seit den Hartz-Reformen – mit der Umstellung der unbefristeten Arbeitslosenhilfe zum temporären Arbeitslosengeld I – befürchten Mittelschichtsangehörige einen unmittelbaren Abstieg ins Bodenlose. Die offenbar ›zunehmenden Abstiegsängste der Mitte‹ sind zentraler Bestandteil der medialen Berichterstattung geworden. Der vorliegende Beitrag befasst sich zunächst mit unterschiedlichen Abgrenzungsmöglichkeiten der Mittelschicht und stellt anschließend die in diesem Beitrag verwendete Mittelschichtsdefinition vor. Eine Analyse im Zeitablauf gibt Aufschluss darüber, warum Studien auch bei ähnlicher Abgrenzung

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Judith Niehues

und gleicher Datengrundlage durchaus zu unterschiedlichen Bewertungen bezüglich der zeitlichen Entwicklung der Mittelschicht kommen können. Schließlich wird die ökonomische Abgrenzung und Entwicklung mit der gefühlten Situation einzelner gesellschaftlicher Schichten verglichen. Lässt sich tatsächlich eine zunehmende Verunsicherung in der Gesellschaft und insbesondere in der Mittelschicht beobachten?

D efinitionsvielfalt bei der A bgrenzung der M it telschicht Trotz der häufigen Verwendung des Begriffes gibt es keineswegs eine einheitliche oder allgemeingültige Definition der sogenannten Mittelschicht. Vielmehr lässt sie sich über unterschiedliche Dimensionen wie beispielsweise finanzielle, soziokulturelle oder auch subjektive und wertorientierte Merkmale beschreiben. Die meisten ökonomischen Studien stellen eine rein einkommensbezogene Abgrenzung in den Vordergrund; in den Sozialwissenschaften hingegen dominieren soziodemographische Kriterien wie Bildung, Erwerbstätigkeit – oder auch Wertvorstellungen. Eine Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Schichtungsmodelle ist die Abbildung vertikaler sozioökonomischer Statusvariablen wie beispielsweise Bildung, Beruf und Einkommen. Sogenannte Milieus bilden darüber hinaus in einer zweiten Dimension gemeinsame Lebensweisen und Wertvorstellungen ab. Durch die Kombination von sozialem Status und Grundorientierungen lassen sich relativ homogene soziale Gruppen definieren, die ähnliche Lebensbedingungen, lebensweltliche Vorstellungen und eine gemeinsame Identität aufweisen. Da sich die Gesellschaft im Laufe der Zeit wandelt, verändern sich allerdings auch die sozialen Milieus. Sie werden zunehmend komplexer, um der zunehmenden Individualisierung und Heterogenität der Gesellschaft gerecht zu werden. Bestanden die in Deutschland häufig verwendeten SinusMilieus in den 1980er Jahren beispielsweise noch aus acht Gruppen, sind es gegenwärtig zehn soziale Milieus (Sinus 2017), die kontinuierlich aktualisiert werden. Auch bei einer bildungs- und berufsorientierten Definition der Mittelschicht verändern sich die Abgrenzungsmerkmale. Früher verlief die Grenze zwischen Unter- und Mittelschicht an der sogenannten ›Kragenlinie‹: Da gab es zum einen die körperlich tätigen Arbeiter und zum anderen die – meist besser bezahlten – Angestellten, die ihren Aufgaben in aller Regel mit Schlips und Kragen in einem Büro nachgingen. Im Englischen unterscheidet man noch heute zwischen ›Blue-Collar-‹ und ›White-Collar Jobs‹. In Deutschland wurde die Trennung mit der Schaffung einer einheitlichen Tarifstruktur im Jahr 2003 und der Abschaffung der formellen Unterscheidung in der Renten-

Deutschlands Mittelschicht in Abstiegsangst?

versicherung im Jahr 2005 zunehmend obsolet. Anstelle der Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten werden daher vielfach Bildung und Qualifikation herangezogen, um den gesellschaftlichen Status zu bestimmen. Als Mindestanforderung für die Zugehörigkeit zur Mittelschicht gilt beispielsweise häufig ein Realschulabschluss mit anschließender Berufsausbildung (siehe beispielsweise Müller/Werding 2007: 26). Andere Autoren setzen für die Mittelschichtszugehörigkeit bereits einen höheren oder hohen Schulabschluss in Form einer Hochschulzugangsberechtigung voraus (Nolte/Hilpert 2007: 32). Angesichts der politisch gewollten Höherqualifikation und Bildungsexpansion ist es aber gut möglich, dass auf mittlere Sicht ein Studium oder vergleichbare Qualifikationen erforderlich sind, um zur Mitte zu zählen. Da sich die gesellschaftlichen Strukturen im stetigen Wandel befinden, ist für eine konsistente Analyse der Mittelschicht jedoch eine vereinfachende Strukturierung der Gesellschaft erforderlich. Hierfür bietet sich eine Abgrenzung über das Einkommen an, da es ein zentrales Statusmerkmal darstellt, das für Lebenschancen prägend ist und in dem sich viele soziokulturelle Merkmale wie Bildung und Erwerbsstatus niederschlagen. Für die Festlegung und Begründung der Einkommensgrenzen zwischen den einzelnen Schichten ist es allerdings hilfreich, zuvor zu analysieren, welche Einkommensbereiche Haushalte mit mittelschichtstypischen Bildungsniveaus und Berufen vorwiegend besetzen.

V on der soziokulturellen zur ökonomischen A bgrenzun g In einkommensbasierten Mittelschichtsanalysen werden die Grenzen zwischen den einzelnen Schichten meist in Relation zum sogenannten Medianeinkommen definiert. Dieses ist das Einkommen, welches die Bevölkerung in zwei gleich große Hälften teilt: Eine Hälfte hat ein höheres Einkommen, die andere Hälfte ein geringeres als das mittlere (Median-)Einkommen. Wo genau aber die Grenzen zwischen unterer und mittlerer sowie mittlerer und oberer Einkommensschicht verlaufen sollen, ist allein mit dem Merkmal Einkommen nicht eindeutig bestimmbar. Mit Hilfe einer mehrdimensionalen Betrachtung lassen sich jedoch sinnvolle Einkommensgrenzen begründen. Daher werden die Einkommensgrenzen der Mittelschichtsdefinition des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW) in einem zweistufigen Verfahren bestimmt. Aufbauend auf der sozialwissenschaftlichen Literatur wird zunächst eine Eingruppierung der Haushalte in unterschiedliche soziokulturelle Schichten erarbeitet. In einem zweiten Schritt wird untersucht, welche Einkommensbereiche die soziokulturellen Schichten vorwiegend besetzen. Wie in der zugrundeliegenden Literatur richtet sich die Einteilung überwiegend nach den

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Kriterien Bildung und Erwerbstätigkeit (für eine ausführliche Übersicht siehe Niehues et al. 2013: 10): • Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur soziokulturellen Mittelschicht ist ein Berufsabschluss. Der berufliche Rahmen für die Mitte ist weit gefasst – er reicht vom Facharbeiter bis zum Gymnasiallehrer, und zwar unabhängig davon, ob diese Berufe als Arbeiter, Angestellter, als Beamter oder Selbstständiger (mit höchstens neun Mitarbeitern) ausgeübt werden. • In Abgrenzung dazu soll zur unteren Schicht zählen, wer keinen Berufsabschluss vorweisen kann und dabei keine hochqualifizierte Tätigkeit ausübt, oder wer als un- oder angelernter Arbeitnehmer tätig ist. Angenommen wird, dass es sich hierbei um Routinetätigkeiten mit geringer Dispositionsfreiheit handelt. • In die gesellschaftliche Oberschicht werden dagegen Selbstständige, Angestellte und Beamte mit mindestens 15 Ausbildungsjahren in leitender oder wissenschaftlicher Tätigkeit oder auch – sofern sie Mitarbeiter haben – in einem technischen Beruf eingeordnet. Die Trennlinie zwischen Mittel- und Oberschicht in der soziokulturellen Einteilung verläuft demnach zum Beispiel zwischen Gymnasiallehrern und Hochschulprofessoren. Arbeitnehmer werden der Oberschicht zugeordnet, wenn sie hochqualifiziert sind und ihnen weitreichende Führungsaufgaben obliegen. Zwischen Arbeitern und Angestellten wird bewusst nicht differenziert: Ein Facharbeiter wird zur Mittelschicht gezählt, während einfache Büroangestellte der unteren soziokulturellen Gesellschaftsschicht zugeordnet werden. Um dem Kriterium Rechnung zu tragen, dass ein Mitglied der soziokulturellen Mittelschicht sein Leben selbstständig führt und nicht dauerhaft von staatlichen Leistungen abhängig ist, werden Haushalte, die überwiegend von Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld II leben, der unteren Schicht zugeordnet. Haushalte, die nicht mehr erwerbstätig sind, werden gemäß ihrem überwiegenden ehemaligen Erwerbsstatus eingeordnet und nur bei beträchtlichen Privatrenten oder Vermögenseinkommen als Angehörige der Oberschicht klassifiziert. Wenig überraschend verbleibt ein nennenswerter Teil – insbesondere Nichterwerbstätige – in diesem Abgrenzungsschema ohne gesellschaftliche Zuordnung. Dies wird bewusst zugelassen, weil typische Gesellschaftsbilder von einer Unter-, Mittel- und Oberschicht gezeichnet werden sollen. Auf der Grundlage dieser Abgrenzungen zählt rund die Hälfte der Bevölkerung zur soziokulturell definierten Mitte, ein knappes Fünftel wird der unteren Gesellschaftsschicht zugeordnet, und sieben Prozent gelten als Oberschichtsangehörige. Knapp 30 Prozent der Bevölkerung bleiben ohne Einordnung. In einem zweiten Schritt wird analysiert, über welche Einkommen diese soziokulturellen Gruppen verfügen beziehungsweise in welchen Bereichen

Deutschlands Mittelschicht in Abstiegsangst?

der Einkommensverteilung sie typischerweise vertreten sind. Die Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zeigen, dass die nach soziokulturellen Kriterien abgegrenzte Mitte in einem Einkommensbereich von ungefähr 80 bis 150 Prozent des Medianeinkommens überdurchschnittlich stark vertreten ist – in diesem Bereich übersteigt der relative Anteil der Mittelschichtshaushalte die relativen Anteile der unteren und oberen soziokulturellen Schichten. Mit Blick auf die absolute Anzahl dominiert die soziokulturelle Mitte sogar den Einkommensbereich von 60 bis 250 Prozent des Medians – sie ist hier die am häufigsten anzutreffende soziokulturelle Schicht (vgl. Niehues et al. 2013). Zur Veranschaulichung der Abgrenzung: Etwa jeder siebte Gymnasiallehrerhaushalt verfügt über ein Einkommen zwischen 200 und 250 Prozent des Medianeinkommens und würde gemäß der amtlichen Statistik bereits zu den relativ Einkommensreichen gehören. Entsprechend der zugrundeliegenden soziokulturellen Abgrenzung ist die relativ kleine Gruppe der soziokulturellen Oberschicht allerdings erst ab einem Einkommen von 250 Prozent des Medianeinkommens die absolut am häufigsten vertretene Gruppe. Spiegelbildlich dominiert die soziokulturell untere Schicht nur unterhalb der Grenze von 60 Prozent des Medianeinkommens, also in dem Bereich, der konventionell als relative Einkommensarmut definiert ist. Aus der Verteilung der soziokulturellen Mitte ergibt sich eine einkommensbasierte Abgrenzung, die die Gesellschaft nicht in Arme, Mittelschicht und Reiche, sondern in fünf Gruppen teilt: den armutsgefährdeten Bereich (unter 60 Prozent des Medianeinkommens), die einkommensschwache oder ›untere‹ Mitte (60 bis unter 80 Prozent des Medianeinkommens), die Mitte im engen Sinne (80 bis unter 150 Prozent des Medianeinkommens), die einkommensstarke oder ›obere‹ Mitte (150 bis unter 250 Prozent des Medianeinkommens) und die Einkommensreichen (ab 250 Prozent des Medianeinkommens). Neben der zusätzlichen sozialen Differenzierung hat die Verwendung von fünf anstatt drei Schichten den Vorteil, dass die weite Abgrenzung von 60 bis 250 Prozent eine Art Obergrenze für die Breite der Mittelschicht bildet, während die enge Definition von 80 bis 150 Prozent eine Art Untergrenze der häufig in der Literatur verwendeten Einkommensgrenzen darstellt.

H aushaltsspezifische E inkommensgrenzen und G rösse der M it telschicht Was bedeuten diese Relationen für die Einteilung unterschiedlicher Haushaltstypen in die verschiedenen Einkommensschichten? Zunächst ist es wichtig, festzuhalten, auf welchen Einkommensbegriff sich die Kategorisierung als Mittelschicht bezieht. Konventionell wird hierfür das Nettoeinkommen eines Haushalts nach Abzug von Steuern und Sozialbeiträgen sowie zuzüglich staat-

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licher Renten und sozialer Transferleistungen zugrunde gelegt. Neben Arbeitseinkommen werden ebenfalls sämtliche Kapital- und Vermögenseinkommen berücksichtigt sowie die Nettomietvorteile aus selbstgenutztem Wohneigentum. Für die hier vorgestellte Schichtzuordnung müssen somit neben dem Bruttojahresgehalt beispielsweise auch das Kindergeld und unregelmäßige Einkommenszuflüsse berücksichtigt werden. In den häufig verwendeten Daten des SOEP werden diese Einnahmen über mehrere Fragebogenseiten detailliert abgefragt, in der Analyse für alle Haushaltsmitglieder über das gesamte Jahr addiert und schließlich wieder auf Monatsbasis den einzelnen Haushaltsmitgliedern zugeordnet. Um Einspareffekte gemeinsamen Wirtschaftens in Mehrpersonenhaushalten zu berücksichtigen, wird hierbei eine sogenannte Bedarfsgewichtung verwendet. Diese folgt der Idee, dass beispielsweise ein Paarhaushalt nicht über das doppelte Einkommen, sondern nur über das 1,5-fache eines Alleinstehenden verfügen muss, um einen vergleichbaren Lebensstandard zu erreichen. Der erste Erwachsene im Haushalt geht mit einem Gewicht von 1 in die Betrachtung, jedes weitere Haushaltsmitglied ab 14 Jahre mit dem Gewicht 0,5 und Kinder unter 14 Jahren gehen mit dem Gewicht 0,3 ein. Dieses Gewichtungsschema folgt der sogenannten modifizierten OECD-Skala und wird üblicherweise in allen amtlichen Verteilungsstatistiken wie beispielsweise bei der Berechnung der Armutsgefährdungsquoten für den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung verwendet (BMAS 2017). Auf Basis der aktuell verfügbaren SOEP-Welle 2015 beträgt das bedarfsgewichtete Medianeinkommen 1.758 Euro netto im Monat. Bedarfsgewichtet bedeutet hier, dass dieser Wert für einen Alleinstehenden gilt. Aus diesem Wert lassen sich nun die einkommensbasierten Schichtgrenzen für alle Haushaltstypen ermitteln. Verfügt ein Alleinstehender beispielsweise über weniger als rund 1.050 Euro, gilt er als relativ einkommensarm, da sein Einkommen unterhalb von 60 Prozent des bedarfsgewichteten Medianeinkommens der Gesellschaft liegt. Für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren wird dieser Wert mit dem Bedarfsgewicht von 2,1 multipliziert, um die haushaltsspezifische Armutsgefährdungsschwelle von 2.220 Euro monatlichem Haushaltsnettoeinkommen zu berechnen. Oberhalb dieses Haushaltseinkommens würde sich die Familie mit zwei Kindern in die einkommensschwache oder ›untere Mitte‹ einordnen. Zur Mittelschicht im engeren Sinne zählt ein Alleinstehender, wenn er über ein monatliches Nettoeinkommen zwischen 1.410 und 1.050 Euro verfügt, ein Paar ohne Kinder mit einem Haushaltsnettoeinkommen von 2.110 bis 3.960 Euro und die Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren ab knapp 2.950 bis 5.540 Euro Haushaltseinkommen. Oberhalb dieser Haushaltseinkommen beginnt die ›obere Mittelschicht‹ und folglich die Gruppe der Wohlhabenden. Zu den Einkommensreichen gehört ein Alleinstehen-

Deutschlands Mittelschicht in Abstiegsangst?

der aktuell mit einem monatlichen Nettoeinkommen von 4.400 Euro (für eine vollständige Übersicht siehe Niehues 2017: Tabelle 1). Teilt man die gesamte Bevölkerung gemäß ihren haushaltsspezifischen Abgrenzungen in die genannten Einkommensschichten ein, gehört derzeit knapp die Hälfte der Bevölkerung zur Mittelschicht im engeren Sinne – sie entspricht in ihrer Größe somit etwa der zuvor definierten soziokulturellen Mittelschicht. Darüber hinaus zählen jeweils rund 16 Prozent zu der ›unteren Mitte‹ beziehungsweise zu der ›oberen Mitte‹. In der erweiterten Abgrenzung gehören demnach 81 Prozent der Bevölkerung zur einkommensbasierten Mittelschicht. Allerdings gilt es zu betonen, dass ohne weiteren Zusatz bei ›Mittelschicht‹ immer die Mitte im engeren Sinne gemeint ist und auf die einkommensschwache und einkommensstarke Mittelschicht jeweils separat verwiesen wird. Die Größenordnung der erweiterten Mittelschicht liegt im vergleichbaren Rahmen wie die Berechnung der Mittelschicht im Fünften Armuts- und Reichtumsbericht (BMAS 2017). Dieser definiert die Einkommensmitte über die Grenze zur Armutsgefährdung (60 Prozent des Medianeinkommens) und die Grenze zum relativen Reichtum (200 Prozent des Medians) – nach dieser Abgrenzung gehören derzeit knapp 76 Prozent der Bevölkerung zur Einkommensmittelschicht. Häufig wird in Deutschland auf die Einkommensabgrenzung der Mittelschichtsstudien des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) zurückgegriffen, die von 70 bis 150 Prozent des bedarfsgewichteten Nettoeinkommens reicht (unter anderem Burkhardt et al. 2013; Horn et al. 2017). Dieser so definierten Einkommensmittelschicht gehören aktuell rund 56 Prozent der Bevölkerung an – und damit ein etwas größerer Bevölkerungsanteil als die in diesem Beitrag verwendete eng definierte Mittelschicht.

E nt wicklung der ökonomischen M it telschicht Als Rückgrat des sozialen Zusammenhalts kommt der Frage einer im Zeitablauf möglicherweise erodierenden (Einkommens-)Mittelschicht eine besondere Bedeutung zu. Ein naheliegender Startpunkt für die Analyse der Entwicklung der Mittelschicht ist 1991, da die Wiedervereinigung eine markante strukturelle Zäsur darstellt und ab diesem Zeitpunkt SOEP-Einkommensdaten für Gesamtdeutschland verfügbar sind. Seither lässt sich die Entwicklung der Mittelschicht in drei Phasen einteilen (Abbildung 1). Im Zuge des ostdeutschen Aufholprozesses vergrößerte sich der Anteil der Mitte im engeren Sinne (80 bis unter 150 Prozent des Medianeinkommens) zunächst bis zu ihrem Maximalwert in 1997 von 50,5 auf 54,8 Prozent. Bis 2005 ist ihr Anteil dann auf 49,7 Prozent zurückgegangen. Gleichzeitig ist der Anteil der Armutsge-

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fährdeten sowie der relativ Einkommensreichen gestiegen. Die schrumpfende Mittelschicht geht spiegelbildlich mit einem Anstieg der Ungleichheit einher: Der Gini-Koeffizient der Nettoeinkommen, der als Maß zur Quantifizierung der relativen Konzentration einer Einkommensverteilung dient, stieg im selben Zeitraum von 0,250 auf 0,289. Abbildung 1: Entwicklung der Einkommensschichten. Anteil der jeweiligen Einkommensgruppe an der Gesamtbevölkerung in Prozent 2.3

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A rm

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untere Mitte

Mitte i.e.S .

obere Mitte

15.3

R eich

2013*, 2014*: Schätzung ohne die SOEP-Migrationsstichprobe des Jahres 2013 (anschließende Anpassung der bisherigen Stichprobe an die Bevölkerungsstruktur laut Mikrozensus). Quelle: Niehues (2017) auf Basis SOEP v32.

Bei dem Rückgang der Mittelschicht handelt es sich aber keineswegs um einen kontinuierlichen Prozess. Seit mittlerweile einem Jahrzehnt hat sich das Schichtgefüge nur noch unwesentlich verändert: Der Bevölkerungsanteil der Mitte im engeren Sinne des Jahres 2014 liegt im 95-Prozent-Konfidenzintervall des Werts von 2005; deren Größe hat sich somit nicht statistisch signifikant verändert. Des Weiteren ist anzumerken, dass insbesondere der erkennbare Rückgang der Mittelschicht zwischen 2012 und 2013 weitgehend auf eine zusätzliche Migrationsstichprobe zurückzuführen ist, deren Befragte vorwiegend im unteren Einkommensbereich verortet sind (siehe auch Goebel et al. 2015: 582f.). Zusätzliche Migrationsstichproben sind notwendig, um die im Zeitverlauf im Panel naturgemäß unterrepräsentierte Zuwanderung besser abzubilden. Allerdings ist der Großteil der Neubefragten dieser Migrationsstichprobe bereits vor 2005 nach Deutschland immigriert – im Niveau dürfte die Ungleichheit vor 2005 demzufolge unterschätzt gewesen sein, der struktu-

Deutschlands Mittelschicht in Abstiegsangst?

relle Effekt auf die Einkommensverteilung am aktuellen Rand ist jedoch mit einem Fragezeichen zu versehen. Allerdings zeigt sich im Jahr 2014 auch ohne Berücksichtigung der Migrationsstichprobe ein erkennbarer Anstieg der Armutsgefährdungsquote, der sich mit dem Anstieg der relativen Einkommensarmut im Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes deckt. Berechnungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) auf Basis des Mikrozensus deuten darauf hin, dass dieser Anstieg der Armutsgefährdung ab dem Jahr 2011 stark mit der gestiegenen Zuwanderung und Flüchtlingsmigration zusammenhängt (Seils/Höhne 2017). Auch der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung dokumentiert eine stabile Entwicklung der mittleren Einkommensschicht ab 2005 – wenn auch bei einer wesentlich großzügigeren Abgrenzung der Mittelschicht (BMAS 2017: 75). Mit Blick auf die zentrale Frage der Entwicklung der Mittelschicht zeigt sich demnach, dass es weniger auf unterschiedliche Einkommensgrenzen ankommt, sondern wesentlich darauf, welcher Betrachtungszeitraum in den Vordergrund gestellt wird.

R ezep tion der verwende ten M it telschichtsgrenzen Die zuvor ermittelten Einkommensgrenzen bieten eine einfache und eindeutige Zuordnung aller Haushalte in unterschiedliche Einkommensschichten. Inwiefern passen diese Grenzen zum öffentlichen Bild der Schichten, inwiefern zu der eigenen Wahrnehmung der Haushalte? Zunächst einmal gelten für ein relatives Mittelschichtskonzept ähnliche Einschränkungen wie für das konventionell verwendete Konzept der relativen Einkommensarmut. Ein häufig diskutierter Punkt ist beispielsweise, dass in der Betrachtung unterschiedliche regionale Preisniveaus unberücksichtigt bleiben – 1.000 Euro in einer dörflichen Gegend gehen mit einer anderen Kaufkraft einher als 1.000 Euro in München oder anderen Städten, die durch teuren Wohnraum und höhere Lebenshaltungskosten gekennzeichnet sind. Mit anderen Worten: Für teure Regionen dürften die Einkommensgrenzen tendenziell zu niedrig liegen – für günstigere Regionen allerdings ebenso zu hoch. Es handelt sich um einen Durchschnittswert für Deutschland und auch bei einer regionalen Preisbereinigung würde sich die durchschnittliche Größe der einzelnen Schichten für Gesamtdeutschland nicht verändern. Das zeigt sich beispielsweise auch bei einer preisbereinigten relativen Einkommensarmut – die Gefährdungsquoten ändern sich zwar zwischen den Regionen, die Höhe der Gesamtquote ändert sich aber nahezu nicht (Röhl/Schröder 2017). Mit Blick auf die Diskussion, ob das Konzept der Armutsgefährdung tatsächlich Armut im Sinne materieller Deprivation beschreibt, oder ob es nicht auch viele Personen umfasst, die nicht als bedürftig im eigentlichen Sinne

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gelten (Studenten, Auszubildende), dürfte die Grenze zur unteren Schicht tendenziell eher eine obere Grenze darstellen. Kennzahlen materieller Entbehrung oder auch Quoten der Grundsicherungsleistungsbezieher liegen deutlich unterhalb der knapp 16 Prozent der Bevölkerung, die als relativ einkommensarm gelten. Die zusätzliche Definition einer unteren, einkommensschwachen Mittelschicht berücksichtigt darüber hinaus, dass auch oberhalb der Armutsgefährdungsschwelle viele Haushalte in einer angespannten Einkommenssituation leben – und (noch) nicht die wirtschaftliche Sicherheit der Mittelschicht im engeren Sinne erreichen. Es zeigt sich tatsächlich, dass es deutlich mehr Bewegungen von der unteren Mitte in den Bereich der Armutsgefährdung als Abstiege von der Mitte im engeren Sinne in die relative Einkommensarmut gibt (Niehues 2016b). Weitere Analysen verdeutlichen, dass viele der aus der Mitte im engeren Sinne abgestiegenen Haushalte in vergleichsweise kurzer Zeit wieder in höhere Einkommensschichten aufsteigen können. Das Erreichen der Mittelschicht geht durchaus mit einer beachtlichen wirtschaftlichen Sicherheit einher. Deutlich kritischer zu sehen ist die Verharrungstendenz im unteren Einkommensbereich: Die Chance, aus dem unteren Einkommensbereich in die Mitte aufzusteigen, hat sich gegenüber den 1990er Jahren sogar noch leicht verringert (Schäfer/Schmidt 2017). In Bezug auf die Grenzen zu den oberen Schichten gibt es sehr häufig auch persönliche Rückmeldungen. Insbesondere in akademisch geprägten Diskussionsrunden fällt schnell der Satz »das kann ja gar nicht sein, dann gehören wir ja alle mindestens zur oberen Mittelschicht«. Eine mögliche Einordnung in die Gruppe der (Einkommens-)Reichen ruft oftmals Abwehrreaktionen hervor. Ein Argument ist beispielsweise, ob man nicht auch substantielles Vermögen zur Verfügung haben müsse, um zu den wirklich Reichen zu gehören. Bei diesem Einwand ist allerdings zu berücksichtigen, dass durch die zusätzliche Betrachtung substantieller Vermögen die Gruppengröße der Reichen weiter sinken würde, die bereits jetzt nur vier Prozent der Bevölkerung ausmacht. Natürlich gehen sehr hohe Einkommen und sehr hohe Vermögen häufig Hand in Hand, junge Akademikerhaushalte mit sehr hohen Einkommen (jedoch noch ohne Vermögen) würden dann allerdings nicht mehr den Reichen zugerechnet. Dies spricht auch gegen eine alleinige Schichtabgrenzung nach der Vermögenshöhe, da einkommensstarke Haushalte ohne nennenswerte Vermögen so fälschlicherweise der Unterschicht zugeordnet würden. Höhere Vermögen sorgen darüber hinaus auch bei einer rein einkommensbasierten Betrachtung für eine Zuordnung in höhere Schichten, da Vermögenseinkommen, Mieteinnahmen und der Einkommensvorteil aus selbstgenutztem Wohneigentum als Einkommensbestandteile berücksichtigt werden. Grundsätzlich können die oben erläuterten fünf Einkommensgruppen sicherlich nicht die Komplexität der subjektiv empfundenen unterschiedlichen Schichtzugehörigkeiten abbilden oder die (gewünschte) Heterogenität mehr-

Deutschlands Mittelschicht in Abstiegsangst?

dimensionaler Konzepte erreichen. Mit Blick auf die Gruppengrößen der vertikalen Statuseinteilung und dem häufigen Kritikpunkt, die Mittelschicht sei womöglich künstlich groß gerechnet, bleibt allerdings festzuhalten, dass diese nicht völlig willkürlich variiert werden können: Die Einkommensmittelschicht sollte sich dem Namen nach um das mittlere und damit das typische Einkommen einer Gesellschaft konzentrieren. Dass die Einkommensmittelschicht die größte Bevölkerungsgruppe darstellt, ergibt sich nicht aus der Festlegung der üblichen Einkommensgrenzen, sondern aus dem Umstand, dass es besonders viele Haushalte in der Nähe des Medianeinkommens gibt, weniger Haushalte im unteren Einkommensbereich und eine lang gestreckte Verteilung einkommensreicher Haushalte. Mit dieser für etablierte Wohlfahrtsstaaten typischen zwiebelförmigen Einkommensstruktur unterscheidet sich die aktuelle Verteilung »grundsätzlich von der anderer Gesellschaftstypen, insbesondere von der pyramidenförmigen Verteilungsstruktur früherer Epochen« (Burkhardt et al. 2013: 17).

S ubjek tive S chicht zuordnung , wirtschaf tliche S orgen und Z ukunf tsängste Im Mittelschichtsdiskurs wird häufig darauf verwiesen, dass es nicht nur um die ökonomischen Bedingungen gehen dürfe, sondern vielmehr auch die gefühlte Situation in den Fokus gestellt werden müsse. Die im zweijährigen Turnus erhobenen Daten der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) erlauben eine Analyse der sozialen Einstellungen sowie der subjektiven Schichtzugehörigkeit der deutschen Bevölkerung: Im Jahr 2016 ordneten sich 57 Prozent der Befragten in die Mittelschicht ein, zusätzliche 13 Prozent in die obere Mittelschicht. 26 Prozent fühlten sich der Arbeiterschicht zugehörig, drei Prozent der so bezeichneten »Unterschicht« und weniger als ein Prozent der Befragten der Oberschicht (Niehues 2017). Im zeitlichen Vergleich ordneten sich 2016 so wenige Befragte der Unterschicht und Arbeiterschicht zu wie zu keinem anderen Zeitpunkt seit der Wiedervereinigung. Dabei ist natürlich einschränkend festzuhalten, dass Befragte aus Sorge vor Stigmatisierung und sozialer Erwünschtheit eventuell nicht wahrheitsgemäß antworten oder Veränderungen aus der strukturellen Verschiebung zwischen Angestellten und Arbeiterberufen hervorgehen. Im ALLBUS wird ebenfalls die subjektive Schichtzuordnung in eine zehnstufige Oben-Unten-Skala abgefragt. Auch hier zeigt sich in den letzten Jahren eine immer positivere Einschätzung: 2006 kreuzten bereits 56 Prozent der Befragten auf einer Skala von eins (unterste Schicht) bis zehn (oberste Schicht) Werte über fünf an, zehn Jahre später waren es fast 79 Prozent. Im Jahr 2016 ordnete sich exakt die Hälfte der Befragten mindestens der Stufe sieben zu –

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eine derart positive Selbsteinstufung gab es seit Befragungsbeginn im Jahr 1980 nicht. Subjektiv fühlen sich somit viele Befragte höheren Gesellschaftsschichten zugehörig als noch vor zehn Jahren, sind ihrem Empfinden nach also sozial aufgestiegen (Iwd 2017). Wie sieht es mit den Sorgen in der Gesellschaft aus? Eine konkrete Frage nach den Abstiegssorgen gibt es in den regelmäßig durchgeführten Befragungen leider nicht. Allerdings gibt es im ALLBUS viele Fragen, die Informationen über die Einschätzung der wirtschaftlichen Lage, des gerechten Anteils am Lebensstandard und die Zukunftsperspektiven der Befragten erheben. Bei allen Antworten zeigt sich eine positive Entwicklung: Im Jahr 2004 stimmten noch 46 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass man es angesichts trüber Zukunftsperspektiven kaum noch verantworten könne, Kinder auf die Welt zu bringen. Im Jahr 2016 teilten diese Einschätzung nur noch 26 Prozent. Das war der niedrigste Wert seit der erstmaligen Erhebung dieser Frage im ALLBUS (1982 sagten dies rund 43 Prozent der Befragten, im Jahr 1992 beispielsweise 36 Prozent). Auch empfanden in den letzten Jahren weniger Bürger, dass sie mit Blick auf ihren Lebensstandard weniger als den gerechten, nämlich den ihnen ihrer Ansicht nach zustehenden Anteil erhalten. Gegenüber rund 20 Prozent im Jahr 2004 beurteilten 2016 nur noch etwa acht Prozent der Befragten ihre eigene wirtschaftliche Lage als »schlecht« oder »sehr schlecht«. Auch im SOEP erreichen die Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage in den jüngsten Befragungswellen die niedrigsten Werte seit der Wiedervereinigung. Der Rückgang der wirtschaftlichen Sorgen zeigt sich in allen Einkommensschichten (Niehues 2016a: 147f.). Spiegelbildlich dazu erreichte die durchschnittliche subjektive Lebenszufriedenheit 2015 einen Höchstwert seit der Wiedervereinigung (DIW 2017). Ein bekanntes Phänomen in den Sozialwissenschaften ist, dass Befragte häufig dazu tendieren, ihre eigene subjektive Situation positiver zu beurteilen, als es die allgemeinen Umstände nahelegen würden. Man spricht in diesem Zusammenhang vom »Zufriedenheits- oder auch Wohlbefindensparadox« (unter anderem Herschbach 2002). Aktuell ist es gemäß der Befragungsdaten der ALLBUS allerdings sogar so, dass der Blick auf die wirtschaftliche Lage Deutschlands positiver beurteilt wird als die eigene wirtschaftliche Situation: 2016 beurteilten nur noch sechs Prozent die wirtschaftliche Situation Deutschlands als »schlecht« oder »sehr schlecht«. Auch hier zeigen sich die positivsten Antworten seit der Wiedervereinigung. Einzig der zukunftsorientierte Blick auf die wirtschaftliche Lage Deutschlands im Folgejahr der Befragung fiel 2016 etwas pessimistischer aus als in der Befragung 2014 – hier dürften sicherlich die Herausforderungen um die Flüchtlingsmigration eine Rolle spielen; diese dürften auch den neuerlichen Anstieg der Sorgen um das Thema Zuwanderung im SOEP erklären. Für den Blick auf die zukünftige eigene wirtschaftliche Lage zeigt sich hingegen keine Verschlechterung.

Deutschlands Mittelschicht in Abstiegsangst?

Mit Blick auf subjektive Empfindungen, Sorgen und Zukunftsängste zeigen Analysen der verfügbaren Datensätze also sehr konträre Befunde gegenüber der medialen Berichterstattung, die vielfach das Bild einer zunehmend verunsicherten und von Abstiegsängsten geplagten Mittelschicht zeichnet. Die Darstellung einzelner Beispiele in medialen Berichten eignet sich allerdings nicht, ein repräsentatives Bild der gesellschaftlichen Entwicklung abzubilden. Dass es weiterhin viele Menschen und demzufolge Beispielfälle in schwierigen Lebenslagen gibt, widerspricht keineswegs den Befragungsdaten. Die acht Prozent der ALLBUS-Befragten, die ihre wirtschaftliche Lage 2016 als schlecht beurteilten, stehen für rund 6,5 Millionen Bundesbürger, die sich von der guten wirtschaftlichen Lage abgehängt fühlen. Der häufig vermittelte Eindruck, es würden sich immer mehr Menschen hierzulande subjektiv abgehängt fühlen, widerspricht allerdings der repräsentativen Datenevidenz. Ferner bedeutet die von der breiten Masse der Bevölkerung positiv beurteilte wirtschaftliche Lage keineswegs, dass es keine Sorgen in der Bevölkerung gäbe. Neben den aktuell vielfach diskutierten Sorgen der Bevölkerung um die Themen Zuwanderung und innere Sicherheit wird beispielsweise häufig darauf verwiesen, dass eine deutliche Mehrheit der Deutschen die wirtschaftlichen Verhältnisse als ungerecht empfindet. Auch im ALLBUS stimmten zuletzt mehr als 68 Prozent »eher nicht« oder »überhaupt nicht« der Aussage zu, dass die sozialen Unterschiede in Deutschland im Großen und Ganzen gerecht seien (Iwd 2017). Allerdings ist dies keineswegs ein neuer Befund. Seit der Wiedervereinigung empfanden regelmäßig mehr als zwei Drittel der Bundesbürger die wirtschaftlichen Verhältnisse als »eher ungerecht«. Im Jahr 2008 waren es sogar drei Viertel. Das Ungerechtigkeitsempfinden nimmt in der jüngeren Vergangenheit somit nicht kontinuierlich zu, sondern ist in den letzten Jahren sogar ebenfalls eher rückläufig. Gleichzeitig dürften viele Befragte bei der Beantwortung dieser Frage nach sozialer Gerechtigkeit ein zu pessimistisches Bild der Gesellschaft vor Augen haben: Beispielsweise werden der Anteil der Menschen in relativer Einkommensarmut (Gimpelson/Treisman 2015) und die Arbeitslosenquote (Bublitz 2016) häufig um bis zu zehn Prozentpunkte überschätzt. Unterschiedliche Befragungen zeigen zudem, dass die Mehrheit der Deutschen die Gesellschaft als pyramidenförmig einschätzt, mit den meisten Menschen im unteren Bereich (Niehues 2016a; Engelhardt/Wagener 2017). Wie die vorherige Analyse gezeigt hat, streiten sich Studien zwar darüber, ob die Mittelschicht stabil ist oder schrumpft – alle Studien kommen allerdings einheitlich zu dem Ergebnis, dass die Mittelschicht die größte Gruppe der Bevölkerung darstellt.

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B e wertung der E rgebnisse und A usblick Schrumpft sie oder schrumpft sie nicht – so lässt sich die zentrale Frage rund um viele Mittelschichtsstudien zusammenfassen. Dass Studien gerade in diesem Punkt zu unterschiedlichen Bewertungen kommen, überrascht nicht, denn das Ergebnis hängt entscheidend vom Betrachtungszeitraum ab. Seit der Wiedervereinigung lässt sich die Entwicklung der Mittelschicht grob in drei Phasen einteilen: Zunächst stieg der Anteil der Mittelschicht im engeren Sinne im Zuge des ostdeutschen Auf holprozesses etwas an, bevor er von seinem temporären Höchstpunkt von knapp 55 Prozent in 1997 auf rund 50 Prozent bis 2005 geschrumpft ist. Abgesehen vom Einfluss einer Veränderung der Stichprobe des SOEPs im Jahr 2013 hat sich das Schichtgefüge seither nur noch unwesentlich verändert – ein kontinuierliches Abspalten der Mittelschicht von den Rändern ist folglich nicht zu beobachten. Nach IW-Abgrenzung gehört beständig etwa jeder Zweite zur Mitte im engeren Sinne und verfügt demnach über ein Einkommen zwischen 80 und 150 Prozent des Medianeinkommens. Im Vergleich zu anderen Einkommensgrenzen wie beispielsweise des DIW Berlin (Grabka et al. 2016) oder des Armutsund Reichtumsberichts (BMAS 2017) handelt es sich um eine vergleichsweise enge Definition der Mittelschicht. Trotzdem stellt sie mit Abstand die größte Gruppe der Bevölkerung. Unabhängig von der Beurteilung der Entwicklung der Mittelschicht gilt somit: Deutschland ist eine Mittelschichtsgesellschaft. In der Wahrnehmung der Bevölkerung hält sich allerdings hartnäckig die Vorstellung einer pyramidalen Gesellschaftsstruktur – mit den meisten Menschen in unteren Gesellschaftsschichten. Repräsentative Befragungsdaten zeigen hingegen, dass sich die meisten Menschen subjektiv der Mittelschicht zugehörig fühlen. Aktuell ordnen sich viele Bundesbürger sogar einer höheren gesellschaftlichen Schicht zu als noch vor zehn Jahren. Spiegelbildlich fallen die Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage niedriger aus als zu allen Befragungszeitpunkten seit der Wiedervereinigung – und das unabhängig vom genutzten Datensatz. Die positive Entwicklung der subjektiven wirtschaftsbezogenen Einschätzungen in unterschiedlichen Befragungsdaten zeigt sich derart eindeutig, dass es umso mehr überrascht, wenn in der medialen und öffentlichen Debatte scheinbar händeringend ein gegenteiliges Bild gezeichnet wird. Die Bilder einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft haben sich mittlerweile so erfolgreich festgesetzt, dass vielfach eher die repräsentativen Daten der wissenschaftlichen Institutionen infrage gestellt werden, als dass an der Wahrnehmung einer zunehmend von Abstiegsängsten geplagten Mittelschicht gerüttelt würde.

Deutschlands Mittelschicht in Abstiegsangst?

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Statuspanik in der Mittelschicht? Aktuelle Befunde aus der Einstellungsforschung Holger Leng feld und Jessica Ordemann

Die deutsche Mittelschicht ist vom Abstieg bedroht – oder doch nicht?1 Seit den 2000er Jahren diskutieren die deutschen Massenmedien und die sozialwissenschaftliche Gemeinde diese Frage intensiv. Zugespitzt gesagt, sind sich ZEIT, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung und andere in ihrer Diagnose einig: Die Mittelschicht schrumpft beziehungsweise erodiert; ihre Mitglieder sind oder fühlen sich abstiegsbedroht und von Wohlstandsverlusten gekennzeichnet, sie werden von der öffentlichen Abgabenlast erdrückt und von den staatlichen Sozialsystemen allein gelassen. Doch nicht nur in den Medien, auch in der politischen Sphäre sind die Abstiegsängste der Bürger ein viel diskutiertes Thema. So proklamierte der Spitzenkandidat der SPD für den Bundeswahlkampf 2017, Martin Schulz: Die Abstiegsängste nähmen zu, und die Politik müsse sich der Sorgen der Menschen wieder mehr annehmen (Rövekamp 2017). Als hauptsächlicher Übeltäter für die angenommene Zunahme der Ängste in der Mittelschicht werden in vielen Debatten die wirtschaftliche Globalisierung und ihre Konsequenzen identifiziert. Galt die Mittelschicht in der früheren Bundesrepublik noch als wohlsituierte soziale Gruppe, die von der Prosperität der deutschen Wirtschaft profitierte, ist es seit Ende der 1990er Jahre auf dem Arbeitsmarkt vermehrt zur Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse gekommen. Diese flexiblen Jobs gehen durch befristete Verträge, unfreiwillige Teilzeitarbeit und erzwungene Selbstständigkeit mit höheren Unsicherheiten für Arbeitnehmer einher. Gleichzeitig deckt der Sozialstaat aus Sicht vieler Menschen diese Risiken nach den 2003 bis 2006 durchgeführten Hartz-Reformen nicht oder nicht mehr adäquat ab. Wenn zuvor vorwiegend die unteren 1 | Eine kürzere Fassung dieses Aufsatzes ist in »GWP – Gesellschaft. Wirtschaft. Politik«, Heft 3/2017, erschienen (Lengfeld/Ordemann 2017a). Der Aufsatz basiert auf Ergebnissen aus zwei Studien, die wir in den letzten Jahren zum Thema publiziert haben (Lengfeld/Hirschle 2009; Lengfeld/Ordemann 2017b), und führt diese fort.

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Schichten von den Arbeitsmarktrisiken betroffen waren, seien, so die These, nun auch die Mittelschichten diesen Risiken ausgesetzt. Insbesondere bei ihnen führt dies zu Unsicherheiten: Für Inhaber typischer Mittelschichtsberufe wie Krankenpflegerinnen, Bankangestellte und Erzieher waren stabile, langfristig planbare Karriereverläufe typisch, die nun erodieren würden. Planungssicherheit als zentraler Imperativ der Lebensgestaltung rücke immer mehr in die Vergangenheit, Abstiege aus der Mitte in die unteren Schichten nähmen zu, und die verbleibende Mittelschicht leide zunehmend unter Abstiegsängsten (Grabka et al. 2016; Mau 2012; Groh-Samberg 2017). In diesem Beitrag rücken wir die Abstiegsängste in Deutschland in den Mittelpunkt. Wir fragen, wie sich die Abstiegsängste über einen langen, 30 Jahre umfassenden Zeitraum entwickelt haben. Sind sie stetig gestiegen oder gibt es Ereignisse, wie die sogenannte Hartz-IV-Reform Anfang der 2000er Jahre und die Wirtschaftskrise 2008/2009, die die Unsicherheiten besonders verstärkt haben? Und entscheidend: Wie haben sich die Ängste der deutschen Mittelschicht entwickelt? Gibt beziehungsweise gab es dort tatsächlich einen starken Anstieg an Verunsicherung? Wenn ja: Welche Ursachen kann die empirische Forschung für die gestiegenen Ängste identifizieren? Im nächsten Abschnitt stellen wir ausschnitthaft den aktuellen Forschungsstand vor. Wir zeigen eine Einigkeit darüber auf, dass die Abstiegsängste in der Bevölkerung absolut angestiegen sind, aber unklar ist, welche Schicht von der Zunahme der Sorgen am stärksten betroffen ist. Wir führen dies auf ein zwischen den Studien variierendes konzeptionelles Verständnis von Abstiegsangst und Schichtung zurück. Sodann stellen wir unser diesbezügliches Konzept vor, das wir im dritten Abschnitt für die empirische Analyse des Verlaufs von Abstiegsangst nutzen. Dazu verwenden wir Umfragedaten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) seit 1984 jährlich erhebt. Wir analysieren die Entwicklung der Abstiegsängste anhand des Indikators der Sorge vor Verlust des Arbeitsplatzes und einem sechsstufigen Schichtungsschema für den Zeitraum von 1984 (Ostdeutschland: von 1991) bis 2014. Unsere Ergebnisse zeigen für Gesamtdeutschland, dass die Sorge vor dem Arbeitsplatzverlust seit Beginn des Globalisierungszeitraums bis 2006 in allen Schichten ansteigt. Für die mittlere Mittelschicht stellen wir einen überproportionalen Anstieg im Vergleich zu den anderen Schichten fest. Seit 2006 kehrte sich dieser Trend um; alle Schichten zeigten einen deutlichen Rückgang der Sorgen. Während dieser Entwicklung war es wiederum die mittlere Mittelschicht, die die stärksten jährlichen Änderungen (Rückgang der Sorgen) zeigte. Im vierten Abschnitt nehmen wir eine Interpretation dieser Ergebnisse vor und formulieren unsere These der mittleren Mitte als sensibles Zentrum der Gesellschaft.

Statuspanik in der Mittelschicht?

1. A bstiegsangst in D eutschl and : W as die F orschung da zu sagt Wie haben sich die Abstiegsängste in den letzten rund 25 Jahren entwickelt? Über einen Punkt ist sich die sozialwissenschaftliche Umfrageforschung einig: Von Beginn der 1990er bis Mitte der 2000er Jahre ist die Zahl der Menschen, die sich vor einem Abstieg sorgen, deutlich angestiegen: Sowohl in der unteren und in der mittleren als auch in der oberen Schicht hat sich der Anteil der Erwerbstätigen, die sich vor einem Arbeitsplatzverlust sorgen, fast verdoppelt (Böhnke 2005). Blickt man bis 1984 zurück, so kann man bis Mitte des letzten Jahrzehnts einen starken Anstieg der Sorgen in allen Schichten erkennen, darunter auch in den Mittelschichten (Lengfeld/Hirschle 2009; Burkhardt et al. 2013; Burzan et al. 2014). Obschon die umfragebasierten Studien unterschiedliche Konzepte der Messung von Schichtung und von Abstiegsangst verwenden, ist dieser Befund einhellig. In welcher Schicht die Abstiegsängste am stärksten zugenommen haben, ist in der Forschung aber umstritten. Einige Studien kommen zu dem Ergebnis, dass die wirtschaftlichen Sorgen (Geldknappheit, mangelnde Gesundheitsversorgung) der untersten Schicht im Zeitverlauf am stärksten angestiegen sind (Burkhardt et al. 2013; Burzan et al. 2014; Schöneck et al. 2011). Andere zeigen, dass der Anteil der Personen, die sich vor Altersarmut sorgen, in der mittleren Mitte genauso hoch ist wie in der unteren Einkommensschicht (Schöneck et al. 2011: 7, 9).2 Wiederum andere legen dar, dass der Anteil der Personen, die sich vor Arbeitsplatzverlust sorgen, zwischen Mitte der 1980er und Mitte der 2000er Jahre in der mittleren Mittelschicht am stärksten angewachsen ist (Lengfeld/Hirschle 2009). Als mittlere Mittelschicht definieren Lengfeld und Hirschle beruflich qualifizierte, gut ausgebildete Angestellte ohne akademischen Abschluss, die überwiegend Routinetätigkeiten ohne Leitungsbefugnis ausüben. Während sich die Studien also über den absoluten Anstieg der Sorgen in der Mittelschicht einig sind, herrscht Dissens darüber, ob deren Verunsicherung im Verhältnis zu den anderen Schichten besonders stark angestiegen ist. Diese Unterscheidung klingt nebensächlich, sie ist es aber nicht. Denn würde sich die Sorge vor Abstieg in der Mitte im Zeitverlauf nur absolut, aber nicht relativ ändern, dann würde es sich zwar um ein Ereignis handeln, das auch in der Mittelschicht beobachtbar ist, aber um kein mittelschichtsspezifisches Phänomen. Diese Sorge würde lediglich die vermuteten Folgen der Globalisierung spiegeln, die sich im emotionalen Haushalt aller Schichten gleichermaßen auswirkt. In diesem Fall müsste man sich aus Sicht von Politik, Öffent2 | Diese »mittlere Mitte« definieren diese Autoren als jene statistische Gruppe, die über 90 bis 110 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens (Median) verfügt.

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lichkeit und Wissenschaft um die Mittelschicht nicht mehr Sorgen machen als um die Angehörigen anderer Schichten. Die Uneinigkeit in der Forschung besteht im Kern darüber, was theoretisch unter einer Schicht zu verstehen ist: Was konstituiert gesellschaftliche Schichtung, und wie misst man diese? Dazu kommt, dass die Studien unterschiedliche Indikatoren verwenden, um Abstiegsangst zu messen. Manchmal ist es die Sorge vor Arbeitsplatzverlust, in anderen Fällen die Sorge um die allgemeine oder die eigene wirtschaftliche Zukunft, aber auch spezifischere Indikatoren, wie etwa die Angst vor mangelnder Gesundheitsversorgung im Krankheitsfall. In einigen Studien wird die Wahl dieser Indikatoren theoretisch kaum oder nicht ausreichend begründet. Dies ist problematisch, weil sich daraus ganz unterschiedliche empirische Befunde ergeben können. Daher wollen wir im Folgenden unser Konzept von Abstiegsangst und Schichtung darlegen. a. Abstiegsangst: Abstiegsangst ist kein theoretisch gehaltvoller Begriff, sondern kommt aus der Alltagssprache. Damit nicht jeder etwas Anderes darunter versteht, muss er definiert werden. Der Begriff »Abstieg« bezieht sich auf eine Bewegung im sozialen Raum, nämlich die der Abwärtsmobilität von einer höher wertgeschätzten Position hin zu einer geringer wertgeschätzten Position. Diese Abwärtsmobilität geht oftmals mit erheblichen Einbußen an materiellen Gütern einher. Hiervor, das sagt der Begriff »Angst«, fürchtet man sich. Nun sind allgemein wertgeschätzte Positionen in einer Erwerbsgesellschaft und die damit verbundenen materiellen Güterzuflüsse eng an die ausgeübte Erwerbstätigkeit geknüpft. Daher gehen wir davon aus, dass Personen dann vor einem sozialen Abstieg Angst haben, wenn sie in näherer Zukunft fürchten müssen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Ohne Arbeit ist der gewohnte Lebensstandard nicht zu halten, soziale Kontakte gehen verloren, und viele Betroffene schämen sich, im Beruf versagt zu haben (Diewald 2003; Neckel 1991). Abstiegsangst bedeutet aus unserer Sicht daher, sich Sorgen um die Sicherheit des eigenen Arbeitsplatzes zu machen. b. Schichtung: Es gibt verschiedene theoretische Konzepte der Einteilung der Gesellschaft in soziale Schichten (siehe etwa Groß 2015). Wir bestimmen Schichtung über die berufliche Position der Erwerbstätigen beziehungsweise ihrer Lebenspartner (Lengfeld/Ordemann 2017b). Dazu greifen wir auf ein in der Soziologie gängiges Erwerbsklassenschema zurück. Dieses teilt die beruflichen Positionen der Erwerbshierarchie in sieben Klassen3 auf (Erikson/Gold-

3 | Wir verwenden die Begriffe »Klasse« und »Schicht« in diesem konkreten Fall synonym. Obschon Erikson und Goldthorpe (1992) von »Class« sprechen, lässt ihre theoretische Herleitung erkennen, dass es sich um den Begriff »Schicht« im Sinne der deutschen Semantik einer sozialstatistischen Großgruppe handelt (siehe Näheres bei Lengfeld/ Ordemann 2017b). Im Angelsächsischen wird der Begriff »Class« ebenso in sozialsta-

Statuspanik in der Mittelschicht?

thorpe 1992).4 Welcher Klasse eine Person angehört, ergibt sich dabei aus der Kreuzung zweier Dimensionen: dem Grad der beruflichen Qualifikationen, über die eine Erwerbsperson verfügt und die von Unternehmen und öffentlichen Arbeitgebern benötigt werden, sowie dem Grad an Kontrollierbarkeit der Ausführung der Arbeit der Erwerbspersonen. Kurz gesagt gilt: Je spezifischer die Qualifikationen und je geringer die Kontrollierbarkeit, desto bedeutsamer sind die Tätigkeiten, die von den Erwerbspersonen ausgeübt werden, und desto höher ist die Klassenposition (Erikson/Goldthorpe 1992). Anderenorts haben wir diese Überlegungen genutzt, um sie für ein modifiziertes sechsstufiges hierarchisches Schichtungsschema zu adaptieren (Lengfeld/Hirschle 2009; ausführlicher Lengfeld/Ordemann 2017b). An dieser Stelle wollen wir es lediglich kurz beschreiben. Wir unterscheiden eine Oberschicht (akademisch qualifizierte Tätigkeiten mit Führungsverantwortung) sowie drei Mittelschichten: die obere Mitte (akademisch qualifizierte Tätigkeiten ohne Führungsverantwortung), die mittlere Mitte (beruflich qualifizierte Angestellte mit Routinetätigkeiten) und die untere Mitte (Techniker, Facharbeiter und Beschäftigte unterer Leitungstätigkeiten im manuellen Gewerbe). Zudem unterscheiden wir zwei untere Schichten, zwischen denen wir keine Hierarchie annehmen: gering oder nicht-qualifizierte Angestellte in Dienstleistungsberufen (»einfache Dienstleister«) und gering oder nicht-qualifizierte Personen im gewerblichen Bereich (»ungelernte Arbeiter«). Da wir, wie oben beschrieben, Abstiegsangst als Sorge vor Verlust des Arbeitsplatzes betrachten, müssen wir für die folgenden Analysen Personengruppen ausschließen, die nicht erwerbstätig sind, also Erwerbssuchende, Nicht-Erwerbspersonen (Hausfrauen beziehungsweise Hausmänner), Personen in schulischer beziehungsweise tertiärer Aus- und Weiterbildung (Schüler, Studenten) sowie Personen im Ruhestand. Weiterhin schließen wir Selbstständige ohne oder mit sehr wenigen Angestellten in Gewerbe und Handel aus, da wir der Auffassung sind, dass die Ursachen der Abstiegsangst bei dieser Gruppe andere sind als bei abhängig beschäftigten Erwerbstätigen.

tistischer wie in handlungstheoretischer Hinsicht verwendet. »Strata« oder Ähnliches findet für die Bezeichnung von sozialstatistischen Gruppen dagegen keine Verwendung. 4 | Erikson und Goldthorpe (1992) haben mehrere extrahierte und ausdifferenzierte Varianten vorgeschlagen. Die theoretische Logik der Konzeption ist dabei immer die gleiche. Das sechsstufige Schema (Zusammenfassung der EGP-Klassen V und VI) ist das unseres Erachtens nach gebräuchlichste.

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2. D er V erl auf der A bstiegsangst 1984-2014 Um die Abstiegsangst im Zeitverlauf zu beschreiben, verwenden wir Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP). Das SOEP ist eine Wiederholungsbefragung, bei der seit 1984 jährlich in Privathaushalten lebende Personen in Deutschland zu wirtschaftlichen und sozialen Themen befragt werden (Wagner et al. 2007). Das Besondere des SOEPs ist die wiederholte Befragung von denselben Personen über einen längeren Zeitraum (Panel). Damit ist es möglich, Lebens- und Erwerbsverläufe so präzise wie möglich zu analysieren. Wir verwenden die Daten von über 40.000 Erwerbstätigen, von denen maximal 257.399 Beobachtungen vorliegen.5 Um den Verlauf der Abstiegsangst in Abbildung 1 zu beschreiben, haben wir gleitende Durchschnitte der Sorgen vor einem Arbeitsplatzverlust pro Schicht berechnet, das heißt die Daten aus jeweils vier Jahren (letzter Zeitraum: drei Jahre) wurden zu einem Datenpunkt zusammengefasst. Abbildung 1 zeigt den Verlauf der Sorgen vor dem Arbeitsplatzverlust in der alten Bundesrepublik (bis 1990) und in Gesamtdeutschland (ab 1991) im Gesamtzeitraum von 1984 bis 2014. Abbildung 1 zeigt, wie das absolute Niveau der Sorgen von Beginn des Beobachtungszeitraums an bis zum Zeitraum 2004-2007 in allen Schichten nahezu kontinuierlich zunahm. Blicken wir auf die Verteilung der Sorgen in den verschiedenen Schichten, so sehen wir, dass sich die untere Mitte, die gelernten Arbeiter und Techniker in der Industrie, am meisten sorgt. Dies ist überraschend, denn diese Schicht verfügt im Vergleich zu den unteren Schichten über ein höheres Einkommen und hat stabilere Erwerbsverläufe, das heißt ein geringeres Arbeitslosigkeitsrisiko.6 Dass die untere Mitte ein solch hohes Sorgenniveau aufweist, kann darauf hindeuten, dass die Angehörigen dieser Schicht stärker als andere Schichten glauben, vom Konjunkturverlauf abhängig zu sein. Schließlich ist die deutsche Industrie stark exportorientiert und damit abhängig von weltwirtschaftlichen Entwicklungen. Das ist aber lediglich eine Vermutung, die wir methodisch nicht prüfen können. Die Schichten mit einem ebenfalls hohen Sorgenniveau sind die beiden unteren der ungelernten Arbeiter und der geringqualifizierten Dienstleistungsbeschäftigten. Dagegen sorgen sich die Oberschicht und die obere Mitte deutlich weniger. Interessant ist die mittlere Mitte, die beruflich qualifizierten Angestellten mit 5 | Für Details zur Stichprobe und zur Datenaufbereitung siehe Lengfeld und Ordemann (2017b). 6 | So betrug der durchschnittliche Einkommensunterschied zwischen der unteren Mitte und den ungelernten Arbeitern sowie den ungelernten Dienstleistern über den gesamten Beobachtungszeitraum rund Euro 500,- (siehe Lengfeld/Ordemann 2017b, Tabelle 2).

Statuspanik in der Mittelschicht?

Routinetätigkeiten: Sie weist bis Mitte der 2000er Jahre den stärksten Anstieg an Sorgen auf. In den ersten drei Perioden lag ihr Sorgenniveau noch unter dem der oberen Mitte. Zwischen Mitte der 1990er und Mitte der 2000er Jahre entfernt es sich von der oberen Mitte und nähert sich dem Sorgenniveau der unter ihr liegenden Schichten an. Dass es sich tatsächlich um den stärksten Anstieg handelt, zeigen multivariate Berechnungen, die wir an anderer Stelle durchgeführt haben (Lengfeld/Hirschle 2009; Lengfeld/Ordemann 2017b). Dies bedeutet: Tatsächlich ist die Abstiegsangst in der Mitte der Gesellschaft am stärksten angestiegen – wie verschiedene Beobachter der gesellschaftlichen Entwicklung vermuteten. Doch dieser Anstieg betraf nicht die gesamte Mittelschicht, sondern nur eines ihrer Segmente, die mittlere Mitte. Warum das so ist, kann man anhand dieser Analysen nicht erkennen. Wir kommen weiter unten noch darauf zurück. Abbildung 1: Sorge vor Arbeitsplatzverlust 1984 bis 2014 (bis 1990 nur Westdeutschland, danach Gesamtdeutschland), nach Schichtposition und Periode 85%

untere Schicht II: ungelernte Arbeiter

80%

untere Schicht I: einfache Dienstleister

75%

mittlere Mitte

70%

Oberschicht

untere Mitte obere Mitte

65% 60% 55% 50% 45% 40% 35% 30% 25%

1984−1987

1988−1991

1992−1995

1996−1999

2000−2003

2004−2007

2008−2011

2012−2014

Daten: SOEP gewichtet (1984 bis 2014). Anmerkung: Eigene Berechnung aus Lengfeld/Ordemann (2017b), gewichtet. Relative Häufigkeiten auf Basis gleitender Durchschnitte. 40.019 Personen (252.401 Beobachtungen), nur Erwerbstätige ohne Personen in Berufsausbildung und ohne kleine Selbstständige in Handel und Gewerbe.

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Blicken wir nun auf den Verlauf ab Mitte der 2000er Jahre. Wie detaillierte Datenreihen zeigen, ist seit 2006, zwei Jahre vor der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise, das Sorgenniveau in allen Schichten wieder deutlich abgesunken. Selbst für die heiße Phase der Krise, die Jahre zwischen 2008 und 2010, ist kein Kriseneffekt im Sinne eines großen Anstiegs der Sorgen in Deutschland erkennbar. Im letzten Zeitraum 2012-2014 lag das Sorgenniveau für fast alle Schichten nur knapp über dem Niveau des ersten (westdeutschen) Zeitraums Mitte der 1980er Jahre und sogar unterhalb des Niveaus der Periode nach der Wiedervereinigung. Und auch hier stellen wir fest, dass die mittlere Mittelschicht eine besondere Rolle spielte: In keiner anderen Schicht ist die Zahl der Menschen, die sich vor Arbeitslosigkeit sorgten, so stark gesunken wie in diesem Segment. Auch bei ihr löste die Finanz- und Wirtschaftskrise keinen erneuten Anstieg an Unsicherheit aus. Nun schließt unsere Langzeitbetrachtung mit der deutschen Einheit ein Ereignis ein, das zumindest in den ostdeutschen Bundesländern zu einem besonderen Verlauf der Sorgen geführt hat. Bereits mit der Währungsunion zum 1. Juli 1990 begann auf dem Gebiet der damaligen DDR ein historischer Prozess der Deindustrialisierung und damit eine dramatische Freisetzung von Arbeitskräften aus den Kombinaten und Produktionsgenossenschaften. Hauptursache war die geringe Produktivität der ehemaligen staatseigenen Betriebe, die es nicht erlaubte, wettbewerbsfähige Produkte auf dem freien Markt abzusetzen. Problemverschärfend wirkten die Überbewertung der DDR-Mark gegenüber der D-Mark aufgrund des politisch verordneten paritätischen Konvertierungskurses der Löhne und Gehälter sowie der Zusammenbruch des osteuropäischen und sowjetischen Absatzgebiets (Brenke 2015). Die gleichzeitige Einführung eines neuen marktwirtschaftlichen Systems und die Erfahrung der neuen, diesem System immanenten Risiken haben dazu geführt, dass die Erwerbstätigen zu Beginn der Befragung 1991 ein sehr hohes Niveau an Sorgen berichteten.

Statuspanik in der Mittelschicht?

Abbildung 2: Sorgen vor Arbeitsplatzverlust 1991 bis 2014 (Ost- und Westdeutschland), nach Schichtposition und Periode Ostdeutschland

85% 80% 75% 70% 65% 60% 55% 50% 45% 40% 35% 30% 25%

1984−1987

1988−1991

1992−1995

1996−1999

2000−2003

2004−2007

2008−2011

2012−2014

Westdeutschland

85% 80% 75% 70% 65% 60% 55% 50% 45% 40% 35% 30% 25%

1984−1987

1988−1991

1992−1995

1996−1999

2000−2003

2004−2007

2008−2011

2012−2014

untere Schicht II: ungel. Arbeiter

untere Schicht I: einf. Dienstleister

untere Mitte

mittlere Mitte

obere Mitte

Oberschicht

Daten: SOEP gewichtet (1991 bis 2014). Anmerkung: Eigene Berechnung aus Lengfeld/Ordemann (2017b), gewichtet. Relative Häufigkeiten auf der Basis gleitender Durchschnitte. West 30.555 Personen (194.203 Beobachtungen) und Ost 9.464 Personen (58.198 Beobachtungen), nur Erwerbstätige ohne Personen in Berufsausbildung und ohne kleine Selbstständige in Handel und Gewerbe.

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Holger Lengfeld und Jessica Ordemann

Dies ist in Abbildung 2 zu erkennen. Ein Jahr nach der Wiedervereinigung sorgten sich alle Schichten auf dem ostdeutschen Gebiet gleichermaßen auf sehr hohem Niveau. Bis Ende des Jahrzehnts sanken die Sorgen jedoch schichtübergreifend. Wir interpretieren dies als Lern- und Erfahrungseffekte im Umgang mit den Regeln der Marktmechanismen und den Systemen der sozialen Sicherung. Zugleich differenzieren sich die Sorgenniveaus der einzelnen Schichten im Zeitverlauf aus. Sie nähern sich den westdeutschen Befindlichkeiten zum Zeitpunkt der Deutschen Einheit an. Je niedriger die Schichtposition, desto höher war Ende der 1990er Jahre das Sorgenniveau. Dennoch zeigte sich ein unterschiedliches Muster zu Westdeutschland: Anders als dort nahm die untere Mitte in den ostdeutschen Flächenländern nie die Spitzenreiterposition im Sorgenniveau ein. Vielmehr waren es die unteren Schichten der ungelernten Arbeiter und einfachen Dienstleister, die sich am stärksten vor Abstieg sorgten. Wie in Westdeutschland ging die Verunsicherung auch im Osten seit Mitte der 2000er Jahre deutlich zurück. Sie lag 2014, im letzten Jahr des Beobachtungszeitraums, auf dem niedrigsten in Ostdeutschland je gemessenen Niveau.

3. U rsachen der V erunsicherun g Wie kann man den zentralen Befund des letzten Abschnitts – den zuerst stärksten Anstieg und zugleich später stärksten Rückgang der Abstiegsangst in der mittleren Mittelschicht – erklären? Für die Zunahme der Abstiegsangst gibt es verschiedene Erklärungsansätze, für den Rückgang ab Mitte der 2000er Jahre dagegen bislang nur eine Interpretation. a) Sorgenanstieg: Die gegenwärtige Forschung führt diesen Befund auf die Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung zurück. Im Zuge der internationalen wirtschaftlichen Verflechtung versuchen Unternehmen in Westeuropa, ihre zunehmenden Risiken an ihre Beschäftigten weiterzureichen. Formen von flexibler Beschäftigung (Vertragsbefristungen, Flexibilisierung der Länge und Lage der Arbeitszeit, geringfügige Beschäftigung), aber auch Auslagerung von Beschäftigung (Outsourcing, Leiharbeit) nahmen in den 2000er Jahren zu (Giesecke/Groß 2004; Lengfeld/Kleiner 2009). Insbesondere geringqualifizierte Beschäftigte mussten daher zunehmend Erwerbsunterbrechungen und Einkommenseinbußen in Kauf nehmen. Aber auch Angehörige der Mittelschicht waren betroffen, vor allem Angestellte mit mittleren beruflichen Qualifikationen im Dienstleistungssektor. Teile von ihnen übten berufliche Tätigkeiten aus, die im Zuge raschen technologischen Wandels entweder wegfielen oder in die Tätigkeitsprofile der höherqualifizierten Angestellten verlagert wurden. Allein die Angehörigen der oberen Schichten waren aufgrund

Statuspanik in der Mittelschicht?

der Spezifität ihres Qualifikationsniveaus gegenüber Risikoverlagerungen weitgehend geschützt. Hier stellt Deutschland eine Besonderheit dar. In kaum einem anderen Land sind Bildungssystem und Arbeitsmarkt so stark verzahnt wie hier (klassisch hierzu Allmendinger 1989). Zugleich weisen nur wenige Länder in Europa ein derart geschlossenes, von Kündigungsschutz- und Senioritätsregeln geprägtes Beschäftigungssystem auf. In einem solchen System führt die Globalisierung dazu, dass die Angehörigen der gut ausgebildeten und gut bezahlten oberen Schichten aufgrund der gestiegenen Nachfrage nach den von ihnen erstellten Produkten und Dienstleistungen zusätzliche Lohnrenditen erzielen können, während die Angehörigen der Schichten der geringqualifizierten Beschäftigten (vor allem ungelernte Arbeiter) entweder einen starken Rückgang an Nachfrage nach ihren Fähigkeiten erleben oder aufgrund der geringen Produktivität Jobs im Niedriglohnbereich mit kurzen Vertragslaufzeiten und hohem Entlassungsrisiko hinnehmen müssen (Blossfeld et al. 2007). Folgt man dieser Argumentation, dann traf die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts nicht nur Geringqualifizierte, sondern auch Teile der Mittelschicht. Sie sorgte sich zunehmend. Problematisch an dieser Erklärung ist, dass sie für die Segmente der Mitte nicht so recht passt, weil diese nicht zur globalisierungsbedingten Risikogruppe (dies sind die unteren beiden Schichten) zählen. Hier geben zwei andere Interpretationen Aufschluss: Zum einen wird in der Armutsforschung argumentiert, dass insbesondere flexible Beschäftigung, wenn sie Mittelschichtsangehörige betrifft, dort zu »prekärem Wohlstand« (Bude 2008: 38ff.) führt. Sind sie nicht zusätzlich über ein zweites Erwerbseinkommen abgesichert, so befinden sich auch Personen mit gehobenen Mittelschichtspositionen wie Bankfinanzberater, spezialisierte Techniker oder Grundschullehrerinnen in prekären Wohlstandslagen (vgl. Andreß/Seeck 2007: 466). Ist also der objektive Wohlstand durch die Verstärkung der Instabilität ihrer Erwerbsverläufe bedroht, dann kann angenommen werden, dass sich Mittelschichtsangehörige stärker als andere Schichten sorgen (Kraemer 2008). Die zweite Erklärung haben wir an anderer Stelle »Spill Over-Effekt« der Abstiegsangst genannt (Lengfeld/Hirschle 2009): Trotz individueller Nichtbetroffenheit schwappte die Sorge um die eigene materielle Zukunft von den unteren Schichten auf besser qualifizierte Facharbeiter und Techniker, qualifizierte Sachbearbeiter, Lehrer und öffentlich Bedienstete über, ohne dass diesem Überschwappen eine objektiv bestimmbare deutliche Verschlechterung der eigenen Lage entsprach. So argumentiert auch Bude (2008: 46f.): »Wenn die ›bedrohte Arbeitermitte‹ etwas von Verarmung und Ausschlusstendenzen hört, fühlt sie sich zuerst selbst angesprochen. Von anderen, die wirklich bedroht sind und die auf einem schmalen Grat wandeln, will dieser Teil der gesellschaftlichen Mitte nichts wissen.«

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b) Der Rückgang der Sorgen: Die Gründe für die enorme Abnahme der Sorgen seit 2007 sind dagegen nicht offensichtlich. Ein jüngst formulierter Erklärungsansatz bezieht sich auf den besonderen Modus der Lebensführung der Mitte der Gesellschaft, das »Investitionskalkül« (Schimank et al. 2014). Zusammengefasst gesagt: Angehörige der Mittelschicht müssen permanent in ihren sozialen Status investieren, etwa durch stetige Weiterbildung oder durch besondere berufliche Anstrengungen. Würden sie nicht investieren, wäre ihr Status bedroht. Angehörige der unteren Schicht verfolgen dieses Investitionskalkül nicht, da sie nicht die Ausbildung haben und daher nicht die beruflichen Positionen einnehmen können, um in die Mittelschicht aufzusteigen. Es fehlt ihnen im Unterschied zur Mitte der zum Investieren nötige »Kapitalstock«. Auch die Oberschicht lebt weitgehend losgelöst von der stetigen Not, in ihren eigenen Status investieren zu müssen. Sie kann auf ihr hohes und spezifisches Humankapital vertrauen sowie auf weitreichende, teilweise aus eigenem Einkommen stammende Vermögensreserven zurückgreifen. Die Besonderheit, unter dem ständigen Druck des potentiellen Statusabstiegs investieren zu müssen, führt in der Mittelschicht zu einer ausgeprägten Sensibilität im Hinblick auf erwerbsbezogene Risiken. Unsere These ist: Aufgrund der Möglichkeit und zugleich der Notwendigkeit zur Investitionsarbeit reagiert die Mittelschicht grundsätzlich stärker als andere Schichten auf externe ökonomische und institutionelle Schocks oder potentiell kritische Ereignisse im Erwerbsverlauf (Lengfeld/Ordemann 2017b). Den Rückgang der Sorgen ab 2007 könnte man aus dieser Perspektive so interpretieren, dass die mittlere Mitte sich mit den neuen Risiken (ob erfahren oder perzipiert) auf dem Arbeitsmarkt arrangiert hat. Sie hat einen Weg gefunden, damit umzugehen. Schimank (2015) nennt dies die Strategie des »Durchwurstelns«. Die Karriereplanung erfolgt nicht mehr langfristig, sondern »auf Sicht«. Wenn es im aktuellen Job nicht rund läuft, sucht man sich eben den nächsten. Das hat Vorteile für das eigene Sicherheitsempfinden. Wer keine lange Betriebsbindung erwartet, wird auch weniger enttäuscht, wenn die erhoffte Beförderung beim aktuellen Arbeitgeber ausbleibt oder auf den befristeten Vertrag keine Verlängerung folgt.

4. F a zit In diesem Beitrag haben wir gefragt, wie sich die Abstiegsangst in der Mitte der Gesellschaft über einen Zeitraum von 30 Jahren entwickelte. Wir konnten zeigen, dass die Sorge vor dem sozialen Abstieg in allen Schichten bis Mitte der 2000er Jahre zunahm, um danach schichtübergreifend zurückzugehen. In der mittleren Mitte fiel der lange Anstieg der Verunsicherung in den ersten 20 Jahren sowie der anschließende drastische Sorgenrückgang im Vergleich zu

Statuspanik in der Mittelschicht?

den anderen Schichten am stärksten aus. Dieser Trend zeigt sich selbst dann, wenn man die möglicherweise unterschiedlichen Lebens- und Erwerbssituationen der Angehörigen der verschiedenen Schichten berücksichtigt. Dieser besondere Verlauf der Abstiegsängste der mittleren Mitte macht sie aus unserer Sicht zum »sensiblen Zentrum der Gesellschaft«. Ihre mittlere Ausstattung mit Bildungs- und ökonomischem Kapital führt dazu, dass sie kontinuierlich in ihren eigenen Status investieren muss. Dies macht sie sensibel für Veränderungen der ökonomischen Rahmenbedingungen. Verschlechtern sich diese, dann nehmen die Statussorgen der mittleren Mitte stärker zu als bei anderen Schichten; verbessern sie sich, weicht ihre Unsicherheit rascher dem Optimismus und der Hoffnung auf Statusverbesserung. Die mittlere Mitte ist damit wie ein Seismograph, der auf Veränderungen der ökonomischen Tektonik der deutschen Gesellschaft heftiger als andere Schichten reagiert. Eine interessante Frage ist, was aus diesen Reaktionen der Mitte für die Stabilität der Gesellschaft folgt. Gemeinhin wird unterstellt, dass die Bundesrepublik gerade aufgrund ihrer im Vergleich zu anderen Ländern breiten Mittelschicht genau aus diesem Grund eine Jahrzehnte währende politische Stabilität aufweist: Die Mittelschichten wählen die großen Parteien der politischen Mitte, CDU/CSU oder SPD, die jeweils sowohl miteinander als auch mit kleineren gemäßigten Parteien koalieren können. Wenn die Mittelschichten jedoch verunsichert sind, könnten sie die von ihnen bislang unterstützten Parteien für die Ursachen der Unsicherheit verantwortlich machen. Die Bürger könnten ihre bisher bevorzugte Partei bei der nächsten Gelegenheit an der Wahlurne abstrafen und sich stattdessen für eine radikalere, vielleicht populistische Partei entscheiden, oder sie bleiben der Wahl fern. Ob die Angehörigen der Mitte sich in Deutschland so verhalten, hat die Forschung nicht klären können. Denn obwohl das formulierte Argument plausibel ist und seit 2013 tatsächlich eine rechtspopulistische Partei, die »Alternative für Deutschland« (AfD), erstaunliche Wahlerfolge erzielt, scheinen die Fakten diesen Zusammenhang nicht zu bestätigen. Zum einen ist die AfD erst lange nach dem Allzeithoch der Abstiegsangst im Jahr 2005 gegründet worden; seither sind die Sorgen stark abgesunken. Zum anderen deuten jüngste Analysen darauf hin, dass Personen mit Abstiegsangst nicht dazu neigen, die AfD bei der Bundestagswahl wählen zu wollen (Lengfeld 2017). Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit tun daher gut daran, das Thema Abstiegsangst mit gebotener Nüchternheit zu behandeln und nicht für kurzfristige politische Ziele zu instrumentalisieren.

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Holger Lengfeld und Jessica Ordemann

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Die unzufriedene Mitte und die politischen Folgen Gerechtigkeitsperzeptionen und Wahlabsichten im Wandel Ursula Dallinger

1. E inleitung Wohlfahrtsstaat und regulierte Arbeitsbeziehungen sind wirksame Instrumente eines ›demokratischen Kapitalismus‹, selbst wenn das politische Gegensteuern heute eine geringere Reichweite hat als in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren. Die verfügbaren Einkommen nach Steuern und Sozialtransfers sind weniger ungleich verteilt als vor der wohlfahrtsstaatlichen Intervention. Nach Erkenntnissen der Wohlfahrtsstaatsforschung und Lehren der politischen Ökonomie hängt der Umfang, in dem die marktliche Verteilung durch soziale Transferprogramme und Steuerpolitik korrigiert wird, entscheidend von der in Wahlen artikulierten Nachfrage des Mittelschichts- beziehungsweise Medianwählers ab (Downs 1957; Milanović 2000; Manow 2007; Iversen/Soskice 2009). Diese Nachfrage gilt in Demokratien als maßgebliche Kraft, da allein ihre Größe an Wiederwahl interessierte Regierungen zwinge, auf ihre Anliegen zu reagieren. Zwar sind einkommensschwache Haushalte stärker auf Sozialleistungen und öffentliche Dienstleistungen (Bildung, Kinderbetreuung) angewiesen, aber erst die Mittelschicht habe den nötigen politischen Einfluss auf Regierende. Wenn auch der Medianwähler negativ von der Einkommensentwicklung betroffen sei, entwickle er ein Interesse an Programmen des sozialen Ausgleichs und werde zum Koalitionspartner sozioökonomisch weit stärker bedürftiger Haushalte. Klassenübergreifende Verteilungskoalitionen entstünden. Nun liegt der Debatte um die ›Krise der Mittelschicht‹ zufolge nahe, dass die folgende Situation eintritt: Die verschlechterte Einkommens- und Arbeitsmarktlage der Mittelschichten fördert verteilungspolitische Präferenzen, die in klassenübergreifende Koalitionen münden. In Deutschland schrumpft die Mittelschicht seit etwa 2000 im Zuge wachsender ökonomischer Ungleichheit (Grabka/Frick 2008; Mau 2012; Grabka et al. 2016). Wie tiefgreifend die materiellen Einbußen

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Ursula Dallinger

in der Mitte der Gesellschaft sind, wird zwar kontrovers bewertet (Burzan et al. 2014). Auch geriet die Mittelschicht in anderen Ländern bereits früher und in stärkerem Maße unter Druck als in Deutschland (Dallinger 2011). Jedoch sollte die ebenfalls angestiegene subjektive Verunsicherung dieser Gruppe (Lengfeld/ Hirschle 2009) allein ausreichen, um die Mittelschicht zum Kritiker der Ungleichheit und Unterstützer redistributiver Politik zu machen. Der Trend einer zunehmenden Verunsicherung in der Mitte der Gesellschaft ist zwar seit 2010 durch die starke wirtschaftliche Entwicklung wieder zurückgegangen (Lengfeld/Ordemann 2017). Für die Phase etwa zwischen 2000 und 2010, in der ökonomische Diskrepanzen stiegen und Unsicherheitsgefühle sich ausbreiteten, lässt sich aber die Frage prüfen: Nimmt die Mittelschicht wachsende Einkommensdiskrepanzen wahr und wählt vermehrt ›umverteilungsfreundliche‹ Parteien, deren Programme eher Maßnahmen wie Mindestlohn oder progressive Besteuerung enthalten? Diese Fragestellung leitet sich nicht aus normativen Erwägungen darüber ab, wie wünschenswert Egalität ist, sondern allein aus dem Interesse an den Verhaltenskonsequenzen von perzipierter Ungleichheit. Das Argument, die Mittelschicht entwickle wegen ihrer verschlechterten ökonomischen Lage Umverteilungsinteressen, ist aus mehreren Gründen mit Vorsicht zu betrachten: Sozialpolitische Präferenzen lassen sich, erstens, nicht zwingend beziehungsweise ausschließlich aus der materiellen Lage ableiten. Zudem ist, zweitens, fraglich, ob die gesellschaftliche Mitte egalitäre Politikprogramme unterstützt. Gerade diese Gruppe befürwortet Leistungsprinzipien und ist an postmaterialistischen Zielen orientiert. Sie mag sich vielmehr nach unten abgrenzen (Corneo/Grüner 2000) und mit den Wohlhabenden koalieren (Iversen/Soskice 2006). Damit redistributive Sozial- und Steuerpolitik Nachdruck erhält und die Basis für klassenübergreifende Koalitionen entsteht, müssten Mittelschichtsangehörige, drittens, die Einkommensverteilung als ähnlich ungerecht wahrnehmen wie einkommensschwache Haushalte. Dann stellt sich immer noch die Frage, ob die Ungleichheitsperzeptionen Folgen auf der Ebene des politischen Verhaltens haben. Also: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit für Angehörige der Mittelschicht, eine linke Partei zu wählen? Linke Parteien stehen in Deutschland und anderen Ländern (noch immer) für eine stärker umverteilende Politik. Es wird in diesem Beitrag also geprüft, ob die gesellschaftliche Mitte Ungleichheit zunehmend kritisch einschätzt, und ob die Gerechtigkeitsperzeptionen politisch folgenreich werden. Eine verunsicherte Mitte könnte sich immerhin auch liberal-konservativen Kräften zuwenden, was Mau (2015) als »neoliberale Komplizenschaft der Mitte« ausdeutete. Der Beitrag geht zunächst auf Erklärungsansätze des Sozialstaats und der Umverteilung und die der Mittelschicht beziehungsweise dem Medianwähler darin zugedachte Rolle bei der Etablierung marktregulativer Politik ein (Abschnitt 2.1) und diskutiert die Optionen für ein mittelklassespezifisches Wahlverhalten beziehungsweise die Plausibilität der Wahlneigung nach links oder

Die unzufriedene Mitte und die politischen Folgen

rechts (Abschnitt 2.2). Kapitel 3 stellt Daten und Methoden dar. Im Anschluss wird der Wandel der Ungleichheitsperzeptionen in einzelnen Schichten beschrieben (Kapitel 4): In den 2000er Jahren wuchs in den Mittelschichten tatsächlich die kritische Wahrnehmung der Einkommensverteilung stärker als in anderen Schichten. Die Wahlabsichten wurden dadurch in heterogener Weise beeinflusst: Untere und obere Mitte suchen bei je unterschiedlichen politischen Parteien die Lösung für ihre Unzufriedenheit. Ein Fazit reflektiert die Resultate in Hinblick auf die der Mittelschicht in politischer Ökonomie und Wohlfahrtsstaatsforschung zugedachte Funktion (Kapitel 5).

2. S ozialpolitik und die gesellschaf tliche M it te als politischer A k teur 2.1

Konzepte der Sozialpolitikforschung

In klassischen Erklärungen für Genese und Wandel des Sozialstaats gilt die Etablierung der Demokratie und des allgemeinen, gleichen Wahlrechts als Beginn der Ära, in der Unterprivilegierte die politische Macht erhalten, um soziale Programme durchzusetzen, die ihre materiellen Verhältnisse verbessern. Die neuen Machtpotentiale von Arbeitern und deren Vertretern – Arbeiterbewegung, Gewerkschaften und linke Parteien – führten zur Einschränkung des Marktes durch regulierte Arbeitsbeziehungen und soziale Sicherung, umrissen in der Formel »politics against markets« (Korpi 1983; Esping-Andersen 1990). Früh setzte sich die Einsicht durch, dass nur klassenübergreifende Koalitionen zwischen einkommensschwachen Haushalten und der wahlentscheidenden Mittelschicht auch die Interessen Ersterer durchsetzen können (Esping-Andersen 1990: 1). Die zentrale Frage ist, welche Koalitionen genau die wahlentscheidende Mitte eingeht (Baldwin 1990; Manow 2007). Antworten darauf wurden aus den Cleavage-Strukturen der Länder abgeleitet. Neuere Analysen heben den soziostrukturellen Wandel hervor, der eine neue Mitte der Dienstleistungsklassen entstehen lässt (Martin/Thelen 2007; Thelen 2012). Die Folgen für politisches Verhalten sind, dass die kulturelle Dimension der Politik salient wird und ›alte‹ Umverteilungsfragen verdrängt (Häusermann 2010; Häusermann/Kriesi 2011; Gingrich/Häusermann 2015). Sozialstaatliche Institutionen sorgen für gleichgerichtete Interessen bei mittleren und unteren Soziallagen, indem auch die Mittelschicht von monetären Transfers und Dienstleistungen des Sozialstaats profitiert (Korpi/Palme 1998). Ausschließlich an Bedürftige (Arme, Arbeitslose oder Geringqualifizierte) gerichtete Sozialpolitik generiert Steuer- und Abgabenwiderstand. Anreize für Mittelschichtskoalitionen setzen auch die verschiedenen Wahlsysteme der Länder. Sie beeinflussen die politische Ausrichtung der Mittelschicht. Grund-

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Ursula Dallinger

sätzlich definieren Wahlsysteme die erforderliche Mehrheit, die die Regierung stellen darf. Das majoritäre Wahlrecht sieht die Regel der einfachen Mehrheit vor, nach der die Partei mit den meisten Stimmen die Regierung bildet. Das proportionale Wahlsystem macht die absolute Mehrheit (50 Prozent) für die Regierungsbildung nötig. Da diese Schwelle in der Regel nur durch mehrere Parteien erreicht wird, sind Koalitionsregierungen üblich. Iversen und Soskice (2006) ziehen die Verbindung zwischen Wahlsystemen und der jeweiligen politischen Ausrichtung der Mittelschicht, die diese konservative oder aber sozialdemokratische Koalitionen unterstützen lässt. Demnach setzt das majoritäre Wahlrecht für die Mittelschicht folgende Anreize: Typischerweise existieren bei majoritärem Wahlrecht zwei große Parteien.1 Eine Partei bietet eine Mitte-Links-Wahlplattform, die andere eine Mitte-Rechts-Plattform. Die Mittelschicht schreckt vor Mitte-Links-Parteien zurück, da sie befürchtet, dass diese – einmal in die Regierung gewählt – nach links rücken und einseitig im Interesse ihrer linken Wählerschaft agieren. Angesichts des Risikos, ›durch die Armen ausgebeutet‹ zu werden, votiert die Mitte zugunsten von Mitte-Rechts-Parteien. Dagegen erzeugen proportionale Wahlsysteme Mitte-Links-Koalitionen, da die Mitte sicher ist, dass ›ihre Partei‹ durch Koalitionen an der Regierung beteiligt sein wird und ihre Stimmen nicht verloren gehen. Auch belasten diese Mitte-Links-Koalitionen Wohlhabende überproportional, nicht jedoch Mittelschichtsangehörige. Zwar ist dieser gedankliche Ansatz in meiner auf nur ein Land bezogenen Analyse nicht direkt anwendbar. Dennoch ist er wichtig, da er nicht per se von einer Interessenkonvergenz zwischen Mittel- und Unterschicht ausgeht, sondern zeigt, dass die Mitte sich ebenso konservativen Kräften zuwenden kann, um nicht durch die Unterschicht ›ausgebeutet‹ zu werden. Auch in der politischen Ökonomie der Umverteilung ist die Mittelschicht die entscheidende Größe: Wachsende Einkommensdisparitäten rücken sie näher an schwächere Einkommenslagen heran und ihre politischen Interessen an einer umverteilenden Politik wachsen, da deren Vorteile nun auch für mittlere Einkommenslagen auf der Hand liegen. Erodiert die Einkommensposition der Mitte, ist diese politisch einflussreiche, da numerisch große Bevölkerungsgruppe auch auf der Seite der Befürworter redistributiver Maßnahmen, und CrossClass-Coalitions sollten möglich werden (Meltzer/Richard 1981). Ob die strukturellen Bedingungen für verteilungspolitische Forderungen auch in der Mitte der Gesellschaft auftreten, wird am Verhältnis zwischen dem Median und dem arithmetischen Mittel einer Einkommensverteilung festgemacht. Die unterschiedliche Lage beider Kennziffern einer Einkommensverteilung soll nach diesem Ansatz Aufschluss über die Umverteilungsinteressen in der Mitte geben. Wächst die Distanz zwischen Median und Mittelwert, dann existieren mehr 1 | Da bei majoritärem Wahlrecht kleine Parteien mangels Chancen auf Regierungsbeteiligung aussterben, ist das Parteienspektrum kleiner.

Die unzufriedene Mitte und die politischen Folgen

sehr hohe Einkommen, und es nimmt die Zahl derer, die ein Interesse an staatlicher Umverteilung haben, zu (Kelly/Enns 2010: 860; Lupu/Pontusson 2011). Ein solcher Zusammenhang zwischen der materiellen Lage und den sozialund verteilungspolitischen Präferenzen, den das Medianwählermodell formuliert, wurde viele Male kritisiert. Dabei wird auf Länder mit hoher Ungleichheit und großem Abstand zwischen Median und Mean verwiesen, die – wie die USA – dennoch wenig Umverteilung praktizieren und einen schmalen Sozialstaat haben. Dieser empirische Beleg gegen einen Einfluss der Ungleichheitsentwicklung auf den Grad, in dem ihr Sozialstaaten entgegenwirken, ist jedoch ungenügend. Er beruht nur auf Querschnittsdaten aus wenigen Ländern. Daten zur Entwicklung über die Zeit zeigen durchaus, dass der veränderte Umfang an Ungleichheit sich auf die redistributive Politik der Länder auswirkt (Milanović 2000; Kenworthy/Pontusson 2005; Dallinger 2013). Zudem werden in vielen politökonomischen Studien nur Daten zu Ländermerkmalen (zum Beispiel Kennziffern zu Einkommensungleichheit und Sozialausgaben) verknüpft, die aber keine Auskunft über Akteure und deren Wahrnehmungen geben. Auch für den Medianwähleransatz sind jedoch – nimmt man die Theorie beim Wort – die Perzeptionen und politischen Reaktionen der Bürger bei steigender Ungleichheit maßgeblich. Studien, die prüfen, ob die subjektiven Ungleichheitsperzeptionen in der Bevölkerung beeinflussen, in welchem Umfang die Sozial- und Steuerpolitik die Einkommen umverteilt, konnten durchaus einen signifikanten Einfluss nachweisen (Kenworthy/McCall 2008; Engelhardt/Wagener 2014; Niehues 2014). Es ist folglich zu prüfen, ob die Mittelschicht beziehungsweise der Medianwähler die Einkommensdiskrepanzen vermehrt kritisch beurteilt, und ob diese Kritik das politische Handeln beeinflusst, indem die Mittelschicht dann die Wahl einer linken Partei beabsichtigt. Es ist somit als erste Hypothese zu prüfen, ob die Mittelschicht die Verteilung der Einkommen zunehmend als ungerecht bewertet und als zweite Hypothese, ob die gesellschaftliche Mitte zu linken Parteien tendiert.

2.2

Krise der Mittelschicht und Wahlverhalten

Der Abstand zwischen dem Median und dem arithmetischen Mittel der Nettohaushaltseinkommen hat sich in Deutschland seit etwa 1996 vergrößert (Anselmann/Krämer 2012: 6; Schmid/Stein 2015); die Mittelschicht schrumpft, da die Zahl der Haushalte, die zur Mitte zählen, sinkt (Grabka/Frick 2008; Grabka et al. 2016). Dies scheint die Mittelschicht auch subjektiv zu erreichen, bewertet sie doch das eigene Einkommen im Vergleich zu Unterschichtsangehörigen häufiger als ungerecht (Liebig/Schupp 2008). Nach den referierten Ansätzen aus Sozialpolitikforschung und politischer Ökonomie müsste eine verschlechterte ökonomische Situation der Mittelschichten nicht nur wahrgenommen und negativ bewertet werden, sondern auch in ein entsprechendes Wahlver-

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halten münden. Ein Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Wahlverhalten oder eine Korrespondenz zwischen der materiellen Lage und der Wahlabsicht oder Parteiidentifikation, die naive Klassenanalysen herstellen, wird seit Langem bezweifelt (Kitschelt 1994: 40; Kohler 2009; Oesch 2008). Die Parteipräferenz ist keineswegs in erster Linie vom eigenen Einkommen und daraus ableitbaren Interessen geprägt (Hochschild 1979; Bartels 2008: Kap. 5). Die ideologische Bindung mag wichtiger sein. Hinzu kommt, dass Themen wie Ökologie oder religiöse Orientierungen die Wahlabsicht bestimmen. Es mag zudem am Wissen über komplexe politische Instrumente (wie die Effekte von Steuerreformen) mangeln (Bartels 2008; Finseraas 2010). Seit den 1990er Jahren wird darüber hinaus eine Entkoppelung der Wähler von den Parteien beobachtet: Statt langfristiger Bindungen an eine Partei fluktuieren die Wahlentscheidungen kurzfristig (Manza et al. 1995; Nieuwbeerta 1996). Grundsätzlich ist die Mittelschicht parteipolitisch uneindeutiger als ihre ›Klassennachbarn‹, da sie in sich differenziert ist und nach rechts wie links neigen kann (Kitschelt 1994: 27; Brooks/Manza 1997; Oesch 2006; Iversen/Soskice 2009). Ist es angesichts der also fraglichen Beziehung zwischen Schichtzugehörigkeit und politischem Verhalten sinnvoll zu erwarten, die Mittelschicht würde aufgrund verschlechterter Arbeitsmarkt- und Einkommensperspektiven zum Unterstützer von Umverteilungspolitik? Durchaus, denn im Zuge des Re-Alignment (also der Ausbildung neuer sozialstruktureller Gruppen mitsamt ihrer Parteibindung) werden neue Wählerschichten zu Proponenten sozialstaatlicher Politik (Kriesi 2010; Oesch 2008; Häusermann/Kriesi 2011; Gingrich/Häusermann 2015). Die Wählerschaft linker Parteien rekrutiert sich inzwischen ebenso oft aus der Mittel- wie aus der Arbeiterschicht (Gingrich/ Häusermann 2015). Zusätzlich könnten die beschriebenen Abstiegsängste die Mitte in die Nähe zu Gruppen weiter unten in der Sozialhierarchie bringen. Die Forschung analysierte bisher eher, ob einkommensschwache Haushalte bei steigender Ungleichheit vermehrt linke Parteien wählen. Bereits dies ist nicht der Fall (Finseraas 2010; Gelman et al. 2010). Deutlich erkennbar ist lediglich, dass die Wahlbeteiligung unterer Schichten sinkt (Beramendi/Anderson 2008; Schäfer 2015). Das Wahlverhalten der Mittelschicht wurde bislang selten thematisiert. Jedoch wählt auch sie bei ökonomischer Verunsicherung nicht zwangsläufig vermehrt links. Abstiegsangst führt linken Parteien oder Protestbewegungen keineswegs Unterstützer zu (Nachtwey 2016: 96, 182). Selbst die Finanzkrise machte aus der verunsicherten Mittelschicht kein linkes Wählerpotential (Soroka/Wlezien 2014: 113f.) Im Zuge vertiefter Einkommensdiskrepanzen neigte die öffentliche Meinung in Großbritannien in den 2000er Jahren zwar verstärkt zu Ungleichheitskritik, aber politische Eingriffe der Regierung wurden dennoch wenig unterstützt. Das Gleiche wurde für die USA gezeigt (Kelly/Enns 2010): Sogar von der Finanzmarktkrise Betroffene befürworten keine Intervention der Politik in die Wirtschaft aus Sorge, dies schade

Die unzufriedene Mitte und die politischen Folgen

ihr und gefährde Arbeitsplätze. Die Befürchtung, redistributive Politik schade der Ökonomie, lässt Bürger auch die Kürzung von Sozialleistungen unterstützen (Giger/Nelson 2013). Besonders bei der Mittelschicht mögen diese neoliberalen Argumente verfangen (Mau 2015). Es lässt sich also in einer dritten Hypothese vermuten, dass eine mit der Einkommensverteilung unzufriedene Mittelschicht vermehrt konservative Parteien wählt. Die politischen Optionen der Mittelschicht hängen vom vorhandenen Parteienspektrum ab. In Deutschland hat sich die linke Parteienfamilie mit der Entstehung der PDS/DIE LINKE ausdifferenziert. Die 1980 gegründeten GRÜNEN besetzen das linksliberale Feld mit ökologischen Themen, aber auch mit Fragen neuer Gerechtigkeit. Sie bieten insbesondere der gebildeten Mittelschicht eine politische Alternative. Die klassische Links-Rechts-Dimension ist zunehmend weniger salient. Die Mittelschicht mag ihr politisches Verhalten daher eher an der kulturellen Dimension ausrichten und Parteien wählen, die Themen wie Ökologie oder Geschlechtergerechtigkeit besetzen (Kitschelt 1994; Kriesi 2010). Die vierte und letzte Hypothese lautet demnach: Die Mittelschicht wählt aufgrund des säkularen Trends zu liberal-ökologischen Themen die GRÜNEN.

3. D aten und V orgehensweise Entstehen in den 2000er Jahren in der Mittelschicht zunehmend verteilungskritische Perzeptionen, und hat dies Folgen für das Wahlverhalten? Diese Frage wird anhand von Daten des kumulierten ALLBUS analysiert. Der ALLBUS (Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften) ist eine repräsentative, seit 1980 alle zwei Jahre durchgeführte Bevölkerungsumfrage, die Daten zu Einstellungen, Verhaltensweisen und Sozialstruktur mit einem teils konstanten Frageprogramm erhebt. Grundgesamtheit der ALLBUS-Studien ist die erwachsene Wohnbevölkerung (Ausländer und Deutsche) in Privathaushalten in Ost- und Westdeutschland. Interviews finden face-to-face mit weitgehend standardisiertem Fragebogen statt. Obgleich als Querschnittserhebung angelegt, bietet der ALLBUS aufgrund regelmäßiger Durchführung eine Längsschnittperspektive. Diese ermöglicht eine Trendanalyse über die Entwicklung der Beziehung zwischen Ungleichheitsperzeptionen und Wahlabsicht. Die zuvor skizzierten Ansätze der Sozialpolitikforschung verbinden die Diagnosen wachsender Einkommensunterschiede, steigender Unzufriedenheit mit der Verteilung in der Mittelschicht und die Wahl linker Parteien, die mehr als die übrigen Parteien versprechen, korrigierend in die Marktergebnisse einzugreifen. Die Ungleichheitsperzeptionen der Befragten lassen sich mit folgendem ALLBUS-Item feststellen: »Ich finde die sozialen Unterschiede in unserem Land im großen und ganzen gerecht.« Mögliche Antworten waren: »stimme voll zu«, »stimme zu«, »stimme eher nicht zu« und »stimme nicht

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zu«. Die wahrgenommene Ungerechtigkeit wird durch Zusammenfassung der beiden ablehnenden Antwortkategorien ermittelt. Das Wahlverhalten wird anhand der Wahlabsicht (»Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, welche Partei würden Sie dann mit Ihrer Zweitstimme wählen?«) erfasst. Teils wurden einzelne Parteien gruppiert: Die Unionsparteien (CDU und CSU) und die Freie Demokratische Partei (FDP) zu »konservative Parteien«; DIE GRÜNEN und die PIRATENPARTEI zu »alternative Parteien«; die Alternative für Deutschland (AfD), DIE REPUBLIKANER und die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) als »rechte Parteien«. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) und DIE LINKE2 bleiben jeweils separat. Die Nichtwähler werden in einen Teil der folgenden Analysen aufgenommen (siehe Schäfer 2015: 130ff.). Die Zugehörigkeit zur Mittelschicht oder einer der anderen sozialen Schichten wird in der vorliegenden Analyse über sozioökonomische Klassen nach dem EGP-Schema von Erikson, Goldthorpe und Portocarero operationalisiert (Erikson et al. 1979; Groh-Samberg/Hertel 2010; Burzan et al. 2014). Der konzeptionelle Hintergrund des EGP-Schemas kann hier aus Platzgründen nicht dargelegt werden (für Näheres vgl. Erikson et al. 1979). Es stellt die in den Sozialwissenschaften meistverwendete Schichteneinteilung dar und soll die spezifischen Strukturen der Dienstleistungsgesellschaft erfassen. Die obere Dienstklasse (Dienstklasse I) wird als Oberschicht verstanden. Die Mittelschicht, die eine breite Spanne an Berufs- und Einkommenschancen, Einstellungen und Präferenzen umfasst, lässt sich mit dem EGP-Schema differenzieren. Ich trenne zwischen oberer und unterer Mitte: Die Dienstklasse II repräsentiert die obere Mitte; die untere Mitte setzt sich zusammen aus Routine-Dienstleistungstätigkeiten, leitenden Facharbeitern, Technikern und Facharbeitern. Die untere Mitte wird weiter in eine Dienstleistungs- und eine manuelle Subgruppe unterteilt. Die Routine-Dienstleistungstätigkeiten werden nachfolgend als »untere Mitte Dienst«, die Facharbeiter und Techniker als »untere Mitte manuell« bezeichnet. Ungelernte Arbeiter und Landarbeiter werden der Unterschicht zugeordnet. Die übrigen Gruppen des EGP-Schemas – Selbständige und Landwirte – bleiben aufgrund ihrer starken Heterogenität in der Analyse unberücksichtigt. Die folgenden empirischen Analysen zur Wahrscheinlichkeit der Wahl einer Partei(enfamilie) in verschiedenen Schichten stützen sich auf multinominale logistische Regressionen, in die Schichtzugehörigkeit, die Perzeption sozialer Unterschiede, die verschiedenen Erhebungswellen, Alter und Geschlecht eingehen.3 2 | Von 1990 bis 2005 bezeichnete sich diese Partei als PDS, von 2005 bis 2007 als LINKSPARTEI.PDS. 3 | Von Bildung und der Links-Rechts-Selbsteinstufung wird abgesehen, da diese Merkmale stark mit der Schichtzugehörigkeit korrelieren. Zur Kontrolle von Heteroskedastizität und der in den Wellen geclusterten Daten werden robuste Standardfehler verwendet.

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4. E rgebnisse Wird nun die Verteilung der Einkommen besonders in der Mittelschicht zunehmend kritisch betrachtet? Entwickelt diese Gruppe in der Phase, in der ihre Position als bedroht beschrieben wird, eine besonders ausgeprägte Sensitivität gegenüber sozialer Ungerechtigkeit, die sie zu einem politischen Akteur machen könnte, der marktkorrigierende Politik unterstützt? Für politische Koalitionen mit der Unterschicht wäre es günstig, wenn beide Gruppen ähnliche Wahrnehmungen aufweisen. Eine empirische Grundlage bietet Abbildung 1 zur Entwicklung der Perzeption sozialer Unterschiede und deren Bewertung als ungerecht in einzelnen Schichten. Der Anteil derer, die diese Ungleichheit ungerecht finden, ist erwartungsgemäß in der Oberschicht am niedrigsten, in der Unterschicht dagegen auf hohem Niveau. Die drei Mittelschichtssegmente liegen bis etwa 2005 dazwischen, rücken dann allerdings auf den ersten Platz: Sowohl die obere Mittelschicht als auch die unteren Mittelschichten (»untere Mitte Dienst« und »untere Mitte manuell«) bewerten soziale Ungleichheit zunehmend als ungerecht. Dieser Trend hat zwar langfristig betrachtet eine moderate Größenordnung; der Anstieg ab der ›Delle‹ im Befragungsjahr 2000 ist aber deutlich. Insbesondere die obere Mittelschicht perzipiert zunehmend Ungerechtigkeit, auch die Ungleichheitskritiker in der unteren Mitte der Dienstleister nehmen in beachtlichem Umfang zu. In der unteren Mittelschicht der Facharbeiter gab es bis etwa 2000 ebenso oft wie in der Unterschicht Vorbehalte gegenüber Ungleichheit, ab 2008 hat sich dieser Meinungskonsens auf die Mittelschichten verlagert. Bemerkenswert ist, dass die Kritik an Ungleichheit in allen Schichten ein homogen hohes Niveau erreicht und sich ab 2008 bei 70 bis 75 Prozent bewegt. Es entwickelt sich vor rund zehn Jahren ein schichtenübergreifender Konsens. Die Differenzierungslinie zwischen industriellen und Dienstleistungsschichten hinsichtlich der Kritik an Ungleichheit verschwimmt, insbesondere weil in den Dienstklassen der Anteil derer steigt, die die Verteilung ungerecht finden. Für die skizzierten Erklärungen der Umverteilungspolitik bedeutet dies eine Basis für Cross-Class-Coalitions. Unterschicht und untere manuelle Mitte bekamen mit unterer Dienstleistungsmitte und oberer Mitte ideologische Koalitionspartner. Die in den 2000er Jahren wachsenden Disparitäten der Haushaltseinkommen werden durchaus wahrgenommen und als zu groß bewertet, auch in der Mittelschicht. Soziale Unterschiede werden nach den Daten des ALLBUS nicht zunehmend akzeptiert, auch nicht in der gesellschaftlichen Mitte (Mau 2015). Der erste Schritt im politischen Prozess funktioniert demnach: Die erste Hypothese ist bestätigt.

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Abbildung 1: Soziale Unterschiede sind ungerecht (in Prozent), nach EGP-Klassen

Daten: ALLBUS kumuliert (1994 bis 2012). Anmerkung: Eigene Berechnung, gewichtet.

Bevor die Folgen ungleichheitskritischer Perzeptionen für das Wahlverhalten gezeigt werden, betrachten wir generell die Entwicklung der Wahlabsicht zwischen 1994 und 2014. Nach Abbildung 2 nimmt der Anteil der SPD-Wähler in den untersuchten zwanzig Jahren insgesamt ab.4 Weiter links angesiedelte Parteien wie DIE LINKE (früher die PDS und DKP) erhalten wenig, aber leicht wachsenden Zuspruch. Beide Parteien, die SPD und DIE LINKE, zur Parteienfamilie »linke Parteien« zusammenzufassen, würde die negative Dynamik für die SPD verdecken, obgleich es für die hier verfolgte Fragestellung – »Wählt die mit der sozialen Ungleichheit zunehmend unzufriedene Mittelschicht links?« – inhaltlich sinnvoll wäre. Die beiden linken Stimmen bleiben also separat. Abbildung 2 macht auch den Einbruch der Stimmen für die SPD in der Phase der Hartz-Reformen (ab 2002/2003) deutlich. Der Rückgang der Absicht, die SPD zu wählen, mag also neben den Gerechtigkeitsperzeptionen auch durch Reaktionen auf die Hartz-Reformen beeinflusst sein. Allerdings ging die SPDWahlabsicht bereits lange vor diesen Reformen zurück. Zudem werden im Folgenden statistische Verfahren angewendet, mit denen sich der Einfluss der Ungleichheitsperzeptionen separieren lässt.

4 | Zur abnehmenden Wahrscheinlichkeit der Wahl linker Parteien in den 2000er Jahren siehe auch Schäfer (2015).

Die unzufriedene Mitte und die politischen Folgen

Abbildung 2: Wahlabsicht im Wandel zwischen 1994 und 2014 (in Prozent)

Daten: ALLBUS kumuliert (1994 bis 2012).

Wie entwickelte sich nun die Wahlabsicht in den Mittelschichten, und welche Rolle spielen die Ungerechtigkeitsperzeptionen? Kommen für Mittelschichtsangehörige, die mit der Verteilung unzufrieden sind, eher linke Parteien in Frage? Dies wird im Folgenden mit Conditional Effect Plots untersucht, die die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit der Wahl bestimmter Parteien abhängig von der Zugehörigkeit zu einer der sozialen Schichten und abhängig von einer kritischen oder aber affirmativen Perzeption sozialer Ungleichheit zeigen. Die Zeitachse greift auf, wie sich die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit der Wahl verschiedener Parteien (je nach Kombination aus Schicht und Gerechtigkeitsperzeption) verändert. Die vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten sind Instrumente, um bei nominalen Daten (wie die Information zur Wahlabsicht) die Effekte bestimmter Wertekombinationen der erklärenden Variablen (Marginaleffekte) darstellen zu können. Die Zahlen geben also nicht die Stimmenanteile in verschiedenen Schichten an, sondern die Wahrscheinlichkeit, mit der bei bestimmten Merkmalskombinationen eine der Parteien gewählt wird.5 Wie Abbildung 3a zeigt, geht die Wahrscheinlichkeit, SPD zu wählen (im Vergleich zur Wahl konservativer Parteien) in allen Schichten zurück. Der Rückgang verläuft weniger steil, wenn soziale Unterschiede als gerecht bewertet werden. Also reduzieren Ungerechtigkeitsperzeptionen die Sympathien für die Sozialdemokratie maßgeblich. Dennoch bleibt die Wahl dieser Partei wahrscheinlicher, wenn soziale Unterschiede als zu groß beurteilt werden. 5 | Tabellen mit den Logit-Koeffizienten oder Average Marginal Effects werden von der Autorin auf Anfrage zur Verfügung gestellt.

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Wie entwickeln sich die Bedingungen für Cross-Class-Coalitions? Wenn Ungleichheit kritisiert wird, neigen die beiden unteren Mittelschichtssegmente im gleichen Umfang wie die Unterschicht zur Wahl der SPD (Abbildung 3a, Bild rechts). Wenn keine Unzufriedenheit herrscht, rückt die untere Dienstleistungsmittelschicht hingegen in die Nähe der oberen Mittelschicht. Die obere Mitte weist bei positivem Urteil über die sozialen Unterschiede in etwa gleiche Distanzen nach oben und unten auf (Abbildung 3a, Bild links), bei Kritik an Ungerechtigkeit hingegen nähert sich diese Gruppe an die untere Mitte an (Abbildung 3a, Bild rechts). Festzuhalten ist: Obwohl zunehmend Gerechtigkeitsdefizite wahrgenommen werden, geht im Zeitverlauf die Absicht, die SPD zu wählen, zurück. Zu bedenken ist, dass die Erosion der SPD-Wahlabsicht nicht allein den Gerechtigkeitsperzeptionen geschuldet ist, sondern auch auf die Ausdifferenzierung des Parteienspektrums durch die Gründung der GRÜNEN und der LINKEN zurückgeht. Die SPD hat vermehrt mit Parteienkonkurrenz zu kämpfen, wobei für die obere Mitte DIE GRÜNEN und für die untere Mitte DIE LINKE attraktiv ist. Abbildung 3a: Entwicklung der Wahlabsicht SPD nach EGP-Klassen ... ungerecht

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Prob Wahl SPD

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soziale Unterschiede gerecht

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Oberschicht Untere Mitte Dienstl. Un−, Angelernt

Obere Mitte Untere Mitte manuell

Daten: ALLBUS kumuliert (1994 bis 2012). Anmerkung: Referenz: konservative Parteien; Conditional Effect Plot auf Basis eines Modells mit Interaktionen zwischen den Variablen für Schicht und Gerechtigkeitsperzeptionen.

Die unzufriedene Mitte und die politischen Folgen

Wenn nicht die Sozialdemokratie, wen dann wählen? Abbildung 3b zeigt, dass zumindest die obere Mitte zunehmend in alternativen Parteien (im Vergleich zur Wahl konservativer Parteien) ihren geeigneten politischen Vertreter sieht – wie auch die Oberschicht. Nun ist allerdings die obere Mitte kaum eine materiell bedrohte Gruppe (empirische Belege zu den divergenten Wohlfahrtspositionen der oberen und unteren Mitte siehe Dallinger 2011). Entsprechend tendiert sie eher zu Koalitionen mit materiell bessergestellten Haushalten. Jedenfalls sind das die beiden Sozialschichten, deren Neigung, DIE GRÜNEN oder die PIRATENPARTEI zu wählen, am deutlichsten steigt, insbesondere, wenn die sozialen Unterschiede als ungerecht wahrgenommen werden. Das gilt auf einem niedrigeren Niveau auch für die untere Mitte mit Dienstleistungstätigkeiten. Sie ähnelt sowohl unter der Bedingung perzipierter Ungerechtigkeit wie auch ohne diesen ›Verstärker‹ den wohlhabenderen Haushalten. Das mag darin begründet sein, dass Dienstleistungsroutinetätigkeiten oft durch teilzeiterwerbstätige Frauen ausgeübt werden, deren politische Präferenz möglicherweise mit der des statushöheren erwerbstätigen Partners konvergiert. Abbildung 3b: Entwicklung der Wahlabsicht alternative Parteien nach EGP-Klassen ... ungerecht

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Prob Wahl alternative Parteien

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soziale Unterschiede gerecht

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Oberschicht untere Mitte Dienstleister Unterschicht

obere Mitte untere Mitte manuell

Daten: ALLBUS kumuliert (1994 bis 2012). Anmerkung: Referenz: konservative Parteien; Conditional Effect Plot auf Basis eines Modells mit Interaktionen zwischen den Variablen für Schicht und Gerechtigkeitsperzeptionen.

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Alternative Parteien sind hingegen für die Unterschicht nicht zunehmend attraktiv, auch nicht, wenn diese Gruppe die sozialen Unterschiede kritisiert. Die manuelle untere Mitte unterscheidet sich wenig von der Entwicklung der Wahlabsicht in der unteren Schicht. Während also für die obere Hälfte der Gesellschaft die alternativen Parteien der politische Zufluchtsort besonders bei wahrgenommener Ungerechtigkeit sind, stellen diese keine Option für einkommensschwächere Haushalte dar, die bisher durch die Transformation der Erwerbsarbeit viel stärker negativ betroffen waren und objektiv mehr Anlass zur Sorge hätten. Diese Gruppen – Unterschicht und die manuelle untere Mitte – tendieren klar zur Partei DIE LINKE. Die Wahrscheinlichkeit der Wahl dieser Partei steigt (im Vergleich zur Wahl konservativer Parteien) stark an, besonders wenn Ungleichheit kritisch gesehen wird (Abbildung 3c). Eine CrossClass-Coalition zwischen Unterschicht und unterer Mitte ist deutlich. Abbildung 3c: Entwicklung der Wahlabsicht LINKE nach EGP-Klassen ... ungerecht

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Prob Wahl LINKE

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soziale Unterschiede gerecht

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Oberschicht untere Mitte Dienstleister Unterschicht

obere Mitte untere Mitte manuell

Daten: ALLBUS kumuliert (1994 bis 2012). Anmerkung: Referenz: konservative Parteien; Conditional Effect Plot auf Basis eines Modells mit Interaktionen zwischen den Variablen für Schicht und Gerechtigkeitsperzeptionen.

Um auch Trends der Wahlwahrscheinlichkeit konservativer Parteien (also CDU/CSU, FDP) darstellen zu können, wird die multinominale logistische Regression nun im Vergleich zur Wahl der SPD geschätzt (Abbildung 3d). Ihre Attraktivität ist stark von perzipierter Ungerechtigkeit abhängig. Bei denen,

Die unzufriedene Mitte und die politischen Folgen

die Ungerechtigkeit wahrnehmen, ist die Wahlabsicht in Oberschicht, oberer Mitte und unterer Dienstleistungsmittelschicht rückläufig; diese Gruppen wenden sich vermutlich den GRÜNEN zu. Dagegen werden konservative Parteien für Unter- und untere manuelle Mittelschicht attraktiver, besonders wenn diese Menschen keine Gerechtigkeitsprobleme sehen. Aus Abbildung 1 wissen wir allerdings, dass dies keine Mehrheit in der Unter- und manuellen Mittelschicht ist. Abbildung 3d: Entwicklung der Wahlabsicht konservative Parteien nach EGP-Klassen ... ungerecht

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Prob. Wahl konservativ−lib.

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soziale Unterschiede gerecht

1994 96 98 2000 02 04 06 08 10 12 1994 96 98 2000 02 04 06 08 10 12

Oberschicht untere Mitte Dienstleister Unterschicht

obere Mitte untere Mitte manuell

Daten: ALLBUS kumuliert (1994 bis 2012). Anmerkung: Referenz: SPD; Conditional Effect Plot auf Basis eines Modells mit Interaktionen zwischen den Variablen für Schicht und Gerechtigkeitsperzeptionen.

5. F a zit Wie verhält sich die Mittelschicht in einer Phase, in der ihre materiell gesicherte Lage bedroht scheint? Wird sie Koalitionspartner der sozial- und verteilungspolitischen Interessen der einkommensschwächeren Haushalte? Die Daten des ALLBUS zeigen, dass in Deutschland in der Mittelschicht die Kritik an der Ungleichheit der Einkommensverteilung tatsächlich wuchs und sich dem Niveau an Unzufriedenheit annäherte, das in der Unterschicht durchgän-

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gig vorhanden ist. Es entsteht eine breite Gruppe, die sensibel für Ungleichheit ist. Die Mittelschicht nimmt Ungleichheit keineswegs hin, im Gegenteil. Allerdings muss dieser Trend nicht die Erfahrung mit schlechteren Arbeits- und Einkommenschancen objektiv spiegeln. Auch die vermehrte Medienpräsenz des Themas Einkommensungleichheit mag für Ungleichheitsfragen sensibilisieren.6 Die Beziehung zwischen faktischen Einkommensdisparitäten und den Ungleichheitsperzeptionen ist komplex und kann hier nicht erörtert werden. Der vorliegende Beitrag zielte vielmehr auf die Frage: Geht mit gestiegener Sensibilität für Ungleichheit in der Mitte der Gesellschaft auch die Wahl linker Parteien einher? Eine ungleichheitssensible Mittelschicht wählt keineswegs vermehrt die SPD. In allen sozialen Schichten nimmt die Wahrscheinlichkeit, SPD zu wählen, ab. Dies ist sicher auch eine Folge der Ausdifferenzierung des Parteiensystems, die das Parteienangebot im linken Spektrum erweiterte. Grundsätzlich aber stehen der Mittelschicht Cross-Class-Coalitions in beide Richtungen offen. Wenn die sozialen Unterschiede als ungerecht perzipiert werden, veranlasst dies die Dienstklassen der oberen und mittleren Hierarchieebene, alternative Parteien zu wählen. Die obere Mitte hat offenbar Interessen und Wahrnehmungen, die sie eher bei alternativen Parteien die Lösung für Ungerechtigkeit suchen lässt. Dies gilt in abgeschwächtem Maß auch für Angehörige der unteren Dienstleistungsmitte. Hingegen ist dies keine Option für die untere manuelle Mitte; deren Wahrnehmung zu großer sozialer Ungleichheit lenkt sie – ebenso wie die Unterschicht – zur LINKEN. Die Mittelschicht ist demnach weiter entlang der herkömmlichen Linien zwischen den Dienstleistungs- und den Blue-Collar-Tätigkeiten gespalten. Die Perzeption ungerechter Einkommensunterschiede führt also in unterschiedlichen Segmenten der Mitte zu unterschiedlichem politischen Verhalten. Während die obere Mittelschicht zu einer Cross-Class-Coalition mit der Oberschicht neigt und Parteien des alternativen Lagers (DIE GRÜNEN oder PIRATENPARTEI) wählt, neigt die untere Mittelschicht zur Wahl der LINKEN oder zu konservativen Parteien. Was also angesichts zunehmender Ungleichheit, die auch die Mittelschicht zu erreichen droht, zu tun ist, darüber sind sich obere und untere, manuelle und Dienstleistungsmitte eher uneinig. Ungerechtigkeitsempfindungen sind noch keine Determinante dafür, welche Politik oder welche Partei als die ›Geeignete‹ gesehen wird. Die Mittelschicht agiert weder politisch einheitlich, noch führt ›vorpolitische‹ Unzufriedenheit mit der sozialen Ungleichheit zur Wahl der SPD. Das bedeutet auch, dass die 6 | Nach der Medieninhaltsanalyse von Schröder und Vietze (2015) wuchs der Umfang der Medienberichte zu Ungleichheit und Gerechtigkeit: Ab 2000 berichteten die Qualitätszeitungen FAZ, DER SPIEGEL und DIE ZEIT durchschnittlich 2,5-mal so viel dazu wie in den Jahren vorher.

Die unzufriedene Mitte und die politischen Folgen

in den Abschnitten 2.1 und 2.2 formulierten Hypothesen 2 bis 4 weder eindeutig bestätigt noch widerlegt werden können. Vielmehr legen die empirischen Befunde ein sehr differenziertes Urteil nahe.

A nhan g Tabelle A1: Mittelschichten nach EGP-Schema Unterschicht An-/ungelernte Arbeiter

Untere Mitte Facharbeiter/ Techniker

Untere Mitte RoutineDienstleistungen

Obere Mitte Dienstklasse II

Oberschicht Dienstklasse I

N alle Schichten

2002

20,8 514

17,6 434

20,6 496

28,5 704

8,5 210

2.472

2012

19,4 609

17,8 585

20,2 633

29,7 932

9,0 282

3.142

Daten: ALLBUS kumuliert (1994 bis 2014.) Anmerkung: Eigene Berechnungen, gewichtet. Nicht dargestellt sind Selbständige mit und ohne Mitarbeiter und Landwirte. Mit diesen Gruppen ergibt jede Zeile 100 Prozent.

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Wertorientierungen und Normalitätskonstruktionen

Von Generation zu Generation Strategien des Statuserhalts im Kontext von Familien- und Berufsmentalitäten in der Mittelschicht Miriam Schad und Nicole Burzan

S tatuserhalt in der irritierten M it te ? Das Ausmaß sozialer Spaltung und Formen neuer Abstiegsängste in breiten Bevölkerungsteilen werden angesichts rechtspopulistischer Wahlerfolge und deren Wählerrekrutierung auch aus der Mitte der Gesellschaft kontrovers diskutiert (zum Beispiel Lessenich 2017; Koppetsch 2017b). Galt gerade die Mitte lange als wirtschaftlich, aber eben auch politisch als Stabilisierungsfaktor (Littrell et al. 2010), erscheint diese Annahme nicht mehr selbstverständlich. Trotz anhaltender Krisendiagnosen ist empirisch nicht gesichert, wie verunsichert oder zumindest irritiert die Mittelschicht ist und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Es zeigt sich vielmehr, dass bei der Analyse ›der‹ Mittelschicht differenziert werden muss. Es gibt sowohl definitorische Gemeinsamkeiten als auch unterschiedliche Fraktionen innerhalb der Mitte (vgl. Burzan/Berger 2010; Atkinson/Brandolini 2013; Burzan et al. 2014; Mau 2015). Die Heterogenität der Mitte speist sich schon aus ihren historischen Wurzeln; sie setzt sich aus Teilen des Bürgertums, der qualifizierten Angestelltenschaft und dem mittelständischen Unternehmertum zusammen. Die subjektive Schichtzugehörigkeit ist ausgeprägt: In aktuellen Umfragen ordnen sich über 60 Prozent der Befragten der deutschen Mittelschicht zu (Bünning 2016: 206). Ebenfalls werden in Fremdbeschreibungen − etwa in den Medien, aber auch in der Wissenschaft − die unterschiedlichsten Berufe und Lebenslagen zur Mitte gerechnet, teilweise nicht zuletzt, um als randständig wahrgenommene Klassifikationen zu vermeiden. Dabei meint das soziologische Verständnis von sozialen Positionen ›unterhalb der Mittelschicht‹ nicht zwingend ›randständige‹ oder ›exkludierte‹ soziale Lagen. In soziologischen Analysen findet sich insgesamt keine einheitliche Definition der Mittelschicht. In ressourcenbasierten Ansätzen dienen das Einkommen, Qualifikationen und/oder

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berufliche Tätigkeiten als gängige Basis für mehr oder weniger stark differenzierte Unterteilungen. Daneben lassen sich Schichtzugehörigkeiten über Mentalitäten konstruieren. So wurden den Mittelschichten in der Bundesrepublik lange Zeit typische kulturelle Merkmale zugeschrieben: etwa Bildungs- und Leistungsbereitschaft, langfristige Planung bei begrenzter Risikofreude sowie ein ausgeprägtes Familienideal (vgl. Hradil/Schmidt 2007; Groh-Samberg et al. 2014). Teil eines mittelschichtsspezifischen Selbstverständnisses sind zudem Geschlechterarrangements (zum Beispiel zur Mutterrolle Hennessy 2015) sowie die Abgrenzung gegenüber der Arbeiterschaft und der sogenannten Unterschicht (Lawler 2005). Je nach definitorischem Ansatz divergieren die empirischen Befunde zu einer potentiellen Schrumpfung oder Verunsicherung. Empirisch lässt sich in Deutschland allerdings keine extreme Schrumpfung der Mittelschicht beobachten, auch wenn selbst leichte Rückgänge als Krisenzeichen gedeutet werden könnten. Die geäußerte Unsicherheit nach Anstiegen zu Beginn der 2000er Jahre ist sogar wieder rückläufig (vgl. zum Beispiel Burkhardt et al. 2013; Burzan et al. 2014; Lengfeld/Ordemann 2017). Insgesamt lassen sich durchaus neue Herausforderungen beschreiben, die von Angehörigen der Mittelschicht neue Anpassungsleistungen verlangen, jedoch nicht zwangsläufig eine erfolgreiche Statusreproduktion verhindern. Diese Herausforderungen können weniger als deutliche Verunsicherungen und vielmehr als Irritationen verstanden werden, die unterschiedlich bewältigt werden (Schimank et al. 2014). Dabei lohnt insbesondere der Blick auf die Strategien der intergenerationalen Statusweitergabe in Familien. Denn Familien sind der ›soziale Ort‹, an dem über Generationen hinweg der soziale Status neu erreicht, habituell verfestigt und als Wert weitergegeben werden kann. Weniger erforscht ist hierbei die kulturelle Dimension der Statusreproduktion: Welche Spannweite an familialen Mentalitäten und Werten (sowie einhergehende Handlungsstrategien) sind in der Mittelschicht zu beobachten? Und wie erhalten oder transformieren sich diese über Generationen hinweg? Über allgemeinere Anknüpfungspunkte zum Beispiel an Bourdieus (1982) Modell des sozialen Raums oder Ansätze sozialer Milieus (zum Beispiel Vester et al. 2001) hinaus gibt es (überraschenderweise) kaum systematische neuere Forschung zu (mittel-)schichtsspezifischer Sozialisation unter der Bedingung potentieller Statusgefährdung (vgl. Schmidt/Moritz 2015), sondern eher eine Vielzahl punktueller Anregungen aus der Familien-, Biographie- oder Bildungsforschung. Dabei besteht Forschungsbedarf zu Familienkulturen insbesondere bezogen auf deren Bedeutung als Reproduktionsinstanz sozialer Ungleichheit (Ecarius 2013). Zudem stellt sich die Frage, inwiefern Familien von der Zugehörigkeit zu bestimmten Berufsgruppen geprägt werden und sich kulturelle Einflüsse (etwa durch einen pädagogischen oder ärztlichen Habitus) beobachten lassen. Werden nicht in erster Linie Ressourcen betrachtet,

Von Generation zu Generation

sondern auch Wertorientierungen und Abgrenzungspraktiken1, stellt sich die Frage, welche Familien- und Berufsmentalitäten zur Statusweitergabe beitragen und welche Handlungsstrategien sich – intra-, aber auch intergenerational – als Reaktion auf (neue) Herausforderungen ergeben. Der vorliegende Beitrag befasst sich in diesem Kontext mit der Frage, mit welchen Reaktionsmustern (über punktuelle Verhaltensweisen hinaus) Mittelschichtsangehörige auf etwaige Statusirritationen reagieren, wobei uns – nur analytisch von intragenerationalen Aspekten trennbar – insbesondere intergenerationale Muster der Statusreproduktion interessieren. Nach einer heuristischen Skizze solcher Reaktionsmuster präsentieren wir in einer explorativen Herangehensweise zwei Fallbeispiele. Die Analyse von zwei Mittelschichtsfamilien dient dazu, erste konzeptionelle Hinweise zu erlangen, die wir in künftigen empirischen Untersuchungen weiterentwickeln wollen.2 Aus der Literatur lassen sich zunächst drei idealtypische Reaktionsmuster ableiten, die Handlungsstrategien von Angehörigen der Mitte auf Statusirritationen beschreiben (vgl. Burzan 2017b): a. Ein Festhalten an bisherigen Prinzipien der Bildung und Leistung mit Tendenz zur sozialen Schließung, b. ein inkrementalistisches Coping, also ein kurzfristigeres Sich-Durchwursteln ohne grundsätzliche Umorientierung oder c. eine Neuorientierung, nach der Bastelbiographien und subjektive Unsicherheiten als Begleiterscheinung von Individualisierung zunehmend an Normalität gewinnen und die (auch in der Mittelschicht) Sicherheitserwartungen reduziert. Die erste Handlungsstrategie beschreibt ein Beharren und Festhalten an bisherigen Prinzipien der Bildung und Leistung, wobei nicht klar ist, wie erfolgreich

1 | Je nach theoretischer Perspektive lässt sich zum Beispiel von Habitus (Bourdieu 1982), Mentalität (Geiger 1967) oder Lebensführung (Müller 2016) sprechen, die sich in unterschiedlichem Maße auf Werte, Ziele oder Handlungspraktiken richten, dabei allerdings nicht trennscharf voneinander abgegrenzt sind. Vester et al. (2001: 162ff.) weisen darauf hin, dass zum Beispiel ›Habitus‹ und ›Mentalität‹ im deutschsprachigen Raum ähnlich verwendet werden. 2 | Einen Teil dieses Forschungsinteresses verfolgen wir derzeit in Kooperation mit Berthold Vogel im von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsprojekt »Statuserhalt in der ›sozialen Mitte‹. Intergenerationale Stabilisierungsmechanismen in Berufsfeldern der Mittelschicht« (2018 bis 2020). In einem anderen Strang konzentrieren wir uns (mit unterschiedlichen methodischen Zugängen) auf mittelständische Unternehmerfamilien (vgl. Schad/Burzan 2018).

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diese Strategie in Zukunft sein wird.3 Koppetsch (2016, 2017a) beispielsweise beschreibt drei Reaktionsmuster auf Gefährdungsgefühle in verschiedenen Milieus der Mittelschicht (die ›Logik des Erbes‹ in der etablierten Mittelschicht, eine ›Selbstoptimierung‹ in aufstiegsorientierten Milieus und eine ›Reaktion der Beharrung‹ bei abstiegsgefährdeten Facharbeitern und männlichen Führungskräften), die als Ausprägungen dieser ersten Strategie interpretiert werden können. In einer eigenen Untersuchung bei Angehörigen zweier akademischer Berufsgruppen konnte herausgearbeitet werden, dass diese sich zwar zum Beispiel in ihrem Unsicherheitsempfinden oder ihren Planungshorizonten voneinander unterschieden. Allerdings hielten die Menschen oft an längerfristigen Sicherheitserwartungen fest, zum Beispiel jüngere freiberufliche Journalistinnen, die die Vorstellung hatten, irgendwann später einmal eine sicherere Stellung zu haben (Burzan/Kohrs 2013; Burzan et al. 2014; Burzan 2017a). Das zweite Handlungsmuster, das inkrementalistische Coping, beschreibt eine Anpassungsstrategie, die den Charakter einer Improvisation hat, wie es etwa Groh-Samberg et al. (2014), Schimank et al. (2014) und Schimank (2015) als Reaktion auf veränderte gesellschaftliche Strukturdynamiken vermuten. Diese Strategie hat ebenfalls das Ziel, die ›ursprüngliche‹ Lebenssituation wiederherzustellen, wobei eher situativ und reaktiv gehandelt wird. Als Beispiel nennen Schimank et al. (2014: 79) die Wahl einer Waldorfschule für das eigene Kind, wenn die Leistungen nicht mehr den Anforderungen des Gymnasiums entsprechen. Bisher gibt es wenige systematische empirische Nachweise über die Verbreitung dieser Handlungsstrategie bei Angehörigen der Mittelschicht. Entsprechende Vorstellungen finden sich jedoch bereits bei Klassikern der Prekarisierungsliteratur. So spricht etwa schon Castel (2000: 358) von einer aus »provisorische[m] Durchwursteln bestehende[n] Mobilität«. In einem neueren Beispiel beobachten Grimm et al. (2013) in einer qualitativen Panelstudie (unter anderem zu Menschen mit einer sozialen Herkunft aus der Mittelschicht), wie Betroffene mit Statusturbulenzen konfrontiert sind und darauf mit Handlungsweisen wie rastlosen und häufig nicht zielgerichteten und erfolgversprechenden Aktivitäten im Erwerbsbereich reagieren (siehe auch Grimm 2016). Die dritte Handlungsstrategie beschreibt eine Neuorientierung des eigenen Lebens als Reaktion auf Irritationen. Hierbei sind die Loslösung von klaren subjektiven Schichtzugehörigkeiten und die Wahrnehmung von Unsicherheit Begleiterscheinungen von Individualisierungsprozessen (vgl. Bonß 2009: 160; Beck/Beck-Gernsheim 2015 [1994]). Die »Ausgliederung privater Freiheitszonen aus institutionell festgelegten Lebenszusammenhängen« (Hitzler/ Honer 2015: 307-308) erfordert und ermöglicht es, die eigene Biographie zu 3 | Vester (2006: 271) etwa vermutet, dass sich eine eher unteren Schichten zugeschriebene ›flexible Gelegenheitsorientierung‹ teilweise als funktionaler erweisen könnte.

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gestalten und – im vorliegenden Kontext als Reaktion auf Irritation – auch neue Lebensentwürfe auszuprobieren. Im Sinne von Bastelbiographien kommt es für den ›individualisierten Menschen‹ immer wieder zu neuen Gruppenorientierungen und sozialen Rollen. Biographische Umbrüche stellen nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel dar. Eine solche Neuorientierung ist allerdings empirisch vergleichsweise schwierig zu identifizieren. So arbeiten etwa Koppetsch und Speck (2015) Neuausrichtungen von Geschlechterrollen in Paarbeziehungen heraus, in denen »der Mann kein Ernährer mehr ist«. Männliche Partner in individualistischen Milieus stellten allerdings ihre Geschlechterrolle etwa über ihre künstlerische Selbstverwirklichung (in einer nicht unterhaltssichernden Erwerbstätigkeit) und über ›Coolness‹ (wieder) her (Koppetsch/Speck 2015: 66ff.). Es lässt sich zusammenfassen, dass es Hinweise, aber keine eindeutigen empirischen Befunde zu den Ausprägungen der skizzierten Handlungsstrategien und ihren jeweiligen Einflussfaktoren gibt. Aus diesem Grund wenden wir uns dem Thema in Form einer explorativen Untersuchung zu und zwar konkret zu intergenerationalen familialen Strategien des Statuserhalts in Mittelschichtsfamilien. Über häufiger diskutierte Bildungsaspirationen und -investitionen hinausgehend, beschäftigen wir uns mit der kulturellen Dimension des Statuserhalts in Form von Berufs- und Familienmentalitäten. Auf der Basis erster Vorarbeiten für diesen Forschungskontext konzentrieren wir uns im vorliegenden Beitrag auf empirisches Material aus zwei Familieninterviews.4 Die Familien stammen dabei anhand ihrer beruflichen Zuordnung aus zwei der historisch herleitbaren Segmente der Mittelschicht. Es handelt sich zum einen um eine Familie aus dem Bereich der akademischen Berufe beziehungsweise Professionen aus ›staatsnahen‹ Sektoren und zum anderen um eine mittelständische Unternehmerfamilie. Natürlich repräsentieren diese Fälle keinesfalls idealtypisch vorab definierte Segmente der Mittelschicht, sondern sie dienen insbesondere dazu, mit der Auslotung der Frage zu beginnen, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede auch innerhalb der Mittelschicht bestehen, wenn es darum geht zu klären, wie die Statusweitergabe in den Familien wahrgenommen und gefördert wird sowie welche der heuristisch skizzierten Reaktionsweisen auf etwaige Herausforderungen für die Mittelschicht möglicherweise sichtbar werden.

4 | Bei diesen Interviews mit mehreren Familienmitgliedern aus verschiedenen Generationen handelt es sich um ein in der Ungleichheitsforschung bislang nur selten verwendetes Erhebungsinstrument (siehe zuletzt zum Beispiel für Armutslagen Schiek 2017). Ein Potential dieser Gesprächsform liegt darin, erzählgenerierend zugleich die Kommunikation und die situative Interaktion zwischen den Familienmitgliedern zu erfassen.

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I ntergener ationale S tatusweitergabe in z wei F amilien der M it te Die familiale Statusreproduktion in der Generationenfolge wird am Interviewmaterial auf drei Fragen hin untersucht: Erstens interessiert uns, durch welche Mechanismen und Strategien vor dem Hintergrund welcher wahrgenommenen (gegebenenfalls krisenhaften) Bedingungen familiale Kontinuität geschaffen oder durchbrochen wird. Da wir familiale Traditionen, Werte und Mentalitäten als Wirkungskomplex in den Blick nehmen, ist, zweitens, zu fragen, ob es dabei einen Zusammenhang von Werte- und Statuskontinuität gibt. Schließlich untersuchen wir, drittens, das Interviewmaterial darauf, ob und wie soziale Verortungen, etwa eine auch subjektive Zugehörigkeit zur Mittelschicht oder Abgrenzungen zu anderen sozialen Lagen, zum Ausdruck kommen. In der ersten Familie (mit einer Zuordnung zu ›staatsnahen‹ Berufen) nehmen sechs Familienmitglieder am Interview teil.5 In der ältesten Generation gibt es den verwitweten 80-jährigen Großvater, der einen kleinen elterlichen Betrieb erst übernommen, in den 1970er Jahren aber verkauft hatte und dann auf einer gut dotierten Stelle in der öffentlichen Verwaltung tätig war. Der mittleren Generation gehört seine Tochter (Mitte 50) an, die sich einen künstlerischen Beruf vorstellen konnte, sich nach dem Abitur aber für den ›sichereren Weg‹ eines Lehramtsstudiums entschied und heute an einer Schule tätig ist. Ihr gleichaltriger Mann, den sie seit ihrer Jugend kennt, ist ebenfalls Gymnasiallehrer. Das Paar hat drei Kinder zwischen 19 und 26 Jahren. Die beiden älteren Töchter studieren Medizin und Jura. Die angehende Juristin fühlt sich dabei stark unter Druck, denn nur mit Prädikatsexamen hat sie ihres Erachtens berufliche Entfaltungschancen. Der jüngste Sohn, der erst die Realschule besuchte und dann zum Gymnasium wechselte, hat seinen Wunschstudienplatz für Medizin noch nicht bekommen und absolviert ein freiwilliges soziales Jahr. Im intergenerationalen Vergleich lässt sich bezogen auf die Statusreproduktion eine ausgeprägte Kontinuität feststellen. Für die Herstellung dieser Kontinuität spielen die familiale Kommunikation und die engen verwandtschaftlichen Bindungen eine wichtige Rolle. Die Familie ist regional verwurzelt, die Töchter studieren in der Nähe. Gemeinsame regelmäßige Treffen, Aktivitäten und Traditionen stützen den Zusammenhalt untereinander. Man kann von einem ›Unterstützungs-Narrativ‹ als einem Kristallisationspunkt des Interviews sprechen. Ausführlich heben vor allem die jungen Familienmitglieder hervor, wie sehr sie durch die Eltern unterstützt worden seien, unter anderem bei schulischen Leistungen. Geschichten, die prinzipiell auch einen negativen Beiklang haben könnten, werden hier aus der Erfolgsperspektive erzählt (etwa wie die Mutter mit einer Tochter in den Ferien 5 | Dieses Fallbeispiel findet sich ähnlich in Burzan (2017b).

Von Generation zu Generation

jeden Tag Englisch übte). Eine weitere Einflussnahme mit Sicherheitsmotiv wird sichtbar, als die Eltern einer Tochter raten, lieber in der Nähe als weit entfernt zu studieren. Das Motiv der ›Unterstützung ohne Druck‹ findet sich bereits zwischen dem Großvater und seiner Tochter. Er sagt zum Beispiel: »Sie hat nie in ihrem Leben Druck gespürt. Also sagen wir mal so, dass sie auf der Schule und auch immer, wir haben das im Auge gehabt, aber haben sie immer machen lassen, und sie hat dann auch ihre Entscheidungen selbst getroffen«. Weitergehende Statusinvestitionen sind über die elterliche Unterstützung hinaus nicht notwendig. Gesellschaftliche Bedingungen spielen eine geringe subjektive Rolle, denn bislang funktioniert die Leistungsstrategie (noch) gut. Der jüngste Sohn erklärt den verzögerten Studienbeginn mit dem doppelten Abiturjahrgang (durch eine Umstellung von einer neun- auf eine achtjährige Gymnasialzeit) und ist derzeit optimistisch, demnächst Medizin zu studieren. Beruflich spielen die Ziele Sicherheit, Prestige und ein gewisser Lebensstandard eine Rolle. Karriere- und Einkommenswünsche werden aber nicht nur durch Risikovermeidung gebremst, sondern auch durch die hohe Bedeutung von Familie, die – nach dem Vorbild der Herkunftsfamilie – mit dem Beruf vereinbar sein soll. Ein Zusammenhang von Werte- und Statuskontinuität ist durch den Wert der Leistung damit klar gegeben. Wir haben es mit einer ›unirritierten‹ Familie zu tun, die im Sinne der oben genannten Klassifikation eindeutig dem (bislang erfolgreichen) »Festhalten am Bewährten« zuzuordnen ist. Deutlich wird, dass diese Haltung allerdings an Bedingungen gebunden ist. Dazu gehören die ökonomische Absicherung in der eher gehobenen Mittelschicht (das freiwillige soziale Jahr des Sohns wird zum Beispiel nicht unter finanziellen Gesichtspunkten diskutiert), vergleichsweise statussichere Berufsfelder (Lehramt, Medizin, Jura) sowie die familiale (räumlich konzentrierte) Bindung und Solidarität. Eine soziale Grenzziehung nach ›oben‹ wird dadurch erkennbar, dass zum Beispiel Karriere- und Einkommenswünsche durch die Prioritätensetzung auf Sicherheit und Zeit für die (antizipierte) Familie gebremst sind. Auch findet sich kein expliziter Wunsch nach gesellschaftlichem Einfluss, sondern vor allem nach individueller Gestaltungsfreiheit im Beruf. Zur Grenzziehung nach ›unten‹ gibt es ebenfalls Hinweise: Die junge Generation bewegt sich überwiegend im Umfeld anderer Höherqualifizierter. Es gibt mehrere Abgrenzungserzählungen zu jungen Menschen mit geringerer Leistungsbereitschaft und zugleich geringerer elterlicher Unterstützung. Der Großvater ist gegenüber seiner nicht-akademischen Verwandtschaft stolz auf seine erfolgreichen, dennoch nicht herablassend agierenden engeren Familienmitglieder. Eine subjektive Statuszäsur wird hier deutlich. Es lässt sich festhalten, dass die auffällige ›Unirritiertheit‹ dieser Familie auf bestimmten Bedingungen beruht. Zudem sind fortgesetzte Strategien not-

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wendig, um zu bestimmten Anlässen oder an biographischen Übergängen die Wertekontinuität zu wahren, etwa wenn die Tochter überzeugt wird, besser in der Nähe zu studieren. Diese mit Kontakt und Kommunikation verbundene Kontinuierung ist allerdings nur ein möglicher Mechanismus der Statusstabilisierung neben anderen, wie das zweite Fallbeispiel zeigt. Es handelt sich um eine Familie aus dem sogenannten ›alten Mittelstand‹, die in der zweiten Generation eine Autowerkstatt mit mehreren Angestellten besitzt. Am Gespräch nahmen die seit etwa 20 Jahren verwitwete Großmutter, ihre Tochter, ihr Sohn und dessen Frau sowie eine von deren Töchtern teil. Der Großvater hatte den Betrieb in den 1960er Jahren gegründet und später ausgebaut, seine beiden Kinder und die Schwiegertochter setzen die Unternehmensführung fort; die Großmutter hilft weiterhin im Büro aus. Während der Sohn Meister im Kfz-Bereich wurde, haben die Frauen eine Ausbildung im Verwaltungsbereich beziehungsweise ein Studium im Bereich Wirtschaft absolviert und sind auch im Familienunternehmen im Verwaltungsbereich tätig. Die 21-jährige Enkelin hat eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten erfolgreich beendet und arbeitet derzeit weiter in ihrem Ausbildungsbetrieb. Ihre jüngere Schwester besucht noch die Oberstufe einer Gesamtschule. Familiale Kontinuität wurde von der älteren zur mittleren Generation deutlich durch den autoritären Druck des Vaters (erste Generation) ausgeübt. Seine beiden Kinder stellen aus heutiger Sicht dar, dass der Einstieg in das Familienunternehmen nahezu alternativlos war. Sie fügten sich den Plänen des Vaters, wenn auch nicht mit Freude. Dessen Handlungsprinzipien stellen über seinen Tod hinaus einen wichtigen Orientierungsrahmen für alle Familienmitglieder dar. Dabei werden statuserhaltende Werte wie Fleiß und die Bereitschaft, ›hart zu arbeiten‹ und ›auf Urlaub zu verzichten‹, als grundlegende familiale Prinzipien beschrieben. Die ›Aufsteiger-Biographie‹ des Großvaters, der sich ohne jedes Startkapital eine solide Existenz auf baute und auch immer ›eine gewisse Portion Glück‹ hatte, ist identitätsstiftend für die gesamte Familie. Die Großmutter sowie die zweite Generation fühlen sich verantwortlich, das Erbe des Großvaters weiterzuführen. Dazu trägt (neben dem innerfamilialen Zusammenhalt) auch bei, ›passende‹ Partnerinnen beziehungsweise Partner zu haben. Die Schwiegertochter etwa stammt ebenfalls aus einer selbständigen Handwerkerfamilie und eine frühere Beziehung der Tochter scheiterte, weil ihr Partner ihr zufolge kein hinreichendes Verständnis für ihr großes Engagement im Familienbetrieb auf bringen konnte. An der Schnittstelle zur jüngeren Generation ist dies anders: Autoritäre Direktiven, wie die vorige Generation sie erfahren hat, kommen normativ nun nicht mehr in Frage, sodass den Töchtern größere Spielräume bei der Berufswahl zugestanden werden. Die Problematisierung der Nachfolgefrage könnte hier als eine Art ›Stellvertreterproblem‹ für den nicht explizit als Risiko dargestellten intra- und intergenerationalen Statuserhalt fungieren. Da sich derzeit

Von Generation zu Generation

keine der Töchter in der jüngeren Generation anschickt, den Betrieb zu übernehmen, und die mittlere Generation zugleich konstatiert, das erforderliche hohe berufliche Engagement allenfalls etwa 15 Jahre weiter aufrechterhalten zu können, ist hierfür ein zeitlicher Rahmen abgesteckt. In diesem müsste das Unternehmen entweder möglichst mit Gewinn verkauft werden, oder es könnte doch noch zum Beispiel ein handwerklich affiner Schwiegersohn (auch hier: ein passender – männlicher – Partner) auf der Bühne erscheinen, der mit einer der Töchter zusammen den Betrieb übernimmt. Der folgende Gesprächsauszug illustriert diesen Aspekt: Tochter: »Ich weiß nicht so. Also kann ich mir jetzt irgendwie noch nicht so – vorstellen, muss ich sagen. Also – weil das ist so viel, was man dann – also klar, das ist alles hier so aufgebaut schon, aber das so alleine weil – also ich weiß ja nicht, was meine Schwester, wenn meine Schwester sagt, sie will das halt nicht – alleine, als einzige Person dann, das funktioniert ja gar nicht. Also dann müsste man halt wieder gucken, dass man Mitarbeiter hat. Gut, wer weiß, wie lange meine Eltern, meine Tante, ne? Weiß man ja auch nicht, wie lange das halt alles so funktioniert. Also ich weiß nicht. Kann ich mir irgendwie nicht so [lacht] nicht so vorstellen.« Vater: »Müsste dann schon irgendwie einen Partner mitbringen.« Tochter: »Genau. Genau.« Mutter: »Musst du einen kennenlernen!« Tochter: »Müsste ich jemanden kennenlernen, der halt dann so.« Mutter: »Stellenausschreibung, hätte ich fast gesagt.« [lacht]

Ohne eine solche Fortsetzung ist es für die junge Generation – zumindest von außen betrachtet – im Grunde unklar, ob sie den Status mittelständischer Unternehmer etwa mit einer Lehre im Verwaltungsbereich nach dem Realschulabschluss wird beibehalten können. Unabhängig von diesem potentiellen Konfliktfeld der Verknüpfung des intra- und intergenerationalen Statuserhalts ist es den Familienmitgliedern wichtig, ein harmonisches Familienbild zu präsentieren. Gemeinsame Entscheidungen in Unternehmensbelangen, familiale Solidarität, Traditionsbewusstsein und lokale Ortsbindung sind – im Sinne eines ›Verantwortungs-Narrativs‹ − mehrfach im Interview geäußerte Aspekte. Bei dieser Unternehmerfamilie fallen Werte- und Statuskontinuität(svorstellungen) also nicht umstandslos zusammen. Der Wert der Leistung gilt zwar auch in der jüngeren Generation – wenngleich sich dieses Prinzip in Form einer generellen Haltung zeigt (zum Beispiel bei Schnupfen nicht gleich der Arbeit fernzubleiben) und nicht im Anspruch auf möglichst hohe, das heißt akademische Qualifikationen. Der Wert vorausschauender Planung ist demgegenüber schon etwas aufgeweicht mit dem Verweis darauf, dass viele in der jungen Generation nach dem Schulabschluss noch keine konkreten Pläne für ihre Berufslauf bahn hätten. Die Leistungsbereitschaft und das (in der mitt-

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leren Generation vorhandene) Ideal der planenden Voraussicht allein sichern den Statuserhalt eben nicht. Dies hat mit der Nachfolgefrage zu tun, damit verbunden mit Aspekten sozialen Wandels wie den gestiegenen normativen Freiheitsgraden der Berufswahl, aber auch mit den raschen technologischen Veränderungen in der Branche, die einen optimalen Verkaufszeitpunkt (nicht erst im Kontext eines ›Investitionsstaus‹) nur schwer vorausplanen lassen. Schließlich zeigen Aussagen zur sozialen Verortung, dass die Familienmitglieder (zumindest in der älteren und mittleren Generation) durchaus ein Statusbewusstsein als Unternehmer haben. Sie sind in den Rollen der unternehmerischen Entscheider, Arbeitgeber, waren auch Vermieter und haben vielfach Kontakt mit anderen Selbständigen in ähnlichen Lebenssituationen, zum Teil auch mit ähnlichen Problemen der Zukunftssicherung. Dieser Status ist erst einmal unabhängig von konkreten Einkommens- und Vermögensverhältnissen (denn zum Beispiel wird davon berichtet, Geld etwa aus Bausparverträgen immer in den Betrieb investiert zu haben). Eine Abgrenzung ›nach unten‹ ist also durchaus sichtbar sowie – allgemeiner – zu Menschen, die von ihrer Mentalität her nicht ›bodenständig-zupackend‹ sind. Darüber hinausgehende Abgrenzungen ›nach oben‹, etwa zu Menschen mit mehr ökonomischem oder kulturellem Kapital, spielen in der Präsentation im Interview keine herausgehobene Rolle. Im Sinne der oben angesprochenen Reaktionsweisen auf sozialen Wandel ist die Familie aus dem zweiten Fallbeispiel eher dem Typus »inkrementalistisches Coping« zuzuordnen – ohne dass dies über die Nachfolgefrage hinaus als Statusverunsicherung expliziert würde. Aufgrund der beschriebenen Umstände ist die mittlere Generation eher in einer – für sie durchaus tendenziell unangenehmen – abwartenden als in einer gestaltend planenden Haltung. Sie ist auch für eine Entscheidung über Strategien ihres eigenen Statuserhalts auf Weichenstellungen der Jüngeren angewiesen, die mit höchstens Anfang 20 bestimmte biographische Übergänge (zum Beispiel Auszug aus dem Elternhaus, feste Bindung an einen Partner, berufliche Weiterqualifikationen) noch nicht vollzogen haben. Wie lässt sich das Bild nun durch einen Vergleich der beiden Fallbeispiele weiter schärfen? Es gibt einige augenfällige Gemeinsamkeiten dieser zwei Familien: Dazu gehören bestimmte Werte, die aus der Forschung als mittelschichtstypisch bekannt sind, beispielsweise Leistungswille, Fleiß oder die Bereitschaft zur aufgeschobenen Bedürfnisbefriedigung. Ebenfalls gibt es in beiden Familien die Betonung familialer Solidarität und Traditionen, die durch eine Ortsgebundenheit aller Generationen sowie gemeinsam verbrachte Zeit (in der Freizeit oder bei der Arbeit) weiter verstetigt werden. In beiden Fällen wird ein deutliches Statusbewusstsein erkennbar von Menschen, die vor allem mit sozial Ähnlichen privaten Kontakt haben und die im Interview keine expliziten Abstiegsängste äußern. Dem stehen jedoch auch Unterschiede gegen-

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über: Auf der einen Seite finden wir (im ersten Fallbeispiel) das Festhalten am Bewährten mit der Annahme, durch großen (intergenerational gesteigerten) Fleiß auch unter möglicherweise veränderten Rahmenbedingungen ›des eigenen Glückes Schmied‹ sein zu können. Auf der anderen Seite dominiert (im zweiten Fallbeispiel) hinsichtlich weiterer Zukunftsperspektiven ein gewisses Abwarten, wie die Nachfolgefrage entschieden werden kann, und damit im Sinne der obigen Differenzierung eher eine Haltung des Copings anstatt des gestaltenden Planens. Dies ist dadurch bedingt, dass die Angehörigen der mittleren Generation als Selbständige – neben gegebenenfalls privaten Vorsorgeaktivitäten – keine vorgezeichneten Wege des Renteneintritts und der Altersversorgung vor sich haben, flankiert durch die genannten Bedingungen des recht schnellen technologischen Wandels in der Branche, der wegfallenden Einflussnahme auf die Berufe der Kinder in der jungen Generation, die generationstypisch erst allmählich vorläufige Perspektiven entwickeln, und des Lebenslaufdrucks des eigenen Alters unter Mitberücksichtigung der Großmutter. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die Lehrerfamilie fraglos auf akademische Bildung setzt (insbesondere in der jungen Generation und geschlechterunabhängig), während dies für die Unternehmerfamilie kein virulentes Thema ist. Dies gilt, obwohl ein Ausbildungsabschluss der Jüngsten neben Aspekten der abnehmenden Verwertbarkeit nicht-akademischer Bildung einen auch formalen Abstieg gegenüber ihren Eltern (der Vater ist Meister, die Mutter hat ein Studium absolviert) bedeuten würde – auch für die jüngste Tochter, die angehende Abiturientin, sind Ausbildungsberufe im Gespräch. In der mittleren Generation war ein Studium noch unnötig, um den Status ›mittelständischer Unternehmer‹ aufrechtzuerhalten, was hier habituell nachwirken könnte. Die optimale ›Work-Life-Balance‹ bei hohem Prestige und großen persönlichen Gestaltungsmöglichkeiten ist kein Thema, das die Vertreterin in der jüngsten Generation in der Unternehmerfamilie (im Gegensatz zu den Studierenden in der Lehrerfamilie) einführt.

M entalitäten und S tatuserhalt Kulturelle Dimensionen der Statusreproduktion von Mittelschichtsfamilien vor dem Hintergrund neuerer gesellschaftlicher Herausforderungen stehen noch vergleichsweise wenig im Fokus der Ungleichheitsforschung. Die zwei Fallbeispiele liefern Anknüpfungspunkte, um sich konzeptionell mit diesem Zusammenhang von Berufs- und Familienmentalitäten und der intergenerationalen Statusreproduktion zu befassen. Eine vorläufige Hypothese lautet, dass die unterschiedliche Verortung beider Fälle innerhalb der Mittelschicht − mit der an bürgerliche Traditionen anknüpfenden Familie in ›staatsnahen‹ akademischen Berufen auf der einen Seite und den mittelständischen Unter-

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nehmern, die ihren Status nicht aus der akademischen Bildung bezogen, auf der anderen Seite – nach wie vor einen Einfluss (im Sinne unterschiedlicher Berufsmentalitäten) auf die Formen der Statusreproduktion hat. Historische Linien der heterogenen Zusammensetzung dessen, was zunächst einmal summarisch als ›Mittelschicht‹ bezeichnet wird, wirken hier also – in vertikalem und/oder horizontalem Sinne – auch unter Bedingungen eines sozialen Wandels, der generell ein Potential für biographische Unwägbarkeiten birgt, fort. Bezogen auf die Familienmentalitäten lässt sich auf der Grundlage der Familieninterviews die Annahme formulieren, dass unterschiedliche kulturelle Formen der familialen Praxis eine bedeutende Rolle für den Statuserhalt spielen. Das erwähnte (eher auf nachfolgende Generationen gerichtete) ›Unterstützungs-Narrativ‹ sowie das (tendenziell auf das von vorangegangenen Generationen Aufgebaute und gegebenenfalls auf die eigene Erwerbsbiographie bezogene) ›Verantwortungs-Narrativ‹ können Ausdrucksformen einer intergenerationalen Familienmentalität sein. Neben sozialstrukturell gängigen Differenzierungen gilt es bei der Fortführung unserer empirischen Exploration somit, weitere Elemente relevanter Bedingungskonstellationen für die Festigung oder Gefährdung der familialen Statusreproduktion in der Generationenfolge herauszuarbeiten. Eine Spur, die sich aus den Fallbeispielen ergibt, richtet sich beispielsweise auf die räumliche Konzentriertheit der Familie und deren Einfluss auf Gelegenheiten und Arten der Mentalitätsweitergabe oder -transformation. Insofern zielen wir darauf ab, die Analyse des Zusammenhangs von Status und Mentalität weiter zu schärfen. Dies geschieht in einer konzeptionellen Hin- und Her-Bewegung zwischen heuristischen Zuordnungen von Mittelschichtssegmenten (künftig unseren Planungen gemäß zum Beispiel auch qualifizierte technische Angestellte) auf der einen Seite und unterschiedlich stark homogenen oder heterogenen Familienmentalitäten und damit Mustern der intergenerationalen Statusreproduktion auf der anderen Seite. Diese können die heuristischen Zuordnungen möglicherweise bestätigen, aber auch eine Nachjustierung oder sogar Neukonzeptionierung typischer sozialstruktureller Trägergruppen und damit gegebenenfalls Mittelschichtssegmente erforderlich machen.

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Paar- und Familienleitbilder der ›Mitte‹ zwischen Persistenz und Wandel Eine paar- und heteronormativitätskritische Perspektive 1 Christine Wimbauer, Julia Teschlade, Almut Peukert und Mona Motakef

1. E inleitung : W er ist F amilie – und wenn ja wie viele ? Welche Liebesbeziehungen und Familienformen gesellschaftliche und rechtliche Anerkennung genießen oder was überhaupt eine Familie ist, sind heute mehr denn je umkämpfte Fragen. Seit Inkrafttreten des Lebenspartnerschaftsgesetzes (LPartG) 2001 können gleichgeschlechtliche Paare rechtlich abgesichert dauerhaft Verantwortung füreinander übernehmen. Es dauerte allerdings weitere 16 Jahre, bis der Deutsche Bundestag im Juni 2017 das Gesetz zur Öffnung der Ehe verabschiedete. Seit Oktober 2017 können auch schwule und lesbische Paare den in Artikel 6 des Grundgesetzes besonders geschützten Bund der Ehe schließen – für viele ein mühsam erkämpfter historischer Tag und großer Schritt zur rechtlichen Gleichstellung hetero- und homosexueller (Ehe-)Paare. (Rechts-)Konservative Stimmen befürchten hingegen einen gesellschaftlichen Werteverfall, einige postulieren den Untergang des Abendlandes und viele sehen die Familie in der Krise: Gilt doch die ›heterosexuelle Normalfamilie‹, bestehend aus lebenslanger monogamer Ehe von Mann und Frau mitsamt leiblichem Nachwuchs und geschlechterungleicher Arbeitsteilung, als ›Keimzelle‹ (nicht nur) der (bundesdeutschen) Gesellschaft (Wimbauer et al. 2015). Auch im geschlechterpolitisch progressiven Lager ist die Öffnung der Ehe umstritten: Kritische Stimmen aus den Queer Studies konstatieren eine »heterosexuelle Normalisierung der Homosexualität« (Hark 2000: 91) und verweisen auf Ambivalenzen der rechtlichen Anerkennung. Als 1 | Der Beitrag entstand im Rahmen unseres von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Projektes »Ambivalente Anerkennungsordnung. Doing reproduction und doing family jenseits der heterosexuellen ›Normalfamilie‹« (Laufzeit 01/2018 bis 12/2020).

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problematisch wird hier betrachtet, dass eben nicht ›gleiche Rechte für alle‹ erreicht werden. Vielmehr werden nur solche gleichgeschlechtlichen Lebensformen staatlich anerkannt, die insofern der Ehe ähneln, als dass sie ebenfalls aus zwei Personen bestehen, die staatlich legitimiert dauerhaft Verantwortung füreinander übernehmen wollen. Hiervon abweichende Lebensformen – etwa unverheiratete oder nicht-verpartnerte Paare, Einelternfamilien oder Sorgeund Verantwortungsgemeinschaften mit mehr als zwei Erwachsenen – finden keine gleiche gesellschaftliche und rechtliche Anerkennung. Legitimierte Formen des Zusammenlebens sind demnach weiterhin paar- und heteronormativ strukturiert. Paar- und Heteronormativität bedeuten, dass sowohl Paarbeziehungen als auch Heterosexualität als das Allgemeine schlechthin erscheinen, sodass diese Beziehungsform oder Sexualität nicht als ›besonders‹ markiert werden muss, während etwa Alleinstehende und/oder Homosexuelle als Abweichung von dieser Norm aufgefasst werden. Mit Paarnormativität ist die Privilegierung von liebesförmigen Zweierbeziehungen gemeint, egal, ob homo- oder heterosexuell. Paarnormativ ist etwa die institutionelle Absicherung der Zweierbeziehung als Ehe – und eben nicht von Freundschaften oder polyamoren Beziehungen. Auch die gesellschaftlich-kulturelle Vermittlung von diesen Beziehungen als Inbegriff von privatem Glück und persönlichem Erfolg ist daran geknüpft. Während der Begriff der Paarnormativität noch kaum verwendet wird, ist Heteronormativität ein in der Geschlechterforschung und in den Queer Studies viel diskutiertes Konzept. Es wird dabei zur Analyse und Kritik von Macht-, Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen verwendet, die auf der Alltagsannahme basieren, es gäbe zwei – und nur zwei – Geschlechter (Zweigeschlechtlichkeit), die sexuell aufeinander bezogen seien (Butler 2014 [1991]). Heteronormativität kann dabei auch heterosexuelle Lebenswelten einschränken, soweit sie nicht diese Familienform realisieren.2 Als Normativitäten sind Paarbeziehungen und vor allem Heterosexualität weitreichend in unsere Vorstellungen von Geschlecht, Körpern, Familie und Nationalstaat eingewoben. Betrachtet man den gesamten Komplex der Paar- und Familienleitbilder, dann ist die bürgerliche Kleinfamilie hegemonial. Sie wird in breiten Teilen der Gesellschaft beziehungsweise von der gesellschaftlichen Mitte getragen. Die auf dem romantischen Liebesideal gründende heterosexuelle (weiße) bürgerliche Kleinfamilie fand ihre größte Verbreitung und Legitimität im Deutschland der späten 1950er und 1960er Jahre, im Golden Age of Marriage. 2 | So wird das Konzept der Heteronormativität kritisiert, da es suggeriere, heterosexuell begehrende Menschen wären eine homogene Gruppe. Dies sei verzerrend, schließlich erfolgen Ausschlüsse nicht nur über Sexualität, sondern etwa auch zentral über Geschlecht, Schicht, Staatsbürgerschaft, ›race‹, Alter sowie die körperliche Verfasstheit (Cohen 2005).

Paar- und Familienleitbilder der ›Mitte‹ zwischen Persistenz und Wandel

Die moderne, bürgerliche Familie war zu der Zeit »in Westdeutschland eine kulturelle Selbstverständlichkeit und wurde von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung auch unhinterfragt gelebt« (Peuckert 2012: 11f.); ob aber alle diese Ehepaare glücklich in romantischer Liebe verbunden waren, darf bezweifelt werden. Seit Ende der 1960er Jahre konstatiert die Familiensoziologie eine Deinstitutionalisierung von Ehe und Familie (Tyrell 1988) sowie eine Individualisierung und Pluralisierung der Formen des Zusammenlebens (Peuckert 2012: 23ff.).3 Das bürgerliche Familienmodell mitsamt seinem ungleichen Geschlechterarrangement aus männlichem Ernährer und Mutter/ Zuverdienerin ging in seiner Verbreitung zurück. Quantitativ zugenommen haben Lebensformen wie Doppelverdiener- oder Doppelkarrierepaare, kinderlose Paare, Living-Apart-Together-Paare, Lebensabschnittsgefährt*innen, binationale Paare, gleichgeschlechtliche Paare, polyamore Beziehungen sowie Paare mit Familienernährerin, Einelternfamilien, Stiefeltern- beziehungsweise Patchworkfamilien und andere mehr. Einige dieser Lebens- und Familienformen wurden in den letzten Jahrzehnten nicht nur sichtbarer und gewannen an gesellschaftlicher Legitimität, sondern fanden zunehmend – lange Zeit verweigerte – rechtliche Anerkennung. Als implizite Referenz des Familie-Seins gilt jedoch weiterhin die auf dem romantischen Liebesideal gründende bürgerliche Normalfamilie. Im Zentrum unseres Beitrags steht die Frage nach Persistenzen und Wandel gegenwärtig existierender Leitbilder für Paar- und Familienleben in der Mitte der deutschen Gesellschaft, wobei wir auch Paar- und Familienrealitäten thematisieren. Dabei nehmen wir Geschlecht, Sexualität und Familie aus einer paar- und heteronormativitätskritischen Perspektive in den Blick. In Abschnitt 2 gehen wir auf Normen der Ausgestaltung von Paarbeziehungen ein: auf das geschlechterdifferent überformte romantische Liebesideal und den egalitären Code der Partnerschaft. Abschnitt 3 ist pluralen Formen des familialen Zusammenlebens gewidmet, wobei wir uns weniger auf Leitbilder als gelebte Realitäten konzentrieren: Zur (nicht) verheirateten bürgerlichen Familie mit leiblichen Kindern (Abschnitt 3.1) treten verschiedene Familienformen jenseits der heterosexuellen Norm (Abschnitt 3.2). Diese werden zwar zunehmend rechtlich und sozial anerkannt, stoßen aber dennoch weiterhin auf rechtliche Hürden, etwa bei der Familiengründung und in ihrer Alltagspraxis, sowie auf alltägliche Diskriminierungen. In Abschnitt 4 geben wir einen Ausblick auf zukünftige Herausforderungen angesichts pluraler Lebensformen und erforderlicher neuer Begriffe von Familie. 3 | Zahlreiche dieser ›pluralen‹ Formen wie Einelternfamilien oder Familien mit nichtehelichen Kindern sind allerdings nicht neu; sie wirken lediglich neu im Vergleich zur dominanten Referenz der 1960er Jahre und haben sich seitdem vermehrt (ausführlich etwa Schneider et al. 1998).

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Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf a) kulturell hegemoniale Normen, insbesondere rechtlich institutionalisierte Vorstellungen, gesellschaftliche ›Normalität‹ und Selbstverständlichkeiten des Paar- und Familienlebens und b) faktisch realisierte Formen des (familialen) Zusammenlebens. Dabei stehen nicht Mittelschichten als sozialstrukturelle Kategorie im Zentrum unserer Überlegungen, sondern gesellschaftlich und kulturell hegemoniale Normen und Leitbilder, die der gesellschaftlichen Mitte entspringen. Mittelschichten sind hier insofern von Bedeutung, als sie die zentralen Trägerinnen und (Re-) Produzentinnen von gesellschaftlich dominanten Vorstellungen und Leitbildern sind, etwa des Ideals der heterosexuellen ›Normalfamilie‹ und der romantischen Liebe.4 Allerdings haben beide Ideale ihren Ursprung im Bürgertum (Luhmann 1982; Peuckert 2012: 14ff.), von wo aus sie in die später entstehenden Mittelschichten diffundierten. Zudem sind es (wesentlich auch, aber nicht nur) Menschen aus der Mittelschicht, die Lebensformen jenseits dieses Familienideals realisieren. In der Reflexion über soziologische Forschungen zu Paaren und Familie fällt auf, dass diese Untersuchungen in der Tendenz ohnehin mittelschichtszentriert sind – ohne dies jedoch immer kenntlich zu machen.

2. Pa arbeziehungen und L iebeside ale z wischen P ersistenz und W andel Paarbeziehungen und ›Liebe‹ galten lange nicht als soziologische Phänomene (vgl. hier und nachfolgend Lenz 2009; Wimbauer 2003; Wimbauer/Motakef 2017a, b), auch wenn bereits Georg Simmel (1985) Paarbeziehungen als eigenständigen soziologischen Gegenstandsbereich fasste. In der Familiensoziologie wurde im Wesentlichen die Ehe untersucht, die meist in eins gesetzt wurde mit der Familie als intergenerationaler Zusammenhang zweier Ehegatten und ihrer (leiblichen) Kinder (Schneider 2002). Im deutschsprachigen Raum etabliert sich erst seit den 1990er Jahren eine Soziologie der Paarbeziehungen (exemplarisch Lenz 2009, Burkart 2018). Diese kann allerdings, wie auch die Familiensoziologie, als heteronormativ bezeichnet werden: Formen jenseits 4 | Hier wäre, erstens, exakt zu bestimmen, wer als Mittelschicht(en) zählt. Da jedoch eine solche Bestimmung den Rahmen dieses Beitrags sprengt, sehen wir davon ab. Eine ökonomische Definition erscheint uns unter anderem aufgrund von ausbildungsbedingten Statusinkonsistenzen oder Prekarisierungsprozessen schwierig. Bei einer bildungsbezogenen Definition wäre die Frage, wo die ›Oberschicht‹ begänne, und eine Definition über Normen und Werte wäre in diesem Beitrag tautologisch. Zweitens erscheinen uns Leitbilder nicht durchwegs als geeignetes Untersuchungsziel, denn auch dieser Begriff ist unbestimmt, und es existieren kaum empirische Daten zur Verbreitung von Paar- und Familienleitbildern in der Bevölkerung und in der – unbestimmten – Mittelschicht.

Paar- und Familienleitbilder der ›Mitte‹ zwischen Persistenz und Wandel

der heterosexuellen ›Normalfamilie‹, also Lebens- und Begehrensformen aus dem LGBTIQA-Spektrum5, polyamore Beziehungen sowie Ein- oder Mehrelternschaft werden empirisch meist vernachlässigt – was häufig in einer quantifizierenden Logik mit deren geringer Verbreitung begründet wird. Ein zentrales Thema der Paarsoziologie sind Leitbilder zur Ausgestaltung der Paarbeziehung auf diskursiver Ebene und deren Wandel. Das idealtypische Leitbild der romantischen Liebe (Tyrell 1987; Luhmann 1982) entstand in der Romantik und verbreitete sich mit dem Aufstieg des Bürgertums. Seit dem 19. Jahrhundert erlebte es einen »ungeheuren Kulturerfolg« (Tyrell 1987: 591), doch seine Durchsetzung war ein länger dauernder Prozess. Erst im 20. Jahrhundert erlangte die Norm der Liebesheirat milieuübergreifende kulturelle Dominanz (Lenz 2009). Wodurch zeichnet sich das romantische Liebesideal nun aus? Zentrale Charakteristika nach Tyrell (1987) sind die wechselseitige Höchstrelevanz der Ehepartner*innen füreinander, die Exklusivität der Zweierbeziehung sowie die Abwertung aller Umweltbezüge (wie Freundschaften und Herkunftsfamilie). Lenz (2009: 275ff.) nennt zudem die Bedeutungssteigerung von Sexualität und ihre Einbeziehung in die Liebessemantik, das Postulat der Einheit von Liebe und Ehe, die Integration der Elternschaft in die Ehe und die Emotionalisierung der Eltern-Kind-Beziehung sowie Aufrichtigkeit und Dauerhaftigkeit der selbstverständlich monogamen Liebe. Das Liebesideal ist theoretisch geschlechterindifferent und symmetrisch, faktisch wurde es jedoch im geschlechterungleichen bürgerlichen Normalfamilienmodell institutionalisiert: Frauen sind hier für unbezahlte Hausarbeit, Kinder und Fürsorge (Arbeit aus Liebe) zuständig, Männer für bezahlte Erwerbstätigkeit. Entsprechend zeigen sich Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern aufgrund der finanziellen Abhängigkeit der (Ehe-)Frau von ihrem Mann (unter anderem Wimbauer 2003, 2012). Durch den Wandel des Arbeitsmarktes und Wohlfahrtsstaates (Motakef 2015) und nicht zuletzt aufgrund feministischer Kritik an diesen Ungleichheiten verlieren das männliche Ernährermodell und die Geschlechterhierarchie in der Paarbeziehung seit etwa den 1980er Jahren an Legitimität und Verbreitung. Sie werden mehr und mehr vom Zweiverdienermodell und der »partnerschaftlichen Liebe« (Leupold 1983) oder der »pure relationship« (Giddens 1992: 2) abgelöst oder zumindest ergänzt. So hätten nach Giddens (1992: 1, 15) Lesben und Schwule durch eine egalitäre Beziehungspraxis sowie feministische Gruppen wesentlich zu einem ›Wandel der Intimität‹ und der Herausbildung 5 | LGBTIQA bedeutet Lesbian, Gay, Bisexual, Trans*, Inter*, Queer, Asexual. Ein Asterisk (*) wird hier als »Wild Card« benutzt, um die Bedeutungsoffenheit der Begrifflichkeiten zu gewährleisten (zum Beispiel kann Trans* ›Transgender‹, ›Transperson‹ – oder eher medizinisch – ›transsexuell‹ bedeuten).

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der ›pure relationship‹ beigetragen, welche er als »a relationship of sexual and emotional equality« definiert. Die ›partnerschaftliche Liebe‹ zeichne sich nach Giddens (1992: 2) unter anderem durch Geschlechteregalität, eine Begründung in sich selbst, die Erwartung von Gegenseitigkeit, emotionale Nähe und Erfüllung sowie persönliches Wachstum aus. Sie ist reflexiv organisiert, wird also permanent auf ihren Nutzen für den autonom und selbstbewusst gedachten Einzelnen hin geprüft – und beendet, wenn sie dieser Prüfung nicht mehr standhalten kann. Nun kann weder empirisch noch auf der Ebene von Beziehungsleitbildern davon ausgegangen werden, dass der gleichberechtigte Partnerschaftscode die romantische Liebe vollständig abgelöst habe; vielmehr überlagern sich beide Modelle, und Paare orientieren sich an verschiedenen Elementen beider Leitbilder. So verdeutlichen zahlreiche Studien, dass Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern weiterhin bestehen und vor allem auch wesentlich in Paarbeziehungen (mit) erzeugt werden (für einen Überblick Rusconi/Wimbauer 2013; empirisch unter anderem Wimbauer 2003, 2012; Peukert 2015). Koppetsch und Burkart (1999) zeigen anschaulich die Diskrepanz von Ideal und Praxis in der paarinternen Verteilung von Haus- und Familienarbeit. Die Autor*innen gehen zudem von divergierenden Leitvorstellungen in unterschiedlichen Gruppen aus und vergleichen drei sogenannte Milieus: das individualisierte, das familistische und das traditionale Milieu. Das familistische Milieu sei an einer komplementären Geschlechterordnung orientiert, das traditionale Milieu kennzeichne sich durch eine hierarchische Sphärentrennung und einen rituellen Patriarchalismus, der auf diskursive Aushandlungen verzichte. Lediglich das individualisierte Milieu – vorwiegend gebildete und akademische Stadtbewohner*innen – sei diskursiv an Egalität orientiert. Jedoch werde Gleichheit selbst dort nicht eingelöst, sondern Ungleichheiten, etwa mit Blick auf die häusliche Arbeitsteilung, würden im Paar individualisiert oder dethematisiert. Sowohl das traditionale als auch das familistische Milieu ist am Familienernährermodell orientiert, obwohl auch die Gleichheitsorientierung des individualisierten Milieus oftmals an der Realität scheitere. Deutlich wird, dass verschiedene – zum Teil widersprüchliche – Leitbilder der Mitte gleichzeitig im Paar orientierend sind. Soziologisch betrachtet haben wir es mit Persistenz und Wandel von Paarbeziehungen und Liebesidealen zu tun: Einerseits bleibt das Ideal der auf dem romantischen Liebesideal gründenden heterosexuellen (weißen) bürgerlichen Kleinfamilie bestehen. Andererseits kommen konkurrierende Ideale, wie der gleichberechtigte Partnerschaftscode, hinzu und es wird eine potentielle Ökonomisierung von Liebe (Wimbauer 2012) im Zuge eines emotionalen Kapitalismus (Illouz 2006) konstatiert. Dies lässt sich tendenziell eher bei gebildeten Schichten beobachten, in denen beide Partner*innen erwerbstätig sind (Wimbauer 2012) beziehungsweise über die finanziellen Mittel verfügen, ihre romantische Beziehung warenförmig zu kommerzialisieren.

Paar- und Familienleitbilder der ›Mitte‹ zwischen Persistenz und Wandel

3. V ater , M ut ter , K ind? E lternschaf t und F amilie heute 3.1

Gesellschaftlich dominante Leitbilder und Praxen familialen Lebens

Das Paar als Beziehungsform gilt als implizite Norm und konstitutive Grundlage für Elternschaft und Familie. Die wirkmächtige Norm des heterosexuellen, in einer monogamen Beziehung zusammenlebenden Ehepaares mit leiblichem/n Kind/ern ist die Basis für das Leitbild der ›Normal‹- oder Kernfamilie. Diese normative Orientierung am bürgerlichen Familienbild wurde aber zunächst nur in einem kleinen Kreis privilegierter Schichten praktiziert (Peuckert 2008: 19). Die Neuerfindung des Mutterideals und die ›Verdrängung‹ von Frauen in den Privatbereich betrafen fast ausschließlich bürgerliche Frauen. In Arbeiterfamilien mussten Frauen aufgrund ökonomischer Zwänge zum Familieneinkommen beitragen (vgl. Frevert 1995: 139ff.). Was also als bürgerliches Familienideal im 18. Jahrhundert entstand, »mutierte« (Nave-Herz 2013: 28) mit der Industrialisierung, wachsenden Einkommen der Arbeiterklasse und der sich in allen Gesellschaftsschichten verbreitenden Trennung von Wohnen und Erwerbsarbeit im Laufe der Zeit zum orientierungsgebenden Familienmodell. Damit einher geht die vergeschlechtlichte Trennung von Produktion und Reproduktion (Hausen 1976) mit einem männlichen Haupternährer und einer zuverdienenden Mutter, die strukturelle Kopplung von Ehe und Familie sowie eine veränderte Eltern-Kind-Beziehung, die Erziehung zur weiblichen Hauptaufgabe macht und Weiblichkeit mit Mutterschaft gleichsetzt. Das bürgerliche Ehe- und Familienideal setzte sich in der Praxis der breiten Bevölkerung erst im Golden Age of Marriage durch (vgl. Abschnitt 1). Es hat bis heute nicht an normativer Kraft verloren. Nach einer verbreiteten familiensoziologischen Definition ist Familie bestimmt als heterosexuelle »Frau-Mann-Dyade mit einem oder mehreren Kindern« (Hill/Kopp 2015: 9; Hervorhebung der Verfasserinnen); zentral sind also das Vorhandensein der Geschlechter- und der Generationendifferenz. Eine solche Bestimmung von Familie findet gesellschaftlich große Zustimmung: Laut einer Umfrage des Allensbacher Instituts (2012: 42) verstehen 97 Prozent der Befragten unter Familie eine solche Kernfamilie – das verheiratete Elternpaar aus Mutter und Vater mit Kind(ern). Doch der Familienbegriff erweitert sich: So betrachten 58 Prozent der Befragten auch Alleinerziehende (im Jahr 2000: 40 Prozent) und 42 Prozent gleichgeschlechtliche Partner*innen, die mit Kind(ern) zusammenleben, als Familie. Es wird deutlich, dass das Verständnis, was eine Familie ist, nicht naturgegeben ist, sondern gesellschaftlich ausgehandelt wird und sozialem Wandel unterliegt. Seit einigen Jahrzehnten steht dabei die heterosexuelle, bürgerliche Kernfamilie gesellschaftlich und in Teilen der Familiensoziologie als unhinter-

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fragte Norm und Normalität in der Diskussion (unter anderem Vaskovics 2011: 13ff., Lenz 2013). Dennoch ist weiterhin in alle gesellschaftlichen Institutionen Paar- und Heteronormativität eingeschrieben, was wiederum die bürgerliche Kleinfamilie stabilisiert. Sowohl in gesellschaftlichen Debatten als auch lange in der Rechtsprechung6 wurde und wird dabei vielfach selbstverständlich unter »Ehe und Familie« die heterosexuelle ›Normalfamilie‹ verstanden – eine Annahme, die nicht nur als Norm, sondern auch in der Alltagspraxis zunehmend an Bedeutung verliert: Betrachtet man die erwachsene Bevölkerung in Deutschland nach ihrer Lebensform, so lebten 2016 29 Prozent als Paar ohne Kinder zusammen, 23 Prozent sind alleinstehend; von den Lebensformen mit Kindern im Haushalt sind 36 Prozent verheiratet, vier Prozent leben in einer Lebensgemeinschaft und acht Prozent sind Einelternfamilien (Statistisches Bundesamt 2017). Zudem steigt die Zahl der Kinder, die außerhalb der Ehe geboren werden (Zukunftsforum Familie o.J.). Nach Schätzungen des Familienministeriums (BMFSFJ 2013) sind etwa sieben bis 13 Prozent der Familien in Deutschland ›Stief-‹ beziehungsweise Patchworkfamilien. Neben der personalen Zusammensetzung von Familien wandelt sich ein weiteres konstitutives Merkmal der bürgerlichen Normalfamilie: die geschlechterdifferenzierende Arbeitsteilung (vgl. Abschnitt 2). Mit dem Phänomen ›aktive Väter‹ scheint die Selbstverständlichkeit eines männlichen Hauptverdieners und einer weiblichen Haus- und Familienverantwortlichen brüchig zu werden. Die Frage, wer nach Geburt des Kindes die Betreuung übernimmt, bedarf zunehmend der impliziten oder expliziten paarinternen Aushandlung (ausführlich Peukert 2015, 2017). Im Jahr 2014 nahmen 34 Prozent der Väter Elterngeld/-zeit in Anspruch, 79 Prozent davon entschieden sich lediglich für die Mindestbezugsdauer von zwei Monaten (Statistisches Bundesamt 2016). Diese Entwicklungen zeigen exemplarisch, dass geschlechterdifferenzierende Zuschreibungen von Ernährer- und Betreuungsverantwortung teilweise an Gültigkeit verlieren können. Sind Familien, die nicht der heterosexuellen Norm entsprechen, in ihrer Arbeitsteilung egalitärer als heterosexuelle Familien? Da sie sich nicht an der geschlechterdifferenzierenden Arbeitsteilung orientieren können, wird dies häufig angenommen (Dürnberger 2011; Bergold/Rupp 2011). Für lesbische Paarhaushalte mit Kindern wird in englischsprachigen Studien allerdings konstatiert, dass ›leibliche‹ Mütter mehr Haus- und Familienarbeit leisten als ihre Partnerinnen, vor allem wenn das Kind jünger ist (Goldberg/Perry-Jenkins 2007). Daher ist eine A-priori-Annahme von Egalität zu hinterfragen (Peukert 2015: 52f.). 6 | Zur Sukzessivadoption hat das Bundesverfassungsgericht 2013 entschieden, dass auch Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern unter »dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung« stehen (Art. 6 GG).

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Darüber hinaus vervielfältigen sich die Familienformen und insbesondere die Praxen der Familiengründung zunehmend: Stief- und Patchworkfamilien, heterosexuelle und lesbische Paare, die Kinder mit Hilfe eines Samenspenders oder einer Eizellspenderin bekommen, oder schwule Paare, die ihren Kinderwunsch durch Leihmutterschaft verwirklichen – all diese Konstellationen zeichnen sich durch eine Komplexität von biologischer, genetischer, sozialer und rechtlicher Elternschaft aus, womit der Familienbegriff einer definitorischen Ausdehnung bedarf. Die politische Berichterstattung ist der Familiensoziologie in der Entwicklung eines erweiterten Familienbegriffs einen Schritt voraus. Obwohl die Kernfamilie immer noch den Hauptbezugspunkt bildet, werden dort zunehmend auch Mutter- oder Vaterfamilien sowie Kommunen mit Kindern in den Familienbegriff integriert: Der Siebte Familienbericht (BMFSFJ 2006) bestimmt etwa Familie als »Gemeinschaft mit starken Bindungen, in der mehrere Generationen füreinander sorgen«; der Achte Familienbericht (BMFSFJ 2012: 32) hält fest, dass sich Familie »nicht mehr nur über Heirat, sondern über Solidarität, Wahlverwandtschaft und Elternschaft« definiert. Für Vornmoor (2003: 21) zeichnet sich damit ein »Auf brechen der heterosexuellen Kernfamilie in familienpolitischen Leitbildern« ab. Gesellschaftliche Interessenverbände, wie das ›Zukunftsforum Familie‹, gehen in der Bestimmung von Familie noch einen Schritt weiter, indem sie von der konstitutiven Generationenbeziehung absehen: »Familie ist für uns überall dort, wo Menschen dauerhaft füreinander Verantwortung übernehmen, Sorge tragen und Zuwendung schenken. […] Familie [kann] in ganz unterschiedlichen Formen auftreten: Zum Beispiel als klassische Ehen mit und ohne Kinder, Ein-Eltern-Familien, Patchwork-Familien oder Mehrgenerationenhaushalte« (Zukunftsforum Familie o.J.). In diesem Begriff sind auch (queere) Gemeinschaften berücksichtigt, in denen Menschen in ›Wahlfamilien‹ leben, aber keine Kinder haben.

3.2

Elternschaft und Familiengründungen jenseits der heterosexuellen ›Normalfamilie‹

Mit der Öffnung der Ehe steht nun erstmals auch gleichgeschlechtlichen Paaren die lang verwehrte gleiche rechtliche Anerkennung zu.7 So können seit Oktober 2017 gleichgeschlechtliche Paare ein Kind gemeinsam adoptieren. 7 | Zwar hat es seit Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes (LPartG) zahlreiche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gegeben, um die Gleichstellung von Lebenspartnerschaft und Ehe vor dem Gesetz zu erreichen. Doch bestehen wesentliche Ungleichheiten weiter. So ist beispielsweise der Zugang zu medizinisch betreuter Insemination und In-Vitro-Fertilisation gesetzlich nicht reguliert. Die als bindend zu

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Jedoch gehen die Formen der Familiengründung über Adoption hinaus: Während Kinder bislang in der Regel aus vorherigen heterosexuellen Beziehungen stammten (Biblarz/Savci 2010), ermöglicht die assistierte Reproduktion, dass Kinderwünsche in der gleichgeschlechtlichen Beziehung verwirklicht werden. Lesbische Paare können die Möglichkeit einer Insemination nutzen: Dabei ist Selbstinsemination mit Hilfe eines Samenspenders etwa aus dem Freundeskreis, dem Internet oder mit Sperma aus einer Samenbank ebenso denkbar wie eine medizinisch betreute Insemination in einer Kinderwunschklinik.8 Schwule Männer und lesbische Frauen realisieren zum Teil auch in Queeroder Mehrelternfamilien ihren Kinderwunsch. Beim sogenannten Co-Parenting gründen zum Beispiel ein lesbisches und ein schwules Paar gemeinsam eine Familie und teilen sich die Elternschaft. Im Vergleich zu lesbischen Paaren ist es für schwule Paare, die in ihrer Paarbeziehung einen Kinderwunsch verwirklichen wollen, komplizierter und mit wesentlich höheren Kosten verbunden (Teschlade 2018). Ihnen bleibt, sofern nicht einer von ihnen ein Kind adoptiert hat, meistens nur der Weg ins Ausland, um mit einer Leihmutter zu kooperieren.9 Da der organisatorische Aufwand und die Kosten für die medizinische Behandlung, die Versicherungen und den Rechtsbeistand sehr hoch sind, ist dieser Weg nur Paaren vorbehalten, die über entsprechende sozioökonomische Mittel verfügen. Diese Gruppe an Eltern gehört eher der gehobenen Mittelschicht an (Hartmann 2014). Viele gleichgeschlechtliche Paare, die sich für gemeinsame Kinder entscheiden oder Kinder haben, weisen eine höhere Bildung und Erwerbsbeteiligung auf und verfügen eher über mittlere bis höhere Einkommen (Kroh et al. 2017).10 Trotz ihrer eher privilegierten sozioökonomischen Position verspüren diese Familien einen Erwartungsdruck, da sie befürchten, nur dann anerkannt zu werden, wenn sie vorherrschenden Normen entsprechen (Hartmann 2014). Ob sie es anstreben oder nicht – alleine verstehende Bundesärzteordnung argumentiert allerdings mit dem Kindeswohl für eine Behandlung von ausschließlich heterosexuellen Paaren. 8 | Auch hier sind die Möglichkeiten für lesbische Paare im Inland bisher beschränkt und die Durchführung ist nur in einigen wenigen Kliniken möglich. Deshalb gehen viele lesbische Paare ins Ausland (beispielsweise Dänemark). 9 | In Deutschland sind Eizellspende und Leihmutterschaft gesetzlich verboten. Wer diese Verfahren nutzen möchte, muss in Länder reisen, in denen diese Methoden legal sind und Deutschland wiederum im Falle von Kindern von Leihmüttern diese auch als deutsche Staatsbürger*innen anerkennt. Dies geht für schwule Paare derzeit nur in den USA. 10 | Dabei zeigen sich in Deutschland große Lohnungleichheiten: Neben dem Gender Pay Gap, der die Benachteiligungen von Frauen anzeigt, existiert auch ein Sexuality Pay Gap: Heterosexuelle Männer verdienen bei gleicher Bildung mehr als homosexuelle und bisexuelle Männer (Kroh et al. 2017: 694).

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mit ihrer Existenz hinterfragen sie die vermeintlich natürliche Kopplung von Heterosexualität und Fortpflanzung. Mit dem Zugewinn an Rechten und medizinischen Möglichkeiten in der Familiengründung stellt sich uns die Frage, ob Paar- und Heteronormativität die alleinigen Konzepte zur Kritik von Herrschafts- und Machtverhältnissen rund um Geschlecht, Sexualität und Familie darstellen, oder ob nicht vielmehr auch von einer ›Repronormativität‹ zu sprechen ist (Teschlade 2017): Waren gleichgeschlechtliche Paare lange Zeit nicht Teil des »reproduktiven Mainstreams«, so können sie heute über die Gründung einer Familie zumindest teilweise Anerkennung erwirken; Kinder und eine Familie zu haben, setzt sie ins Zentrum des bürgerlichen, normalen Lebens. Welche Rolle der Mitte und den Mittelschichten zukünftig zukommt, ist eine offene Frage – es ist vorstellbar, dass künftig eine Normalisierung von Konstellationen jenseits der heterosexuellen Kleinfamilie stattfindet. Vielleicht sehen sich dann nicht mehr nur kinderlose hetero-, sondern auch homosexuelle Paare vor der gesellschaftlichen Erwartung, eine Familie zu gründen. So erfreulich dies sein mag, verweist dies aber auch darauf, dass jene, die ohne Kinder und/oder Partner*in leben, weiter aus dem Kreise des gesellschaftlich ›normalen‹ Lebens ausgeschlossen werden. Gleichzeitig sind weiter gesellschaftliche Gegenbewegungen zu erwarten, die Familiengründungen jenseits der heterosexuellen Paarbeziehung infrage stellen und bekämpfen.

4. A usblick Zusammenfassend lässt sich festhalten: Das Leben in Zweierbeziehungen gilt als westlich-kulturelle Gewissheit der Moderne und lange war dieses Leben in Zweierbeziehungen auch entlang der Heteronorm strukturiert. Erst mit der gesellschaftlichen Modernisierung, Industrialisierung und Arbeitsteilung, dem Entstehen der Romantik und dem Erstarken des Bürgertums konnte sich die bürgerliche Kleinfamilie beziehungsweise die moderne ›Normalfamilie‹, basierend auf dem idealtypischen Leitbild der romantischen Liebe, herausbilden und zum orientierenden Maßstab für westliche Gesellschaften werden. Wie wir zeigten, ist aber zum einen immer eine Diskrepanz zwischen normativem Leitbild und dessen faktischer Umsetzung zu berücksichtigen: Nicht alle konnten dieses Familienmodell – verheiratet, leibliche Kinder – leben,11 und noch weniger konnten die Idee der romantischen Liebe in die Realität

11 | Sei es aufgrund von Heiratsbeschränkungen, die noch bis ans Ende des 19. Jahrhunderts wirkten, aufgrund von Verwitwung nicht nur während der und nach den beiden Weltkriege(n), wegen (un-)gewollter Partnerlosigkeit oder Unfruchtbarkeit.

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umsetzen.12 Zum anderen sind Leitbilder nicht nur beharrlich, sondern sie unterliegen auch gesellschaftlichem Wandel und sind bisweilen umkämpft. So hat sich das Verständnis dessen, wie Paarbeziehungen ausgestaltet sein sollen (etwa: geschlechterungleich oder egalitär) und was eine ›Familie‹ ist, sein kann und sein darf, seit dem ›goldenen Zeitalter von Ehe und Familie‹ teilweise erheblich geändert. Auch Familienrealitäten haben sich seitdem gewandelt. Eine strikte Festschreibung von Frauen auf die Hausfrauen- und Mutterposition hat keine rechtliche Grundlage und keinen mehrheitlichen gesellschaftlichen Rückhalt mehr, Geschlechterungleichheiten sind legitimationsbedürftig geworden, Väter möchten sich zunehmend an Familientätigkeiten beteiligen. Kinder werden nicht mehr nur durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr gezeugt, sondern auch mittels moderner Reproduktionstechnologien, Eizell- und Samenspende oder Leihmutterschaft. Seit Oktober 2017 können nun gleichgeschlechtliche Paare heiraten. Aufgelöst haben sich Ungleichheiten aufgrund von Geschlecht und Sexualität damit aber nicht. So werden die aktuellen Gleichstellungserfolge von schwulen und lesbischen Paaren auf dem Rechtsfeld der Ehe von einigen queertheoretischen Kritiker*innen als Ausweis einer Heteronormalisierung von Homosexualität (vgl. Einleitung dieses Beitrags) gefasst, und sie zeugen fraglos von einer fortbestehenden Paarnormativität. Ebenso bleibt (vorerst noch) im Familien- und Abstammungsrecht das Prinzip verankert, dass ein Kind nur eine Mutter und einen Vater haben könne. Menschen, die sich nicht in die binäre Geschlechterordnung einordnen können oder möchten, gewannen in den letzten Jahren zwar einige Rechte hinzu, erfahren gleichzeitig aber weiterhin rechtliche Hürden, alltägliche Diskriminierungen in der Arbeitswelt und auf dem Wohnungsmarkt, Unverständnis und verbale Bedrohungen bis hin zu körperlicher Gewalt (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2017). Heterosexuelle Patchworkfamilien, gleichgeschlechtliche oder queere Mehrelternfamilien mit mehr als zwei biologischen und/oder sozialen Eltern finden keine rechtliche Anerkennung und stoßen im Alltag auf mehr oder weniger große Hindernisse. Polyamore Liebes- und Familienbeziehungen, dyadische oder größere Wahlverwandtschaften oder dauerhafte Verantwortungsgemeinschaften, wie Freundschaften, sind rechtlich nicht vorgesehen. Gegenwärtige Paar- und Familienbilder und auch Paar- und Familienrealitäten, so unser Fazit, existieren damit immer in einer Gleichzeitigkeit von Persistenz und Wandel. Gerade auch in der gesellschaftlichen ›Mitte‹ scheinen die Kämpfe um Gleichberechtigung und um rechtliche wie soziale Anerkennung pluraler Lebensformen ausgetragen, aber auch Ausschlüsse scheinen 12 | Man mag nicht wissen, wie viele Ehen im 20. Jahrhundert ›in Liebe‹ geschlossen und nach deren Entschwinden aus ökonomischen Gründen oder mangels Alternativen (insbesondere von nichterwerbstätigen Müttern) nicht geschieden wurden.

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hergestellt zu werden. Die Mittelschichten – bei aller begrifflichen Unklarheit – können damit als ambivalent bezeichnet werden: Sie sind Träger*innen und Bewahrer*innen überkommener Leitbilder und hegemonialer Vorstellungen, und zugleich sind sie Quelle von Innovationen und zunächst ›abweichender‹ Lebensformen und Vorstellungen. Wann die Zeit reif ist, dass diese dann zu neuen Leitbildern und zur neuen oder zusätzlichen gesellschaftlichen ›Normalität‹ werden, bedürfte jeweils einzelner historisch angeleiteter Studien. Diesen gesellschaftlichen Wandel gilt es, in empirischen Studien realiter zu begleiten und in einigen Jahren oder Jahrzehnten nach dem Ausmaß der ›Normalisierung‹ beispielsweise der ›Ehe für alle‹ zu fragen. Gerade auf dem Feld von Paarbeziehungen und Familie wird sich auch in den kommenden Jahren Erhebliches verändern, etwa aufgrund reproduktions- und informationstechnologischer Innovationen, globaler Bewegungen, neuer Formen von Dating, Paarbildung, Sexualität, Fortpflanzung. Auf die Erforschung, was diese Veränderungen für ›Liebe‹ bedeuten, für Formen des Zusammenlebens und Verantwortungsgemeinschaften, was man unter ›Familie‹ verstehen wird und welche alten oder neuen Ungleichheiten sich auffinden lassen, können wir sicherlich gespannt sein.

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Separate, but central? Distinktionspraktiken und Normalitätsanspruch der Mittelschicht in der medialen Repräsentation Marlon Barbehön, Marilena Geug jes und Michael Haus

1. E inleitung »Mittelschicht« ist ein allgegenwärtiger Begriff. Der philosophischen und politiktheoretischen Reflexion dient er als ein zentraler argumentativer Ankerpunkt spätestens seit Aristoteles, der die Mittelschicht als stabilitätsstiftende Trägergruppe einer ausgewogenen Staatsform und einer vernunftbasierten Lebensweise ausmachte (Münkler 2010, 2014). In der modernen Gesellschaft ist die nachhaltige Existenz einer breiten Mittelschicht auch oder gerade unter kapitalistischen Bedingungen ein wichtiges Legitimationsmotiv gegenüber radikaler Kapitalismuskritik, während Letztere seit Marx die Mittelschicht als zum Untergang verdammt darzustellen versucht (Marx/Engels 1977 [1848]: 469). In öffentlichkeitswirksamen Zeitdiagnosen sorgen sich die Sozialwissenschaften regelmäßig um den Zustand und die Zukunft der gesellschaftlichen Mitte (Vogel 2009; Heinze 2011; Mau 2012; Koppetsch 2013). Und schließlich ist die Mittelschicht regelmäßiger Bezugspunkt der medialen Berichterstattung und des politischen Wettbewerbs. Die Übergänge zum Begriff der »politischen Mitte«, in der etwa »Wahlen entschieden werden«, sind dabei fließend. Zugleich ist »Mittelschicht« ein ambivalenter Begriff. Die soziologische Forschung wartet mit einer Vielzahl an Operationalisierungen auf (zur Übersicht siehe Mau 2014), und je nachdem, welche Definition gewählt wird, fallen die zumeist aufsehenerregenden Aussagen zur gegenwärtigen Lage der gesellschaftlichen Mitte recht unterschiedlich aus. Obgleich die Mittelschicht Forschung und Öffentlichkeit seit Langem umtreibt, herrscht bis heute keine Einigkeit, wie sie eigentlich zu fassen ist. Während sich die sozialwissenschaftliche Forschung klassischerweise um eine Klärung dieser konzeptionellen Unübersichtlichkeit bemüht, um möglichst präzise Aussagen deskriptiver und kausalanalytischer Art machen zu

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können, lässt sich das Zusammenspiel von Allgegenwärtigkeit und Ambivalenz der Mittelschicht auch diskurstheoretisch lesen. Hiernach erscheint die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Diagnosen und Forderungen, die mit der Kategorie der Mittelschicht operieren, nicht als Folge schwammiger Definitionen oder unpräziser Messungen. Vielmehr handelt es sich um komplexe diskursive Praktiken, die unterschiedliche Bedeutungsgehalte des Begriffs aufrufen und reaktualisieren, zur Einordnung sozialer Phänomene heranziehen und damit eine mehrdeutige Welt in bestimmter Weise sinnhaft werden lassen. Dazu eine Illustration aus eigener alltagsweltlicher Beobachtung heraus: Es kommt vor, dass sozialwissenschaftliche Professor*innen, die einen Augenblick zuvor die Mittelschicht als diejenige Einkommensschicht operationalisiert haben, deren Haushaltseinkommen zwischen 70 und 120 Prozent des Medianeinkommens liegt, sich selbst als Angehörige der Mittelschicht zu verstehen geben. Auf entsprechende Hinweise, dass sie deutlich über dem von ihnen selbst verwendeten Indikator liegen, reagieren sie mit einer gewissen Entrüstung. Sich selbst als »Oberschicht« zu verstehen, erscheint ihnen abwegig. Man sei »trotzdem« Mittelschicht, vielleicht »obere«. Die diskursive Praxis einer Präzision beanspruchenden sozialwissenschaftlichen Forschung trifft hier auf eine diskursive Praxis der Selbstverortung in einer Gesellschaft, mit der Ansprüche von Distinktion beziehungsweise Zugehörigkeit einhergehen. Der vorliegende Beitrag steht in der Linie einer solchen diskursanalytischen Perspektive. Dazu betrachten wir zunächst die sozialwissenschaftliche Debatte, die sich seit Langem der Kategorie der Mittelschicht zum Zwecke der Gesellschaftsdiagnose bedient. Daran anschließend rekonstruieren wir die Bedeutung und argumentative Inanspruchnahme der Kategorie der Mittelschicht in der deutschen Medienöffentlichkeit, wobei wir uns auf die Attribution von Wertorientierungen und Lebensstilen sowie die Thematisierung von Distinktionspraktiken konzentrieren. Beide Teilschritte zusammengenommen lassen ein Bild entstehen, in dem die Mittelschicht die Funktion eines »leeren Signifikanten« (Laclau 2005: 69-71) einnimmt: Sie ist etwas Besonderes und Allgemeines zugleich, sie zeichnet sich durch spezifische Werte und Lebensweisen aus, die zu allgemeinen Maßstäben für die Gesamtgesellschaft erhoben werden – separate, but central.

2. M it te und M it telschicht im wissenschaf tlichen D iskurs Der Begriff »Mittelschicht« stellt eine Verbindung zweier Bedeutungsgehalte dar: Einen Verweis auf die »Mitte« der Gesellschaft einerseits und die Konnotation mit gesellschaftlicher Schichtung entlang ökonomischer und weiterer

Separate, but central?

Indikatoren sozialer Ungleichheit andererseits (Burzan 2013). Im Unterschied zum englischen middle class (oder auch zum schwedischen medelklassen) ist der Schichtbegriff im Deutschen zudem vom Begriff der »Klasse« deutlich abgegrenzt und suggeriert damit die Existenz einer Gesellschaft, die im Gegensatz zu einer »Klassengesellschaft« durch geringere Signifikanz von sozialer Ungleichheit und höherer Durchlässigkeit gekennzeichnet ist. Angesichts dieser Verwobenheit mit der Frage, ob die Gesellschaft als ein verbundener oder gespaltener Körper vorgestellt wird, kann es nicht verwundern, dass die Mittelschicht in sozialwissenschaftlichen Diskursen immer wieder als quasi-natürlicher Referenzpunkt zur Diagnostizierung des Zustands und der Entwicklung der Gegenwartsgesellschaft herangezogen wird. Grundsätzlich gilt hierbei die Prämisse, dass Mittelschicht etwas Gutes ist, sodass eine Gesellschaft mit »breiter«, »robuster« und »intakter« Mittelschicht gut funktioniert und – umgekehrt – zahlreiche gesellschaftliche Probleme darauf zurückgeführt werden, dass die Mittelschicht »schrumpft« oder »verunsichert« ist. In dieser Form der sozialwissenschaftlichen Thematisierung zeigt sich auch der in der breiteren Öffentlichkeit erkennbare Zug, die Mittelschicht zugleich als distinkte wie auch als allgemein maßgebliche Gruppe zu verstehen. Dieser Konstruktionsprozess geht indes weit über eine bloße Beschreibung von gesellschaftlichen Gegebenheiten hinaus. In den sozialwissenschaftlichen Beiträgen wird vielmehr selbst ein Bild der Gesellschaft geschaffen, das in der Mittelschicht seine Mitte hat. Im Gegensatz zu dieser vorherrschenden Thematisierung stehen freilich marxistisch geprägte Versuche der Entmythisierung, die die Sinnhaftigkeit der Mittelschicht als Beobachtungsgegenstand mit allgemeiner Aussagekraft grundsätzlich bestreiten, und zwar im Namen jener Klassengesellschaft, deren Nichtvorhandensein durch den Verweis auf die Mittelschicht verdeutlicht werden soll. Bevor auf aktuellere Konstellationen im sozialwissenschaftlichen Diskurs eingegangen wird, lohnt ein Blick zurück auf Helmut Schelskys vielbeachtete Diagnose einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« aus dem Jahr 1953. Noch heute wird diese im wissenschaftlichen Diskurs immer wieder als Referenzpunkt herangezogen.1 Die zentrale Botschaft in die deutsche Nachkriegsgesellschaft hinein lautete, dass die Mittelschicht sowohl hinsichtlich ihrer Größe als auch mit Blick auf ihre gesamtgesellschaftliche Vormachtstellung als die maßgebende Schicht in der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu betrachten sei. Damit verband sich aus der Sicht Schelskys die definitive Verabschie1 | Unter den jüngsten Beispielen für einen so operierenden zeitdiagnostischen Großentwurf ist Andreas Reckwitz’ »Gesellschaft der Singularitäten« zu nennen, in dem die Gegenwartsgesellschaft in expliziter Abgrenzung zu Schelskys nivellierter Mittelstandsgesellschaft in eine alte Mittelklasse, eine neue Mittelklasse sowie eine neue Unterklasse unterteilt (Reckwitz 2017: 273-285).

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dung der Vorstellung von der Klassengesellschaft. »[E]in Verständnis unserer Gesellschaftsstruktur als Klassengesellschaft«, so Schelsky (1953: 226), sei »nicht mehr aufrechtzuerhalten«. Nicht festgefügte Klassen, sondern Bewegungen von Auf- und Abstieg seien für diese Struktur charakteristisch. Interessanterweise sah Schelsky das Phänomen massenhaften Auf- und Abstiegs als das treibende Moment der Nivellierung: »Das Zusammenwirken dieser sich begegnenden Richtungen der sozialen Mobilität führt – neben einer außerordentlichen Steigerung der sozialen Mobilität an sich – zur Herausbildung einer nivellierten kleinbürgerlich-mittelständischen Gesellschaft, die ebensowenig proletarisch wie bürgerlich ist, das heißt durch den Verlust der Klassenspannung und sozialen Hierarchie gekennzeichnet wird« (Schelsky 1953: 218). Die »Mentalität« dieses nun nahezu allumfassenden »Mittelstandes« sah Schelsky vornehmlich in seiner »Anpassungsfähigkeit, in einer Ungeprägtheit und Plastizität des sozialen Wesens, die sowohl die Beliebigkeit seiner ideologischen Standpunkte als auch die Zähigkeit seiner Behauptung in den verschiedenen sozialen Lagen erklärt« (Schelsky 1953: 230). Dies war zunächst als Absage an kommunistische Radikalisierungshoffnungen gemeint. Deutlich trat an solchen Äußerungen aber auch die konservative, kulturpessimistische Schlagseite hervor. Entgegen den Annahmen etwa von Schumpeter und Geiger sprach Schelsky dieser Mittelschicht folgerichtig keine Vermittlungsfunktion mehr zu, »sondern ganz im Gegenteil die der Auflösung und Dekomposition« (Schelsky 1953: 231). Derlei Entropieszenarien wurden nicht nur von marxistischen, sondern auch von liberalen Soziolog*innen wie Ralf Dahrendorf (1957) zurückgewiesen. Mittelschicht war aus dieser sozialliberalen, in der folgenden Zeit dominanten sozialwissenschaftlichen Thematisierungsperspektive genau das, was Schelsky nicht in ihr sehen wollte: die vermittelnde Instanz zwischen »oben« und »unten« und zugleich der ersehnte Ort eines (dauerhaften) sozialen Aufstiegs. Erst vor dem Hintergrund dieser Annahmen wird die Mittelschicht zum maßgeblichen Ort für Integrations- und Gerechtigkeitsfragen. Heute wird dieser vorherrschende Diskurs vor allem von einer Sorge um die Mittelschicht umgetrieben. Sozialwissenschaftler*innen (im weitesten Sinne) sorgen sich zum einen darum, dass die Mittelschicht schrumpft (Grabka/Frick 2008; Goebel et al. 2010), dass sie einer Prekarisierung ihrer Lebensverhältnisse ausgesetzt ist (Struck 2009; Nachtwey 2016) oder dass sie sich radikalisiert (Decker et al. 2013). Flankiert wird diese Forschung durch Manifestationen eines mittelschichtigen kulturellen Selbstbewusstseins, in welchem die Ideale einer bürgerlichen Lebensführung in neuem Gewand auftreten (Münkler 2010) – nicht zuletzt in Abgrenzung zu und Abwertung einer »neuen Unterschicht«, wie sie etwa von Nolte (2005) skizziert wurde, der »das moralische, das verantwortungsbewusste, das gemeinwohlorientierte Verhalten der Mittelschichten« (Nolte 2005: 56) der »kulturellen Abschottung« (Nolte 2005: 59) der Unterschicht entgegensetzt (vgl. die Analyse von Kettenring 2017: 58-64;

Separate, but central?

siehe auch Lessenich/Nullmeier 2006). Im Kontrast dazu diagnostizieren andere Soziolog*innen die Spaltung der Mittelschicht in eine »alte« und eine »neue«, wobei sie der »neuen« Mittelschicht wiederum die Verbindung von Distinktionspraxis – Reckwitz (2017: 308-349) nennt hier unter anderem Praktiken in Bezug auf Fragen des Essens, des Wohnens oder des Reisens – und Allgemeinheitsanspruch (hinsichtlich des Ideals von Authentizität und Selbstverwirklichung) zuschreiben (Reckwitz 2017: 285-308). Alle diese Diskursbeiträge, so lässt sich festhalten, gehen davon aus, dass es eine Mitte, eine Mittelschicht gibt, auch wenn sie ein mehr oder weniger komplexes Phänomen sein mag. Bei näherem Hinsehen erweist sich jedoch, dass es ganz unterschiedliche Definitionen und Zugänge gibt, sodass man geneigt sein könnte, die Mittelschicht (nicht nur im politischen Diskurs, sondern auch in den Sozialwissenschaften) als »leeren Signifikanten« zu betrachten. Dieses von Laclau (2005: 69-71) geprägte Konzept beschreibt das begriffliche Produkt einer diskursiven Praxis, in der differente Artikulationen durch ein vermeintlich Allgemeines überformt werden. Da ein solcher Begriff heterogene und zum Teil widerstreitende Forderungen umspannt, hat er sich notwendigerweise konkreter Bedeutungsgehalte entledigt, womit er zum leeren Signifikanten wird. Er ist jedoch nicht nur Worthülse, sondern für Kommunikationsprozesse von herausragender Bedeutung und Produktivität, da er von unterschiedlichen sozialen Kräften unterschiedlich ausgedeutet werden kann und damit in den verschiedensten Kontexten »Sinn« ergibt.2 Betrachtet man den Begriff »Mittelschicht« als leeren Signifikanten, so lässt sich an seiner Verwendung der Versuch ablesen, die Gesellschaft als eine Einheit zu präsentieren, in der soziale Gegensätze abgeschliffen sind, ein geringes Maß an Polarisierung herrscht und das Allgemeinwohl mit dem Wohl der Mittelschicht zusammenfällt. Zugleich kann dieser Begriff dann auch dazu verwendet werden, eine Auflösung von Einheit und Zusammenhalt zu thematisieren, und zwar nicht nur mit Blick auf einen Niedergang des Bezeichneten, sondern auch in Form von Differenzierungen (alt/neu), die eine interne Spaltung offenlegen sollen. In diesem Lichte betrachtet erscheint die sozialwissenschaftliche Debatte selbst als diskursives Geschehen, in dessen Zuge der Kategorie der Mittelschicht spezifische Bedeutungen zugewiesen werden, um zu gesellschaftsdiagnostischen Schlussfolgerungen zu gelangen. Insofern Sozialwissenschaftler*innen sich am öffentlichen Diskurs beteiligen, reproduzieren sie in der Regel bestimmte Deutungsmuster, die nicht zuletzt hinsichtlich des Verhältnisses der Mittelschicht zum (Wohlfahrts-)Staat, zum globalisierten Kapitalismus und zur Demokratie von Bedeutung sind (vgl. Haus 2015): Im Revoltendiskurs wird die Mittelschicht als Opfer einer Ausplün2 | Siehe hierzu auch die Studie von Nonhoff (2006), in der für die Bundesrepublik der Nachkriegszeit die »soziale Marktwirtschaft« als leerer Signifikant identifiziert wird.

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derung durch die »unproduktiven« Klassen (die wohlfahrtsstaatsabhängige Unterschicht, die kapitalbesitzende Oberschicht) gesehen und zur Wehr aufgerufen. Im Verunsicherungsdiskurs wird die zunehmende Prekarisierung aller Lebensverhältnisse beschworen, die auch von der Mittelschicht immer mehr Besitz ergreife. Im Entdramatisierungsdiskurs schließlich wird die Sorge zu entkräften versucht. Hiernach sitzt die Mittelschicht im sicheren Sattel und wird auch noch vom Wohlfahrtsstaat verhätschelt. Letzterer solle sich endlich den »wirklich Bedürftigen« zuwenden. Selbst in der Verhätschelungsdeutung wird die Existenz der Mittelschicht indes nicht nur nicht infrage gestellt, sie wird auch als distinkte Gruppe artikuliert: Indem der Wohlfahrtsstaat als »only for the poor« postuliert wird, wird das gemeinsame Interesse von Mittelschicht und Unterschicht an einem möglichst umfänglichen, gut funktionierenden Wohlfahrtsstaat negiert. Wie bereits angedeutet, steht all diesen verschiedenen Beiträgen zur Sorge um die »Mitte« ein marxistisch geprägter Diskurs gegenüber. So analysiert Ulf Kadritzke in seinem Buch Mythos »Mitte« »die performative Rolle der deutschen Wirtschafts- und Sozialwissenschaft, die im Jahr 1897 den ›neuen Mittelstand‹ aus der Taufe hob«, um zu begreifen, »warum das ebenso suggestive wie schwammige Bild der Mitte bis heute im öffentlichen Diskurs über die Gesellschaft vorherrscht« (Kadritzke 2017: 16). Kadritzkes Text gehört einem traditionellen marxistischen Entmythisierungsdiskurs an (siehe auch Parker 1972). Im Zentrum dieses Diskurses steht der Vorwurf, dass die Rede von der Mittelschicht in einer sich an die herrschenden Verhältnisse anpassenden Soziologie und sozialwissenschaftlichen Intellektuellenschaft dazu diene, die »Klassenfrage zu entsorgen« (vgl. den Untertitel von Kadritzke 2017). Zu diesem Zwecke werde die Existenz einer gegenüber der Unter- oder Arbeiterschicht abgegrenzten Schicht behauptet, ohne dass dafür überzeugende oder auch nur eindeutige Indikatoren aufgeboten würden. Die Lebensform der »Mitte« werde zum normativen Ideal erklärt (so bei Münkler 2010) und »die Mitte der Gesellschaft erscheint wesentlicher als das Ganze, dessen Teil sie doch ist« (Kadritzke 2017: 9). Als faktische habituelle Performanz (im Sinne Bourdieus) wird freilich auch aus dieser Perspektive einer »kritischen« Sozialwissenschaft nicht infrage gestellt, dass die Ausdifferenzierung von Positionen im sozialen Feld entlang von Berufsgruppen und Einkommenshöhen schon früh zu einer Distinktionspraxis geführt hat, die als »Mittelschichts«-Zugehörigkeit angerufen werden kann. Der sozialwissenschaftliche Mittelschichtsdiskurs weist somit unterschiedliche Deutungs- und Argumentationsfiguren auf, deren gemeinsamer Kern darin besteht, die Mittelschicht als Vehikel für gesellschaftsdiagnostische Aussagen zu verwenden. Die Bezugnahme auf die Mitte dient immer auch dazu, (kritische) Positionen zur Gegenwartsgesellschaft »an sich« zu entwickeln. Im folgenden Abschnitt gehen wir der Frage nach, wie sich die deutsche Medien-

Separate, but central?

öffentlichkeit dieser unterschiedlichen Ausdeutungen bedient und »die Mittelschicht« zu einem sinnstiftenden Element öffentlicher Debatten werden lässt.

3. M it te und M it telschicht in der deutschen M edienöffentlichkeit 3.1

Vorbemerkungen zu Material und Methode

Unser Material zur Analyse der Bedeutung der Mittelschicht entstammt einem Forschungsprojekt zum Zusammenhang von Mittelschichtsdiskursen und wohlfahrtsstaatlichem Politikwandel in Deutschland, Großbritannien und Schweden (vgl. Barbehön/Haus 2015, 2018; Barbehön/Geugjes 2018; Haus 2015). Eine empirische Säule dieses Projekts besteht in der interpretativen Rekonstruktion der Bedeutungsgehalte und argumentativen Funktionen des Mitte-Begriffs in der medialen Berichterstattung der drei Länder. Wir begreifen den massenmedialen Raum als weithin sichtbaren und anschlussfähigen Kommunikationszusammenhang, in dem mehrdeutige Phänomene mit spezifischen Bedeutungen versehen und so in kollektiv erfass- und thematisierbare Objekte transformiert werden (Keppler 2005). Obgleich das mediale Geschehen nicht als neutrales Abbild einer äußerlichen Realität, sondern als aktive Konstruktion sozialer Wirklichkeit zu begreifen ist, kann angenommen werden, dass die Inhalte und Formen der medialen Berichterstattung mit kollektiv verankerten Überzeugungen korrespondieren müssen, um als »angemessen« gelten zu können (Dreesen et al. 2012: 11). Die mediale Berichterstattung kann daher zumindest als Annäherung an das kollektive Wissen einer Gesellschaft (über sich selbst) gelesen werden, ohne dass damit der Anspruch eines vollständigen Bildes erhoben werden soll. Zur Materialgenerierung haben wir im Falle Deutschlands auf die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) und die Süddeutsche Zeitung (SZ) zurückgegriffen. Beide Blätter sind unter Deutschlands auflagenstärksten Tageszeitungen, werden überregional vertrieben und bilden unterschiedliche Pole des politischen Spektrums ab. Da sie zur Qualitätspresse gehören, können sie als die mediale Stimme der gesellschaftlichen Mitte bezeichnet werden. Damit soll freilich keine sozialstrukturelle Definition hinterrücks eingeführt werden; es lässt sich jedoch davon ausgehen, dass Zeitungen, die sich selbst eine »gemäßigte« und »neutrale« Berichterstattung zuschreiben, in besonderer Weise geeignet sind, um Prozesse der diskursiven Normalisierung des Wissens einer Gesellschaft über sich selbst zu rekonstruieren. Zur Zusammenstellung des Korpus haben wir für die Jahre 2005 und 2015 die Zeitungsarchive mittels des Begriffs mitt* durchsucht und alle Artikel aufgenommen, in denen auf die gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche Mitte Bezug genommen wird.

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Marlon Barbehön, Marilena Geug jes und Michael Haus

Für die dazwischenliegenden Jahre 2006 bis 2014 haben wir eine stärkere Begrenzung auf diejenigen Materialien vorgenommen, die die Mittelschicht dezidiert mit dem Wohlfahrtsstaat in Beziehung setzen. Aus den so zusammengetragenen 2.668 Zeitungsartikeln haben wir mittels einer interpretativen Textanalyse die der Mitte zugewiesenen Eigenschaften sowie die Funktionen der Mitte-Kategorien in gesellschaftspolitischen Diagnosen, Forderungen und Argumenten rekonstruiert. Die induktive Materialanalyse mündete in einen Code-Baum, der die übergreifenden Strukturen und die Funktionsweise des Mitte-Diskurses beschreibt. Im Folgenden werden wir einen Ausschnitt der diskursanalytischen Ergebnisse präsentieren. Wir beschränken uns auf die Kategorie der Mittelschicht (und synonyme Wendungen wie »Mitte der Gesellschaft«) und wie diese mittels der Attribution von Wertorientierungen und Lebensweisen als bedeutungsvolles Objekt des medialen Diskurses erzeugt wird.

3.2

»Ganz normale« Werte und Lebensweise: Die Mittelschicht zwischen Spezifischem und Allgemeinem

Im Unterschied zu den mit sozialstrukturellen Daten operierenden Studien, die sich regelmäßig und unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit um eine Bemessung der Größe der Mittelschicht bemühen (jüngst etwa Grabka et al. 2016), ist sich der mediale Diskurs in Deutschland durchaus bewusst, dass die Mittelschicht eine Gruppe ist, »die eben nicht statisch genau auf der Grundlage von Euro und Cent zu definieren ist« (SZ, 19.06.2010). Vor diesem Hintergrund spielen Werte und Lebensstile für die Identifikation der gesellschaftlichen Mitte eine herausgehobene Rolle. Der mediale Mittelschichtsdiskurs beschreibt Angehörige der Mittelschicht vor allem als eines: arbeitend. Die »arbeitende« (SZ, 10.05.2008) und »leistungsbereite« (SZ, 07.01.2009) Mittelschicht arbeite »Tag und Nacht« (FAZ, 24.01.2005) und werde damit zum »Leistungsträger« (FAZ, 31.08.2006) der Gesellschaft. Es seien gerade diese »fleißigen Millionen aus der Mitte der Gesellschaft« (FAZ, 03.05.2013), die dafür sorgten, »dass der Karren dieser Republik gezogen wird« (FAZ, 25.02.2009). Durch ihre Arbeit verdienten Mittelschichtsmitglieder so viel, »dass sie nicht jeden Euro umdrehen müssen. Aber nicht so viel, dass ihnen jede Steuer- und Abgabenerhöhung egal sein kann« (SZ, 19.06.2010). Folglich wird die Mittelschicht als eine Gruppe konstruiert, die einen gewissen Lebensstandard halten kann, der Abstiegsängste jedoch nicht unbekannt sind (siehe unten). Sie ist gleichermaßen privilegiert wie verletzlich; hat per Definition sozioökonomisch Luft nach oben, gleichzeitig aber auch einiges zu verlieren. Die Definition als »arbeitende Mitte« (zum Beispiel FAZ, 26.07.2015) bringt ein weiteres Charakteristikum der Mittelschicht mit sich: Ihre Mitglieder gelten

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in der Regel als »gut ausgebildet« (FAZ, 16.01.2005). Sie werden beschrieben als »Menschen mit guter Ausbildung und Expertenstatus, sei es als Facharbeiter und im akademischen Betrieb« (SZ, 19.06.2010), die »einer guten schulischen und beruflichen Bildung große Bedeutung bei[messen]« (FAZ, 15.07.2008). Sie seien aber nicht nur an Bildung, sondern auch an Kultur interessiert, gingen deshalb in die Oper (FAZ, 29.03.2015) und »chauffier[t]en« ihre Kinder »zu Klavier und Ballett« (FAZ, 25.01.2015). Gute Ausbildungen lassen Mittelschichtsangehörigen laut Diskurs freie Hand bei der Berufswahl und ihre stabilen Einkommen vereinfachen ihnen Lebensentscheidungen. Generell gilt die Mittelschicht deshalb als autonom entscheidend, frei wählend und sich selbst verwirklichend. So erzählt beispielsweise eine selbst erklärte »Mittelstandsfrau« von ihrem Job, den sie sich, »natürlich ausgehend von der Frage, was [sie] will, was [ihr] Spaß macht«, selbst ausgesucht habe (FAZ, 15.03.2015). Berufe hätten für die Mittelschicht mehr »mit Berufung oder Selbstverwirklichung zu tun« (SZ, 07.02.2005) als mit materiellem Selbsterhalt. Und auch jenseits des Arbeitsmarktes bevorzuge »die Mittelschicht […] das Modell, bei dem die Bürger so viel Verantwortung wie möglich für sich übernehmen« (FAZ, 15.07.2008). Kurzum: Sie sei bereit, »das eigene Leben in die Hand zu nehmen, mit allen Risiken und Unwägbarkeiten« (FAZ, 29.12.2007). Eigenverantwortung entspreche ihrem »Leistungscredo«, wohingegen sie den »allverantwortlichen Staat« ablehne (SZ, 18.07.2012). Der Mittelschicht werden noch weitere Charakteristika zugesprochen. Sie sei politisch »unideologisch« (SZ, 08.04.2015), mit ihrem »Vernunftkonsens« verkörpere sie gar »die deutsche Sachlichkeit« (SZ, 12.12.2015) und sei jener soziopolitische Raum, »der durch seine notorische Angstfreiheit gekennzeichnet ist« (SZ, 29.08.2015). Bezüglich ihrer politischen Einstellungen seien Mitglieder der Mittelschicht also vernünftig, differenziert und wenig anfällig für extreme Positionen. Zugleich wird ihnen aber auch das Gegenteil unterstellt: »Viele Leute, die sich selbst als Teil der Mitte sehen, äußern rassistische Dinge« (SZ, 12.12.2015), Rassismus werde als »Ausländerfeindlichkeit […] in der Mitte der Gesellschaft« (SZ, 24.10.2015) verharmlost, und generell bevorzugten Mittelschichtsangehörige ein »soziales Umfeld, das nicht ›so multikulturell‹ ist wie die Innenstadt« (SZ, 30.01.2010). Als Mehrheit der Gesellschaft scheint ihnen »Feindseligkeit gegenüber Minderheiten« (SZ, 05.02.2005) also nicht per se fern zu sein. An derartigen Stellen wird somit deutlich, dass der mediale Diskurs nicht allein die Mittelschicht mit bestimmten Werten assoziiert, sondern sich auch um die Vergewisserung über die Mitte der Gesellschaft im Sinne eines kollektiven Wertehaushalts bemüht. Fallen mittlere Gruppe und mittlere Werte auseinander, erscheint dies als ein besonders beunruhigendes Zeichen (siehe unten). Die Mittelschicht ist offenbar nicht nur eine sozioökonomische Gruppe zwischen oben und unten, sondern eine diskursive Kategorie, deren Verwendung unweigerlich normative Fragen herauf beschwört.

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Diese Beobachtung leitet über zu einem weiteren Merkmal des medialen Mittelschichtsdiskurses. Anhand der vorausgegangenen Ausführungen wurde deutlich, wie die Mittelschicht mit spezifischen Eigenschaften assoziiert und somit als bedeutungsvolles Element der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung erzeugt wird. Durch derartige Bedeutungszuweisungen geschieht aus diskurstheoretischer Sicht (vgl. Foucault 1991: 10-17; Laclau/Mouffe 2001: 91-93) jedoch noch mehr: Die Bezugnahme auf die Mittelschicht konstituiert im gleichen Atemzug ein Außen und weist diesem wiederum (implizit) Eigenschaften zu. Dieser diskursive Effekt verdankt seine Existenz dem Umstand, dass dem Begriff der Mitte, ob in Gestalt der Mittelschicht, der politischen Mitte oder des Mittelstands (vgl. Fuchs/Klingemann 1989; Link 1991; Blyth 1997; Marg 2014), eine relationale Logik zugrunde liegt. Die gedankliche und sprachliche Referenz auf die Mitte impliziert nolens volens etwas, das nicht dazugehört, das links oder rechts von ihr liegt, das sich ober- oder unterhalb befindet, das zur Peripherie oder gar zu den Extremen gehört. Wie die letztgenannten Begriffe bereits andeuten, sind derartige Differenzierungen vielfach mit Wertungen verbunden, ist der Begriff der Mitte doch mit Vorstellungen von Ausgleich, Vernunft und Kompromiss konnotiert; Redewendungen wie »die goldene Mitte« oder »Mitte und Maß« stehen hierfür Pate (vgl. Münkler 2010). Auf den medialen Mittelschichtsdiskurs übertragen bedeutet dies, dass die bloße Zurechnung von Eigenschaften immer auch mit Grenzziehungen und der Konstruktion eines Anderen verbunden ist. Die Rede von der gebildeten, autonomen und hart arbeitenden Mittelschicht erzeugt notwendig einen Raum der Ungebildeten, Abhängigen und Inaktiven (vgl. Lessenich 2009: 267-268). Diese Grenzziehungen sind jedoch nicht nur implizit im diskursiven Geschehen angelegt, sondern werden bisweilen auch explizit zum Gegenstand der medialen Reflexion, und zwar in Form einer Auseinandersetzung mit Distinktionspraktiken der Mittelschicht. Dabei ist auffallend, dass der mediale Diskurs derartige Phänomene vielfach mit kritischem Unterton berichtet. Exemplarisch zeigt sich dies im Bereich der Bildung, der (wie oben gezeigt) zu den zentralen Identitätsquellen der Mittelschicht zählt. So habe sich etwa das Gymnasium in den vergangenen Jahren zur »Kampfzone« entwickelt zwischen den »traditionellen Bildungseliten« einerseits, die für strikte Zugangsbarrieren eintreten, und den »›bildungsfernen‹ Eltern« (FAZ, 25.01.2015) andererseits, die in Bildungstiteln den Schlüssel für sozialen Aufstieg erkennen. Die Abwehrreaktionen seitens der Mittelschicht und mithin die Ursache des Kampfes sei letztlich, so teilt die Unterzeile des Zeitungsartikels mit, die »Abstiegsangst der Mittelschicht« (FAZ, 25.01.2015). Außerhalb der Institution Schule sei es die Nachhilfe, die besonders von der »bürgerliche[n] Mitte« in Anspruch genommen werde, um »Anschluss zur Oberschicht« zu finden und sich »nach unten« abzugrenzen. Die Frage dabei sei: »Überziehen es die Eltern inzwischen? […] Bleiben die Kinder der Unterschicht auf der Strecke?« (FAZ,

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20.9.2015) Ein ähnliches Muster wird hinter dem zu beobachtenden »Anwachsen der Ausländerfeindlichkeit« sowie der »Abwertung alles Fremden« diagnostiziert, womit die von »Abstiegsängste[n]« geplagte Mittelschicht versuche, »den sozialen Abstand zu wahren« (SZ, 23.12.2005). Die Furcht vor sozialem Abstieg reiche mittlerweile »bis tief in die Mitte der Gesellschaft«, was in die »Demonstration von Überlegenheit gegenüber Schwachen« (SZ, 16.12.2005) sowie »sozialen Statusfanatismus und gesellschaftlichen Gruppenegoismus« (FAZ, 10.01.2011) münde. Eine derartige »Besitzstandswahrungs-Verhärtung der Mittelschicht« (SZ, 16.02.2015) könne jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die gesellschaftliche Mitte zunehmend prekär werde. »Da bekommen die Privilegierten Angst: Sie, die Arbeit haben, könnten nicht mehr die selbstbewusste Mehrheit bilden, die das Land trägt. Die Arbeitslosen und die Minijobber, die Outgesourcten und die Langzeitpraktikanten sind ihnen keine Empfänger selbstlosen Mitleids mehr. Sie sind Repräsentanten der eigenen Gefährdung« (SZ, 18.08.2005). Auffallend ist an diesen Beispielen, dass die Distinktionspraktiken der Mittelschicht vielfach auf Abstiegsängste und Gefährdungslagen zurückgeführt werden, womit die Prekarisierungsdeutung des wissenschaftlichen Diskurses (siehe oben) auch medial reproduziert wird. Die obige Feststellung zum kritischen Unterton der Berichterstattung muss somit in einer entscheidenden Hinsicht spezifiziert werden: Kritisiert werden nicht nur und nicht einmal hauptsächlich die Abgrenzungsversuche der Mittelschicht an sich, sondern vielmehr großformatige Entwicklungen (Neoliberalisierung, Globalisierung, Sozialstaatsrückbau, Individualisierung), die als maßgebliche Triebkräfte hinter dem beobachtbaren Verhalten der Mittelschicht ausgemacht werden. Im medialen Diskurs erscheint soziale Distinktion hinsichtlich ihrer Konsequenzen bisweilen als problematisch, zugleich jedoch, da die gesamtgesellschaftlichen Ursachen gleich mitgeliefert werden, als in gewisser Weise nachvollziehbar. Neben der diskursiven Praxis, die Mittelschicht als distinkte und sich distinguierende Gruppe zu präsentieren, besteht ein weiteres übergreifendes Merkmal des medialen Diskurses darin, die Mittelschicht mit Normalität zu assoziieren. In zahlreichen Zeitungsartikeln wird auf die »ganz normale Mitte der Gesellschaft« (FAZ, 03.09.2005) Bezug genommen, von »der ordentlichen Mittelklassegesellschaft« (FAZ, 18.11.2015) berichtet oder werden »Normalbürger der Mittelschicht« (SZ, 01.12.2005) und »[n]ormale Mittelschichts-Familien« (SZ, 10.10.2009) adressiert. In der gleichen Bewegung wird die soziale Mitte zum gesellschaftspolitischen Fundament erklärt: Die Bundesrepublik sei durch das »Leitbild der Mittelschichtgesellschaft« (FAZ, 20.11.2005) geprägt, es seien mithin die Menschen »in der Mitte«, »die die Gesellschaft zusammenhalten« (SZ, 02.09.2006). Da »Mittelklasse und Zivilgesellschaft […] die besten Garanten für Demokratie« (SZ, 11.06.2005) seien, lasse sich in

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Gesellschaft und Politik eine grundsätzliche Orientierung an der Mitte ausmachen – und »selbst beim Autofahren ist bei dreispurigen Autobahnen ein Drang zur Mitte beobachtbar« (FAZ, 12.09.2005). Wie oben bereits angedeutet, folgt daraus, dass es sich um ein besonderes Alarmzeichen handelt, wenn die »bisher staatstragende Mittelschicht zerbröselt« (SZ, 07.05.2008): Müsste die Mittelschicht, müssten »[n]ormale Menschen […] hohe Risiken auf sich nehmen, um sich durchzuschlagen«, gerate die Gesellschaft »aus dem Gleichgewicht« (FAZ, 02.07.2015), drohe gar die »Spaltung der Gesellschaft mit unabsehbaren Folgen« (SZ, 28.12.2015). Dementsprechend sieht sich etwa Marc Beise, Autor des bei der Bundeszentrale für politische Bildung [!] erschienenen Buchs Die Ausplünderung der Mittelschicht (Beise 2009), in einem Leitartikel zu einem »Hilferuf aus der Mitte der Gesellschaft« veranlasst: »Sparen fürs Alter, nachhaltig vorsorgen, uns und den Kindern etwas auf bauen, einst normale und die Gesellschaft stabilisierende Tugenden, das können wir – die Helden der schwarzen Null am Monatsende – nicht mehr« (SZ, 14.06.2008). Die mediale Repräsentation und Reaktualisierung des »Mitte-Paradigmas« (Münkler 2014) ist somit durch eine Doppelbewegung gekennzeichnet. Einerseits wird die Mittelschicht als distinkte Gruppe imaginiert, die sich durch spezifische Wertorientierungen und Lebensstile auszeichnet; andererseits werden diese Spezifika zum kollektiven Standard und zur allgemeingültigen Orientierungsgröße erhoben. Es ist diese diskursive Gleichzeitigkeit und Verschränkung von Besonderheit und Generalität, die die Hintergrundfolie abgibt, vor der dann pauschal eine (wohlfahrtsstaatliche) Politik für die Mittelschicht gefordert werden kann – und dies oftmals ohne weitere Begründung, warum gerade die Mittelschicht besonderer Aufmerksamkeit bedürfe: »Die Politik darf von daher nicht nur für eine Schicht repräsentativ sein, sondern muss zu einer breiten Reformbewegung werden, in deren Zentrum eine moderne, sozial orientierte Mittelschicht steht« (SZ, 28.02.2005). Es ist an diesen Stellen, an denen die Mittelschicht als spezifische Gruppe und als Inkarnation des Allgemeinwohls präsentiert wird. Im Anschluss an den diskurstheoretischen Begriff des »leeren Signifikanten« (Laclau 2005: 69-71) lässt sich diese Praxis als »paradoxe[r] Kurzschluss« (Nonhoff 2007: 13) bezeichnen, wonach der Begriff der Mitte(lschicht) eine Differenz beschreibt und zugleich das Allgemeine repräsentiert.

4. S chluss Sowohl im sozialwissenschaftlichen Diskurs als auch in der Medienöffentlichkeit fungiert die Mittelschicht als »leerer Signifikant« im Sinne von Laclau (2005: 69-71). Die Deutungsoffenheit des Begriffs wird dazu genutzt, Identitäten zu artikulieren, etwas Besonderes als das Allgemeine darzustellen und

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Probleme wie Forderungen zu formulieren. Im Gegensatz zu klarer partikular konturierten Wir/Sie-Konstruktionen ist die »Mittelschicht« eine Größe, die zum einen wenig abgegrenzt erscheint (in dem Sinne, dass ihr keine klaren Exklusionskriterien zugrunde liegen wie etwa starke ideologische Überzeugungen oder ethnische Zuschreibungen), zum anderen aber stärker objektive Züge aufzuweisen scheint (indem sich für sie sozialstrukturelle Zugehörigkeitsmerkmale nennen lassen, die auf sozialwissenschaftlichen Konzepten beruhen und eine ökonomische Verankerung haben). Das Paradoxon besteht immer wieder darin, eine Gruppe als »Mitte«, aber nicht als »Durchschnitt« oder »Mittelmaß« zu verstehen. Damit die Mittelschicht überhaupt Konturen gewinnen kann, darf sie nicht (wie bei Schelsky, der genau aus diesem Grunde meist verkürzt rezipiert wird) als bloße »Nivellierung« gesellschaftlicher Unterschiede, als soziale Unterschiedslosigkeit und als mentale Anpassung verstanden werden. Sie muss im doppelten Sinne als »normal« ausgewiesen werden: als »üblich« (etwa hinsichtlich des Versprechens, das jeder, der bereit ist, »Leistung« zu erbringen, auch »Aufstieg« erfährt, es insofern kein besonderes Privileg darstellt, dazuzugehören) und als »vorbildlich« (insofern die für die Gesellschaft insgesamt tragenden Normen genau in dieser Schicht besonders verkörpert sind). Die Mittelschicht ist zentral und zugleich verschieden. Beide Aspekte sind stets auszutarieren. Es muss das inhärent paradoxe Bild einer Gesellschaft plausibilisiert werden, in der das Streben zur Mitte hin als allgemein wertvoll erscheint, in der diese Mitte trotz aller Vergrößerungs- und Stärkungsbemühungen aber auch eine distinkte Sphäre bleibt, um überhaupt ein unterscheidbarer Orientierungspunkt für andere sein zu können – denn wenn alle in der Mitte sind, gibt es keine Mitte mehr. Dieses Grundverständnis gibt sowohl dem sozialwissenschaftlichen wie dem journalistischen Geschäft der »Sorge« um die Mittelschicht ihren Sinn. Jenseits dieses allgemeinen und großflächigen Deutungsmusters werden die oben unterschiedenen Interpretationsangebote des sozialwissenschaftlichen Diskurses innerhalb der Medienöffentlichkeit in spezifischer Weise aufgegriffen und synthetisiert. Innerhalb der Zeitungsberichterstattung tritt am deutlichsten der Verunsicherungsdiskurs hervor, der die Mittelschicht als bedrohte Spezies präsentiert, die trotz ihres Bildungsstandes und ihrer Leistungsbereitschaft von Abstiegsängsten geplagt ist. Daraus folgt einerseits, dass die Distinktionspraktiken der Mittelschicht zwar als beklagenswert, aber immer auch als verständlich erscheinen, sowie andererseits, dass die Mittelschicht zum legitimen Adressaten des Wohlfahrtsstaats wird, hat sich dieser doch um das Fundament der Gesellschaft zu kümmern. Für Angst gibt es (zumindest in Deutschland) immer gute Gründe. Die Ursachen der drohenden Prekarisierung werden dabei in erster Linie bei den anonymen Mächten der Neoliberalisierung, der Globalisierung oder der Individualisierung gesucht, womit die Deutung einer Ausplünderung der Mittelschicht durch die »Unpro-

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duktiven« eher wenig mediale Resonanz erfährt. Implizit findet sie sich dort, wo der Diskurs »Entlastungen« für die »hart arbeitende« und »selbstverantwortliche« Mittelschicht einfordert, womit ein Konflikt gezeichnet wird, in welchem die »Leistungsträger*innen« einer (nicht explizit benannten) Gruppe an Inaktiven und Abhängigen gegenüberstehen, die von den andernorts finanzierten Leistungen des Wohlfahrtsstaats profitieren. Anklänge einer Entdramatisierung lassen sich am ehesten dort erkennen, wo die Abgrenzungsversuche der Mittelschicht gegenüber den unteren Schichten als Katalysator sozialer Ungleichheit problematisiert werden – indem jedoch die Ursachen dieser Distinktionspraktiken gleich mitgeliefert werden, ist die Mittelschicht selbst nicht im Zentrum der Kritik. Schließlich ist der marxistisch geprägte Entmythisierungsdiskurs gänzlich abwesend. In den beiden hier berücksichtigten und zweifelsohne zum Mainstream gehörenden Tageszeitungen herrscht weitgehend Konsens dahingehend, dass die Mittelschicht das gesellschaftliche Grundgerüst darstellt, das es zu hegen und zu pflegen gilt. Der mediale Diskurs – wie er sich in den hier untersuchten »Leitmedien« darstellt – scheint sich somit (wie kann es anders sein?) in der Mitte der in der sozialwissenschaftlichen Diskussion kursierenden Deutungsangebote zu bewegen, sodass die gleichsam »radikalen« Varianten einer Revolte der Mittelschicht gegen oben und unten einerseits sowie einer Entlarvung der Mittelschicht als Ausdruck eines falschen Klassenbewusstseins andererseits keine vernehmbaren Stimmen darstellen. Die Frage, ob dieser Befund anders ausfallen würde, wenn auch andere Organe der bundesdeutschen Medienlandschaft berücksichtigt worden wären, muss an dieser Stelle offenbleiben. Dass sich etwa eine fundamentale Gesellschaftskritik (neo-)marxistischer Provenienz in unserem Material nicht zu erkennen gibt, mag einerseits nicht verwundern, ist doch die Auswahl »gemäßigter« Pressestimmen ein entscheidendes Kriterium bei der Materialauswahl gewesen. Andererseits und in umgekehrter Bedingungslogik ließe sich jedoch auch argumentieren, dass die Leitmedien gerade deshalb als »Stimme der Vernunft« wahrgenommen werden, weil sie die Mittelschicht in bestimmter Art und Weise hervortreten lassen und damit in sinnvoller Weise mit dem kollektiv verankerten Wissen der bundesdeutschen Gesellschaft über sich selbst resonieren.

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Abgrenzungen und Ausschlüsse

Die ewige Mitte und das Gespenst der Abstiegsgesellschaft Stephan Lessenich »Der Mittelstand wird von der steten Furcht verfolgt, zu verlieren. Jede leise Veränderung der umgebenden Verhältnisse macht ihn zittern. […] Jedwedes Geschehnis ist ihm eine Teilerscheinung jener großen Verschwörung, die auf seinen Untergang abzielt.« K urt E isner , D ie Tragödie des M it telstandes (E isner 1901 [1894]: 87f.)

U nd täglich grüsst der M it telstand : D ie S orge der M ehrheitsgesellschaf t um sich selbst Die Sorgen um den Mittelstand sind so alt wie der Mittelstand selbst. Und Sorgen um den Mittelstand sind immer auch dessen Sorgen um sich selbst. Was Kurt Eisner – Journalist und Schriftsteller, Sozialdemokrat und revolutionärer Sozialist, Politiker und erster Ministerpräsident des Freistaats Bayern – schon Ende des 19. Jahrhunderts im Mittelstand sah, jene konstitutive Angst vor der Veränderung, vor dem Verlust und irgendwie auch vor der Verschwörung, zieht sich seither als roter Faden durch die Geschichte der sozialwissenschaftlichen und politischen Reflexionen zu dem sozialen Phänomen des Mittelstandes beziehungsweise der Mittelklassen, Mittelschichten oder schlicht der »Mitte«. Gesellschaftliche Veränderungs- und soziale Verlustängste, garniert mit gesellschaftspolitischen Verschwörungsphantasien: Das ist bis heute – und heute neuerlich in besonderem Maße – die politisch-soziale Grundkonstellation der Mitte. Jedenfalls in Deutschland. Von Kurt Eisners luzider Einsicht, in einer kleinen kaiserzeitlichen »Culturglosse« festgehalten, führt der Weg der deutschen Mittelstandskunde in die Weimarer Republik, wo es – in einer Hochzeit der kritischen Gesellschaftsanalyse – insbesondere Theodor Geiger war, der die Rede vom »Mittelstand«

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zu Beginn der 1930er Jahre als Ausweis einer gewissen sozialstruktur- beziehungsweise damals noch klassenanalytischen Ratlosigkeit sah: Die irgendwo zwischen Bourgeoisie und Proletariat zu verortende »Zwischenschicht im Zweiklassensystem« (Geiger 1930: 638) wurde den meisten Beobachtern zum undefinierbaren Restposten »jener Einheiten, mit denen man nichts anzufangen weiß« (Geiger 1962 [1930]: 235). Geiger kritisierte, in einer Reihe mit Weimarer Soziologen wie Carl Dreyfuss, Siegfried Kracauer, Emil Lederer oder Hans Speier (vgl. Kadritzke 2017), die schon damals üblich gewordene Ineinssetzung von »altem«, die kleinbürgerlichen Besitzklassen umfassenden, und »neuem«, die lohnabhängigen und zum Teil proletarisierten Angestelltenklassen bezeichnenden Mittelstand als ideologische Konstruktion und »ständisches Wunschbild« (Geiger 1932: 20) – wie übrigens auch den Begriff des »Mittelstandes« selbst, der eine lebensstilistische und mentalitätspolitische Identität und also ständische Verbundenheit zweier Klassen behaupte, die es so nicht gebe. Gemeinsam sei den Lebensverhältnissen selbstständiger Kleinkapitalisten und lohnabhängiger Besitzloser allenfalls ihre Zugehörigkeit zu einer »Zone der ideologischen Verwirrung« (Geiger 1930: 643), in der sich soziale Aufstiegswünsche und Abstiegsängste kreuzten – eine gesellschaftliche Zone, für die Geiger jene »Panik im Mittelstand« diagnostizierte, die seither zum geflügelten Wort geworden ist und sich zum Ende der Weimarer Republik als wahlsoziologisches »Überwiegen des Mittelstandskontingents im NS« (Geiger 1930: 648) manifestierte. Mit der Panik im Mittelstand war es nach dem Nationalsozialismus freilich zunächst einmal vorbei – oder so wollte beziehungsweise sollte es zumindest scheinen. Auf die institutionalisierte Maßlosigkeit der in den Eroberungswahn und Vernichtungsfuror getriebenen deutschen Volksgemeinschaft reagierte die Bundesrepublik mit einer »Politik des mittleren Weges« (Schmidt 1990) und des rechten Maßes. Mit Adenauer und Erhard regierte nun ein konservativer Liberalismus der bürgerlich-rechtschaffenen Rückkehr in den Kreis demokratisch-kapitalistischer Nationen und bald schon herrschten im Westen »Wirtschaftswunder« und Soziale Marktwirtschaft, eröffnete sich ein gesellschaftlicher Erwartungs- und zunehmend auch Erfahrungshorizont von »Wohlstand für alle« und nunmehr friedlicher, der ehrlichen Kaufmannschaft fleißiger Mittelständler zu verdankender Weltmarktführerschaft »Made in Germany«. Die soziologische Selbstbeschreibungsformel zur prosperierenden Nachkriegsrepublik schuf Helmut Schelsky (1953), dessen Konzept der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« nicht nur ständisches Denken wiederbelebte beziehungsweise fortschrieb und die Klassenkategorie ausdrücklich hinter sich ließ – wie übrigens auch Geiger nunmehr, nach Nationalsozialismus, den Kriegszerstörungen und dem Ende des ostelbischen Großagrariertums, die restdeutsche Klassengesellschaft »im Schmelztiegel« (Geiger 1949) entschwinden sah.

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Schelskys Sozialstrukturdiagnose zeichnete sich insbesondere auch dadurch aus, dass sie ihrer historischen Zeit voraus beziehungsweise als solche letztlich sozialprognostisch angelegt war, wenn sie von einer »sozialen Nivellierung in einer verhältnismäßig einheitlichen Gesellschaftsschicht« sprach, die »durch den Verlust der Klassenspannung und sozialen Hierarchien gekennzeichnet« (Schelsky 1953: 332) sei. Das war, in dieser Zuspitzung, Anfang der 1950er Jahre soziologische Zukunftsmusik, die freilich gesellschaftlich gern gehört wurde, konnte sie doch nahtlos an die gesellschaftspolitischen Befriedungswünsche und das vergangenheitsvergessene Normalisierungsbestreben breiter Bevölkerungsmehrheiten – wie auch der politischen und ökonomischen Eliten – anschließen. Die Mittelstandsgesellschaft ließ, in der analytischen Konstruktion und zunächst einmal in Deutschlands Westen, nunmehr produktivistisch-sozialpartnerschaftlich zusammenwachsen, was auch zuvor schon, allerdings militaristisch-volksgemeinschaftlich, hatte zusammengebracht werden sollen: »Das suggestive Bild der Nivellierung kann angesichts des Überlebens obrigkeitsstaatlich geprägter Denkweisen und rassistischer Vorurteile in der Gesellschaft der Bundesrepublik als die modernisierte Fassung einer Volksgemeinschaft der Mitte gelten« (Kadritzke 2016: 639; Hervorhebung im Original). Von solchen Ahnen und Ahnungen allerdings unbelastet, trat die »Mitte« ihren in den Folgejahrzehnten weitestgehend ungefährdeten gesellschaftlichen Siegeszug an. Während im politischen Diskurs weiterhin – seit Mitte der 1950er Jahre getragen etwa von der entsprechend benannten Untervereinigung von CDU und CSU – das Vokabular des »Mittelstands« bemüht wurde und dieser bis heute öffentlich angerufen wird, wenn es das Rückgrat der deutschen Wirtschaft zu benennen gilt, schaltete die soziologische Analytik tendenziell auf das Konzept der »Mittelschicht(en)« um. Nach der Mitte drängt, an der Mitte hängt doch alles: Für eine Kurzcharakterisierung bundesdeutscher Sozialstrukturanalyse des letzten halben Jahrhunderts ist dies eine durchaus triftige (wenngleich im Detail sicher unbotmäßig vereinfachende) Beschreibung. Generationen von Soziologiestudierenden hatten neben Schelskys Nivellierungsformel – und haben gleichsam als Basiswissen bis heute – vor allen Dingen die ebenmäßig geschichtete »Bolte-Zwiebel« mit dem dicken Bauch in der Mitte und das wohlgeordnete »Dahrendorf-Haus« mit dem geräumigen Mittelstandszimmer im Zentrum vor Augen, wenn es um die Sozialstruktur der Bundesrepublik geht (vgl. zum Beispiel Geißler 2014: 98ff.); beides Schichtungsmodelle, die in den 1960er Jahren entstanden sind. Noch Becks (1986: 121ff.) eindrückliches Bild vom wachstumsgetriebenen »Fahrstuhleffekt«, seit den 1980er Jahren und bis in die jüngste Vergangenheit hinein das Leitmotiv soziologischer Sozialstrukturanalyse, lebt von der Vorstellung, dass eine individualisierte Gesellschaft zwar »jenseits von Stand und Klasse« (Beck 1983) operiert, aber in ihrer kollektiven Aufstiegsbewegung doch von der stabilisierenden Schwerkraft der Mittelschichten getragen bleibt.

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Man könnte eine kurze Geschichte der sozialstrukturanalytischen Selbstverständigung Deutschlands dann grob so fortschreiben, dass sie, jeweils nur kurz irritiert durch 1968 (und das jäh aufflackernde Szenario einer grundlegenden gesellschaftlichen Umwälzung) sowie 1989 (und das im Mauerfall aufscheinende Ende auch der sozialstrukturellen Gemütlichkeit der Bonner Republik), öffentlich wie akademisch flexibel-normalistisch (vgl. Link 2006) vor sich hin prozessierte: Auf der einen Seite die nicht enden wollende politische Anrufung der – wahlweise: hart arbeitenden, leistungsbereiten, steuerzahlenden, normkonformen – »Mitte« als Stütze der Gesellschaft; auf der anderen Seite deren wiederkehrende wissenschaftliche Umhüllung mit einer Aura der (sei es klassischen oder »neuen«) Bürgerlichkeit (vgl. Hacke 2008) sowie, mit der Annäherung an die Gegenwart zunehmend, die mal mehr, mal weniger dramatisch verpackte analytische Sorge um die »Mitte« und deren Sorgen (vgl. jüngst zum Beispiel Bude 2014, Mau 2012). Und flankierend wird immer wieder mit großem datentechnischen Aufwand berechnet, ob die Mitte denn nun schrumpft oder wächst oder zumindest von der Größe her stabil bleibt – und ob mithin an der sozialstatistischen Front Mahnung oder aber Entwarnung angesagt ist. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch in einem symbolischen Kampf namentlich zwischen dem eher sozialliberalen Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) (vgl. zuletzt Grabka et al. 2016 beziehungsweise Niehues 2017). Das vorläufige Ende der Geschichte einer mittelschichtszentrierten Gesellschaftsanalyse – und zwar in Gestalt der These vom Ende der Mittelschichtsgesellschaft selbst – markiert Oliver Nachtweys (2016) breit rezipierter Wissenschaftsessay zur »Abstiegsgesellschaft«. Der politisch-mediale Erfolg des Buches dürfte wesentlich auch damit zusammenhängen, dass es eine gesellschaftliche Grundstimmung aufnimmt, ohne allerdings den Ursprung des sozialen Unbehagens so recht beim Namen zu nennen: die »Mitte« nämlich, die Lebensführung und das Lebensgefühl der Mittelschichten. Wie einst bei Schelskys Nivellierungs- geht es nun auch bei Nachtweys Abstiegsthese, genau besehen, weniger um eine Gegenwartsdiagnose als vielmehr um eine Zukunftsprojektion, um die – durch soziologische Analyse gleichermaßen rekonstruierte wie reproduzierte – gesellschaftliche Ahnung des »Mittelstands«, sich am Scheitelpunkt einer Parabel, am Höhe- und Wendepunkt einer Verlaufskurve zu befinden: Die Abstiegsgesellschaft ist noch nicht Realität, aber sie steht vor der Tür. Der Erfahrungsraum jahrzehntelangen gesellschaftlichen Aufstiegs kreuzt sich mit dem Erwartungshorizont (vgl. Koselleck 1989) eines anstehenden, kollektiven wie individuellen Abstiegs. Erneut eröffnet sich eine Zwischenschicht, und zwar diesmal eine zeitgeschichtliche, ein Zwischenraum in den gesellschaftlichen Erfahrungs- und Erwartungsaufschichtungen

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– ein historisches Dazwischen, das neuerlich zu ideologischer Verwirrung zu führen scheint. Es geht also ein Gespenst um in Deutschland, das Gespenst des Abstiegs – auf dem Höhepunkt gesamtwirtschaftlichen Erfolgs des wiedervereinten Deutschland und vor dem Hintergrund der höchsten Gesamterwerbsquote aller demokratisch-kapitalistischen Zeiten. Etwas Gespenstisches ist definitionsgemäß zugleich erschreckend wie verlockend – und das Verlockende am möglicherweise bevorstehenden Schrecken scheint der neue beziehungsweise neuerliche Protagonismus zu sein, den die »Mitte« durch ihren potentiellen Abstieg in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft und ihrer Zukunft zu erlangen vermag. Die strukturell »gefährdeten«, »gebeutelten«, »ausgebeuteten« Mittelschichten: Nun scheinen sie gar gänzlich dem Untergang geweiht. Und wie man sozialstatistisch oder milieusoziologisch die »Mitte« der Gesellschaft auch bestimmen mag: Immer stellt sie doch deren übergroße Mehrheit. Im Kern geht es bei der Rede über die »Mitte« und deren Schicksal daher um die Mehrheitsgesellschaft und ihr Wohlergehen. Oder einfacher und vielleicht sogar treffender: Es geht um niemand anderen als um »uns«.

D ie »M it te « als K ategorie gesellschaf tlicher I ntegr ation und sozialer E xklusion Wir sind die Mitte: Die »Mitte« ist immer auch eine soziale Selbstbespiegelungskategorie. Ihre Anrufung ist stets standortgebunden – und mal politischer, mal feuilletonistischer, mal wissenschaftlicher Ausdruck der Fixierung der gesellschaftlich diskursprägenden und tonangebenden Milieus auf sich selbst und ihresgleichen. Auch der vorliegende Sammelband und, im besten Falle, dieser Beitrag werden (wenn überhaupt) von Mittelschichtsangehörigen gelesen werden, die sich wissenschaftlich, feuilletonistisch oder politisch für von anderen Mittelschichtsangehörigen verfasste Texte über die Mittelschichten interessieren. Für wie inzestuös man das Verhältnis der Mittelschichten zu sich selbst halten muss, hängt allerdings wesentlich auch davon ab, welchen Begriff man von ihnen hat. Dafür bieten sich heute mindestens fünf Varianten an. Am gebräuchlichsten dürfte es sein, die Mittelschichten als eine sozialstatistische Größe zu verstehen, die durch Einkommensmaße bestimmt wird – sei es nun das Individual- oder das (gegebenenfalls bedarfsgewichtete) Haushaltseinkommen. Dieses scheinbar objektive Konzept unterliegt freilich einer nicht unerheblichen kategorisierenden Willkür, denn die einkommensstatistische Abgrenzung der Mittelschichten variiert wiederum je nach Erhebung (und, so steht zu vermuten, Erhebungsabsicht): Üblich ist eine Grenzziehung, die das untere und obere Ende einer »mittleren« Einkommensposition bei 80 Prozent

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beziehungsweise 150 Prozent des Medianeinkommens verortet. Es lassen sich aber auch weitere Konzeptionen finden, die Einkommensarme und Einkommensreiche erst unterhalb von 60 Prozent beziehungsweise oberhalb von 250 Prozent des Medians ansiedeln und den Mittelstandsbauch der Gesellschaft auf diese Weise statistisch so weit auf blähen, dass der obere und untere Rand der Einkommensverteilung kaum mehr ins Gewicht fallen. Soziologisch relevanter oder jedenfalls aufschlussreicher dürften daher andere Begriffsverständnisse sein, die ihrerseits durchaus für Quantifizierungen offen sind. Diesbezüglich gerät zuallererst die »Mitte« als soziale Milieukonstruktion in den Blick – und die meritokratische Triade von Qualifikationen, Berufspositionen und Einkommenslagen nicht so sehr in ihrer empirischen Gegebenheit als vielmehr in ihrer symbolischen Bedeutung für die Akzeptanz und Legitimität von individueller Lebensführung und kollektiver Sozialordnung. Den Mittelschichten wären dann all jene Personen und Haushalte zuzurechnen, die sich, und sei es auch erfolglos, in ihrer eigenen Lebensführungspraxis sowie in ihren Vorstellungen von einer anerkennungswürdigen Struktur gesellschaftlicher Ungleichheiten an den durch die Mittelschichten gesetzten Wertmaßstäben und Rollenbildern orientieren (vgl. Schimank et al. 2014): an Fleiß und Strebsamkeit, Leistungsbereitschaft und Rechenhaftigkeit, Langmut und Gratifikationsaufschub, Bausparvertrag und Lebensversicherung. Auf diese Weise wird die »Mitte« zum Synonym für Bürgertum und Bürgerlichkeit – und die Frage ihres Schrumpfens und Wachsens von einer bloß sozialstatistischen zu einer genuin sozialmoralischen. Recht eng verknüpft mit dieser milieusoziologischen Deutung der »Mitte« ist deren letztlich wahlsoziologische Verortung als politische Einstellungskategorie. Mittelschichten tendieren demnach zu gemäßigten politischen Ansichten, sie präferieren eine Politik des Augenmaßes. Alles Extreme, so heißt es dann, ob es nun von links oder von rechts komme, sei ihnen fremd – für maßlose Aufregung der gemäßigten Milieus kann in diesem Sinne nur sorgen, wenn der Extremismus politisch-soziologisch in der Mitte der Gesellschaft selbst verortet wird (vgl. Lipset 1960; Decker et al. 2016): »Offensichtlich wird mit der These vom Extremismus der Mitte ein neuralgischer Punkt getroffen. Schon der abstrakte Gedanke, dass auch die Mittelschichten in der Bundesrepublik ein antidemokratisches Potential in sich bergen könnten, wird von einigen Politikwissenschaftlern als Zumutung, ja als Provokation empfunden« (Kraushaar 2005: 13). Gerade der politischen Öffentlichkeit in Deutschland gelten die Mittelschichten vielmehr als demokratiepolitisches Stabilitätskorsett, ja geradezu selbst als eine politische Institution, die im Interesse des Gemeinwesens steuer-, sozial- und symbolpolitisch zu fördern und zu stützen sei. Mit der faktischen gesellschaftlichen Normierungskraft der »Mitte« einerseits, ihrer beständigen diskursiven Präsenz und Privilegierung andererseits dürfte zusammenhängen, dass sie nicht zuletzt auch zu einem bedeutsamen

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Modus und Motiv subjektiver Selbsteinschätzung geworden ist. In der Bundesrepublik ordnen sich seit Jahrzehnten stabil um die 60 Prozent der Befragten der Mittelschicht zu – eine gefühlte Zugehörigkeit zur sozialstrukturellen Mehrheit, die sich in genau dieser Größenordnung mittlerweile auch in Ostdeutschland eingestellt hat (vgl. Bünning 2016: 206ff.). Und mit einer entsprechenden Selbstwahrnehmung Deutschlands als das »Reich der Mitte« – inzwischen auch wieder mitten in Europa gelegen – ist wiederum eine letzte Variante des Begriffsverständnisses verbunden, die sich in ihrer Bedeutung allerdings gegenwärtig aufzulösen scheint: Zumindest in der langen bundesdeutschen Nachkriegszeit nämlich dürfte die Selbstzuordnung zur »Mitte« als ein Platzhalter nationaler Zugehörigkeit fungiert haben, euphemistisches Synonym und legitime Ersatzhandlung für die noch eher unübliche Identitätsmarkierung als »Deutsche/r« gewesen sein. Mittlerweile aber, seit der Wiedervereinigung und insbesondere mit dem jüngsten auch wahlpolitischen Aufstieg der Neuen Rechten, sind die diesbezüglichen politisch-kulturellen Vorbehalte wohl weitestgehend abgebaut – und die neue deutsche Identitätsbehauptung ihrerseits bis weit in die Mittelschichten hinein diffundiert. Was nun aus all diesen Begriffsvarianten – und nicht nur der letztgenannten, identitätspolitischen – deutlich wird, ist der Charakter der »Mitte« als politisch-soziale Signalkategorie nicht nur des Ausgleichs und der Integration, sondern immer auch und ebenso sehr der Ausgrenzung und Schließung (vgl. Lessenich 2009). Die »Mitte« bedarf nicht nur begriffslogisch des Anderen, ihres Nicht-Identischen – wo kein »Oben« und »Unten«, da kann es auch keine Zone des Dazwischen geben. Auch funktionslogisch braucht die »Mitte«, als relationale Sozialfigur, ein konstitutives Außen, und sie schafft sich dieses permanent neu. Oder genauer: Sie muss es immer wieder neu herstellen. Die Akteure der Konstitution dieses Jenseits der »Mitte« aber sind einerseits die Mittelschichtsangehörigen selbst, in ihren alltäglichen Strategien der sozialen Positionierung und Distinktion; andererseits die Selbstdeutungs- und Verständigungsagenturen der Mittelschicht in Politik und Medien (und gelegentlich auch den Sozialwissenschaften). Ob es nun »abgehobene Eliten« und »Nieten in Nadelstreifen« sind, »faule Arbeitslose« und »Sozialschmarotzer« oder aber die »Einwanderung in die Sozialsysteme« und die »Islamisierung des Abendlandes«: Auf der vertikalen Achse der Oben/Unten-Hierarchie wie auf der horizontalen des Innen/Außen-Verhältnisses operieren die Mittelschichten und deren organischen Intellektuellen immer auch im Modus sozialer Abgrenzung und Abwertung, politischer Ausgemeindung und Exkommunikation. Dass diese politisch-sozialen Strategien nicht allein im Reich des Symbolisch-Diskursiven verbleiben, sondern ganz materiale Effekte sozialpolitischer Institutionalisierung zeitigen, weiß die Wohlfahrtsstaatsforschung von jeher. Nicht nur steht und fällt die gesellschaftliche Solidaritäts- und Umverteilungsbereitschaft mit der wahrgenommenen Homogenität der in öffentliche Siche-

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rungssysteme einbezogenen Populationen, weswegen sich der Wohlfahrtsstaat historisch als nationalgesellschaftliche Institutionenordnung konstituiert hat (vgl. Marshall 1963 [1949]). Sondern deren Stabilisierung und Expansion hingen maßgeblich davon ab, ob den Mittelschichten Angebote – von statussichernden Einkommenstransfers über die Spar- und Eigentumsförderung bis hin zu sozial differenzierten Bildungssystemen und Gesundheitsleistungen – unterbreitet werden konnten, die sie schlechterdings nicht ablehnen konnten (vgl. Goodin/Le Grand 1987). In diesem Sinne hat sich in Deutschland beziehungsweise in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg ein veritabler Mittelschichtssozialstaat herausgebildet und er ist es selbst nach den Reformen der Agenda 2010 im Kern geblieben – am offensichtlichsten in der Gesetzlichen Rentenversicherung, die, wenngleich auf sinkendem Leistungsniveau, auch nach »Riester« noch dem Äquivalenzprinzip der beitragsbezogenen Leistungsbemessung folgt und nach wie vor mittelschichtsübliche (männliche) Erwerbsverläufe honoriert. All diese Zusammenhänge geraten einer sozialwissenschaftlichen Beobachtung nach Art von Nachtweys »Abstiegsgesellschaft« nicht in den Blick: Dass nämlich die als verloren gegangen beschriebene Aufstiegsgesellschaft eine Gesellschaft der Mittelschichten war, die von einer Vielzahl sozialer Schließungen und Ausschlüsse lebte – von denen die Mittelschichten wiederum, im Rahmen und Maße ihres effektiven sozialen Aufstiegs, gut und auf die Dauer immer besser lebten. Es ist sozialhistorisch und -politisch hinreichend belegt, dass an der rückblickend im hellen Glanz der gelingenden System- und Sozialintegration leuchtenden Aufstiegsgesellschaft ein Großteil der Frauen nicht, nur halb oder allenfalls indirekt partizipierte – als unentgeltlich Reproduktionsarbeit leistende Hausfrauen, schlecht bezahlte Teilzeitbeschäftigte beziehungsweise von den Sozialleistungsansprüchen ihrer Ehemänner zehrende Sozialstaatsbürgerinnen zweiter Klasse. Ebenso gut dokumentiert, aber im – keineswegs nur bei Nachtwey geübten, sondern zunehmend verbreiteten – leicht wehmütigen Blick zurück in Vergessenheit geratend, ist die Unterschichtung der deutschen Aufstiegsgesellschaft durch migrantische Arbeitskräfte, die als Un- oder Angelernte in den Maschinenräumen der westdeutschen Hochproduktivitätsökonomie schufteten, ohne jemals die Gunst der Mittelschichtsexistenz erfahren oder gar die sozialmoralische Dignität des deutschen »Mittelstands« erreicht zu haben. Ob jene mittelschichtszentrierte Aufstiegsgesellschaft, die nach allgemeinem Dafürhalten von der heutigen, mit der neoliberalen Globalisierung eingeläuteten »regressiven Moderne« (Nachtwey 2016) abgelöst worden ist, ihrerseits sozial durch und durch progressiv war, ist also durchaus zweifelhaft. Die Zweifel an der entsprechenden Geschichtserzählung mehren sich allerdings nochmals deutlich, wenn nicht nur die gemeinhin ausgeblendeten Binnenvoraussetzungen des »goldenen Zeitalters« – im Sinne weiblicher und migranti-

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scher Zuarbeit zum historischen Aufstieg der von weißen Männern bevölkerten »Mitte« – in die Rechnung einbezogen werden, sondern auch die Außenbedingungen des wundersamen Wachstums von wirtschaftlicher Wertschöpfung, gesellschaftlichem Wohlstand und sozialen Aufstiegschancen in den euroatlantischen Wohlfahrtskapitalismen des 20. Jahrhunderts. Weitet man den Blick und bezieht die stofflichen Voraussetzungen der westlichen WachstumsWohlstands-Wohlfahrts-Konstellation mit ein, dann ändert sich das Gesamtbild nämlich drastisch: Dann wird sichtbar, wie der lange unaufhaltsam erscheinende gesellschaftliche Aufstieg nicht zuletzt Deutschlands und seiner Mittelschichten an den Fäden der weltweiten Ausbeutung lebendiger Arbeit und natürlicher Ressourcen sowie der Auslagerung sozialer und ökologischer Kosten des hiesigen Produktions- und Konsummodells in entfernte Weltregionen hing (vgl. Lessenich 2016). Im gesellschaftlichen Binnenverhältnis aber beruhte die historisch einzigartige Entwicklungsdynamik der demokratischen Kapitalismen des Westens auf einem ungeschriebenen, impliziten Gesellschaftsvertrag, der eben dieses Außenverhältnis als gegeben unterstellte und auf dessen stabile Fortschreibung setzte. Er band die Zustimmung der Staatsbürger/innen zur demokratisch-kapitalistischen Ordnung und den verallgemeinerten Glauben an die legitime Herrschaft der politischen und ökonomischen Eliten daran, dass diese für dauerhafte Prosperität, stetig sich erweiternde Konsumchancen und die Aussicht auf individuellen und kollektiven Aufstieg für die auf dieser Grundlage sich etablierenden Mittelschichten zu sorgen hatten. Im Kleingedruckten dieses Vertrags war zudem vermerkt, dass die Kosten, Risiken und Nebenwirkungen des wohlfahrtskapitalistischen Wachstums- und Wohlstandsmodells vom »produktiven Kern« der Aufstiegsgesellschaft – sprich: ihrer »Mitte« – ferngehalten würden. Was denn auch jahrzehntelang recht effektiv durch deren Abwälzung auf Dritte bewerkstelligt werden konnte: auf den weiblichen Reproduktionssektor, die Randsegmente des Arbeitsmarktes und das Milieu der Erwerbslosigkeit einerseits; auf die Mehrheitsbevölkerungen einer für den eigenen Ressourcenhunger, Energieverbrauch und Emissionsbedarf hemmungslos in Anspruch genommenen »Dritten Welt« andererseits. Seine besondere Färbung erhielt das in keinem Bundesarchiv auffindbare, aber doch so folgenreiche Gründungsdokument der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« und ihres kollektivindividuellen Aufstiegs im postnationalsozialistischen Nachkriegsdeutschland dadurch, dass das vielbeschworene »Wirtschaftswunder« – aber wohl auch die staatssozialistische Gegenerzählung des »Auferstanden aus Ruinen« – den Deutschen hier wie dort als »narzisstische Plombe« (Decker 2015) diente: als Ersatz für den verlorenen Großmachtstatus der Nation und als Surrogat für das im Krieg zwar besiegte, nicht aber zerstörte und forthin nur notdürftig unterdrückte Geltungsbedürfnis des deutschen Klein- wie Großbürgertums. Heute nun kehrt dieses Geltungsbedürfnis zu-

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rück an die Oberfläche des gesellschaftlichen Kampfs ums Dasein, bestimmen die Behauptungsbestrebungen der Aufstiegsgesellschaft und ihrer Kinder die politische Agenda des Gemeinwesens. Denn breite Bevölkerungsschichten realisieren – von der oberen zur unteren Mittelschicht in ganz unterschiedlicher Prägung und Dringlichkeit –, dass die politischen und ökonomischen Eliten, denen man die Erfüllung des Wachstums-Wohlstands-Wohlfahrts-Versprechens aufgetragen hatte, nicht mehr zuverlässig das leisten, was man von ihnen erwartet. Und die Mehrheitsgesellschaft gerät in Unruhe ob der Ahnung, dass die Anderen, die von ihrer Lebenswelt und ihren Lebensverhältnissen Ausgeschlossenen, nun endlich auch an diesen teilhaben wollen – und sich nicht mehr nur mit abgeleiteten Sicherungen, minderen Rechten und vagen Aussichten auf eine eigene bessere Zukunft abspeisen lassen. Es scheint, als sei die von Geiger zum Ende der Weimarer Republik diagnostizierte »Panik im Mittelstand« wieder da – dies allerdings, um gleich voreiligen historischen Parallelisierungen vorzubeugen, unter gänzlich veränderten gesellschaftshistorischen Bedingungen.

K l assenk ämpfe in der »M it te «: D ie M it telstandsgesellschaf t am S cheide we g Glaubt man der Diagnostik von der »Abstiegsgesellschaft« (Nachtwey 2016), der »Postdemokratie« (Crouch 2004) oder vom »Ende des neoliberalen Kapitalismus« (Streeck 2017) – und man muss jedenfalls ihrem unübersehbaren Erfolg in den wissenschaftlich-politischen Selbstverständigungszirkeln der Mittelschichten Rechnung tragen –, dann befinden wir uns historisch am Scheitelpunkt einer Parabel. Anders als man denken könnte (und oben behauptet wurde), erscheint dieser Scheitelpunkt in den einschlägigen öffentlichen Diskursen jedoch nicht etwa als Höhepunkt einer nunmehr sich nach unten wendenden Entwicklung in den »reichen Demokratien« (Wilensky 2002) der westlichen Welt. Vielmehr sehen sie alle »die Gegenwart als Scheitelpunkt einer nach oben geöffneten Parabel« (Nullmeier 2017), wähnen sie den demokratischen Wohlfahrtskapitalismus durchweg am Ende einer langen Phase des Niedergangs, dem nun »Entwürfe der Zukunft nach dem Bild der Vergangenheit« (Nullmeier 2017) entgegengesetzt werden: »Die imaginierte Demokratie nach der Postdemokratie ähnelt in vielem der in den 1980er-Jahren verlorenen korporativen Demokratie, der nationale Sozial- und Interventionsstaat ist […] die Antwort auf den Untergang desselben im Zuge von Globalisierung und Neoliberalismus« (Nullmeier 2017). Wir erleben derzeit eine kollektive Rückwärtsgewandtheit, allenthalben verweist der – mal eher melancholische, mal eher aggressive – Blick zurück auf als verlorengegangen behauptete »goldene Zeiten«. Konkret: Auf die Zei-

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ten der Mittelstandsgesellschaft, die in der von der Gegenwart irritierten Rückschau in umso hellerem Licht erstrahlen: als sichere, geordnete und eindeutige Zeiten, in denen Deutschland noch Deutschland war (und andere Nationen ebenfalls noch ganz bei sich sein konnten). Die Nicht-Kategorie des Mittelstands oder der Mittelschichten, sozialstrukturanalytisch seit jeher bloßer »Verlegenheitsbegriff« (Geiger 1930: 235), wird hier neuerlich zu dem erkoren, für was sich die mit ihm bezeichneten Klassen und Milieus in der Prosperitätskonstellation der Nachkriegszeit hielten und halten durften: zum Maßstab der Geschichte, zum Nabel der Welt. Was sich gegenwärtig aber tatsächlich vollzieht, ist freilich nicht das Ende des Neoliberalismus. Es sind vielmehr die gesellschaftlichen Kämpfe um die Gestalt und Gestaltung seiner nächsten Entwicklungsphase. Es sind dies politisch-soziale Kämpfe, die sich auf dem einstweiligen zivilisationshistorischen Höhepunkt der – in marxistischer Terminologie ausgedrückt – Entwicklung der Produktivkräfte entzünden, und die sich, jedenfalls in den Zentren des neoliberalen Kapitalismus, als »Mittelklassenkämpfe« rekonstruieren lassen. Auf der einen Seite derselben steht jenes Lager, das den Neoliberalismus in die Zukunft fortschreiben möchte, und sei es mit anderen Mitteln. Es reicht vom wirtschaftsliberalen Mainstream bis hin zu Visionen von einem »grünen Kapitalismus«; in Deutschland ist dies gegenwärtig das (partei-)politische Spektrum von Christian Lindner bis Ralf Fücks. In der anderen Ecke des Rings stehen die Repräsentant/innen jener sozialen Positionen, die eine als Zeit des »sozialen Kapitalismus« verklärte beziehungsweise vereinseitigte Vergangenheit zurückgewinnen wollen. Hier tummelt sich ein heterogenes, aber im rhetorischen Anschluss an wohlstandschauvinistische Dispositionen vereintes (partei-)politisches Milieu, das von Alexander Gauland bis zu Sahra Wagenknecht reicht. Beiden Seiten aber geht es im Kern um die Frage, wie sich das in deutschen Landen wohlstandskapitalistisch Gewachsene, Gehabte und Gewohnte fortführen und in die Zukunft retten lässt. Weltgesellschaftlich kann man diese Konstellation als eine der »innerimperialen Kämpfe« (Eversberg 2017) deuten, als einen fundamentalen Konflikt um die Aufrechterhaltung beziehungsweise Modernisierung jener »imperialen Lebensweise« (Brand/Wissen 2017), von der große Bevölkerungsmehrheiten in der westlichen Welt jahrzehntelang profitiert haben, und die nun, im Zeichen ihrer Globalisierung, an die Grenzen ihrer stabilen Reproduktion stößt. Nicht nur im übertragenen Sinne lässt sich daher auch für die verleugnete Kolonialmacht Deutschland davon sprechen, dass sich in den gegenwärtigen politischen Geschehnissen, vom teilisolierten AfD-Nationalismus bis hin zu den von breiten parlamentarischen Mehrheiten getragenen Abschiebeflügen nach Afghanistan, ein »postimperialer Abwehrnationalismus mit hohem Rassismuspotenzial« (Osterhammel 2016) äußert,

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der sich historisch als typisch für Großmächte erwiesen hat, deren Stern am Sinken ist. Eine solche soziale Abwehrhaltung wird idealtypisch vertreten von jenen – unteren – Mittelschichten, deren Lebensführung und Lebenschancen in besonders hohem Maße an die Funktionsfähigkeit des nationalen Wohlfahrtsstaates gebunden sind (vgl. Koppetsch 2017b). Ihnen gegenüber stehen die stärker transnationalisierten Fraktionen der – oberen – Mittelschicht, deren »sozial-räumliche Autonomie« (vgl. Weiß 2017: 125ff.) deutlich größer ist, und die sich in ihrer Alltagspraxis wie ihren Werthaltungen eher an Gelegenheitsstrukturen und Deutungsangeboten jenseits des Nationalstaats orientieren. Beiden gemein ist allerdings der Rekurs auf Mechanismen sozialer Schließung: Auch wenn die letztgenannten, progressiv-kosmopolitisch sich gebenden Mittelschichtsmilieus dies weit von sich weisen würden, so verteidigen doch auch sie, auf ihre scheinbar offen-inklusive Weise, »einen exklusiven Lebensraum« (Koppetsch 2017b). Das wird spätestens an den – durchweg postimperial-rassistisch grundierten – Reaktionsweisen auf den offenbar überaus bedrohlich anmutenden Aufstieg der »globalen«, insbesondere chinesischen Mittelschichten deutlich, in denen sich die ansonsten klassenkämpferisch einander gegenüberstehenden Mittelschichtsfraktionen durchaus traut vereint wissen. Die Signatur unserer – mitteleuropäischen – Zeit ist somit nicht das von den derzeit dominanten Deutungen suggerierte Auf begehren der Abgehängten, die sich nämlich politisch kaum, oder doch öffentlich kaum wahrnehmbar, artikulieren. Die repräsentativen Sozialfiguren des gegenwärtigen Zeitgeistes sind nicht die prekären Unterschichten oder eine prekarisierte beziehungsweise der Prekarität ins Auge schauende »Mitte«. Womit wir es vielmehr zu tun haben, ist der »Aufstand der Etablierten« (Koppetsch 2017a), eine soziale Bewegung zur Verteidigung von als legitim erachteten und durch den Aufstieg von Außenseitern als gefährdet wahrgenommenen Vorrechten – eine Bewegung in der uneindeutigen und widersprüchlichen Form einer klassenpolitischen Positionierungskonkurrenz zwischen den unteren und den oberen Mittelschichten. Damit aber sind wir auf eine Weise wieder zurück im späten 19. Jahrhundert, zurück bei Kurt Eisner und der »Tragödie des Mittelstandes«: Zurück bei einem grassierenden Fremdenhass, der sich nicht nur damals auf »die rührend-felsenfeste Ueberzeugung von der Wahrheit semitischer Weltbündelei auf talmudistischer Grundlage« (Eisner 1901 [1894]: 88) stützen konnte. Zurück bei einem Mittelstand, der sich – ob nun dezidiert national-reaktionär oder aber scheinbar progressiv-weltoffen eingestellt – »starr an das Engste und Nächste« (Eisner 1901 [1894]: 88) klammert. Zurück bei Mittelschichtsmilieus, die strukturell und endemisch unzufrieden sind, »aber in dieser Unzufriedenheit gänzlich thatlos« (Eisner 1901 [1894]: 88) – tatenlos, so Eisners schon

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damals deprimierende Erkenntnis, im Sinne einer Revolutionierung ihrer Lebens- und damit der industriekapitalistischen Produktionsverhältnisse. Für die Sozialdemokratie, die für Eisner noch die sozialrevolutionäre Option verkörperte, sei der Mittelstand »nicht zu haben; denn, ob er auch nichts hat, so fürchtet er doch im Zukunftsstaat sein Letztes noch zu verlieren« (Eisner 1901 [1894]: 88). Heute aber hat der Mittelstand, haben die Mittelschichten, ob nun obere oder untere, noch ungleich mehr zu verlieren als damals. Und die Sozialdemokratie hat ihnen – ob sie sich nun hierzulande immer noch SPD nennt oder aber Linkspartei – eine grundlegend andere Vorstellung gesellschaftlicher Ordnung, eine antikapitalistische oder international-solidaristische Gesellschaftsutopie, nicht mehr zu bieten. Was sie anbietet, sind mehr oder weniger mittelschichtsattraktive Varianten einer »exklusiven Solidarität« (Dörre 2013). Oder aber, in der Person eines ehemaligen SPD-Vorsitzenden und sekundiert durch den amtierenden Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes, die politische Rehabilitierung von – mitten im 21. Jahrhundert – mittelständischen Hochwertbegriffen wie »Heimat« und »Leitkultur« (vgl. Gabriel 2017). Da ist es wieder: das zeitweilig, in der historischen Sozialdynamik einer von ihrem eigenen Wiederaufstieg besoffenen Gesellschaft, stillgestellte und nunmehr reaktivierte Mittelstandssyndrom von Veränderungserfahrungen, Verlustängsten und Verschwörungsphantasien. Heute tritt es uns in der Gestalt eines global-neoliberal angetriebenen, wohlstandschauvinistischen Sozialressentiments entgegen, in dem sich die mehr oder weniger privilegierte »Mitte« getrennt-gemeinsam wiederfindet. Und so wird sie dann wohl munter weitergehen, die ewigwährende Tragödie des Mittelstandes – unter gegebenen weltsystemischen Umständen als üble Farce.

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Kosmopolitische Heimat Räumliche Selbstvergewisserung im Brennglas transnationaler Ungleichheitskonflikte 1 Cornelia Koppetsch

Heimat gilt als Ort des Ursprungs und der Zugehörigkeit. Während überall auf der Welt Grenzen durchlässiger werden und Ströme von Menschen, Gütern und Geld über den Erdball fluten, wo permanente Grenzverschiebung, Grenzerweiterung und schließlich Entgrenzung die Unterschiede zwischen den Orten auszulöschen drohen, verbürgt Heimat Identität, Vertrautheit und Verlässlichkeit. Heimat erscheint vielen heute als die Grundlage für das, was der Soziologe Anthony Giddens (1988) einmal als »Seinsgewissheit« beschrieben hat: das Vertrauen in die Kontinuität der eigenen Identität, das eine stabile und als sinnhaft empfundene Bindung ermöglicht. Diese entsteht immer dann, wenn das Subjekt in Übereinstimmung mit sich und seinen Erwartungen leben kann. Gleichwohl hat der Begriff der Heimat für viele den Beigeschmack des Rückwärtsgewandten oder gar der Kleingeistigkeit. Doch greift diese Sichtweise zu kurz: Der Wunsch nach Heimat ist durchaus kein Relikt der Vergangenheit. Die Idee, an einem spezifischen Ort verwurzelt zu sein, ist vielmehr eine moderne Vorstellung. Sie konnte sich nämlich erst entwickeln, als der Einzelne begann, nicht mehr selbstverständlich mit seinem Herkunftsort verwachsen zu sein.

1 | Bei diesem Beitrag handelt es um eine (leicht) modifizierte Fassung eines am 22.12.2017 auf Soziopolis erschienenen Beitrags: »In Deutschland daheim, in der Welt zu Hause?«, https://soziopolis.de/beobachten/gesellschaft/artikel/in-deutschlanddaheim-in-der-welt-zu-hause/ (25.05.2018).

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1. D ie H eimat der E ingeborenen und die H eimat der Z uge wanderten Der Begriff Heimat markiert eine doppelte Differenzerfahrung, nämlich, zum einen, die Differenz zwischen beliebigen Durchgangs- oder Aufenthaltsorten und dem Herkunftsort, also zwischen der jeweiligen ›Fremde‹ und dem Ort, den man als seinen Ursprungsort begreift, und, zum anderen, die Differenz zwischen der hiesigen Gegenwart und der im Heimatort verkörperten Vergangenheit. Die Heimat tritt jeweils im Rück- und im Fernblick besonders prägnant in Erscheinung, manchmal dann auch als Phantomschmerz, dem die Sehnsucht nach einem Ort zugrunde liegt, den es so, wie ich ihn in Erinnerung habe, vielleicht gar nicht mehr gibt und vielleicht auch nie gab. Die Salienz von Heimat steigt mit den zurückgelegten kulturellen, räumlichen oder zeitlichen Distanzen, ihre gesellschaftliche Bedeutung wächst mit dem Umfang potentiell erreichbarer Räume. Deshalb kann es auch nicht verwundern, dass die heimatlichen Vergewisserungsbemühungen gerade jetzt eine Hochkonjunktur erfahren: Der populäre Diskurs um die Heimat boomt (Schüle 2017), sichtbar auch an der Produktion von literarischen (Zeh 2016; Bator 2012, 2014, 2016) oder soziologischen Heimaterzählungen (Eribon 2016), und der Aufschwung von regionalen Produkten und Trachten ist zu einer wahren Selbstvergewisserungsindustrie geworden (DER SPIEGEL Wissen 2016). Der neuere Diskurs über Heimat dient der gesellschaftlichen Selbstverständigung über Mobilitäts- und Fremdheitserfahrungen. Die soziologische Brisanz des neuartigen Diskurses über Heimat erschließt sich allerdings erst dann vollständig, wenn man die gegenwärtig innerhalb der Mittelschicht auf brechenden Konfliktfelder um die Frage, was Heimat überhaupt bedeuten soll, genauer auf ihre gesellschaftlichen Hintergründe untersucht. Die Konturen dieses Konfliktes sind schnell erfasst: Auf der einen Seite stehen jene, die unermüdlich behaupten, dass Heimat auch Zuwanderern offensteht und niemals etwas sein kann, das man für immer hat oder besitzen kann, sondern stets das Ergebnis eines »gelungenen Heimischwerdens in der Welt« und der »tätigen Auseinandersetzung mit der Umwelt« darstellt (Retzlaff/Weidenhaus 2015: 33; Gensing 2015). Auf der anderen Seite herrscht die Vorstellung einer schicksalshaften Verbindung mit dem eigenen Ursprung. Letzterer Vorstellung nach kann der Mensch seine primäre Heimat nicht wählen, sie ist ihm zugefallen. Heimat verbürgt hier unhintergehbare Zugehörigkeit und Identität, und die kann es nur im Singular geben. In dieser Perspektive führt die »unbegrenzte Flexibilität« einer offenen Selbstverortung dazu, dass am Ende niemand mehr eine Heimat hat. Den Heimatvorstellungen der einen Fraktion liegt ein kosmopolitisches Selbstverständnis zugrunde, wonach fremde Orte und Menschen neue Möglichkeiten kultureller Aneignung und Identitätsbildung enthalten. Heimat

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darf dieser Auffassung nach nicht zum Ausschluss Anderer, nicht zu Differenz und Abgrenzung führen, da das Aufnehmen des Anderen, des Neuen zu mehr kultureller Kompetenz führe. In exemplarischer Weise wird diese Auffassung etwa von dem Schriftsteller Klaus Theweleit artikuliert: »Ich bin ein Flüchtlingskind aus Ostpreußen und hatte dann meine neue, meine zweite schleswig-holsteinische Heimat. Als Jugendlicher wurde dann englische Beat-Musik meine kulturelle Heimat«. Theweleit (zitiert nach Gensing 2015) ist davon überzeugt, dass ihn die Erfahrung dreier »Heimaten« beweglicher und intelligenter gemacht habe, »als die Einheimischen drumherum«. Die kosmopolitische Konzeption impliziert, zum einen, dass jeder Ort prinzipiell auch Zuwanderern offenstehen soll und von diesen als Heimatort anverwandelt werden kann und, zum anderen, die Vorstellung, dass Fremdheit eine Bereicherung für das Selbst darstellt. Die Identität, welche die Heimat stiftet, wird dementsprechend als Patchwork-Zugehörigkeit entworfen, die ihre Wurzeln in unterschiedlichen Gemeinschaften findet, und in der die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen Orten und Zeiten, zwischen Vergangenheit und Zukunft durchlässig geworden sind. Die verschiedenen Herkünfte werden als Ressource für die biographische Arbeit an der eigenen Identität behandelt. Kosmopolitisch erscheint diese Vorstellung deshalb, weil das Prinzip der unverbrüchlichen Verwurzelung von Mensch und Herkunft offenbar aufgehoben ist. Demgegenüber liegt dem Heimat-als-Schicksal-Modell die Überzeugung zugrunde, Heimat sei in erster Linie etwas für Eingeborene und nicht für Zuwanderer. Nach dieser Logik gilt: Es gibt nur eine einzige Heimat, die man sich nicht aussuchen kann, weshalb Migration und Flexibilität auf beiden Seiten unweigerlich zum Heimatverlust führen müssten. In neueren politischen Diskursen wird dieses Verständnis von Heimat zumeist dann artikuliert, wenn Autonomieverluste abgewendet werden sollen. Dabei geht es häufig um zwei Formen der Entfremdung: die Fremdbestimmung der eigenen kleinen ›heilen Welt‹ durch Einmischung von – oftmals – mächtigen Anderen sowie, zweitens, die Gefahr der ›kulturellen Überfremdung‹ durch massenhafte Zuwanderung. Die Abwehr von Fremdbestimmung durch Einmischung Anderer zeigt sich etwa im neu erwachten Heimatbewusstsein peripherer, oftmals auch ländlicher Regionen, die um ihren Status kämpfen und sich durch die Mehrheitsgesellschaft in eine marginale Position gebracht sehen (Cramer 2016). Sie ist aber kein exklusives Konstrukt schwacher Regionen, auch starke Regionen können unter bestimmten Bedingungen drohende Autonomieverluste durch Abschottung kompensieren. Dies zeigt sich beispielsweise in den separatistischen Bewegungen in Norditalien, im Baskenland, in Irland oder in Katalonien. Der Traum vom eigenen Ministaat, von der autarken, autonomen Heimat bringt die Selbstbestimmung der regionalen Bürger in Stellung gegen

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die Fremdbestimmung durch die eigene Nation oder etwa den »Suprastaat« Europa (Schüle 2017: 111). Als die zweite Form des durch Schicksalsgemeinschaften abzuwehrenden Autonomieverlustes wird die Gefahr der ›Überfremdung‹ durch Zuwanderer ausgegeben. Seitens der Kosmopoliten wird dieser Aspekt vielfach als Fremdenfeindlichkeit missverstanden. Doch geht es dabei gar nicht primär um die Frage, wo fremde Menschen leben dürfen, sondern vor allem um die Befürchtung einer kulturellen Enteignung, einer gesellschaftlichen Usurpation des eigenen Lebensraumes, und zwar durch die Kultur der Zugewanderten. So glauben etwa viele ›heimatverbundene‹ Deutsche, dass Einwanderung und die höhere Geburtenrate der ›Muslime‹ mittelfristig dazu führten, dass die deutsche Gesellschaft durch Muslime beherrscht würde. Ein gutes Beispiel für diese Auffassung bietet die von Thilo Sarrazin (2010) verfasste Streitschrift »Deutschland schafft sich ab«. Wer den aktuellen öffentlichen Heimatdiskurs verfolgt, wird darüber hinaus gewahr, dass die beiden Modelle nicht friedlich nebeneinander koexistieren, sondern jedes für sich jeweils moralische Überlegenheit reklamiert. So etwa ziehen Äußerungen eines nationalen, regionalen oder separatistischen Heimatbewusstseins stets eine wahre Bekenntnisflut zur Weltoffenheit seitens der Kosmopoliten nach sich. Hinter dem Kampf um ›die Heimat‹ verbergen sich daher nicht nur unterschiedliche Begriffe, sondern konkurrierende Gesellschafts- und Lebensauffassungen. Die Protagonisten des Heimat-als-Schicksal-Modells, wie sie etwa prominent durch separatistische oder populistische Bewegungen vertreten werden, sehen sich in moralischer und politischer Opposition zur akademischen Mittelschicht, die als primäre Trägergruppe des Heimat-Kosmopolitismus identifiziert werden kann. Die Vorstellung von Heimat als Schicksalsgemeinschaft wird von Kosmopoliten scharf zurückgewiesen. Kritisiert wird, dass unter dem Vorwand des Heimatschutzes die Ausgrenzung zahlreicher Menschengruppen begründet würde. Dagegen wird das Ideal der Weltbürgerschaft gehalten, die es jedem Menschen ermöglichen soll, dort zu wohnen, wo er oder sie es möchte. Diesem Modell liegt die Auffassung zugrunde, dass Migration die Heimat für beide Seiten bereichert: für die Einheimischen, weil der ›bunte Mix‹ der Kulturen und die Erfahrung des Fremden zu einer Horizonterweiterung beitragen, welche die Rückbesinnung auf eigene lokale oder nationale Traditionen umso attraktiver werden lässt; für die Zugewanderten, weil der Schritt in die Fremde »die Chance verheißt, sich neu zu erfinden« (Retzlaff/Weidenhaus 2015: 33). In diesem Zusammenhang wird von den Kosmopoliten auch gerne darauf verwiesen, dass Heimat, ähnlich wie auch die Zugehörigkeit zu Nationen, Völkern und ihren Staaten, ein soziales Konstrukt sei und daher keine natürliche Grundlage besäße.

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Doch wird die Gegensätzlichkeit der beiden Heimatvorstellungen im Rahmen aktueller politischer Debatten oftmals übertrieben. Gewiss handelt es sich um konträre Ideen, die allerdings viel schärfer im Diskurs als in der realen Lebenspraxis hervortreten. So spricht das von kosmopolitischer Seite vorgetragene Argument kaum gegen die Realitätsmächtigkeit regional-heimatlicher Bindungen oder ethnonationaler Zugehörigkeiten, die auch für Kosmopoliten identitätsstiftend sind. Auch Familie, Geschlecht, Aktienmärkte und Berufe sind bekanntlich soziale Konstruktionen. Abschaffen kann man sie deshalb noch lange nicht, denn sie stehen als »gesellschaftliche Tatsachen« (Durkheim) außerhalb der individuellen Verfügbarkeit. Kosmopoliten unterschätzen die Mächtigkeit des Sozialen. Tatsächlich verliert man wesentliche Teile seiner selbst, wenn man in ein anderes Land auswandert. Zunächst verliert man die eigene Sprache, dann die Identität: als Bürgerin oder als Tochter oder Sohn, als Angehörige einer ethnischen Gruppierung, als Eingeborene. Nach und nach jedoch kann dann der Verlust zur Bereicherung führen: Man lernt eine neue Sprache, eine neue Heimat – im Idealfall. Doch auch die Heimat-als-Schicksal-Fraktion übertreibt, da sie die Ambivalenz ihrer eigenen Heimatgefühle totschweigt und Fremde benutzt, um die eigene Zwiespältigkeit zu bereinigen. Unterschlagen wird, dass ihre geliebte Heimat durchaus keine »heile Welt« darstellt; ignoriert wird auch, in welchem Ausmaß Migranten bereits Teil dieser Heimat geworden sind. Denn auf konkrete Nachfragen hin wird zumeist konzediert, dass Zuwanderung zwar grundsätzlich abgelehnt, doch dass man mit ›Ali aus dem Nachbarhaus‹ und ›Alexej aus der Musikgruppe‹ durchaus gut befreundet sei. Auch zeigt sich, dass die beiden Heimatvorstellungen zwar konträr sind, aber durchaus vergleichbare Funktionen im Lebenszusammenhang ihrer Trägermilieus erfüllen. In beiden Modellen geht es um kulturelle Selbstvergewisserung, soziale Exklusivität und Zugehörigkeit. Heimat, auch die kosmopolitische Heimat, wird niemals nur von einem Einzelnen besessen, sondern ist Ausdruck eines in spezifischen Räumen beheimateten ›Wir‹, das durch Grenzen aufrechterhalten wird. Die Gegensätzlichkeit der beiden Lebensauffassungen sollte daher nicht den Blick dafür verstellen, dass sich in beiden Heimatgefühlen jeweils exklusive Lebensformen angeeignet werden. Ontologische Sicherheiten können heimatliche Lebensräume in beiden Formen nur vermitteln, wenn eine habituelle Übereinstimmung mit dem Lebensraum vorliegt, wenn Gefühle der Befremdung und Entfremdung im Wesentlichen ausgeschaltet werden können. Nur unter dieser Voraussetzung ist der heimatliche Lebensraum identitätsstiftend. Daher lohnt zunächst ein Blick auf die kosmopolitischen Schließungs- und Vergewisserungspraktiken (siehe Abschnitt 2). Darüber hinaus zeigt sich, dass die beiden Heimatvorstellungen nicht im luftleeren Raum existieren, sondern mit unterschiedlichen sozialen Lagen in der transnationalen Topographie sozialer Klassen korrespondieren und somit

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als Ausdruck einer neuen Ungleichheitsordnung des 21. Jahrhundert gelesen werden können (siehe Abschnitt 3).

2. D ie kosmopolitische H eimat : H yperkultur und G entrifizierun g Natürlich: Die akademische Mittelschicht als die gesellschaftliche Trägergruppe des kosmopolitischen Heimatkonzeptes zeichnet sich durch einen hohen Grad an räumlicher – teilweise auch transnationaler – Mobilität aus. Dass man den Ort, an dem man geboren wurde und aufgewachsen ist, etwa mit dem Beginn des Studiums oder aber spätestens mit dem Eintritt ins Berufsleben verlässt und auch später den Lebensort gezielt auswählt oder gegebenenfalls wechselt, erscheint den Subjekten der akademischen Klasse als eine Selbstverständlichkeit (Koppetsch/Burkart 1999). Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Das urbane Umfeld bietet vielfältige identitätsstiftende Anknüpfungspunkte, vor allem Universitäten und Arbeitsplätze in den Wissens- und Kulturökonomien. Zugleich hält es zahlreiche Angebote für einen kosmopolitischen Lebensstil bereit: Hochkultur, Events, Restaurants, Lifestyle-Konsum, exklusive Schulen, facettenreiche Netzwerke und Inspirationen. Und wie sozialgeographische Studien zeigen (Florida 2002), ballen sich diese Angebote in den Großstädten und Metropolregionen und ihrem jeweiligen Umland, wobei bestimmte, besonders attraktiv erscheinende Städte und Stadtviertel bevorzugt werden (Reichardt 2014; Berking/Löw 2008). Der Regisseur Edgar Reitz hat das damit verbundene Lebensgefühl in lokalkolorierter Feinarbeit bereits in den 1990er Jahren in seiner epochalen Film-Trilogie unter dem Titel »Die zweite Heimat – Chronik einer Jugend« eingefangen. Das Epos schildert die Geschichte der Wanderung junger Erwachsener, die aus der im Hunsrück gelegenen provinziellen ersten Heimat zum Studium in die urban-alternative Wahlheimat München-Schwabing auf brechen. Die meisterhaft dargestellte Essenz des kosmopolitischen Heimatgefühls besteht aus einem biographischen Spannungsverhältnis: Man kehrt der ersten Heimat den Rücken – und kommt doch nicht ganz von ihr los. Doch folgt aus der Fähigkeit zur Anverwandlung erster, zweiter oder sogar dritter ›Heimaten‹ tatsächlich mehr Offenheit in dem Sinne, dass man an beliebigen Orten heimisch werden kann, Fremde nicht ausgrenzt und kulturelle Durchmischung praktiziert? Wohl kaum. Wenn eine Kultur grundsätzlich wenig durchmischt, sondern nahezu homogen ist, dann ist es die kosmopolitische Kultur der akademischen Mittelschicht mit ihrem körper- und gesundheitsbewussten, auf Selbstverwirklichung und Wissensaneignung hin orientierten Lebensstil. Diese Homogenität erweist sich gerade im Gebot der »Vielfalt« und basiert darauf, dass die spätmo-

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derne Kultur der Selbstverwirklichung zum Teil eines Klassenethos geworden ist, das eine spezifische Weise des Umgangs mit kulturellen Gütern umfasst. Die unterschiedlichen Vorstellungen von Kultur verweisen somit auf eine Klassenspaltung zwischen der akademischen und der traditionellen Mittelschicht. Kultur umreißt im kosmopolitischen Bewusstsein und im Gegensatz zum ›Schicksalsmodell‹ nicht mehr nur den Ort einer normativ verbindlichen Ordnung, sie wird vielmehr als eine Ressource verstanden, als vielgestaltiges Material, das in unterschiedlichster Weise geformt wird und das Selbst bereichern soll (Gergen 1996: 21ff.). Diese richtet sich auf die reichhaltigen, heterogenen Kultur- und Erlebnisofferten der globalen Welt. Kulturkosmopolitismus ist allerdings mehr als ein selbstverwirklichungsorientierter Lifestyle: Er ist eine zum Habitus geronnene Haltung der investiven Statusarbeit (Groh-Samberg et al. 2014). Bildung oder der Erwerb von Kompetenzen erscheinen dabei gleichsam als Nebenprodukte der Selbstverwirklichung, werden intrinsisch angestrebt, sollen affektive Befriedigung verschaffen, mit Erlebnissen und Erfahrungen angereichert sein. Gleichwohl muss die Aneignung von Kultur stets einer doppelten Anforderung genügen: Kulturelle Güter sollen zwar primär dem selbstzweckhaften Genuss, aber eben auch dem individuellen Fortkommen, das heißt der Akkumulation von kulturellem Kapital, dienen. Diese Haltung ist nicht nur charakteristisch für das Erleben fremder Kulturen und Orte, sondern wird prinzipiell auf alle Wissens- und Bildungsobjekte übertragen. Deren Aneignung findet überall und keinesfalls ausschließlich in den Bildungsinstitutionen statt, sie durchdringt auch die Sphäre des Konsums. Konsum ist in der akademischen Mittelschicht im wesentlichen Kulturkonsum, er dient der Horizonterweiterung und der persönlichen Selbstverwirklichung. Und weil prinzipiell kein Objekt von konsumförmiger Aneignung ausgeschlossen ist, weil prinzipiell von jedem Kulturgut eine Erweiterung der individuellen Kompetenzen oder eine Steigerung des Genusses ausgehen kann (Brooks 2001), ist der akademische Kulturkonsument ein ›Allesfresser‹ geworden, der die Grenzen zwischen Hochkultur und Populärkultur, zwischen dem Historischen und dem Gegenwärtigen, zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen Kulturkreisen, Nationen oder Regionen im Dienste der Erweiterung seines Wissens und seines Horizontes aufhebt. Jeder Ort – so auch die Heimat – kann als Ort der Aneignung von Kultur betrachtet werden. Mit anderen Worten: Kosmopolitismus ist Teil einer umfassenden Kulturalisierung des Sozialen, sie ist Teil der »Hyperkultur« (Reckwitz 2017: 300). Die Subjekte der akademischen Mittelschicht können sich so als Träger einer zukunftsweisenden Lebensform begreifen, die zum gesellschaftlichen Maßstab gelingenden und erfolgreichen Lebens insgesamt geworden ist. Damit begründen sie ihre Privilegien gegenüber untergeordneten Sozialklassen. Sozioökonomische Ungleichheiten werden dann nicht auf kapitalistische Aus-

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beutungsverhältnisse, sondern auf Defizite in Kompetenzen, in Ethos, in der Alltagsästhetik und insgesamt in der Lebensführung zurückgeführt. Andersgeartete Lebensformen werden entwertet, wie es exemplarisch in der aktuellen Debatte um Heimatvorstellungen zum Ausdruck kommt: Aus kosmopolitischer Sicht offenbart sich in der Vorstellung von Heimat als Schicksal eine kulturkonformistische Haltung. Denn nicht nur Heimat, auch Wissen und Kultur werden von den Trägern des Schicksalsmodells als gegeben, das heißt als ein durch Tradition oder Autoritäten verbürgter Ordnungsrahmen begriffen, in den man sich einfügt. Diese Auffassung sei mit kulturunternehmerischer Intelligenz nicht vereinbar, da eine ehrfürchtige Sichtweise auf Wissens- und Kulturbestände die Kreativität blockiere. Der kulturkosmopolitische Lebensstil ist das einigende Band der Akademikerklasse und zugleich der Motor wachsender sozialstruktureller Polarisierung. Denn generell gilt: Die Polarisierung auf der Ebene von kulturellem Kapital und Bildung ist das zentrale Merkmal, welches die Sozialstruktur der spätmodernen Gesellschaft prägt und eine wachsende Spaltung auch innerhalb der Mittelschichten hervorbringt. Der gesellschaftliche Umbau zur postindustriellen Ökonomie bedeutet nämlich eine rapide Erosion der klassischen Angestelltenkultur und der Industriearbeiterschaft mit ihren klassischen, nivelliert-mittelschichtsorientierten Lebensstilen. Dagegen profiliert sich die akademische Mittelschicht als neue, hochqualifizierte Kulturoberschicht, die ihre Bildungs- und Wissensanstrengungen durch den Konsum exklusiver Bildungsangebote immer weiter intensiviert, ein unternehmerisches Gespür für kulturelle Investitionen ausbildet und ihre Virtuosität im Umgang mit disparaten Kultur- und Konsumgütern immer weiter verfeinert (Brooks 2001), was auch die Kluft zu den Gruppen der alten Mittelschicht immer größer werden lässt. Schließlich ist der kosmopolitische Lebensstil der akademischen Mitte weit über die Gestaltung des privaten Lebens hinaus für die Entfaltung des wissensbasierten, globalen Kapitalismus relevant geworden (Boltanski/Chiapello 2003). Dieser basiert darauf, dass die strikte Trennung zwischen Arbeit und Freizeit aufgehoben ist und neue Formen des Selbstmanagements, der Projektarbeit und der soft control traditionelle Aufteilungen verdrängt haben. Es kommt zu einer strukturellen Angleichung von Arbeit und Leben (Hochschild 2002). Denn in den hochqualifizierten Arbeitsformen sind vor allem kommunikative, interpretative und kreative Kompetenzen und Praktiken gefragt, wie sie ähnlich im Freizeitbereich und im Kulturkonsum zum Tragen kommen. Andererseits ist auch das Privatleben durch kulturunternehmerische Praktiken geprägt und von dem Wunsch des Einzelnen durchdrungen, die persönliche Kreativität zu steigern und Horizonte zu erweitern. Die prämierte Fähigkeit der Kulturkosmopoliten besteht darin, die Selbstzweckhaftigkeit der Kulturaneignung mit ihrer ökonomischen Ausbeute zu verbinden, das heißt

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in der Gleichzeitigkeit der eigensinnigen und unternehmerischen Aneignung disparater Kultur- und Bildungsgüter. Ähnlich wie die Vertreter der Schicksalsheimat verteidigen auch die Kosmopoliten einen exklusiven Lebensraum. Es sind die urbanen Zentren, die mit der Reproduktion historischer Stadtarchitekturen zu privilegierten Erlebnisräumen für Konsum, Freizeit und Tourismus geworden sind. Damit verbunden ist das Privileg, sich in solchen Räumen aufzuhalten. Mit zunehmender Privatisierung und Touristisierung zentraler öffentlicher Räume werden Straßen und Plätze auf neue Weise kontrolliert (Prigge 1989: 79), wodurch Zugangsrechte unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen zu Straßen, Plätzen und anderen ehemals öffentlichen Räumen neu verhandelt werden. Wer die teuren Mieten nicht zahlt und auf den öffentlichen Plätzen in den Restaurants nicht konsumiert, findet in den historischen Kulissen der europäischen Städte keine günstigen Aufenthalts- und Verweilmöglichkeiten. Ursprünglich entstand die neue Urbanität mit dem historischen Aufstieg der »zweiten Heimaten« im Zuge der Landflucht der Mittelschichtsjugend seit den 1970er Jahren (Heller/Narr 2011). In ihren Anfängen resultierte die Besiedlung bestimmter, durch Altbauten geprägter Quartiere in den Großstädten aus der Unzufriedenheit mit der »Unwirtlichkeit der Städte« (Mitscherlich 1988), mit der Monotonie der Vorstadtsiedlungen und dem Verfall des urbanen Lebens in der als provinziell und erstarrt empfundenen Nachkriegsära. Angeführt durch die Alternativbewegung und die Künstlerszenen hat in Deutschland seit den 1980er Jahren eine Re-Urbanisierung der Innenstädte eingesetzt, deren »kreative Vielfalt« (Reichardt 2014) und lebenswerte Eigensinnigkeit sukzessive zum Vorreiter des postindustriellen Lifestyles und der urbanen Kultur- und Kreativökonomien geworden ist. Dieser ursprünglich aus den Alternativbewegungen entspringende Urbanismus ist seit der Jahrtausendwende zunehmend ins Visier neoliberaler Governance-Strukturen und des Städtemarketings geraten. Metropolen sind im Zuge dessen dazu übergegangen, ihre architektonischen und städtebaulichen Besonderheiten herauszustreichen und ihre besonderen Geschichtsbilder und Mythologien zu entwickeln und als Teil ihrer »Eigenlogik« (Berking/Löw 2008) zu vermarkten. Seine soziale Exklusivität gewinnt dieser Lebensstil jedoch erst durch die wachsende sozialräumliche Polarisierung zwischen den postindustriellen Großstädten als Zentren, in denen sich die akademische Mittelschicht konzentriert, und den übrigen Siedlungsgebieten (alte Industriestädte, Kleinstädte, Dörfer) als Peripherien. Es finden entsprechende Wanderungsbewegungen der Hochqualifizierten in die prosperierenden Großstädte statt. Gleichwohl ist die kosmopolitische Heimat keineswegs beliebig, sondern wird als Teil der persönlichen Geschichte anverwandelt. Die Wahl einer spezifischen Metropole ist ein individueller und zugleich persönlichkeitsprägender Akt. Die Initiation in den urbanen, wissens- und selbstverwirklichungsorien-

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tierten Lebensstil ist prägend für die individuelle Biographie. Sie wird dadurch erleichtert, dass die Bewohner der entsprechenden Künstler- oder Szenequartiere über ähnliche Dispositionen, Wahrnehmungs- und Klassifikationsprinzipien, das heißt über einen gemeinsamen Habitus verfügen, über ein gemeinsames »Klassenethos« (Bourdieu 1982) miteinander verbunden sind. Versucht man vor diesem Hintergrund nun eine allgemeine, beide Lebensformen umfassende Bestimmung des Begriffes Heimat, so stößt man auf insgesamt drei essentielle Bestandteile: Singularität, Vertrautheit und sozialräumliche Exklusivität beziehungsweise Schließung. Im Unterschied zum Nicht-Ort (Augé 2010), zum beliebigen Ort, zum space, ist Heimat ein place, das heißt ein einmaliger, herausgehobener Ort, der in seiner Eigensinnigkeit angeeignet wird (zur Unterscheidung von space und place vgl. Löw 2001). Die Eigensinnigkeit zeigt sich sowohl im regional geprägten Heimatgefühl der Schicksalsfraktion wie auch in der Anverwandlung der zweiten Heimat im urbanen Raum. Auch diese ist nicht auf eine kulturindustrielle Schablone reduzierbar, sondern unterliegt idiosynkratischen Aneignungsprozessen. Die zweite Heimat wird durch das Leben in Kiezen und Szenequartieren zu einem vernakulären, zu einem singulären Ort, der mit der individuellen Biographie verwoben ist (Koppetsch 2013: 93ff.). Auch wenn Konsum eine zentrale Dimension des kulturkosmopolitischen Urbanismus darstellt, wird eine oktroyierte Kommerzialisierung als Entfremdung erlebt. Vor diesem Hintergrund wird auch die exzessive Zunahme des Städtetourismus als Verfälschung und Bedrohung des authentischen Lebensraums wahrgenommen. Auch das zweite Merkmal, die Vertrautheit, ist in beiden Heimatvorstellungen anzutreffen. Heimaten bilden Wohlfühl-Zonen, sie sind Orte, die »Seinsgewissheit« (Giddens 1988) dadurch vermitteln, dass sie eine habituelle, präreflexive Verwurzelung in Alltagsroutinen und im sozialen Leben ermöglichen. Diese Vertrautheit ist das subjektive Korrelat einer Passung persönlicher Dispositionen. Das Gegenteil ist das Gefühl der Entfremdung, das sich einstellt, wenn Seinsgewissheiten – etwa durch veränderte gesellschaftliche Spielregeln – erschüttert werden. In der Heimat-als-Schicksal-Fraktion wird Vertrautheit durch Identifikation mit den Eigenheiten der Herkunftsgemeinschaft, beispielsweise durch die Beherrschung des heimatlichen Dialektes, hergestellt. In der kosmopolitischen Heimat wird Vertrautheit durch die urbanen Kieze und durch ›die Kultur‹, das heißt durch die gemeinsam geteilten Praktiken des wissens- und selbstverwirklichungsorientierten Lebensstils, gestiftet. Schließlich ist das dritte gemeinsame Merkmal beider Heimatvorstellungen die sozialräumliche Exklusivität, also die Schließung des Lebensraums gegenüber unerwünschten Zuwanderern. Unterschiedlich sind lediglich die Formen der Grenzziehung wie auch die Gruppen, die jeweils als unerwünscht betrachtet werden – Touristen, Asylanten oder, wie neuerdings in BerlinPrenzlauer Berg, die später zugezogenen Schwaben. Die Verfechter der Hei-

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mat-als-Schicksal verteidigen Heimat im Modus politischer Grenzen. Begründet wird die sozialräumliche Exklusivität mit der Notwendigkeit, die Kohäsion und Funktion der eigenen Gemeinschaft gegenüber Zuwanderern aus fremden Kulturen zu schützen. Die Beziehung zwischen Gemeinschaft und Territorium wird dabei gleichsam naturalisiert. Nur die eingeborene Gemeinschaft, nicht die Zugewanderten haben in diesem Modell Anspruch auf die gemeinschaftlichen Ressourcen. Nichts liegt den Kosmopoliten ferner: Die Ausgestaltung einer historisch und kulturell gesättigten und ›durchmischten‹ Urbanität steht ja im Zentrum des Heimatgefühls der akademischen Mittelschicht. Weltoffenheit und die Ausgestaltung einer historisch und kulturell gleichermaßen gesättigten wie vielfältigen Urbanität stehen ja im Zentrum des Heimatgefühls der akademischen Mittelschicht. Allerdings verfügen auch die vermeintlich offenen Kulturkosmopoliten über ihre ganz spezifischen Grenzanlagen. Die Raumaneignung der akademischen Mittelschicht beinhaltet zwar transnationale Bewegungen und öffnet die angestammten Territorien auch für die (kosmopolitischen) Bewohner anderer Länder, allerdings spielen sich diese Öffnungen stets innerhalb desselben soziokulturellen und geographischen Rahmens urbaner Lebensräume ab. Auch wer sich in die Metropolen anderer Länder, etwa nach Shanghai, Bangkok, Krakau oder London begibt, findet überall eine vergleichbare urbane Geographie von In-Vierteln, gentrifizierten Stadtteilen, Museen, Theatern und Kulturdenkmälern. Die kosmopolitische Offenheit bewegt sich allerdings in engen Grenzen. Offenheit kann man sich leisten, weil man über wirkungsvolle Grenzanlagen, über gentrifizierte Stadtteile, über ein sozial und ethnisch hoch selektives Bildungswesen sowie über ökonomische Zugangsbeschränkungen in Form teurer Freizeiteinrichtungen und Clubs verfügt. Es sind vor allem die ökonomischen Privilegien, die wirkungsvolle Schutzzäune gegenüber den unteren Schichten und den Migranten darstellen. Gut situierte und gebildete Migranten werden von den einheimischen Kosmopoliten als unproblematisch empfunden, sozial schwache und geringqualifizierte Migranten hingegen kommen in den privilegierten Quartieren erst gar nicht vor. Deshalb werden sie von den Bewohnern der kulturell homogenen Milieus auch nicht als Konkurrenten um begehrte Güter, um gesellschaftliche Machtpositionen, Arbeitsplätze, Wohnraum, Sozialleistungen oder staatliche Zuwendungen wahrgenommen. Dies erklärt auch, warum sich Kosmopoliten für gewöhnlich nicht von Migranten irritieren lassen. Weil man keine sonstigen Berührungspunkte mit ihnen hat, kann man auch Asylsuchende großzügig – und erst recht im Geiste – unterstützen. Für Kosmopoliten etwa in Berliner Bezirken wie Kreuzberg oder Prenzlauer Berg, die zumeist über höhere Gehälter und exklusive Lebensräume verfügen, besitzen fremdenfeindliche Anwandlungen keine lebensweltliche Grundlage. Migranten, sofern sie nicht auch zur gehobenen Mittelschicht

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gehören, kommen in dieser Welt zumeist in der Rolle als »Diener« (Bartmann 2016), das heißt als Wachschützer, Verkäufer, Paketfahrer oder Hilfsarbeiter – oder eben auch in der Rolle hilfsbedürftiger ›Flüchtlinge‹ – vor. Dies zeigt sich auch in anderen Städten (Staab 2014). Sollten Zuwanderer dennoch Anlass zu Irritationen geben, etwa weil Migrantenkinder mit Sprachschwierigkeiten aus dem Globalen Süden oder aus ›Gastarbeiterfamilien‹ in die selbe Schule gehen wie der hoffnungsvolle Nachwuchs der gebildeten Besserverdiener, nehmen die betroffenen Eltern einen stillschweigenden Exodus aus den entsprechenden Einrichtungen vor, indem sie ihren Nachwuchs in exklusiven Gymnasien oder gleich in Privatschulen anmelden (Bude 2013). Für zukünftige Mittelschichtseltern wird das vermutlich gar nicht mehr nötig sein, da die polarisierende sozialräumliche Segregation in attraktive Wohngegenden und problematische Stadtteile mit hohen Migrantenanteilen automatisch für weitgehend homogene Schülerschaften sorgen wird. Schulen in unterprivilegierten Quartieren besitzen schon heute Migrantenanteile von bis zu 80 Prozent (Bude 2013), während die Schulen in den Quartieren der akademischen Mittelschicht nahezu migrantenfrei sind.

3. Z ur Tr ansnationalisierung von K l assenstruk turen Worauf kann die Unterschiedlichkeit der Heimatvorstellungen in den beiden Klassenfraktionen der Mittelschicht zurückgeführt werden? Die unterschiedlichen Heimatvorstellungen wie auch das darin verkörperte Klassenethos resultieren in erster Linie daraus, dass ihre Trägergruppen verschiedene soziale Lagen, verschiedene Positionen in der transnationalen Topographie der Klassengesellschaft einnehmen. Die unterschiedlichen Konzepte von »Heimat« sind, anders als zumeist geglaubt, keine bloßen Glaubensgrundsätze, sondern Ausdruck neuartiger Spaltungen innerhalb einer sich transnationalisierenden Gesellschaft, die sich an der Trennungslinie zwischen Globalisten und Nativisten oder Kosmopoliten und Heimatverbundenen entzündet. Sie verläuft dabei zwischen solchen Menschen, die alle Vorteile der Freizügigkeit genießen, ihrerseits problemlos überall hin migrieren können, die Nachteile der Zuwanderung in die eigene Region/Nation jedoch für gewöhnlich nicht zu spüren bekommen, und solchen Menschen, deren Existenz auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Region basiert, die über geringe oder keine Ausweichmöglichkeiten verfügen und die sich den negativen Folgen von Zuwanderung, wie etwa Lohnkonkurrenz, Integrationsproblemen oder nachlassender kultureller Homogenität und Vertrautheit ausgesetzt sehen. Daraus ergeben sich neuartige Ungleichheitskonflikte, wie sie gegenwärtig im Rechtspopulismus auf brechen: Drehte sich der politische Konflikt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch um die Forderung, den produ-

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zierten Reichtum innerhalb des Territoriums der Nation gerechter zu verteilen und die Ungleichheit der Chancen zwischen den sozialen Klassen zu bekämpfen, so resultiert der zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf keimende Konflikt aus der viel grundlegenderen Frage, welche gesellschaftlichen Kollektive, welche ethnischen und sozialen Gruppen im politischen Raum des Nationalstaates überhaupt noch repräsentiert sind. Die Brisanz dieser Frage ergibt sich daraus, dass sich Gesellschaften bereits sehr weitgehend aus der Klammer des Nationalstaates herausgelöst und die Welt in globale, nationale und lokale Zonen aufgeteilt haben. Der Nationalstaat ist schon längst kein souveräner Wirtschaftsraum mehr (vgl. unter anderem Reich 1993). Dazu haben einerseits die Etablierung globaler Produktions- und Lieferketten und andererseits die Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien und das Internet beigetragen.2 Die Herausbildung eines europäischen Wirtschafts- und Währungsraums hat die ökonomische Souveränität der Nationalstaaten zusätzlich geschwächt. Aber nicht nur wirtschaftliche Wertschöpfungsketten, auch politische Steuerungskonzepte haben die nationalstaatlichen Grenzen in vielerlei Hinsicht transzendiert.3 Während die Politik des Steuerungs- und Wohlfahrtsstaates der Industriemoderne eng an den Nationalstaat gekoppelt war, ist der Bedeutungsverlust nationaler Regulierung in der postindustriellen Gesellschaft einerseits mit dem Aufschwung supranationaler Steuerungsinstanzen und andererseits mit einem Bedeutungsgewinn politischer Akteure unterhalb der nationalen Ebene verbunden. Dabei spielen die Städte, vor allem die Großstädte und Metropolregionen als Brennpunkte globaler Investitionen eine Schlüsselrolle. Die Zugehörigkeit zu sozialen Klassen entscheidet sich nun immer häufiger an der Frage, ob soziale Schicksale primär durch regionale, nationale oder transnationale Vergesellschaftungsprinzipien geprägt werden; es entstehen neue transnationale Klassen, wobei Transnationalisierung nicht immer einen Vorteil darstellt. Transnationalisierung ist auch nicht mit Migration oder Plurilokalität gleichzusetzen, da viele grenzüberschreitende Prozesse durch einzel2 | Die alten Produktionssysteme des Konzernkapitalismus wurden in Einzelteile zerlegt und rund um den Erdball neu aufgebaut, wo immer sich Produkte am besten oder am billigsten fertigen lassen. Eine globale Kultur- und Wissensindustrie hat zur Erweiterung von Absatzmärkten für Kulturgüter beigetragen. Eine weltweite Konkurrenz um einerseits die billigsten und andererseits die fähigsten Arbeitskräfte ist entfacht worden. 3 | Von den 1940er bis in die 1970er Jahre galt der Nationalstaat als der Ort des gesellschaftlichen Allgemeinen und wurde als zentrale gesellschaftliche Planungs- und Steuerungsinstanz modelliert. Paradigmatisch für diese Politik war eine Form korporatistisch-sozialdemokratischer Regulierung, die eine kulturell vergleichsweise homogene, nationale Gesellschaft gleichermaßen voraussetzte wie förderte.

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ne Nationen hindurchgreifen und somit regionale, nationale oder transnationalisierte Lagen unter dem Dach ein und desselben Nationalstaates beherbergt sind. Die hochqualifizierten Arbeitnehmer der oberen, akademischen Mitte stellen das transnationale Oben dar. Sie verfügen über transnational einsetzbares kulturelles Kapital, transnational verwertbare Bildung und Qualifikation und sind in dem Maße eher lose mit dem nationalen Wirtschafts- und Gesellschaftsraum verbunden, wie ihre transnationale Verflechtung in den globalen Metropolen zunimmt. Über ihre soziale Lage wird immer weniger allein im eigenen Land entschieden. Eine Unternehmensberaterin in Frankfurt, ein Investmentbanker in London und eine Architektin in Taiwan bewohnen einen gemeinsamen Verkehrs- und Transaktionsraum, selbst wenn sie sich nie persönlich begegnet sind und stets innerhalb ihrer Länder verbleiben. Häufig teilen die transnationalen Experten, die sich vorrangig in den Beratungs-, Finanz- und Kulturindustrien finden, nicht nur eine gemeinsame professionelle Identität, sondern eben auch den gemeinsamen kosmopolitischen Lebensstil, der aus dem Leben in globalen Metropolen resultiert (Sassen 1997). Die Global Cities stellen gewissermaßen kosmopolitische Enklaven dar, die in allen Ländern der Welt ähnliche Infrastrukturen und Konsumkulturen aufweisen. Zudem sind die unterschiedlichen Territorien durch ökonomische Austauschbeziehungen und durch das Internet miteinander verbunden. Dadurch werden sich die Lebensbedingungen transnationaler Experten zukünftig noch stärker international angleichen. Das Zugehörigkeitsgefühl der kosmopolitischen Mittelschicht zur eigenen Nation lockert sich in demselben Maße, wie ihre transnationale Verflechtung innerhalb der Global Cities zunimmt. Wie gesagt, ist dieser Prozess nicht mit Migration gleichzusetzen. Auch ›sesshafte‹ Künstler, IT-Fachkräfte, Wissenschaftlerinnen, Architekten, Sportlerinnen und politische Bewegungen agieren auf transnationalen Märkten der Kulturgüter- und Aufmerksamkeitsindustrien und sind in multiple geographische und wirtschaftliche Kontexte eingebunden (Weiß 2017: 167). Nur eine Minderheit lebt transnational in dem Sinne, dass sie sich geographisch über Grenzen hinwegbewegt und dass ihre Karriere und ihre Beziehungen langfristig plurilokal gestaltet sind. Für viele stellt eine internationale Berufstätigkeit jedoch eine Option dar. Weltläufigkeit ist zu einem Aspekt sozialer Lagen geworden, der die Identifikation mit dem Nationalstaat schwächt. Dies zeigt sich auch daran, dass die gehobene Mittelschicht internationalen Bildungsangeboten einen enormen Stellenwert zuschreibt (Weiß 2017: 95). Das frühe Erlernen wichtiger Sprachen (in Deutschland Englisch und in den USA Chinesisch), längere Auslandsaufenthalte schon während der Schulzeit und internationalisierte Bildungsabschlüsse dienen als Distinktionsmerkmale, in die erheblich investiert wird (Gerhards et al. 2016).

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Entsprechende Wanderungsbewegungen sind im Übrigen kein Privileg der reichen Länder, sondern in den Ober- und Mittelschichten ärmerer Länder schon länger etabliert (Weiß 2017: 95f.). Ohnehin sind die Bildungssysteme im Globalen Süden an den Strukturen des kolonialen Mutterlandes orientiert und bieten so von vornherein eine mehrsprachige und international ausgerichtete Bildung. Vor allem bei den Eliten der ärmeren Länder hat eine transnationale Ausrichtung als Aufstiegsschneise eine lange Tradition. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass Transnationalisierungsprozesse die sozialräumliche Autonomie privilegierter Schichten erhöhen und die Bindungen an den Nationalstaat lockern. Den transnationalen Akteuren steht es frei, sich dort niederzulassen, wo sie die besten Arbeits- und Lebensbedingungen vorfinden. Folglich sind sie schwerer dazu zu motivieren, sich an der Produktion von Kollektivgütern innerhalb ihrer Nation zu beteiligen, etwa das politische und soziale Leben zu verbessern und allgemeine Wohlfahrtsinstitutionen herauszubilden. Ihr Leben spielt sich zumeist in städtischen Arealen ab, die an sich schon transnationale Räume darstellen, und in denen sie dank privat finanzierter Bildungs- und Freizeiteinrichtungen und sozial homogener Stadtviertel im Regelfall unter sich bleiben. Die transnationalen Experten bewegen sich nicht länger in nationalen Wirtschafts- und Wohlfahrtsräumen, weshalb ihre Identifikation mit dem Nationalstaat und seinen Einrichtungen geschwächt wird (Dahrendorf 2000; Münch 2009). Auf der anderen Seite entsteht ebenfalls eine transnationale Klasse, ein ›transnationales Unten‹. Hier finden sich Geringverdiener aus unterschiedlichen Weltregionen, gering- und dequalifizierte einheimische Arbeitnehmer und Migranten aus Entwicklungs- und Schwellenländern als modernes transnationales Dienstleistungsproletariat wieder. Für die einheimischen Arbeitnehmer entstehen daraus gravierende Nachteile, weil ihre Löhne an die niedrigeren internationalen Maßstäbe angeglichen werden (Werding/Müller 2007: 131f.).4 Für sie existiert die soziale Rolltreppe hinauf in die Mittelschicht nun nicht mehr, da sie als Arbeitnehmer innerhalb eines transnationalen Wirtschaftsraums faktisch nicht mehr unter dem Dach ihrer heimischen Volkswirtschaft angesiedelt sind, selbst wenn sie als Staatsbürger über alle politischen Rechte verfügen. Die Herausbildung des transnationalen Unten wird durch zwei komplementäre Prozesse vorangetrieben: Einerseits werden geringqualifizierte Arbeitsplätze aus der Produktion in sogenannte Niedriglohnländer ausgela4 | Hier findet aktuell ein internationaler Unterbietungswettbewerb um die niedrigsten Löhne und die geringsten Arbeitnehmerrechte statt. Besiegelt wird der kollektive Ausschluss der Geringverdiener aus den Mittelschichtsmilieus durch die »Krise des Wohlfahrtsstaates« (Koppetsch 2013), der ihre Einkommens- und Statusverluste beziehungsweise ihr »Überflüssigwerden« nicht mehr auffängt.

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gert, wodurch Unternehmen ein Drohpotential in der Hand haben. Andererseits wandern Arbeitsmigranten aus ärmeren Ländern in Hochlohnländer ein und bieten die gleiche Arbeit günstiger an. Die polnische Altenpflegerin, der Wachschützer aus Sri Lanka und die Haushaltshilfe aus Mexiko machen den einheimischen Arbeitnehmern Konkurrenz. Die geringer qualifizierten Arbeitnehmer aus Deutschland verlieren dadurch wichtige Wohlstandsprivilegien, die sich bislang aus ihrer Staatsbürgerschaft ableiteten. Zwischen dem transnationalen Oben aus Eliten und oberer Mittelschicht und dem transnationalen Unten befindet sich nun die in den nationalen Wirtschafts- und Wohlfahrtsraum eingebundene untere Mittelschicht, deren Wohlstandsniveau vorläufig noch weitgehend von innerstaatlichen und nationalen Institutionen geprägt wird, und für die die Staatsangehörigkeit in einem reichen nationalen Wohlfahrtsstaat ein erhebliches Privileg darstellt. Doch dieser Teil der Mittelschicht verliert zunehmend seinen Einfluss auf die Geschicke des Landes. Über Lebenschancen und Ressourcenzuteilungen entscheiden nun immer weniger die traditionellen Anwälte der Mitte, wie etwa Gewerkschaften und die klassischen Volksparteien, sondern globale Wirtschaftsverflechtungen und transnationale Einrichtungen. Es zeichnet sich somit immer deutlicher eine zentrale Spaltungsachse innerhalb der Mittelschicht ab: Die akademisch ausgebildete obere Mittelschicht entwickelt sich zunehmend zu einer transnationalen Oberschicht, während die in den Regionen und Kleinstädten angesiedelte mittlere und untere Mittelschicht noch im nationalen Wirtschafts- und Wohlfahrtsraum verortet ist und ein Interesse an dessen Stärkung, notfalls auch durch Abkopplung von der Globalisierung, hat. Heimat erscheint nicht wenigen von ihnen unter diesen Vorzeichen als etwas, das verteidigt werden muss – zur Not mit Klauen und Zähnen.

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Die Mitte und ihr Anderes Flexibilisierte Randzonen des Sozialen in Zeiten des Rechtspopulismus Silke van Dyk

Mit der Rückkehr und Neubestimmung der sozialen Frage im beginnenden 21. Jahrhundert gerät die gesellschaftliche ›Mitte‹ in Bewegung. Dies lässt sich an drei Entwicklungen erkennen: Seit den ausgehenden 1990er Jahren wird, erstens, eine sich spaltende Gesellschaft konstatiert, in der sich neben den integrierten zunehmend marginalisierte Bevölkerungsgruppen bewegen, die sich – so der politische Tenor – zu einer neuen ›Unterschicht‹ verdichten oder den Abstieg in dieselbe fürchten. Die Rede ist wahlweise von den »Prekären«, »Exkludierten« oder »Entkoppelten«. Neben den materiellen Entsicherungen und sozialen Ausschlüssen wird ein Gefühl der Verunsicherung identifiziert, das bis in die integrierten Mittelschichten ausstrahlt (Castel 2000: 336-400). Während mit diesem Fokus vor allem die Randzonen des Sozialen und ihre Rückwirkungen in die Binnenzonen der Gesellschaft adressiert werden, ist, zweitens, und im Gefolge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrisen seit 2008 die sich in fast allen OECD-Ländern verschärfende soziale Ungleichheit auf die Tagesordnung zurückgekehrt (vgl. zum Beispiel Piketty 2014; Milanović 2016). Selbst langjährige Verfechter neoliberaler Politik, denen soziale Ungleichheit seit den 1970er Jahren als notwendiger Motor einer dynamischen Wirtschaft galt, problematisieren derzeit das Ausmaß der Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen als zunehmend systembedrohlich (vgl. zum Beispiel OECD 2015). Drittens wird das Erstarken rechter politischer Kräfte in den USA und Europa derzeit von zahlreichen Beobachter*innen als Arbeiterbewegung oder soziale Revolte von rechts analysiert, die einen Protest der im Neoliberalismus deklassierten, aus den Binnenzonen der Gesellschaft herausgefallenen Menschen darstelle (vgl. zum Beispiel Fraser 2017; Streeck 2017; kritisch Dowling et al. 2017). Konsens besteht gegenwärtig darüber, dass mit der neuen Rechten die Klassenfrage zurück auf die politische und mediale Agenda gekehrt ist (Dörre 2017); dass damit zugleich in neuer Weise der Ort

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und Charakter der gesellschaftlichen Mitte umkämpft ist, findet hingegen weit weniger Beachtung. Auch an der sozialwissenschaftlichen Debatte gehen diese Entwicklungen natürlich nicht spurlos vorüber: Nachdem in den vergangenen drei Jahrzehnten Fragen der Diskriminierung und Identität entlang der Achsen Geschlecht, Ethnizität, Hautfarbe, Disability und Sexualität im Zentrum der Aufmerksamkeit kritischer Wissenschaft standen, verschieben sich mit der politischen Wiederkehr der sozialen Frage gegenwärtig auch die theoretischen Akzentsetzungen. Die in den vergangenen Jahren ›gehypten‹ theoretischen Lieblingskinder der akademischen Linken scheinen angeschlagen: Die in poststrukturalistischen Theorien, diskurstheoretischen Ansätzen und Cultural Studies zentrale Problematisierung von Subjekt, Identität, Wahrheit und Totalität, die Vorliebe für Mikropolitiken, komplexe Kräfterelationen und Deutungskämpfe gilt so mancher Gesellschaftskritikerin im Angesicht der großen materiellen Krise(n) als nicht mehr zeitgemäß. Die Felder poststrukturalistischer Kritik – so beispielsweise die Sichtbarmachung verworfener Existenzweisen, bearbeitet in den Queer Studies und Postcolonial Studies – verblassen zu Spielwiesen in Zeiten, da – so der aufkommende Tenor – ›normale‹ Menschen wieder ›wirkliche‹ Probleme haben (vgl. kritisch Butler/Athanasiou 2014: 61ff.). Die Aufgabe einer krisenangemessenen Soziologie neu vermessend, konstatiert Heinz Bude vor diesem Hintergrund den Bedeutungsverlust poststrukturalistischer Soziologie(n) zugunsten einer Soziologie, die »Fragen von Ungleichheit, Herrschaft und Ideologie ins Zentrum ihrer Aussagen stellt« (Bude 2011: 13) und »die Wahrheit über die Spaltung der Gesellschaft, die Unterdrückung der Menschen und die Zurechtweisung des Publikums« (Bude 2011: 13) zur Sprache bringt. Diese Position steht exemplarisch für einen lauter werdenden Abgesang auf ein heterogenes Theoriefeld, das gegenwärtig als ›Postmoderne‹ verfremdet und verkürzt wird.1 Ich werde in diesem Beitrag argumentieren, dass die im Kontext des Cultural Turn zu verortenden poststrukturalistischen, praxis- und diskurstheoretischen Analysen sehr wohl einen eigenen Beitrag zu den sozialstrukturellen und sozioökonomischen Herausforderungen der Gegenwart (und damit zu Fragen von Ungleichheit und Herrschaft) zu leisten haben, auch wenn diese Fragen nicht unbedingt bevorzugter Analysegegenstand dieses theoretischen Feldes sind. Mir geht es dabei weniger um Spezifika einzelner Ansätze und Theoretiker*innen als darum, danach zu fragen, was eine poststrukturalis1 | Zusammen mit der ›Postmoderne‹ werden derzeit zunehmend die als Identitätspolitik attribuierten sozialen Bewegungen gesellschaftlich marginalisierter Gruppen problematisiert und als Ursache für die Vernachlässigung der prototypischen Sozialfigur der sozialen Frage – des weißen, männlichen Industriearbeiters – identifiziert (vgl. zum Beispiel Jörke/Heisterhagen 2017; Lilla 2017).

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tisch-diskurstheoretisch konturierte Programmatik zu einer Analyse der gesellschaftlichen ›Mitte‹ in Zeiten flexibilisierter Randzonen des Sozialen einerseits und des erstarkenden Rechtspopulismus andererseits beitragen kann. Gerade wenn es darum geht, die enge Verschränkung von Norm(alität) und Mitte offenzulegen, erweist dieses Theorie- und Forschungsprogramm seine Stärke. Konkret diskutiere ich die vielschichtigen sozialen Erschütterungen der vormaligen fordistischen Schutz- und Normalitätszonen mit den ihnen eigenen machtvollen Produktionsbedingungen des Normalen, Natürlichen, Sicheren und Verlässlichen – und die sich derzeit politisch rechts artikulierenden sexistischen, rassistischen und chauvinistischen Versuche, über revitalisierte Ausschlüsse eine verloren geglaubte Normalität zu restaurieren.

D er C ultur al Turn und die analy tische

E rkundung der ›M it te ‹

Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts vollzog sich in den Sozialwissenschaften ein Paradigmenwechsel, der gemeinhin als Cultural Turn – mitunter auch als Discoursive Turn – bezeichnet wird: Kerngedanke dieser Perspektive ist, dass die Welt nur als symbolische Welt existiert, »auf der Grundlage von Regeln, die es ermöglichen, sie mit Bedeutungen zu versehen« (Reckwitz 1999: 25). Operiert wird mit einem Diskursverständnis, das Diskurse als Praktiken begreift, »die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen« (Foucault 1973: 74). Bei Diskursen geht es also gerade nicht um individuelle Sprechereignisse von Akteuren, sondern um die »Produktionsanordnungen von Wahrheits- und Geltungsansprüchen« (Bublitz 2003: 9), womit sie notwendigerweise über Machtwirkungen verfügen und zugleich Ausdruck bestehender Machtverhältnisse sind. Diskurse bilden die Möglichkeitsbedingungen dessen, was in einem bestimmten Kontext zu einer bestimmten Zeit gedacht, gesagt oder getan werden kann. Zentral ist das Anliegen, aufzuzeigen, »daß das, was ist, nicht immer gewesen ist […]. Was die Vernunft als ihre Notwendigkeit erfährt oder was vielmehr verschiedene Formen von Rationalität als ihr notwendiges Sein (›étant‹) ausgeben, hat eine Geschichte, die wir vollständig erstellen und aus dem Geflecht der Kontingenzen wiedergewinnen können« (Foucault 1996: 179). Damit ist die hochaktuelle Frage, wie vermeintliche Alternativlosigkeit in Gestalt von Notwendigkeit und Normalität erzeugt wird, ein Kernanliegen dieses theoretischen Feldes. Insbesondere poststrukturalistische Ansätze sensibilisieren dabei dafür, wie die Unterdrückung der Menschen in ihre Subjektwerdung eingelassen ist und entlarven »die Grausamkeiten, durch die Subjekte produziert und differenziert werden« (Butler 1993b: 131). Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die aus der gesellschaftlichen Ordnung exkludierten Existenzweisen, auf das Ver-

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worfene jenseits der majoritären Norm »Mensch-männlich-weiß-Stadtbewohner-Sprecher einer Standardsprache« (Deleuze 1980: 27). Diese Kritikperspektive ist nicht im engeren Sinne normativ, sondern vielmehr gekennzeichnet durch die Problematisierung von Universalität und Normalität. Den repressiven Charakter der Norm(ativität) aufzuzeigen, kann als eines der Hauptanliegen des diskurstheoretisch-poststrukturalistischen Feldes bezeichnet werden: »Denn einen Normenkomplex aufzustellen, der sich jenseits der Macht oder Stärke ansiedelt, stellt selbst eine machtvolle, starke begriffliche Praxis dar, die ihr eigenes Machtspiel durch den Rückgriff auf Tropen der normativen Universalität sublimiert, verschleiert und zugleich ausdehnt« (Butler 1993a: 36f.).

Die Mitte als leerer Ort des Allgemeinen Genau dieser »Rückgriff auf Tropen der normativen Universalität« – die Universalisierung partikularer Positionen – ist für die (Selbst-)Verortung und Etablierung der gesellschaftlichen ›Mitte‹ von zentraler Bedeutung. So konstatieren Schimank et al. (2014: 40): »Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich zahllose politische Anliegen, die oft im Namen ›Aller‹ oder gar des ›Gemeinwohls‹ verfolgt werden, als Interessenpolitik der Mittelschichten«. Poststrukturalistisch-diskurstheoretische Ansätze adressieren die Repressivität von (partikularen) Normenkomplexen, die mit universalem Anspruch auftreten, und bieten damit ein Instrumentarium, die enge Verschränkung von ›Mitte‹ und ›Normalität‹ konzeptionell einzufangen. Dass die gesellschaftliche Mitte sowohl via Durchschnittsbetrachtungen (›durchschnittliche Bildung‹, ›durchschnittliches Einkommen‹ etc.) als auch via konkreter Muster der Lebensführung (vgl. ausführlich Schimank et al. 2014) – so über mehrere Jahrzehnte in Gestalt von Normalarbeitsverhältnis, Normalbiographie und bürgerlicher Kleinfamilie – bestimmt wird, trägt entscheidend dazu bei, dass normative Prämissen und empirische Durchschnitts- beziehungsweise Normalitätsannahmen im gesellschaftlichen Diskurs ineinandergreifen. In kaum einem anderen Feld ist der das Allgemeine repräsentierende (normative) Maßstab derart unhinterfragt geblieben wie im Fall der gesellschaftliche Normen setzenden ›Mitte‹: Feministische, queere und postkoloniale Analysen haben in den vergangenen drei Jahrzehnten wesentlich dazu beigetragen, vermeintlich universale Bezugsgrößen – Männlichkeit, Heterosexualität, Weiß-Sein – zu dekonstruieren und aufzuzeigen, dass Diskriminierung und Ausbeutung der ›Anderen‹, das heißt der stets als abweichend gedachten Frauen, Homosexuellen und Nicht-Weißen, konstitutiv in dieser hegemonialen Verallgemeinerung wurzeln: »Es sind also keinesfalls nur die ›Anderen‹ ethnisch, nicht nur die Frauen geschlechtlich, nicht nur der ›Süden‹ auf einer Landkarte verortet – auch Männer sind geschlechtlich konstituiert, auch ist Weiß-Sein Effekt komplexer und sehr wirkmächtiger rassistischer Konstitu-

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tionen […]. So ist jede Position eben eine Position – wer das […] zu leugnen in der Lage ist, genießt die strukturell erzeugten Dividenden hegemonialer Positionen« (Reuter/Villa 2010: 14). Die Position der ›Mitte‹ wird nicht als Position ausgewiesen, sondern fungiert als unmarkierter Maßstab, anhand dessen bestimmte Lebenslagen und Lebensführungsmuster – an den unteren und oberen Rändern – als anders und abweichend gelesen werden. »Die Normalitäten des Lebenslaufs, der Arbeit und der Familie, der Umgangsformen und Konventionen wurden von der Mittelschicht definiert und formten eine Folie, auf der sich Abweichungen mal als Fortschritt, mal als Irrtum und mal als Widerstand abzeichneten« (Koppetsch 2013: 165). Dass die herrschaftskritische Praxis der Dekonstruktion des ›Allgemeinen‹ in Sozialstrukturanalysen und sozioökonomischen Analysekontexten – und so auch mit Blick auf die Rolle der Mitte(lschicht) – selten zu finden ist, hat einen doppelten (theoriepolitischen) Grund: die Vernachlässigung von soziound politökonomischen Fragen im poststrukturalistisch-diskurstheoretischen Theoriefeld einerseits (vgl. ausführlich van Dyk 2012)2 sowie die weitgehende theoretische Rezeptionssperre im einschlägigen Forschungsfeld der Wohlfahrtsstaatsforschung, vergleichenden Kapitalismus- und Sozialstrukturanalyse andererseits (vgl. ausführlich van Dyk 2008). Darüber hinaus liegt diese Leerstelle aber auch im Analysegegenstand selbst begründet: Im Kontext von Systemkonkurrenz und fordistischem Klassenkompromiss haben die Diagnose der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« (Schelsky 1953) und der empirische Nachweis einer sich ausdehnenden Mittelschicht als gesellschaftlicher Norm(alität) »den Kritikern des Marxismus zu einem ihrer wichtigsten Argumente gegenüber der marxistischen Klassentheorie verholfen« (Wright 1985: 35). Die Gesellschaft wurde nicht mehr von konflikthaften, antagonistischen Klassenpositionen aus gedacht, sondern als dem Gemeinwohl verpflichtetes Kollektiv der ebenso inklusiven wie maßhaltenden ›Mitte‹ adressiert. Diese Diagnose hat neben dem evidenten sozialen Aufstieg im fordistischen Nachkriegskapitalismus dabei ganz wesentlich von der radikalen Unbestimmtheit ihres Gegenstandes profitiert. Tatsächlich stellt die ›Mitte‹ einen klassischen »leeren Signifikanten« im Sinne des poststrukturalistisch-postmarxistischen Theoretikers Ernesto Lac2 | Mit großem Verdienst haben poststrukturalistische Theorien die Grenzen von Gesellschaft ins Blickfeld geholt, haben den Blick auf jene verworfenen Existenzweisen und Subjektpositionen gerichtet, denen in den gesellschaftlichen Normalitätszonen Stimme, Sichtbarkeit und Anerkennung verwehrt werden und sie haben Perspektiven der Widerständigkeit an den Rändern des Sozialen aufgezeigt. Darüber wurde jedoch die (Sozialstruktur-)Analyse des problematisierten ›Innenraums‹, das heißt die hierarchische Binnen-Stratifizierung der Normalitätszonen vernachlässigt (vgl. selbstkritisch zum Beispiel Butler 1998: 218).

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lau (2010: 65ff.) dar. Leere Signifikanten stehen im Zentrum hegemonialer Diskurse und sind »chronisch unterbestimmt durch ein fixes Signifikat« (Reckwitz 2006: 343). Dadurch gelingt es ihnen, »einen ›Knotenpunkt‹ für eine ›imaginäre Einheit‹ des Diskurses zu liefern, dem Diskurs den Schein einer Fundierung zu verleihen« (Reckwitz 2006: 343). Leere Signifikanten zeichnen sich also durch ihre Inhaltslosigkeit aus, durch die Deutungsoffenheit des Signifikats, das immer neu mit Inhalt gefüllt werden muss. Die Konflikte um die Besetzung dieses leeren Ortes des Allgemeinen sind Ausdruck gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und bilden nach Laclau den Kern von Politik. Der Prozess der hegemonialen Schließung (der konstitutiven Deutungsoffenheit) erfolgt durch eine Logik der Äquivalenz, die in eine Logik der Differenz eingelassen ist, und genau dieser Punkt ist für die Analyse der gesellschaftlichen Mitte von entscheidender Bedeutung: Äquivalenzketten entstehen, wenn eine Vielzahl differenter Elemente durch eine ihnen gemeinsame Bedeutung verknüpft und zu einer imaginären Einheit zusammengefügt werden, die notwendig komplexitätsreduzierend ist. Tatsächlich ist die Bandbreite dessen, was mit Mitte/Mittelschicht/Mittelstand/Mittelklasse bezeichnet wird, riesig, wie bereits kursorische Überblicke über mediale Verwendungen demonstrieren (vgl. beispielhaft Schimank et al. 2014: 9ff.). Dass trotzdem die Identifizierung einer Einheit gelingt, ist nur vor dem Hintergrund einer Logik der Differenz möglich: Diese Differenz wird durch ein konstitutives Außen gestiftet, das verstanden werden kann als »eine radikale Andersheit – etwas, das im Sinnhorizont einer Gesellschaft nicht gefasst werden kann und diesen trotzdem heimsucht und in ihm insistiert« (Stäheli 2000: 37). Dieses Außen ist konstitutiv, weil es dem hegemonialen Diskurs überhaupt erst ermöglicht, sich im Ausschluss des Anderen durch die vereinheitlichende Verknüpfung heterogener Elemente innerhalb eines Diskurses als Einheit zu repräsentieren. Zu fragen ist also: Was ist dieses ›Außen‹, dieses konstituierende ›Andere‹ der Mitte? Wie ist es durch den Wandel vom fordistischen zum postfordistischen Kapitalismus in Bewegung geraten? Wo und wie wird angesichts der Rückkehr der sozialen Frage um die Bestimmung der Mitte gerungen?

D ie M it te im L ichte des W andels gesellschaf tlicher N ormalitätszonen Konkret interessiere ich mich dafür, wie die gesellschaftlichen Normalitätszonen der ›Mitte‹ im Wandel vom fordistischen zum postfordistischen Kapitalismus zugleich flexibel ausgeweitet und unsicherer werden, während an den Rändern neue Ausschlüsse entstehen, die darüber entscheiden, wer überhaupt als soziale Person adressiert wird. Während das Normalitätsfeld der fordistischen Industriegesellschaft auf den »männlich-autochthonen Fami-

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lienernährer« beschränkt war, sind die Grenzen dieses Feldes in den letzten drei Jahrzehnten für bestimmte Bevölkerungsgruppen (partiell) durchlässiger geworden; parallel ist eine umfassende »Denormalisierung« (Link 2013: 91) durch Prozesse der Deregulierung, Destandardisierung und Prekarisierung zu beobachten. Diese Doppelbewegung in den Blick nehmend, geht es nicht nur darum, wer sozialstrukturell betrachtet heute zu den gesellschaftlichen Gewinner*innen und Verlierer*innen gehört, sondern grundlegender um die Frage, wie das Normalitätsfeld hervorgebracht wird, das als ›Mitte‹ der Gesellschaft gelebt und gelesen wird. Nach einer kurzen Skizze der sich wandelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus erörtere ich das Konzept des (flexiblen) Normalismus im Anschluss an den Diskurstheoretiker Jürgen Link und konkretisiere dann die Fragen, die sich aus der Doppelbewegung von flexibler Normalisierung einerseits und zunehmender sozialer Unsicherheit und Exklusion andererseits ergeben.

Von der fordistischen Industriegesellschaft zum postfordistisch-flexiblen Kapitalismus Die fordistische Industriegesellschaft ist vor inzwischen fast vier Jahrzehnten nach kurzer »Blütephase« sukzessive ins Straucheln geraten. »Der kurze Traum immerwährender Prosperität« (Lutz 1984) fand mit den Ölkrisen der 1970er Jahre und der aufkommenden Massenarbeitslosigkeit sein jähes Ende. Infolge technischer Rationalisierungen und der Internationalisierung der Produktion geriet (industrielle) Lohnarbeit als stabile gesellschaftliche Integrationsmaschine für autochthone Männer ins Stocken (vgl. Castel 2000). Das Modell standardisierter Massenproduktion, verbunden mit Massenkonsum, normierten Erwerbsbiographien, einem konservativen Geschlechterregime und rassistisch kodifizierter Nutzung migrantischer Arbeitskraft als »Gastarbeit«, erwies sich letztlich als Episode – auch wenn dieses Modell vielen soziologischen Analysen der Gegenwartsgesellschaft nach wie vor als Referenzgröße gilt (vgl. van Dyk 2013). Auf die Krise des fordistischen Akkumulationsregimes wurde zunächst vor allem mit einer Vergrößerung der Ausbeutungsrate durch Lohnsenkungen, Rationalisierungen und Arbeitsintensivierung reagiert. Mit der Abkehr von der standardisierten Massenproduktion, einer flexibilisierten Spezialisierung in den Industriesektoren sowie der Zunahme von Beschäftigung im Dienstleistungsbereich setzte eine Erosion des fordistischen Normalarbeitsverhältnisses und eine zunehmende Deregulierung und Prekarisierung von Lohnarbeit ein (vgl. zum Beispiel Dörre 2006): Die Zunahme atypischer Beschäftigung, die Ausweitung des Niedriglohnsektors, die Schwächung kollektivvertraglicher Regelungen und die sich vertiefende Polarisierung in kleiner werdende Kern- und wachsende Randbelegschaften sind die Folge und be-

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gründen eine radikale Umverteilung der Einkommen zugunsten von Kapitalbesitzenden und Besserverdienenden (vgl. Demirović/Sablowski 2012: 80ff.). Mit der extensiven Ausbeutung von Arbeitskraft durch sinkende Standards und Löhne korrespondiert eine spezifische Form der Arbeitsintensivierung, die von einer erweiterten Verwertung und Indienstnahme der Subjektivität der Beschäftigten begleitet wird (vgl. Voß/Pongratz 1998). Diese Entwicklungen gehen einher mit einem Prozess der forcierten »inneren Landnahme« (Lutz 1984), durch die gesellschaftliche Bereiche in den Kapitalverwertungsprozess einbezogen werden, die im Fordismus der Marktlogik entzogen waren: Folge ist die Re-Kommodifizierung und Privatisierung von Dienstleistungen und öffentlicher Infrastruktur, insbesondere in den Bereichen Transport und Kommunikation, Bildung und Erziehung, Gesundheit und Pflege. Darüber hinaus werden die sozialstaatlichen Sicherungssysteme selektiv eingeschränkt und Sanktionsmechanismen verschärft (vgl. Brütt 2011). Spätestens mit der Agenda 2010 und den Hartz-Reformen der damaligen rot-grünen Bundesregierung ist dabei deutlich geworden, dass eine Analyse der sozialpolitischen Reformen als Rückzug des Staates jedoch in die Irre führt: Zu beobachten ist stattdessen ein Wandel der sozialstaatlichen Steuerungslogik, der zufolge (potentielle) Leistungsempfänger*innen nicht mehr als Träger*innen von Rechten betrachtet werden, sondern als zur Eigenverantwortung Verpflichtete und in diesem Sinne zu Aktivierende gelten (Lessenich 2009, 2012).

Individualisierung, Pluralisierung und De-Normierung Mit diesen Entwicklungen gehen tiefgreifende Veränderungen der Lebensführungen im Sinne zunehmender Individualisierung, Pluralisierung und De-Normierung einher. An die Stelle der gesellschaftlichen Einengung des Normalitätsfeldes auf den männlich-autochthonen Familienernährer in der fordistischen Industriegesellschaft tritt ein zunehmend »flexibler Normalismus«, wie Jürgen Link (1997) es treffend genannt hat. Unter »Normalismus« versteht Link (2013: 92) »die Gesamtheit aller sowohl diskursiven wie praktisch-intervenierenden Verfahren, Dispositive, Instanzen und Institutionen […], durch die in modernen Gesellschaften ›Normalitäten‹ produziert werden«. Interessant für eine Analyse der gesellschaftlichen ›Mitte‹ ist die Perspektive Links insbesondere deshalb, weil er den Normalismus als ein »auf flächendeckende statistische Verdatung« gestütztes Regime begreift, das »im Wesentlichen durch ›gemittelte‹ Verteilungen gekennzeichnet [ist] (breiter mittlerer ›normal range‹ mit dichter Besetzung und zwei tendenziell symmetrische, ›anormale‹ Extremzonen mit dünner Besetzung)« (Link 2013: 92). Die Normalitätsgrenzen der Normalverteilung können dabei enger oder weiter gefasst werden, normalisierend jedoch sind all diese Regime: Während die fordistische Industriegesellschaft im Sinne Links eine moderate Form des Protonor-

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malismus darstellte – gekennzeichnet durch ein enges Normalspektrum, massive Normalitätsgrenzen und breite Bereiche der Anormalität –, nähert sich die Gegenwartsgesellschaft einem flexiblen Normalismus »mit breite[m] Normalspektrum, maximaler Inklusion und porösen Normalitätsgrenzen« (Link 2013: 93). Die fordistischen Normalitätsgrenzen, so die Fixierungen des Normalarbeitsverhältnisses, der (männlichen) Normalbiographie, der heterosexuellen Normalfamilie oder des ethnisch homogenen Nationalstaats, sind damit nicht auf einen Schlag bedeutungslos, aber sie geraten sukzessive in Bewegung. Die Perspektive des flexiblen Normalismus sensibilisiert dabei für zweierlei: einerseits dafür, dass Normalitätsgrenzen historisch variabel sind und auf unterschiedliche Weise gezogen werden können sowie andererseits dafür, dass das Auf brechen fordistischer Normierungen und Normalitäten nicht mit einem anything goes oder einem Zustand der Regel- und Normlosigkeit zu verwechseln ist. Es geht vielmehr um die Neuverhandlung der Grenzen des Normalen, um die Ausweitung der Übergangszonen zwischen Normalität und Anormalität und um eine Flexibilisierung der Grenzziehung, die auch mit neuen Erwartungen an die Subjekte gemeinsam auftreten: Die zentrale Subjektivierungsmaßgabe ist immer weniger die der stabilen Zugehörigkeit zu vorab fixierten, normierten Statuspositionen, sondern die der individuellen Besonderheit, der flexiblen Orientierung und der eigenverantwortlichen Positionierung (Bröckling 2007; Sennett 1998). Damit gehen insbesondere für diejenigen, die von den stabilen Zugehörigkeiten des fordistischen Protonormalismus profitiert haben, neue Verunsicherungen einher. Soziale Kämpfe vormals ausgeschlossener Gruppen haben zu dieser Entwicklung ebenso beigetragen wie neu akzentuierte Verwertungsinteressen, die in der Krise des fordistischen Produktionsmodells wurzeln: Viele Frauen, bestimmte Migrant*innengruppen oder leistungsfähige Ältere finden vor diesem Hintergrund sukzessive Einlass in die durchlässiger gewordenen Zonen des ›Normalen‹, ohne dass deshalb Rassismus, Sexismus oder Altersdiskriminierung überwunden wären. Die häufig nostalgisch anmutende Verklärung des fordistischen Klassenkompromisses verkennt diese Ambivalenz: Sie blendet aus, dass das Sicherheitsversprechen der 1960er und 1970er Jahre lediglich für einen eingeschränkten Personenkreis galt und dass das eher starre lebensweltliche Korsett den subjektiven Autonomiebestrebungen und Entfaltungswünschen nicht weniger Menschen zuwiderlief. Tatsächlich wurden die fordistischen Produktions- und Sicherungsverhältnisse nicht nur ›von oben‹, sondern eben auch ›von unten‹ aufgebrochen. Dies ist sicherlich mit Blick auf Fragen der Emanzipation und Geschlechtergerechtigkeit am offensichtlichsten, aber es gibt anschauliche Beispiele darüber hinaus: So ist im Zuge eines gesundheitspolitischen Paradigmenwechsels, an dem alternative Gesundheitsbewegungen und die Anti-Psychiatriebewegung ihren Anteil hatten (vgl. Arbeitsgemeinschaft Sozialpolitischer Arbeitskreise 1978), an die Stel-

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le einer kategorialen Unterscheidung von gesund und krank beziehungsweise psychisch normal und deviant die Vorstellung eines zu bearbeitenden Kontinuums getreten. Die radikale räumliche Separierung von Menschen in Psychiatrien und geschlossenen Anstalten oder die Verbannung von Kindern in Sonderschulen waren auch räumlich Ausdruck klar markierter, wenig durchlässiger Normalitätsgrenzen im fordistischen Protonormalismus. Im Zuge von Inklusionsprogrammen, der schrittweisen Enttabuisierung von psychischen Leiden, ja dem Aufstieg des Burnouts zur allgegenwärtigen Diagnose in den Kernzonen der Leistungsgesellschaft (vgl. Graefe 2010) sind diese Grenzen zumindest in Bewegung geraten. Ähnliches gilt für die Rolle bestimmter Migrant*innengruppen im gesellschaftlichen Paradigmenwechsel von der »Ausländerpolitik« zur »Integrationspolitik«, der auch durch die »Selbsteingliederung« (Terkessidis 2001) sogenannter Gastarbeiter*innen forciert wurde: Die Grenzen der Zugehörigkeit sind infolgedessen insbesondere für hoch qualifizierte und/oder nach Jahrzehnten eingebürgerte Migrant*innen durchlässiger geworden als zu Zeiten des fordistischen »Gastarbeiterregimes«. Dabei erweist sich das Integrationsparadigma mit seinen flexibilisierten Einschlüssen als in hohem Maße anschlussfähig an die Prinzipien des aktivierenden Sozialstaats, der auf Eigenverantwortung bei gleichzeitiger Verschärfung von Kontroll- und Sanktionsinstrumenten setzt: Die Verantwortung für eine gelungene Integration – in ›Mehrheitskultur‹ und Arbeitsmarkt – wird unter Ausblendung gesellschaftlich-institutioneller Barrieren den adressierten Menschen mit Migrationshintergrund zugeschrieben. Die Kehrseite dieser flexibilisierten Integration stellen neue Ausschlüsse dar, so etwa die militärische Aufrüstung an den Außengrenzen der EU (vgl. Bojadžijev 2010: 301f.), wie auch die Definition eines transitorischen Status beziehungsweise die Verweigerung eines legalen Status für diejenigen Zugewanderten, die nicht als zu integrierende Subjekte adressiert werden: Menschen im Asylverfahren, Geduldete und Illegalisierte (vgl. Scherschel 2008; Schwenken 2008). Entscheidend ist – wie dieses Beispiel zeigt –, dass auch ein flexibler Normalismus ein Normalismus ist, und dass mit jeder Ausweitung des Normalitätsfeldes neue beziehungsweise andere Ausschlüsse aus dem Sozialen einhergehen. Konzeptionell schließt meine Problematisierung dessen an die poststrukturalistische Unterscheidung von Antagonismen im Sozialen und der Verwerfung aus dem Sozialen an: Damit wird systematisch zwischen den Fragen unterschieden, wer im gesellschaftlichen Spiel (wie) gewinnt und verliert und wem der Zugang zum Spiel grundsätzlich verwehrt ist, beziehungsweise wer Teil der nicht-intelligiblen, »der undenkbaren, verworfenen, nicht-lebbaren Körper« (Butler 1997: 16) ist.

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Flexibler Normalismus und die Sehnsucht nach dem fordistischen Protonormalismus Der Blick auf die Implikationen des flexiblen Normalismus der Gegenwart hilft, die Ambivalenz einer Entwicklung zu analysieren, die sich dadurch auszeichnet, nicht nur die disziplinierenden, engen Normalitätsgrenzen des fordistischen Protonormalismus zu sprengen, sondern im Zuge neoliberaler Re-Strukturierungen auch den im Rahmen dessen für einen substantiellen Bestandteil der Bevölkerung gewährleisteten sozialen Schutz zu erodieren. Tatsächlich nehmen im Zuge dieser Entwicklung nicht nur Armut, soziale Deprivation und Prekarität zu, sondern die Normalitätsgrenzen verschieben sich zulasten der von diesen Entwicklungen Betroffenen: Eine Jenaer Forscher*innengruppe hat in einer Studie zu Menschen im ALG-II-Bezug zeigen können, wie Hartz IV als kategoriale Klassifizierung3, ähnlich der Hautfarbe oder dem Geschlecht, funktioniert (vgl. Dörre 2014). Diese Klassifizierung haftet den als »Hartzern« identifizierten Menschen als Stigma an und versperrt den Weg zurück in die Normalitätszonen des Sozialen. Was wir hier vorfinden, ist eine kulturalistische Wendung des Klassenkonzepts, mit der nicht-intelligible, ›anormale‹ Subjekte hervorgebracht werden, die nicht nur weniger haben, sondern auch signifikant anders sind.4 Die Subjektivierungsmaßgabe des flexiblen Kapitalismus, die immer weniger auf vorab fixierte, normativ eng gefasste Statuspositionen zielt, kann gerade für diejenigen zum Abstiegs- und Denormalisierungsrisiko werden, die vormals durch die engen Grenzen des Protonormalismus geschützt waren. Jacques Donzelot hat diesbezüglich vom Phänomen der systematischen Erzeugung von »unnützen Normalen« (zitiert nach Castel 2001: 18) gesprochen, also vom Abstieg der prototypischen Sozialfiguren der Normalitätszonen in der gesellschaftlichen ›Mitte‹ – so des weißen, männlichen Facharbeiters oder Angestellten. Vor diesem Hintergrund gilt es nun, zwei Entwicklungen und ihre komplexe Verschränkung zu analysieren: einerseits die mit der flexiblen Normalisierung einhergehende Neuvermessung der Ränder der erweiterten Normalitätszonen, die über den Zugang zum Spiel entscheiden, und die für bestimmte Bevölkerungsgruppen beziehungsweise privilegierte Teile dieser Gruppen – zum Beispiel (hoch-)qualifizierte Frauen und Migrant*innen, leistungsfähige Ältere oder Behinderte – durchlässiger geworden sind; andererseits die eingangs skiz3 | Zum Unterschied kategorialer und gradueller Klassifizierungen vgl. Neckel (2003). 4 | Historisch betrachtet ist dieser Umschlag vom materiellen ›Weniger-haben‹ zum kulturalisierten Anderssein keineswegs neu: Seit dem frühen 19. Jahrhundert ist im USamerikanischen Kontext der Topos des white trash gebräuchlich, mit dem eine weiße Unterschicht beschrieben und zugleich als andersartig ›rassifiziert‹ wird (vgl. Wollrad 2008).

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zierte und von Link (1997) als »Denormalisierung« gerahmte, soziale Erschütterung und Entsicherung innerhalb dieser erweiterten Normalitätszonen. Diese Erschütterungen gehen für manche, wie die Studie zu Hartz-IV-Empfänger*innen zeigt, mit dem Abstieg aus den Normalitätszonen der gesellschaftlichen Mitte einher. Die beispielhaft skizzierten Formen radikaler Verwerfung – als Arme oder als Flüchtling – stellen dabei Außenpunkte eines Kontinuums von stratifizierter Integration und Verwerfung dar, das seine disziplinierende Kraft gerade aus der Flexibilität des Grenzziehungsmechanismus und der Entsicherung der Normalitätszonen schöpft. Wie verhalten sich nun die für bestimmte Bevölkerungsgruppen in Bewegung geratenen, flexibilisierten Randzonen des Sozialen zu Diagnosen der Exklusion und Entkoppelung von Menschen, die aus den vormaligen fordistischen Schutzzonen herausfallen? Wie greifen Prozesse der »flexiblen Normalisierung« im Sinne eines prekären Auf- beziehungsweise Einstiegs und diese sozialen Erschütterungen der Normalitätszonen beziehungsweise die mit ihnen verbundenen Abstiege ineinander?

D ie M it te und ihr ›A nderes ‹ Das Ineinandergreifen der flexibilisierten Randzonen des Sozialen und die damit einhergehende Neu-Bestimmung dessen, was als gesellschaftliche Mitte gelebt und gelesen wird, ist bislang nur unzureichend analysiert worden. Diese Leerstelle ist gegenwärtig von besonderer Brisanz, werden die skizzierten Entwicklungen doch angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen in ein allzu einfaches Bedingungsverhältnis gesetzt: Dass der aktuelle Rechtsruck eine ökonomische Notwehr der im Neoliberalismus Abgehängten sei, die zugunsten der Anliegen von Frauen, Migrant*innen, Homosexuellen und anderen gesellschaftlichen Minderheiten jahrzehntelang vernachlässigt worden seien, ist derzeit eine der prominentesten Deutungen der politisch neuen Lage (vgl. zum Beispiel Fraser 2017, Hochschild 2016). Dieser Begründungszusammenhang setzt auf eine pauschale Entgegensetzung sozialer und identitätspolitischer Anliegen sowie deren Rückbindung an bestimmte Bevölkerungsgruppen – soziale Anliegen/weiße Männer, identitätspolitische Anliegen/Frauen, Migrant*innen, Homosexuelle (vgl. kritisch Dowling et al. 2017: 416ff.) – und wird damit der Komplexität der gegenwärtigen soziopolitischen Konstellationen nicht ansatzweise gerecht. Auch wenn Erhebungen darauf hindeuten, dass Arbeiter*innen und Arbeitslose leicht überdurchschnittlich häufig rechte Parteien wählen, spricht die sozialstrukturelle Heterogenität der Wähler*innen rechter Parteien (vgl. zum Beispiel Inglehardt/Norris 2016; Eversberg 2017) empirisch doch gegen eine einfache Notwehr der Abgehängten als zentrales Erklärungsmuster. Cornelia Koppetsch (2017) merkt demgegenüber an, dass der Aufstieg rechtspopu-

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listischer Parteien vielmehr durch »Macht und Geltungseinbußen spezifischer Gruppen in der Mittelschicht« zu erklären sei. Wenn wir außerdem berücksichtigen, dass eine wachsende Polarisierung der Mitte zu verzeichnen ist, an deren unterem Ende sich Abstiege häufen, während in der oberen Mitte – der Beständigkeit der sozialen Lage zum Trotz – die Unruhe wächst (Nachtwey 2016: 151f.), gelingt ein differenzierterer Blick auf die Mitte und ihr Anderes in Zeiten der erstarkenden Rechten: Viele, die vom fordistischen Klassenkompromiss und den damit verbundenen Schutzzonen profitiert haben, erleben im Kontext der neoliberalen Entsicherung und Prekarisierung reale materielle Verschlechterungen und soziale Abstiege (Nachtwey 2016: 119-180). Die von Jacques Donzelot identifizierten »unnützen Normalen«, die wir eher an den unteren Rändern der Mitte finden dürften, verkörpern ebenso wie zahlreiche ökonomisch etablierte, durch diese Entwicklung gleichwohl verunsicherte Mittelschichtsangehörige protonormalistische Standards des fordistischen Kapitalismus, die sie unter den neoliberal strukturierten Bedingungen flexibler Normalisierung nicht mehr per se (das heißt qua ständischer Dividende weißer Männlichkeit) im Spiel halten. Die prominente Gegenwartsdiagnose der ökonomischen Notwehr der neoliberal De-Klassierten, die sich erst im zweiten Schritt – und in Ermangelung linker Angebote – nach rechts wenden würden, verkennt in dieser Entwicklung einen wesentlichen Punkt: dass der fordistische Protonormalismus nicht nur sozialen Schutz und Sicherheit für viele geboten hat, sondern zugleich einen sexistisch und rassistisch exklusiven Klassenkompromiss begründete, der die Normalitätsgrenzen zugunsten weißer, heterosexueller Männlichkeit sehr eng gesteckt hat. Der gegenwärtig erstarkende Anti-Feminismus, Traditionalismus und Rassismus ist deshalb nicht ›nur‹ das unschöne Gewand eines eigentlich berechtigten sozialen Begehrens, sondern entspringt einer Sehnsucht nach den eng gesteckten Normalitätszonen und Lebensführungsmustern der fordistischen Ära – und ist damit zugleich beredter Ausdruck der schwindenden Hegemonie dieses Normalitätsverständnisses. Zu beobachten ist eine – veränderten gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen geschuldete – gesellschaftliche Neuverhandlung, wie der leere Signifikant ›Mitte‹ unter flexibel-normalistischen Bedingungen mit Inhalt gefüllt wird. Davon profitieren vor allem jene, die die Ressourcen mitbringen, den flexibilisierten Subjektivierungsmaßgaben zu entsprechen, während ihre vormals ständisch geprägte, protonormalistische Exklusion an Bedeutung verliert – was zum Beispiel für leistungsfähige junge Alte oder für qualifizierte Frauen gelten dürfte (vgl. van Dyk 2013). Dass nicht nur in der alltagsweltlichen und politischen, sondern auch in der wissenschaftlichen Deutung dieser Entwicklung immer häufiger der Eindruck entsteht, weiße, männliche Industriearbeiter, Prekäre und/oder Arbeitslose (das diesbezügliche Subjekt changiert) seien die neue Gruppe der

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Vergessenen und Benachteiligten, hat wesentlich damit zu tun, dass nicht zwischen den Antagonismen und Ungleichheiten im Sozialen und den radikalen Verwerfungen aus dem Sozialen unterschieden wird: Denn mit der partiellen Überwindung solcher Verwerfungen durch flexibilisierte Einstiege in die durchlässiger werdenden Normalitätszonen der gesellschaftlichen Mitte sind rassistische und sexistische Diskriminierungen keineswegs Geschichte, und jede Statistik zum Gender Pay Gap oder zur Sozialstruktur von Führungspositionen zeigt, dass Prozesse flexibler Normalisierung mit großen Ungleichheiten einhergehen. Auch wenn diese Normalisierungsprozesse für die genannten ressourcenstarken Gruppen unter den vormals Ausgeschlossenen mit realen sozialen Aufstiegen verbunden sein können, sind es häufig gerade diejenigen, die erst sukzessive Zugang zu den Normalitätszonen gefunden haben, die aufgrund ihrer sozialen Verwundbarkeit – zum Beispiel als Migrantin oder als alleinerziehende Mutter – in besonderer Weise von Politiken der Entsicherung und Ausbeutung betroffen sind (Haubner 2017). Der Umstand, dass diese Erfahrungen für sie weniger neu sind als für die männlich-autochthonen Normalarbeitskräfte der fordistischen Ära (Aulenbacher et al. 2007), sollte nicht dazu führen, ihnen erneut die Sichtbarkeit zu versagen oder sie gar pauschal zu Profiteur*innen des neoliberalen Kapitalismus zu erklären. In Anbetracht des empirisch gut belegten Umstandes, dass Ethnizität und Geschlecht in allen europäischen und nordamerikanischen Ländern weiterhin sichere Indikatoren für geringeres Einkommen und Vermögen sind, verbietet es sich, geschlechts- und ethnizitätsbezogene Anliegen als identitätspolitische Kämpfe kurzzuschließen und den sozialen Anliegen der im Neoliberalismus Deklassierten entgegenzustellen (vgl. zum Beispiel Lilla 2017; Baron 2016). Zugleich verkennen diejenigen, die im gegenwärtigen Rechtsruck ausschließlich oder vor allem eine (derart eng geführte) soziale Frage sehen, einen wesentlichen Punkt: dass es derzeit eben nicht nur um Verteilungsfragen des Mehr oder Weniger, sondern auch um die Frage geht, wer überhaupt ein ›normales‹ Subjekt der gesellschaftlichen ›Mitte‹ sein darf – und dass mit dieser Frage Rassismus, Sexismus und Homophobie als eigenständige gesellschaftliche Widersprüche hervortreten. Die zunehmende soziale Polarisierung der Mitte hat schließlich zur Folge, dass diese, protonormalistische Exklusivitäten wiederbelebende, Re-Definition von Norm und Mitte nicht unangefochten bleibt. So ist die prominente These von der ökonomischen Notwehr der Abgehängten und Armen auch ein Modus der Mittelschichtsentlastung: Wider den empirisch gut dokumentierten sexistischen, rassistischen und/oder chauvinistischen Einstellungen in der »enthemmte[n] Mitte« (Decker et al. 2016) werden die entsprechenden Entwicklungen und Positionen aus der Mitte verwiesen und an die unteren Ränder des Sozialen als ›Anderem‹ der als politisch gemäßigt implizierten Mitte delegiert (vgl. Nandi 2016). Umgekehrt adressiert die auf rechter Seite einflussreiche

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Eliten- und Establishment-Kritik (vgl. Bauman 2017) zunehmend Teile der bildungsnahen, liberalen Mitte und etabliert damit nach Jahren der im Neoliberalismus dominanten Abgrenzung der Mitte nach unten (vgl. zum ›Unterschichtsdiskurs‹ von Lucke 2009), ein neues ›Anderes‹: Die vermeintlichen Eliten (die nicht selten prekäre Journalist*innen oder Wissenschaftler*innen mit schlecht bezahlten Lehraufträgen sind) werden dabei weniger als Verantwortliche für eine neoliberale Sozial- und Wirtschaftspolitik adressiert denn als Verbündete (vormals) marginalisierter Gruppen, als Vertreter*innen von Gleichstellungs- oder Integrationspolitiken.5 Neu an dieser Entwicklung ist, dass die Identifikation und Definition dessen, was als das Andere der ›Mitte‹ fungiert, nach Jahren der neoliberalen Hegemonie zunehmend von rechts herausgefordert wird – und dass diese Kritik darauf zielt, die sogenannten »unnützen Normalen« (Donzelot, zitiert nach Castel 2001: 18) zulasten der flexibel Normalisierten und ihrer vermeintlichen Fürsprecher*innen in den gesellschaftlichen Eliten zu rehabilitieren.

F a zit Anders als viele politische, mediale und wissenschaftliche Kommentator*innen nahelegen, sollte die gegenwärtige Rechtswende in Anbetracht ihres komplexen Bedingungsgefüges nicht auf eine soziale Notwehr der sogenannten unteren Schichten verengt werden. Nicht nur die Sozialstruktur der Wähler*innen rechter Parteien weist weit darüber hinaus in die Mitte der Gesellschaft; vielmehr stehen die flexibel erweiterten Normalitätsmuster und Normalisierungsmodi der gesellschaftlichen ›Mitte‹ selbst zur Disposition, werden sie doch aus unterschiedlichen Richtungen und Perspektiven herausgefordert. Die lange Zeit unhinterfragte Normalität einer nicht als Position, sondern als Allgemeines begriffenen Lebenslage wird poröser, ohne deshalb ihre strukturierende Wirkung eingebüßt zu haben. Poststrukturalistisch-diskurstheoretische Konzepte wie das des leeren Signifikanten (Ernesto Laclau) oder des flexiblen Normalismus (Jürgen Link) stellen wertvolle analytische Werkzeuge dar, um diese Re-Justierungen der Mitte im flexiblen Kapitalismus der Gegenwart samt der Herausforderungen von rechts in den Blick zu bekommen. Dass sich Theoretiker*innen aus dem poststrukturalistisch-diskurstheoretischen Feld bis heute nur wenig mit Fragen der politischen Ökonomie oder der sozialen Ungleichheit befasst haben, bedeutet gerade nicht, dass dieses theoretische Feld keinen Beitrag zur 5 | Georg Seeßlen (2017: 119) hat für die USA darauf hingewiesen, dass sich die Wähler*innen Trumps nicht per se gegen das sogenannte Establishment gestellt, sondern dass sie sich mit der ökonomischen Elite gegen die politische und intellektuelle Elite verbunden haben.

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Beantwortung eben dieser Fragen leisten kann. Die Frage, was als ›normal‹ gilt und was für wahr gehalten wird – und welche Machtimplikationen und Verwerfungen diese Setzungen zeitigen –, hat unter den Bedingungen des flexiblen Normalismus nicht an Aktualität und Dringlichkeit eingebüßt – sie ist im Lichte protonormalistischer, nach rechts gewendeter Sehnsüchte nach einer verloren geglaubten Normalität sogar drängender denn je.

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Rechtspopulistische Mittelschichten als Gefährder gesellschaftlicher Ordnung Eine theoretische Skizze 1 Uwe Schimank

In den 1950er Jahren sprach Helmut Schelsky von Westdeutschland als »nivellierter Mittelstandsgesellschaft«.2 Die Pyramide als Versinnbildlichung der gesellschaftlichen Ungleichheitsstruktur wich dem sogenannten »ZwiebelModell« (Bolte et al. 1967: 316) – ähnlich wie auch in anderen entwickelten westlichen Gesellschaften. Diesem sozialstrukturellen Umbau korrespondierte, dass die »Mitte« nunmehr als wichtigster gesellschaftlicher Ordnungsgarant eingestuft wurde. Der »Mythos vom segensreichen Wirken der Mittelschicht« (Knöbl 2017) war geboren. Sie hatte die sozialstrukturellen Extreme weitgehend in sich aufgesogen und ihre Lebensführung avancierte zur kulturell hegemonialen, die von der soziologischen Modernisierungstheorie für den weltweiten Export durch westliche Entwicklungspolitik auf bereitet wurde. In nicht wenigen Ländern des Globalen Südens, in Afrika ebenso wie in den Schwellenländern China und Indien, setzt man seitdem und heute mehr denn je entsprechend große Hoffnungen in die wachsende »Mitte«, wenn diese dort auch immer noch viel kleiner ist als in den entwickelten westlichen Ländern. Hierzulande bieten Teile der Mittelschichten inzwischen ein ganz anderes Bild. Sie sind nicht länger Garanten, sondern Gefährder gesellschaftlicher Ordnung. Der in vielen Ländern West-, Mittel- und Nordeuropas wie auch in den USA heftig aufflammende Rechtspopulismus wird, anders als man zunächst annahm, keineswegs nur von gesellschaftlich »abgehängten« Teilen der Unterschichten getragen. Nicht nur als Wortführer, auch als aktivierte Massenbasis treten Mittelschichtsangehörige auf. Sie verstehen sich freilich

1 | Für hilfreiche Kommentare danke ich Nils Kumkar, für sorgfältiges Korrekturlesen Mareike Müller-Scheffsky. 2 | Zur Darstellung und Wirkungsgeschichte von Schelskys These siehe Braun (1989).

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nicht als Ordnungsgefährder – ganz im Gegenteil! Sie wollen die »gute« gesellschaftliche Ordnung wiederherstellen: • gegen das politische »Establishment«, von dem sie sich vernachlässigt und geradezu verraten fühlen; • gegen die »Lügenpresse«, die die »Wahrheit« über den Gesellschaftszustand verheimliche und übertünche; • gegen die »Linken« und »Linksliberalen«, denen die »Verhätschelung« einer nach oben offenen Zahl von Geschlechtsidentitäten durch Bereitstellung entsprechend unterteilter öffentlicher Toilettenanlagen3 wichtiger sei als der Erhalt von Arbeitsplätzen in den durch die Weltmarktkonkurrenz bedrohten heimischen Industrien und die Pflege der deutschen »Leitkultur«; • und gegen Migranten aus islamischen Ländern, insbesondere Flüchtlinge, die als »Schmarotzer« des Sozialstaats Gelder und Leistungen »nachgeschmissen« bekämen, die deutschen Arbeitslosen schikanös verwehrt würden. Ganz neu ist es nicht, dass sich Teile der »Mitte« so aufführen. Am Ende der Weimarer Republik diagnostizierte Theodor Geiger (1930) eine zunehmende »Panik im Mittelstand« als lärmendste Manifestation »eines Volkes, das den Kopf verloren hat« (Geiger 1930: 649). Er attestierte den beiden Hauptfraktionen der »Mitte«, dem »Alten Mittelstand« von kleinen selbständigen Bauern, Handwerkern und Geschäftsleuten sowie dem »Neuen Mittelstand« der Angestellten das Fehlen »einer Kollektivideologie, die der Schichtlage adäquat ist« (Geiger 1930: 649). Sie bewegten sich Geiger (1930: 643-647) zufolge in einer »Zone der ideologischen Verwirrung«. Der »Alte Mittelstand« kultiviere eine »zeit-inadäquate Ideologie«, die früher einmal zu seiner sozialen Lage passte, der aber nun gesellschaftliche Wandlungen in Richtung eines großindustriell organisierten Kapitalismus die Grundlage entzogen hätten; und der »Neue Mittelstand« hege »standort-inadäquate Ideologien«, weil er anstelle kollektiver Interessenpolitik individualistischen Aufstiegsillusionen – mit einer bürgerlichen Lebensweise als Traumvorstellung – anhinge. Geigers These, dass diese beiden Fraktionen der damaligen Mittelschichten den Aufstieg des Nationalsozialismus entscheidend beförderten, ist insofern zu relativieren, als auch größere Teile der Arbeiterschaft Anfang der 1930er Jahre zur NSDAP umschwenkten (Wehler 2003: 322-323). Dennoch leistete die »Mitte« damals einen gewichtigen Beitrag zur Zerstörung der etablierten gesellschaftlichen Ordnung. Doch gerade weil die Mittelschichten da3 | Siehe zu dieser Arabeske Jens Jessens (2016) Kommentar zum rot-rot-grünen Koalitionsvertrag im Land Berlin.

Rechtspopulistische Mittelschichten als Gefährder gesellschaf tlicher Ordnung

nach, in der Geschichte der Bundesrepublik, ein halbes Jahrhundert lang ein völlig anderes Gesicht zeigten und als mäßigende, befriedende, »konstruktive« gesellschaftliche Kraft so vertraut und pflegeleicht daherkamen, sind wir nun umso ungläubiger, wenn auf einmal wieder nicht ganz wenige Mittelschichts­ angehörige Rabatz machen und überaus destruktive Neigungen bis hin zur »gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« (Heitmeyer 1997a, 1997b) – in Teilen auch nicht mehr nur verbal – ausleben. Deutschland war zwar, was den Rechtspopulismus als eine national bedeutsame politische Kraft anbelangt, bis vor kurzem ein Nachzügler hinter anderen europäischen Ländern wie Frankreich, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz, Ungarn oder Polen – ganz zu schweigen vom mächtigsten Land der Welt, den USA, nach der TrumpWahl! Doch die jüngsten Bundestagswahlerfolge der »Alternative für Deutschland« (AfD) haben den Rechtspopulismus endgültig aus der Schmuddelecke auf die Berliner Bühne des politischen Geschehens befördert. Was ist hier los? Und was kann noch kommen? Könnte sich gar unter ungünstigen Umständen eine im genauen Sinne des Wortes grässliche Geschichte wiederholen? Erst ganz allmählich lösen sich hierzulande wie andernorts die sozialwissenschaftlichen Beobachter aus ihrer Schockstarre und beginnen, endlich genauer hin- statt pikiert bis angeekelt wegzusehen. Längst nicht alle Fragen, zu denen Antworten gefunden werden müssen, sind bereits gestellt; und die Antwortversuche widersprechen einander noch an vielen Stellen. In diese unentschiedene, aber nun wenigstens in Gang gekommene sozialwissenschaftliche Diskussion über die »große Regression« 4 will ich im Folgenden einen – in Vielem selbst da, wo Befunde und Überlegungen Anderer aufgegriffen werden, noch sehr spekulativen – konzeptionellen Beitrag einbringen. Von zahlreichen Sonderfaktoren, die in den verschiedenen Ländern eine oftmals gewichtige Rolle spielen, abstrahierend, skizziere ich ein generelles theoretisches Modell der rechtspopulistischen Mittelschichten in ihrer Konstellation mit anderen Mittelschichtsfraktionen und weiteren sozialen Lagen. Selbst wenn dieses Modell die weitere Diskussion nur in dem Sinne befruchten sollte, dass es zur Widerlegung und zur Konstruktion eines besseren Alternativmodells provoziert, hätte es seine Schuldigkeit getan. Ich gehe bei der Explikation des Modells in zwei Schritten vor. In einem ersten Schritt unterscheide ich vier Fraktionen der Mittelschichten nach ihrer Ausstattung mit ökonomischem und kulturellem Kapital. Im zweiten Schritt lasse ich diese Fraktionen sozusagen aufeinander los, analysiere also die Dynamiken, die sich aus der Konstellation, mithin den Wechselwirkungen dieser vier Fraktionen ergeben. Als Zeitrahmen dafür muss man den sich wandelnden gesellschaftlichen Kontext vom Mitte der 1970er Jahre endenden »golden 4 | So der Titel einer kürzlich erschienenen Sammlung von Beiträgen (Geiselberger 2017), die auch meine Überlegungen in verschiedenen Hinsichten angeregt haben.

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age« (Hobsbawn 1995: 324-362) bis zu den heutigen unruhigen Zeiten anschauen.

V ier F r ak tionen der M it telschichten Mittelschichten zeichnen sich insgesamt gegenüber anderen sozialen Lagen dadurch aus, dass ihnen eine mittlere Ausstattung mit ökonomischem Kapital – Arbeitseinkommen und Vermögen – und mit kulturellem Kapital in Gestalt von Bildungszertifikaten ermöglicht und nahelegt, eine berufszentrierte Lebensführung der investiven Statusarbeit zu betreiben, also nach beständiger Statusverbesserung zu streben oder, in ungünstigen Zeiten, zumindest den Statuserhalt zu sichern (Groh-Samberg et al. 2014; Schimank et al. 2014; Mau et al. 2018). Die soziale Lage der Mittelschichten ist zwischen einem Von-derHand-in-den-Mund-Leben auf der einen Seite, wie es in erheblichem Maße den Unterschichten auferlegt ist, und einem »sorglosen Reichtum« (Groh-Samberg 2009) und Schwelgen im ungefährdeten Luxus auf der anderen Seite, dem sich die Oberschichten hingeben können,5 positioniert. Mittelschichtsangehörige können nicht nur in Ausnahmefällen sozial ab- oder aufsteigen, sondern sowohl Abwärts- wie Aufwärtsmobilität sind realistische Möglichkeiten. Plakativ zugespitzt: Mittelschichtsangehörige können etwas gewinnen, haben aber auch etwas zu verlieren, während Unterschichtsangehörige kaum Aussichten darauf haben, auf die Gewinnerseite zu gelangen, und Oberschichtsangehörige kaum damit rechnen müssen, sich auf der Verliererseite wiederzufinden. Diese inhärent ambivalente Lebenslage lässt vielen Mittelschichtsangehörigen ein vorsichtiges und beharrliches Immer-Wieder-Investieren ihres ökonomischen und kulturellen Kapitals geraten erscheinen, um es möglichst zu mehren und eine potentielle Entwertung aufgrund Inaktivität zu verhindern. Ökonomisches Kapital wird so eingesetzt, dass etwa das eigene Geschäft, das Aktiendepot oder der Immobilienbesitz ausgebaut wird; kulturelles Kapital wird mit Blick auf berufliche Verwertbarkeit und Karriere sowie alltägliche Distinktion aktuell gehalten und erweitert, vor allem durch die Wahrnehmung von Weiterbildungsangeboten und die Pflege kultureller Interessen. Im Rahmen dieses Lebensführungsmodus und der ihn nahelegenden mittleren Kapitalausstattung kann man dann analytisch vier Fraktionen der Mittelschichten unter Zugrundelegung von Pierre Bourdieus (1982 [1979]) zwei Determinanten der sozialen Lage einer Person unterscheiden: Dominiert in ihrer Kapitalausstattung – sowohl faktisch als auch mentalitätsprägend – das ökonomische oder das kulturelle Kapital? Und verfügt die Person im Rahmen 5 | Was sie freilich zumeist nicht tun. Die meisten führen ein Leben, als ob sie Mittelschichtsangehörige wären.

Rechtspopulistische Mittelschichten als Gefährder gesellschaf tlicher Ordnung

des Mittelschichtenspektrums über ein größeres oder ein geringeres Volumen des jeweiligen Kapitals? Alle vier Fraktionen finden sich historisch bis heute in immer neuen Ausprägungen. Fraktion I – Dominanz ökonomischen Kapitals, größeres Volumen: Dies ist diejenige Fraktion, die im 19. Jahrhundert dasjenige Segment des Wirtschaftsbürgertums bildete, das nicht zur Oberschicht der Reichen gehörte. Heute besteht es unter anderem aus kleineren Unternehmern oder dem mittleren Management größerer Unternehmen – als Teil der oberen Mittelschicht mit fließendem Übergang zu den Oberschichten. Fraktion II – Dominanz ökonomischen Kapitals, geringeres Volumen: Hierzu zählen das Kleinbürgertum oder der »Alte Mittelstand« einschließlich der mittleren Beamten; seit dem Ende des 19. Jahrhunderts sind kaufmännische und technische mittlere Angestellte hinzugekommen. Diese Fraktion findet sich in der mittleren und unteren Mittelschicht. Das berufliche Ethos beider auf das ökonomische Kapital fixierter Fraktionen ist das »Schaffen« – sei es unternehmerisch als Einfallsreichtum des »schöpferischen Zerstörers« (Schumpeter 1950 [1942]), sei es als fleißige und beflissene Organisationskarriere. Die inhärent angelegten devianten Subgruppen beider Fraktionen sind die »Hasardeure« der heutigen »Erfolgsgesellschaft« (Neckel 2008), die »Alles oder Nichts« riskieren, sowie diejenigen, in deren Lebensführung sich der »demonstrative Konsum« im Protzen verselbständigt – wobei dieselbe Person beiden Subgruppen zugleich angehören kann. Für beide Fraktionen war kulturelles Kapital in Gestalt gehobener Bildungszertifikate lange Zeit entbehrlich; ihre Angehörigen konnten sich im Extremfall sogar als »self-made men« oder Ungelernte hocharbeiten. Im Laufe der Zeit sind dann Bildungszertifikate als Berufszugänge – und soziale Schließungen – zunehmend in Richtung eines utilitaristischen Bildungsverständnisses instrumentalisiert worden. Es geht also nicht um »Bildung« im humanistischen Sinne, sondern um verwertbare Ausbildung – neuerdings als »employability« tituliert. Fraktion III – Dominanz kulturellen Kapitals, größeres Volumen: Dies sind das Bildungsbürgertum und dessen heutige Nachfahren wie Professoren oder Gymnasiallehrer sowie – sofern nicht in Fraktion I abgewandert – die traditionellen akademischen freien Berufe wie Rechtsanwälte oder Ärzte. Fraktion III gehört zur mittleren Mittelschicht. Wenn die Dominanz kulturellen Kapitals – zumindest in der Karriere-Endstufe – mit gehobenem ökonomischen Kapital einhergeht, ragt diese Fraktion in die obere Mittelschicht hinein. Fraktion IV – Dominanz kulturellen Kapitals, geringeres Volumen: Hier ist das Gros der Lehr- und Sozial- sowie Medienberufe (Journalisten, Verlage, Kreativbranche) einzuordnen. Die jüngeren Kohorten besitzen fast durchgängig akademische Bildungsabschlüsse; diese sind jedoch niedriger – häufig nur Ba-

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chelorabschlüsse – und angesichts der Bildungsexpansion weniger wert oder weniger prestigeträchtig als in der Fraktion III und werden beruflich weniger gut verwertet und nicht so kontinuierlich erneuert und erweitert wie in Fraktion III. Mit geringerem kulturellen geht oft auch geringeres ökonomisches Kapital einher, was teilweise mit befristeten Arbeitsverhältnissen zusammenhängt und teilweise bis in eine prekäre Freiberuflichkeit reicht. Damit gehört Fraktion IV, wie Fraktion II, der mittleren oder unteren Mittelschicht an. Das berufliche Ethos der Fraktionen III und IV ist stärker »Selbstentfaltung« durch Bildung, was dann oft auch in Lehre, Beratung, Journalismus oder Kreativität an andere weitergegeben wird. Es besteht jeweils ein Überschuss des intrinsischen Werts des kulturellen Kapitals über dessen utilitaristische Nutzung für Karrierezwecke hinaus; und das ökonomische Kapital wird als Sicherheitsgrundlage der Lebensführung und nicht als Zielgröße selbstzweckhafter Steigerung betrachtet. Die inhärent angelegten devianten Subgruppen beider Fraktionen sind zum einen eine hedonistische Bohème, etwa die Hippies Ende der 1960er Jahre, zum anderen Gegenkulturen mit einem politisch-moralischen Sendungsbewusstsein wie das in den 1970er Jahren aufkommende »linksalternative« Milieu (Reichardt 2014). Keine dieser vier Fraktionen muss als jeweilige Gesamtheit und allzeit – mit Karl Marx’ Unterscheidung formuliert – eine »Klasse für sich« sein, also ein kollektives Bewusstsein geteilter Interessen haben; auch als »Klasse an sich« kann eine Fraktion durch massenhaftes gleichartiges Handeln – unter anderem an der Wahlurne – in der Summe weitreichende gesellschaftliche Wirkungen hervorbringen.

M ultiple und wechselseitige I rritationen Ich will nun diese Typologie heranziehen, um derzeitige individuelle Ungleichheitserfahrungen und kollektive Ungleichheitskonflikte in den Mittelschichten analysieren zu können – mit besonderem Blick auf das Aufkommen rechtspopulistischer Deutungen gesellschaftlichen Geschehens. Dafür genügt es nicht, nur die vier Mittelschichtsfraktionen in ihrem Wechselspiel zu betrachten; auch die Unter- und Oberschichten gehören zur Gesamtkonstellation dazu. Blickt man kurz zurück ins »golden age«,6 erkennt man eine Konstellation der friedlichen Koexistenz. Das »golden age« war zwar einerseits exzeptionell in dem Sinne, dass eine so lange Phase stetigen hohen Wirtschaftswachstums in der Geschichte des modernen Kapitalismus eher selten vorgekommen ist; andererseits stand es in der Kontinuität des gesamten 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts insofern, als die Reduktion von Ein6 | Siehe dazu nur die griffige Darstellung von Oliver Nachtwey (2016: 17-41).

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kommensungleichheiten klar im Vordergrund der Kämpfe um Ungleichheiten stand. Später kam die vorgelagerte Ungleichheit im Zugang zu Bildungschancen hinzu, was aber auf gleicher Linie blieb; denn Bildung wurde vor allem als Chance gesehen, Berufe ergreifen zu können, in denen man besser verdiente. Im »golden age« konnten alle vier Fraktionen der Mittelschichten in einem weitgehend harmonischen Gleichklang erfolgreich investive Statusarbeit betreiben. Soziale Aufstiege fanden in großer Zahl statt – und zwar nicht derart, dass Aufstiege der Einen zu Abstiegen Anderer führten, sondern eine pyramidale Ungleichheitsstruktur transformierte sich, wie schon erwähnt, in eine zwiebelförmige: Die mittleren Ränge nahmen stark zu, die unteren verringerten sich. Dieser weitreichende sozialstrukturelle Wandel als Manifestation massenhafter erfolgreicher investiver Statusarbeit beruhte darauf, dass das Wirtschaftswachstum neben Vollbeschäftigung und guten beruflichen Karrierechancen auch einen großzügigen Ausbau des »Wohlfahrtsstaats der Mittelschichten« (Hilpert 2012) ermöglichte, der sowohl reaktiv Sicherheit bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter als auch proaktiv Bildungschancen anbot. Eine enge Verknüpfung von Bildungsanstrengungen, Arbeitsmarktchancen und beruflichem Einkommen wurde so geschaffen, die dem Einzelnen versprach, eigene Leistung lohne sich. Mit Blick auf gesellschaftliche Ordnung stellte sich eine wechselseitige Stabilisierung ein: Wirtschaftliche Prosperität ermöglichte demokratische Wohlfahrtsstaatlichkeit und beides begünstigte investive Statusarbeit; umgekehrt sicherte die wohlfahrtsstaatlich und wirtschaftlich ermöglichte erfolgreiche investive Statusarbeit Massenloyalität für Demokratie und Kapitalismus. Das hat sich seit Mitte der 1970er Jahre grundlegend gewandelt. Ausgeprägte Wachstumsgesellschaften sind zu Niedrigwachstumsgesellschaften geworden (Mau et al. 2018) – mit einem deutlich geringeren und vor allem unsteten, nicht über längere Zeit verlässlichen Wirtschaftswachstum und entsprechenden Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sowie die Finanzierung des Wohlfahrtsstaats, der gleichzeitig aufgrund gestiegener Arbeitslosenzahlen erhöht in Anspruch genommen worden ist. Die Aufstiegsmobilität ist zurückgegangen, Bildungsanstrengungen werfen geringere und weniger sichere Renditen ab als zuvor. Parallel zu folgenreichen gesellschaftlichen Strukturveränderungen – Stichworte: Globalisierung, Ökonomisierung, Digitalisierung – kamen kulturelle Triebkräfte des gesellschaftlichen Wandels auf, die ursprünglich gerade aus der wechselseitigen Stabilisierung von Kapitalismus, Wohlfahrtsstaat und investiver Statusarbeit hervorgegangen waren und diese Stabilisierung in der Folgezeit sozusagen von innen heraus ein ganzes Stück weit durch Überdehnung aufgelöst haben. Ein Selbstentzug der kulturellen Geschäftsgrundlage des »golden age« fand statt, insbesondere durch die Bildungsexpansion seit den 1960er Jahren, die einen sowohl in die Breite als auch in die Tiefe

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gehenden Individualisierungsschub ausgelöst hat. Eine steigende Anzahl von Menschen hat in einem längeren Lebensabschnitt als zuvor anspruchsvollere Bildungserfahrungen gemacht und damit sowohl eine »Auszeit« für Selbstreflexion als auch dazu inspirierende Wissensangebote erhalten. Die Abkehr von der »konformistischen« Lebensführung der Eltern konnte zu einer zeitweiligen oder sogar dauerhaften Abwendung von investiver Statusarbeit und Hinwendung zu hedonistischen oder politisch engagierten Lebensentwürfen führen; und der »Fahrstuhleffekt« (Beck 1986: 122) der allgemeinen Wohlstandssteigerung induzierte einen postmaterialistischen Wertewandel (Inglehart 1977), der dann hinsichtlich zentraler Anliegen auch durch aufkommende »Neue soziale Bewegungen« politisch repräsentiert wurde. Die ökonomischen und kulturellen gesellschaftlichen Dynamiken verliefen in engen Wechselwirkungen miteinander, wie insbesondere Luc Boltanski und Ève Chiapello (2003 [1999]) aufzeigen. Der kreativ-kritische kulturelle Grundimpetus der Individualisierung wurde im »neuen Geist des Kapitalismus« der »postindustriellen Ökonomie« (Reckwitz 2017: 111-179) für vielfältige Arten von Produkt- und Prozessinnovationen profitabel gemacht. Vor diesem Hintergrund hat sich seit Mitte der 1970er Jahre bis heute ein Szenenwechsel im Schauspiel gesellschaftlicher Ungleichheiten vollzogen, der als Drama in drei Akten rekonstruiert werden kann – mit der eingeführten Besetzung in Gestalt der vier Mittelschichtsfraktionen sowie weiteren tragenden Rollen.

Erster Akt: »Bühne frei für multiple Identitätis!« In der Spätphase des »golden age« ab Ende der 1960er Jahre wurden zum einen ökonomische Ungleichheiten trotz manchen Theaterdonners der Gewerkschaften vergleichsweise konfliktfrei verhandelt, sodass große Teile der Unterschichten und die Fraktion II der Mittelschichten durch den »Fahrstuhleffekt« und Aufstiegschancen – wenn nicht unmittelbar für sie selbst, dann aufgrund der Bildungsexpansion für ihre Kinder in Aussicht gestellt – zufriedengestellt wurden. Sogar für Teile der Unterschichten wurde investive Statusarbeit erfolgversprechend möglich. Zum anderen brachte die Individualisierung eine gesteigerte Sensibilität für kulturelle Ungleichheiten in Gestalt von Diskriminierungen hervor, die verschiedene Ausprägungen von »spoiled identity« (Goffman 1963) als Abweichungen von einer »Normalidentität« betrafen – wobei diese kulturellen »Ich-du-Ungleichheiten« (Mau 2016) teils ökonomische Folgen oder Ursachen hatten, dies aber nicht in jedem Fall so war. Dass die ökonomischen Ungleichheiten gleichsam die Bühne räumten, machte diese jedenfalls frei für die Thematisierung solcher kultureller Ungleichheiten. Die größte gesellschaftliche Gruppe mit einer »beschädigten Identität«, die Hälfte der Bevölkerung, waren die Frauen. Eine Frau konnte bis dahin einen karriereorientierten Mann heiraten, um an investiver Statusarbeit teilzuhaben

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und ihren Lebensstandard zu verbessern; ihre Chancen, durch eigene Bildungsanstrengungen und berufliche Arbeit investive Statusarbeit zu betreiben, waren hingegen nicht sehr gut. Neben solchen ökonomischen Benachteiligungen gab es vielfältige kulturelle Zurücksetzungen und gegen beides wurden nun Forderungen nach Chancengleichheit laut, die schnell auf breiter Front Unterstützung fanden. Weitere Gruppen mit »beschädigten Identitäten« begannen, auch durch das Vorbild der Frauen ermutigt, sich zu artikulieren – etwa die Schwulen und Lesben, bei denen oft kaum ökonomische Schlechterstellungen oder Benachteiligungen bei der beruflichen investiven Statusarbeit vorlagen. Man konnte schwul sein und eine erfolgreiche Karriere in der Ministerialverwaltung machen, wobei man Ersteres besser verheimlichte – solange Sexualität zwischen Personen gleichen Geschlechts noch kriminalisiert war, sowieso, danach aber immer noch, um sich im Alltag vor spöttischen Anzüglichkeiten und moralischen Anfeindungen zu schützen. Man konnte auch eine dunkle Hautfarbe haben, aus einem nicht-christlichen Land wie zum Beispiel Tunesien kommen und, wenn auch mit Startschwierigkeiten, eine gut laufende Arztpraxis aufbauen; aber man hatte bei begehrten Mietwohnungen das Nachsehen und die eigenen Kinder fanden in der Nachbarschaft nicht so leicht Freunde. Man konnte behindert sein und vielfältige institutionalisierte Hilfe erfahren, sich jedoch in vielen Zusammenhängen ausgegrenzt oder sogar gehänselt fühlen. Und man konnte ein langhaariger, Sex nicht nur zur Fortpflanzung praktizierender, »wilde« Rockmusik hörender und einen hedonistischen Lebensstil propagierender junger Mann sein und wollte trotz dieser zumindest lebensabschnittsbezogenen Verweigerung investiver Statusarbeit von den gesellschaftlichen »Autoritäten«, angefangen bei den eigenen Eltern, ernstgenommen und nicht verunglimpft, beschimpft oder verteufelt werden. All diese und weitere Gruppen begehrten also gegen den Konformitätsdruck des »Normalismus« (Link 1997) auf, der viele Arten von Abweichung, unter anderem von investiver Statusarbeit als Lebensführungsmodus, durch Nicht-Anerkennung und – immer wieder auch ökonomische – Diskriminierung in eine gesellschaftliche Schlechterstellung ummünzte. Trägergruppen dieses Auf begehrens – als selbst Betroffene oder mitfühlende Unterstützer – haben sich vor allem in den Fraktionen III und IV der Mittelschichten gefunden, also bei denjenigen, die durch eine Dominanz kulturellen Kapitals gekennzeichnet sind. Seit den 1970er Jahren hat so eine längst weit über die »Neuen sozialen Bewegungen« und die »Grünen« hinausreichende »Identitätspolitik« einen »Marsch durch die Institutionen« angetreten, der sich in vielfältigen Maßnahmen des »gender mainstreaming« und der Förderung von »diversity« sowie in einem menschenrechtlichen Kosmopolitismus, insbesondere angesichts der zahlreichen Flüchtlinge aus Kriegs- und Elendsgebieten des Globalen Südens, manifestiert hat. Jeder Teilerfolg läuft auf eine graduelle Re-Normalisierung

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von »beschädigten Identitäten« hinaus – genauer: auf eine Aufhebung des Unterschieds von »beschädigter« und »normaler« Identität. All diese kulturellen Besserstellungen von Menschen mit »beschädigten Identitäten« bedeuten oft auch ökonomische Besserstellungen einschließlich verbesserter Chancen für investive Statusarbeit. Dies wurde von der Mittelschichtsfraktion II – also denjenigen, die durch eine Dominanz ökonomischen Kapitals, das sie aber in eher geringem Maße besitzen – zunächst geduldet, solange ihre eigene investive Statusarbeit weiterhin gut lief. Allenfalls wurde immer mal wieder etwas spöttisch kommentiert, ob denn bestimmte Maßnahmen nicht doch ein bisschen viel Aufwand und Kosten für nicht gerade »Lebenswichtiges« wie eine geschlechtergerechte Sprache in amtlichen Formularen oder für Spezialanliegen kleiner Gruppen wären – siehe nochmals die öffentlichen Toiletten für dritte und weitere Geschlechtszugehörigkeiten. Aber man fügte sich der neuen kulturellen Hegemonie einer Beseitigung des »Normalismus«, weil es eben für einen selbst eine »Niedrigkostensituation« (Zintl 1989) – insbesondere auch ökonomisch – war.

Zweiter Akt: »Am Gelde hängt, zum Gelde drängt…« Die Rückkehr ökonomischer »Oben-unten-Ungleichheiten« (Mau 2016) erlebten die Unterschichten spätestens seit den frühen 1980er Jahren, größere Teile der Mittelschichten dann verstärkt seit den 1990er Jahren – vor allem in den Fraktionen II und IV aufgrund ihrer jeweils geringeren Ausstattungen mit ökonomischem beziehungsweise kulturellem Kapital oder sogar beidem.7 Die erworbenen Bildungsabschlüsse bahnen nicht länger den Zugang zu versprochenen Karrieren oder schützen nicht vor beruflichen Abstiegen; das eigene Einkommen und Vermögen wächst nicht mehr oder nicht genug, um die aus der Vergangenheit gewohnte Steigerung des Lebensstandards fortzusetzen; vielleicht muss dieser sogar reduziert werden; und selbst wenn man sich weiterhin alles leisten kann wie zuvor, hegt man doch Ängste, ob das so weitergehen wird und ob auch die eigenen Kinder es – wie man bislang erwartet hatte – durch investive Statusarbeit wieder ein Stück weiter bringen und besser haben werden als man selbst.8 Ein wiederholt auch durch sozialwissenschaftliche Untersuchungen befeuerter öffentlicher Diskurs über die »verunsicherte« oder gar »schrumpfende Mitte« kam auf (siehe für Deutschland etwa HerbertQuandt-Stiftung 2007; Vogel 2009, 2011; Heinze 2011; Burkhardt et al. 2012; Mau 2012; Koppetsch 2013; Schimank et al. 2014).

7 | Siehe nur Branko Milanović (2016: 55-126) zur sich verschärfenden ökonomischen Ungleichheit in den Ländern des entwickelten Westens. 8 | Siehe auch Heinz Budes (2014) Überlegungen zur »Gesellschaft der Angst«.

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Ursächlich für solche Erfahrungen oder Befürchtungen sind hauptsächlich die schon angedeuteten ökonomischen Veränderungen gewesen. Verstärkend wirkte dann aber, dass eine zunächst von Teilen der wirtschaftlichen und politischen Elite propagierte »neoliberale Wende«, die wirtschafts-, sozial- und finanzpolitisch vorangetrieben wurde, erst von den Oberschichten und der Mittelschichtsfraktion I übernommen wurde, um dann sogar das Gesellschaftsbild einiger Teilgruppen der Fraktionen III und vor allem noch IV, kaum hingegen der Fraktion II zu prägen. Wenn im »golden age« große Teile der Mittelschichten vom Ausbau des Wohlfahrtsstaats profitiert hatten: Wieso wenden sich nun nicht wenige derer von ihm ab – bis hin zu Haltungen der Steuerverweigerung, die in den USA die »tea party«-Bewegung verkörpert (Hochschild 2016; Kumkar 2018) – oder verlangen einen radikalen Umbau des wohlfahrtsstaatlichen Leistungsangebots in Richtung einer Aktivierung der vermeintlich »Faulen«, die es sich angeblich in der »sozialen Hängematte« bequem gemacht haben? Diese »neoliberale Komplizenschaft« (Nachtwey 2016: 78) geht auf mehrere Beweggründe zurück, die teils zusammen und teils alternativ wirken: • Mittelschichtsangehörige können, erstens, der »neoliberalen« Propaganda auf den Leim gehen, die Selbstbestimmung – als Kernelement von Individualismus und damit auch von investiver Statusarbeit – gegen das wohlfahrtsstaatliche »sozial-bürokratische Gehäuse aus Standardisierungen, Normierungen und Homogenisierungen« (Nachtwey 2016: 80; Hervorhebung weggelassen) setzt. »Freiheit statt Sozialismus« war im Jahr 1976 eine Wahlkampfparole der CDU, die auf genau diese Ängste anspielte; und Jürgen Habermas’ (1981) These der »Kolonialisierung der Lebenswelt« nicht nur durch die kapitalistische Ökonomie, sondern eben auch durch einen die Lebensführung angeblich durchregulierenden Wohlfahrtsstaat war die linke Version derselben Diagnose. Dass eine Selbstauslieferung an den kapitalistischen Markt diese Freiheitsberaubung beendet, bleibt eine zwar abenteuerliche, gleichwohl gezogene Schlussfolgerung. • Mittelschichtsangehörige können, zweitens, zunehmend Zweifel daran bekommen, dass die Kosten-Nutzen-Bilanz des Wohlfahrtsstaats für sie persönlich noch stimmt, wenn dessen Leistungsproduktion in quantitativer und qualitativer Hinsicht nicht mehr genug für ihre investive Statusarbeit bietet. Ökonomisierungsdruck verknappt und verschlechtert, was zum Beispiel Krankenhäuser, Museen oder Schulen anbieten. Wenn dann noch ein immer größerer Anteil der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen für Arbeitslosen- und Sozialhilfe an diese »nicht verdienende« Unterschichtsgruppen oder gar an Migranten bis hin zu »Wohlfahrts-Schmarotzern« aus anderen EU-Ländern zu gehen scheint, fühlt man sich als Beitragszahler ausgenutzt (Mewes/Mau 2013).

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• Mittelschichtsangehörige können nicht nur zunehmend unzufrieden mit vielen Angeboten des Wohlfahrtsstaats sein, sondern, drittens, auch bessere Angebote jenseits des Wohlfahrtsstaats sehen – etwa Privatschulen für ihre Kinder oder private Altersvorsorge durch Finanzmarktinvestitionen. Wenn sie überdies über das Geld verfügen, um sich zumindest manches davon leisten zu können, kommen sie schnell auf den Geschmack: Wenn sie weniger Steuern zahlen müssten, wäre noch mehr drin (Mau 2015)! Zwar spricht einiges dafür, dass diese Mittelschichtsangehörigen in den allermeisten Fällen die eigene »Staatsbedürftigkeit« (Vogel 2007) unterschätzen: Doch solange sie sich dieser Täuschung hingeben, handeln sie entsprechend auch gegen die wirklichen eigenen Interessen. Das hohe Lied des Individuums dürfte in den Mittelschichtsfraktionen I, III und IV als Identitätsbestätigung gleichermaßen angekommen sein – doch wie sieht es um die Interessen an wohlfahrtsstaatlichen Leistungen aus? Am geringsten ist die »Staatsbedürftigkeit« von Angehörigen der Fraktion I als der gut bis sehr gut verdienenden und oft zugleich vermögenden oberen Mittelschichten. Sie können aus ihrer Interessenlage heraus also am ehesten in Richtung »tax revolt« neigen. In der Fraktion III, oftmals Staatsdiener, dürfte das schon auf weniger Personen zutreffen. Die unteren Mittelschichten, die sich in den Fraktionen II und IV finden, sind sich der »Staatsbedürftigkeit« ihrer investiven Statusarbeit normalerweise sehr bewusst und folglich wenig aufgeschlossen für »neoliberale« Ideen. Hin- und hergerissen können die Angehörigen der mittleren Mittelschichten sein, die sich in den oberen Segmenten dieser beiden Fraktionen sowie im unteren Segment von Fraktion III finden. Wenn ihre tatsächlichen Interessen oder auch Selbsttäuschungen in Richtung eines Rückbaus von Wohlfahrtsstaatlichkeit weisen, können die mittleren Mittelschichten den »Neoliberalismus« mehrheitsfähig machen (Mau 2015); andernfalls können sie ihn verhindern. Sie, zusammen mit wenigen sich selbst täuschenden Angehörigen der unteren Mittelschichten, können also das Zünglein an der Waage sein. Aus ihrer Interessenlage heraus ziehen die unteren Mittelschichten – wie die Unterschichten – sowie, aber eben hin- und herschwankend, die mittleren Mittelschichten hierzulande nicht so einfach den Schluss, Wohlfahrtsstaatlichkeit abzubauen.9 Ihr Rezept für die »Wiedergewinnung des Alten« (Reckwitz 2016) als Basis investiver Statusarbeit lautet vielmehr: soziale Schließung – in den folgenden sozial- und wirtschaftspolitischen Hinsichten:

9 | Das ist teilweise in den USA mit ihrer generell anti-etatistischen politischen Kultur anders, wie Arlie Hochschild (2016) an den Anhängern der »tea party«-Bewegung zeigt.

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• Einer »Anspruchsinflation« (Luhmann 1981, 1983) an den Wohlfahrtsstaat durch »maßlose« Forderungen im Namen von »Identitätspolitiken« müsse Einhalt geboten werden. »Spezialinteressen« etwa von Behinderten oder Schwulen dürften nicht länger zulasten der »breiten Mehrheit« der Bevölkerung verfolgt werden. • Eine Migration »Fremder« mit kostspieligen Bedürftigkeiten – wie Asylanten und Flüchtlinge – in »unseren« Wohlfahrtsstaat müsse gestoppt werden.10 Allenfalls solche Migranten, die beruflich benötigt werden und gute Steuerzahler sind, sollen zugelassen werden – sofern sie sich in die hiesige »Leitkultur« einfügen. • Ein »exit« heimischer Unternehmen mit den dazugehörigen Arbeitsplatzverlusten müsse verhindert werden – durch entsprechende Verbote oder, wenn das nicht geht, durch Anreize zum Hierbleiben in Gestalt großzügiger Subventionen. • Korrespondierend dazu müsse ein Markteintritt ausländischer Unternehmen, die die heimischen preislich unterbieten und damit die hiesigen Arbeitsplätze gefährden, unterbunden werden. Das gilt auch für illegale Kleinunternehmer wie etwa den oft herbeizitierten »schwarzarbeitenden polnischen Elektriker«. Die Topoi dürften allesamt bekannt sein. Was resultiert nun, wenn solche Haltungen mit einer unbeirrten Weiterverfolgung von »Identitätspolitiken« auf derselben Bühne aufeinandertreffen?

Dritter Akt: »Ungeheuer, uner wartet…« Diese Konfrontation ergibt offenbar eine explosive Mischung. Zwei »Rechtfertigungsordnungen«11 prallen aufeinander. Die eine ist von verschiedenen Beobachtern als »kosmopolitisch« und »individualistisch« charakterisiert worden, die andere als »demarkationistisch« und »kommunitaristisch«.12 Der entscheidende Unterschied beider »Rechtfertigungsordnungen« lässt sich ab­ strakt mit einem Konzept von Orrin Klapp (1978) als das für wünschenswert gehaltene Ausmaß an Öffnung beziehungsweise Schließung des gesellschaftlichen 10 | Steffen Mau (2016) spricht hier von »Wir-sie-Ungleichheiten«. 11 | Um die treffende Begriffsprägung von Luc Boltanski und Laurent Thevenot (2007 [1991]) zu übernehmen. 12 | Ich kann die verschiedenen Vorschläge zur typologischen Unterscheidung und Benennung hier nicht im Detail gegeneinanderstellen – siehe vor allem Hanspeter Kriesi et al. (2008) mit »integrationist« versus »demarcationist«, Wolfgang Merkel (2017) mit »Kosmopolitismus« versus »Kommunitarismus« sowie Andreas Reckwitz (2017: 371423) mit »differenziellem Liberalismus« versus »Kulturessenzialismus«.

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Zusammenlebens bestimmen13 – und zwar vor allem in zwei Hinsichten: zum einen räumlich, zum anderen auf die Lebensführung bezogen. Räumlich geht es darum, wie selektiv die Grenzen des Nationalstaats als Abschirmfilter gegenüber ökonomischen und kulturellen Einwirkungen von außen installiert werden sollen; und bezüglich der Lebensführung dreht es sich um das Ausmaß an innerhalb dieser Grenzen koexistierender Pluralität und Individualität. Wo die Einen – in den Kategorien von Klapp – ein »good opening« des Neuen und Bereichernden zusätzlicher Optionen sehen, fühlen sich die Anderen umgekehrt einem »bad opening« von Verunsicherungen, Anomie und Zu-kurzKommen ausgesetzt; und wo Letztere stattdessen wieder ein »good closing« der Überschaubarkeit, Verlässlichkeit und Gemeinschaftlichkeit – kurz: der Wiederbelebung von Ligaturen als zweiter Komponente von Lebenschancen (Dahrendorf 1979) – anmahnen, wittern Erstere ein »bad closing« ewiggestriger Spießigkeit und Langeweile. Erstgenannte »Rechtfertigungsordnung« wird – so die für einen ersten Zugriff ausreichende sozialstrukturelle Verortung von Andreas Reckwitz (2017: 273-370)14 – von der »neuen Mittelklasse« vertreten, deren Angehörige »über ein hohes kulturelles Kapital von meist akademischen Bildungsabschlüssen verfügen und im Feld der Wissens- und Kulturökonomie arbeiten«, mit dem »kreativen Milieu« als Kern (Reckwitz 2017: 274).15 Es handelt sich also um die Fraktionen III und IV sowie um einen Teil der Fraktion I. Letztgenannte »Rechtfertigungsordnung« hält hingegen die »alte, im Kern nichtakademische Mittelklasse« (Reckwitz 2017: 281; Hervorhebung weggelassen) – die Fraktion II und der andere Teil von Fraktion I – gemeinsam mit den »respektablen«, nicht »abgehängten« Teilen der »Unterklasse« hoch. Sowohl die »neue« als auch die »alte Mittelklasse« machen für Reckwitz jeweils rund ein Drittel der Bevölkerung aus, das übrige Drittel ist – neben einer verschwindend geringen »Oberklasse« – die »Unterklasse«. Zuerst wurde von sozialwissenschaftlichen Beobachtern, Journalisten und Politikern gleichermaßen gemutmaßt, dass der Rechtspopulismus vor allem von »abgehängten« Unterschichten getragen würde.16 Doch abgesehen von der 13 | Ganz ähnlich auch Reckwitz (2017: 414). Klapps weithin vergessene Überlegungen diagnostizierten für die USA Ende der 1970er Jahre eine tiefe kulturelle Zerrissenheit nach der Erschütterung der mittelschichtsgeprägten Lebensweise durch die hedonistischen und postmaterialistischen Gegenkulturen, die Ende der 1960er Jahre vor allem die Jugend anzogen. 14 | Eine genauere Analyse müsste sehr viel differenzierter ausfallen. 15 | Elizabeth Currid-Halkett (2017) spricht von der »aspirational class«. 16 | Siehe etwa die journalistische Reportage von Caterina Loebenstein (2017) über die Wahlerfolge der AfD in der stark von der Demontage der ostdeutschen Industrie gebeutelten »Arbeiterstadt Bitterfeld«.

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historischen Erfahrung, dass das »Lumpenproletariat« sehr selten revolutionär, sondern zumeist apathisch-fatalistisch auftritt, höchstens mal für ein paar Stunden blindwütig auf den Putz haut, sieht man empirisch sehr schnell, dass weder die Trump-Wähler in den USA noch die Anhänger des Front National in Frankreich noch die Wähler der AfD in größerer Zahl aus dieser sozialen Lage stammen. »It’s not the economy, stupid!« betiteln Hanna Schwander und Philip Manow (2017) ihre Analyse der Wahlerfolge der AfD in den letzten Jahren.17 Nachdem man sich klargemacht hatte, dass dieser erste Deutungsversuch nicht trägt, geht ein zweiter, derzeit viel diskutierter Deutungsversuch ins andere Extrem: Nicht die ökonomisch »Abgehängten« oder zumindest Verunsicherten, sondern die kulturell »Abgehängten« tendieren zum Rechtspopulismus.18 Die oben umrissene zweite »Rechtfertigungsordnung« ist demzufolge kein ideologischer »Überbau« ökonomischer Interessenlagen, sondern spiegelt genuin kulturelle Deutungsmuster, von religiösen Orientierungen bis hin zu einer – worauf auch immer zurückzuführenden – regionalen »tradition of radical right wing voting« (Schwander/Manow 2017: 1) wider. In der Tat können kulturelle Orientierungen für sich genommen wirkmächtig sein. Wer zum Beispiel Schwule oder syrische Migranten nicht mag, muss diese Antipathie aus keinerlei ökonomisch motivierten Interessen an sozialer Schließung bestimmter Einkommens- und Karrierechancen hegen. Es gibt viele andere Gründe für eine solche Haltung, die neben personenspezifischen »schlechten Erfahrungen« – wer auch immer daran »Schuld« haben mag – eben auch ganz unspezifisch in dem Sinne sein können, dass ein bestimmtes Ausmaß an Öffnung einfach nur die persönliche kognitive, normative und evaluative Toleranzschwelle in Richtung »bad opening« überschreitet, also das Fass zum Überlaufen bringt. Noch genereller kann es um »Sehnsucht nach Respekt« für die eigene Lebensweise gehen, wie es Harald Martenstein (2016) plastisch zum Ausdruck bringt: »Die Leute sind es […] nur satt, dass ihre Lebensweise, dieses traditionelle, langweilige und ehrbare Mittelklasseleben, im Fernsehen, in den Zeitungen, in den Reden der Politiker, in den Romanen und im Kabarett fast nur noch als rückständiges Auslaufmodell vorkommt«. Oder sogar als Lachnummer! Dennoch dürften rechtspopulistische Haltungen in vielen Fällen nicht völlig unabhängig von der ökonomischen Lage der betreffenden Personen sein. Allenfalls ganz anders motivierte ideologische Wortführer sind oftmals weder objektiv noch in ihrer subjektiven Wahrnehmung von einer nationalstaatlichen und lebensführungsbezogenen Öffnung betroffen; bei den Anderen dürfte 17 | Holger Lengfeld (2017) zeigt dasselbe mit anderen Daten auf. 18 | Für die Trump-Wähler in den USA siehe Ronald Inglehart und Pippa Norris (2016 – Zitat: 14), die von einer »cultural counter-reaction to the silent revolution« des postmaterialistischen Wertewandels sprechen.

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wohl schon irgendeine Art von perzipierter ökonomischer »Hochkostensituation« (Zintl 1989) hinter ihrem Rechtspopulismus stecken. Man könnte eine reflexive Verunsicherung vermuten: Aktuell ist man selbst nicht ökonomisch verunsichert – doch man ist dahingehend verunsichert, dass man zukünftig verunsichert sein könnte. Man hat also derzeit keine nennenswerten ökonomischen Sorgen und kriegt investive Statusarbeit weiterhin ganz passabel hin; wenn man aber in die eigene Zukunft und – mehr noch – in die der eigenen Kinder blickt, kann man nicht mehr ausschließen, dass sich am Horizont dunkle Wolken zusammenbrauen könnten: »wenn das so weitergeht«.19 Als Plausibilisierung dieser Befürchtungen dienen oft Andere, deren ökonomische Lage sich, manchmal urplötzlich und unversehens, drastisch verschlechtert hat – im je eigenen Umfeld, aber auch in größerer räumlicher oder sozialer Distanz. Angesichts solcher Erfahrungen, die man selbst nicht machen möchte, stellt man sich dann auf den Standpunkt: Wehret den Anfängen! Nils Kumkar (2015: 134) spricht von »Enttäuschung ohne Desillusionierung«, also einem trotzigen Festhalten an einem normativen Erwartungsstil, der die Zukunftserwartungen nicht lernbereit anpasst, sondern darauf besteht, dass sich umgekehrt gefälligst die Realitäten dem anpassen, was man sich für sein Leben und das der eigenen Kinder als »gutes Recht« erwartet.20 Es könnte sich somit um einen vielfach durchaus ökonomisch grundierten »Kulturkampf« (Bax 2017) handeln.21 Genauer lautet die zu prüfende Vermutung: Für die Mittelschichtsfraktion III, für einen Teil von Fraktion I und manchmal auch für Fraktion IV geht es, auch ohne damit verbundene ausgeprägte ökonomische Interessen, um missbilligte kulturelle Schlechterstellungen – zumeist Anderer; aber Fraktion II zieht genau diese Unterschiede heran, um die eigene kulturelle Besserstellung abzusichern – oftmals auch für die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung einer langfristigen Sicherheit der eigenen Chancen weiterer investiver Statusarbeit. Fraktion II verlangt in diesem Sinne inzwischen rabiat, dass ab jetzt »wir« »normalen« »Deutschen« wieder dran seien – und zwar auf Dauer! 19 | Was in vielen von Hochschild (2016) wiedergegebenen Äußerungen ihrer Gesprächspartner zum Ausdruck kommt, aber durch – schwache – Korrelationen von rechtspopulistischen Meinungs-Items mit standardisiert erhobenen Variablen wie Einkommenshöhe und bekundeter aktueller Verunsicherung nicht zu greifen ist. Hier wären erst einmal qualitativ vorgehende Klärungen des komplizierten Ineinandergreifens von Einstellungen und Praktiken auf der einen mit Einschätzungen der längerfristigen eigenen ökonomischen Perspektiven auf der anderen Seite erforderlich, auf deren Basis dann zielgerichtetere standardisierte Untersuchungen vorgenommen werden könnten. 20 | Zur Unterscheidung normativer und kognitiver Erwartungen siehe Luhmann (1972: 40-64). 21 | So auch Kumkar (2018) zur »tea party«-Bewegung.

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Diese Forderung macht unmissverständlich klar: Gegen ökonomisches Kapital und gegen kulturelles Kapital in Gestalt formeller Bildungsabschlüsse wird, falls beides nicht ausreicht, eine ganz andere Art kulturellen Erbes in Anschlag gebracht: die Zugehörigkeit zum – in diesem Fall – »deutschen Volk«. Letztere ist nicht erworben: Man hat sie qua Geburt, und keiner kann sie einem nehmen. Auf dieser Grundlage kann man dann beklagen, dass der vorherrschende »Multikulturalismus« die tradierte nationale Kultur infrage gestellt, verhöhnt oder sogar abgeschafft habe, die daher unverzüglich und vollinhaltlich zu rehabilitieren sei. Die Mehrheit der sich als »deutsch« verstehenden Unterschichtsangehörigen dürfte diese Forderung teilen; auf jeden Fall hängt nur eine kleine Minderheit von ihnen der »kosmopolitisch«individualistischen »Rechtfertigungsordnung« des »good opening« an. Damit dürfte Letztere in der Gesamtbevölkerung eine klare Minderheitenposition von höchstens einem Drittel ausmachen, während der größte Teil der anderen zwei Drittel die »kommunitaristisch«-»demarkationistische« »Rechtfertigungsordnung« hochhält. Und inzwischen wagt man es zunehmend auch, das entgegen der »political correctness« auszusprechen. Selbst wenn man – wozu es gar keiner normativen Bewertung bedarf – die Forderung eines Rückbaus von Globalisierung und Individualisierung als vollkommen realitätsblind einstuft: Weil ihr massive und immer wieder ausgesprochen hässliche und beklemmende gesellschaftliche Wirkungen entspringen, sollte man den Anlässen nachgehen, warum eigentlich ganz gesittete Menschen plötzlich individuell und vor allem kollektiv Amok laufen. Geigers »Panik im Mittelstand« scheint in der Tat zurückgekehrt zu sein – und das ist besorgniserregend, wenn man sich anschaut, wozu sie schon einmal geführt hat.

V erständigungsorientierte G espr ächsbereitschaf t Was also tun? Als Umgangsweise mit dem Rechtspopulismus wurde zunächst vor allem peinlich berührtes Schweigen und dann Totschweigen praktiziert, bis sich das nicht länger durchhalten ließ. Es folgten Versuche der Eindämmung mit rechtlichen und polizeilichen Mitteln, wo man dafür Handhaben fand und findet, sowie Bemühungen der pädagogischen Beeinflussung, die sich aber mit geringem Erfolg nur auf kleinere Teilpopulationen wie etwa straffällig gewordene rechtsextremistische Jugendliche beschränken. Schließlich hat man in verschiedenen Arten von Veranstaltungen öffentliche Gegenmobilisierung betrieben, um den Rechtspopulisten wie auch sich selbst zu demonstrieren, dass ihre Sicht der Dinge nicht unwidersprochen bleibt und nach wie vor nicht mehrheitsfähig ist.

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All diese dem Schweigen und Totschweigen folgenden Aktivitäten sind geboten. Doch sie setzen bislang das Schweigen durch eine eisern befolgte Gesprächsverweigerung fort, die im Übrigen auch dann wortreich betrieben wird, wenn man in Talkshows – vom journalistischen Unterhaltungsimperativ instrumentalisiert – übereinander herzieht.22 Ich will zum Schluss zu bedenken geben, dass diese Gesprächsverweigerung erkennbar nichts bringt, sondern die Fronten nur weiter zementiert – und dass sie eigentlich auch gar nicht nötig sein dürfte, wenn man Arlie Hochschilds (2016) sensible Porträts von Rechtspopulisten auf sich wirken lässt. In ihrer großen Mehrheit dürften es – noch! – keine völlig unbelehrbaren »Dumpf backen« sein; die Gesprächsverweigerung der »anständigen Deutschen« ihnen gegenüber könnte allerdings aus Verwirrungen und Verirrungen, die sich gesprächsweise aufklären ließen, früher oder später eine sich selbst erfüllende Prophezeiung hervorbringen. Stattdessen sollte man so schnell wie möglich ernsthaft ausprobieren, auf allen Ebenen und in allen möglichen Kontexten geduldig und verständigungsorientiert ins Gespräch miteinander zu kommen23 und dabei darauf zu achten, nicht den Eindruck zu erwecken, kommunikativ auszuspielen, dass man aufgrund akademischer Bildung sowieso besser argumentieren kann als die andere Seite – was ihr nur den Vorwand böte, sich einem solchen ungleichen Rededuell zu verweigern. Verständigungsorientierung beinhaltet – auf der Grundlage wechselseitiger Wertschätzung und kommunikativer »Achtsamkeit« (Weick/Sutcliffe 2003), was beides wechselseitiges Vertrauen stärkt – Empathie im Sinne eines nicht bloß strategischen, sondern die eigenen Deutungen und Intentionen kommunikativ zur Disposition stellenden Nachvollzugs der Positionen und Argumente der je anderen Seite. Die Offenheit dafür, voneinander lernen zu können, beinhaltet die Selbstkritik angesichts der unangenehmen Frage, was einem die anderen eigentlich vorwerfen. Mit Hochschild (2016: 5) geht es darum, »empathy walls« zu überwinden, die »an obstacle to deep understanding of another person, one that can make us feel indifferent or even hostile to those who hold different beliefs«, bilden. Solch verständigungsorientiertes Reden miteinander kann durchaus als einseitiges Angebot beginnen, woraus sich dann aber eine wechselseitige gemeinsame Lernbereitschaft ergeben muss.24 22 | Für Wolfgang Streeck (2017) hat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel eine ganz besondere Art der Gesprächsverweigerung kultiviert, indem sie politische Richtungsauseinandersetzungen generell abblockt und damit am Ende unter anderem die AfD groß gemacht hat. 23 | Auf der Linie dessen, was Arthur Benz (1994: 112-148) als »verständigungsorientiertes Verhandeln« charakterisiert. 24 | Wohlgemerkt wechselseitig! Wobei ich in dieser Kürze nicht hinzuschreiben wage, was vielleicht an unserem Umgang mit Flüchtlingen, Migranten, Behinderten, Frauen

Rechtspopulistische Mittelschichten als Gefährder gesellschaf tlicher Ordnung

Das klingt in der Kürze eines formelhaften Merkpostens zugegeben salbungsvoll-therapeutisch, ist aber nüchtern-pragmatisch gemeint. Hier ist nicht der Ort, und ich bin nicht der Richtige, um die zweifellos komplizierten Modalitäten und Bedingungen des Wie eines solchen Ins-Gespräch-miteinanderKommens näher zu klären.25 Auch ohne eine solche Klärung muss man davon ausgehen, dass keine Erfolgsgarantie gegeben werden kann. Aber sollte man deshalb erst gar nicht mehr versuchen, an die Rechtspopulisten heranzutreten? Man soll die Hoffnung nicht aufgeben! Aus so manchen ähnlich verbohrten K-Gruppen-Doktrinären der späten 1970er Jahre sind bekanntlich noch respektable demokratische Politiker geworden.

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etc. überdacht werden könnte, weil ich mir todsichere strategische Missverständnisse durch »Gutmenschen« ersparen will. 25 | Stephan Lessenich (2017) kritisiert zu Recht einen Leitfaden »Mit Rechten reden«, der es sich eindeutig viel zu einfach macht.

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Befindlichkeiten und Handhabungen

Klassen und Klassifikationen Symbolische Grenzziehungen in der deutschen Ungleichheitsstruktur Patrick Sachweh, Sarah Lenz und Debora Eicher

1. S oziale U ngleichheiten aus der I nnenperspek tive Wer legt fest, was soziale Ungleichheit ist? In der Soziologie lassen sich zwei Zugänge zu Antworten auf diese Frage ausfindig machen: Zum einen finden wir die in der soziologischen Ungleichheitsforschung dominierende Außenperspektive vor, die Menschen anhand ihrer Ausstattung mit bestimmten Gütern, Handlungsressourcen und -restriktionen (Rössel 2009) betrachtet, klassifiziert und in Gruppen – etwa Klassen oder Schichten – einteilt. Ausschlaggebend für diese Einteilungen sind theoretisch abgeleitete Definitionen und Indikatoren, über die in der Forschungsgemeinschaft mehr oder weniger Konsens besteht. Zum anderen widmet sich ein zweiter Zugang der Innenperspektive, die danach fragt, wie Menschen aus unterschiedlichen sozialen Gruppen ihre Lage selbst wahrnehmen und wie sie sich oder andere klassifizieren. Diese zweite Perspektive bietet die Chance, Theorien, Definitionen und Indikatoren zur Erfassung sozialer Ungleichheit mit dem Alltagsempfinden der Menschen abzugleichen; theoretische Konstrukte können so erweitert, weiterentwickelt oder verworfen werden. Eine solche mikrosoziologische Innenperspektive steht im Zentrum unseres Beitrags, in dem wir die sozialen Selbstbilder unterer, mittlerer und oberer sozialer Klassen in Deutschland skizzieren. Die Erforschung sozialer Ungleichheit aus einer solchen Innenperspektive steht auch im Kontext einer subjektorientierten Sozialstrukturanalyse. Diese reicht von (manchen) Klassentheorien über die Milieu- und Lebensstilforschung bis hin zur Auseinandersetzung mit symbolischen Grenzen (Sachweh 2013). In Deutschland hat besonders die Milieu- und Lebensstilforschung versucht, Klassifizierungsmerkmale zu finden, die näher an der Alltagsrealität der Menschen sind. So wurden dort Menschen etwa anhand ihrer Wertorientierungen,

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Patrick Sachweh, Sarah Lenz und Debora Eicher

Einstellungen, kulturellen Präferenzen, Freizeitaktivitäten und Konsummuster zu sozialen Milieus oder Lebensstilgruppen zusammenfasst (Hartmann 1999; Müller 1989; Otte 2004, 2005; Schulze 1992; Vester et al. 2001). Doch obwohl hier subjektive Merkmale stärker berücksichtigt werden als bei Klassen- und Schichtkonzepten, erfolgt die Klassifizierung primär aus der Perspektive des Forschers. Die Frage, ob und wie sich die Menschen selbst anhand der genannten Merkmale beschreiben und von anderen abgrenzen, bleibt auch in diesen Ansätzen weitestgehend offen. Aus ungleichheitssoziologischer Perspektive ist eine Auseinandersetzung mit subjektiven Klassifizierungen und Klassifikationsprozessen deshalb unerlässlich. Zur Annäherung an diese subjektive Dimension stützen wir unsere Analysen auf das Konzept der »symbolischen Grenzziehungen« im Anschluss an Michèle Lamont (1992, 2000). Durch symbolische Grenzziehungen findet die Objektivität ungleicher sozialer Lagen und Lebensverhältnisse Eingang ins Alltagsbewusstsein der Menschen. Die Art und Weise, wie wir uns mit wem identifizieren, und wie wir uns von wem abgrenzen, grundiert den Ein- oder Ausschluss bestimmter Personen. Klassifikationen beeinflussen dann kleine Alltagssituationen wie die Frage, neben wen wir uns in der U-Bahn setzen, und äußern sich in Entscheidungen, wie sie sich beispielsweise bei der Wahl der Schulen unserer Kinder stellen oder welchem Bewerber wir einen Job anbieten (vgl. hierzu Riach/Rich 2002; Bertrand/Mullainathan 2004; Fryer/Levitt 2004). Klassifikationen legitimieren Argumente für oder gegen politische Interventionen; sie entscheiden über die Wertigkeit einer Person im Sozialhilfebezug ebenso wie über die Legitimität eines Bonus, den ein Investmentbanker bezieht. Kurz: Symbolische Grenzziehungen wandeln Ungleichartigkeit in Ungleichwertigkeit um.

2. D ie B edeutung symbolischer G renz ziehungen für die S ozialstruk tur Einen wichtigen Ausgangspunkt für die Untersuchung von Klassifikationsmustern und -prozessen zwischen ungleich gestellten Personengruppen stellen die Arbeiten Pierre Bourdieus (1982, 1992) dar. Mit seinem Konzept der »Distinktion« räumt Bourdieu dem Streben nach Abgrenzung einen zentralen theoretischen Stellenwert ein. In seinen empirischen Studien verbindet er die Ebene der Struktur, das heißt die objektive soziale Stellung eines Individuums, mit der Ebene der Symbolik, die durch die individuellen Wahrnehmungen und Bewertungen von Personen gekennzeichnet ist. Obwohl Bourdieu zunächst die objektive soziale Lage eines Individuums (Ausstattung mit ökonomischem und kulturellem Kapital) von der Sphäre des Lebensstils (Geschmackspräferenzen, die sich in sozialen Praktiken verdichten) analytisch trennt, konstatiert

Klassen und Klassifikationen

er dennoch deren gegenseitige Wechselwirkung: Vermittelt über den Habitus prägt die Struktur den Lebensstil, den Geschmack, die Handlungspraxis, und umgekehrt bestimmen Handeln und kulturelle Phänomene die Struktur. Als Habitus wird ein Bündel von erlernten Wahrnehmungs-, Klassifikations- und Bewertungsschemata bezeichnet, welches es dem Individuum als gleichsam »verinnerlichte Struktur« ermöglicht, die Umwelt symbolisch zu ordnen und sich von anderen zu distinguieren. Dies führt laut Bourdieu (1982: 286) dazu, dass man hat, was man mag, weil man mag, was man hat. Hierdurch werden klassentypische Präferenzen und Vorlieben aus ihrer inneren Verfasstheit heraus erklärbar. Die symbolischen Klassifikations- und Ordnungssysteme befördern also die Etablierung und den Erhalt von Klassenstrukturen, indem die als legitim erachteten Vorstellungen die Wirksamkeit der objektiven Mechanismen, in diesem Fall der Klassen, verstärken und reproduzieren (Bourdieu 1982: 749). So trägt das Kleinbürgertum, wie Bourdieu die mittleren Klassen nennt, dazu bei, den Geschmack der oberen Klassen durch Imitation zu legitimieren, jedoch ohne ausreichend eigene finanzielle und kulturelle Ressourcen zur Verfügung zu haben – statt Opern präferiert man beispielsweise Operetten. In Die feinen Unterschiede attestiert Bourdieu (1982: 513) der mittleren Klasse somit eine ›unnatürliche‹ und gleichsam »gierig-bemühte wie naiv-ernsthafte Fixierung« auf die Kultur der oberen Klassen. Er geht dabei sogar soweit, den mittleren Klassen die Etablierung und Aneignung einer eigenen Kultur abzusprechen: »Eine ›mittlere Kultur‹ gibt es ebenso wenig, wie eine ›mittlere Sprache‹. Mittlere Kultur, das ist nichts als die kleinbürgerliche Beziehung zur Kultur: falsche Objektwahl, Mißdeutung [sic!], fehlinvestierter Glaube, Allodoxia.« (Bourdieu 1982: 513) Entgegen dieser allzu negativen Sichtweise auf die mittleren Klassen durch Bourdieu zielen wir mit unserem Beitrag gerade auf die Differenzierung der variierenden Kulturen der Mitte. Angesichts einer sich derzeit stark wandelnden, insbesondere materiell geprägten Ungleichheitsordnung, legen wir in Anlehnung an Bourdieu dennoch nahe, die Wichtigkeit des Symbolischen nicht zu vernachlässigen, denn »[d]ie Kämpfe zwischen individuellen wie kollektiven Klassifikations- und Ordnungssystemen, die auf eine Veränderung der Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien der sozialen Welt und dieser selbst abzielen, bilden eine vergessene Dimension der Klassenkämpfe« (Bourdieu 1982: 755). An diesem Punkt setzt das Konzept der symbolischen Grenzziehungen an, welches in der US-amerikanischen Kultursoziologie (Lamont 1992; Lamont/ Molnár 2002; Pachucki et al. 2007) und darüber hinaus (Sachweh 2010; Jarness 2017; Southerton 2002) genutzt wird. Im Vordergrund stehen hierbei die wechselseitigen Klassifikationen, Identifikationen und Abgrenzungen, die Menschen vornehmen, wenn sie sich selbst in ihrer sozialen Umwelt positionieren. Darüber hinaus leistet das Konzept einen Beitrag zur Auflösung der

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einseitigen Strukturbestimmtheit, wie sie dem Bourdieuschen Habituskonzept häufig kritisch attestiert wird, und richtet seine Aufmerksamkeit explizit auf die Innenperspektive der Gesellschaftsmitglieder. Symbolische Grenzen sind jene Unterscheidungen, die soziale Akteure vornehmen, um Menschen, Praktiken, Raum und Zeit zu kategorisieren (Lamont/Molnár 2002: 168). Hinzu kommt, dass symbolische Grenzziehungen nicht nur einen Akt der Kategorisierung durch andere darstellen; sie beinhalten zugleich eine soziale Positionierung, die eine Unterscheidung zwischen der eigenen Gruppe und den ›Anderen‹ ermöglicht. Nicht selten gehen die gruppenbezogenen Klassifikationen und Abgrenzungen mit Abwertungen und Aufwertungen von sozialen Gruppen einher. Symbolische Grenzziehungen geben demnach nicht nur Aufschluss über die durch sie transportierten gruppenspezifischen Selbst- und Fremdbilder, sondern sie verweisen auch auf alltägliche Grundlagen sozialer Ein- und Ausschlüsse. So sprechen wir beispielsweise von Diskriminierung, wenn die Klassifikation von anderen Personen oder Gruppen mit Gefühlen der Zu- oder Abneigung einhergeht und sich im sozialen Handeln niederschlägt. Mit anderen Worten: Die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit ist eng mit tatsächlichen gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen verknüpft. Soziale Hierarchien erfahren hierdurch ihre Repräsentation und ihre Legitimation im Bewusstsein der Akteure und werden als manifeste Besser- und Schlechterstellung im Alltag erlebbar (Neckel 2003). In diesem Zusammenhang sprechen Lamont und Molnár (2002) von sozialen Grenzen und schließen damit den Kreis zu Bourdieu. Soziale Grenzen manifestieren sich gegebenenfalls in der Monopolisierung von Ressourcen, in Diskriminierung oder in sozialer Schließung und tragen so zum Erhalt oder zum Wandel bestehender sozialer Ungleichheiten bei. Die Wichtigkeit der Erforschung symbolischer Grenzen zeigt sich also in zwei Aspekten: Zum einen ermöglicht das Konzept der symbolischen Grenzen einen Einblick in die Strukturierung sozialer Ungleichheit aus einer mikrosoziologischen Innenperspektive und geht so über die objektiven Modelle soziostruktureller Gliederung hinaus. Damit wird der Idee einer subjektorientierten Sozialstrukturanalyse Rechnung getragen. Zum anderen schafft es eine Verbindung zwischen Struktur und Symbolik, indem symbolische Grenzen sowohl auf die Grundlagen als auch auf die Folgen von manifesten Ungleichheiten verweisen. Ein Desiderat besteht bisweilen in der Erforschung des Zusammenhangs zwischen symbolischen und sozialen Grenzen (Lamont/Molnár 2002).

Klassen und Klassifikationen

3. S ymbolische G renzen und soziale I dentität Im Zentrum bisheriger Forschungen steht die Frage, welche Grenzziehungen für unterschiedliche soziale Gruppen jeweils kennzeichnend sind (Hazır 2014; Jarness 2017; Lamont 1992, 2000; Sachweh 2010; Southerton 2002). Dabei wird häufig Michèle Lamonts (1992) Differenzierung symbolischer Grenzziehungen in sozioökonomische, kulturelle und moralische Grenzen zugrunde gelegt. Während sozioökonomische Grenzen anhand sozialer Positionsmerkmale einer Person (wie zum Beispiel ihrer finanziellen Stellung, der sozialen Herkunft, der Mitgliedschaft in exklusiven gesellschaftlichen Kreisen oder Macht und Einfluss) gezogen werden, stützen sich kulturelle Grenzziehungen auf die Bedeutung kultureller Merkmale. Hierunter werden zum Beispiel die Vertrautheit mit hochkulturellen Inhalten, Bildung oder Intellektualität verstanden. Moralische Grenzziehungen nehmen hingegen Bezug auf bestimmte Werthaltungen und Charaktereigenschaften und verdichten sich in Aussagen über und Haltungen gegenüber der Ehrlichkeit, der Integrität, der Solidarität oder der Arbeitsethik einer Person oder einer Gruppe. Es zeigt sich, dass die Art der Grenzziehung im Zusammenhang mit der Ressourcenausstattung steht. So grenzen sich Angehörige der oberen Klassen, die über viel ökonomisches und kulturelles Kapital verfügen, überwiegend anhand sozioökonomischer oder kultureller Merkmale von ihren Mitmenschen ab, während Personen aus der Arbeiterklasse, die beispielsweise weder über höhere Bildungstitel noch über große finanzielle Ressourcen verfügen, mehrheitlich moralische Kriterien in den Vordergrund stellen (Lamont 1992, 2000; Lamont et al. 1996; Southerton 2002). Was die mittleren Klassen betrifft, so lässt sich bisher keine eindeutige Verbindung zwischen Ressourcenausstattung und symbolischen Grenzen finden. Dies ist möglicherweise darin begründet, dass die mittleren Klassen durch eine variierende Ressourcenausstattung gekennzeichnet sind. Dieser internen Heterogenität der Ressourcenausstattung korrespondiert eine Heterogenität der Grenzziehungen (Hazır 2014; Jarness 2017). Es bleibt somit offen, wie diese klassenspezifischen Abgrenzungsmuster theoretisch erklärt werden können und welche Rolle der Abgrenzung für die eigene Identitätssicherung zukommt. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, die sozialpsychologische Theorie der sozialen Identität (Tajfel 1978) als explanative Fundierung für klassenspezifische symbolische Grenzziehungen heranzuziehen (vgl. auch Sachweh 2013).1 Diese Theorie postuliert, dass Individuen einen Teil ihres Selbstbildes – die soziale Identität – über die Zugehörigkeit zu Gruppen definieren (Tajfel/Turner 1986). Dabei sind, erstens, Prozesse der sozialen Kategorisierung ausschlag1 | Lamont (2000: 82f., 293, 301) verweist vereinzelt auf die Theorie der sozialen Identität, entwickelt jedoch keine systematische Verknüpfung zu ihrem eigenen Ansatz.

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gebend: Im Rahmen einer Strukturierung der sozialen Umwelt in Kategorien oder Gruppen entwickeln Individuen nicht nur eine Ordnung ihrer Umwelt, sondern sie setzen sich auch ins Verhältnis zu dieser Ordnung. Indem sie sich als Angehörige bestimmter Gruppen (zum Beispiel als Frau, Deutsche oder Arbeiterin) wahrnehmen oder von diesen Gruppen abgrenzen (Mummendey 1985; Tajfel 1978), entwickeln sie ein Gefühl für die eigene Position im sozialen Gefüge. Eine zweite Annahme besteht darin, dass Menschen nach einer positiven Einschätzung des eigenen Selbst streben (Tajfel/Turner 1986: 16). Die Selbsteinschätzung erfolgt allerdings nicht in einem Vakuum, sondern sie ergibt sich – wie auch die Selbstkategorisierung – aus dem Verhältnis zu anderen Menschen und damit primär aus sozialen Vergleichen mit anderen Gruppen (Festinger 1954). Dabei versuchen Individuen, die eigene Gruppe positiv abzugrenzen (Mummendey 1985: 195; Zick 2008: 410). Ist dies nicht möglich – etwa weil die Eigengruppe stigmatisiert wird (zum Beispiel als ›Arbeitslose‹ oder ›Ausländer‹) –, und kann das Selbstbild auch nicht durch ein Verlassen der Gruppe verändert werden, so besteht eine mögliche Strategie darin, die eigene Gruppe positiv von anderen abzusetzen, indem die relevanten Vergleichskategorien geändert werden. In diesem Fall werden solche Gruppenmerkmale hervorgehoben, die die Eigengruppe in einem günstigen Licht und die andere(n) Gruppe(n) in einem negativen Licht erscheinen lassen (Crocker/Major 1989; Tajfel 1978). Die Theorie der sozialen Identität ermöglicht es somit, die Klassenspezifik symbolischer Grenzziehungen zu erklären. Sie plausibilisiert, warum die Angehörigen höherer Klassen in der Regel sozioökonomische und kulturelle Grenzen ziehen, die Angehörigen niedrigerer Klassen hingegen vor allem moralische: Da Angehörige höherer Klassen meist über hohe sozioökonomische und kulturelle Ressourcen verfügen, ist eine positive Selbstbewertung anhand dieser Merkmale für sie naheliegend und eine Kategorisierung anderer im Lichte dieser Kriterien zugleich wahrscheinlicher. Angehörige niedrigerer Klassen hingegen besitzen meist wenig ökonomisches und kulturelles Kapital. Dies macht eine positive Selbstdefinition auf Basis sozioökonomischer und kultureller Grenzziehungen unwahrscheinlich. Sie nutzen stattdessen moralische Kriterien, die einen universell verfügbaren, alternativen Maßstab darstellen, der es ihnen erlaubt, sich über den Angehörigen höherer Klassen zu positionieren (Lamont 2000). So heben sie beispielsweise den Wert der Familienehre hervor. Die Erklärung klassenspezifischer symbolischer Grenzen in den mittleren Klassen sollte aus Sicht der sozialen Identitätstheorie davon abhängig sein, in welche Richtung (nach oben oder unten) die Abgrenzung erfolgt und wie die spezifische Kapitalstruktur eines Mittelklasseangehörigen aussieht. Aufgrund der internen Heterogenität von Kapitalvolumen und -struktur in den mittleren Klassen sollten Grenzziehungen in den mittleren Klassen keine so klare Struktur haben wie in den oberen und unteren Klassen.

Klassen und Klassifikationen

Vor diesem Hintergrund fragt der Beitrag danach, wie die spezifischen Konfigurationen ökonomischer, kultureller und moralischer Grenzziehungen in den einzelnen Klassenlagen charakteristische klassenspezifische »Ethiken« konstituieren und hervorbringen. Das Ziel ist es, die sozialen Selbst- und Fremdbilder insbesondere der oberen und unteren Mitte sowie der unteren Klassen in der deutschen Ungleichheitsordnung detaillierter zu verstehen.2

4. D ie obere M it te : D as E thos der D istink tion und der K ultiviertheit Wie bereits diskutiert, zeichnen sich die Grenzziehungspraktiken von Angehörigen höherer Klassenlagen insbesondere durch sozioökonomische und kulturelle Bezüge aus (Bennett et al. 2010; Bourdieu 1982; Lamont 1992). Dies zeigt sich auch in den Grenzziehungen der oberen Mitte. Kulturelles und ökonomisches Kapital übernehmen hier eine zentrale identitätsstiftende Funktion. Das soziale Selbstbild, das sich über sozioökonomische und kulturelle Grenzziehungen konstituiert, lässt sich demnach als Ethos der Distinktion und der Kultiviertheit beschreiben. Die ökonomischen Aspekte dieses Selbstbildes artikulieren sich zunächst in den Schilderungen des beruflichen Erfolgs, der oft anhand des Einkommens bewertet wird. Das Einkommen prägt seinerseits beispielsweise die Wohnlage oder die sozioökonomische Absicherung. Darüber hinaus sind immaterielle Aspekte der Lebensführung konstitutiv für das Selbstbild: etwa die persönliche Handlungsautonomie, die aus einer privilegierten materiellen Ressourcenausstattung resultiert. Ein typisches Beispiel stellt der Fall eines 30-jährigen Betriebswirts dar, der sich sowohl in seiner Selbstdefinition als auch bei der Beschreibung anderer Gruppen auf sozioökonomische Gesichtspunkte bezieht. Er rechnet sich selbst zur oberen Mitte, ist ehrgeizig und findet beruflichen Erfolg sehr wichtig. Entsprechend dem Stellenwert, den der berufliche und soziale Aufstieg für diesen Befragten hat, antwortet er auf die Frage, wer seine persönlichen Vorbilder seien: »Also Leute, die es nach oben geschafft haben, da hab ich vor vielen Leuten sehr, sehr viel Respekt vor der Leistung, die diese Leute erreicht haben.« Die Merkmale, mit denen er sich selbst und seine 2 | Die im Folgenden präsentierten empirischen Befunde entstammen zwei Forschungsprojekten, in denen mittels qualitativer Interviews (Sachweh 2010) und Gruppendiskussionen die kollektiven Orientierungen der Studienteilnehmer hinsichtlich sozialer Ungleichheitsverhältnisse in Deutschland rekonstruiert wurden. Die Gruppendiskussionen wurden im Rahmen des durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) von 2015 bis 2018 geförderten Projektes »Ungleichheitsdeutungen und Gerechtigkeitsorientierungen in Deutschland« durchgeführt.

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Lage definiert, sind um seine berufliche Position zentriert. Andere Befragte, die sich zur oberen Mitte zählen, ziehen zudem Aspekte ihrer materiellen Lage zur Selbstdefinition heran. Jedoch sind die materiellen Ressourcen in den Augen der Interviewten weder ein hinreichendes noch ein alleiniges Zugehörigkeitskriterium. Vielmehr grenzen sich Personen, die sich der oberen Mitte zurechnen, explizit von jenen ab, die zwar unter sozioökonomischen Gesichtspunkten privilegiert sind, jedoch nicht über den entsprechenden Bildungsstand oder ein im Sinne der Interviewten hinreichendes Maß an Kultiviertheit verfügen. Dies verweist auf die zentrale Rolle, die kulturelle Merkmale in der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Angehörigen gehobener mittlerer Klassenlagen spielen. Der bereits zitierte Betriebswirt etwa findet, dass Menschen, »die materiell sehr viel zugenommen haben, aber […] aus einer niedrigeren sozialen Schicht kommen, dann […] oft sehr laute, schreiende Leute [sind], und sie müssen zeigen, was sie haben.« Personen dagegen, die schon über mehrere Generationen oberen Klassen angehörten, seien dagegen »doch eher reservierter« in ihrem Verhalten. Die Ausübung hochkultureller Praktiken und ein bestimmtes Maß an Kultiviertheit und Bildung nehmen in den Augen unserer Befragten eine wichtige Signalfunktion ein. Angehörige der oberen Mitte definieren nicht nur sich selbst anhand dieser Eigenschaften, sondern sprechen sie zugleich den Mitgliedern der unteren Klassenlagen ab. Hierdurch werden Abstände zwischen Privilegierung und Benachteiligung markiert. So stellt ein ehemaliger Fachhochschulprofessor fest, dass für ihn hochkulturelle Praktiken – besonders das Hören klassischer Musik – sehr wichtig sind; für die Populärkultur oder den Mainstream hingegen habe er nur wenig Verständnis. Er selbst rechnet sich ebenfalls zur oberen Mitte, für die eine komfortable materielle Lage und eine rege Ausübung hochkultureller Aktivitäten charakteristisch seien. Als entscheidendes Zugehörigkeitskriterium zur oberen Mitte wird demnach nicht allein die sozioökonomische Lage, sondern auch das entsprechende kulturelle Kapital betrachtet. Die Ausübung anerkannter kultureller Praktiken hat eine wichtige symbolische Funktion. Beispielsweise empfindet derselbe Befragte die Lektüre von Boulevardzeitungen als »eklig«, insbesondere, wenn er seine eigenen Freunde und Bekannten dabei ertappt. Die regulären Leser dieser Zeitungen hält er für »ungebildet, leichtgläubig, bequem« und rechnet sie den unteren sozialen Klassen zu. Die Bedeutung von Bildung erschöpft sich damit nicht allein im Besitz höherer Bildungszertifikate, sondern umfasst auch Geschmäcker und das Freizeitverhalten. Die Angehörigen unterer Klassen werden dann folgendermaßen beschrieben: »Ja, vor allen Dingen mit ihrem Verhalten, was sie […] wie sie ihre Freizeit verbringen, das ist wohl das Entscheidende dabei. Wo man viele eben regelmäßig in der Kneipe antrifft, und da sich ihre Erbauung suchen, ja, letztendlich dann, wo sie sich bewegen. Welche

Klassen und Klassifikationen Veranstaltungen abends eben auch noch in Frage kommen, vor allen Dingen welcher Art zum Beispiel die Musik ist, die sie lieben, das geht ja bis zu […] also jetzt Hardrock und diese Dinge […]. Und das ist auch schon ein Zeichen dabei, wo man einzuordnen ist.«

Unsere Beispiele illustrieren die postulierte Aufwertung der Eigengruppe mittels der Hervorhebung von kulturellen und ökonomischen Merkmalen durch die Befragten der oberen Mitte. So basiert die ökonomische Abgrenzung und Identifikation in dieser Gruppe hauptsächlich auf der beruflichen Position, dem Erfolg und dem sozialen Aufstieg. Zudem wird die Eigengruppe über die Betonung von hochkulturellen Praktiken, Bildung, Intelligenz und Kompetenz aufgewertet, während diese Merkmale Personen aus niedrigeren Klassen abgesprochen werden. Aktive Distinktionsbestrebungen, die über reine Kategorisierungen hinausgehen, äußern sich in eindeutig abwertenden Aussagen wie »eklig« oder »leichtgläubig«, welche in Verbindung mit den kulturellen Präferenzen der Mitglieder unterer Klassen getroffen werden. An dieser Stelle lässt sich besonders eindrücklich nachvollziehen, inwiefern symbolische Grenzen soziale Grenzen stützen, wenn beispielsweise von spezifischen Präferenzen auf Charaktereigenschaften geschlossen wird. Im Vordergrund stehen hier nicht der Zugang zu materiellen Ressourcen, sondern alltägliche Praktiken des Kulturkonsums.

5. D ie untere M it te : D as E thos der M ässigung und des pl anvollen R e alismus Ebenso wie die Angehörigen der oberen Mitte grenzen sich auch die Angehörigen der unteren Mitte anhand sozioökonomischer und kultureller Merkmale von anderen – hier insbesondere den Mitgliedern unterer – Klassen ab. Da sozioökonomische und kulturelle Grenzziehungen für sich genommen den Angehörigen der unteren Mitte jedoch keine positive Identitätsstiftung ›nach oben hin‹, das heißt gegenüber den Mitgliedern der oberen Klassen, erlauben, sind sozioökonomische und kulturelle Grenzen in dieser Gruppe zugleich eng mit moralischen Abgrenzungen verknüpft. Diese spezifische Konfiguration symbolischer Grenzen lässt sich zu einem Ethos der Mäßigung und des planvollen Realismus verdichten, das auch als alltagspraktische Antwort auf eine wahrgenommene Abstiegsgefährdung der Mittelklasse – und hier besonders ihrer unteren Fraktion – verstanden werden kann. Hinweise auf dieses typische Ethos gibt vor allem die Gestaltung der ökonomischen Lage, die auf die Gewährleistung eines Mindestmaßes an längerfristiger finanzieller Sicherheit ausgerichtet ist. Es handelt sich dabei um eine auf die Zukunft gerichtete handlungsleitende Orientierung, die bei relativ gesicherten finanziellen Ressourcen Zugang zu materiellen Gütern ermöglicht,

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Mangel vermeidet und Planungs- sowie Zukunftssicherheit zulässt, zugleich aber den ›kleinen Luxus‹ nicht entbehrt. Mit anderen Worten: Man ist »zufrieden und fühlt sich wohl« – insgesamt zeigt sich hier ein typisches Pendeln zwischen Mäßigung und Genuss. Exemplarisch manifestiert sich diese Dimension des Selbstbildes in Aussagen wie »[M]an kommt über die Runden, muss nicht knapsen«, »[man] kann auch mal Geld für Blödsinn ausgeben oder spenden«, »sich Hobbies und den kleinen Luxus leisten zu können«, »mal ins Kino«, »mal mit Freunden essen gehen« und vor allem »sollte man in der Lage sein, etwas zu sparen, für die Zukunft und als Notgroschen« (vgl. auch Schimank 2015). Flankiert wird dieser Anspruch nach einem gesicherten Zugang zu materiellen Gütern und der Vermeidung finanzieller Engpässe zudem von einem ausgeprägten und zugleich zukunftsorientierten Gestaltungsoptimismus (Burzan et al. 2014: 112). So dominieren, trotz zeitweiliger Phasen finanzieller Knappheit, eine weitgehende Zufriedenheit mit der eigenen materiellen Lage sowie die Zuversicht, zukünftig Investitionen zugunsten des Statuserhalts tätigen zu können, die einen temporären Verzicht legitimierbar machen. Die Grenzen und die potentielle Brüchigkeit dieser Zufriedenheit werden jedoch in denjenigen Äußerungen der Angehörigen der unteren Mitte deutlich, in denen sie sich von den Angehörigen unterer und oberer Klassen moralisch abgrenzen. Ausgangspunkt dieser moralischen Grenzziehungen ist ein oberen und unteren Klassen zugeschriebenes Konsumverhalten, das sich weniger durch – für mittlere Klassen typische – aufgeschobene, sondern vielmehr durch unmittelbare Bedürfnisbefriedigung auszeichnet (Bourdieu 1982; Burzan et al. 2014: 112). So drückt sich eine moralische Abgrenzung von den unteren Klassen in der Ablehnung »unnützer« Überschreitungen der zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel aus, wie dies beispielsweise Konsumkredite und Null-Prozent-Finanzierungen ermöglichen. Langfristige Kredite dagegen, die nicht der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung dienen, werden über ihren Zweck – zum Beispiel der Absicherung im Alter durch Wohneigentum – in hohem Maße legitimiert. Während den unteren Klassen ein hedonistischer Statuskonsum zugeschrieben wird, der angesichts begrenzter ökonomischer Möglichkeiten den Mittelklasseangehörigen als »falsch« erscheint, wird den höheren Klassen dagegen die Unverhältnismäßigkeit ihrer verschwenderischen Konsumgewohnheiten vorgeworfen. Ein 42-jähriger Augenoptiker formuliert dies folgendermaßen: »Also wie gesagt, Statussymbol, Auto, und so weiter, da könnte ich manchmal brechen. Wenn ich nen Mercedes seh, macht für mich keinen Status oder ne Villa, wenn keine Möbel drin sind, weil die fressen den Putz von den Wänden, damit die sich das Auto leisten können, um den Nachbarn zu beeindrucken. Mich beeindruckt sowas gar nicht.«

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Gemeinsam ist diesen Abgrenzungen nach oben wie nach unten, dass sie auf einem normativen Leitbild der Mäßigung, des Bedürfnisaufschubs und der Bescheidenheit fußen, das wiederum grundlegend für die Zufriedenheit mit den zur Verfügung stehenden ökonomischen Mitteln ist. Ähnlich den Beschreibungen des Kleinbürgertums bei Pierre Bourdieu deuten unsere Befunde auf ein Selbstbild hin, wonach die eigenen ökonomischen Ressourcen als ausreichend empfunden werden, eine Realisierung der eigenen Ansprüche jedoch nur durch »Opfer, Verzicht, Entsagung, Eifer, Dankbarkeit – kurz: durch Tugend« (Bourdieu 1982: 528) möglich ist. In ähnlicher Weise haben jüngst Monica Prasad et al. (2016) den Konservatismus der weißen US-amerikanischen Arbeiterklasse durch eine enge Verschränkung moralischer Orientierungen mit ökonomischen Erfolgsvorstellungen charakterisiert. Ihre Befunde verweisen auf die moralische Aufladung einer disziplinierten und asketischen Lebensführung, die auf einem sparsamen Umgang mit Geld und der Vermeidung von Schulden beruht und als Realisierung einer ökonomischen Erfolgsstrategie »that avoids impulse satisfaction and instant gratification« (Prasad et al. 2016: 292) verstanden wird. Moralische Normen des Bedürfnisaufschubs und der Bescheidenheit bilden somit die Basis für die ökonomische Zufriedenheit der unteren Mitte. Damit einher geht eine Abgrenzung von (Status-)Wettbewerb und Prätention, die sich insbesondere gegen als übermäßig empfundene Bildungsaspirationen oberer Klassen richtet. Trotz dieser Distanzierungen stellt das Leistungsprinzip einen starken normativen Bezugspunkt dar. Zwar wird übersteigerter Leistungswettbewerb als Mittel der Statusreproduktion abgelehnt; eine positive Bezugnahme auf Leistung findet sich jedoch in einem pragmatischen Ethos wieder, das eine generelle Befähigung zur Arbeitsmarktteilhabe und zu Möglichkeiten der Steigerung der eigenen ›Arbeitsmarktfitness‹ oder ›Employability‹ in den Vordergrund rückt. So lässt sich eine zentrale Handlungsorientierung der unteren Mitte zu einer Kosten-Nutzen-Rechnung verdichten. Es erscheint indiskutabel, nach dem Abitur keine Vorstellung davon zu haben, »was man machen will«; auch die Selbstentfaltung ohne einen konkreten Nutzen für eine baldige Arbeitsmarktteilhabe ist nicht erstrebenswert. Gegen einen durch positive Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung geleiteten »marktfernen Hedonismus« (Nachtwey 2016: 166) des Bildungsbürgertums setzen die Angehörigen der unteren Mitte indessen auf eine marktkonforme Askese.

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6. D ie unteren K l assen : D as E thos der S olidarität und des A bgebens Im Unterschied zur oberen und unteren Mitte nehmen moralische Aspekte im Selbstbild der unteren Klassenlagen eine eigenständige und zentrale Bedeutung ein. Ähnlich den Befunden bei Lamont (2000) und Southerton (2002) zeigt sich auch in unseren Interviews, dass sich Befragte aus unteren Klassenlagen überwiegend anhand moralischer Gesichtspunkte beschreiben und von anderen abgrenzen. Ihr Selbstbild lässt sich als Ethos der Solidarität und des Abgebens beschreiben, das sich primär über Abgrenzungen von Angehörigen höherer Klassenlagen konstituiert, in dem aber auch Abgrenzungen nach (noch weiter) unten enthalten sind. Befragte der unteren Klassenlagen beschreiben sich selbst als solidarisch und sehen ihre Gruppe durch einen starken Zusammenhalt charakterisiert. Eine einfache Angestellte, die sich selbst den unteren Klassen zurechnet, erläutert dies anschaulich. Auf die Frage, wie sie Angehörige ihrer eigenen Klasse beschreiben würde, antwortet sie: »Die sind meiner Meinung nach, was ich mitkriege, sehr hilfsbereit. Auch gegenüber anderen Menschen, denen’s noch schlechter geht. […] Und die halten auch mehr zusammen, ist mir aufgefallen. Die lassen sich nicht so schnell unterkriegen wie jetzt ’n Bessergestellter. […] Die halten zusammen und helfen sich gegeneinander. Egal wie. Und wenn das ’n Möbelaustausch ist, kriegt das eine Kind mal das Bett geschenkt, die andere Mutter braucht ’n neues, weil das kaputt ist. […] Das meine ich damit, die helfen sich miteinander und nicht gegeneinander. Die halten einfach zusammen.«

Diese Zuschreibung einer größeren Solidarität in den unteren Klassen kontrastiert deutlich mit den negativen Zuschreibungen seitens dieser Gruppe gegenüber oberen Klassenlagen. Diese verdichten sich zu einem Bild der ›unmoralischen Reichen‹, an denen besonders ihr Egoismus, ihre Gier, ihre Rücksichtslosigkeit sowie ihre Arroganz kritisiert werden. Am Beispiel des Trinkgeldgebens erläutert ein Arbeiter unterschiedliche moralische Maßstäbe zwischen unten und oben:

»[D]enken sie mal an ’n Restaurant, da zahlen wir immer ganz gerne ’n bisschen Trinkgeld, weil wir wissen, wie die Kellner darauf angewiesen sind oder wie gern das auch gesehen wird. So, und jetzt gucken sie mal ’n Typ an, der richtig Kohle hat. Da können sie auf ’n Trinkgeld teilweise warten oder wenn, denn kriegen sie grade mal ’n paar Cent, weil die sitzen wirklich auf dem Geld.« Hier wird die eigene Solidarität mit den Beziehern geringer Einkommen dem Egoismus und Geiz derer, die »richtig Kohle« haben, gegenübergestellt. Mora-

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lische Grenzziehungen operieren in der praktischen Anwendung somit in zwei Richtungen: Indem man ›den Anderen‹ eine bestimmte Eigenschaft abspricht (zum Beispiel Solidarität) beziehungsweise ein negatives Attribut zuschreibt (zum Beispiel Egoismus), kann man den eigenen Abstand zu derartigen Eigenschaften markieren und sich selbst in einem günstigeren Licht definieren. Über die Abgrenzung von den ›unmoralischen Reichen‹ hinaus sind symbolische Grenzziehungen in den unteren Klassenlagen aber auch durch eine Abgrenzung nach (noch weiter) unten, das heißt von den »unwürdigen Armen« (Katz 1989), gekennzeichnet. Attributionen der Unwürdigkeit richten sich insbesondere auf Arbeitslose beziehungsweise Hartz IV-Empfänger – neuerdings auch Geflüchtete – und thematisieren deren mangelnde Arbeitsethik. Deutlich wird dies zum Beispiel in der Aussage eines älteren Bauarbeiters, der meint, dass jeder Arbeitsfähige, der nur hinreichend motiviert und arbeitswillig sei, einen Arbeitsplatz finden könne. Er vertritt sehr dezidiert die Auffassung, dass »jeder, der jetzt behauptet, er findet keine Arbeit, lügt«. Zwar gesteht er ein, dass Arbeitslosigkeit auch von der wirtschaftlichen Lage eines Landes abhänge und Ungelernte größere Schwierigkeiten bei der Jobsuche hätten, doch grundsätzlich hält er an seiner Überzeugung fest: »also jemand der will und der kann, der wird auch was finden.« Die Gleichzeitigkeit der Wahrnehmungen »unmoralischer Reicher« und »unwürdiger Armer« repräsentieren Extrempole sozialer Ungleichheit und kommen in nahezu stereotypen Personifizierungen zum Ausdruck. Komplementär hierzu existiert ein kontrastierendes Selbstbild, das sich in den unteren Klassen an einer Ethik der Solidarität und des Abgebens orientiert.

7. S chlussdiskussion und A usblick Auf der theoretischen Grundlage des Konzepts der symbolischen Grenzziehungen hat dieser Artikel einen Überblick über die Formen der Identifikation und Abgrenzung in der oberen und unteren Mitte und den unteren Klassenlagen gegeben und die daraus resultierenden klassenspezifischen sozialen Selbstbilder skizziert. Im Vergleich zu einer eher quantitativ operierenden Milieu- und Lebensstilforschung stellt das Konzept der symbolischen Grenzziehungen die wechselseitigen Klassifikations- und Abgrenzungsprozesse der Akteure in den Mittelpunkt der Analyse und leistet so einen Beitrag zur Rekonstruktion klassenspezifischer Alltagsrealitäten. Dabei fällt auf, dass die wechselseitige Identifikation und Abgrenzung – vermittelt über moralische, kulturelle und ökonomische Kriterien – ähnlich wie bei Lamont (1992) in unterschiedlicher Form von mittleren und unteren Klassen der Bevölkerung praktiziert werden. Zudem sind Grenzziehungen in der mittleren Klasse heterogener: Für die obere Mitte lässt sich ein dominantes Ethos der Distinktion und der Kultiviertheit re-

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konstruieren, während wir in der unteren Mitte ein Ethos der Mäßigung und des planvollen Realismus finden. Interessant ist, dass dort moralisch geleitete Handlungsorientierungen und Praktiken des Maßhaltens erst die Grundlage für die Realisierung der angestrebten Lebensweise darstellen und zur Zufriedenheit beitragen. Auch in den unteren Klassen nimmt die moralische Abgrenzung eine zentrale und eigenständige Rolle im Selbstbestimmungsprozess als Gruppe ein. Die Abgrenzungen nach oben von den ›geizigen Reichen‹ und nach unten gegenüber ›unwilligen Arbeitslosen‹ bieten eine wichtige normative Grundlage für das Ethos der Solidarität und des Abgebens. Sowohl ›die Reichen‹ wie ›die Arbeitslosen‹ entsprechen nicht dem eigenen Selbstbild, da sie auf eine je spezifische Art und Weise unsolidarisch handeln und leben. Die rekonstruierten Muster alltagsweltlicher Klassifikationen zeigen, dass das Anliegen einer subjektorientierten Sozialstrukturanalyse gerechtfertigt ist. Die identifizierten Abgrenzungen gehen über die klassischen Merkmale zur Differenzierung von Klassen und Schichten hinaus, da sie der Komplexität symbolischer Grenzziehungen mehr Beachtung schenken. Insbesondere durch die Analyse moralischer Kategorien wird die Perspektive der Lebensstilund Milieuforschung erweitert. Die Verwobenheit sozialer Klassifizierungen mit moralischen Wertungen wirft dabei die Frage nach deren Bedeutung für die soziale Strukturierung moderner Gesellschaften auf. So ist zu diskutieren, ob die theoretische Vorstellung eines moralischen Kapitals sinnvoll ist und ob Moral in der Praxis insbesondere in den unteren Klassen nicht nur dazu genutzt werden kann, die eigene Position zu legitimieren, sondern auch dazu, sich bestimmte Privilegien zu sichern. Hierzu müsste untersucht werden, ob Moral ähnlich wie ökonomisches und kulturelles Kapital konvertierbar ist und einen Wert darstellt, der über die reine Wertung hinausgeht (vgl. hierzu Hashemi 2015, Kane 2001). Schließlich illustrieren unsere Befunde auch die Fruchtbarkeit der sozialpsychologischen Identitätstheorie zur explanativen Fundierung des bislang eher deskriptiv gelagerten Konzepts der symbolischen Grenzziehungen. Die rekonstruierten klassenspezifischen Selbstbilder belegen nicht nur die identitätsstiftende Rolle der Abgrenzung von anderen, sondern zeigen auch, dass ebenjene Merkmale, die zur positiven Bestimmung des eigenen Selbst herangezogen werden, den anderen häufig abgesprochen werden. Damit zeigt sich auch in Bezug auf klassenspezifische soziale Selbstbilder die in der Sozialpsychologie von Intergruppenprozessen bekannte Dynamik der Aufwertung der Eigengruppe und der Abwertung von Fremdgruppen (Mummendey 1985; Zick 2008). Wünschenswert für zukünftige Forschungsarbeiten wäre ein detaillierter theoretischer Abgleich der Grundlagen der Theorie sozialer Identität einerseits mit den Grundannahmen des Konzepts der symbolischen Grenzziehungen und verwandter soziologischer Ansätze andererseits – und zwar mit dem Ziel, Hypothesen über gruppenspezifische symbolische Grenzziehungen

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ableiten zu können. Die hier vorgestellten Überlegungen und Befunde verstehen sich als ein erster Schritt in diese Richtung, der eine weitere Auseinandersetzung mit diesen beiden Perspektiven anregen will.

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Über Proletarität und Abgrenzungspraktiken Beobachtungen im unteren Dienstleistungssegment Friederike Bahl

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs steht die gesellschaftliche Mitte europaweit im Zentrum einer Reihe sozialpolitischer Reformprozesse und sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. Durch steigende Bildungsbeteiligung und die Zunahme von Dienstleistungstätigkeiten ist sie prozentual gewachsen. Mit dem größten Anteil an Gesellschaftsmitgliedern ist zugleich ihre normative Anziehungskraft als Sehnsuchtsort von »Lebenschancen« (Schimank et al. 2014: 11) groß. Wie es um das Zentrum der Gesellschaft bestellt ist und wo seine Grenzen liegen, ist allerdings in den Sozialwissenschaften umstritten. In den letzten zwei Dekaden hat die Diskussion um die Angst vor dem sozialen Abstieg in den gesellschaftlichen Mittelschichten zugenommen. Die Krise der Mitte ist zur Chiffre für einen Wandel geworden, der das gesellschaftliche Selbstverständnis berührt (Schimank et al. 2014): Mit den Thesen einer Entsicherung der Mitte ist die Überzeugung entstanden, dass soziale Gefährdungen und Schieflagen in der Gegenwart ein Ausmaß erreicht hätten, das die Integration der Gesamtgesellschaft gefährden könnte. Risiken wie Arbeitsplatzverlust reichen über die unteren Lagen der Sozialstruktur hinaus. Mit ihnen entsteht die Beunruhigung, dass der Abstieg scheinbar jeden treffen kann (vgl. Groh-Samberg/Hertel 2010: 138). Für Deutschland markieren die 1990er und 2000er wichtige Trendjahre, in denen die Sorge um den Verlust des sozioökonomischen Status in der Mitte angestiegen ist. Aber entsteht in dieser Zeit eine Entsicherung, die sich einheitlich von den Rändern ins Zentrum der Gesellschaft erstreckt oder gibt es sozialstrukturelle Unterschiede in Form und Inhalt der Verwundbarkeiten? Erste Hinweise auf solche Differenzen geben aktuelle Studien. Sie verorten die zunehmende Statussorge insbesondere in der »mittleren Mittelschicht« (Lengfeld/Ordemann 2017) der qualifizierten Dienstleistungsberufe. Bei dieser Gruppe der gehobenen Angestellten zeichnet sich im beobachteten Zeitraum die größte Veränderung in der Einschätzung von Arbeitsplatzsicherheit und Zukunftsperspektiven ab. Zusammen mit der unteren Mittelschicht der

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Facharbeiter und Techniker überbietet sie in ihrer empfundenen Statussorge und Verunsicherung selbst die Arbeitenden in den dienstleistenden Routinetätigkeiten. Dieser Befund ist insofern bemerkenswert, als diese Routinetätigkeiten – angefangen von den Arbeitskräften in Gebäudereinigung und Sicherheitslogistik über die Zeitungsboten und Postkuriere in den urbanen Zentren bis hin zu den Servicemitarbeiterinnen in Supermarkt und Textildiscount – zu Arbeitswelten gehören, deren berufliche Aufstiegschancen ebenso wie materielle Absicherung durch Einkommen und sozialstaatliche Leistungen im Vergleich zu Facharbeitern und gehobenen Angestellten faktisch weitaus geringer ausfallen. Wie ist diese besondere Sensibilität der mittleren Mitte für Statusveränderungen zu erklären und worauf ist die vergleichsweise geringere Statusangst der Tätigen in den Routineservices zurückzuführen? Gehören Letztere noch zur dienstleistenden Mitte oder nehmen ihre Erfahrungen sozialer Ungleichheit eine eigene Form an, die sie sozialstrukturell eher von der gesellschaftlichen Mitte abgrenzt? Ein Blick auf die unterschiedlichen Lebensmodelle in den Routinedienstleistungen und der dienstleistenden Mitte kann eine Antwort auf diese Fragen anbieten. Er ermöglicht zu sehen, dass eine fruchtbare Diskussion um den gesellschaftlichen Wandel von Lebenschancen die Grenzen der Mitte im Auge behalten muss. In der Konzentration auf eine sozialstrukturelle Entgrenzung von Risiken verpasst die Debatte über die Krise der Mitte sonst eine präzise sozialstrukturelle Verortung von sozialen Abstiegsrisiken, die die Angestellten der Routinedienstleistungsberufe weniger mit der dienstleistenden Mitte verbindet, als von ihr trennt. In den Arbeits- und Zukunftserfahrungen der Routinedienstleister zeichnet sich Verunsicherung als eine Form der Proletarität ab, in der die Statussorge der Mitte durch die Erfahrung von Statusfatalität ersetzt ist. Ohne eine Analyse, die solche Grenzziehungen und Unterschiede prüft, verspielt die Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Mitte die klare Konturierung ihres Gegenstands und erklärt einen Teil der Gesellschaft zu ihrem Ganzen.

G renzen der A nziehungskr af t der M it te Seit den 1950er Jahren besitzt die gesellschaftliche Mitte eine große Anziehungskraft in doppelter Hinsicht: In den Wirtschaftswunderjahren hat in Deutschland sowohl ihr zahlenmäßiger Zuwachs als auch ihre normative Bedeutung als Sehnsuchtsort gesellschaftlicher Stabilität und sozialen Aufstiegs eingesetzt (vgl. Vogel 2009; Burzan/Berger 2010; Schimank et al. 2014). Zwar war das Selbstbild einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« (Schelsky 1965) nie unumstritten, aber empirisch wie normativ wurde das Konzept »einer von mittleren Soziallagen dominierten Sozialstruktur zur wenig hinterfragten

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Selbstverständlichkeit« (Schimank et al. 2014: 10; vgl. Ritter 2017). Die soziologische Diskussion um die gesellschaftliche Mitte ist bis heute von einer Chancenrhetorik begleitet. In ihrer Verbindung mit einer Zunahme an qualifizierten Dienstleistungstätigkeiten steht die Gesellschaft der Mittelschichten für ein überproportionales Wachstum an qualifizierter Beschäftigung und gesteigerten Bildungschancen (vgl. Häußermann/Siebel 1995; Bell 1973; Baethge 2012). Mit ihrer zahlenmäßigen Zunahme geht daher inhaltlich die Erwartung einer Zunahme von Aufstiegschancen einher, in der die gesellschaftliche Mitte zum Sinnbild für das meritokratische Versprechen geworden ist: der Glaube an Aufstieg durch Leistung und die Möglichkeit von Statusgewinnen durch berufliche Anstrengung. Diese Anziehungskraft hat jedoch auch Grenzen. Eine dieser Grenzen liegt im unteren Dienstleistungssegment der Türsteher, Verkäuferinnen und Paketzusteller, die den reibungslosen Ablauf gegenwärtiger Arbeits- und Lebenswelten gewährleisten. Ließen sich die Beschäftigten in diesen Tätigkeiten Mitte der 1960er Jahre noch als »falscher Mittelstand« (Dahrendorf 1965: 105) beschreiben, da sie sich entgegen ihres geringen Berufs-, Bildungs- und Einkommensniveaus in ihren Lebenspraktiken und Selbsteinschätzungen sozialstrukturell der Mittelschicht zuordneten, weisen aktuelle Befunde in die entgegengesetzte Richtung: Im Beschäftigungssegment der Routinedienstleistungen (vgl. Esping-Andersen 1993; Blossfeld et al. 1993; Oesch 2006; Bahl 2014) existiert ein Milieu von Geringverdienenden, in dem die »gesellschaftliche Mitte als identitätsstiftender Ort sozialen Aufstiegs« (Bahl 2015: 1626) keine Anziehungskraft mehr hat und jede Investitionsbereitschaft zur Verbesserung des eigenen Status durch Statusfatalität ersetzt ist. Bei diesen Arbeitswelten des Sicherns, Säuberns und des Service geht es zwar um eine spezielle, aber für eine an Gegenwartsbeschreibung interessierte Soziologie der gesellschaftlichen Mitte bemerkenswerte Kontrastfolie arbeitsgesellschaftlicher und sozialstruktureller Wirklichkeit. Mit über 70 Prozent lässt sich die Mehrzahl an Erwerbstätigkeiten heute als Dienstleistungsarbeit charakterisieren, das gilt gerade auch in der gesellschaftlichen Mitte (vgl. etwa IAB 2013). Gleichzeitig weisen die Angestellten der Routinedienstleistungen die sozialstrukturelle These der weitreichenden »Entgrenzung von Verunsicherung« in stabile Schranken, weil ihre Verunsicherung einer ganz anderen Logik folgt: Sie drückt sich weniger in Form der Prekarisierung von Investitionen in den eigenen Status als vielmehr in Form der Proletarisierung aus. In den existierenden Varianten einer marktbezogenen Statusfatalität ist den Beschäftigten die Anziehungskraft von Aufstiegsideen und Fortentwicklung vielfach abhandengekommen. Statt dem »Investitionskalkül« der Mitte (Schimank et al. 2014: 25) zu folgen, sind die Lebensmodelle ganz auf eine Sicherung der Gegenwart gerichtet. Diese für soziale Mobilität relevante Differenz lässt sich an dem jeweiligen Umgang der Arbeitenden mit der Zukunft verdeutlichen.

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I nvestitionsbereitschaf t und empfundene U nsicherheit der M it te – z wei S eiten einer M edaille Sozialstrukturelle Analysen geben Hinweise darauf, dass die gesellschaftliche Mitte eine eigene Art des doing life hat, die vor allem in einer besonderen Leistungsbereitschaft für die Zukunft besteht (vgl. etwa Schimank et al. 2014). Dieses Lebensmodell ist durch ein kontinuierliches Investitionskalkül zur Erhaltung und – wenn möglich – Verbesserung des eigenen sozialen Status gekennzeichnet. Die gesellschaftliche Mitte ist in der Regel durchweg mit beruflichen Qualifikationsabschlüssen, existenzsichernden Einkommen und mittleren Vermögen ausgestattet. Aber diese Ausstattung ist eben begrenzt und der soziale Status im gesellschaftlichen Mittelfeld kaum auf Dauer gesichert. Daher erfordert sein Erhalt permanente Statusarbeit der Investition in stetige Weiterbildung oder berufliche Anstrengungen mit dem Ziel der Beförderung (vgl. Schimank et al. 2014: 25f.; Lengfeld/Ordemann 2017: 180). Verwundbarkeiten in der Mitte werden in der Folge vor allem als Investitionsstörungen dieses zukunftsbezogenen Modells von Lebensführung erfasst und die darauf bezogenen Reaktionen als Copingpraktiken zur Bewältigung der erfahrenen Irritationen registriert. Wer demgegenüber bei Dienstleistern mit Routinetätigkeiten die Formen von Zukunftspraxis untersucht, trifft auf andere Befunde.

A bgrenzungspr ak tiken und mark tbezogene S tatusfatalität im unteren D ienstleistungssegment Zwar existiert auch bei den Beschäftigten der Routineservices eine starke Leistungsbereitschaft. Allerdings folgt sie – anders als in der gesellschaftlichen Mitte qualifizierter Dienstleistungsberufe – weder einer Logik der Investition in die Stabilisierung des sozialen Status, noch ist sie ein Motor dafür, nach Optionen seiner Verbesserung durch Aufstieg zu suchen. Alternativ legen vergleichende Befunde (Bahl 2014) zu fünf verschiedenen Dienstleistungsbranchen und den in ihnen existierenden Arbeitspraktiken, Zukunftsperspektiven sowie politischen Haltungen nahe, dass für die Lebensmodelle der hier Beschäftigten eine andere Dynamik greift: Angefangen von den konsumorientierten Verkaufs- und Lagerarbeitern im Einzelhandel über die Büroreinigerinnen und Sicherheitsmitarbeiter im Gebäudeservice bis hin zu den Paketboten in den distributiven Dienstleistungen zeigt sich wiederholt eine Logik marktbezogener Statusfatalität, die zwar in verschiedenen Varianten besteht, deren Varianten aber gemeinsam ist, dass sie sich von der Investitionsbereitschaft in Aufstieg und Zukunft allgemein weitgehend entkoppelt haben.

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Marktbezogen ist diese Statusfatalität insoweit, als es für die Beschäftigten im unteren Dienstleitungssegment darauf ankommt, zumindest im Wesentlichen in der Lage zu sein, für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Zwar sind staatliche Transferleistungen in diesen Branchen oft notwendiger Bestandteil der alltäglichen Existenzsicherung, jedoch zeichnen sich alle Lebensmodelle statt durch Staats- vielmehr durch Marktbezug aus, da die Beschäftigten in ihrer Teilhabe am Erwerbssystem auf den Eigenanteil an der Sicherung ihres Unterhalts setzen. Von Statusfatalität lässt sich dennoch insofern sprechen, als die Begriffe Zukunft, Entwicklung und Aufstieg keine lebenspraktische Relevanz haben. Den Zukunftsperspektiven ist branchenübergreifend gemeinsam, dass sie allesamt gewisse apokalyptische Züge haben: Angefangen von Krieg über die Radikalisierung sozialer Ungleichheit bis hin zu Umweltkatastrophen laufen sie wiederkehrend auf Erwartungen des Weltuntergangs zu. Unterschiede bestehen zwischen den einzelnen Varianten der Statusfatalität in ihren inhaltlichen Schwerpunkten und vor allem im Umgang mit diesen katastrophischen Zukunftsperspektiven. Aus den empirischen Befunden lassen sich vier Grundhaltungen herauspräparieren, anhand derer die Beschäftigten den Verlust von Zukunft jeweils unterschiedlich rahmen und verarbeiten: (1) Ein erheblicher Teil hängt einer tragisch zu nennenden Perspektive an. Die Zukunft verspricht aus ihrer Sicht weder Möglichkeiten gesellschaftlicher Entwicklung, noch scheint sie individuelle Gestaltungsoptionen in Arbeits- und Privatleben zu bieten. Sie kann allein als fortlaufende Verschlechterung ihrer Situation imaginiert werden, die sie passiv erleiden. In der Mehrheit der Zukunftsperspektiven verliert sich jedoch der enttäuschte Beigeschmack und macht alternativen Haltungen Platz. Zwar erwarten auch die übrigen Dienstleister in der Zukunft keine wegweisenden Verbesserungen, sie gehen mit dieser Einschätzung aber anders um. (2) Ein kleiner Teil der Beschäftigten hat eine zynische Sicht auf die Zukunft. Aus ihrer Perspektive ändert sich ohnehin nichts grundlegend, weil sich Geschichte in einer ewigen Kreisbewegung wiederholt. Dadurch lassen sich zwar keine individuellen wie gesellschaftlichen Errungenschaften sichern, es geht aber auch nichts dauerhaft verloren. Eher erwarten sie in einer gewissen Gelassenheit, dass auf jedes Ende immer auch ein Neubeginn folgt. Lassen sich die ersten beiden Haltungen entweder durch Gelassenheit oder Enttäuschung gegenüber dem erfahrenen Zukunftsverlust charakterisieren, signalisiert (3) die dritte Gruppe zornige Bereitschaft zu radikalem Wandel. Umweltzerstörung und soziale Ungleichheit nehmen sie keineswegs als alternativlos an, sondern als Indiz dafür, dass alle bisherigen politischen Lösungsvorschläge gescheitert sind und Herausforderungen dieser Art am Ende nur mit Gewalt zu beseitigen sein werden. Durch ihre Sehnsucht nach einem revolutionären Umsturz wird für sie demgegenüber jedes individuelle wie soziale Engage-

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ment in den regulären Bahnen der Arbeitsmarkt- und wohlfahrtsstaatlichen Institutionen, etwa durch Gewerkschaften und Betriebsräte, unattraktiv. (4) Die vierte und gleichzeitig eine der größten Gruppen offeriert derweil eine ironische Haltung. In ihr werden die blockierten beruflichen Aufstiegskanäle und geringen Einkommenschancen durch Fantasien eines spektakulären Ausstiegs in die Selbstständigkeit etwa als Rinderfarmer in Texas oder Buchhändler in Spanien kompensiert (Bahl 2014), mit denen sie ihre beschränkten Handlungsoptionen im Alltag bewältigen. An allen Varianten wird ersichtlich, auf welche unterschiedliche Weise die Beschäftigten den wahrgenommenen Zukunftsverlust verarbeiten. Unter den für soziale Mobilität entscheidenden Fragen nach der intra- wie intergenerationalen Veränderbarkeit sozialer Lagen bleiben sie dennoch durchweg Varianten der Statusfatalität. Sie deuten auf eine zeitliche Stabilisierung sozialer Lagen hin, weil sich Zukunft unter den gegebenen Bedingungen des institutionellen Gefüges von Arbeit und Leben für die Beschäftigten der Gestaltbarkeit entzieht. Ließe sich die Enttäuschung in der ersten Variante noch am ehesten mit den erfahrenen Investitionsstörungen in der Mitte vergleichen, weil sich auch die Enttäuschung auf die Erfahrung einer Störung gehegter Erwartungen bezieht, führt aber bereits der tragische Blick auf eine unaufhaltsame Verschlechterung aus der Perspektive der erwarteten Aufhebung einer solchen Störung heraus. Die Varianten von Statusfatalität geben daher eher Aufschluss darüber, wie sich die Angehörigen des unteren Dienstleistungssegments durch den von ihnen wahrgenommenen Verlust an gesellschaftlichen wie individuellen Zukunftsperspektiven in die gegebene gesellschaftliche Ordnung einfügen. Anhand eines empirischen Abgleichs mit drei Faktoren der Investitionsbereitschaft der Mitte – beruflicher Aufstieg, Einkommenssicherung und sozialstaatliche Vorsorge – lässt sich darüber hinaus verdeutlichen, wie sich durch den Zukunftsverlust auch ihre Kriterien von Verwundbarkeits- und Verunsicherungserfahrungen verändern.

Beruflicher Aufstieg Sozialer Aufstieg ist bis heute an beruflichen Aufstieg und damit an Prozesse der Professionalisierung in Form von Aus- und Weiterbildung gebunden. Allerdings fehlt in den Routinedienstleistungen von Sichern, Säubern und Service die institutionelle Gewährleistung von attraktiven Aufstiegskanälen, da Beförderungs- und Weiterbildungsoptionen rar sind und die verfügbaren Positionen selten mit Spezialisierungen des Tätigkeitsfelds und Einkommensgewinnen einhergehen (Bahl 2015). Dazu kommt, dass die Art der Arbeit selbst die Entstehung investiver Praktiken in berufliche Aus- und Weiterbildung unterminiert. So sehr sich die Arbeitsvollzüge des Reinigens, Zustellens, Sicherns und des Sortierens auf einen ersten Blick unterscheiden, so ist ihnen

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doch eines gemeinsam: Alle lassen sich als Normalisierungsarbeit charakterisieren, die weder nach Art industrieller Produktionsarbeit Waren herstellt, noch dem optimierenden Service eines Webdesigners gleicht. Im Gegensatz dazu gewährleistet sie in einem fortlaufenden Prozess des Arrangierens von Waren im Supermarkt, des Säuberns von Bürokomplexen und des Verteilens von Post einen Status Quo der Normalität. Dieser Prozess funktioniert am besten, wenn die dazu notwendige Arbeit unbemerkt bleibt. In dieser Kombination von vornehmlich gewährleistenden Tätigkeiten mit Unsichtbarkeit unterhöhlen die Arbeitsinhalte die Entstehung von Beruflichkeit und Prozessen der Professionalisierung, in denen die Beschäftigten die Tätigkeiten als ihren Beruf mit einem zugehörigen Katalog spezifischer Kompetenzen identifizieren und durch Aus- und Weiterbildung in die Verbesserung ihres Status investieren. Solche inhaltlichen Ansprüche an die eigene Erwerbsarbeit bleiben weitgehend aus. Während sich spätestens seit den 1980er Jahren weite Teile der Erwerbsarbeit in der bundesrepublikanischen Arbeitswelt in einem Aufwertungsprozess befinden und sich mit diesem Aufwertungsprozess auch die inhaltlichen Ansprüche der Arbeitnehmer an ihre Tätigkeit in Richtung persönlicher Autonomie und beruflichem Aufstieg verändern (Baethge 1991, 2012; Vester et al. 2007), läuft diese Idee der Selbstoptimierung (Bröckling 2007) in den Routinedienstleistungen branchenübergreifend ins Leere: Praktiken individueller Professionalisierung bestehen nur bei einer Minderheit der Beschäftigten und beschränken sich auf findige Optimierungen individuierter Arbeitsroutinen, die etwa spezifische Bück- und Bodenwischtechniken in der Gebäudereinigung beinhalten. In ihnen finden sich zwar Ansätze einer Professionalisierung, die aber in Form der vornehmlich individuellen Perfektionierung von Arbeitsroutinen kaum eine berufssozialisatorische Funktion beanspruchen können. Bei der Mehrheit der Beschäftigten ist dagegen eine inhaltliche Abgeklärtheit bezogen auf die eigene Arbeitspraxis zu beobachten, die den eigenen Aufgabenbereich als methodisch einfach, fachlich weitgehend voraussetzungslos identifiziert und daher sowohl jeden Stolz individueller Optimierung als auch ein Investieren in Qualifizierung und berufliche Aufstiegsoptionen ausschließt. Für die Frage nach Erfahrungen der Verunsicherung ändert sich hier gegenüber der Diskussion um die Entgrenzung von Investitionsstörungen die Perspektive: Gehen bisherige Diagnosen davon aus, dass sich auch Angehörige unterer Gesellschaftsschichten Aufstiege in die Mitte erhoffen, aber – wenn überhaupt – nur im Generationenübergang durch den Bildungserwerb der Kinder erreichen können (Lengfeld/Ordemann 2017: 180f.; Schimank et al. 2014), reduziert sich deren Wahrscheinlichkeit angesichts der vorangehenden Beobachtungen im unteren Dienstleistungssegment deutlich. Angehörige der unteren Schichten haben keine Möglichkeit, auf Aufstieg zielende Statusarbeit zu betreiben (Lengfeld/Ordemann 2017: 180), etwa weil sie über

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geringe Bildungsabschlüsse und Investitionsmittel für berufliche Fortbildung verfügen. Darüber hinaus hat die Aufstiegs- und Investitionsbereitschaft der gesellschaftlichen Mitte selbst ihre normative Zugkraft verloren. Anstelle von Aspirationen beruflichen Aufstiegs praktizieren die Routinedienstleister Varianten der Gegenwartssicherung, in denen der Traum vom Aufstieg in die gesellschaftliche Mitte sein Ende erreicht hat. Wie sich mit diesem notwendigen Perspektivwechsel von Zukunftspraxis auf Gegenwartssicherung weitere Erfahrungen der Verwundbarkeit und Verunsicherung in den Routinedienstleistungen verschieben, lässt sich sowohl anhand der aktuellen Einkommenssicherung als auch anhand der zukünftigen Absicherung durch Rentenbezüge nachvollziehen.

Einkommenssicherung Statt inhaltliche Ansprüche an die eigene Erwerbsarbeit zu stellen oder zu entwickeln, gilt im unteren Dienstleistungssegment bezahlte Indifferenz. Der Mehrheit der Angestellten dieser Routinetätigkeiten ist der Inhalt ihrer Arbeit weitgehend gleichgültig und es gibt auch kaum Versuche, diese Erfahrung durch Professionalisierungsbemühungen zu ändern. Vielmehr setzen die Beschäftigten auf eine instrumentelle Arbeitsorientierung (Goldthorpe et al. 1968), in der Arbeit vor allem als Instrument der privaten Kaufkraft und gesellschaftlichen Teilhabe dient. Jedoch bedarf eine solche Orientierung eines finanziellen Dispositionsspielraums, der bei den Dienstleistern fehlt: Da die Branchen dieser geringqualifizierten Dienstleistungsarbeit zu den Niedriglohnbereichen des Arbeitsmarktes gehören (Bosch/Weinkopf 2007, 2011), bleiben die Einkommen selbst bei Vollzeittätigkeit vielfach nahe dem Niveau der gesetzlichen Grundsicherung beziehungsweise liegen darunter und müssen durch sozialstaatliche Transferleistungen aufgestockt werden. Daher ist der finanzielle Spielraum zu gering, um den Blick von den Nachteilen der eigenen Tätigkeit in Richtung der Investitionsvorteile eines gestiegenen Einkommens etwa für Konsum oder die Ausbildung der eigenen Kinder zu lenken. Anstelle der Erfüllung privater Wünsche oder der Realisierung von Bildungsangeboten für die Kinder leistet der Erwerb primär die gegenwärtige Sicherung des Existenzminimums.

Sozialstaatliche Vorsorge Ähnlich verhält es sich mit den Rentenansprüchen im Rahmen der Vorsorge durch den Sozialstaat. Die sozialstaatlichen Institutionen regulieren das untere Segment der Dienstleistungen zwar stark über Lohnaufstockung und Mindestlöhne. Für die Beschäftigten bieten sie zusammengenommen ein Modell der Existenzsicherung an, wodurch erst das Auskommen mit dem Einkom-

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men in den Routinedienstleistungen finanziell realisierbar wird.1 Im Hinblick auf die Bereitschaft der Arbeitenden, in die Zukunft zu investieren, bleibt es aber ein Modell, das allein Existenzsicherung in der Gegenwart und keine investive Vorsorge für die Zukunft gewährleisten kann (Bahl 2015). Mit den in den Routinedienstleistungen vertretenen Beschäftigungsformen gehen schon lange niedrige Rentenansprüche einher (Oesch 2006: 213f.). Daher wird die Mehrheit der Beschäftigten auch bei Erreichen des Rentenalters weiterhin auf sozialstaatliche Grundsicherung angewiesen sein. In der Summe stehen die Berührungen mit Arbeitsmarkt und sozialstaatlicher Regulation in diesem Dienstleistungssegment weniger unter dem Diktum von beruflichem Aufstieg und investiver Vorsorge für die Zukunft. Stattdessen folgen sie mehr dem Prinzip der Gewährleistung von sozialen Minimalstandards zur Sicherung der Existenz in der Gegenwart. Im Zuge bezahlter Indifferenz und sozialen Minimalstandards nehmen auch Erfahrungen der Verunsicherung und die zugehörigen Copingstrategien der Routinedienstleister eine andere Form an als in der gesellschaftlichen Mitte. Die Beschäftigten haben angesichts der Perspektive der inhaltlichen Abgeklärtheit auf ihre Tätigkeiten mehrheitlich keine Sehnsucht nach betrieblicher Weiterbildung. Folglich drehen sich ihre Erfahrungen der Verwundbarkeit auch weniger um Investitionsstörungen, die den beruflichen Aufstieg für die Zukunft blockieren. Demgegenüber setzen sie bei der Herausforderung an, zwischen geringem Einkommen, der Angewiesenheit auf sozialstaatliche Transferleistungen und dem Zuverdienst durch Schwarzarbeit das eigene Auskommen mit dem Einkommen in der Gegenwart zu gewährleisten. Damit zeigt sich auch, dass die Sorge um Zukunft und die Sorge um Aufstieg nicht in eins zu setzen, sondern zwei Paar Schuhe sind. Im Segment der Routinedienstleistungen hat sich für die Angestellten eine gestaltbare Zukunft in katastrophische Perspektiven des Weltuntergangs aufgelöst, in denen die Sorge um Aufstieg kaum eine Rolle spielt, weil realistische Aufstiegsaspirationen unverfügbar sind.

P role tarität stat t P rek arisierun g Was an alledem ist nun proletarisch? Wenn der Proletariatsbegriff ausschließlich auf eine Theorie mit praktischen Implikationen abzielt, in der die soziale Lage der Arbeiter im Klassenkampf ein revolutionäres Bewusstsein teilt, dann 1 | Sowohl Lohnaufstockung als auch die branchenspezifischen Mindestlöhne und der allgemeine gesetzliche Mindestlohn weisen auf die besondere sozialstaatliche Relevanz von gesetzlichen Verbindlichkeitserklärungen für die soziale Sicherung und Tarifverhandlungen in den Branchen der Routinedienstleistungen hin.

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wird der Begriff des Dienstleistungsproletariats (Esping-Andersen 1993; Blossfeld et al. 1993; Oesch 2006; Bahl 2014) kaum überzeugend verwandt werden können. Es gibt dazu aber auch alternative Lesarten. Anders gesagt, ändert sich die Antwort, sobald man die Forschungsperspektive vom Proletariat auf Proletarität verschiebt. Anstelle einer Gruppierung, die sich auch selbst als Gruppe identifiziert, geht es dann mehr um das Kriterium der sozialen und zeitlichen Schließung eines Arbeitsmarktsegments, mit dem sich soziale Benachteiligungslagen auf Dauer einstellen (Esping-Andersen 1993; Blossfeld et al. 1993). Proletarität ist immer auch mit einem Verständnis von Gesellschaft assoziiert, demzufolge Arbeit für einen Teil ihrer Mitglieder zum »Lebensschicksal« und soziale Mobilität unwahrscheinlich wird (Briefs 1975; Mooser 1983). Während das Verdienst der Prekaritätsdebatte (vgl. etwa Grimm/Vogel 2008; Castel/Dörre 2009) darin besteht, eine Brücke vom unteren Bereich der Sozialstruktur in die Mitte der Gesellschaft zu schlagen, markiert die Kategorie der Proletarität eine soziale Spaltungsbewegung in der Arbeitswelt und der Sozialstruktur der Gegenwart. Mit ihr stehen gesellschaftlichen Aufwärtsbewegungen auf der einen Seite Abwärtsbewegungen auf der anderen Seite entgegen, in denen die soziale Mobilität für bestimmte Segmente ihre Grenzen erreicht. Die Benachteiligungslagen der Angestellten im Bereich der Routinedienstleistungen in Bezug auf Einkommen, tarifliche Regulierung und Alterssicherung lassen sich hier als erste Hinweise auf eine solche Schließung verstehen. Begrifflich schlagkräftig werden sie aber vor allem dann, wenn man sie mit dem Selbst- und Weltbezug der Beschäftigten verbindet. Wenn Aspirationen auf Aufstieg, Entwicklung und Zukunft weitgehend unverfügbar sind, erhöhen sich die Risiken der zeitlichen und sozialen Schließung in diesem Arbeitsmarktsegment. In der Tradition industriesoziologischer Analyse lässt sich dieser Befund weniger als Prekarisierung und mehr als eine Form der Proletarität identifizieren, da der Verlust alternativer Zukunftsperspektiven nicht als Störung der eigenen Investitionsbereitschaft verarbeitet wird, sondern Formen der Statusfatalität annimmt, in der Aufstiegsaspirationen selbst bedeutungslos geworden sind.

F a zit In den Debatten über die Turbulenzen in der gesellschaftlichen Mitte wird deutlich, dass mit den Pluralisierungsprozessen in der Gegenwart jenseits der Erweiterung von Chancen auch ein Wandel von Risiken verbunden ist. Dieser Wandel lässt sich allerdings – anders als in der Diagnose einer Krise der Mitte vielfach diskutiert – kaum entlang einer vollkommenen Entgrenzung von Risiken des Abstiegs fassen. Stattdessen muss eine sozialstrukturelle Analyse

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von Verunsicherungen und enttäuschten Erwartungen eine umfassende Betrachtung von Lebenschancen leisten, die jenseits der Gemeinsamkeiten auch die Differenzen zwischen den Arbeitstätigkeiten und Lebensmodellen in einer Gesellschaft im Blick behält. Die Frage nach der Zukunft der Ungleichheit ist immer noch eng mit der Frage nach der Zukunft der Arbeit verbunden. Ein Nachdenken über den Wandel sozialer Ungleichheit in der Gegenwart bedarf der Analyse veränderter Bildungs- und Erwerbschancen, der Deregulierung von Beschäftigungsverhältnissen und der Entgrenzung von Arbeit und Privatleben (Berger/Konietzka 2001; Gottschall/Voß 2003; Jürgens 2006; Pfeiffer et al. 2008; Castel/Dörre 2009; Groh-Samberg 2014; Grimm/Vogel 2014; Kratzer/Menz 2014). Erwerbsarbeit strukturiert Lebensläufe, prägt gesellschaftliche Statuspositionen und ist ein Türöffner zum Anrechtssystem sozialstaatlicher Sicherung – und zwar umso mehr, als die Transformation des Wohlfahrtsstaates sozialpolitische Leistungen im Zuge einer »politics of employability« (Hillage/Pollard 1998) an die Eigeninitiative eines »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007) bindet. Spätestens mit den Stichworten Entgrenzung und Eigeninitiative wird gleichzeitig deutlich, dass es in den Forschungsperspektiven auf Arbeit und Ungleichheit neben der Frage, wie sich die Hierarchien der Sozialstruktur verändern, wenn sich Beschäftigungsverhältnisse wandeln, immer auch um die Frage geht, was Arbeit eigentlich mit den Beschäftigten macht. Die meritokratische Trias von Bildung, Beruf und Einkommen (Kreckel 1992) ist heute um Exklusion, Prekarisierung und Proletarität erweitert (Kronauer 2002; Bude/ Willisch 2006; Grimm/Vogel 2008; Castel/Dörre 2009; Bahl 2014). Mit dieser neuen Trias werden neben sozialdemographischen Merkmalen wie Einkommensniveau, Beschäftigungsstabilität und der Integration in die sozialen Sicherungssysteme (Brehmer/Seifert 2008) gerade auch Aspekte der Verunsicherung und Verwundbarkeit im Arbeits- und Lebenszusammenhang betont (Brinkmann et al. 2006; Jürgens 2011; Mau et al. 2012). Eine sozialstrukturell interessierte Forschung zum Wandel der Arbeit muss, anders gesagt, zwar im Feld der Erwerbsarbeit und der Analyse institutioneller Beschäftigungsbedingungen beginnen. Sie muss aber auch darüber hinausreichen und nach den Gemeinsamkeiten und Differenzen in den Deutungsmustern der Beschäftigten zum Zusammenhang von Arbeit und Leben fragen. Ein Ort der Sozialstruktur und der Arbeitswelt der Gegenwart, an dem beide Perspektiven zusammenlaufen, ist das Segment der Routinedienstleistungen – angefangen von Gebäudereinigung und -sicherung, über Postzustellung bis hin zu Textil- und Lebensmitteldiscount. Was die Beobachtungen dieses unteren Dienstleistungssegments für die Diskussionen zur Mitte anbieten können, ist vor allem, durch einen Blick von außen das Ende der einheitlichen Entgrenzung von Risiken zu konturieren: Verunsicherung beginnt in diesem Feld nicht damit, dass eine auf Aufstieg

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zielende Statusarbeit und Investitionsbereitschaft immer wieder auf (berufs-) biographische Blockaden stößt. Vielmehr beginnt sie damit, dass investive Praktiken im Dienste von Aufstiegsaspirationen ihre Anziehungskraft verloren haben. In Überlebensmodellen einer marktbezogenen Statusfatalität praktizieren die Beschäftigten Varianten der Gegenwartssicherung, die keineswegs einheitlich sind. Zwischen Schwarzarbeit zur Einkommenssteigerung, Sabotage bei erhöhter Arbeitsbelastung und findiger Selbstbescheidung im Konsumverhalten zeigen sich in ihnen immer aufs Neue die eigensinnigen Praktiken in diesem Teilbereich der Arbeitswelt und Sozialstruktur. Dennoch bleibt ihnen bezogen auf die Investitionsstörungen der Mitte durchweg eines gemeinsam: Der Traum vom Aufstieg in die gesellschaftliche Mitte hat unter den Angestellten der Routinedienstleistungen der Gegenwart sein Ende erreicht und soziale Mobilität wird unwahrscheinlich. Für die Zukunft der Ungleichheit ist diese Beobachtung erheblich, weil es mit ihr darum geht, inwieweit für identifizierte Problemlagen Optionen der Adressierung und Veränderung zu erkennen sind und wo sich umgekehrt angesichts einer Gegenwart ohne Alternative die Reproduktionsrisiken sozialer Lagen erhöhen. Was die Beobachtungen aus dem unteren Dienstleistungssegment am Ende leisten können, ist daher, den sozialstrukturellen Scheinwerfer neu zu justieren und die blinden Flecken einer Gesellschaft der Mittelschichten auszuloten. Die auf die Mitte zugespitzte Krisenrhetorik ist auf die Integration der Gesellschaft im Zentrum konzentriert. Wenn es in diesen Krisendiagnosen allerdings um die Ausweitung von Lebenschancen geht, muss sie auch die gesellschaftlichen Peripherien im Blick behalten.

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Wer bin ich oder wo bin ich? Identitätsarbeit Mittelschichtsangehöriger in Insolvenz 1 Patricia Pfeil, Marion Müller und Udo Dengel

Zum Stichtag 1. Oktober 2017 wurde für die gesamte Bundesrepublik eine Schuldnerquote von 10,04 Prozent gemessen. Damit sind rund 6,9 Millionen Bürger und Bürgerinnen über 18 Jahre überschuldet und weisen nachhaltige Zahlungsstörungen auf (Creditreform 2017). Betroffen sind nicht nur Geringqualifizierte, Menschen mit Migrationshintergrund oder kinderreiche Familien, sondern auch Menschen mit hoher Bildung, solidem Einkommen und wirtschaftlichem Wissen. Überschuldung und Insolvenz sind also keine Randgruppenphänomene – sie treten in allen Bevölkerungsschichten auf. Für die Betroffenen heißt Überschuldung, dass sie nicht mehr in der Lage sind, ihren Verbindlichkeiten nachzukommen.2 Die faktische Zahlungsunfähigkeit3 ist jedoch nur ein Aspekt der Überschuldung; der andere ist die Situationswahrnehmung und Deutung, die mit der Überschuldungssituation

1 | Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine überarbeitete und erweiterte Fassung des Beitrags von Müller und Pfeil (2017), der in den Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg 2016 erschienen ist. Die Gesamtstudie ist unter dem Titel »Identität unter Druck. Überschuldung in der Mittelschicht« im Jahr 2017 bei Springer VS erschienen. 2 | Definiert wird ein überschuldeter Haushalt gemäß einer ökonomisch ausgerichteten Festlegung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (2008: 49) als ein Privathaushalt, dessen »Einkommen und Vermögen aller Haushaltsmitglieder über einen längeren Zeitraum trotz Reduzierung des Lebensstandards nicht ausreich[t], um fällige Forderungen zu begleichen«. Auch im aktuellen Fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wird auf diese Definition Bezug genommen (BMAS 2017: 486). 3 | Zahlungsunfähigkeit meint nach InsO § 17 Abs. 2: »Der Schuldner ist zahlungsunfähig, wenn er nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen. Zahlungsunfähigkeit ist in der Regel anzunehmen, wenn der Schuldner seine Zahlungen eingestellt hat.«

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einhergeht.4 Die Betroffenen finden sich in einer neuen Lebenssituation wieder, in der sie nicht zuletzt durch die Inanspruchnahme des Privatinsolvenzverfahrens massive Einschränkungen ihrer Entscheidungsmöglichkeiten und Handlungsfähigkeiten erfahren. Gerade diejenigen, die sich aufgrund sozio­ struktureller Merkmale wie Bildung, Ausbildung und beruflicher Tätigkeit der Mittelschicht zuordnen lassen, erleben durch Überschuldung und/oder die folgende Privatinsolvenz5 massive Veränderungen ihrer Lebenssituation und bisher gültigen Identität. Mit der grundlegenden Annahme einer Erschütterung von Identität als Folge der Notwendigkeit zur Privatinsolvenz stellt sich die Frage, wie Mittelschichtsangehörige mit der für sie neuen und zutiefst irritierenden Lebenssituation umgehen, wie sie diese Krise bewältigen und was sie unternehmen, um ihre Identität als Mittelschichtsangehörige zu erhalten. Im vorliegenden Beitrag wird anhand der Ergebnisse des Projekts »Identitätsarbeit unter Druck«6 dargelegt, dass überschuldete Mittelschichtsangehörige der Gefahr des sozialen Abstiegs durch Festhalten an dem, was sie als mittelschichtsrelevant erachten, begegnen und dadurch zugleich – implizit – Abgrenzungspraktiken nach ›unten‹ vollziehen. Der Wille, an bestehenden Normen und Werten, aber auch Alltagspraktiken festzuhalten, die für die eigene Lebensweise im Rahmen der Mittelschichtszugehörigkeit als maßgeblich erachtet werden, zeigt sich als bestimmend für eine Bewältigung der Überschuldungssituation.

4 | Wir schließen uns Korczak (2003: 26) an, der folgende dreistufige Definition von Überschuldung vorschlägt: Eine subjektive Überschuldung ist gegeben, wenn sich eine Person psychisch wie finanziell überfordert fühlt, Schulden zurückzuzahlen. Relativ überschuldet ist jemand, wenn trotz Reduzierung des Lebensstils der Einkommensrest nach Abzug der notwendigen Lebenshaltungskosten nicht mehr ausreicht, die Schulden fristgerecht zu tilgen. Eine absolute Überschuldung ist gegeben, wenn Einkommen und Vermögen des Schuldners/der Schuldnerin die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr decken. 5 | Bei der Privatinsolvenz handelt es sich um ein Verfahren für private Schuldner*innen, sich innerhalb von sechs Jahren zu entschulden. Nach der erfolgreich überstandenen »Wohlverhaltensphase« erhalten die Schuldner*innen durch das Gericht eine Restschuldbefreiung und sind damit schuldenfrei. 6 | Das Projekt »Identitätsarbeit unter Druck. Mit welchen Praktiken bearbeiten überschuldete Menschen aus der Mittelschicht ihre gefährdete soziale Identität und welche Handlungsoptionen und Handlungsrestriktionen erwachsen daraus?« wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert und von 10/2012 bis 09/2015 an der Universität Duisburg-Essen, Institut für Kommunikationswissenschaften, Prof. Dr. Jo Reichertz, durchgeführt.

Wer bin ich oder wo bin ich?

Theore tische E inordnun g Identität als Mittelschichtsangehörige*r wird von allen, die sich der Mittelschicht zugehörig fühlen, ständig hergestellt und daran gemessen, was gesellschaftlich als Mittelschicht betrachtet wird. Die »›subjektive‹ Seite von Überschuldungprozessen […] [beinhaltet] immer auch das Allgemeine, die soziale oder gesellschaftliche Seite des Prozesses« (Hirseland 1995: 125), und Subjekte machen etwas mit den sie umgebenden »persönliche[n], soziale[n], rechtliche[n], ökonomische[n] und gesellschaftliche[n] Abläufen« (Hirseland 1995: 130). Um Orientierung und Handlungsfähigkeit zu behalten beziehungsweise wieder oder neu zu erlangen, müssen Überschuldete Identitätsarbeit leisten. Identitätsarbeit heißt in diesem Kontext vor allem: die reaktive und interaktive Ausarbeitung kohärenzsichernder Strategien zur Erhaltung beziehungsweise zum überzeugenden Umbau von Identität und damit die Sicherung von Handlungsfähigkeit unter den Bedingungen der Insolvenz. (Mittelschichts-) Identität hängt unmittelbar zusammen mit dem Wunsch und dem aktiven Bestreben, einen Effekt nach außen zu erzielen (Reckwitz 2008: 130). Begriffe wie ›Selbstoptimierung‹, ›Unternehmerisches Selbst‹ etc. markieren das Agieren der Mittelschicht auf den Märkten der Selbstdarstellung. Jede und jeder Einzelne ist gefordert, sich eine eigene »Bastelbiographie« (Beck/Sopp 1997: 11) aufzubauen, die im Zeitalter der Uneindeutigkeit von Schicht oder Klasse paradoxerweise Standard wird und mit der angezeigt werden kann, wie man sich positioniert. Die Selbstpositionierung in der Mittelschicht ist nicht ganz unabhängig von materiellen Dingen: »Wer über die soziale Mitte spricht, der spricht über die Dynamik und Beweglichkeit sozialer Beziehungen, insofern nämlich, als die Menschen auch in einem Verhältnis zu Sachen stehen, also zu wirtschaftlichen Gütern, deren Wachstum oder Schwund, Standortwechsel oder Qualitätsveränderung« (Marbach 1942: 11). Der Wohlfahrtsstaat gilt dabei als strukturelles Vehikel, welches das Werkeln an der eigenen Bastelbiographie oder -identität zulässt und erwartet. In seiner Sicherheit kann man sich einrichten. Er ist aber auch ein »krisenhafter Wohlfahrtsstaat« (Hitzler 2000: 162), in dem gewisse Hilfen bereitstehen, wenn Überschuldung droht, der jedoch zugleich sanktioniert, wenn seinen – für unsere Interviewpartner*innen nicht immer eindeutigen – Regeln nicht gefolgt wird. Als Überschuldete müssen sich die Mittelschichtsangehörigen in den vorgeformten Strukturen einer »Schuldnergesellschaft« (Hirseland 1995: 13) als individuell Erlebende, Deutende und Handelnde zurechtfinden und gegebenenfalls (neu) platzieren. Sie werden angehalten zu konsumieren; dazu orientieren sich Subjekte an »konventionellen Zeichen« (Strauss 1987: 139) dessen, was man so haben muss, um zugehörig zu sein. Im Dilemma, sich nicht mehr all das leisten zu können, was eigentlich dazugehört, wird dennoch versucht, eine »Passung zwischen dem subjekti-

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ven ›Innen‹ und dem gesellschaftlichen ›Außen‹ [herzustellen]« (Keupp/Höfer 1997: 28), sich damit als konstant wahrzunehmen und sich in irgendeiner Weise sozial anerkannt und zugehörig zu fühlen. Die Identität von Mittelschichtsangehörigen gerät mit der Überschuldung unter erheblichen Druck, mit dem ein Umgang gefunden werden muss: Mit Berger und Luckmann (1969: 171) könnte man diese Situation als Krisensituation bezeichnen: Identität wird auf den Kopf gestellt und einer retrospektiven Revision der Deutung abgelaufener Ereignisse, Erlebnisse und Handlungsvollzüge unterzogen. Sichtbar wird dies, wenn überschuldete Mittelschichtsangehörige in ein Insolvenzverfahren geraten (Zeitpunkt), aber auch schon im Verlauf des Schuldenmachens und der Ankündigung von Insolvenz (Prozess). Dabei sehen wir mit Vogel (2010: 40) die Mitte der Gesellschaft als »Wimmelbild des Sozialen, das eine soziologisch-empirische und normativ zeitdiagnostische Herausforderung« ist, aber keinen eindimensionalen Raum besetzt. Die Mittelschicht ist keine »kulturell homogene Fraktion, vielmehr gibt es ein Nebeneinander unterschiedlicher Fraktionen und Milieus mit je eigenen Lebensstilen, Werten und Lebensweisen« (Mau 2014: 5). Der Mittelschichtsbegriff kann im Anschluss an Arndt (2012) oder Vogel (2010) als »Relationsbegriff« verstanden werden. Mittelschicht wird dabei nicht allein als soziostrukturelle Zuordnung gesehen, sondern als Kategorie ›relationaler Selbstzuordnung‹ verstanden. Treffend drücken dies Noll und Weick (2011: 2) aus: »[D]ie subjektive Zuordnung gibt Aufschlüsse darüber, wie Individuen und Gruppen ihre eigene soziale Position im Vergleich zu anderen […] verorten und aus welcher Perspektive sie am sozialen und politischen Leben partizipieren«.

M e thodisches V orgehen Über einen Zeitraum von drei Jahren wurden 14 Paare und drei Einzelpersonen aus allen Teilen Deutschlands begleitet und in drei Wellen mittels qualitativer Einzel- und Paarinterviews befragt, um so die Veränderungsprozesse hinsichtlich der Überschuldung und ihrer Identitätsarbeitsstrategien erfassen zu können. Der methodologische Ausgangspunkt der Untersuchung ist im Wesentlichen sozialkonstruktivistisch (siehe Berger/Luckmann 1969, weiterführend auch Reichertz/Schröer 1994). Über diesen Ansatz lässt sich Überschuldung zunächst als Problem oder gar als Krise beschreiben, das in Handlung und Interaktion bewältigt werden muss. Solange das Problem mühelos in Routinen der Alltagswirklichkeit integriert werden kann, ist es zu normalisieren; gelingt dies nicht, sind weitere Formen der ›Wirklichkeitsabsicherung‹ nötig. Daran angelehnt sind Verfahren der Datenerhebung und Datenauswertung, die vor allem mit zentralen Elementen der Grounded Theory Methodology (Strauss 1994) operieren. Die Falldaten sollten einerseits biographische

Wer bin ich oder wo bin ich?

Erzählungen generieren (vgl. Schütze 1983) und andererseits Hinweise über die Veränderungen der (Selbst-)Konstruktionen der überschuldeten Personen ermöglichen. Das für unsere Forschungsfrage zentrale Kriterium der Mittelschichtsangehörigkeit wurde zum einen anhand objektiver soziodemographischer Variablen (Bildung, Beruf, Einkommen) erfasst. Im Rahmen der Rekrutierung von Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern bestand dann die Herausforderung darin, überschuldete Mittelschichtsangehörige zu finden. Der üblicherweise gewählte Zugang, Menschen in Überschuldung zu befragen, geht über Schuldnerberatungsstellen – eine Institution, die Mittelschichtsangehörige aus Scham eher meiden. Aus diesem Grund wurden alternative Rekrutierungswege gewählt, insbesondere über Aufrufe in relevanten Internetforen, Selbsthilfegruppen und persönliche Anschreiben (N=880) anhand der Daten der offiziellen Insolvenzbekanntmachungen der Insolvenzgerichte der Bundesrepublik Deutschland – wobei sich der letztgenannte Zugang als der erfolgreichste Rekrutierungsweg erwies (vgl. dazu ausführlich Müller et al. 2017). Die sich so konstituierende Untersuchungsgruppe zeigte eine hohe Motivation, an der Studie teilzunehmen. So wurde bereits in den ersten telefonischen Kontakten oftmals geäußert, im Rahmen der Interviews »die ganze Geschichte« erzählen zu wollen und die damit verbundene Erleichterung, alles loswerden zu können: »Was ich erlebt habe, da müsste man ein Buch drüber schreiben.« Das Interesse an der Studienteilnahme offenbart ein Bedürfnis, das bei der untersuchten Gruppe der Mittelschichtsangehörigen stärker als bei anderen, ebenfalls untersuchten Untersuchungsgruppen zum Ausdruck kommt: im Rahmen des Erzählens der erlebten Überschuldungsgeschichte die eigenen Konstruktionen vermitteln zu können, um auf diese Weise eine Sinnmanifestation zu erreichen. Ebenso verweist die Interviewbereitschaft auf eine – aufgrund der Überschuldung respektive Insolvenz – entstandene beziehungsweise (oft aufgrund von Scham bewusst selbst) gewählte Isolation und Sprachlosigkeit im sozialen Umfeld, in der sich viele unserer Interviewpartner*innen befinden. Überschuldung in der Mittelschicht gilt als Stigma, das von vielen nicht thematisiert werden kann. In fast allen Fällen ist der Kreis derjenigen, der über die Überschuldung Bescheid weiß, äußerst klein; in der Regel sind dies nur der engste Familienkreis und/oder ausgewählte Freund*innen (vgl. Müller et al. 2017 oder auch Müller/Pfeil/Dengel 2017). Hinsichtlich der soziostrukturellen Einordnung kann das Sample folgendermaßen beschrieben werden: Die Interviewpartner*innen sind zwischen dreißig und fünfzig Jahre alt, zumeist verheiratet und mit Kindern. Die Paare leben überwiegend im westlichen Teil Deutschlands und arbeiten in den meisten Fällen im langfristig ausgeübten Beruf, zumindest einer der Partner*innen. Die beruflichen Tätigkeiten decken das Spektrum hochqualifizierter bis einfacher Tätigkeiten ab, überwiegend in Anstellung, in wenigen Fällen auch in freiberuf-

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licher Tätigkeit. Vom Arzt über die leitende Position in der Buchhaltung bis zum Einzelhandelskaufmann/-kauffrau ist eine Vielzahl von beruflichen Tätigkeiten vorhanden. Alle Interviewpartner*innen haben eine Berufsausbildung oder ein Studium absolviert.

M it telschichtsspezifische N ormalitätskonzep te im K onte x t der I nsolvenz Identität gerät dann ins Wanken, wenn die eigenen Normalitätskonzepte infrage gestellt werden (müssen). Die Interviewpartner*innen haben sehr deutliche Vorstellungen, wie das Leben eigentlich sein muss, wie ihr Leben sich normalerweise gestaltet. Im Zuge der Überschuldung nehmen sie Veränderungen zu ihrer früheren, gewohnten Lebenssituation wahr. Normalitätskonzepte sind gebunden an einen bestimmten Lebensstil, ein soziales Milieu. Dabei sind mit den Normalitätskonzepten zum Beispiel Wertorientierungen wie Autonomie und Entscheidungsfreiheit verknüpft, zudem mit Symbolisierungen wie Wohnen im Eigentum oder in schönen Mietwohnungen, womit auch (mindestens) ein eigenes Fahrzeug und (mindestens) jährliche Urlaube einhergehen. Woran machen es die überschuldeten Mittelschichtsangehörigen fest, dass sie der Gefahr ausgeliefert sind, nicht mehr Bestandteil ihrer Schicht zu sein und ihren sicheren Platz in dieser zu verlieren? Welche statusimmanenten Lebensformen und spezifischen Werte werden in den Interviews thematisiert, und wie erfolgt die Wahrnehmung und der Umgang mit Veränderungen, wenn diese Werte aufgrund der krisenhaft erlebten Überschuldung und (anstehenden) Privatinsolvenz drohen, nicht mehr gültig zu sein, nicht mehr gelebt werden zu können? Als ein zentrales Mittelschichtssymbol wird Wohnen im Rahmen der statusimmanenten (gewohnten) Lebensweisen thematisiert. Wohnen, möglichst im eigenen Haus oder der eigenen Wohnung, dient der Distinktion. Wohnadresse, Wohnumfeld definieren soziale Zuordnungen. Ist die Familie Besitzerin eines Eigenheims, wird dessen Erhalt – auch bei anstehender Insolvenz – höchste Priorität eingeräumt: »Ja, ich hab immer gesagt, ich will für die Kinder das Zuhause erhalten.« Muss im Zuge des Insolvenzverfahrens das Wohneigentum aufgegeben werden, wird dessen Verlust als äußerst dramatisch erlebt und im Interview durch hochemotionale Momente begleitet: »Die Sehnsucht nach dem, was man gehabt, ist auch, das muss [man] ja erstmal verarbeiten.« Interviewerin: »Und was meinen Sie mit: Was man gehabt hat?« Interviewpartnerin: »Ja, das ist einfach […], eben an unserem Haus +Schluchzen+.«

Wer bin ich oder wo bin ich?

Mit dem Verlust der Wohnung oder des Hauses geht der Verlust von materieller wie sozialer Sicherheit einher. ›Etwas zu haben‹ bezieht sich für die Interviewpartner*innen nicht nur auf den Besitz, auf die Möglichkeit, den Kindern etwas zu vererben, sondern auch auf eine Einordnung in der Gesellschaftshierarchie, in der ›etwas zu haben‹ auch heißt, ›es geschafft zu haben‹. Deutlich wird dies bei einer Familie, die auch während der Insolvenzphase das Mittelschichtsideal ›Eigenheim‹ verfolgt und die in diesem Zusammenhang erlebten Rückschläge als dramatisch hinsichtlich der Aufrechterhaltung ihrer Mittelschichtsidentität erlebt: »Aufgrund dieser Situation, dass mein Mann insolvent ist, obwohl er jetzt arbeitet, wir können uns das nicht leisten, es gibt uns niemand einen Kredit ob Kauf ob Bau, was auch immer […] und dann war’s ne Riesentragödie für mich, weil wir diese Wohnung nicht bekommen haben, und das ist sehr schwer zu verarbeiten.«

Wie im Zitat zum Ausdruck kommt, zerbirst nicht nur der Traum vom Wohneigentum. Den Interviewpartner*innen wird durch die Situation deutlich gemacht, dass ihnen nicht (mehr) zugestanden wird, Wohneigentum zu erwerben oder die Miete für eine andere, bessere Wohnung zu bezahlen. Die erlebte Ausgrenzung schildert die Interviewpartnerin mit »ich hab mich dann so irgendwie als Mensch zweiter Wahl gefühlt.« Ein weiteres zentrales Merkmal der Mittelschichtszugehörigkeit ist die Bedeutung von (eigenständiger) Mobilität. Mobilität, die – jenseits des gut ausgebauten öffentlichen Verkehrsnetzes großer Städte – gekennzeichnet ist durch das eigene Auto; bei vielen Familien der Mittelschicht, die auf dem Land wohnen, auch durch zwei Autos. Mit dem infolge des Insolvenzverfahrens (drohenden) Verlust des eigenen Autos oder den zu tragenden hohen Kraftstoff kosten ist für die Interviewpartner*innen eine massive Einschränkung ihres Lebensstils verbunden. Die Einschränkung der individuellen Mobilität wird zur Herausforderung, wenn das eigene Auto beispielsweise als unabdingbar für die Voraussetzung des Schulbesuchs des Kindes gemacht wird: »Ohne Auto kommt er nicht in die Schule, weil wir haben ihn natürlich in einer anderen Schule angemeldet (Privatschule; Anm. der Autor*innen) wie die Großen, weil bei uns im Dorf […], also fahr ich da jeden Morgen bis Ort 2 und hol ihn dann nachmittags wieder ab.«

Die Einschränkung von Mobilität ist in vielen Fällen mit dem Verzicht auf autonome Entscheidungen (zum Beispiel hinsichtlich der Schulwahl für die Kinder) verbunden. Das Brüchigwerden bisher erlebter Selbstverständlichkeiten führt nicht nur zu einer Veränderung gewohnter Alltagspraxen, sondern wird als Form sozialer Ausgrenzung aus gewohnten Bezügen erlebt.

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Urlaub zu machen, in andere Länder zu reisen, wird in den Interviews als zentrales Normalitätskonzept im Rahmen der Mittelschichtszugehörigkeit thematisiert. Ist dies – aufgrund eingeschränkter finanzieller Ressourcen – nicht mehr realisierbar, führt das zu einem starken Verlustgefühl bei den Betroffenen: »Das ist schon traurig, ich hätt schon gern zum Beispiel mal wieder einen Urlaub […] ich weiß genau, wenn ich einen Kredit aufnehmen könnte, würde ich gleich wieder davon in den Urlaub fahren.«

Urlaub fungiert dabei auch stark als Statussymbol der gesellschaftlichen Zugehörigkeit und Akzeptanz, häufig vermittelt über die Kinder: »Und äh ja, das einzige was, was mir persönlich fehlt, das is’, dass ich meine Kinder irgendwo in Urlaub fahren kann, anderes is’ mir egal, dass die auch in die Schule kommen können und erzählen, dass die da waren und da waren.«

Generell führt der drohende Verlust des gewohnten mittelschichtstypischen Lebensstils im Zuge der Insolvenz in nahezu allen Fällen (und vor allem bei den befragten Müttern) zu Belastungen und Sorgen, die sich auf potentielle Exklusionserfahrungen der Kinder innerhalb ihrer sozialen Netzwerke beziehen: »Meine Kinder […] die werden ja auch älter und die Wünsche werden ja auch immer größer +weint+ […] Weil die sind ja auch nur einmal jung und man will ja auch, dass sie von ihren Leuten akzeptiert werden.«

Neben die mit den Normalitätskonzepten einhergehenden mittelschichtsspezifischen Lebensweisen und deren Symbolisierung treten die Wertvorstellungen, die sich typischerweise in der Mittelschicht finden lassen:7 Ein unbedingter Glaube an Bildung, an Leistung, die eigene Handlungsfähigkeit, die sich auf die Teilhabe am Marktgeschehen sowie – damit verbunden – eine generelle Entscheidungsfreiheit und Autonomie in den zentralen Lebensbereichen bezieht, werden von den Interviewpartner*innen betont. Entsprechend wird der Verlust von Symbolen der Teilhabe auch beklagt und als Einbuße von Entscheidungsfreiheit und Autonomie erlebt. Er führt zu großen Belastungen und Identitätserschütterungen:

7 | Wir gehen hier nicht auf die Unterschiede ein, die sich in den gesellschaftlichen Milieus der Mitte zeigen, wie sie etwa in den Sinus-Milieus dargestellt sind.

Wer bin ich oder wo bin ich? »Das schlägt schon aufs Selbstbewusstsein, wo du kein Handy auf Vertrag nehmen kannst oder auch, kriegst du auch keine […] Sparkassenkarte […] das is’ ja natürlich dann, kratzt am Ego.«

Infolge der Insolvenz befinden sich Mittelschichtsangehörige in dem Dilemma, diese Teilhabe, Selbstverantwortung und Eigenständigkeit nicht mehr vollumfänglich zur Verfügung zu haben und sich von außen an sie herangetragenen Regeln und Anforderungen – von Insolvenzverwaltern, Gerichten, gesetzlichen Rahmenbedingungen – unterwerfen zu müssen, die nicht die eigenen sind. Gleichzeitig besteht der Anspruch, den Kindern Bildung zu ermöglichen, gesellschaftliche Teilhabe verwirklichen zu können, soziale Beziehungen pflegen zu können und für eigene Leistung, die eigene Erwerbstätigkeit Anerkennung zu erleben. Mit der Insolvenz werden also nahezu alle Zeichen der Mittelschichtsexistenz brüchig. Verbunden mit der Anpassung an die neuen, von außen gesetzten Anforderungen und der unbedingten Verpflichtung zur Einhaltung dieser Vorgaben ist eine soziale wie personale (De-) Platzierung.

›D oing M it telschicht‹ in der Ü berschuldun g Wie begegnen überschuldete, insolvente Menschen diesen einschneidenden Veränderungen? Welche Bemühungen unternehmen sie, ihren Platz in der gesellschaftlichen Mitte zu wahren? Welche Form der Identitätsarbeit müssen sie dafür vollbringen? Es lässt sich anhand des empirischen Materials herauskristallisieren, dass überschuldete Mittelschichtsangehörige der Gefahr des sozialen Abstiegs aus der Mitte weniger durch explizite Abgrenzung nach unten begegnen, sondern vorrangig und vehement durch ein Festhalten an dem, was sie als mittelschichtsrelevant erachten.8 Eine Erkenntnis, die wir aus der Untersuchung gewinnen können, ist die, dass die Zugehörigkeit zur Mittelschicht aufgrund des Status ›überschuldet/ insolvent‹ nicht mehr unhinterfragt besteht, sondern von den Betroffenen explizit hergestellt werden muss. Dies gilt für die Darstellung nach außen wie nach innen. Die Überschuldeten müssen Strategien entwickeln, die ihnen eine Zugehörigkeit zur Mittelschicht nach wie vor ermöglichen; der finanzielle Abstieg muss vom sozialen Abstieg entkoppelt werden. Für die Überschuldeten heißt dies, dass sie zur Sicherung ihrer Mittelschichtsidentität auf-

8 | Abgrenzungstendenzen zu einer imaginierten sozialen Unterschicht sind von daher eher implizit – über das Festhalten an der Mittelschicht – vorhanden.

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wendige Identitätsarbeit9 leisten müssen: Sie fühlen sich (heraus-)gefordert, den Normalitätskonzepten gerecht zu werden, wohl wissend, aufgrund der Überschuldung und Insolvenz sozusagen vor Mauern zu stehen. Das Leben in Überschuldung erfordert eine aktive Auseinandersetzung mit den zentralen Normalitätskonzepten. Gefordert ist das Suchen nach Möglichkeiten, die impliziten Wertvorstellungen von Autonomie und Teilhabe explizit zu machen, die Begrenzungen in der eigenen Lebenssituation aufzunehmen und dafür eine Passung zu finden. Beispielhaft soll im Folgenden anhand verschiedener Strategien der Identitätsarbeit aufgezeigt werden, wie überschuldete Menschen eine Form von ›Doing Mittelschicht‹ betreiben. Viele der Interviewpartner*innen versuchen mit aller Vehemenz, die durch die Überschuldung beziehungsweise Insolvenz brüchig gewordenen Mittelschichtsidentitäten nicht zu verlieren. Die Betroffenen halten an den bisher geltenden Normen und Werten hinsichtlich zum Beispiel Konsum, Bildung (der Kinder) oder auch Mobilität fest und versuchen, die gewohnte Lebensweise (und die damit verbundenen Konsummuster) soweit als möglich aufrechtzuerhalten. Im Vordergrund steht die Repräsentation von Mittelschicht. Als Symbol für die Überhöhung kann der Thermomix stehen, dessen Erwerb – weil die Freundinnen diese Multifunktionsküchenmaschine auch haben – zum Zentrum des Strebens wird: »Das ist eben halt so eine Küchenmaschine und ähm, ist vielleicht ein bisschen doof, kostet eben halt 985 Euro […] mein Mann hat sich die jetzt mittlerweile auch schon angeguckt, und ich bin drauf und dran, meine Schwiegermutter mal zu befragen, ob sie, äh man kann die finanzieren, ob sie mir diesen Finanzierungsvertrag mit monatlich 40 Euro unterschreibt.«

Eine ähnliche Funktion erfüllen hochwertiges Kinderspielzeug oder eine vorzeigbare Wohnungseinrichtung. Oft wird der Erhalt dieser Statussymbole – vom Besuch des Freizeitparks bis hin zum Geigenunterricht – ganz zentral für ein energisches Abwenden von Exklusion als notwendig begründet. Dieser Statuserhalt wird unter großen Anstrengungen erarbeitet und fordert von den Betroffenen viel ab: So werden zum Beispiel neben der Hauptberufstätigkeit Nebenjobs angenommen, um sich weiterhin Dinge leisten zu können und die mit einer Zugehörigkeit zur Mittelschicht verbundenen gesellschaftlichen Anforderungen (weiterhin) zu erfüllen: »Ich hab eben gearbeitet, ja und nebenher auch noch gearbeitet […] dann tagsüber den ganzen Tag arbeiten, abends noch

9 | Was Identität ist und wie Identität ›getan‹ oder ›bearbeitet‹ wird, wird im Rahmen unserer Untersuchung nicht durch eine Definition unsererseits vorausgesetzt, sondern durch die Interviewpartner*innen bestimmt.

Wer bin ich oder wo bin ich?

arbeiten gehen, nebenher verkaufen« und, so eine weitere Interviewpartnerin, »gedacht, irgendwann kippe ich um.« Verbunden ist diese Anstrengung in vielen Fällen mit einem mühevollen Verbergen der aktuellen Lebenssituation. Erlaubt die finanzielle Lage eine Teilhabe nicht (mehr), wird zum Beispiel hinsichtlich sozialer Aktivitäten die tatsächliche Situation zumeist verheimlicht, und es werden – wie auch aus der Armutsforschung bekannt – soziale Kontakte eingeschränkt, Unternehmungen und Verabredungen unter plausiblen Vorwänden abgesagt oder nur solche wahrgenommen, die es möglich machen, den Schein finanzieller Möglichkeiten aufrechtzuerhalten.

D ie E rwerbsgesellschaf t fest im B lick : E hrenamtliches E ngagement Mittelschicht nicht einfach nur sein, sondern auch leben (zu müssen), ist die Situation, vor der viele der Interviewpartner*innen stehen. Um sich trotz erheblich eingeschränkter finanzieller Mittel und unter formalen Restriktionen des Insolvenzrechts als Teil der Mittelschicht zu fühlen, bietet sich die Betätigung im Ehrenamt als Form zivilgesellschaftlicher Aktivität an. Es wird auf das Ehrenamt zurückgegriffen, auf bürgerschaftliches Engagement, welches nicht nur statistisch noch immer vornehmlich eine Mittelschichtsbeschäftigung ist (zum Beispiel Erlinghagen 2013 oder Munsch 2003). Überschuldete Mittelschichtsangehörige folgen in unserer Untersuchung den Erwartungen der Erwerbsgesellschaft, um sich zu ent-schuld(ig)en: Erwerbstätig zu sein, tätig zu sein – das sind zentrale Anforderungen, die sie an sich und ihre Angehörigen stellen; keiner (Erwerbs-)Tätigkeit nachzugehen, bedarf guter Gründe. Diese Vorstellungen haben auch die Interviewpartner*innen antizipiert: »Dass es nicht heißt, ich arbeite nicht, nur Füße hoch. Die sehen immer, wir tun was oder ich tu auch was.« Sichtbar aktiv zu sein, hat eine zentrale Bedeutung. Der Status des ordentlichen (Mittelschichts-)Bürgers kann nur erhalten werden, wenn (zumindest) angezeigt wird, dass das eigene Tun ausreicht, um sich selbst zu versorgen: »[Ü]ber die Konsolidierung des Erwerbsstatus [gelangt man] zu einem sozialen Bürgerschaftsstatus« (Castel 2005: 41). Fällt der Erwerb weg, wird es zwingend notwendig, sich über alternative Tätigkeiten in der Schicht und dem Status zu halten. Bürgerschaftliches Engagement scheint eine solche Alternative zu bieten. Das Risiko, aus einem adäquaten Bürgerschaftsstatus herauszufallen, sinkt, und man findet sich in einer imaginierten Gemeinschaft der Mittelschicht weiterhin wieder. Die Außenwirkung und – damit einhergehend – die Wahrnehmung, Teil der Mittelschicht zu sein, wird aufrechterhalten. Der oben zitierte Interviewpartner engagiert sich seit Verlust seines Jobs ehrenamtlich in einem Wohlfahrtsverband. Diese Tätigkeit

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nimmt eine Stellvertreterfunktion für seine aktive Beteiligung an der Erwerbsgesellschaft ein; zugleich will er über sein Engagement einen Ausgleich zu der Unterstützung, die er vom Staat beziehungsweise der Gesellschaft als Hilfeempfänger im Rahmen der Insolvenz erhält, schaffen: »Ich engagier mich ganz stark bei Wohlfahrtsverband 2 […] wo auch immer, ich kann einfach, von der Allgemeinheit die Steuern zahlen, von denen ich mein Geld bekomme, denen irgendetwas zurückzugeben.«

Der Interviewpartner hält somit an dem fest, was er sein will, wie er sich als Teil seiner Schicht definiert. Er tut dies, indem er anzeigt, dass er derselbe bleibt, weil er weitermacht und sich nicht gehen lässt: »Aber die sehen, dass ich mich nicht hab fallen lassen, sondern dass ich trotzdem weiter mach.«

R ückbesinnung auf tr adierte W erte Daneben lassen sich aus dem Datenmaterial Ausformungen von Identitätsarbeit herauskristallisieren, die im Zuge der Insolvenz auf einen Umbau und eine Neudefinition von Identität hinweisen, indem die Insolvenz als persönliches Wachstum, als Reifeprozess gerahmt wird. Die Betroffenen werden sozusagen zu anderen (und in ihrer Definition auch besseren) Menschen – in Abgrenzung zu früher. Dies ist eng verbunden mit einer Reflexion über Vergangenes, über den Verlauf des Überschuldungsprozesses. Auf diese Art und Weise erleben die Interviewpartner*innen sich nicht (nur) als ohnmächtig, sondern können neue Handlungsfähigkeit in und Autonomie gegenüber der Situation entwickeln. Auch wenn es Einschränkungen im Hinblick auf die durch die Insolvenz begrenzten finanziellen Gestaltungsmöglichkeiten gibt, sehen sie in der individuellen Lebensgestaltung gewisse Freiräume, die sie nutzen. Mit Blick auf Geld und Konsum – zwei Faktoren, die zuvor hohe Bedeutung für die Betroffenen hatten –, zeigt sich nun zum Teil eine kritische Haltung. Die Interviewpartner*innen nehmen eine Veränderung an sich wahr, stellen fest, nun klüger zu sein – vor allem im Umgang mit Geld und Konsumausgaben – und machen im Rückblick auf die vergangene Phase der Überschuldung einen Lerneffekt bei sich aus: »Ich bin froh, dass es so gekommen ist wenn ich ehrlich bin, weil ich habe meinen Blick auf die Gesellschaft ganz massiv geändert, […] ich hab’ ne andre, ne ganz andere Einstellung bekommen, was Luxus, was Leben, was Freunde betrifft […] was ich vorher nicht hatte.« Das persönliche Wachsen bezieht sich nicht nur auf die finanzielle Lebensgestaltung, sondern es meint auch, dass vormals zentrale Werte wie die finanzielle Leistungsfähigkeit und die Darstellung der finanziellen Potenz durch neue (aber zugleich alte) Werte ersetzt werden. Das einfache Leben zu schät-

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zen, mit den Kindern im Park zu spielen, sich um die eigene Gesundheit zu kümmern oder auch häufig spirituelle Erlebnisse und Zuwendung zur Religion werden in den Vordergrund gerückt. Die Insolvenz wird von den Interviewpartner*innen als Chance wahrgenommen. Sie erleben und thematisieren die Überschuldung als Krisenerfahrung, an der sie nicht gescheitert sind, sondern die sie zu anderen, verantwortungsvolleren Menschen macht. Sie sehen sich als hoffnungsfroh, gestärkt aus ihrer persönlichen Lebenskrise – der Insolvenz – hervorzugehen. Die Insolvenz ermöglicht es ihnen zu lernen und zu erkennen, was wirklich wichtig im Leben ist. In dieser Beurteilung greifen sie auf die ihnen bekannten Normalitätskonzepte zurück: Wichtig sind (nun) weniger der sichtbare Konsum oder kostspielige Unternehmungen, sondern das, was auch in der Mittelschicht propagiert wird: (Familien-)Gemeinschaft, persönliche Weiterentwicklung oder Autonomie über die Zeit. Es werden nicht die grundsätzlichen Vorstellungen und Normalitätskonzepte der Mittelschicht abgelöst, sondern es werden spezifische Wertvorstellungen aus dem mittelschichtstypischen Wertekanon in den Vordergrund gerückt: »Ich hab […] den Wert woanders draufgelegt, also jetzt leg ich den woanders drauf. Es ist nicht mehr wichtig zu sagen, ich hab einen Mercedes oder ich hab eine Spülmaschine […] ich sag auch oft, ich hab meine Kinder, weil das ist für mich ziemlich wichtig. Oder, ne das wird einem erst bewusst, wenn man in so einer blöden Situation ist (ja), was einem mehr wichtig ist.«

Rückbesinnung bedeutet für die Betroffenen, (Selbst-)Identifikationen oder (Selbst-)Positionierungen zu folgen, die bereits da (und bekannt) waren, aber aufgrund der Sozialisation in lebensweltliche, das heißt persönliche und berufliche Kontexte eines Marktes der Selbstbehauptung(en) in den (Bewusstseins-) Hintergrund rückten. Sie betreten mit der Konzentrierung auf vergessene, konservative und ›eigentlich‹ gute Werten kein sinnweltliches Neuland. Vielmehr ziehen sie sich auf das zurück, was ohnehin und immer schon da, jedoch nie – so wie es ›eigentlich‹ sein sollte – zur Geltung gekommen war. Und zwar weil das Gute – in diesem Fall zum Beispiel das Nicht-Ökonomisierte, Familiäre oder die Naturverbundenheit – überlagert wurde von Wertprämissen der individualisierten Leistung, der Konkurrenz oder des Konsums: »Ich kann mich im, am Sonnenaufgang erfreuen oder in der Nacht Vollmond […] ich genieß dann auch so Sachen, also ich muss da jetzt nicht immer das Geld ausgeben und was kaufen […] Es hat mir eigentlich früher schon gefallen, aber ich denke mal, das ist alles bewusster geworden.«

Dieser Rückzug bedarf keiner besonderen Rechtfertigung. Es geht lediglich um die intensivierte Wiederannäherung an scheinbar bereits vorhandene und

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zugleich gesellschaftlich legitimierte Sichtweisen und Positionierungen. Keinesfalls mit der Absicht, abzusteigen, das Feld den anderen zu überlassen, sondern gerade mit der Strategie, gute oder bessere Mittelschicht zu sein, distanzieren sich die Interviewpartner*innen von den Praktiken der Anderen und zeigen sich als moralisch überlegen, wenn sie zwar weitermachen, aber nicht wie bisher, sondern mit einer neuen Gewichtung der für die Mittelschicht charakteristischen und spannungsreichen Positionen ›Wachstum‹ versus ›Rückzug auf Bewährtes‹.

F a zit Die genannten Identitätsarbeitsstrategien zeigen, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, mit der Überschuldungssituation umzugehen und damit die eigene Handlungsfähigkeit zu sichern. Mit der Ausarbeitung verschiedener kohärenzsichernder Strategien schaffen es die Betroffenen, auch unter schwierigen Bedingungen ihre Identität (zumindest über eine gewisse Zeitspanne) zu erhalten oder neu zu konfigurieren. Die Aufrechterhaltung mittelschichtstypischer Normalitätskonzepte oder die persönliche Veränderung gelingt nicht allen Überschuldeten in gleicher Weise. Denjenigen, die in der aktuellen Situation verharren und keine Verhaltensstrategien entwickeln, ist es ein Anliegen, ihr Leben nicht zu verändern oder verändern zu müssen. Eingeübte Normalitätskonzepte, die geprägt sind von einem unhinterfragten Alltagskonsum, werden obsolet. Durch die mit dem Beginn der Insolvenz von außen gesetzten Limitationen bezüglich der Verfügbarkeit von finanziellen Mitteln und die fehlende Möglichkeit, eigene Konsumentscheidungen treffen zu können, kommt es zu einer gefühlten Entmachtung, dem Verlust jeglicher Autonomie bei gleichzeitigem Wunsch, keine Veränderung hinnehmen zu müssen. Hieraus resultiert eine starke psychische Belastung; bisherige Identitätsaspekte, Rollenmuster und Verhaltensgewohnheiten sind nicht mehr gültig beziehungsweise nicht mehr anwendbar. Festhalten lässt sich also, dass eine produktive Form von Identitätsarbeit notwendig ist, um Überschuldung beziehungsweise Insolvenz zu bewältigen. Indem die Interviewpartner*innen an bestehenden Normalitätskonzepten festhalten und diesen weiter gerecht werden wollen, wird deutlich, dass sie damit auch versuchen, ihre Schichtzugehörigkeit aufrechtzuerhalten. Gleiches lässt sich feststellen, wenn die Interviewpartner*innen sich auf ideelle anstatt bisher materielle Werte konzentrieren und diese als Platzhalter für Lebensweisen setzen, die aufgrund der fehlenden Mittel und Restriktionen des Insolvenzverfahrens nicht mehr möglich sind. In allen Fällen gilt: Die Zugehörigkeit zur Mittelschicht und das Bestreben, diese zu erhalten, ist bei den Interviewpartner*innen durchgängig vorhanden.

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Die unterschiedlichen Strategien, Identitätsarbeit zu leisten, zielen alle darauf ab, die Identität als Angehörige der Mittelschicht nicht nur kommunikativ zu äußern, sondern auch interaktiv zu symbolisieren, nicht zuletzt über ein spezifisches (Konsum-)Verhalten. Indem die Interviewpartner*innen immer wieder ihre mittelschichtsspezifischen Lebensweisen reproduzieren, stellen sie ihre Mittelschichtszugehörigkeit her – ›Doing Mittelschicht‹. Damit platzieren sie sich selbst und grenzen sich nach unten ab. Dies tun sie nicht durch das, was sie nicht sein wollen (arm, abhängig, nicht in der Lage, auf ordentliche Ernährung zu achten oder eine stilvoll eingerichtete Wohnung zu haben), sondern durch das, was sie sein möchten (autonom, bildungsaffin). Die Grenzziehung nach unten erfolgt durch das unbeirrte Festhalten an bestehenden Normalitätsannahmen, die auch in der Insolvenz nicht aufgegeben werden. Lassen sich diese nicht mehr aufrechterhalten, werden sie durch neue alte Konzepte ersetzt. Der Gedanke, sich dem engen finanziellen Rahmen und den Zuschreibungen, die mit der Insolvenz verbunden sind, zu ergeben, kommt ihnen nicht. Die überschuldeten Mittelschichtsangehörigen versuchen nicht nur, mit der Situation und der Insolvenz zu leben; sie wünschen weiterhin Teilhalbe an der Gesellschaft (Bender et al. 2012) und an der Gesellschaftsschicht, der sie sich zuordnen. Das ›Doing Mittelschicht‹, das sie dafür auch (inter-)aktiv betreiben, orientiert sich an einem Erwartungskorridor, der nicht nur zeigt, wer sie sind, sondern auch, wo sie positioniert sind.

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In der Welt sein Zur Anverwandlung von Raum und Zeit der Mittelschichten Gunter Weidenhaus

E inleitung Dieser Beitrag fragt nach speziellen räumlichen und zeitlichen Orientierungen von Angehörigen der Mittelschichten. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet die unter anderem von Max Weber (1985 [1922]) entwickelte These, dass es eine Verbindung gibt zwischen relativen Ressourcenausstattungen und Lebensführungsmustern von Personen in einer Gesellschaft. Es geht also darum, wie sich Angehörige der Mittelschichten räumlich und zeitlich in die Welt stellen. Wird langfristig ein Lebensweg geplant oder eher spontan in den Tag gelebt? Beeinflussen bestimmte räumliche Bindungen, beispielsweise an einen Wohnort, die Lebensführung oder wird eher ›mal hier und mal dort‹ ein Projekt verfolgt? Und schließlich: Lassen sich typische räumliche und zeitliche Muster bei den Angehörigen der Mittelschichten identifizieren, und welche Dynamiken im Hinblick auf die Veränderung dieser Muster können in der deutschen Gegenwartsgesellschaft beobachtet werden? Um diese Fragen zu beantworten, wird – zusätzlich zum Blick in die einschlägige Forschungsliteratur – vor allem auf zwei qualitative Studien rekurriert, im Rahmen derer räumliche und zeitliche Orientierungen aus autobiographischen Erzählungen rekonstruiert wurden. Der Beitrag basiert daher notwendigerweise in weiten Teilen auf zwei bereits erschienenen Texten (vgl. Weidenhaus 2015, 2017).1 Zunächst jedoch gilt es, kurz die Konzepte von Raum und 1 | Das erste Sample umfasst 24 narrativ-biographische Interviews. Es diente der Beantwortung der Frage, ob ein Zusammenhang zwischen räumlichen und zeitlichen Orientierungen besteht (siehe Weidenhaus 2015). Das zweite Sample umfasst 13 narrativ-biographische Interviews und wurde im Rahmen eines Lehrforschungsprojektes 2017 erhoben. Aufgrund der geringen Fallzahl und der nicht-zufälligen Fallauswahl sind gesicherte Aussagen zur Verteilung der verschiedenen räumlichen und zeitlichen Orientierungen in der deutschen Gesellschaft nicht möglich. Auf Basis dieses empirischen

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Zeit zu verdeutlichen, mit denen die eingangs skizzierten sozialwissenschaftlichen Fragestellungen beantwortet werden können. Anschließend werden die typischen räumlichen und zeitlichen Orientierungen von Mittelschichtsangehörigen beschrieben. Über eine Rekonstruktion der Krise solcher klassischen Lebensführungsmodelle wird daraufhin eine sich entwickelnde Alternative raumzeitlicher Weltverhältnisse anhand des empirischen Materials vorgestellt. Abschließend werden die zentralen Befunde zusammengefasst, um einen Ausblick auf die vermutlich durchaus konfliktreichen zukünftigen Entwicklungen im Kampf um die Durchsetzung spezifischer Lebensentwürfe zu riskieren.

R aum und Z eit Raum und Zeit sind fundamentale Dimensionen unseres Verhältnisses zur Welt. Zunächst einmal brauchen wir sie, um jedwede soziale Organisation zu koordinieren. Alles, was wir gemeinsam machen, benötigt eine Verständigung über das Wann und das Wo. Aus dieser Perspektive sind Zeit und Raum Kategorien, die wir zwar festgelegt haben, die wir aber als unabhängig von uns begreifen müssen. Wir koordinieren unsere Interaktion nämlich in Raum und Zeit. Raum und Zeit sind, so betrachtet, also Elemente einer äußeren Welt, von der wir annehmen, dass sie unabhängig von uns existiert. Wir nutzen diese Eigenschaft der Welt beispielsweise, um uns darüber zu verständigen, zu bestimmten Zeitpunkten an bestimmten Orten zu sein. Raum und Zeit basieren in diesem Kontext auf objektivierten Abstandsbestimmungen wie Metern oder Stunden. Dieser Begriff der Zeit lässt sich als Chronologie und der Begriff des Raumes als physischer Raum bezeichnen. Mit Hilfe dieser Raum- und Zeitkonzepte lassen sich Forschungen zu Mobilität im Alltag oder im Lebenslauf beziehungsweise zur Zeitnutzung von Mittelschichtsangehörigen initiieren (zum Beispiel Manderscheid 2016). Darum soll es im Folgenden jedoch nicht gehen. Vielmehr möchte ich hier die Konstitution von Raum und Zeit selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Zeitliche und räumliche Bestimmungen können wir auch ganz anders als mit Hilfe der eben beschriebenen objektivierten Abstandsbestimmungen vornehmen. Beispielsweise bezeichnen wir die Arbeit an einem bestimmten Projekt als unsere lebensgeschichtliche Gegenwart: »Gegenwärtig arbeite ich an diesem Artikel.« Immer wenn wir handeln, verfolgen wir auf irgendeiner Ebene ein Ziel, das noch nicht erreicht ist, und erschaffen so eine von der Gegenwart unterschiedene Zukunft (Schütz 1932; Neckel 1988). Gleichzeitig Materials sind einzig Hypothesen bezüglich der gängigen empirischen raumzeitlichen Lebensführungsmodelle statthaft und es können erste empirisch induzierte Vermutungen hinsichtlich der Entstehungsbedingungen dieser Modelle angestellt werden.

In der Welt sein

sind Ereignisse, die zeitlich vor einem Jetzt geschehen sind, nicht einfach die Vergangenheit. Wenn ich beispielsweise vor zwei Tagen mit der Arbeit an dem Artikel begonnen habe, so gehören die Ereignisse seit diesem Zeitpunkt – in der Logik des Satzes oben – zur Gegenwart. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind also nicht per se Elemente einer äußeren Welt, sondern werden erst im Rahmen von Handlungen und Handlungsmustern kreiert, indem bestimmte Ereignisse zusammengefasst werden (zum Beispiel zu einem Handlungsverlauf gehörende Ereignisse zur Gegenwart; Ereignisse, die das Ergebnis der Handlung darstellen werden, zur Zukunft; Ereignisse, die Voraussetzungen der Handlung waren, zur Vergangenheit). Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entstehen also immer in einem bestimmten Kontext, dessen Geschichte erschaffen wird. Das kann die Geschichte eines Projektes, meines Lebens oder einer Gesellschaft sein. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft tragen daher auch immer einen Sinn in diesem Kontext, sonst hätten wir sie nicht erschaffen müssen. Wie das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – also die Struktur der Geschichtlichkeit – gedacht wird, ist sozial hochgradig variabel und hat im Verlauf der Menschheitsgeschichte die unterschiedlichsten Ausprägungen angenommen (Rammstedt 1975; Dux 1992). Nomadische Kulturen ohne Schrift kennen häufig gar keine andere Zeit für ihre Gesellschaft als die Gegenwart (occasionale Zeit). Das liegt daran, dass im Grunde alle Ereignisse, die schon geschehen sind und jemals geschehen werden, wie auf einem Bild versammelt sind. So ist die allumfassende mystische Zeit der Aborigines (häufig etwas unglücklich als »Traumzeit« übersetzt) die Zeit der Erschaffung der Welt und die Zeit aller noch ungeborenen Kinder. Das Nacheinander der Ereignisse erscheint nur so, weil wir immer nur einen ganz kleinen Ausschnitt des Bildes sehen können.2 In anderen Kulturen herrschte der Glaube vor, dass die Geschichte alle paar hundert oder tausend Jahre wieder von vorne beginnt (zyklische Zeit), oder dass das Ende der Geschichte beispielsweise am jüngsten Tag vorherbestimmt ist (lineare Zeit mit geschlossener Zukunft). Die passende Metapher für die 2 | Die Konstitution einer ewigen Gegenwart – allerdings als biographische (nicht gesellschaftliche) Form der Geschichtlichkeit – findet sich übrigens durchaus auch in der deutschen Gegenwartsgesellschaft (siehe Weidenhaus 2015). Solche Menschen halten sich über alle Zeit hinweg für mit sich selbst identisch. Sie erzählen nahezu ausschließlich Geschichten aus ihrem Leben, bei denen vollkommen irrelevant ist, wann sie stattgefunden haben. Gerne werden solche Geschichten abgeschlossen mit Formulierungen wie etwa: »Und daran erkennste wieder, dass ich so bin, wie ich bin.« Diese Form biographischer Geschichtlichkeit taucht allerdings im empirischen Material nicht bei Angehörigen der Mittelschichten, sondern einzig bei denen der Unterschichten auf und wird daher hier nicht näher beschrieben.

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letztere Zeitform wäre weniger das Bild als das Buch, in dem zwar schon alles geschrieben steht, das aber von vorne nach hinten gelesen werden muss. In modernen Gesellschaften ist eine Zeitform dominant, die auch linear gedacht ist (die Vergangenheit nimmt Einfluss auf die Gegenwart, die ihrerseits die Zukunft beeinflusst), aber über eine offene Zukunft verfügt, die nicht festgelegt ist, sondern von unseren Entscheidungen abhängt. Während also die chronologische Zeit zu einer Außenwelt gehört, in der wir leben, gehören die geschichtliche Zeit und ihre Struktur immer zu einer sozialen Welt (vgl. Habermas 1981) und werden erst im Kontext spezifischer Sinnzusammenhänge konstituiert. Die Frage nach der Anverwandlung von Zeit unter Angehörigen sozialer Mittelschichten lässt sich so konkretisieren als die Frage nach typischen Geschichtlichkeitskonstitutionen von Mittelschichtsangehörigen: Es geht um das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Raum. Worüber ein Konzept des physischen Raumes nicht informiert, sind all die sinnhaften, bedeutungsvollen Räume, mit Hilfe derer wir uns im Alltag und auch lebensgeschichtlich orientieren. Eine komplette physikalische Beschreibung der Welt benötigt zwar den Raum als eine grundlegende Dimension, weiß aber nichts von Schlafzimmern, einem Zuhause, von Heimaten, Wohnorten oder Nationalstaaten. Diese sozialen Raumkonstitutionen werden ebenfalls im Kontext spezifischer Sinnzusammenhänge hergestellt. So gibt es einen Raum zum Wohnen, ein Territorium, in dem der Staat das Monopol legitimer Gewalt beansprucht usw. Auch die Konstitution sozialer Räume ist sozial und historisch hochgradig variabel. So kam die Menschheit beispielsweise den weitaus längsten Zeitraum ihres Bestehens ohne Nationalstaaten aus. Ein allgemeines Konzept zur begrifflichen Fassung sozialer Raumkonstitutionen hat Martina Löw (2001) vorgelegt. Demzufolge sind Räume relationale Anordnungen von Gütern und Lebewesen an Orten. Ein Raum ist also kein passiver Container, der mit irgendetwas gefüllt wird, sondern ergibt sich erst aus den Gütern und Lebewesen, die zu dem Raum gehören, sowie aus den räumlichen Relationen, in denen diese Elemente angeordnet sind. Es geht aber nicht um eine objektivierte Beschreibung von Lagerelationen, sondern darum, was überhaupt von Subjekten als raumkonstitutiv wahrgenommen wird und welche sinnhaften Beziehungen zwischen diesen Elementen auf Basis der Lagerelationen hergestellt werden. Zwei analytisch zu trennende Prozesse, das Spacing und die Syntheseleistung, sind vonnöten, damit ein Raum entsteht. Das Spacing bezeichnet die Platzierungspraxis von Gütern (Lebewesen tendieren dazu, sich selbst zu platzieren, können aber auch platziert werden). Sehr vereinfacht ausgedrückt, geht es hier darum, wo etwas hingestellt wird, um einen bestimmten Raum zu erzeugen. Zum Beispiel wird die Tafel eines Klassenraums häufig an einer Stirnseite befestigt und die Stühle, Tische und Schüler_innen werden so plat-

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ziert, dass sie zur Tafel ausgerichtet sind. An diesem Beispiel lässt sich auch die Bedeutung der Relationen verdeutlichen, denn das Ausrichten bedeutet, einen räumlichen Bezug zwischen den verschiedenen Gütern und Lebewesen herzustellen. Die Syntheseleistung legt fest, welche Elemente überhaupt in die Raumkonstitution eingehen, also zu einem Raum zusammengefasst werden (vgl. Löw 2001: 159). Es ist durchaus denkbar, dass bestimmte Güter wie ein Stück Kreide oder gar ein Overheadprojektor zwar vorhanden sind, aber den Raum in keiner Weise ausmachen und eventuell gar nicht wahrgenommen werden. Fehlt jedoch die Tafel, können durchaus Zweifel aufkommen, ob es sich hier überhaupt um einen Klassenraum handelt. Im Alltag ist die Konstitution sozialer Räume häufig institutionalisiert. Das bedeutet, dass wir es nicht selten mit genormtem Spacing und einsozialisierten Syntheseleistungen zu tun haben, was die Raumkonstitution, wie das Beispiel des Klassenzimmers zeigt, tendenziell unproblematisch macht und für kognitive Entlastung sorgt (vgl. Löw 2001: 164). Zugleich heißt es aber, dass nicht nur mit Hilfe von Spacing und Syntheseleistung eine räumliche Struktur von Menschen gebildet wird, sondern darüber hinaus, dass uns aufgrund der Institutionalisierung diese Struktur als objektiv in der Außenwelt vorhanden erscheint. Wir passen unser Handeln dann den scheinbar gegebenen Räumen an. Diesen Prozess kann nachvollziehen, wer beispielsweise einmal eine Kirche betreten hat. Die Frage nach der Anverwandlung des Raumes unter Angehörigen sozialer Mittelschichten lässt sich also konkretisieren als die Frage nach den sozialen Raumkonstitutionen, die Mittelschichtsangehörige für ihr Leben relevant machen. Werden bestimmte Räume oder spezifische Sets von Räumen von den deutschen Mittelschichten konstituiert und dienen ihnen zur Orientierung?

»K l assische « R äume und Z eiten der M it telschichten Mit der Herauslösung aus ständischen Zwängen und dem Beginn der Moderne wird das Leben zunächst für das Bürgertum zu einem eigenverantwortlich zu gestaltenden Gesamtprojekt (Kohli 1985: 11). Bereits Max Weber (1956 [1904]) attestiert bestimmten protestantischen Sekten eine »methodisch, rationale Lebensführung«, die eng mit der Entstehung des Kapitalismus und mit der modernen Gesellschaft gekoppelt ist. Rationale Lebensführung aber bedeutet vor allem eines: Wichtige biographische Entscheidungen (Bildungsweg, Berufswahl, Heirat usw.) sollen nicht ›aus dem Bauch heraus‹ gefällt, sondern unter Abwägung der Vor- und Nachteile in Bezug auf ihre langfristigen Konsequenzen getroffen werden. Dieser Planungsimperativ gilt insbesondere für die Mittelschichten, denn diese gesellschaftliche Großgruppe muss nicht

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›von der Hand in den Mund‹ leben. Sie verfügt also über gewisse Ressourcen, die in eine entferntere Zukunft investiert werden können, zum Beispiel durch Konsumverzicht zugunsten der Bildungskarriere der Kinder. Gleichzeitig ist ihre Ressourcenausstattung aber nicht so üppig, dass Mittelschichtsangehörige sich größere Fehlinvestitionen ohne Statusverlust leisten könnten, was den Anspruch an die Rationalität ihrer Entscheidungen erhöht. Hier begegnen wir also einem Konnex von Ressourcenausstattung und Lebensführung. Das resultierende Lebensführungsmodell bezeichnen Groh-Samberg et al. (2014) als »investive Statusarbeit«, durch das sich die Mittelschichten auszeichnen. Planungsimperativ und investive Statusarbeit implizieren eine spezifische – nämlich lineare – Form von Lebensgeschichtlichkeit, die sich tatsächlich auch in den qualitativen Studien für die meisten Angehörigen der Mittelschichten zeigen lässt. Der lineare Typus eignet sich die Zukunft planend an. Wichtige biographische Entscheidungen werden von langer Hand vorbereitet. In den Interviews sind Sätze zentral wie der von Nathalie:3 »Also ich war nicht eine von denen, die mit dem Abitur fertig waren und nicht wussten wohin, also haben sie einfach mal das Modefach gewählt.« Stattdessen beschreibt sie längerfristige Überlegungen zu Studienfach und Studienort. Aber auch für die Zeit nach dem Studium werden von meiner Interviewpartnerin Pläne geschmiedet: Sie versucht bereits zwei Jahre vor dem geplanten Abschluss ihres Studiums, Kontakte zu möglichen Arbeitgebern herzustellen und gezielt zusätzliche Qualifikationen für ihr bevorzugtes Berufsfeld zu erwerben. Umorientierungen im Lebenslauf werden bei linearer Geschichtlichkeitskonstitution ausführlich thematisiert, gerechtfertigt und als Lehre aus der Vergangenheit in die Biographisierung eingebunden. Steffan, ein Referendar im Gymnasiallehramt, beendet eine Erzählsequenz zum Abbruch seines Jurastudiums mit folgenden Worten: »Man muss sich selbst eingestehen, dass das Blödsinn war, was man sich da selbst vorgestellt und ausgedacht hat. Und im Grunde alle anderen recht hatten, die dir das davor schon gesagt hatten – unter anderem meine Eltern, die beide Juristen sind –, aber ich wusste es besser.«

Die biographische Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft werden also logisch miteinander verbunden. Linear biographisierende Menschen verstehen ihre Gegenwart zu großen Teilen als Produkt ihrer Vergangenheit. Gleichzeitig werden sehr konkrete Zukunftsvorstellungen entwickelt, die Steffan wie folgt zusammenfasst:

3 | Alle wörtlichen Zitate stammen aus den narrativ-biographischen Interviews der beiden explorativen Studien.

In der Welt sein »Erstmal Abschluss des Referendariats. Dann hab’ ich mir vorgestellt, weiter in der Wohnung hier zu leben. […] Aber mein Ziel ist auf jeden Fall, relativ flott eine Eigentumswohnung hier in D-Stadt zu finden und auch hier zu bleiben«.

Die chronologische Ausdehnung der biographischen Gegenwart ist vergleichsweise kurz, weil durch einen etappenhaften Auf bau der Lebensgeschichte die nächste Etappe immer bereits der Zukunft zugerechnet wird. Diese lineare Form von Lebensgeschichtlichkeit ist in allen erhobenen Fällen gekoppelt mit einem spezifischen Modus räumlichen In-der-Welt-Seins, den ich als ›konzentrisch‹ bezeichnen möchte. Bei konzentrischer Lebensraumkonstitution werden mindestens zwei biographisch relevante Raumkonstitutionen umeinander gelegt: das eigene Zuhause und der Wohnort. Viele Personen mit konzentrischer Lebensraumkonstitution machen darüber hinaus Stadtviertel, Heimatregionen und Nationalstaaten für ihr Leben relevant. All diese Räume liegen bei konzentrischen Typen auf unterschiedlichen Maßstabsebenen, die um das eigene Zuhause als Zentrum angeordnet sind. Die Anverwandlungsstrategien des Zuhauses basieren auf starken sozialen Bindungen, häufig zu Familienmitgliedern, während Stadtviertel und Städte über Freundeskreise anverwandelt werden. So begründet Steffan seinen Umzug in ein anderes Viertel seiner Heimatstadt mit den Worten: »Und es hatte auch damit zu tun, dass ich zum damaligen Zeitpunkt meinen Lebensmittelpunkt im B-Viertel hatte und auch mein gesamter – bis jetzt noch – Freundeskreis da ist. Das ist halt mein Viertel sozusagen. Da kenn’ ich jeden – ja – und da wollt’ ich wieder hin.«

Bei der Beschreibung des Scheiterns der Anverwandlung von B-Stadt, wo Steffan sein Jurastudium aufgenommen hatte, wird ebenfalls auf Freunde Bezug genommen: »Da ging’s mir echt dreckig. Ich hatte da keine richtigen Freunde, ansonsten hatt’ sich das auch dann ergeben, dass ich jedes Wochenende eigentlich nach D-Stadt gefahren bin und dann auch im zweiten Semester die Notbremse gezogen habe und zu sagen: Ich bleib’ hier nicht.«

Durch die Verknüpfung der Konstitution eines Zuhauses mit starken sozialen Bindungen und der des Wohnortes mit einem stabilen Freundeskreis ergibt sich bei konzentrischer Lebensraumkonstitution die Tendenz, Arbeit in der Stadt beziehungsweise in der näheren Umgebung zu suchen. Zuhause und Wohnort sind durch die spezifischen Anverwandlungsstrategien nicht auf die Schnelle erdräumlich zu verschieben. Sowohl Steffan als auch Nathalie möchten längerfristig in der näheren Umgebung bleiben. Diese Aussicht ist für Stef-

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fan bei der Wahl des Lehramtsstudiengangs nicht unerheblich, und Nathalie spricht gezielt potentielle Arbeitgeber in der Umgebung an. Damit ist nicht gesagt, dass Menschen mit konzentrisch-linearen Biographisierungen nicht umziehen (gerade Karriereplanung kann das erforderlich machen), allerdings bedeutet ein Umzug immer die Notwendigkeit, ein neues Zuhause zu etablieren und neue Freundeskreise aufzubauen – und wird daher reiflich überlegt. Während bei der Anverwandlung von Wohnorten also zumeist Freundeskreise und auch Karrierechancen bei ortsansässigen Arbeitgebern eine entscheidende Rolle spielen, werden bei der Anverwandlung von Regionen hingegen gehäuft Mentalitätsunterschiede thematisiert. Diese unterschiedlichen Anverwandlungsmodi der Räume auf den verschiedenen Maßstabsebenen stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Konstitution der jeweiligen Räume selbst, denn sie verraten nicht nur etwas über die Elemente, die in die Synthese des Raums eingehen, sondern auch über die notwendigen Platzierungen dieser Elemente, damit die Relationen stimmen (zum Beispiel, schnell bei den Eltern sein zu können). Der kulturelle Planungsimperativ scheint also in den Mittelschichten durchaus (noch) wirksam. Er ist gekoppelt mit biographischen Raumkonstitutionen, die gleichsam über ein Stand- und ein Spielbein verfügen, wobei das Standbein in Form des Zuhauses Stabilität garantieren soll, während der Wohnort idealerweise auch Chancen auf eine andere – möglichst bessere – Zukunft in Form sozialer Dynamiken und Karrierechancen eröffnet und damit das Spielbein darstellt.

D ie K rise des konzentrisch - line aren M odells Das konzentrisch-lineare Modell als raumzeitlicher Modus der Lebensführung hat eine zentrale Voraussetzung. Es handelt sich dabei um die Stabilität institutioneller Rahmenbedingungen. Das heißt, dass die Menschen davon ausgehen müssen, dass die soziale Welt, in die hinein sie planen, sich nicht allzu schnell verändert, anders sind langfristige Lebenspläne nicht zu realisieren. Wer beispielsweise eine Berufsausbildung mit dem Ziel absolviert, in Zukunft tatsächlich in diesem Bereich zu arbeiten und eine Karriere anzustreben, muss unterstellen, dass dieser Beruf nach Abschluss der Ausbildung noch existiert. Tausende von Personen, die in den 1970er Jahren eine Ausbildung zum Setzer in der Druckindustrie abgeschlossen hatten, können berichten, dass es in den 1980er Jahren nicht nur fast unmöglich war, einen Arbeitsplatz zu finden, sondern dass darüber hinaus ab Mitte dieses Jahrzehnts der ganze Beruf aufgrund der Digitalisierung verschwunden war. Je schneller sich die institutionellen Rahmenbedingungen ändern, desto riskanter wird langfristige Planung. Klaus Dörre beschreibt den Fall eines Angestellten, der zur Wei-

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terbildung das Abitur nachholte, bei der Rückkehr auf den Arbeitsmarkt aber feststellen musste, dass in seinem Arbeitsfeld von nun an beinahe ausschließlich über Zeitarbeitsfirmen zu schlechteren Konditionen eingestellt wird (vgl. Dörre et al. 2009: 21f.). Anstatt seine Karrierechancen zu verbessern, führte seine langfristige Strategie zur Exklusion. Es sind im Wesentlichen zwei gesellschaftliche Dynamiken, die zu einer Krise des konzentrisch-linearen Modells beitragen: Beschleunigung und Flexibilisierung. Das Phänomen der Beschleunigung wurde von Hartmut Rosa (2005) ausführlich analysiert. Er zeigt auf, dass der soziale Beschleunigungsprozess in der Moderne zu einem sich selbst antreibenden Zirkel geworden ist. Rosa unterscheidet drei Ebenen, auf denen soziale Beschleunigung stattfindet: das Lebenstempo, die technische Beschleunigung und die Geschwindigkeit sozialen Wandels. Auf den ersten Blick erscheint die Vorstellung paradox, dass auf allen drei Ebenen gleichzeitig Beschleunigungsprozesse stattfinden, weil technische Beschleunigung immer die Möglichkeit schafft, Aufgaben in kürzerer Zeit zu erledigen und dadurch Lebenszeit freisetzt, was zu einer Absenkung des Lebenstempos führen sollte. Diese Paradoxie wird mit dem Verweis aufgelöst, dass technische Beschleunigung zunächst sozialen Wandel beschleunigt. Die verbesserte Erreichbarkeit von Interaktionspartner_innen durch technische Innovationen führt zu Vergesellschaftungsstrukturen, in denen das Erreichen dieser Interaktionspartner_innen permanent notwendig wird. Die Möglichkeit, Kapitaltransaktionen rund um den Globus nahezu mit Lichtgeschwindigkeit auszuführen, schafft beispielsweise Marktstrukturen, in denen die Akteure bei Strafe des eigenen Untergangs darauf angewiesen sind, den weltweiten Kapitalmarkt ununterbrochen zu beobachten und auf Veränderungen sofort zu reagieren. Wandeln sich nun die sozialen Strukturen auf Basis technischer Neuerungen immer schneller, geraten Individuen und Systeme in Stress, weil sie sich in immer kürzerer Zeit neuen Bedingungen anpassen müssen. Auf diesen Stress reagieren sie mit einer Steigerung des Lebenstempos. Der Kreis schließt sich, wenn auf das gesteigerte Lebenstempo mit dem Ruf nach technischer Beschleunigung reagiert wird, um sich vom Stress zu entlasten (vgl. Rosa 2005: 243ff.). Entscheidend für die hier angestellten Überlegungen ist die Beschleunigung des sozialen Wandels, denn eine schnellere Veränderung der sozialen Welt ist gleichbedeutend mit einer abnehmenden Stabilität institutioneller Rahmenbedingungen. Flexibilisierung macht darüber hinaus auch die räumliche Dimension der Krise des konzentrisch-linearen Modells deutlich. Manuel Castells (2001 [1996]) beschreibt eine Umstellung des gesamten gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsmodus vom Fordismus zu flexibler Akkumulation. Flexible Akkumulation bezeichnet einen Modus kapitalistischen Wirtschaftens, in dem größter Wert auf die Möglichkeit eines schnellen Wechsels von zu produzierenden Gütern und Dienstleistungen genau wie auf einen schnel-

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len Standortwechsel der Produktion gelegt wird. Seit den 1980er Jahren, so die Gegenwartsdiagnostiker_innen, haben sich nicht nur die Zeit-, sondern eben auch die Raumstrukturen grundlegend verändert. Manuel Castells beschreibt diesen Wandel als Übergang von einer territorialen Logik hin zu einer netzwerkartigen Logik des kapitalistischen Produktionssystems: In Zeiten, in denen die Produktion von schnell vergänglichen Bildern und Dienstleistungen in den hochindustrialisierten Ländern an Stellenwert gewinnt, bekommt ihre simultane Verteilung über den Globus höchste Priorität, während die ehemals harten Standortfaktoren (wie das durch industrielle Produktionsstätten ortsgebundene Kapital) einschließlich der Bedingungen, die die Nationalstaaten den Wirtschaftsakteuren zusichern können, an Bedeutung verlieren. Waren, Dienstleistungen und Menschen, die sich im globalen Kapitalismus bewegen, schaffen so einen sich andauernd verändernden »Raum der Ströme« (Castells 2001 [1996]: 431ff.). Für die Menschen, die in ein solches Erwerbssystem integriert sind, steigen vor diesem Hintergrund die Mobilitätsanforderungen, und das längerfristige Einrichten in spezifischen territorialen Räumen oder an Orten wird erschwert. Tatsächlich lässt sich bei einigen Angehörigen der Mittelschichten im Rahmen meiner empirischen Studien ein Muster der Lebensführung beobachten, das als biographische Antwort auf Beschleunigung und Flexibilisierung gelesen werden kann und fundamental anders funktioniert als das konzentrischlineare Modell. Dieses raumzeitliche Muster soll als netzwerkartig-episodisch bezeichnet werden. Bei netzwerkartig-episodischen Raumzeit-Typen ist die lebensgeschichtliche Gegenwart an aktuelle Projekte gebunden. Dabei kann es sich um das Betreiben eines eigenen Clubs für elektronische Musik oder auch um ein Promotionsprojekt handeln – Projekte, die zumeist mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Jenseits dieser Projekte ist die biographische Vergangenheit und Zukunft angesiedelt, die in den Interviews zumeist äußerst unkonkret bleibt. Im Gegensatz zu linearen Biographisierungen werden Brüche im Lebenslauf als Normalität angesehen und bedürfen keinerlei Rechtfertigung. »Ich hab’ mal acht Semester Jura studiert, ähm, dann war ich mal vier Semester BWL eingeschrieben, war ich aber nie da«, ist eine typische Aussage bei episodischer Lebensgeschichtlichkeitskonstitution. Mit solchen Sätzen sind die Einlassungen zu diesem Abschnitt der Vergangenheit dann beendet. Auch die Zukunft wird nicht logisch-kausal mit der Gegenwart gekoppelt. Es wird nicht geplant, sondern implizit damit gerechnet, dass irgendwann eine relativ spontane Entscheidung für ein neues Projekt ansteht: Der Satz »Je nachdem, wo sich da jetzt irgendwie Chancen ergeben, das weiß ich noch nicht genau«, beendet eine Erzählsequenz, in der mehrere fundamental verschiedene biographische Zukünfte in kürzester Zeit durchgespielt werden, von denen keine unmittelbaren Bezug zum gegenwärtigen Projekt hat.

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Frank, ein Mittdreißiger und Betreiber eines Musikclubs, siedelt seine biographische Zukunft jenseits der Zeit des Clubs an. Er weiß jedoch nicht, wann diese Zeit beginnen wird und wie sie sich gestaltet. In einer kurzen Passage des Interviews stellt er die folgenden Überlegungen für die Nach-Club-Zeit an: »Da müsst’ ich ja, glaub’, erst mal ein Jahr mich verpissen und das verarbeiten.« Oder er sucht sich etwas anderes: »Vielleicht wär’s auch die Möglichkeit, sich mal komplett umzuorientieren und zu sagen, okay, Lebensabschnitt beendet, jetzt machen wir was Neues, ja, pff.« Eine andere Option ist die Aufnahme eines Fernstudiums für Eventmanagement, für das er seit einiger Zeit eingeschrieben ist, ohne es zu verfolgen. Oder aber er geht in die Kommunalpolitik (»Denn eigentlich würd’ ich schon gern mal gucken, in die Politik noch zu gehen.«). Oder er kehrt Deutschland für einige Zeit den Rücken (»Kann auch sein, dass ich, dass ich vielleicht mal in einer, weiß nicht, Nicht-Regierungsorganisation mal ein paar Jahre im Ausland bin.«). Vermutlich würde Frank sich am wenigsten darüber wundern, wenn keine dieser Optionen realisiert wird, sondern etwas ganz und gar Unvorhergesehenes geschieht. Frank ist mit diesem Modus des spontanen Umsteuerns hochgradig identifiziert und dieser Modus setzt sich bis in seinen Alltag hinein fort. »Okay. Ich mach’ jeden Tag zwei Stunden das, zwei Stunden das, zwei Stunden das, von da bis da geh’ ich Mittagessen – das geht nicht. Das ist auch gut so. Das ist auch genau das, warum ich halt keinen Job irgendwo mache, wo ich angestellt bin.«

Auch Cornelius, ein befristet beschäftigter wissenschaftlicher Mitarbeiter eines sozialwissenschaftlichen Instituts, der ebenfalls episodisch biographisiert, formuliert seine Ablehnung gegenüber einer Festlegung durch unbefristete Arbeitsverträge entsprechend: »Weil ein unbefristeter Vertrag a) in den relevanten Bereichen nicht drin ist und b) in ’nem normalen Bereich für mich auch ein bisschen klingt wie lebenslänglich und ich das einfach gar nicht will.«

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des eigenen Lebens bleiben also weitgehend unverbunden, wobei die chronologische Ausdehnung der Gegenwart mehrere Jahre umfassen kann. Die eigene biographische Zukunft wird kaum konkretisiert und die Vergangenheit in viel stärkerem Maße hinter sich gelassen als bei linearen Konstitutionen von Lebensgeschichtlichkeit. Mit dieser episodischen Geschichtlichkeitskonstitution korreliert eine netzwerkartige Lebensraumkonstitution. Das auffälligste Merkmal ist, dass ein Zuhause in diesen Fällen nicht thematisiert wird. Der Ort, an dem das eigene Bett steht, bleibt aus biographischer Perspektive weitgehend irrelevant.

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Cornelius benutzt die Worte »Zuhause« und »Heimat« ein einziges Mal im Interview, und zwar um seinen Lebensstil gegenüber Menschen abzugrenzen, die solche Räume konstituieren: »Was anderes kannste machen, wenn du Familie und Kinder hast und dann sowieso vom Job nicht mehr nach Hause willst, weil dann der Heimatstress kommt.«

Relevante Lebensräume finden sich ausschließlich auf der Ebene von Städten und Stadtvierteln, die hauptsächlich auf der Basis ihrer Atmosphären und, damit in Zusammenhang stehend, der dort vertretenen Szenen angeeignet werden. Alle Netzwerker_innen benutzen Sätze wie diese, um Städte zu charakterisieren: »O-Stadt war cool. Deswegen bin ich auch dageblieben, anstatt noch nach D-Stadt zu gehen oder so.« Oder in einem anderen Fall: »Und du hast irgendwie hier so ein Gefühl in der Stadt, das du nicht so wirklich beschreiben kannst. Es ist einfach ein cooles Gefühl.« Die Konstitution dieser Stadträume funktioniert weniger über Freundeskreise und Arbeitsplätze, wie im Falle konzentrisch-linearer Biographisierungen, sondern über Atmosphären, Szenen und unspezifische Optionen, die hier geboten werden. Berlin, eine Stadt, die bei Netzwerker_innen aufgrund der vielfältigen Optionen hohes Ansehen genießt, wird beispielsweise von Cornelius beschrieben als: »Wo du umgeben bist […] ja […] von eher relevanten Leuten, dass du dir, wenn du auf die Straße gehst, denkst: Ja hier sind um mich rum noch Leute, wo ich denke, mit denen könnte ich mich eigentlich ganz gut verstehen, und nicht auf die Straße gehst und erst mal so in ein Möglichst-nicht-bemerkt-Werden verschwindest, um erst an Orten wieder Leute zu treffen, wo du merkst, ja das ist mein relevantes Umfeld.«

Hier ist nicht wie bei konzentrischer Lebensraumkonstitution entscheidend, dass die »Leute« tatsächlich Freunde sind, sondern es genügt, dass man sich mit ihnen ganz gut verstehen »könnte«. In diesen Fällen zeigt sich also eine verstärkte Relevanz posttraditionaler Vergemeinschaftungsformen in Szenen (vgl. Hitzler et al. 2001). Da die relevanten Lebensräume auf gleicher Maßstabsebene liegen, finden sich in den Interviews permanent Vergleiche zwischen den Städten und Stadtvierteln. Eines von einer Fülle möglicher Zitate stammt von Cornelius, der nach dem Abitur, wiederum sehr spontan, eine Stadt zum Studieren sucht: »Ich bin halt mal zwei, drei Wochen durch Deutschland getrampt und hab’ mir verschiedene Unistädte angeguckt. Wo gefällt’s mir. […] M-Großstadt, war mir nach einem Abend klar, dass ich diese Stadt zum Kotzen finde, und G-Stadt war mir irgendwie ganz sympathisch. Da bin ich dann halt in G-Stadt geblieben.«

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Über die Zeit bildet sich ein Netz untereinander verbundener relevanter Lebensräume auf der Ebene von Städten und Vierteln, die immer wieder einmal aufgesucht werden. Die netzwerkartig-episodische raumzeitliche Struktur der eigenen Biographie drückt sich in folgendem Zitat sehr deutlich aus: »Mir geht’s halt auch eigentlich so, dass mir nach ein paar Jahren in ›ner Gegend die Decke auf’n Kopf fällt«. Die netzwerkartig-episodisch Biographisierenden, wie etwa Cornelius, nehmen ihre Art und Weise, raumzeitlich in der Welt zu sein, durchaus als Besonderheit wahr. Ohne jede Nachfrage formuliert Cornelius im Rahmen der Erzählung seiner Lebensgeschichte eine deutliche Abgrenzung gegenüber einer linear-konzentrischen Lebensführung: »Also für mich ist dies eigentlich ein vollständiger Bruch zwischen ’nem Bekanntenkreis, der so wie ich lebt und quer durch Deutschland verteilt ist und mal hier und mal dort was macht, und den Leuten, die hiergeblieben sind und die inzwischen dann in F-Großstadt oder sonstwo in der Nähe wohnen, verheiratet sind, Häuser bauen, Kinder haben.«

Uwe Schimank (2015) entdeckt im Rahmen einer Gruppendiskussion zu Lebensplanungen von Mittelschichtsangehörigen eine ähnliche Abgrenzung seitens der konzentrisch-linear biographisierenden Teilnehmer_innen, die am Planungsimperativ festhalten. Nach dem Statement eines Teilnehmers zu Beginn der Diskussion, der Lebensplanung heutzutage zu einem unmöglichen Unterfangen erklärt, wird deutlich dementiert und anschließend über diese Aussage ein Mantel peinlichen Schweigens gelegt. Schimank (2015: 22) deutet diese Passage meines Erachtens sehr plausibel: »Der lakonische Planungsverzicht stellt somit wohl ein den Realitäten Rechnung tragendes, aber – weil der Planungsimperativ nach wie vor gilt – anstößiges Reaktionsmuster auf Irritationen der Lebensführung dar.« Neben einer positiven Identifikation mit diesem netzwerkartig-episodischen Lebensführungsmodell wie bei Cornelius oder Frank finden sich in den empirischen Studien auch Fälle, die sich mehr Planbarkeit und damit eine stärker lineare Perspektive für ihr Leben wünschen, aber sie vor allem aufgrund der dynamisierten Strukturierung der Erwerbsarbeitswelt (zum Beispiel durch deutliche Zunahme befristeter Beschäftigungsverhältnisse) für mittlerweile unmöglich halten. Eine erste vorsichtige empirische Einschätzung legt nahe, dass es sich dabei häufiger um Frauen handelt. Eine vorläufige Hypothese zu diesem Befund lautet, dass Frauen nach wie vor stärker mit der familiären Sphäre identifiziert sind (sie leisten noch immer über 70 Prozent der unentgeltlichen Reproduktionsarbeit), und dass gerade in dieser Sphäre die Herstellung von räumlicher und zeitlicher Stabilität einen normativ verpflichtenden Charakter hat (›Man darf seine Kinder nicht ständig hinter sich herziehen, sondern muss ihnen ein stabiles Zuhause bieten.‹).

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Bei den Fällen mit netzwerkartig-episodischer Biographisierung, die eindeutig den Mittelschichten zugeordnet werden können, fallen einige sozialstrukturelle Besonderheiten auf, die zu einer weiteren Hypothese führen. Auch diese Hypothese steht – in Anbetracht des empirischen Materials – noch auf wackeligen Beinen. Es handelt sich bei netzwerkartig-episodisch biographisierenden Personen fast ausschließlich um Bildungsaufsteiger, bei denen die Eltern nach Hauptschulabschluss oder mittlerer Reife eine Lehre gemacht haben, während die nächste Generation mindestens studiert, häufig sogar promoviert. Gleichwohl weisen die Elternhäuser eine überdurchschnittliche Ausstattung mit ökonomischem Kapital auf. Typisch ist der Fall von Cornelius, dessen Vater eine gutgehende Autowerkstatt im Rhein-Main-Gebiet und als Kapitalanlage mehrere Immobilien besitzt. In gleich mehreren Interviews wird nun aber eine Emanzipation beschrieben, die deswegen biographisch vonnöten war, weil diese Väter sich eigentlich einen ganz ähnlichen Lebensweg für ihre Kinder vorgestellt haben, bis hin zur Übernahme der Firma. In einem Fall setzt sich dieser Konflikt bis mitten hinein ins Erwerbsleben der Tochter fort, einer Mathematikerin, die längst auf einer vollen Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einer Universität arbeitet, von der der Vater aber nach wie vor einfordert, dass sie endlich einmal aufhören müsse zu studieren. Ein Erklärungsversuch hinsichtlich der Entstehung des netzwerkartigepisodischen Biographisierungsmodus unter diesen Bedingungen lautet, dass der Umgang mit den Flexibilitätsanforderungen der Erwerbsarbeitswelt, wie sie gegenwärtig zum Beispiel an die Angehörigen des akademischen Mittelbaus herangetragen werden, im Elternhaus nicht einsozialisiert werden konnte und von daher in starkem Maße auf die biographischen Konstruktionen durchschlägt. Der Habitus dieser Personen (Bourdieu 1979) liefert wenig Sicherheit im Umgang mit den Flexibilitätserwartungen in ihren gegenwärtigen beruflichen Umfeldern. Geplante Lebenswege sind hier assoziiert mit den Lebenswegen der Eltern, von denen eine Emanzipation gewünscht ist, während gleichzeitig die kolportierten zeitlichen und räumlichen Flexibilitätsanforderungen in diesen Beschäftigungsfeldern (zum Beispiel durch ausschließlich befristete Arbeitsverträge) keinerlei Gegengewicht in Form von Deutungen als Karriereschritte oder Ähnlichem erhalten. Durch die Ausstattung der Elternhäuser mit viel ökonomischem Kapital führt diese Situation jedoch nicht in existenzielle Ängste, sondern in einen Modus projekthafter Orientierung, der durchaus auch als Befreiung erlebt werden kann. Bildungsaufsteiger mit guter ökonomischer Kapitalausstattung der Elternhäuser, so die Hypothese, können also Episodiker werden. Hier finden sich dann Angehörige der Mittelschichten, die keinem Planungsimperativ mehr folgen und eher Strategien des Coping (Schimank 2011) einsetzen.

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F a zit Einiges spricht dafür, dass der kulturelle Planungsimperativ in großen Teilen der Mittelschichten weiterhin Gültigkeit beanspruchen kann und zu Linearität als dominanter geschichtlicher Konstitutionsform führt. Dieser Modus ist verbunden mit einer konzentrischen Lebensraumkonstitution, die mehrere Maßstabsebenen um ein Zuhause als Zentrum adressiert. Zumindest der Glaube an eine von der Gegenwart deutlich unterscheidbare biographische Zukunft scheint ungebrochen. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass einige Mittelschichtsangehörige darauf verzichten, sich diese veränderte Zukunft planend anzueignen. Eine genaue Analyse der Entstehungsbedingungen eines solchen netzwerkartig-episodischen Biographisierungsmodus steht jedoch aus. Ein erster Ansatz wäre, nach Fällen mit der Kombination aus Bildungsaufstieg, ökonomisch guter Kapitalausstattung der Elternhäuser und beruflichen Feldern mit hohen Flexibilitätserwartungen zu suchen und zu fragen, ob hier gehäuft netzwerkartig-episodische Biographisierungen auftreten. Ein solcher episodischer Biographisierungsmodus kann dann sowohl als emanzipativer Anspruch gegenüber sozialen Festlegungszwängen als auch als Anpassungsleistung an die Flexibilitätserwartungen bestimmter sozialer Umwelten gedeutet werden. Gerade bei Fällen, die den emanzipativen Effekt dieses Lebensführungsmodells betonen, ist eine deutliche Abgrenzung gegenüber Mittelschichtsangehörigen erkennbar, die nach wie vor auf das konzentrisch-lineare Modell setzen. Hier scheinen sich die Mittelschichten hinsichtlich ihrer fundamentalen Weltbezüge auszudifferenzieren.

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Die Mitte der Gesellschaft – eine Reprise zweiter Ordnung

Der Mittelschicht-Bias der soziologischen Zeitdiagnostik Oliver Dimbath

1. Tendenz zur M it te ? Soziologische Zeitdiagnosen der vergangenen Jahrzehnte weisen auf Phänomene hin, die die gesellschaftliche Entwicklung ihrer Zeit in besonderem Maße charakterisieren. Indem sie soziale Prozesse wie Individualisierung oder Beschleunigung und typische Gesellschaftskonstellationen wie die Erlebnisgesellschaft, die Externalisierungsgesellschaft oder die Gesellschaft der Angst beschreiben, bringen sie mitunter schwer zugängliche sozialwissenschaftliche Befunde auf den Punkt. Auf diese Weise vermitteln sie einerseits einem größeren Adressatenkreis soziologisches Wissen (Dimbath 2016b). Andererseits geschieht dies um den Preis der vorsätzlichen Verkürzung und Entdifferenzierung von Argumenten (Honneth 1995). Im engen Kreis der Scientific Community führt das nicht zuletzt deshalb zu Stirnrunzeln, weil man an holzschnittartige Aussagen kaum mit den differenzierten Einsichten anschließen kann, welche den je aktuellen Stand der Forschung kennzeichnen. Zudem wird mitunter der Vorwurf laut, dass Zeit- und Gesellschaftsdiagnosen keinesfalls ›die‹ Gesellschaft einer bestimmten Zeit angemessen widerspiegeln. Die Quasi-Analysen seien vielmehr insofern selektiv, als sie nur bestimmte gesellschaftliche Gruppen in den Blick nähmen. Es stellt sich somit die Frage, wer denn nun individualisiert oder beschleunigt werde, wer auf der Jagd nach Erlebnissen oder von Angst ergriffen sei, oder wer soziale Probleme notorisch externalisiere. Ein daraus abzuleitender Generalverdacht lautet, dass viele Zeitdiagnosen lediglich die Mittelschicht erfassten, weil das eben auch der Horizont der Zeitdiagnostiker sei (vgl. zum Beispiel Alkemeyer 2002). Viele von ihnen sind selbst Angehörige der Mittelschicht. Auf den ersten Blick scheint die soziologische Zeit- oder Gegenwartsdiagnostik nicht nur einem einzelnen, sondern gleich einem dreifachen Mittelschicht-Bias zu unterliegen. Erstens entstammen tatsächlich nicht nur Soziologen, sondern viele Forscher den Milieus der Mittelschicht. Zweitens ist nicht

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ganz von der Hand zu weisen, dass soziologische Zeitdiagnosen in erster Linie Probleme der Mittelschicht untersuchen und dabei andere soziale Gruppen übersehen. Und drittens bedient das Genre der Zeitdiagnostik Massenmedien des Bürgertums, also den Qualitätsjournalismus (Feuilleton) sowie den Sachbuchmarkt, und wird von anderen Milieus, die die hier vorgebrachten Argumente vielleicht für ihre Interessen einsetzen könnten, aufgrund anderer Praktiken der Mediennutzung gar nicht wahrgenommen. Hinzu kommt, dass eine Orientierung an der Mitte, also auch an Mittelwerten oder an Normalitätsvorstellungen, in einer sich fortschreitend differenzierenden und polarisierenden Gesellschaft zumindest fragwürdig zu werden droht. Das gilt im Übrigen auch für die politischen Mandatsträger, die, indem sie nicht mehr alle gesellschaftlichen Milieus vertreten, selbst dem Mittelschicht-Bias unterliegen. Wenn diese dann auch nur Mittelschichtspolitik machen, realisiert sich das, was Helmut Schelsky (1979) einmal als »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« bezeichnet hat, nicht mehr strukturell, sondern im Sinne einer auf ideologische Normalitätsfiktionen hinauslaufenden, sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Dieser Spur in der gebotenen Gründlichkeit nachzugehen, ist hier nicht möglich. Der Raum reicht jedoch aus, um einige Ansatzpunkte aufzuzeigen, die zu bearbeiten sind, wenn dem Verdacht einer sozialwissenschaftlichen Ideologisierung gesellschaftlicher Zustände weiter nachgegangen werden soll. Es scheint somit geboten, zuerst einmal den Begriff des Mittelschicht-Bias und en passant das mit ihm verbundene Verständnis von Mittelschicht zu klären. Sodann sollte man sich mit dem Genre der soziologischen Zeit- oder Gegenwartsdiagnostik befassen und es hinsichtlich seiner Affinität zur Mittelschicht befragen. Am Ende dieser Überlegungen steht dann die Frage, was es bedeutet, wenn sich eine Tendenz hin zur Fokussierung der soziodemographischen Mitte erweisen sollte.

2. D er M it telschicht-B ias als systematische V erzerrun g 2.1 Mittelschichten Ganz allgemein versteht Theodor Geiger (1955: 432) unter sozialer Schichtung eine »Gliederung der Gesellschaft nach dem typischen Status (den Soziallagen) ihrer Mitglieder, ohne nähere Bestimmung dieser Soziallagen oder der Merkmale, an die sie im geschichtlichen Sonderfall geknüpft sind«. Dieser weite Schichtbegriff ermöglicht eine Gliederung der Gesellschaft nicht nur nach den – sozialstatistisch gern verwendeten – objektiven Kriterien der sozioökonomischen Lage und nicht nur nach Vorstellungen einer subjektiven Klassen- oder Schichtzugehörigkeit, sondern ebenso nach Mentalitäten im

Der Mittelschicht-Bias der soziologischen Zeitdiagnostik

Sinne von (Wert-)Haltungen oder Willensrichtungen. Mit seinem empirisch orientierten Schichtkonzept fordert Geiger (1955: 438; Hervorhebung im Original) denn auch, »die in gleichartiger Lage befindlichen Gesellschaftsmitglieder zu erfassen – vorerst ohne jede Rücksicht auf psychische Faktoren, hierauf aber zu untersuchen, inwieweit gewisse Haltungen, Meinungen, soziale Willensrichtungen in dieser oder jener Schicht vorherrschen«. Es liegt auf der Hand, dass die Beschränkung der Schichtzuordnung auf die Abweichung des Individuums oder Haushalts vom mittleren Einkommen nicht besonders aussagekräftig ist – dies zeigt sich schon am verarmten Landadligen, am taxifahrenden Akademiker oder am Neureichen. Aber auch Kompromisse, die die Identifikation des sozialen Status an Ausbildung, Berufsprestige, Einkommen und Vermögen orientieren, geben nur Anlass, über das Vorhandensein typischer Haltungen in Verbindung mit einer bestimmten sozialen Lage zu spekulieren. Dass sich der gemutmaßte Zusammenhang zwischen objektiv messbaren Merkmalen und subjektiven Einstellungen in spätmodernen Gesellschaften immer weiter aufgelöst hat, hat dazu geführt, neben der vertikalen Logik des Schichtmodells auch noch eine horizontal differenzierende Analyse nach Milieus oder Lebensstilen einzuführen. Mitunter lassen sich dadurch innerhalb ein und derselben sozialen Lage (Schicht) völlig unterschiedliche Haltungen, Meinungen und Willensrichtungen erkennen. Einzelne Arbeiten der soziologischen Zeitdiagnostik nehmen diese Problematik auf, indem sie Mentalitätstypen bilden, die irgendwie quer zur sozialen Schichtung liegen, gleichwohl aber den Anspruch erheben, relevante Motive sozialer Orientierung ausgewiesen zu haben. Auf Schelskys »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« folgt dann Gerhard Schulzes (2000) Erlebnisgesellschaft, deren Erlebnismilieus nicht mehr vollends mit bestimmten sozioökonomischen Faktoren in Deckung zu bringen sind. Historisch ist nicht von der Hand zu weisen, dass von den mittleren sozialen Lagen einer Klassengesellschaft wesentliche Veränderungsimpulse ausgegangen sind. Die Revolution des Bürgertums wurde bereits durch eine sukzessive Erhöhung des Lebensstandards ermöglicht, welche breiten Bevölkerungsgruppen ein gewisses Maß an Gestaltungsspielräumen gewährt hatte. Revolutionen entstehen, folgt man der Revolutionstheorie von James C. Davies (1970), nicht aus Not, sondern aus Unzufriedenheit vor dem Hintergrund einer gewissen Saturiertheit. Wie auch beim von Albert O. Hirschman (1973) untersuchten Tunnel-Effekt oder der These von der relativen Deprivation (Runciman 1966) kann eine ›explosive‹ Unzufriedenheit entstehen, wenn die dem sozialen Vergleich erwachsenden Verbesserungserwartungen eines Individuums oder einer sozialen Gruppe dauerhaft enttäuscht werden. Der Umsturz geht von der gesellschaftlichen Mitte dann aus, wenn der für diese soziale Lage charakteristische transitorische Charakter im Sinne der Aussicht auf Aufwärtsmobilität und der Absicherung gegen Abwärtsmobilität von größeren Gruppen

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nicht mehr realisiert werden kann. Auf diese Weise kann man die Entwicklung partizipativer Demokratien, umfassender Bildungsangebote oder den Auf bau von Wohlfahrtsstaaten auf Impulse aus diesen sozialen Lagen zurückführen. Zugleich entsteht hier auch der sogenannte »Extremismus der Mitte« (Lipset 1967), welcher sich in gewissem Umfang heranziehen lässt, wenn man das Aufkommen extrem konservativer oder faschistischer und in jedem Fall exkludierender Gesinnungen verstehen will. Seit fast zwei Jahrzehnten streiten Gegenwartsdiagnostiker mit Sozialstrukturanalytikern darüber, ob es, erstens, einen Verfall der gesellschaftlichen Mitte in westlichen Gesellschaften gibt (vgl. Lengfeld/Hirschle 2009) und ob man, zweitens, dadurch das Erstarken rechtskonservativer Bewegungen in westlichen Industriegesellschaften erklären kann. Während die einen den neuen Extremismus der Mitte mit offenkundigen Abstiegsängsten in Verbindung bringen, halten die anderen dagegen, dass es mit Blick auf die sozioökonomische Prosperität – auch der nach wie vor saturierten Mittelschichtsmilieus (vgl. zum Beispiel Mau 2014) – dazu eigentlich keine Veranlassung gebe (vgl. zum Beispiel Niehues 2014). Auch wenn sich die Schere zwischen Arm und Reich seit einigen Jahren immer weiter öffnet, führt das in der Regel nicht automatisch zu Abwärtsmobilität. Mittelschichten sind insofern transitorisch, als sie höhere Erwartungen an soziale Aufwärtsmobilität generieren. Während den Unterschichten eher ein fatalistisches, den Oberschichten ein saturiertes Beharren in der eigenen Lage und damit eine geringe Mobilität beigemessen wird, haben sich in der Mittelschicht spezifische Haltungen entwickelt, vermittels derer ein Aufstieg nahegelegt, ein Abstieg indes vermieden werden soll. Diese Haltungen korrespondieren mit bürgerlichen Wertvorstellungen wie Respektabilität, Pflichterfüllung, Familiensinn, Ordnung und Stabilität oder kulturellem Interesse. Im Rückgriff auf Studien zur kulturellen Ausrichtung der gesellschaftlichen Mitte sieht Steffen Mau (2014: 5) hier ganz spezifische »Vorstellungen des privaten und öffentlichen Lebens, in denen Selbständigkeit, methodische Lebensführung, allgemeine und fachliche Bildung sowie Leistungsorientierung ihren festen Platz haben«. Aus diesen Dispositionen ergeben sich im Hinblick auf die Lebensführung bestimmte Grundeinstellungen wie zum Beispiel die einer individualisierten Grundhaltung, durch die jedwede Wendung im Leben des Einzelnen seiner eigenen Entscheidung – und damit Verantwortung – zugerechnet wird (Wohlrab-Sahr 1997). Das dem Sartreschen Existentialismus entwachsene Deutungsschema, demzufolge das Subjekt zur Entscheidung verurteilt sei (vgl. hierzu Beck 1995; Dimbath 2003), bestätigt zunächst die Lebenswirklichkeit der Mittelschichtsangehörigen; es legitimiert sie jedoch auch in ihrer Abgrenzung gegenüber den Unterschichten, deren Mitglieder aus ihrer Sicht notorisch die falschen Entscheidungen getroffen haben und blendet zugleich jeden mobilitätsspezifischen Entscheidungsbedarf der Ober-

Der Mittelschicht-Bias der soziologischen Zeitdiagnostik

schichtsangehörigen aus, die es nur vermeintlich aus eigenem Antrieb auf ihre Position ›geschafft‹ haben. Angesichts solcher Überlegungen bleibt festzuhalten, dass Perspektiven oder Wahrnehmungsweisen der Mittelschicht nicht nur auf andere gesellschaftliche Schichten angewandt werden, sondern dass durch sie aufgrund bestimmter sozialer Positionen, von denen sie ausgehen, geradezu hegemoniale Objektivierungen im Sinne von Verabsolutierungen erfolgen. Institutionen wie Bildung oder Wissenschaft, deren Herausbildung maßgeblich durch die Mittelschichten geprägt wurde, orientieren das Handeln gemäß den Werthaltungen dieser sozialen Lagen: Bildung hat man nicht, man erwirbt sie. Und damit ist die Frage zu stellen, inwieweit sich die gesellschaftliche Selbstbeschreibung durch die Sozialwissenschaften an den Normalitätsvorstellungen von Mittelschichtsangehörigen ausrichtet.

2.2

Was ist ein Mittelschicht-Bias?

Dass es kulturspezifische und von der Klassenlage abhängige Wahrnehmungsweisen gibt, ist eine durch den historischen Materialismus popularisierte Erkenntnis. Bezogen auf die Situation der Mittelschicht, die bestimmte Berufsgruppen wie zum Beispiel den Lehrerberuf besetzt und damit gesellschaftlichen Institutionen ihr Klassenbewusstsein und ihren Klassenhabitus aufprägt, wird in soziologischen Publikationen auch schon am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert ein Mittelschicht-Bias (middle class bias) konstatiert. Die mit diesem Begriff verbundene Problemanzeige besteht darin, dass ein strukturell-hegemoniales Moment in gesellschaftlichen Institutionen markiert werden soll. Dabei geht es einerseits um ein Diktat der Masse und ihrer Repräsentanten, andererseits aber auch um das Eingeständnis eines blinden Flecks, der dort entsteht, wo alle Steuerungsinstanzen einer eingelebten Normalitätsvorstellung folgen und nicht erkennen, dass sie es unter anderem mit gesellschaftlichen Milieus zu tun haben, die diese Vorstellungen nicht teilen und die deshalb nicht gemäß den ›ganz normalen‹ Verhaltenserwartungen innerhalb dieser Institutionen ›funktionieren‹. Rein zahlenmäßig nachvollziehbar und in der Massendemokratie vielleicht sogar legitimierbar wäre eine solche Wahrnehmungsverzerrung zu Zeiten der nivellierten Mittelstandsgesellschaft beziehungsweise der sogenannten Bolte-Zwiebel (Bolte et al. 1967), bei der die Mehrheit der Bevölkerung der Mittelschicht zugerechnet wird. Diese notorische Verzerrung wird aus zweierlei Sicht problematisch. Auch wenn es den Mittelschichten besser geht, als sie es selbst glauben, folgt, erstens, auf die Abstiegsangst auch eine Verunsicherung des Denkens-wie-üblich, die manche Gewissheit infrage stellt. Zweitens treten vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Diskussion um Bildungssysteme und Chancengleichheit – insbesondere mit Blick auf die Gefahr einer Unter-

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schichtung (vgl. Hoffmann-Nowotny 2000) durch Zuwanderer – Irritationen mit den etablierten Institutionen in den Blick, die erst verstanden und dann behandelt werden müssen. Die Analyse des Mittelschicht-Bias mündet damit unmittelbar in eine Erkundung des mittelschichtsspezifischen Common Sense und der mit ihm verbundenen Erwartungshorizonte.

2.3

›Befall‹ durch Mittelschicht-Bias

Ohne dem Anspruch auf Vollständigkeit gerecht werden zu können, soll im Folgenden das Ergebnis einer kurzen Recherche hinsichtlich derjenigen sozialwissenschaftlichen Arbeitsgebiete berichtet werden, in denen ein Mittelschicht-Bias konstatiert wird. Wichtig ist dabei zunächst, zwei verschiedene, gleichwohl jedoch aufeinander bezogene Lesarten des Mittelschicht-Bias zu unterscheiden. Seit langer Zeit bekannt ist, erstens, die Einsicht, dass Mittelschichten durch ihre Präsenz in gesellschaftlichen Institutionen eine latente Hegemonie ihres Werthorizonts realisieren. Sie haben die Hoheit über die Bewertungsgrundlage gesellschaftlicher Sachverhalte. Ein bis heute zentraler Schauplatz entsprechender Reflexionen ist die Diskussion um Bildungschancen und Sozialisation, wobei ein nachhaltig prägender Impuls in den späten 1950er Jahren durch den Soziolinguisten Basil Bernstein gesetzt wurde. Mit seiner Unterscheidung des restringierten und des elaborierten Sprachcodes etablierte er ein spezifisches Verständnis über den Zusammenhang von sozialer Schicht und Sprachgebrauch. Restringierte Codes leiten ihre Benutzer unter vermehrter Verwendung von Metaphern zu partikularistischen Bedeutungszumessungen. Sie sind an eine lokale Sozialstruktur gebunden, haben ein geringes Veränderungspotential und sind in unteren sozialen Schichten anzutreffen. Elaborierte Codes verweisen demgegenüber auf universale Bedeutungen. Indem sie in geringerem Umfang an eine lokale Struktur gebunden sind, sind sie leichter veränderlich, und das Sprechen erhält einen autonomen Charakter – nur so kann man sich über allgemeine, abstrakte Dinge auseinandersetzen. Bernstein (1975) entdeckt diesen Sprachcode in Mittel- und Oberschichten. Die Konsequenz aus dieser Unterscheidung ist, dass überall dort, wo die Mittelschichten institutionelle Erwartungshorizonte diktieren, Menschen, die mit einem restringierten Sprachcode aufgewachsen sind, auf Verständnis- und Verständigungsprobleme stoßen. Curricula an höheren Schulen und Hochschulen fordern den virtuosen Gebrauch elaborierter Sprachcodes. Institutionen demokratischer Teilhabe und vor allem alternative Partizipationsformen werden über elaborierte Codes vermittelt. Ehrenamtliche Tätigkeiten, insbesondere wenn sie sich mit Kulturvermittlung im weitesten Sinn befassen, setzen ebenfalls elaborierte Codes voraus. Schließlich wird konstatiert, dass die gesamte Konstruktion wohlfahrtsstaatlicher Angebote hinsichtlich der Art

Der Mittelschicht-Bias der soziologischen Zeitdiagnostik

und Weise der Förderung sowie der Erreichbarkeit auf den Fähigkeits- und Fertigkeitsprofilen von Mittelschichtsangehörigen aufgebaut ist. Viele wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen erreichen deshalb gar nicht diejenigen, die sie am dringendsten brauchen könnten. Die zweite Lesart des Mittelschicht-Bias fokussiert auf die Praxis der umfragegestützten Ungleichheitsforschung. Mit Blick auf die Selektivität von Bevölkerungsstichproben wird seit den 1980er Jahren festgestellt, dass in sozialstatistischen Datensammlungen sowohl Ober- als auch Unterschichten unterrepräsentiert sind. Offenbar setzt die Teilnahmebereitschaft eine bestimmte Schreib- und Lesekompetenz sowie Abstraktionsfähigkeit voraus, die erstrangig in den Mittelschichten anzutreffen ist. Während die Oberschicht und Teile der gehobenen Mittelschicht für Umfrageforschung allein zahlenmäßig schlechter zu erreichen sind, fehlt es bei den Unterschichten schlicht an der Fähigkeit oder der Bereitschaft, die Befragungsinstrumente entsprechend zu bedienen. Spricht also der Sozialstatistiker von einem Mittelschicht-Bias, dann meint er, dass seine auf Repräsentativität ausgelegte Stichprobe eine systematische Verzerrung aufweist, was insbesondere dann problematisch wird, wenn unterschichtsspezifische Probleme wie zum Beispiel Bildungsabstinenz oder die Armutsverteilung untersucht werden sollen. Auch wenn versucht wird, diese Verzerrungen im Teilnahmeverhalten an sozialwissenschaftlichen Befragungen wie dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP), dem Mikrozensus oder der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) herauszurechnen, bleibt der Effekt als bekannte Störgröße insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Bildung erhalten. Er verweist letztlich darauf, dass auch die Befragungsinstrumente der sozialstatistischen Forschung impliziten Vorannahmen aufruhen, die bestimmte Bevölkerungsgruppen – insbesondere jene mit geringeren Bildungschancen – systematisch ausschließen (vgl. zum Beispiel Hartmann/Schimpl-Neimanns 1992). Unterm Strich bleibt der Mittelschicht-Bias das Eingeständnis einer eingeschränkten Teilnahmebereitschaft und Teilhabefähigkeit in erster Linie der (Bildungs-)Unterschichten, die einer überwiegend sprachlich kodierten Werthegemonie der Mittelschichten geschuldet sind. Hin und wieder finden sich im Zuge sozialwissenschaftlicher Selbstreflexion auch Hinweise darauf, dass die Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften, wie sie mitunter in Zeitoder Gegenwartsdiagnosen vorgenommen wird, einer entsprechenden Verzerrung unterliegt (vgl. Alkemeyer 2002). Diesem Gedanken soll im folgenden Abschnitt nachgegangen werden.

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3. G ibt es einen M it telschicht-B ias der Z eitdiagnostik ? Nur ein objektivistisches Verständnis von Wissenschaft kann annehmen, dass sich Forschungsthemen aus sich heraus entwickeln oder sich den Forschern in irgendeiner Weise aufdrängen. Zwar zeigen Untersuchungen zu Mehrfachentdeckungen, dass Themen in der Luft liegen und gleichzeitig von mehreren unabhängig arbeitenden Wissenschaftlern aufgenommen werden können. Allerdings bedarf es offenbar einer hohen Bereitschaft oder Disponiertheit des in seiner Gesellschaft gewordenen forschenden Subjekts, sich seinen Gegenstand zu suchen, zu wählen und ihn schließlich zu bearbeiten. Seltener findet dagegen eine soziologische Reflexion blinder Flecken statt. Eine solche könnte auf das bereits von Karl Mannheim (1964b) angemahnte Eingeständnis hinauslaufen, dass das eigene Forschungsinteresse nun einmal dem der eigenen Milieuzugehörigkeit erwachsenen Blickwinkel geschuldet ist. Die Entscheidung für die Arbeit sei ferner stark durch das schichtspezifische Entscheidungskalkül geprägt, ihre Durchführung ruhe eingedenk aller method(olog)ischen Redlichkeit ganz bestimmten schichttypischen Vorannahmen auf, und die Adressaten der Befunde seien schließlich nicht allein die Scientific Community, sondern in erster Linie die Menschen, die ähnlich ›ticken‹. Da das Genre der Zeitdiagnostik aufgrund seiner Orientierung auf die nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeit per se ein Stück weit vom Forschungsbetrieb im engeren Sinn abgelöst ist, könnte es infolge einer zumindest teilweisen Aussetzung des der rein wissenschaftlichen Tätigkeit auferlegten organisierten Skeptizismus schichtspezifischen Voreinstellungen in besonderem Maße ausgesetzt sein; nur bestimmte Themen eignen sich für ein Massenpublikum. Diesem Verdacht kann hier nur hypothetisch beziehungsweise heuristisch nachgegangen werden, er mag aber der Orientierung zur weiteren empirischen Überprüfung dienen. Im Folgenden ist zunächst zu klären, was unter einer zeitdiagnostischen Arbeit zu verstehen ist. Darauf folgen einige Mutmaßungen über sozialstrukturelle Effekte auf die Produktion von Zeitdiagnosen.

3.1

Was sind Zeitdiagnosen?

Zeit- oder Gegenwartsdiagnosen sind Arbeiten, die sich, gestützt auf die Beobachtung gesellschaftlicher Entwicklungen, an ein größeres Publikum richten. Die ›berufenen‹ Beobachter der Gesellschaft – in der Regel Sozial- oder Geisteswissenschaftler – rangieren gemeinsam mit Feuilletonisten aus dem Qualitätsjournalismus an erster Stelle. Ziel solcher Arbeiten ist es, ›der‹ Gesellschaft Rückmeldungen über ihren aktuellen Zustand beziehungsweise über Entwicklungstendenzen zu geben und damit Angebote mit Blick auf ihre Selbsterkundung oder Selbstvergewisserung zu machen. Ist eine Zeitdiagnose erfolgreich, stößt sie Diskussionen an, die mitunter sogar auf höchster politi-

Der Mittelschicht-Bias der soziologischen Zeitdiagnostik

scher Ebene ihre Wirkung entfalten. ›Echte‹ Zeitdiagnosen greifen dabei auf eine Vielzahl wissenschaftlicher Befunde – oftmals der Sozialstrukturanalyse – zurück, die in einer möglichst prägnanten Synopse zu einem Zustands- oder Entwicklungstypus gebündelt werden. Bei ›unechten‹ Zeitdiagnosen überwiegt letztlich der normative Gehalt des Arguments, indem die politische Botschaft stärker gewichtet wird als die Interpretation empirischer Befunde. Das Feld ist also durchsetzt von sachorientierter Diagnostik auf der einen und mit gesellschaftskritischem Impetus verbundener politischer Prophetie auf der anderen Seite. In jedem Fall handelt es sich um absichtsvoll gering differenzierende Aussagen, die, anstelle kleinteiliger Analysen, umfassende – und damit notwendig grob gezeichnete – Entwicklungslinien ziehen. Im Wesentlichen lassen sich drei Grundfiguren zeitdiagnostischer Argumente ausmachen (vgl. hierzu Dimbath 2016b). So kann sich die Gegenwartsbeschreibung an den Lebensbedingungen bestimmter Gruppen orientieren, die aufgrund ihrer räumlichen, zeitlichen und sozialen Lagerung zu neuem Wissen gelangt sind. Gibt dieses Wissen der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung eine Richtung, spricht man bei seinen Protagonisten von Generationen oder Generationsgestalten. Bekannte Generationsgestalten sind die Generation des Wandervogels, die skeptische oder Flakhelfer-Generation, die Generation der 1968er, die Generation Golf beziehungsweise Generation X, die Generation 1989 oder, in jüngerer Zeit, die Generation Y. Eine zweite Grundfigur besteht in einer Charakterisierung der Gegenwartsgesellschaft. Oft – freilich nicht immer – wird dem Suffixoid ›Gesellschaft‹ ein spezifizierendes Adjektiv oder Präfixoid vorangestellt. Es entsteht ein Kompositum, dem in der Regel sofort zu entnehmen ist, in welche Richtung die jeweilige Zeitdiagnose weist. Im Kern geht es bei solchen ›Momentaufnahmen‹ darum, ein wesentliches Merkmal zu identifizieren, das für die Selbstbeschreibung einer Gegenwartsgesellschaft herangezogen werden kann. Zumeist ist mit einem solchen Merkmal der Rückbezug auf eine als vergangen ausgewiesene Gesellschaftsformation verbunden. Diese Form der Gesellschaftsanalyse bedient sich einer historisierenden beziehungsweise epochisierenden Argumentationsfigur, da mitunter die abgelöste Gesellschaftsformation eine gleichermaßen verkürzende historische Konstruktion darstellt. Beispiele hierfür sind der Übergang von der Sklavenhalter- zur Klassengesellschaft, von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft oder von der ersten zur zweiten Moderne. Erfolgreiche Zeitdiagnosen mit dem Kompositum ›Gesellschaft‹ sind zum Beispiel die Risikogesellschaft, die Erlebnisgesellschaft oder die Multioptionsgesellschaft. An dritter Stelle finden sich Zeitdiagnosen, die einen Prozess gesellschaftlichen Wandels identifizieren. In der Regel stehen systematische Veränderungen der institutionellen Ordnung im Mittelpunkt, und auch hier wird – oft in Form einer ›-Isierung‹ – ein Hauptmotiv ausgewiesen, das sich in vielen

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Bereichen der Gesellschaft ausmachen lässt und dort spezifische Wirkungen entfaltet. Bemerkenswert an diesen ebenfalls historisch konstituierten Argumenten ist, dass sie leicht in Prognosen gesellschaftlicher Entwicklung münden. Sie können dadurch mit Blick auf den politischen Gestaltungswillen zu scharfen Waffen werden, da mitunter keine Entwicklung zum Besseren extrapoliert wird. Beispiele für Diagnosen dieser Art sind die Rekonstruktion einer fortschreitenden Zivilisierung westlicher Gesellschaften, die Beobachtung ihrer funktionalen Differenzierung oder die Tendenz zu Individualisierung oder Beschleunigung. Da der zeitdiagnostischen Phantasie keine Grenzen gesetzt sind, lässt sich die Reihe der XY-Generationen, XY-Gesellschaften und XY-Isierungen beliebig fortsetzen. Allerdings gelingt es nur wenigen ›echten‹ und ›unechten‹ Diagnosen, politische oder sogar wissenschaftliche Diskussionen zu beeinflussen. Mit Blick auf die Wirkung zeitdiagnostischer Argumente zeigt sich, ob die sachliche Diagnose oder kritische Prophetie den ›Nerv‹ der Zeit getroffen hat. Im hier zu verhandelnden Zusammenhang stellt sich nun die Frage, inwieweit es sich bei dieser Art der Gesellschaftsdiagnostik um ein Spezifikum der Mittelschichten handeln könnte.

3.2

Spuren sozialstruktureller Effekte im Genre Zeitdiagnostik?

Die wissenssoziologische Rekonstruktion des Einflusses einer Schichtungsvariablen auf einen zentralen Schauplatz öffentlicher Wissenschaft bedarf einer umfassenden empirischen Überprüfung, die hier nur konturiert werden kann. Dabei geht es um drei Ansatzpunkte für einen Mittelschicht-Bias der sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnostik: Erstens lässt sich fragen, inwieweit gegenwartsdiagnostische Arbeiten der Feder von Mittelschichtsangehörigen entstammen. Zweitens muss dem Verdacht nachgegangen werden, dass das Zielpublikum von Zeitdiagnosen in den Mittelschichten anzutreffen ist. Und drittens ist die Frage zu stellen, ob sich die in Gegenwartsdiagnosen behandelten Probleme auf allgemein gesellschaftliche Problemlagen beziehen, oder ob sie in erster Linie Probleme der Mittelschichten adressieren. Das Fach Soziologie ist ein Kind der Aufklärung und der bürgerlichen Revolution. Auch seine Vordenker entstammen, von Ausnahmen abgesehen, bürgerlichen Milieus. Nur selten konnten Sozialphilosophen oder Sozialtheoretiker auf Mäzene oder auf Erwerbsquellen verzichten und von geerbtem Vermögen leben. Ebenfalls eine Seltenheit sind Sozialforscher, die den ärmlichen Verhältnissen der unteren Schichten entstammten. Zur Geburtsstunde der Soziologie rekrutiert sich das Personal aus einer erstarkten und mit neuem Selbstbewusstsein versehenen Mittelschicht. Ihr Sendungsbewusstsein zielt nicht zuletzt darauf, die den sozialen Aufstieg blockierenden betonierten oder gläsernen Decken einzureißen. Spätestens seit

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Auguste Comte wird die Entideologisierung und die aus ihr erwachsende Fähigkeit zur Domestizierung der Naturgewalten qua empirisch-systematischer Beobachtung eine Kernkompetenz, mit deren Hilfe die Mittelschichten jede göttliche Fügung und damit jede tradierte Herrschaft infrage zu stellen in der Lage waren. Ausgehend von der Philosophie diente Georg Friedrich Wilhelm Hegels dialektische Methode ebenfalls dazu, bislang unhinterfragte Zustände und Verhältnisse zu negieren. Voraussetzung der Auseinandersetzung mit gesellschaftstheoretischen Sachverhalten war immer eine höhere Bildung, die in wachsendem Maße die Verfügung über wissenschaftlich-systematische Kompetenzen einschloss. Gleichwohl zeichnet sich Mitte des 19. Jahrhunderts neben der Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften eine Trennung zwischen positivistischen und normativ-kritischen Orientierungen in der Gesellschaftsdiagnostik ab. Das Beispiel Karl Marx zeigt, dass es Mittelschichts­ angehörigen nicht allein darum zu tun war, die Mobilitätschancen des eigenen Herkunftsmilieus zu verbessern. Sein Engagement für eine klassenlose Gesellschaft ist vom Glauben an einen historischen Prozess geprägt, in dessen Verlauf auch dort ein politisches Bewusstsein geschaffen werden kann, wo es – zumindest in der gewünschten Form – nicht anzutreffen ist. Die Aufklärung kann und soll nicht allein dem aufstrebenden Bürgertum dienen und nicht nur eine Führungselite durch eine andere ersetzen, sondern zu einer umfassenden Veränderung des gesellschaftlichen Zusammenlebens führen. Ganz offensichtlich gründet reformerisches und revolutionäres Denken in den aus Mitgliedern der Mittelschichten rekrutierten Organen wissenschaftlicher Reflexion. Man kann die historischen Beispiele an der soziologischen ›Klassik‹ weiterführen und an Max Webers Versuch der sinnadäquaten Erklärung bürgerlichen Aufstiegsstrebens im Rahmen seiner Protestantismusthese ebenso erinnern wie an Émile Durkheims Zentralstellung der Arbeitsteilung als sozialem Differenzierungsmotor. Bemerkenswert ist auch die spätestens bei Marx einsetzende kritische Reflexion über die Auswirkungen des wachsenden Einflusses der bürgerlichen Mitte. Sie lässt sich nicht allein durch die Sorge vor durch das Bürgertum entfesselten, kapitalistischen Wandlungsdynamiken, sondern auch durch schichtinterne Spannungen erklären, die auftreten, wenn bestimmte Integrations-, Entfaltungs- oder Partizipationserwartungen nicht erfüllt werden. Entsprechend weist Karl Mannheim (1952) der freischwebenden Intelligenz auch eine politisch ambivalente Orientierung zu. Geht man die Biographien namhafter Zeitdiagnostiker weiter durch, so zeigt sich, dass sie – wie übrigens Soziologen und Wissenschaftler im Allgemeinen – fast ausnahmslos der Mittelschicht entstammen. Dabei bleiben die beiden Grundmotive aus der Gründungsphase erhalten: Aufklärung durch Beobachtung und normative (Selbst- und System-)Kritik, wobei sich diese nicht immer auf ein egalitäres Motiv zurückführen lässt, sondern mitunter auch

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auf einen reformerisch kaschierten Strukturkonservatismus. Mit Blick auf die soziale Herkunft von Zeitdiagnostikern ließe sich somit die Vermutung formulieren, dass ein Mittelschicht-Bias als standorttypische Perspektivenverzerrung sowohl in einem programmatischen Wunsch nach sozialer Gleichheit als auch in einer Sorge hinsichtlich der Nebenfolgen fortschreitender und umfassender Selbstermächtigung besteht (vgl. hierzu Dimbath 2017). Eine zweite schichtspezifische Verzerrung ergibt sich daraus, dass auch die Adressaten von Zeitdiagnosen Angehörige der Mittelschicht sein dürften. Es gilt als ein Merkmal der Gegenwartsdiagnostik, dass sie sich an eine breitere Öffentlichkeit als die Scientific Community des einzelnen Fachwissenschaftlers wendet. Diese Öffentlichkeit muss aber bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Selbst wenn man das Spektrum zeitdiagnostischer Medienbotschaften auf die Presse, die schöne Literatur, den Rundfunk, den Film und das Fernsehen erweitert, sind neben der Fähigkeit zur Verwendung eines elaborierten Sprachcodes überhaupt ein Interesse an sozialpolitischer Reflexion und ein den eigenen unmittelbaren Horizont überschreitendes politisches Partizipationsbewusstsein erforderlich. Dem Wunsch, ›der‹ Gesellschaft etwas zurückzugeben, indem man ihr den Spiegel vorhält (vgl. Dimbath 2016a), korrespondiert somit das Bedürfnis nach Selbsterkundung und Selbstvergewisserung. Dass einem solchen Interesse eine grundlegende Verunsicherung zugrunde liegt, wird verständlich aus der transitorischen Situation der Mittelschichten, deren Angehörige stets aufstiegsorientiert sind und die zugleich immer etwas zu verlieren haben. Abseits des großen Marktes zahlungsfähiger potentieller Rezipienten und ohne Rücksicht auf die naheliegende Neigung, die eigenen Herkunftsmilieus zu adressieren, erscheint es als nachvollziehbar, die Mittelschichten aufgrund ihrer sozialstrukturell spezifischen Lage und der aus ihr erwachsenen Mentalitäten mit Reflexionswissen zu beliefern, das diese – als Inhaber gesellschaftlicher Steuerungspositionen – zur wechselseitigen (De-) Legitimierung ihres Handelns verwerten können. Daraus ergibt sich schließlich, dass die Mittelschicht als zahlenmäßig größte Gruppe die höchste Resonanz auf die im Wesentlichen sie selbst betreffenden Befunde erwarten lässt. Der Mittelschicht-Bias der Rezipientenseite erwächst somit in erster Linie dem medialen Zuschnitt und der Rezeptionskompetenz sowie dem Innehaben institutioneller Kontrollpositionen in der Massendemokratie. Aus den beiden vorangehenden Fragen nach der Herkunft der Verfasser ebenso wie nach der Adressatengruppe von Zeit- oder Gegenwartsdiagnosen lässt sich auf einen dritten Mittelschicht-Bias schließen: Kann es sein, dass Zeitdiagnosen gar nicht die Probleme ganzer Gesellschaften thematisieren, sondern nur Probleme der Mittelschichten? Will man dieser Frage nachgehen, bieten sich zwei Zugangsweisen an, die letztlich eine empirische Überprüfung erfordern. Erstens wäre zu erörtern, ob die drei zeitdiagnosetypischen Argumentationsformen, nach denen die gesellschaftlichen Gegenwarten an-

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hand von Generationen, Gesellschaftsgestalten oder sozialen Prozessen untersucht werden, dem ausschließlichen Interessenhorizont der Mittelschichten entsprechen. Zweitens könnte man inhaltsanalytisch die zentralen Argumente zeitdiagnostischer Arbeiten durchgehen und sich dabei fragen, inwieweit die hier verhandelten Probleme auch für andere soziale Gruppen abseits der Mittelschichten, also für Unter- oder Oberschichten, von Bedeutung sind. So lässt sich bezweifeln, ob eine Selbstbeschreibung mit Hilfe von Kategorien wie Generation, Gesellschaft oder sozialem Wandel für Angehörige von Unter- oder Oberschichten überhaupt adäquat sein könnte; möglicherweise fehlt den Unterschichten überhaupt das Verständnis für diese Form der Abstraktion und den Oberschichten der ›Sinn‹, sich mit Massenphänomenen zu assoziieren. Damit bleibt die Frage zu klären, was es bedeutet, die eigene Lage in dieser – soziologisch inspirierten – Weise zu reflektieren. Folgt man mit Blick auf das Generationskonzept den Überlegungen Mannheims (1964a), dient dieses dazu, die Entwicklung dominierender Tendenzen innerhalb einer Gesellschaft zu verstehen. Mannheim geht davon aus, dass unterschiedliche Generationseinheiten innerhalb eines Zeitintervalls um Deutungsmacht konkurrieren. Diese Generationseinheiten entstammen verschiedenen Milieus und verfolgen je differierende Ziele. Wenn sich letztlich eine Generationseinheit durchsetzt, prägt sie ›ihrer‹ Zeit die Spezifika ihrer Weltsichten und Zielvorstellungen auf. Dies aber setzt voraus, dass es Gruppen mit entsprechendem Gestaltungswillen gibt und dass jene diesen als Alternative zu anderen artikulieren. Auch wenn damit immer gesellschaftliche Minderheiten am Wirken sind, es auf eine große Zahl beteiligter Individuen somit nicht ankommt, muss zumindest eine gewisse Disposition zur Ausbildung gemeinsamer Positionen im Rückgriff auf kollektiv empfundene, Einheit stiftende Lebensumstände und -ereignisse vorliegen. Ähnlich voraussetzungsvoll ist der Gebrauch des Gesellschaftsbegriffs zur Selbstbeschreibung, der ein Mindestmaß an staatsbürgerlichem ›Bewusstsein‹ und zugleich ein Eingeständnis der Zugehörigkeit zur Massengesellschaft verlangt. Es ist vor diesem Hintergrund fraglich, ob das Gesellschaftskonzept abseits der Mittelschichten überhaupt eine relevante Kategorie ist, weil die Integrationsprobleme am oberen ebenso wie am unteren Rand weniger über Aushandlungsprozesse im Hinblick auf soziale Ordnung vermittelt sein könnten. Und fraglich ist in demselben Sinn, ob die in Zeitdiagnosen behandelten Prozesse sozialen Wandels die Lebenswirklichkeit von Unter- und Oberschichten so erfassen, dass sie verstanden beziehungsweise handlungswirksam werden können. Weiter erschließen lässt sich dieses Phänomen der mittelschichtsfokussierten Problematisierung von Gesellschaft durch einige Schlaglichter auf zeitdiagnostische Werke. Helmut Schelsky (1975) erkennt bei der von ihm als skeptisch bezeichneten Nachkriegsgeneration eine Tendenz zur Privatheit und

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eine deutliche Politikabstinenz. Allein dieser Befund zeigt, dass der Verfasser offenbar eine Erwartung an politisches Engagement der nachwachsenden Generation hat, die nicht erfüllt wird. Vor dem Hintergrund der von demselben Autor formulierten These der nivellierten Mittelstandsgesellschaft wirkt die diagnostizierte Mentalität politischen Desinteresses und konkretistischer Kraftmeierei rückschrittlich. Aufschlussreich ist auch die Grundtendenz des auf den Schriftsteller Douglas Coupland (1994) zurückgehenden Konzepts der Generation X, dessen Tenor darin besteht, dass gut ausgebildete Mittelschichtskinder den Lebensstandard ihrer Elterngeneration nicht mehr werden halten können. Den Hintergrund für diese Befunde liefert Pierre Bourdieu (1998) mit seinem Konzept der auf eine Bildungsinflation zurückgehenden These der geprellten Generation. Beide Generationsgestalten adressieren von vornherein die Mittelschicht. Ein Argumentationsstrang in Ulrich Becks (1986) Gegenwartsdiagnose der Risikogesellschaft bezieht sich auf die Privatisierung der Profite bei gleichzeitiger Sozialisierung der aus ihnen erwachsenen Risiken. Voraussetzung zum Verständnis dieser Behauptung ist eine Weltsicht, die davon ausgeht, dass die Erträge aus einer Tätigkeit untrennbar mit der Verantwortung für die ihr erwachsenen Risiken verbunden sind. Mit einem solchen Gleichgewicht war beispielsweise die Oberschicht nie ernsthaft konfrontiert, da sie die Risiken ihres Handelns grundsätzlich sozialisierte. Möglicherweise ist diese Annahme – und die mit einem Verstoß einhergehende Entrüstung – genuin mittelschichtsspezifisch. Die Zeitdiagnose der Erlebnisgesellschaft von Gerhard Schulze (2000) erfasst zwar Milieus der Gesellschaft in der ganzen Breite; die Feststellung einer wachsenden Erlebnisorientierung bezieht sich jedoch auf spezifische Erlebnismilieus, die in der Mittelschicht angesiedelt sind. Die Erlebnisorientierung setzt in gewissem Umfang eine Freistellung von den Notwendigkeiten des Lebens, das Vorhandensein eines ausreichenden Einkommens und genügend freie Zeit voraus. Zugleich erlangt diese Zeitdiagnose Plausibilität aus dem historischen Vergleich mit einer Nachkriegsgesellschaft, in der an diese Gestaltungschancen noch nicht zu denken war. Nimmt man schließlich Gegenwartsdiagnosen in den Blick, die sich mit Prozessen sozialen Wandels befassen, zeigt sich im Fall der Individualisierung eine Zurechnung von Entscheidungskompetenz auf das Individuum. Auch wenn durchaus strittig ist, wie weit es um die Entscheidungsfreiheit de facto bestellt ist, und ob gesellschaftliche Erwartungen den Einzelnen nicht stärker determinieren als ihm selbst klar ist, setzt Freiheit immer das Vorhandensein von Alternativen voraus. Diese Alternativen können nur handlungswirksam werden, wenn man sie sinnvoll wahrnehmen kann. Wer strukturell keine Chance hat, kann diese auch nicht ergreifen, und wer Alleinerbe größerer Liegenschaften ist, wird sich gut überlegen, ob er auf diese Sicherheiten verzich-

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tet. Riskante Freiheiten, so ein Titel der Individualisierungstheoretiker Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (1994), sind dort besonders prägnant, wo es etwas zu verlieren, aber auch zu gewinnen gibt: in der Mittelschicht. Die Prozessdiagnose der Beschleunigung ist ebenfalls eng mit wahrnehmbaren Chancen und der daraus resultierenden Entscheidungsnot verbunden. Die durch technischen Fortschritt und Bestrebungen zur Selbstoptimierung erreichte Zeitersparnis führt, so die Diagnose Hartmut Rosas (2005), nicht zu einem Zuwachs an freier Zeit und Muße, sondern mündet in eine Spirale immer weiter fortschreitender Optimierungszwänge. Dies läuft auf einen Autonomieverlust derjenigen Individuen hinaus, deren Freiheit eine problematische Möglichkeit und damit irgendwie disponibel ist. Wer dagegen nicht beschleunigen kann und sich damit abgefunden hat, abgehängt zu sein, wird von diesem Prozess genauso wenig erfasst wie derjenige, der sich nie wird beeilen müssen, weil alle anderen ohnehin auf ihn warten. Das Zerrieben-Werden im Zeitstress scheint als Problem in erster Linie die Mittelschichten zu adressieren.

4. F a zit Die hier angestellten explorativ-tentativen Überlegungen haben den Eindruck entstehen lassen, dass das Genre der sozialwissenschaftlichen Zeit- und Gegenwartdiagnostik einem Mittelschicht-Bias unterliegt. Es stellt sich nun die Frage, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Geht man von einer Sozialstruktur aus, die – wie das Modell der BolteZwiebel nahelegt – die Schichtstruktur der Gesellschaft mit einem dicken Mittelschichtsbauch darstellt, wären weite Teile der Bevölkerung durch die zeitdiagnostischen Argumente so gut adressiert wie repräsentiert. Tatsächlich gibt es derzeit kaum Evidenzen für einen Verfall oder Niedergang der Mittelschichten, sodass eine entsprechend ausgerichtete Diagnostik weiterhin hohe Plausibilitätschancen haben wird. Vorgänge am oberen oder unteren Rand der Gesellschaft mögen demgegenüber zwar durchaus problematisch und Gegenstand sozialwissenschaftlicher Analysen sein; sie sind jedoch bestenfalls Teil einer umfassenden Konstruktion prägnanter sozialer Entwicklungshypothesen und Zustandsbeschreibungen, die aus vielen Einzelbefunden generiert werden. In Verbindung mit der sozialen Herkunft der allermeisten Sozialwissenschaftler und der von ihnen adressierten Öffentlichkeit besteht somit notorisch die Gefahr systematischer Verzerrungen und blinder Flecken. Es bleibt bislang offen, welchen Weg beispielsweise eine öffentliche Soziologie gehen müsste, um Unterschichten zu erreichen, falls diese durch Prozesse der Unterschichtung zu einer für Zeitdiagnosen relevanten Größe heranwachsen.

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Der Mittelschicht-Bias der soziologischen Zeitdiagnostik

Geiger, Theodor (1955): »Schichtung«, in: Wilhelm Bernsdorf/Friedrich Bülow (Hg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart: Ferdinand Enke, S. 432-466. Hartmann, Peter H./Schimpl-Neimanns, Bernhard (1992): »Sind Sozialstrukturdatenanalysen mit Umfragedaten möglich? Analysen zur Repräsentativität einer Sozialforschungsumfrage«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 44, S. 315-340. Hirschman, Albert O./Rothschild, Michael (1973): The Changing Tolerance for Income Inequality in the Course of Economic Development, in: The Quarterly Journal of Economics 87, S. 544-566. Hoffmann-Nowotny, Hans-Joachim (2000): »Migration, soziale Ungleichheit und ethnische Konflikte«, in: Ingrid Gogolin/Bernhard Nauck (Hg.), Migration, gesellschaftliche Differenzierung und Bildung, Wiesbaden: VS, S. 157-178, doi: http://dx.doi.org/10.1007/978-3-663-10799-6_8. Honneth, Axel (1995): Desintegration. Bruchstücke einer soziologischen Zeitdiagnose, Frankfurt a.M.: Fischer. Lengfeld, Holger/Hirschle, Jochen (2009): »Die Angst der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg. Eine Längsschnittanalyse 1984-2007«, in: Zeitschrift für Soziologie 38, S. 379-398, doi: http://dx.doi.org/10.1515/zfsoz-2009-0503. Lipset, Seymour Martin (1967): »Der ›Faschismus‹, die Linke, die Rechte und die Mitte«, in: Ernst Nolte (Hg.), Theorien über den Faschismus, Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch, S. 449-491. Mannheim, Karl (1952): Ideologie und Utopie, Frankfurt a.M.: Schulte-Bulmke. Mannheim, Karl (1964b): »Das Problem einer Soziologie des Wissens«, in: Kurt H. Wolff (Hg.), Karl Mannheim. Wissenssoziologie, Neuwied/Berlin: Luchterhand, S. 308-387. Mannheim, Karl (1964a): »Das Problem der Generationen«, in: Kurt H. Wolff (Hg.), Karl Mannheim. Wissenssoziologie, Neuwied/Berlin: Luchterhand, S. 509-565. Mau, Steffen (2014): »Die Mittelschicht – das unbekannte Wesen?«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 49, S. 3-10. Niehues, Judith (2014): »Die Mittelschicht – stabiler als gedacht«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 49, S. 10-17. Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Runciman, Walter G. (1966): Relative Deprivation and Social Justice: A Study of Attitudes to Social Inequality in Twentieth-Century England, Los Angeles: University of California Press. Schelsky, Helmut (1975): Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Frankfurt a.M. und andere: Ullstein. Schelsky, Helmut (1979): »Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs für die Analyse der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft«, in: Helmut Schelsky

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Oliver Dimbath

(Hg.), Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie der Bundesrepublik, München: Goldmann, S. 326-332. Schulze, Gerhard (2000): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Ge­ genwart, Frankfurt a.M./New York: Campus. Wohlrab-Sahr, Monika (1997): »Individualisierung: Differenzierungsprozess und Zurechnungsmodus«, in: Ulrich Beck/Peter Sopp (Hg.), Individualisierung und Integration, Opladen: Leske + Budrich, S. 23-36, doi: http:// dx.doi.org/10.1007/978-3-322-95818-1_2.

Zu den Autorinnen und Autoren

Friederike Bahl, Dr. rer. pol., geboren 1982, studierte Soziologie, Psychologie und Erziehungswissenschaft an der Universität Kassel. Promotion 2014 im Fach Soziologie an der Universität Kassel (mit Auszeichnung). Seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Hamburger Institut für Sozialforschung und seit 2015 Fachredakteurin bei soziopolis.de für Arbeits- und Industriesoziologie. Forschungsschwerpunkte: Wandel der Arbeitswelt, soziologische Rechtstheorien, Richter in der Justizorganisation, politische Soziologie und Struktur und Theorien sozialer Ungleichheit. Publikationen in Auswahl: »Institutionenvertrauen und Wahlbeteiligung. Zur Leerstelle eines Erklärungszusammenhangs«, in: Horst Kahrs (Hg.), Wahlenthaltung. Zwischen Abwendung, Verdrossenheit und Desinteresse, Berlin 2017: Rosa-Luxemburg-Stiftung, S. 38-44; »Arbeit und Subjekt – Herausforderungen für eine Forschungstradition«, in: WSI-Mitteilungen 69 (7), 2016, S. 552-554; »Der Blick von außen. Das Ende der gesellschaftlichen Mitte als Aspirationsraum«, in: Stephan Lessenich (Hg.), Routinen der Krise – Krise der Routinen. Verhandlungen des 37. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Trier 2014, 2015; »Die Proletarisierung der Dienstleistungsarbeit. Institutionelle Selektivität, Arbeitsprozess und Zukunftsperzeption im Segment einfacher Dienstleistungsarbeit«, in: Soziale Welt 66 (4), 2015, S. 371-387 (zusammen mit Philipp Staab); Lebensmodelle in der Dienstleistungsgesellschaft, Hamburg 2014: Hamburger Edition. Marlon Barbehön, Dr. rer. pol., geboren 1985, studierte Politikwissenschaft und Germanistik an der Technischen Universität Darmstadt und der Karlstad University in Schweden. Promotion 2015 in Heidelberg. Seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Diskurstheorie und -analyse, interpretative Policy-Forschung, Stadt- und lokale Politikforschung sowie Zeit des Politischen. Publikationen in Auswahl: »Caught in the Middle? Welfare State Legitimisation and Problematisation in German and Swedish Middle-class Discourse«, in: International Journal of Politics, Culture, and Society, 2018, online first, https:// doi.org/10.1007/s10767-018-9275-0 (zusammen mit Marilena Geugjes); »Ever

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Die Mitte als Kampfzone

more complex, uncertain and urging? ›Wicked problems‹ from the perspective of anti-naturalist conceptualizations of time«, in: diskurs – Zeitschrift für innovative Analysen politischer Praxis, 2018; Variationen des Städtischen – Variationen lokaler Politik, Wiesbaden 2017: Springer VS (zusammen mit Sybille Münch herausgegeben); Die Europäisierung von Städten als diskursiver Prozess, Baden-Baden 2015: Nomos; »Middle class and welfare state – discursive relations«, in: Critical Policy Studies 9 (4), 2015, S. 473-484 (zusammen mit Michael Haus); »Problem Definition and Agenda-Setting in Critical Perspective«, in: Frank Fischer/Douglas Torgerson/Anna Durnová/Michael Orsini (Hg.), Handbook of Critical Policy Studies, Cheltenham/Northampton 2015: Edward Elgar, S. 241-258 (zusammen mit Sybille Münch und Wolfram Lamping). Nicole Burzan, Prof. Dr. rer. soc., studierte Sozialwissenschaften (Diplom) an der Ruhr-Universität Bochum. Promotion 2002 an der FernUniversität in Hagen, anschließend Junior-Professorin für Sozialstrukturanalyse und empirische Methoden am Institut für Soziologie in Hagen. Seit 2007 Professorin für Soziologie an der Fakultät 12 der Technischen Universität Dortmund und seit 2017 Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS). Aktuelle Forschungsschwerpunkte: soziale Ungleichheit (unter anderem in kultursoziologischer Ausrichtung), Zeitsoziologie, Methodenverknüpfung/-reflexion. Publikationen in Auswahl: »Intergenerationale Statusstabilisierung in der Mittelschicht – eine exemplarische Analyse zweier Unternehmensfamilien«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 15 (1), 2018, S. 99-108 (zusammen mit Miriam Schad); »Menschen im Museum: theoretische Perspektiven auf empirische Erkundungen« in: Sociologia Internationalis 55 (1), 2017, S. 1-26; Typologische Konstruktionen. Prinzipien und Forschungspraxis, Wiesbaden 2018: Springer VS (zusammen mit Ronald Hitzler herausgegeben); »Zum Wandel von Raum- und Zeitstrukturierungen am Beispiel von Museen«, in: Zeitschrift für Theoretische Soziologie, Sonderband »Raum und Zeit. Soziologische Beobachtungen zur gesellschaftlichen Raumzeit« (herausgegeben von Anna Henkel, Henning Laux und Fabian Anicker), 2017, S. 171-187; »Zeitperspektiven der Mittelschicht in der Krise? Empirische Befunde und Folgerungen für das Konzept sozialer Schichtung« in: Nicole Burzan/Ronald Hitzler (Hg.), Theoretische Einsichten. Im Kontext empirischer Arbeit, Wiesbaden 2017: Springer VS, S. 167-184; Methodenplurale Forschung. Chancen und Probleme von Mixed Methods, Weinheim/Basel 2016: Beltz Juventa; Quantitative Methoden kompakt, Konstanz/München 2015: UTB/UVK; Die Mitte der Gesellschaft: Sicherer als erwartet? Weinheim/Basel 2014: Beltz Juventa (zusammen mit Silke Kohrs und Ivonne Küsters). Ursula Dallinger, Prof. Dr., studierte Soziologie in Marburg, Göttingen und Kassel. Promotion 1996 in Dortmund, Habilitation 2006 in Hamburg. Seit

Zu den Autorinnen und Autoren

2007 Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Sozialpolitik in Trier. Forschungsschwerpunkte: International vergleichende Analyse von Ungleichheit und deren Perzeption, sozialpolitische Präferenzen und deren Formation, Wohlfahrtsstaat und Solidarität. Publikationen in Auswahl: »The Endangered Middle Class? A Comparative Analysis of the Role Played by Public Redistribution«, in: Journal of European Social Policy 23 (1), 2013, S. 83-101; »Ungleichheit, Sozialstaat und demokratische Repräsentation: Marktkorrigierende Politik durch den Medianwähler?«, in: Zeitschrift für Sozialreform 63 (4), 2017, S. 1-33. Udo Dengel, Dr. phil., geboren 1976, studierte nach seiner Tätigkeit als Sozialversicherungsfachangestellter Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Promotion 2014 in München. Seit 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Fulda und seit 2015 Mitarbeiter des Süddeutschen Instituts für empirische Sozialforschung e.V. (SINE) München. Forschungsschwerpunkte: Qualitative Methoden der Sozialforschung, Biographie- und Identitätsforschung, Migrationsforschung und Forschung zu Zivilgesellschaft und Engagement. Publikationen in Auswahl: Erfahrung verbindet. Die Potenziale älterer MigrantInnen im Tätigkeitsfeld des Migrations- und Integrationsengagements, Wiesbaden 2015: Springer VS; »Gleichbleiben trotz Überschuldung: Identitätsarbeit als Strategie des Weiter-So und der Rückbesinnung«, in: Helmut Staubmann (Hg.), Soziologie in Österreich – Internationale Verflechtungen, Innsbruck 2016: innsbruck university press, S. 89-100; »Doing philosophy while doing social work. Eine empirisch-qualitative Verhältnisbestimmung von Philosophie in der Sozialen Arbeit«, in: Gudrun Perko (Hg.), Philosophie in sozialen Berufen, Weinheim/ Basel 2017: Beltz Juventa, S. 171-188 (zusammen mit Eva Tolasch-Marzahn und Nicole Lühring); »Die Bewältigung des Scheiterns im ›aktivierenden Staat‹«, in: Stephan Lessenich (Hg.), Geschlossene Gesellschaften. Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg 2016, 2017 (zusammen mit Marion Müller und Patricia Pfeil); Identität unter Druck. Überschuldung in der Mittelschicht, Wiesbaden 2018: Springer VS (zusammen mit Marion Müller, Patricia Pfeil und Lisa Donath). Oliver Dimbath, Prof. Dr. rer. pol., geboren 1968, studierte zunächst Betriebswirtschaftslehre an der Fachhochschule München (Diplom-Betriebswirt [FH]) und dann Soziologie, Sozialpsychologie und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München (Diplom-Soziologe). Promotion 2002 in München. Von 2003 bis 2017 war er – mit Unterbrechung durch Professurvertretungen an der Bergischen Universität Wuppertal und an der Ludwig-Maximilians-Universität München – an der Universität Augsburg als wissenschaftlicher Mitarbeiter, akademischer Rat und akademischer Oberrat im Fach Soziologie beschäftigt. Habilitation 2012 in Augsburg. Seit 2017

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Professor für Allgemeine Soziologie am Institut für Soziologie der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. Forschungsschwerpunkte: Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie, Wissenssoziologie, Gedächtnissoziologie, Wissenschaftssoziologie, Filmsoziologie und qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung. Publikationen in Auswahl: »Negative Diagnostik. Perspektiven einer Antithetik des gesellschaftlichen Wandels«, in: Michaela Pfadenhauer/Tilo Grenz (Hg.), De-Mediatisierung. Diskontinuitäten, Non-Linearitäten und Ambivalenzen im Mediatisierungsprozess, Wiesbaden 2017: Springer VS, S. 259- 275; »Die Generationsmetaphorik in soziologischen Zeitdiagnosen«, in: Matthias Junge (Hg.): Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen, Wiesbaden 2016: Springer VS, S.  123-139; Soziologische Zeitdiagnostik, Paderborn 2016: Fink/UTB; Gedächtnissoziologie, Paderborn 2015: Fink/UTB (zusammen mit Michael Heinlein); »Die Ordnung der Dramatisierung – disruptiver sozialer Wandel im Lichte soziologischer Zeitdiagnostik«, in: Stephan Lessenich (Hg.), Routinen der Krise – Krise der Routinen. Verhandlungen des 37. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Trier 2014, 2015; Oblivionismus. Vergessen und Vergesslichkeit in der modernen Wissenschaft, Konstanz 2014: UVK. Silke van Dyk, Prof. Dr. disc. pol., geboren 1972, studierte Soziologie, Politikwissenschaft, Volkswirtschaftspolitik und Arbeitsrecht (Diplom-Sozialwirtin) an den Universitäten Göttingen und Helsinki/Finnland. Promotion 2005 in Göttingen, Habilitation 2015 in Jena. Seit 2016 Professorin für Politische Soziologie am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Politische Soziologie, Soziologie der Sozialpolitik und des Wohlfahrtsstaats, Soziologie des Alters und der Demographie, Diskursforschung. Publikationen in Auswahl: »Krise der Faktizität? Über Wahrheit und Lüge in der Politik und die Aufgabe der Kritik«, in: Prokla 188 47 (3), 2017, S.  347-368; »Community-Kapitalismus oder Alternativökonomie? Kritische Anmerkungen zur Wiederentdeckung des Gemeinsinns«, in: Stephan Lessenich (Hg.), Geschlossene Gesellschaften. Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg 2016, 2017; »De(kon)struktion und politische Ökonomie: Perspektiven poststrukturalistischer Kapitalismuskritik«, in: Heinz Bude/Philipp Staab (Hg.), Kapitalismus und Ungleichheit. Die neuen Verwerfungen, Frankfurt a.M./New York 2016: Campus, S. 319-344; »The othering of old age: Insights from Postcolonial Studies«, in: Journal of Aging Studies 39, 2016, S. 109-120; Soziologie des Alters (= Einsichten. Themen der Soziologie), Bielefeld 2015: transcript; »›….daß die offizielle Soziologie versagt hat.‹ Zur Soziologie im Nationalsozialismus, der Geschichte ihrer Aufarbeitung und der Rolle der DGS«, herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Wiesbaden 2014: Springer VS (zusammen mit Alexandra Schauer); Diskursanalyse meets Gouvernementalitäts-

Zu den Autorinnen und Autoren

forschung. Perspektiven auf das Verhältnis von Subjekt, Sprache, Macht und Wissen, Frankfurt a.M./New York 2010: Campus (zusammen mit Johannes Angermüller herausgegeben). Debora Eicher, geboren 1989, studierte Soziologie, Politikwissenschaft sowie Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Von April 2014 bis Februar 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie, Arbeitsbereich Sozialstrukturanalyse der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Von April 2017 bis Februar 2018 Elternzeitvertretung im DFG-Projekt »Ungleichheitsdeutungen und Gerechtigkeitsorientierungen in Deutschland« an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Forschungsschwerpunkte: Kultursoziologie, Sozialstrukturanalyse, soziale Ungleichheit, quantitative empirische Sozialforschung. Publikationen: »Bizet, Bach und Beyoncé. Hochkulturelle Musik in grenzüberschreitenden Geschmackskombinationen«, in: Karl-Heinz Reuband (Hg.), Oper, Publikum und Gesellschaft, Wiesbaden 2018: Springer VS, S.  119-142 (zusammen mit Katharina Kunißen); »Sozialer Status und kultureller Geschmack: Ein methodenkritischer Vergleich empirischer Überprüfungen der Omnivore-Univore These«, in: Julia Böcker/Lena Dreier/Melanie Eulitz/Maria Jakob/Alexander Leistner (Hg.), Zum Verhältnis von Empirie und kultursoziologischer Theoriebildung. Stand und Perspektiven, Weinheim 2018: Beltz Juventa, S.  209-235 (zusammen mit Katharina Kunißen und Gunnar Otte). Marilena Geugjes, staatlich geprüfte Politikwissenschaftlerin (1. Staatsexamen), geboren 1991, studierte Politik- und Wirtschaftswissenschaft, Anglistik und Germanistik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Doktorandin seit 2017 in Heidelberg. Seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Arbeitsbereichs für Moderne Politische Theorie am Institut für Politische Wissenschaft der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Seit 2017 Vorstandsmitglied des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung (HIIK). Freie Journalistin seit 2007. Forschungsschwerpunkte: Diskurstheorie und -analyse, Identitäts- und Integrationsforschung, Politik und Gesellschaften Skandinaviens, internationale Konfliktforschung. Publikationen: »Caught in the Middle? Welfare State Legitimisation and Problematisation in German and Swedish Middle-class Discourse«, in: International Journal of Politics, Culture, and Society, 2018, online first, https://doi.org/10.1007/s10767-018-9275-0 (zusammen mit Marlon Barbehön); Heidelberg Institute for International Conflict Research: Conflict Barometer 2017, Heidelberg 2018 (als Chefredakteurin). Michael Haus, Prof. Dr. phil., geboren 1970, studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt a.M. und der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Promotion

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1999 in Heidelberg, Habilitation 2009 in Darmstadt. Von 2001 bis 2009 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt, 2009 bis 2012 Professor für Politische Theorie an der Universität Kassel, seit 2012 Professor für Moderne Politische Theorie am Institut für Politische Wissenschaft der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: zeitgenössische Politische Theorie (insbesondere Kommunitarismus, Gerechtigkeitstheorie, Demokratietheorie, Politik und Religion), Governance-Theorie und interpretative Policy-Forschung, Stadt- und lokale Politikforschung. Publikationen in Auswahl: Politische Theorie und Gesellschaftstheorie. Zwischen Erneuerung und Ernüchterung, Baden-Baden 2016: Nomos (zusammen mit Sybille De La Rosa herausgegeben); »Middle class and welfare state – discursive relations«, in: Critical Policy Studies 9 (4), 2015, S. 473-484 (zusammen mit Marlon Barbehön); »Mittelschicht und Wohlfahrtstaat – Drei Deutungsmuster und ihre Relevanz für die Zukunft eines wohlfahrtsstaatlichen Grundkonsenses«, in: Zeitschrift für Sozialreform 61 (2), 2015, S. 147-170; Städtische Problemdiskurse. Lokalpolitische Sinnhorizonte im Vergleich, Baden-Baden 2015: Nomos (zusammen mit Marlon Barbehön, Sybille Münch und Hubert Heinelt); Städte unterscheiden lernen. Zur Analyse interurbaner Kontraste: Birmingham, Dortmund, Frankfurt, Glasgow, Frankfurt a.M./New York 2014: Campus (zusammen mit Sybille Frank, Petra Gehring und Julika Griem herausgegeben). Cornelia Koppetsch, Prof. Dr. phil., geboren 1967, studierte Psychologie, Soziologie und Philosophie in Gießen, Hamburg und Berlin. Abschluss: Diplom-Psychologin. Nach ihrem Universitätsabschluss war sie Doktorandin von Martin Kohli im Graduiertenkolleg »Gesellschaftsvergleich« an der Freien Universität Berlin. Promotion 1996 in Soziologie. Von 1995 bis 1999 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Forschungsprojekt zum Thema »Geschlechtsnormen in Paarbeziehungen im Milieuvergleich« tätig. Von 1998 bis 2006 arbeitete sie als wissenschaftliche Assistentin und war 2004 Visiting Scholar am Institut für Soziologie der University of Chicago. 2006 Habilitation im Fach Soziologie an der Universität Lüneburg. Zwischen 2006 und 2009 war Cornelia Koppetsch Vertretungs- und Gastprofessorin an unterschiedlichen Universitäten. Im Jahr 2009 nahm sie eine Stelle als Akademische Rätin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena an. Seit Oktober 2009 ist sie Professorin am Institut für Soziologie der Technischen Universität Darmstadt. Forschungsschwerpunkte: Familie, Geschlechterverhältnisse und Sozialstruktur; Wandel von Arbeit und Lebensführung; Expertenkulturen im Wandel. Publikationen in Auswahl: Wenn der Mann kein Ernährer mehr ist. Geschlechterkonflikte in Krisenzeiten, Berlin 2015: Suhrkamp (zusammen mit Sarah Speck); Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die verunsicherte Mitte, Frankfurt a.M./New York 2013: Campus; Nachrichten aus den

Zu den Autorinnen und Autoren

Innenwelten des Kapitalismus. Zur Transformation moderner Subjektivität, Wiesbaden 2011: Springer VS (herausgegeben); Das Ethos der Kreativen. Eine Studie zum Wandel von Identität und Arbeit am Beispiel der Werbeberufe, Konstanz 2006: UVK; Körper und Status. Zur Soziologie der Attraktivität, Konstanz 2000: UVK (herausgegeben); Die Illusion der Emanzipation. Zur Wirksamkeit latenter Geschlechtsnormen im Milieuvergleich, Konstanz 1999: UVK (zusammen mit Günter Burkart). Holger Lengfeld, Prof. Dr., geboren 1970 in Berlin. Studium der Wirtschaftsund Sozialwissenschaften in Berlin, Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin, Habilitation an der Freien Universität Berlin. Von 1998 bis 2006 Positionen als wissenschaftlicher Mitarbeiter beziehungsweise Assistent an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Universität Wien und der Freien Universität Berlin. Derzeit Professor für Soziologie an der Universität Leipzig und Research Fellow am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, zuvor Professuren an der FernUniversität in Hagen und der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheitsforschung, Soziologie der Europäischen Integration, Umfrageforschung. Publikationen in Auswahl: »Die Alternative für Deutschland: Eine Partei für Modernisierungsverlierer?«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 69 (2), 2017, S. 209-232; »Drifting apart or converging? Grades among non-traditional and traditional students over the course of their studies: a case study from Germany«; in: Higher Education 73 (2), 2017, S. 227244 (zusammen mit Tobias Brändle); »Do European citizens support the idea of a European welfare state? Evidence from a comparative survey conducted in three EU member states«, in: International Sociology 31 (6), 2016, S. 677-700 (zusammen mit Jürgen Gerhards und Julia Häuberer). Sarah Lenz, Dr. phil., geboren 1984, studierte Germanistik und Soziologie an der Universität Trier und der Universität Wien. Promotion 2017 in Frankfurt a.M. Von 2013 bis 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Bis 2015 Mitarbeiterin im Projekt »Die Berufsmoral der Banker. Milieubildungen und Professionsethiken im globalen Finanzwesen« am Exzellenzcluster »Normative Orders« der GoetheUniversität Frankfurt a.M. und bis 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Ungleichheitsdeutungen und Gerechtigkeitsorientierungen in Deutschland« an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Seit 2018 Oberassistentin am Seminar für Soziologie der Universität Basel. Forschungsschwerpunkte: Finanz- und Wirtschaftssoziologie, Soziale Ungleichheit, Qualitative Methoden der Sozialforschung. Publikationen in Auswahl: »Das gebrochene Versprechen der Meritokratie? Aufstiegsdeutungen im Zeichen steigender Ungleichheit«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 15 (1), 2018,

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S. 71-87 (zusammen mit Patrick Sachweh und Evelyn Sthamer); »Pflegearbeit zwischen Fürsorge und Ökonomie. Längsschnittanalyse eines Klassikers der Pflegeausbildung«, in: Berliner Journal für Soziologie 16 (3-4), 2016, S.  501522 (zusammen mit Karina Becker und Marcel Thiel); »Normativer Wandel im Bankenwesen? Eine Analyse kritischer Distanzierung ›ethischer Banker‹«, in: Katia Henriette Backhaus/David Roth-Isigkeit (Hg.), Praktiken der Kritik, Frankfurt a.M./New York 2015: Campus, S. 255-271. Stephan Lessenich, Prof. Dr. rer. pol., geboren 1965, studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Neuere Geschichte in Marburg. Promotion 1993 in Bremen, Habilitation 2002 in Göttingen. Von 2004 bis 2014 Professor für Vergleichende Gesellschafts- und Kulturanalyse an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, seit 2014 Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Soziale Entwicklungen und Strukturen am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Politische Soziologie sozialer Ungleichheit, Soziologie des Alter(n)s, Vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung, Kritische Theorie des Kapitalismus. Buchpublikationen in Auswahl: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, München 2016: Hanser Berlin; Claus Offe and the critical theory of the capitalist state, New York 2016: Routledge (zusammen mit Jens Borchert); Charles Wright Mills: Soziogische Phantasie, Wiesbaden 2016: Springer VS (herausgegeben); Sociology, capitalism, critique, London 2015: Verso (zusammen mit Klaus Dörre und Hartmut Rosa); Leben im Ruhestand. Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft, Bielefeld 2014: transcript (zusammen mit Tina Denninger, Silke van Dyk und Anna Richter); Systemzwang und Akteurswissen. Theorie und Empirie von Autonomiegewinnen, Frankfurt a.M./New York 2014: Campus (zusammen mit Thilo Fehmel und Jenny Preunkert herausgegeben); Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit, Hamburg 2014: Laika (herausgegeben); Theorien des Sozialstaats zur Einführung, Hamburg 2012: Junius; Der Vergleich in den Sozialwissenschaften. Staat – Kapitalismus – Demokratie, Frankfurt a.M./New York 2012: Campus (zusammen mit Jens Borchert herausgegeben); Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte, Frankfurt a.M. 2009: Suhrkamp (zusammen mit Klaus Dörre und Hartmut Rosa); Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld 2008: transcript. Mona Motakef, Dr. phil., geboren 1977, studierte Diplom-Sozialwissenschaften und Diplom-Pädagogik/Interkulturelle Kommunikation an der Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg und der University of Port Elizabeth in Südafrika. Promotion 2010 an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, zuvor Stationen am Deutschen Institut für

Zu den Autorinnen und Autoren

Menschenrechte, Essener Kolleg für Geschlechterforschung, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Institut für Soziologie der Universität Duisburg-Essen, King’s College London und am Institut für Soziologie der Eberhard Karls Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Geschlechterforschung, Soziologie der Erwerbs- und Reproduktionsarbeit (Prekarisierung), Paar- und persönliche Beziehungen, Soziologie der Körper, Soziologische Theorie (Anerkennung, Subjekt, Gabe) und Interpretative Methoden der Sozialforschung (hermeneutische Methoden, Diskursforschung). Publikationen in Auswahl: Das Paarinterview. Methodologie – Methode – Methodenpraxis, Wiesbaden 2017: Springer VS (zusammen mit Christine Wimbauer); Prekarisierung, Bielefeld: transcript 2015; Paare und Ungleichheit(en) – Eine Verhältnisbestimmung, Sonderband 2 der Zeitschrift GENDER, Opladen 2013: Barbara Budrich (zusammen mit Christine Wimbauer, Alessandra Rusconi, Peter A. Berger und Beate Kortendiek herausgegeben); »Prekäre Selbstverständlichkeiten. Neun prekarisierungstheoretische Thesen zu Diskursen gegen Gleichstellungspolitik und Geschlechterforschung«, in: Sabine Hark/Paula Villa (Hg.), Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld 2017 (2. Auflage): transcript, S. 41-57 (zusammen mit Christine Wimbauer und Julia Teschlade). Marion Müller, Dr. phil., geboren 1969, studierte Soziologie, Kriminologie und Sozialpsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Promotion 2007 in Siegen (Kriminalität und Kriminalisierung von Wohnungslosen – eine qualitative Untersuchung). Seit 2005 Vorstandsmitglied des Süddeutschen Instituts für empirische Sozialforschung e.V. (SINE) München. Seit 2011 Mitglied der Geschäftsführung der sine-Institut gGmbH in München. Lehrbeauftrage an der Hochschule Kempten am Fachbereich Soziales und Gesundheit. Forschungsschwerpunkte: Soziale Arbeit und soziale Risiken, Gesundheit, kriminologische Fragestellungen. Publikationen in Auswahl: Identität unter Druck. Überschuldung in der Mittelschicht, Wiesbaden 2018: VS Springer (zusammen mit Udo Dengel, Patricia Pfeil und Lisa Donath); »Wer bin ich oder wo bin ich? Identitätsarbeitsstrategien Mittelschichtsangehöriger in Insolvenz«, in: Stephan Lessenich (Hg.), Geschlossene Gesellschaften. Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg 2016, 2017 (zusammen mit Patricia Pfeil); »Die Bewältigung des Scheiterns im aktivierenden Staat«, in: Stephan Lessenich (Hg.), Geschlossene Gesellschaften. Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg 2016, 2017 (zusammen mit Patricia Pfeil und Udo Dengel); »Die angegriffene Mitte – Überschuldung und Insolvenz in der Mittelschicht«, in: Boniversum, microm, Creditreform: SchuldnerAtlas Deutschland – Überschuldung von Verbrauchern, Jahr 2017, 2017, S. 48-60 (zusammen mit Patricia Pfeil und Udo Dengel); »Insolvenz als Endpunkt oder Anfang? Leben in

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Überschuldung in einer finanzialisierten Alltagswelt«, in: Jürgen Schraten/ Jan-Ocko Heuer (Hg.): Finanzialisierung, Sonderheft der Zeitschrift für Sozialreform 61 (3), S.  291-315 (zusammen mit Patricia Pfeil, Lisa Donath und Udo Dengel). Herfried Münkler, Prof. Dr. phil., geboren 1951, hatte bis September 2018 den Lehrstuhl für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Er ist seit 1993 Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. 2004/05 war er Gastprofessur am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), 2001 Akademieprofessur an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Zuvor war er Gastdozent am Institut für Höhere Studien Wien (1993). 2012/13 erhielt er das Opus-Magnum-Stipendium der VolkswagenStiftung und in 2016/17 war er Fellow der Siemens Stiftung in München. Er hat sich an zahlreichen Forschungsprogrammen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der VolkswagenStiftung und der Fritz Thyssen Stiftung beteiligt und mehrere Arbeitsgruppen an der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften geleitet. 2009 erhielt er den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse, ebenfalls 2009 den Dr.-MeyerStruckmann-Preis der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 2014 die Hoffmann-von-Fallersleben-Medaille der Stadt Höxter sowie 2016 den Friedrich-Schiedel-Literaturpreis der Stadt Bad Wurzach. Seine wichtigsten Veröffentlichungen sind: Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt a.M. 1981: Europäische Verlagsanstalt; Die neuen Kriege, Reinbek bei Hamburg 2002: Rowohlt; Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005: Rowohlt Berlin; Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009: Rowohlt Berlin; Der große Krieg. Die Welt 19141918, Berlin 2013: Rowohlt Berlin; Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa, Hamburg 2015: Edition Körber; Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2015: Rowohlt Berlin; Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft, Berlin 2016: Rowohlt Berlin (zusammen mit Marina Münkler). Seine jüngste Veröffentlichung ist: Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma, 16181648, Berlin 2017: Rowohlt Berlin. Seine Arbeiten sind in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Judith Niehues, Dr. rer. pol., geboren 1982 in Münster. Von 2002 bis 2007 Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln und der San Diego State University in den USA, anschließend Promotionsstudium im interdisziplinären Graduiertenkolleg SOCLIFE an der Universität zu Köln und Research Affiliate im Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn. Promotion über Einkommensungleichheit, Chancengerechtigkeit und staatliche Um-

Zu den Autorinnen und Autoren

verteilung bei Prof. Dr. Clemens Fuest und Prof. David A. Jaeger, PhD. Seit 2011 im Institut der deutschen Wirtschaft Köln, bis Mai 2017 Senior Economist im Kompetenzfeld »Öffentliche Finanzen, Soziale Sicherung, Verteilung«, seit 2015 Leiterin der Forschungsgruppe Mikrodaten, seit Mai 2017 Leiterin des Bereichs Methodenentwicklung. Forschungsschwerpunkte: Einkommens- und Vermögensungleichheit, Umverteilungswirkungen des Steuer- und Transfersystems. Publikationen in Auswahl: »Die Mittelschicht in Deutschland – vielschichtig und stabil«, in: IW-Trends, 44 (1), S. 1-20; »Die AfD: Eine Partei der sich ausgeliefert fühlenden Durchschnittsverdiener?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 48 (1), 2017, S. 57-75 (zusammen mit Knut Bergmann und Matthias Diermeier); »Verunsicherte Milieus – eine Mittelschicht in Abstiegsangst?«, in: Der Bürger im Staat 66 (2-3), 2016, S.  143-149; »Ungleichheit: Wahrnehmung und Wirklichkeit – ein internationaler Vergleich«, in: Wirtschaftsdienst 96 (13), 2016, S. 13-18; »Cross-Country Differences in Perceptions of Inequality«, in: Annual Report 2014 – Lindau Nobel Laureate Meetings, 2014, S. 52-53; »Upper bounds of inequality of opportunity: theory and evidence for Germany and the US«, in: Social Choice and Welfare, 43 (1), 2014, S. 73-99 (zusammen mit Andreas Peichl). Jessica Ordemann, geboren 1974 in Offenbach am Main. Studium der Betriebswirtschaft, Kulturwissenschaften (mit Schwerpunkt Soziologie) und der Soziologie (Schwerpunkt »European Societies«) in Saarbrücken, Hagen und Berlin. Von 2012 bis 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten Hamburg und Leipzig; seit Februar 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Berlin. Forschungsschwerpunkte: Bildungs- und Arbeitsmarktsoziologie. Wichtigste Veröffentlichungen: »Bildungsprozesse im Lebensverlauf: Der kontinuierliche Erwerb von schulischen Bildungsabschlüssen«, in: Gudrun Quenzel/Klaus Hurrelmann (Hg.), Handbuch Bildungsarmut, Wiesbaden 2018: Springer VS, S. 435-465 (zusammen mit Kai Maaz); »Der Fall der Abstiegsangst, oder: Die mittlere Mittelschicht als sensibles Zentrum der Gesellschaft. Eine Trendanalyse 1984-2014«, in: Zeitschrift für Soziologie 46 (3), 2017, S. 167-184 (zusammen mit Holger Lengfeld); »The long shadow of occupation: Volunteering in retirement«, in: Rationality and Society 28 (1), 2016, S.  3-23 (zusammen mit Holger Lengfeld). Almut Peukert, Dr. rer. soc., geboren 1983, studierte Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie (M.A.) an der Universität Tübingen und der Queensland University in Australien. Promotion 2014 in Tübingen. Von 2011 bis 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie an der Universität Tübingen und von 2015 bis 2017 am Lehrbereich Soziologie der Arbeit und Geschlechterverhältnisse am Institut für Sozialwissenschaften der Hum-

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boldt-Universität zu Berlin. Seit 2018 Projektleiterin und Projektmitarbeiterin (Eigene Stelle) im DFG-Projekt »Ambivalente Anerkennungsordnung. Doing reproduction und doing family jenseits der heterosexuellen ›Normalfamilie‹«. Forschungsschwerpunkte: Geschlechtersoziologie (unter anderem Prozesse der sozialen Konstruktion von Geschlecht), Queer Theory, Paar- und Familiensoziologie, Soziologie der Erwerbs- und Familienarbeit, Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaatenforschung, Methodologie und Methoden der qualitativen Sozialforschung. Publikationen in Auswahl: Aushandlungen von Paaren zur Elternzeit. Arbeitsteilung unter neuen Vorzeichen? (= Geschlecht und Gesellschaft, Band 61), Wiesbaden 2015: Springer VS; »›Involvierte‹« Väter zwischen Beruf und Familie. Zur Re/Produktion von Männlichkeiten in paarinternen Aushandlungen, in: Zeitschrift für Familienforschung – Journal of Family Research 29 (1), 2017, S. 90-112; »Zwischen Konsens und Konflikt. Wie Paare Elternzeiten aushandeln«, in: Stephan Lessenich (Hg.), Geschlossene Gesellschaften. Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg 2016, 2017. Patricia Pfeil, Prof. Dr. rer. soc., geboren 1967, Studium der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule München, anschließend der Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Promotion zum Thema »Geschlecht und Polizei. Thematisierungen. De-Thematisierungen. Re-Thematisierungen« an der Universität Bielefeld. 1999 Gründung des Süddeutschen Instituts für empirische Sozialforschung e.V. (SINE), 2010 der sineInstitut gGmbH, beide in München. Seit 2014 Professorin für die Organisation der Sozialwirtschaft an der Hochschule Kempten. Forschungsschwerpunkte: Soziale Arbeit und Soziale Risiken, Überschuldung, Organisation sozialer Arbeit, sozialwissenschaftliche Methoden. Ausgewählte Publikationen: Identitätsarbeit unter Druck. Überschuldung in der Mittelschicht, Wiesbaden 2018: Springer VS (zusammen mit Marion Müller, Udo Dengel und Lisa Donath); »Socio-cultural factors of risk and crisis communication: Crisis communication or what civil protection agencies should be aware of when communicating with the public in crisis situations«, in: Michael Klafft (Hg.), Risk and Crisis Communication for Disaster Prevention and Management. Workshop Proceedings, Wilhelmshaven 2017: Jade University of Applied Sciences (zusammen mit Kerstin Dressel); »Insolvenz als Endpunkt oder Anfang? Leben in Überschuldung in einer finanzialisierten Alltagswelt«, in: Jürgen Schraten/Jan-Ocko Heuer (Hg.): Finanzialisierung, Sonderheft der Zeitschrift für Sozialreform 61 (3), S. 291-315 (zusammen mit Marion Müller, Lisa Donath und Udo Dengel). Sabine Ritter, Dr. rer. pol., geboren 1968 in Mainz, studierte nach längerer Berufstätigkeit als Buchhändlerin Sozialökonomie an der Hochschule für Wirtschaft und Politik (Diplom-Sozialwirtin) sowie Kriminologie (Diplom-Krimi-

Zu den Autorinnen und Autoren

nologin) an der Universität Hamburg. Promotion 2010 in Hamburg. Seit 2011 Universitätslektorin am Institut für Soziologie in Bremen sowie seit 2015 Studiendekanin des dortigen Fachbereichs Sozialwissenschaften mit besonderem Interesse für die Stärkung der Verbindung zwischen akademischer Soziologie und Schule beziehungsweise Lehramtsausbildung. Forschungsschwerpunkte: Rassismusanalyse, Normalitätskonstruktionen (besonders durch Schulbücher) sowie Verwertung soziologischen Wissens (in Curricula und Unterricht). Publikationen in Auswahl: »Das Verschwinden der Ungleichheit. Zur Konstruktion der Mitte im Schulbuch«, in: Stefan Müller-Mathis/Alexander Wohnig (Hg.), Wie Schulbücher Rollen formen. Konstruktionen der ungleichen Partizipation in Schulbüchern, Wochenschau Wissenschaft, Schwalbach am Taunus 2017: Wochenschau, S. 68-86; »Vom Verantwortungssubjekt zum Konsumsubjekt. Kleine Beobachtungen zur Ökonomisierung des Sozialen im Schulbuch«, in: Soziopolis. Gesellschaft beobachten, 2015; »Natural Equality and Racial Systematics. Selected Aspects of Blumenbach’s Anthropology«, in: Iris Wigger/ Sabine Ritter (Hg.), Racism and Modernity, Wien 2011: LIT, S. 102-116; Facetten der Sarah Baartman. Repräsentationen und Rekonstruktionen der ›Hottentottenvenus‹, Münster 2011: LIT; »›Présenter les organes géniteaux‹«: Sarah Baartman und die Konstruktion der Hottentottenvenus«, in: Wulf D. Hund (Hg.), Entfremdete Körper. Rassismus und Leichenschändung, Bielefeld 2009: transcript, S. 117-164. Patrick Sachweh, Dr. rer. pol., geboren 1979, studierte Sozialwissenschaften an der Universität Mannheim und der Indiana University Bloomington in den USA. Promotion 2009 an der Universität Bremen. Seit 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Exzellenzcluster »Normative Orders« der Goethe-Universität Frankfurt a.M., von 2011 bis 2017 Akademischer Rat auf Zeit am dortigen Institut für Soziologie. Forschungsschwerpunkte: Soziale Ungleichheit, vergleichende Wohlfahrtsstaats- und Sozialpolitikforschung, Wirtschaftssoziologie, Methoden der empirischen Sozialforschung. Publikationen in Auswahl: »The Moral Economies of Market Societies. Popular Attitudes towards Market Competition, Redistribution and Reciprocity in Comparative Perspective«, in: Socio-Economic Review, 2017, advance access, https://dx.doi.org/10.1093/ ser/mwx045 (zusammen mit Sebastian Koos); »Conditional Solidarity: Social Class, Perceptions of the Economic Crisis and Welfare Attitudes in Europe«, in: Social Indicators Research, 2017, online first, https://dx.doi.org/10.1007/ s11205-017-1705-2; »Criticizing Inequality? How Ideas of Equality Do – and Do not – Contribute to the De-Legitimation of Inequality in Contemporary Germany«, in: Historical Social Research 42 (3), 2015, S. 62-78; Kapitalismus als Lebensform? Deutungsmuster, Legitimation und Kritik in der Marktgesellschaft, Wiesbaden 2016: Springer VS (zusammen mit Sascha Münnich herausgegeben).

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Miriam Schad, Dr. phil., geboren 1985, studierte Diplom-Soziologie mit dem Nebenfach der Volkswirtschaftslehre an der Philipps-Universität in Marburg, arbeitete anschließend als Mitarbeiterin am Forschungsbereich »KlimaKultur« am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen. In dieser Zeit Promotionsstipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung (HBS) im Graduiertenkolleg »Herausforderungen der Demokratie durch den Klimawandel«. Abschluss der Promotion 2017 an der Technischen Universität Dortmund. Seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Soziologie (Schwerpunkt soziale Ungleichheiten) am Institut für Soziologie in Dortmund. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: soziale Ungleichheiten (insbesondere Mittelschichten und Prekarität), Methodenverknüpfung sowie Umweltsoziologie. Publikationen in Auswahl: »Intergenerationale Statusstabilisierung in der Mittelschicht – eine exemplarische Analyse zweier Unternehmensfamilien«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 15 (1), 2018, S. 99-108 (zusammen mit Nicole Burzan); »Typisch prekär? Methodische Anmerkungen zu einer umweltrelevanten Typologie«, in: Nicole Burzan/Ronald Hitzler (Hg.), Typologische Konstruktionen. Prinzipien und Forschungspraxis, Wiesbaden 2018: Springer VS, S. 235-251; Über Luxus und Verzicht. Umweltaffinität und umweltrelevante Alltagspraxis in prekären Lebenslagen, München 2017: oekom; »Climate change and society: possible impacts and prospective developments«, in: Meteorologische Zeitschrift 24 (2), 2015, S. 137-145 (zusammen mit Bernd Sommer). Uwe Schimank, Prof. Dr. rer. soc., geboren 1955, studierte Soziologie in Bielefeld. Promotion 1981, Habilitation 1994 dortselbst. 1996 bis 2009 Professor für Soziologie an der FernUniversität in Hagen, seitdem Professor für Soziologische Theorie an der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: Gesellschafts- und Sozialtheorie, Organisations-, Entscheidungs-, Wissenschaftsund Hochschulforschung. Neuere Publikationen in Auswahl: Das Regime der Konkurrenz. Gesellschaftliche Ökonomisierungsdynamiken heute, Weinheim/ Basel: Beltz Juventa (zusammen mit Ute Volkmann); »Leistungsethos: zwischen Wollen, Müssen, Nicht-Können und Nicht-Wollen«, in: Brigitte Aulenbacher/Maria Dammayr/Klaus Dörre/Wolfgang Menz/Birgit Riegraf/Harald Wolf (Hg.), Leistung und Gerechtigkeit. Das umstrittene Versprechen des Kapitalismus, Weinheim/Basel 2017: Beltz Juventa, S. 80-98; »Zeitprobleme des Entscheidens: Kleinanleger auf dem Finanzmarkt«, in: Zeitschrift für Theoretische Soziologie, Sonderband »Raum und Zeit. Soziologische Beobachtungen zur gesellschaftlichen Raumzeit« (herausgegeben von Anna Henkel, Henning Laux und Fabian Anicker), 2017, S.  212-245 (zusammen mit Michael Walter und Lydia Welbers); »Grundriss einer integrativen Theorie der modernen Gesellschaft«, in: Zeitschrift für Theoretische Soziologie 4 (2), 2015, S.  236268; »Modernity as a Functionally Differentiated Capitalist Society: A General Theoretical Model«, in: European Journal of Sociological Theory, 18 (4), 2015,

Zu den Autorinnen und Autoren

S. 413-430; »Lebensplanung!? Biografische Entscheidungspraktiken irritierter Mittelschichten«, in: Berliner Journal für Soziologie 25 (1-2), 2015, S. 7-31; Statusarbeit unter Druck? Zur Lebensführung der Mittelschichten, Weinheim/ Basel 2014: Beltz Juventa (zusammen mit Steffen Mau und Olaf Groh-Samberg); »Investieren in den Status: Der voraussetzungsvolle Lebensführungsmodus der Mittelschichten«, in: Leviathan 42 (2), S. 219-248 (zusammen mit Olaf Groh-Samberg und Steffen Mau). Nadine M. Schöneck, Prof. Dr. rer. soc., geboren 1975 in Neuwied/Rhein, studierte Sozialwissenschaften in Bochum, Austin/Texas und Oxford. Promotion 2009 in Bochum, Habilitation 2016 in Bremen. Seit 2016 Professorin für Soziologie und Empirische Sozialforschung an der Hochschule Niederrhein und Lehrbeauftragte am Institut für Soziologie der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: ländervergleichende Ungleichheits- und Wohlfahrtsstaatsforschung, Zeit und Work-Life-Balance sowie beruflich motivierte räumliche Mobilität. Publikationen in Auswahl: »Zeit: Geschlechtsspezifika der Zeitverwendung und Zeitwahrnehmung«, in: Beate Kortendiek/Katja Sabisch/Birgit Riegraf (Hg.), Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, Wiesbaden 2018: Springer VS, im Erscheinen; »Vertrauen in den Wohlfahrtsstaat? Die Wahrnehmung sozialer Aufstiegsmöglichkeiten im Ländervergleich«, in: Sigrid Betzelt/Ingo Bode (Hg.), Angst im neuen Wohlfahrtsstaat. Kritische Blicke auf ein diffuses Phänomen, Baden-Baden 2018: Nomos, S, 77-107 (zusammen mit Silke Bothfeld); »Determinanten der Wahrnehmung sozialer Konflikte. Objektive und subjektive Faktoren im Ländervergleich«, in: Stephan Lessenich (Hg.), Geschlossene Gesellschaften. Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg 2016, 2017; »Europeans’ Work and Life – Out of Balance? An Empirical Test of Assumptions from the ›Acceleration Debate‹«, in: Time & Society 27 (1), 2018, S. 3-39; »Coming Together or Growing Apart? Globalization, Class and Redistributive Preferences«, in: Journal of European Social Policy 25 (5), 2015, S. 454-472 (zusammen mit Steffen Mau); (Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten, Berlin 2015: edition suhrkamp (zusammen mit Steffen Mau herausgegeben); Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Wiesbaden 2013: Springer VS (zusammen mit Steffen Mau herausgegeben); Zeiterleben und Zeithandeln Erwerbstätiger. Eine methodenintegrative Studie, Wiesbaden 2009: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Julia Teschlade, MA, Sozialwissenschaftlerin, studierte Politikwissenschaften und Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, an der Universität Potsdam und der Essex University/UK. Von 2014 bis 2017 war sie Doktorandin im Graduiertenkolleg »Human Rights under Pressure – Ethics, Law, and Politics« der Freien Universität Berlin und der Hebrew University Jerusalem. Seit Okto-

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ber 2017 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Lehrbereich Soziologie der Arbeit und Geschlechterverhältnisse am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ist Projektmitarbeiterin im DFG-Projekt »Ambivalente Anerkennungsordnung. Doing reproduction und doing family jenseits der heterosexuellen ›Normalfamilie‹«. Arbeitsschwerpunkte: Queer-feministische Geschlechterforschung, (Menschen-)Rechtssoziologie, Soziologie der Reproduktions- und Erwerbsarbeit, Queer Kinship Studies, intersektionale Ungleichheitsforschung, Qualitative Sozialforschung. Publikationen in Auswahl: »Conceiving before conception: Gay couples searching for an egg donor on their journey to parenthood«, in: Sayani Mitra/Silke Schicktanz/Tulsi Patel (Hg.), Cross-cultural comparisons on surrogacy and egg donation: Interdisciplinary Perspectives from India, Germany and Israel, Basingstoke: Palgrave, S. 301-323; »Prekäre Selbstverständlichkeiten. Neun prekarisierungstheoretische Thesen zu Diskursen gegen Gleichstellungspolitik und Geschlechterforschung«, in: Sabine Hark/Paula Villa (Hg.), Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld 2017 (2. Auflage): transcript, S. 41-57 (mit Christine Wimbauer und Mona Motakef). Berthold Vogel, Prof. Dr. disc. pol., geboren 1963 in Würzburg, seit 2015 Geschäftsführender Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) e.V. an der Georg-August-Universität. Studium der Sozialwissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen, dort 1998 Promotion. 2009 Habilitation an der Universität Kassel, dort seit 2014 außerplanmäßiger Professor für Soziologie. Seit 2008 Gastprofessor an der Universität St. Gallen. Forschungsschwerpunkte: Soziologie staatlicher Ordnung und öffentlicher Güter, Arbeits- und Rechtssoziologie sowie die Analyse sozialer Ungleichheit. Ausgewählte Publikationen: »Arbeiten im Amt. Beschäftigungsverhältnis und Arbeitsbewusstsein im öffentlichen Dienst«; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 14-15/2017, S. 22-28; »Die Dynamik der Unverbindlichkeit. Was wir von der Erwerbsarbeit erwarten können«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 12 (1), 2015, S. 121-132; »Die Bedeutung eines verrechtlichten Sozialsystems für die gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik«; in: Peter Masuch/Wolfgang Spellbrink/Ulrich Becker/Stephan Leibfried (Hg.), Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats. Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht, Band 1, Berlin 2015: Erich Schmidt, S. 297-312; Im öffentlichen Dienst. Kontrastive Stimmen aus einer Arbeitswelt im Wandel, Bielefeld 2014: transcript (zusammen mit Franz Schultheis und Kristina Mau); Demografie und Demokratie. Zur Politisierung des Wohlfahrtsstaats, Hamburg 2012: Hamburger Edition (zusammen mit Jens Kersten und Claudia Neu); Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen, Hamburg 2009:

Zu den Autorinnen und Autoren

Hamburger Edition; Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft, Hamburg 2007: Hamburger Edition. Gunter Weidenhaus, Dr. phil., geboren 1972, studierte zunächst Philosophie und Germanistik, dann Sozialpädagogik und schließlich Soziologie mit den Nebenfächern Informatik und Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Darmstadt. Promotion 2013 in Darmstadt. Seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Raumsoziologie, Soziologie der Zeit sowie Biographieforschung. Publikationen in Auswahl: »Borders that relate: Conceptualizing boundaries in relational space«, in: Current Sociology 65 (4), 2017, S. 553-570 (zusammen mit Martina Löw); »Der Zusammenhang von Raum und Zeit. Zur Konzeption sozialer Raumzeit und ihrer empirischen Relevanz in Biografien«, in: Zeitschrift für Theoretische Soziologie, Sonderband »Raum und Zeit. Soziologische Beobachtungen zur gesellschaftlichen Raumzeit« (herausgegeben von Anna Henkel, Henning Laux und Fabian Anicker), 2017, S. 40-73; Soziale Raumzeit, Berlin 2015: Suhrkamp. Christine Wimbauer, Prof. Dr. phil., geboren 1973, studierte Diplom-Soziologie und promovierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Nach einem Emmy-Noether-Stipendium an der Yale University, New Haven, CT (USA) leitete sie von 2006 bis 2010 die von der DFG finanzierte Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe »›Liebe‹, Arbeit, Anerkennung – Anerkennung und Ungleichheit in Doppelkarriere-Paaren« an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Habilitation 2011 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie war von 2011 bis 2014 Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt Soziale Ungleichheit und Geschlecht an der Universität Duisburg-Essen, von 2014 bis 2015 für Mikrosoziologie mit Schwerpunkt Geschlechterverhältnisse an der Eberhard Karls Universität Tübingen und ist seit 2015 Professorin für Soziologie der Arbeit und Geschlechterverhältnisse an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Geschlechter(verhältnis)forschung, Queer Theory, Männlichkeit; Soziologie der Erwerbs- und Reproduktionsarbeit; Soziale Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse; Paar- und persönliche Beziehungen; Sozial- und Familienpolitik; Soziologische Theorie, Anerkennungstheorie; Interpretative Methoden der Sozialforschung, Methodologie. Publikationen in Auswahl: Das Paarinterview. Methodologie – Methode – Methodenpraxis, Wiesbaden 2017: Springer VS (zusammen mit Mona Motakef); Wenn Arbeit Liebe ersetzt. Doppelkarriere-Paare zwischen Anerkennung und Ungleichheit, Frankfurt a.M./ New York 2012: Campus; Paare und Ungleichheit(en) – Eine Verhältnisbestimmung, Sonderband 2 der Zeitschrift GENDER, Opladen 2013: Barbara Budrich (zusammen mit Alessandra Rusconi, Mona Motakef, Peter A. Berger und Beate Kortendiek herausgegeben); »Prekäre Selbstverständlichkeiten. Neun prekari-

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sierungstheoretische Thesen zu Diskursen gegen Gleichstellungspolitik und Geschlechterforschung«, in: Sabine Hark/Paula Villa (Hg.), Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld 2017 (2. Auflage): transcript, S. 41-57 (zusammen mit Mona Motakef und Julia Teschlade).

Soziologie Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand

Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3

Sabine Hark, Paula-Irene Villa

Unterscheiden und herrschen Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart 2017, 176 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3653-6 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3653-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3653-6

Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Materialität Juni 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4073-5

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Soziologie Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)

Algorithmuskulturen Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit 2017, 242 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3800-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3800-8 EPUB: ISBN 978-3-7328-3800-4

Andreas Reckwitz

Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie 2016, 314 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3345-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3345-4

Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9

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