Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs [1 ed.] 9783428439430, 9783428039432

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Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs [1 ed.]
 9783428439430, 9783428039432

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HANNS·MARTIN BACHMANN

Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs

Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 27

Die naturrechtliche Staatslehre Christian W olffs

Von

Dr. Hanns·Martin Bachmann

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Bachmann, Hanns-Martin Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs.1. Aufl.- Berlin : Duncker und Humblot, 1977. (Schriften zur Verfassungsgeschichte ; Bd. 27) ISBN 3-428-03943-2

Alle Rechte vorbehalten

@ 1977 Duncker & Humblot, Berlln 41

Gedruckt 1977 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlln 61 Printed 1n Germany ISBN 3 428 03943 2

Vorwort Die vorliegende Untersuchung lag im Sommersemester 1976 der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation vor. Die Anregung zu dem Thema erhielt ich von meinem verehrten Doktorvater Prof. Dr. jur., Dr. h. c., Dr. rer. pol. h. c. Hermann Conrad, der kurz nach Abschluß dieser Arbeit im Februar 1972 starb und dessen ich in Dankbarkeit gedenke. Für die Übernahme meiner Arbeit, die mir gegebenen Hinweise und fortan gewährte Betreuung darf ich meinem zweiten Doktorvater Prof. Dr. jur. Gerd Kleinheyer meinen herzlichen Dank aussprechen. Mein weiterer Dank gilt Herrn Prof. Dr. jur. Hinrich Rüping für die Übernahme des Zweitgutachtens. Schließlich möchte ich Herrn Senator e. h. Ministerialrat a. D. Prof. Dr. Johannes Broermann für die Aufnahme dieser Untersuchung in sein Verlagsprogramm besonders danken. Brüssel, im Februar 1977 Hanns-Martin Bachmann

Inhaltsverzeichnis I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

2. Aufstieg und Fall des Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

3. Grundsätzliches zum Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

4. Grundzüge der Entwicklung des modernen profanen Naturrechts bis zu Christian W olff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 II. Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

111. Einige Grundfragen der Wolffschen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

IV. Die Wolffsche Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

1. Die unterschiedliche Bewertung dieser Methode . . . . . . . . . . . . . . . .

57

2. Begriff, Urteil, Schluß

58

3. Sicherung der Methode

61

4. Ein Mißverständnis wird geklärt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

5. Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

V. Wolffs Staatslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

1. Wolffs spezifische Bedeutung in der Entwicklungsgeschichte der Staatslehre. - Kritik an der herrschenden Wolff-Interpretation 73

2. Die Grundnorm des Wolfischen Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Vollkommenheitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Seligkeit als Ziel sittlichen Handeins und die Rolle der Glückseligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) "Ein Entwurf wird beantwortet" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78 78 89 93 96

3. Die angeborenen Pflichten und Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Dreiteilung der Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorrang der Pflicht vor dem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96 96 98

8

Inhaltsverzeichnis c) Die angeborene Gleichheit und die daraus abgeleitete angeborene Freiheit aller Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Von der immanenten Grenze und dem Inhalt der Freiheit . . . . e) Wolffs Katalog der angeborenen Rechte .................... f) Von der Unentziehbarkeit angeborenen Rechts .............. g) Exkurs: Zum Ausdruck "unveräußerliche Menschenrechte" . .

100 104 107 110 112

4. Von dem angeborenen Recht, sich andere zu verpflichten, und der Durchsetzbarkeit des Rechts in seinen verschiedenen Stufen 115 5. Ursprung und Bildung des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vom Ursprung der Gesellschaften überhaupt . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vom Ursprung des Staates ......... ... .................... .. c) "Ein Zweifel wird gehoben" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Stufen der Staatsbildung und ihre rechtliche Qualifizierung

118 118 122 128 129

6. Ableitung, Umfang und Inhalt der Staatsgewalt . . . . . . . . . . . . . . a) Genesis der öffentlichen Gewalt und der daraus folgende Vorrang der Pflicht gegenüber der Allgemeinheit ........ .. .. b) Das Problem der Grenzziehung zwischen Staatsgewalt und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Inhalt der öffentlichen Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Jus eminens, ein Spezialfall .... .. .................... ..

136

7. Die Zerleg- und Teilbarkeit der öffentlichen Gewalt .. .. .. .. .. a) Allgemeines zu ihrer Aufteilung .. . . .. ....................... b) Die sachliche Teilbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Aufteilung der Ausübung eines sachlichen Rechtes . . . . . . d) Die subjektive (territoriale) Teilbarkeit . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . e) Die Gliederung nach Art der Gewaltinnehabung . . . . . . . . . . . .

136 138 140 144 147 147 148 150 151 152

8. Die Frage nach der Persönlichkeit des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . 154 9. Die Regierungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . a) Die Souveränität und ihre mögliche Zuordnung . . . . . . . . . . . . . . b) Die Frage nach der von Wolff bevorzugten Regierungsform . . c) Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Aristokratie ............................. .. . .. .. ..... . . . . . .. e) Monarchie aa) Umfang und Grenze monarchischer Gewalt . . . . . . . . . . . . . . bb) Formen der Monarchie .... ... ......... . . ...... .. . . .. .. (~) Wahlmonarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gß) ~achfolgemonarchie ........... . . ............ ... .... (y) Despotisches Königtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Die gemischten Regierungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

158 158 161 162 164 165 168 168 169 172 175

10. Das Widerstandsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Inhaltsverzeichnis 11. De Republica constituenda. Von der Einrichtung des Staates . . a) Allgemeine Bedingungen: die allgemeine Rechtsfähigkeit .... aa) Die Begründung der allgemeinen Rechtsfähigkeit, ein wissenschaftlicher Streitfall . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ein Makel: Wolffs Behandlung der Sklaverei .......... .. b) Die sachliche Ausgestaltung des Staates ............. . ... . . . aa) Vom Problem der Staatseffizienz im Konflikt mit der Freiheit ......... ... .............. . ..................... . . . . bb) Das zur Verwirklichung der Staatszwecke bestimmte Instrumentarium . . ..... .. .. . .... . .......... .. ......... . .. (et) Die Gesetzgebung. Die natürliche Theorie der bürgerlichen Gesetze und ihre Konsequenz für die persönliche Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ß) Das Beamtenturn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Ordnung des Rechtswesens (Staatszweck: Ruhe) .. .. dd) Die Wohlfahrtspolitik (Staatszweck: Wohlfahrt) ..... . .. (et) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ß) Gesundheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (y) Wirtschaftspolitik .. . ... .. . . ....... ... ... . .. . . ...... (Ö) Erziehungs- und Bildungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 195 195 195 202 206 206 208 208 216 219 233 233 235 237 245

VI. Schluß ........... . ...... .. ....... . ....... . . . . .. ........... . . ... . . . 252

Literaturverzeicllnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

I. Einführung 1. Einleitung Die vorliegende Arbeit hat sich zur Aufgabe gestellt, die naturrechtliehe Staatslehre Christian Wolffs zu untersuchen. Die Beschäftigung mit diesem, insbesondere für die mittlere und späte Periode der deutschen Aufklärung so einflußreichen Denker erscheint deshalb von besonderer Bedeutung, da während der Epoche der allgemeineuropäischen Aufklärung die Grundlagen des modernen souveränen Staates, auch in seiner heutigen Ausformung als sozialer Rechtsstaat, gelegt wurden1 • Die Aufklärung ist nämlich als der eigentliche Beginn der modernen Periode der europäischen Kultur und Geschichte anzusehen und stellt eine bedeutsamere Wende als die Renaissance dar, die gewöhnlich als der entscheidende Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit bezeichnet wird2• Die Renaissance befreite das Individuum zwar in vieler Hinsicht, doch fehlte ihr noch der eigentlich schöpferische Impuls. Sie blieb im Wesentlichen auf die vornehmen Klassen beschränkt und setzte an die Stelle gestürzter oft nur neue Autoritäten, wie die Autoren der Antike3 oder die jeweils reformierten, dann aber ihrerseits alsbald erstarrenden Glaubenslehren, wie sie seit der Reformation mehrfach aufgetreten waren. Erst die Religionskriege, ausgehend von den spanisch-niederländischen Auseinandersetzungen über die hugenottischen Glaubenskämpfe in Frankreich, die zum Teil religiös bestimmten, revolutionären Wirren in England und das furchtbare Schauspiel des Dreißigjährigen Krieges, .e rmöglichten die Abwendung von der kirchlich gebundenen Welt4 • Neben dieser Erschütterung der traditionellen Autorität der Kirche bemerken wir die ersten Ansätze einer allmählichen Entstehung t v. Voitelini, Die naturrechtliehen Lehren und die Reformen des 18. Jahrhunderts, S. 104. Wunner, Christian Wolff und die Epoche des Naturrechts, s. 5, 7. 2 Tröltsch, Die Aufklärung, S. 338 f., 834 ff. Wandruzka, Einleitung zur Deutschen Kultur im Zeitalter der Aufklärung, S. 2. Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, S. 36. s Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 252. 4 Tröltsch, Die Aufklärung, S. 836.

12

I. Einführung

der bürgerlich-industriellen Gesellschaft5• Hierbei handelte es sich freilich um Erscheinungen, die in den einzelnen Gegenden zu verschiedenen Zeitpunkten, zuweilen noch zögernd, fast erst geahnt, manchmal aber doch auch schon mit erstaunlicher Deutlichkeit hervortraten. Das Heraufsteigen der modernen Welt konfrontierte die tiefsinnigsten Denker gerade dieser Epoche daher bereits weitgehend mit den Problemen, die im Prinzip noch heute die unsrigen sind. In dem Maße, in welchem auf der einen Seite die universale kirchliche Autorität verfiel, stieg andrerseits die moderne Naturwissenschaft empor und feierte ihre ersten, Bewunderung erregenden Triumphe. Kepler (1571 -1630) fand die nach ihm benannten Gesetze der Planetenbewegung6 und Galilei (1564 -1642) entdeckte die Gesetze des freien Falls, wobei vor allem die neue, von ihm verwandte naturwissenschaftliche Methode .e pochale Bedeutung gewann. Die Naturwissenschaft bewies damit, zu welch erstaunlicher Beherrschung der Natur menschlicher Geist befähigt war. Diese Zunahme an Diesseitigkeit ging auch an den Geisteswissenschaften nicht spurlos vorüber. In England begründete Francis Bacon (Baco von Verulam) (1561-1626) den modernen englischen Empirismus und brach dem naturwissenschaftlichen Denken Bahn. Auf dem Kontinent war es Rene Descartes (1596 -1650), der "Vater der neueren Philosophie", welcher von dieser neuen Richtung eindrucksvolles Zeugnis ablegte. Vielleicht noch stärker aber als die reine Philosophie wurde hiervon ein Bereich beeinflußt, der durch die vorausgegangenen Ergeignisse und Kriegswirren in stärkstem Maße praktisch betroffen war: der Bereich der menschlichen Gesellung und des Staatlichen. Die Normen menschlicher Gesittung und menschlichen Zusammenlebens waren infolge der darüberhingegangenen Kriege, wo nicht zerbrochen, so doch durch ihre dauernde Mißachtung entartet und verroht. "Ich sah in den christlichen Ländern eine entartete Kriegsführung, deren sich selbst rohe Völker geschämt hätten", heißt es schmerzvoll klagend in des Grotius Vorrede zu seinem "De jure belli ac pacis" (1625)1. Somit wird begreiflich, daß nach Verlust eines allgemein-verbindlichen, religiösen Weltbildes und angesichts einer oft nur noch von reiner Willkür bestimmten Staatenwelt das moderne profane Naturrecht seine einzigartige Bedeutung erlangen konnte. s Wandruzka, S. 2. 6 Kepters Hauptwerke: "Astronomia nova" und "Harmonices mundi", beide veröffentlicht 1619. 7 Grotius, De jure belli ac pacis, Vorrede § 28.

2. Aufstieg und Fall des Naturrechts

13

2. Aufstieg und Fall des Naturrechts Die Zeit des modernen profanen Naturrechts entspricht derjenigen der allgemeineuropäischen Aufklärung, die im 17. Jahrhundert beginnt, ihre Blüte im 18. Jahrhundert erlebt und schließlich im 19. Jahrhundert verfällt8 • 9 • Nie zuvor- erst recht nicht danach- hat das Naturrecht eine vergleichsweise Bedeutung besessen, so daß man vielfach das Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts als das Naturrecht schlechthin bezeichnet hat. Dabei hat es Naturrecht fast schon ebensolange gegeben, wie der Mensch über sich selbst als Gesellschafts- und Kulturwesen nachdenkt. So finden wir Naturrecht bereits bei den Vorsokratikern, bei Platon und bei Aristoteles10• Einen erheblichen Rang erlangte es dann in der Stoa, durch die es über Panaitios (150 v. Chr.) und dann endgültig seit Cicero auch mit dem römischen Recht in Verbindung kam11• Dem stoischen folgte das christliche Naturrecht wie etwa bei Augustin, Thomas von Aquin, der Spätscholastik, aber auch bei den Reformatoren. Insbesondere von der Spätscholastik nimmt dann das moderne profane Naturrecht seinen Ausgang und tritt nun seinen unvergleichlichen Siegeszug an, der vor allem mit den Namen von Hugo Grotius, Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf, Christian Thomasius und Christian Wolff verbunden ist. Mit Christian Wolff hat das moderne Naturrecht in gewisser Weise einen, wenn auch nicht unumstrittenen Höhepunkt und Abschluß erreicht. Nach ihm sind- vielleicht nur mit Ausnahme von Burlamaqui und Vattel, die aber in erster Linie Bearbeiter und Übersetzer warenkeine Namen einzelner Naturrechtier mehr ins allgemeine Bewußtsein gedrungen. Vielmehr folgt nun die Reihe der bedeutenden naturrechtliehen Kodifikationen und die in ihren ideologischen Begründungen höchst bedeutsame Staatsbildung in Nordamerika sowie die Große Französische Revolution, die beide ohne das Gedankengut des Naturrechts nicht vorstellbar wären. Die hier vorgelegte Untersuchung der naturrechtliehen Staatslehre Christian Wolffs, des "Fürsten der deutschen Aufklärung" 12, gilt einem s Tröltsch, Die Aufklärung, S. 339. Da die Bezeichnungen als auch die Einteilungen der verschiedenen geistigen Bewegungen innerhalb des genannten Zeitraumes im einzelnen sehr unterschiedlich gehandhabt werden, sei darauf hingewiesen, daß hier zunächst nur von der Zeit des modernen profanen Naturrechts als Ganzem und der allgemeineuropäischen Aufklärung gesprochen wird, nicht etwa von der "deutschen Aufklärung" oder dem Rationalismus. 10 Mitteis, Über das Naturrecht, S. 11. E. Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, S . 253. u Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 32, 35. 12 Diemer, Philosophie-Lexikon, Artikel: Materialismus, S. 173; entsprechend: Friedrich der Große an Manteuffel im Brief vom 19. August 1736: 9

14

I. Einführung

Manne, der in dieser für die Grundlegung der heutigen Moderne so entscheidenden Epoche einer der hervorragendsten und gefeiertsten Lehrer und philosophischen Köpfe Deutschlands gewesen ist. Wolff war der bedeutendste deutsche Philosoph zwischen Leibniz und Kant13• Um ihn bildete sich die erste weltliche philosophische Schule in Deutschland überhaupt14 , über welche seine Gedanken bald nicht nur alle deutschen Universitäten15 erreichten, sondern, was historisch noch weit wichtiger war, in breite Schichten der Bevölkerung eindrangen18• Wolff, der ein Gelehrter von selbst für damalige Verhältnisse erstaunlicher enzyklopädistischer Weite war17, hat mit seinen 8 lateinischen Quartbänden des "Jus naturae" und mit dem sich als 9. Band anschließenden "Jus gentium" die umfangreichste Darstellung des Naturrechts geliefert, die je geschrieben wurde18• Dabei stellt das Naturrecht nur einen Teil seines in lateinischer Sprache verfaßten, insgesamt 26bändigen philosophischen Werkes dar, wobei sowohl die zahlreichen Aufsätze und Rezensionen, als auch sein gesamtes deutsches Werk noch nicht einmal berücksichtigt sind. Wolffs Naturrecht gewann in der Folge einen solchen Einfluß, daß es dasjenige Pufendorfs und Thomasius' völlig verdrängte19• Trotz dieses überragenden Erfolges auf allen von ihm bearbeiteten Gebieten ist der Ruhm dieses Mannes, den man als den zweiten Praeceptor Germaniae20 pries und den Reaumur21 als einen "professor totius humani generis" (Lehrer des gesamten Menschengeschlechts) bezeichnete22, seit dem Ende der Aufklärung, deren Schicksal er insofern teilt, seltsam verblaßt. . . . Wolff, ce prince des philosophes ..., vgl. Droysen, Friedrich Wilhelm I., Friedrich der Große und der Philosoph Christian Wolff, S. 12. 13 Vorländer, Geschichte der Philosophie, Bd. V, S. 84. Mühlpfordt, Christian Wolff, ein Enzyklopädist der deutschen Aufklärung, S. 101. 14 Mühlpjordt, S. 94. 15 Laut Ludovici waren 1735 in Deutschland 112 Lehrstühle an Schulen und Universitäten mit Wolffianern besetzt. Zitiert nach Arndt, Einleitung zu Christian Wolff, Deutsche Logik, S. 97. 16 Schäffler, Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung, S. 199. 17 Nippold, Einleitung zu Christian Wolff, Jus gentium, S. XXXII. 18 Frauendienst, Christian Wolff als Staatsdenker, S. 67. 19 Messner, Das Naturrecht, S. 174, Anm. 6. Scheuner, Die Großen Deutschen, Bd. V, S. 134. 2o Arnsperger, Christian Wolffs Verhältnis zu Leibniz, S. 65, wonach Melanchthon als der erste Praeceptor Germaniae angesehen wurde. Mühlpfordt, Christian Wolff, ein Enzyklopädist der deutschen Aufklärung, S. 102, hiernach ist Wolff erst der dritte nach Melanchthon und Hraban (9. Jahrhundert). 21 Reaumur, Rene, französischer Physiker und Zoologe (1683 - 1757), führte 1730 die nach ihm benannte Thermometereinteilung ein. 22 Thomann, Influence du philosophe allemand Christian Wolff sur 1' "Encyclopedie" et la pensee politique et juridique du 18eme siecle francais. s. 243.

2. Aufstieg und Fall des Naturrechts

15

Es ist geradezu schon sprichwörtlich geworden, die Philosophie der Aufklärung und mithin auch das Naturrecht dieser Zeit als oberflächlich und seicht abzutun. Wie man inzwischen zunehmend erkennt, ist dieses Urteil mehr als leichtfertig und stellt im Wesentlichen nichts anderes als das unbesehen übernommene Verdikt der Romantik dar. Insonderheit hat es Wolff, im Unterschied zu manchem Nachfolger, auch seiner eigenen Schule, nicht an Tiefe gefehlt. Der Grund für den Anschein seiner angeblichen Flachheit ist zum Teil in seiner demonstrativen Methode zu suchen, über die im einzelnen noch zu sprechen sein wird. Wie wenig es indes gerechtfertigt ist, blind derartigen Vorurteilen zu folgen, beweist die Hochachtung, die man neuerdings Wolffs Ontologie entgegenbringt. Nach Pichlers Wiederentdeckung zu Beginn des Jahrhunderts23 ist sie nämlich zum Ausgangspunkt für die von Piehier über Jacoby zu Nicolai Hartmann laufende Entwicklung der modernen "kritischen Ontologie"24 geworden. Mit dem Ende der Aufklärung sank der Stern des Naturrechts allgemein dahin. In Deutschland geschah dies bereits ziemlich früh, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, indem dort Idealismus und Romantik die Aufklärung ablösten. Wissenschaftlich ergab man sich dem Historismus25 und es war vor allem Savignys "Historische Rechtsschule", die dem Naturrecht den Prozeß gemacht hat, ohne allerdings den wirklichen Versuch einer kritischen Auseinandersetzung mit der Naturrechtslehre zu unternehmen26. Die Zeit um 1800 wird damit zugleich zu der geschichtlich folgenschweren Wende, von der an die deutsche und westeuropäische Geistesgeschichte ihre so verschiedenartigen Entwicklungen nahmen27. Das Naturrecht, das zunächst seinen Platz dem Historismus und dann, allerdings nicht nur in Deutschland, dem Positivismus räumen mußte, konnte seine alte Stellung am längsten in der Schweiz behaupten, wo in Lausanne noch bis zum Jahre 1890 ein Lehrstuhl für Naturrecht bestand28. Im allgemeinen war das Naturrecht aber für mehr als ein Jahrhundert in Vergessenheit geraten. Erst die Erfahrungen der neueren europäischen Geschichte haben in eindringlicher Weise gelehrt, daß auch in modernen Staaten Unrecht in der formalen Gestalt des Rechts auftreten kann, was vielen die Augen über das Ungenügen bloßen Rechtspositivis23 Pichler, Über Christian Wolffs Ontologie, 1910. 24 Diemer, Philosophie-Lexikon, Artikel: Ontologie, S. 229. 25 Tröltsch, Die Aufklärung, S. 373 f. 28 Larenz, Zur Beurteilung des Naturrechts, S. 49. 27 Hofer, Einleitung zu F. Meinecke, Die Idee der Staatsraison, S. XIV. Scheuner, Die Großen Deutschen, Bd. V, S. 135. 2s Thieme Das Naturrecht und die europäische Privatrechtsgeschichte,

s. 15.

'

16

I. Einführung

musgeöffnet und den Blick auf die Idee des Naturrechts zurückgelenkt hat.

3. Grundsätzliches zum Naturrecht Betrachtet man den Weg des Naturrechts durch die Jahrtausende, besonders aber seinen Triumph und Niedergang im 18. bzw. 19. Jahrhundert, so zeigt sich, daß unter Naturrecht offenbar nichts völlig Eindeutiges, für jeden Betrachter zu jeder Zeit gleich Einsichtiges verstanden werden kann. Um zu begreifen, worin der Weg oder auch Irrweg, jedenfalls die Leistung der Naturrechtier und besonders Christian Wolffs bestanden hat, soll daher versucht werden, zunächst die Frage nach dem Anspruch und der Möglichkeit des Naturrechts zu klären. Allen Formen des Naturrechts ist gemeinsam der Gedanke, daß es entsprechend den physischen Naturgesetzen eine Gesetzlichkeit des Sittlichen geben müsse. Die Suche nach dem sittlichen Naturgesetz ist daher die große Aufgabe aller Naturrechtier gewesen. Für die profane Naturrechtslehre der Neuzeit wurde die Beschäftigung mit dem Naturrecht durch die Säkularisierung der bisherigen Werte bedingt und entsprang dem Bedürfnis nach einer von Glauben und Offenbarung unabhängigen allgemeinverbindlichen Begründung von Moral und Recht. Am Ende des Mittelalters läßt sich in Bezug auf die Ausführung des Naturrechts ein entscheidender Einschnitt feststellen. Von der Antike an hatte man nämlich stets nur wenige generelle Grundsätze, oft sogar nur ein einziges Prinzip als eigentliches Naturrecht angesehen. Hieraus wurden dann erst durch Schlußfolgerung weitere Regeln abgeleitet, die selbst aber nicht als unmittelbares Naturrecht galten, sondern ein auch dem Wandel unterworfenes, sekundäres oder relatives Naturrecht darstellten. Zu jenen obersten Prinzipien gehörte etwa das Ulpian-Zitat des Corpus Juris Civilis (Dig. IIVXI§ 1): "honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere" 29 , oder solche, rein formalen Sätze wie: "das Seine tun" oder "das Gute tun und das Böse lassen", welches letztere das oberste Prinzip im Naturrecht Thomas von Aquins war30• Mit der spanischen Spätscholastik trat hier jedoch eine Änderung ein, da nun nicht mehr bloß die allgemeinen Grundsätze, sondern auch die ferneren Sätze und Konklusionen als Naturrechtsnormen angesehen wurden. Alle scheinbaren Unterschiede derselben erklärte man aus 29 Vgl. auch Corpus Juris Civilis, Inst. I/I/§ 3, wo sich der Satz ebenfalls findet. so Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 27; S. 60. Sauter, Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts, S. 74.

3. Grundsätzliches zum Naturrecht

17

hemmenden nationalen Sitten und bloßer Unwissenheit der Völker31 • Den spanischen Spätscholastikern dienten die Konklusionen allerdings nur als veranschaulichende Beispiele für allgemeine Institutionen, wie etwa das Eigentum oder die Ehe32• Den nächsten entscheidenden Schritt vollzog dann erst Hugo Grotius, dessen Bedeutung gerade darin zu sehen ist, daß er trotz der fast überall nachweisbaren sachlichen Abhängigkeit von der spanischen Spätscholastik als erster über deren Kasuistik hinausging, indem er die allenthalben vorhandenen Gedanken vereinigte und so erstmalig eine relativ kohärente und vollständige Lehre- wenn auch noch kein System- des Naturrechts schu:f33 • Das Schwergewicht verlagerte sich damit endgültig von den Prinzipien auf die Konklusionen, deren Ausführung bei dem Fortschreiten zu dem dann schließlich von Pufendorf geschaffenen und von Christian Wolff vollendeten System erhebliche Bedeutung zukam. Mit dieser von Grotius eingeleiteten Wendung zum System rückt zugleich das eigentliche Problem des Naturrechts, nämlich inwieweit es ein vollständiges System von natürlichen Sittennormen überhaupt geben kann, ins Blickfeld. Die Geister scheiden sich nun vielfach an der Frage nach der Zulässigkeit bzw. Möglichkeit mehr oder weniger vollständiger Naturrechtssysteme34• Dabei sah sich einerseits erst das zum vollständigen System entwickelte Naturrecht in der Lage, dem Bedürfnis nach sicheren Verhaltensmustern und Regeln auf dem Gebiete der Moral und st u. s2 Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 111 bzw. S. 98. ;ss Thieme, Das Naturrecht und die europäische Privatrechtsgeschichte,

S. 22. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 124. Sauter, S. 97. Mitteis, S. 19. E. Wolf, S. 280. E. Wolf will (S. 262) Grotius' hauptsächliche

Bedeutung darin sehen, daß bei ihm der "Mensch im Recht" sei. Das soll heißen, daß das Recht eine existentielle Bedingung des Menschen geworden ist und nicht mehr ein ihn bloß umgebender Gegenstand. Dies ist jedoch mehr eine geistreiche Formulierung als eine Grotius' historische und wissenschaftliche Rolle wirklich erhellende Charakterisierung, was eine Nachwirkung einer bei seiner Beurteilung eine Zeitlang vorherrschenden Verlegenheit sein mag. Diese war entstanden, nachdem man entdeckt hatte, daß Grotius der spanischen Spätscholastik inhaltlich stark verpflichtet war und sogar das berühmte Absurditätsargument, das als der entscheidende Beweis für die Befreiung seines Naturrechts von der religiösen Grundlage angesehen wurde, von Gregor v. Rimini