Die Kulturmöglichkeit der Technik als Formproblem der produktiven Arbeit: Kritische Studien zur Darlegung der Zivilisation und der Kultur der Gegenwart [Reprint 2021 ed.] 9783112455968, 9783112455951

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Die Kulturmöglichkeit der Technik als Formproblem der produktiven Arbeit: Kritische Studien zur Darlegung der Zivilisation und der Kultur der Gegenwart [Reprint 2021 ed.]
 9783112455968, 9783112455951

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DIE KULTURMÖGLICHKEIT DER TECHNIK als Formproblem der produktiven Arbeit

Kritische

Studien

zur Darlegung der Zivilisation und der Kultur der Gegenwart von

M A N F R E D SCHRÖTER

Berlin und Leipzig 1920 V E R E I N I G U N G WISSENSCHAFTLICHER VERLEGER WALTER DE GRliyTER CO.

vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung :: J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung :: Georg Reimer :: Karl J, Trübner :: Veit & Comp.

Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts, vorbehalten.

Drude von Mcteger & Wittig In Leipzig.

M E I N E M VATER

MORITZ SCHRÖTER UND DEM A N D E N K E N DES VÄTERLICHEN FREUNDES

WILHELM

DILTHEy

Vorwort. Über die äußere Geschichte dieser 1912 entstandenen, 1914 abgeschlossenen Studie orientiert die Vorbemerkung. Über die innere sind hier vielleicht noch einige Worte gestattet — insofern wohl jedes vor dem Krieg behandelte geistige Thema in der gänzlich verwandelten Gegenwart auf seine Berechtigung erst nachzuprüfen ist. Insonderheit der kritische Kulturbetrachter, dessen Forderungen geistigen, ethischen Fragen galten, scheint im heutigen, durch seine Niederlage materiell, moralisch und geistig verelendeten Deutschland nur zur Rolle eines Don Quixote verurteilt, dessen ideelle .Interessen bestenfalls in der zerstörten deutschen Wirklichkeit gegenstandslos geworden sind. Daß dem keineswegs so ist, daß vielmehr auch der Gang der äußeren Ereignisse das Festhalten an dem zuvor erkannten und verfolgten Ziel nicht unmöglich gemacht hat, ja gerade für das hier behandelte Einzelproblem den nachgewiesenen Weg der Lösung um so unausweichlicher bestätigt hat, sucht diese Schrift zu zeigen — und zwar eben weil sie (einschließlich des Schlußkapitels) vor dem Kriege entstanden ist. Nicht auf die nachträgliche, sondern auf die gleichzeitige Stellungnahme kommt es an, wenn die Rechtfertigung geistiger Möglichkeiten auch durch neue Wendungen in Frage steht. Aus diesem Grunde ist an diesem früheren Versuch absichtlich nichts berichtigt, d. h. keine Stelle nachträglich erst auf den Weltkrieg und seine Ergebnisse bezogen worden. Der vorstehende und für sich selbst einstehende Gedankengang bleibt reiner Ausdruck der Probleme, wie sie vorher schon dem geisteswissenschaftlichen Betrachter sich darstellen mußten. Wenn auch nur als beschränktes und winziges Bruchstück, setzt auch diese kleine Arbeit ihren Stolz darein, an ihrer Stelle mit den lückenlosen Fortgang eines Kerngebietes deutscher Geistesarbeit und bewußter Kulturselbsterkenntnis zu bekunden, deren innerer, naturgemäßer Wachstumstrieb auch durch die gegenwärtige und größte Welterschütterung der menschlichen Geschichte nicht verändert wurde oder irgendwie im wesentlichen korrigiert zu werden brauchte. Die Kulturarbeit des deutschen Geistes, die in steigender Bewußtheit ihre eigenen Quellen und ihre Bedeutung, ihre Kräfte und Anforderungen zu erkennen angefangen hatte, könnte auch nach der jetzigen Katastrophe ungebrochen, ja in manchem nur bestärkt durch die Tatsachen dieser äußeren Entscheidung, ihren innerlich bestimmten Weg dort fortsetzen, wo ihre eigene Schöpfersehnsucht ihn vorlängst beschreiten wollte. Einzig das (hier gekürzte) 13. und 14. Kapitel sind während des Kriegs (im Winter 1915/16) eingeschoben worden — und auch sie nur als Erweiterung

VI

Vorwort.

schon früher entstandener Skizzen. Aber wenn auch ihre Ausführung damals unter dem Druck der Stunde und des allgemeinen Hasses und Vernichtungswillens gegen Deutschland die mutmaßliche Bedeutung eben dieses Volkes besonders hervorgehoben hat, so wüßten wir auch jetzt nichts von jenen Hoffnungen zurückzunehmen — und wären sie auch nur eins der bescheidensten Zeugnisse mehr, was deutsche Geistigkeit (im Gegensatz zu dem Zerrbild, das ihre Feinde, die von außen wie auch die von innen, sich von ihrem Ziel gebildet haben) seit jeher und auch w ä h r e n d des Kriegs unter der deutschen Aufgabe verstanden hat. (Als ihre gleichzeitige Fortsetzung sei darum des Verfassers „Versuch einer ersten Sichtung der kulturphilosophisch bedeutsamen Erscheinungen der deutschen Kriegsliteratur 1914—1918" der Nachprüfung anheimgestellt, dessen Rezensionen absatzweise in den ersten vier Jahrgängen der Zeitschrift „Der unsichtbare Tempel" erschienen und von Kjellins „Ideen von 1914" bis zu Spenglers „Untergang des Abendlandes" 1918 reichen. Eine Auswahl als Sonderdruck unter dem Titel „Gedanken zum deutschen Schicksal" im Verlag E. Reinhardt, München.) Was dort nur angedeutet im Abstrakten bleibt, das findet sich in aller nur gewünschten Konkretheit in der wohl bedeutendsten politischen Veröffentlichung der Kriegsjahre, R u d o l f K j e l l ^ n s „Politischen Problemen des Weltkrieges", Leipzig 1916. Unendlich und ganz unvermutet haben sich seitdem die Weltverhältnisse verschoben und doch beharrt der Wert dieser umfassenden, gleichmäßig objektiven Darstellung (insonderheit in ihrem denkwürdigen Schlußkapitel) als ein unschätzbares Dokument, welch hohes — nur kulturpolitisch erreichbares — Ziel ein deutscher Sieg einst einen außenstehenden, neutralen Beurteiler für die Welt erhoffen lassen konnte, dessen einsame furchtlose Stimme damals mitten in dem Kampfgewirr zu uns herübertönte mit ihrer Devise: Amica mihi Germania sed magis amica veritas. Schon damals ist die Grundbedingung jenes Sieges von K j e l l i n deutlich bezeichnet worden: „Deutschland muß auch in seiner eigenen Seele Moskau ganz überwinden." Moskau — das ist die folgenschwere Borniertheit jedes bloßen Militarismus, jener unseligen „Entartung des preußischen Systems", wie M e i n e c k e * ) diese geschichtlich klar begründete Gefahr genannt hat; jedes einseitigen Klassenregiments von rechts wie seines notwendigen Widerspiels in dem Zerstörungswahnsinn und der Niedertracht von links; Moskau — das ist vor allem die im Druck der Jahre alle Schichten Deutschlands, vom Großunternehmer bis zum Arbeiter und Bauern gleichermaßen überwuchernde Gewinnsucht und niedrige Habgier, jene wachsende moralische Zersetzung, *) F r i e d r i c h M e i n e c k e : „Nach der Revolution". München-Berlin, 1919. Wie militärisch der Stuttgarter Vortrag des Generals G r ö n e r (veröffentlicht im Aprilheft der „Deutschen Revue" 1920), so sind geschichtlich und innerpolitisch die hier gesammelten Aufsätze des Historikers des deutschen Nationalstaats wohl das Reifste und Abschließendste, was jetzt über Deutschland zu sagen war — ein schmales Büchlein, das man in die Hände jedes nachdenkenden Deutschen wünschen möchte.

Vorwort.

VII

für die jeder Mitmensch nur ein Ausnützungsobjekt bedeutete. Deutschland, das in den größten Heldenkämpfen aller Zeit den eigentlichen Eriegsurheber und die drohendste Gefahr für ganz Europa (wie für England) durch Zertrümmerung des zaristischen Rußlands überwunden hat, ist dem „Moskau" — dem Chaos und den Gegensätzen seiner eigenen Seele schließlich unterlegen, ein leeres Trümmerfeld von Siegern und Besiegten hinterlassend. Denn dieses scheint vom kulturkritischen Gesichtspunkt aus das vorläufige negative (und zwar nicht allein für Deutschland negative) Resultat des Weltkriegs, daß die wirklichen Kultur- und Menschheitsaufgaben, die in seinem vernichtenden Gewittersturm doch gleichsam ahnungschauernd spürbar wurden, vorerst von ihrer Lösung weiter denn zuvor entfernt sind. Was nach dem angespannten Bingen aller Völker wohl als zukünftiger Neubau einer höheren, gemeinsamen Hoffnung und Forderung schon möglich und tragfähig schien, das ist — durch Überlastung seines unzureichenden, brüchig gewordenen Mittelpfeilers — eingestürzt. So unbestreitbar dieser Niederbruch ist, so bestreitbar bleibt, daß das zusammenrückende. Gewölbe der noch übrigen Bauglieder, das den leergewordenen Hohlraum ausfüllt, der Aufgabe jenes größeren Gesamtgedankens je genügen könne. Oder unbildlich: Das gegenwärtige Versagen Deutschlands in der von ihm zu erhoffenden Gesamtkulturaufgabe für Europa hat die kulturellen Kräfte unserer Welt fühlbar vermindert. Dadurch, daß das weltkulturpolitische Problem „Mitteleuropa" in dem ungeheuren Einbruch gleichsam weggesunken ist, ist die einseitige Problemlösung der übrigen Menschheit freilich erleichtert, aber ihr Niveau zugleich erniedrigt worden. Von den drei größten, zukunftsreichsten Weltgewalten vor dem Krieg — Deutschland, Rußland, England-Amerika — wurde das isolierte DeutschlandÖsterreich von dem Weltbund aller übrigen nach vieij ährigem Standhalten zerbrochen, während es zugleich noch seinerseits den Zerfall des russischen Riesenreichs besiegelt hat. Das bedeutet zwar für das als tertius gaudens übrig gebliebene Angelsachsentum eine verblüffend einfache und unverhofft dankbare Lösung, die jedoch an Stelle der Synthese eine bloße Elimination gesetzt hat. Zwei von den drei Giganten des Weltspiels, das Deutschtum und das Russentum, liegen zur Zeit nach gegenseitigem Vernichtungskampf ermattet und scheinbar zerstört am Boden. Daß der dritte und alleinige Gigant als Frucht- der lang gereiften zähen Arbeit ungestört jetzt seinen Weltherrschaftsgewinn einheimst, indes die überrascht als Sieger dastehenden Mitspieler zweiten und dritten Ranges auf der Weltbühne vielleicht noch jahrelang mit großem Lärm sich wichtig dünken, beweist aber noch nicht, daß die -zu Boden Liegenden sich nicht dereinst wieder erheben könnten — nicht zu neuem, rachsüchtigem Kampf und nicht zur Sklavenarbeit, die, gleich dem geblendeten Simson, insonderheit dem bis zum Letzten ausgesogenen Deutschland zudiktiert wird, sondern zu dem eigenen Werk, das ihr Lebensgesetz und die Notwendigkeit des Menschheitswerdens fordert, die nicht die Bequemlichkeit einzelner, sondern immer wieder neu von allen ihren Gliedern den Einsatz der höchsten Kraft verlangt in dem geheimen, schmerzensvollen,

VIII

Vorwort.

unstillbaren Drang des Lebens nach möglichster Steigerung und Ausreifung der in ihm angelegten und sich durchsetzenden Aufgaben. In diesem Sinn (einer Kulturentscheidung) sind gleichsam die Würfel zunächst noch umsonst geworfen. Abermals wird erst die Zukunftsarbeit der Weltvölker zu beweisen haben, ob die kulturellen Möglichkeiten einer Menschheitsaufgabe nur ein belächeltes Phantom oder den Zielpunkt ihrer Werdenot und der ersehnten Wirklichkeit bedeuten. Das gegenwärtige äußere Resultat, das angelsächsische Imperium, k a n n für Jahrhunderte gegründet sein. Doch ist zum mindesten nicht wahrscheinlich, daß aus diesem gesättigten und späten Ausbreitungsprozeß einer im weseqtlichen abgeschlossenen Zivilisation auch noch die inneren Kräfte zu ganz neuen und umfassenderen Lösungen aufsteigen sollten — ebensowenig sie bisher zur Lösung der Kriegsausgangsfragen irgendwie ausgereicht haben. Denn auch der objektivste, selbstkritischste Deutsche kann nicht umhin zu erkennen, wie genau die gleichen Fehler, die in dieser Hinsicht ein beschränktes und verblendetes Deutschland begangen und gebüßt hat, von den Siegern in verdoppelter und dreifacher Inkonsequenz und Übersteigerung begangen werden. (Nicht vom deutschen sondern vom englischen Standpunkt aus hat der mit teilnehmende Delegierte Englands J. M. K e y n e s in seiner welthistorischen, dokumentarischen Kritik über die wirtschaftlichen Folgen des Friedensschlusses die Entstehung dieses menschlich, wirtschaftlich, politisch und staatsmännisch gleich schmählichen Machwerks der Verachtung aller Nachwelt ausgeliefert.) Hinter all den /täuschenden Fassaden dieser jetzigen Scheinlösungen müßte ein objektiver Blick die tieferen, wirklichen Grundlagen der Völker beurteilen können, die die Zukunftsgestaltung dereinst bestimmen werden. Deutschland ist dabei in der seltsamsten Lage: Das Volk der letzten, jüngstvergangenen (und in Philosophie, Musik und Lyrik unvergleichbaren) Kulturhöhe, das dann in wissenschaftlicher, sozialer, technischer Arbeit mit an die Spitze aller übrigen Nationen trat und sich zugleich als die stärkste Kriegsmacht der Welt erwiesen hat, ist plötzlich aller äußeren Machtmittel, wie noch nie ein Volk, beraubt und zugleich wirtschaftlich bis ins Groteske ausgeplündert, während die erkrankte, dezimierte, zermürbte Nation von ihren inneren Gegensätzen fast zerrissen wird. Und doch ist eins erreicht — wieviel auch durch Deutschland geschehen ist (während des Kriegs in verblendetem Unverstand, wie nachher in unseliger Haltlosigkeit) dessen Erinnerung erröten macht, so wird doch dieses alles weitaus übertroffen durch die angemaßte heuchlerische Strafjustiz gegen den angeblichen Schuldigen, vor dem in Wahrheit seine Richter längst erröten müssen. Immer wieder kann doch das gekreuzigte, bespieene, zerstörte und verhöhnte Deutschland diesem .schemenhaften Totentanz all seiner Peiniger und Henker den verachtungsvollen Stolz von Nietzsches Spottgedicht entgegenhalten: „Zwar ich leide, zwar ich leide; aber ihr, ihr sterbt, ihr sterbt!" — ob es nun von der weltherrscherlichen Gewandtheit Englands ausgebeutet oder von der Rachgier des sich selbst entwürdigenden Frankreichs gemißhandelt wird. (Vgl. auch hier eines Engländers, C. D. M o r e l s Anklagen!) So Ungeheures alle Völker auch im Krieg

Vorwort.

IX

geleistet haben, der „Frieden" scheint vorerst nur ihre Schwächen offenbar zu machen. Wer, mit Recht, die politische Unfähigkeit Deutschlands (vor und während des Krieges) beklagt, kann andrerseits auch an dem ersten politischen Friedenswerk der englischen Weltleitung noch nichts zu bewundern finden. Unendlich fern von all diesen Verzerrungen einer entartenden, absterbenden Volksoberschicht fließen die sich allmählich wieder reinigenden Quellen der inneren, positiven Kräfte jedes Volkes, die bei uns wie bei den andern schließlich doch allein die Saat der neuen Wirklichkeit beleben — die sich langsam wieder allseitig zusammenfinden und zusammenmünden in den großen Strom der Zukunft, des Vertrauens, der Zusammenarbeit, Hoffnung und Gemeinschaft aller Unverblendeten und positiv Gerichteten in jedem Land, die an den Ungerechtigkeiten und Verirrungen des eigenen Volkes ebenso gelitten und seine Maßlosigkeit ebenso streng verurteilt haben wie diejenige der anderen. Freilich, auch die erhoffte objektive Wirklichkeit, die jedes Volk im letzten Grund als Frucht des eigenen Wesens und der eigenen Anlagen sich selbst verdankt, ist für Deutschland von kaum ertragbarer Härte und Schwere. Kein anderes Volk hat aber auch auf seinem langen Weg schon mehrmals solche Höhen und solche Tiefen überwunden wie das deutsche. Könnte es die tatsächlichen Kräfte seiner reinen Wirklichkeit erkennen, so vermöchte es vielleicht noch einmal selbst sein Schicksal zu bejahen. Unsere Hoffnung noch während des Krieges ging dahin, daß Deutschland jenen konzentrisch steigenden Druck der Weltmächte und Kontinente schließlich doch in seiner Selbstbehauptung durch die innere Kulturerhöhung überwinden könne. Immer wäre dieses Ziel der Selbstbehauptung (selbst bei nie wankendem Kriegsglück) nur beim Überwiegen jenes inneren und geistigen Momentes erreichbar geblieben, das die uns versagte Geniuskraft allseitig überlegener Gesamtführung und die ethische Stärke einer unzermürbten Nation gefordert hätte. Und dennoch hat die fast unbegreifliche und unvergleichbar gewaltige Leistung Deutschlands dargetan, daß ihr '— mit nur etwas mehr Maß, Einsicht und reifer Überlegenheit — ein Standhalten gegen die ungeheure Übermacht nicht unmöglich gewesen wäre. Unermeßlich war der hier versammelte, geopferte Vorrat an Kraft — wohl die heroischste, gigantischste Verschwendung höchster Menschenwerte in das schließliche Umsonst, die je die Welt gesehen hat seit der Vergeudung und dem Überschwang der germanischen Völkerwanderungen. Oder ist auch diese scheinbar nutzlose Verschwendung, wie so oft im Dasein, doch im letzten Grund wieder ein Umweg zu dem alten Ziel? Dies wäre dann der Fall, wenn durch die Katastrophe sich trotz allem die Lösungsbedingungen verengert und vereinfacht hätten. Das letztere träfe insofern zu, als alle äußeren Möglichkeiten eines sich um Deutschland bildenden Weltkulturwachstums zunächst endgültig begraben sind — eben diejenigen Aufgaben, denen deutsche Art, wie sich gezeigt hat, wohl am wenigsten gewachsen ist und die zu immer neuen Mißerfolgen geführt hätten. Zugleich aber besteht jener erwähnte „Weltdruck" unvermindert fort, ja nur gesteigert

X

Vorwort.

und vertieft, da er sich von der allgemeinen und politischen Umfassung ausschließlich nur zu der wirtschaftlichen konzentriert hat. Unentrinnbar, hoffnungslos umklammert diese von den Siegern aufgetürmte Riesenlast des technischen Weltarbeitszwanges das zu Boden geworfene Deutschland, so daß in dieser verzweifelten Lage nurmehr zweierlei möglich erscheint: Als negative Folge die Zersetzung und schließlich die physische Vernichtung, oder aber die Bezwingung dieses Arbeitsdruckes schon von innen her durch die Umwandlung und Erhöhung der technischen Arbeit selbst zu einem sich steigernden Lebens- und Kulturwert. Die organische und kulturphilosophisch begründete Möglichkeit einer derartigen Erhöhung ist (wie das Folgende andeutet) in der Steigerung jedes Erlebniswertes jeder Arbeit bis zur vollen produktiven Lebenseinheit prinzipiell gegeben. D a s Volk aber, das diese innere Aufgabe zu vollbringen hätte, ist, von allem Äußeren beraubt, ganz nur auf seine geistige und persönlichste Kraft zurückgeworfen, in der, seiner früheren Geschichte nach, sich eben seine Hauptstärke bewährt hat. In diesem Sinn ist gleichsam das Kulturproblem, das unsere Betrachtung in seiner Einstellung auf Deutschland verfolgt, jetzt noch einmal verschärft und auf den wesentlichen Kern allein vereinfacht worden: Das schließlich im brutalen Sinn der äußeren Gewalt und Uberzahl entscheidende Moment der Macht hat durch die Mittel technischer und materieller Überwältigung gleichsam jene Mechanisierung und Veräußerlichung der Kulturkräfte gerächt — bis zur Zerschlagung jeder absehbaren Möglichkeit, im Äußerlichen überhaupt je wieder den Machtstandpunkt einzunehmen. Das technische Kulturproblem und sein dynamisches Verhältnis erstarrt zur äußerlichen, materiellen Wucht der nackten Arbeitsforderung, und sein erzwungener Kulturboden, das von der Welt und für die Welt versklavte deutsche Volk, das höchstbegabte und der technisch-wirtschaftlichen Arbeit von der wissenschaftlichen bis zur sozialen Sphäre rückhaltlos schon vorher hingegeben, ist zugleich das innerlich entwicklungsfähigste und iahaltreichste. Es ist gleichsam ein zwangsläufig geordnetes Experiment im großen, mit extremer Reinheit der Bedingungen, wie es die Weltgeschichte nicht noch einmal wiederholen wird. Wer leugnet, daß die früher erhoffte (kulturell-politische) Lösung nicht glücklicher gewesen wäre, wenn hierzu die Kraft und die Anlagen genügt hätten? Es ist müßig jetzt zu fragen, was damals leichter hätte gelingen können, oder inwiefern die Katastrophe das innere Deutschland günstiger oder ungünstiger verändert hat — in der Zertrümmerung so viel verfaulter^ hohlgewordener Überreste einerseits, in der zunehmenden Zersetzung namentlich der unteren Schichten und in der Verschärfung aller alten Gegensätze andrerseits. Gänzlich fern jeglichem Abwägen und irgendwelcher Zukunftsprophezeiung soll hier nur die abermals gesteigerte und konzentrierte Grundbedingung des Kulturproblems der Gegenwart ersichtlich werden, dessen Lösung — wenn sie noch gelingen sollte — einzig über die Erlösung des technischen Arbeitslebens und -Erlebens führt. Ob hierfür die Kraft vorhanden ist bzw. wieder aufsteigt, entzieht sich jeder Vorausbestimmung.

Vorwort.

XI

Sollte aber diese Lösung (der Arbeitserhöhung bis zur sinnerfüllten Lebenstat) dem hierfür noch einzig fähigen, bedrücktesten, beladensten, gepreßtesten Weltvolk gelingen, das durch seine „Arbeitswut" berüchtigt und verhaßt war und das jetzt das Schicksal jenes Endkampfs einer späten Kulturmenschheit selbst vorwegnimmt: in dem drohenden Andrang der äußeren Vernichtung nur die innere Überwindung als die letzte Siegesqiöglichkeit behauptend — dann allerdings könnte Deutschland den bitteren Weg des allgemeinen Fluches sich zum Segenspfad verwandeln, der am Abgrund steil vorbei doch zu dem inneren Ziel der wahrhaften Kulturvollendung führte. Wie seine äußere Macht sich nahezu gegen die ganze Welt behaupten konnte, so müßte sich nun seine innere Gewalt an dieser schwersten Last erweisen, die es einsam, ungetröstet, als der stärkste, doch gebeugteste, verhöhnteste Christopherus der Völker aufwärts trüge zur Erlösung und als ein Geschenk an die zukünftigen Geschlechter, das ihnen von niemandem sonst kommen kann. Dieser Weg ins Innere als der einzige und zugleich höchste steht uns offen. Freilich kann ihn nur ein Volk beschreiten, das unendlich fern ist vom Verlangen nach äußerem Glück und äußerlicher Fülle, jenseits jedes Neides auf die wachsenden Weltreiche und die breithin wuchernde Weltzivilisation des äußeren Erfolgs und Reichtums, Machtbehagens und Besitzes. Gäbe es solch ein Kulturvolk, stolz und demütig zugleich, verlassen doch in sich beharrend, nur sein eigenes Gesetz erfüllend und die Meinungen und Urteile der Völker weltenweit und schweigend von sich weisend, so würde es am Ende seines langen, dnnklen, mühevollen Weges gereifter Selbstüberwindung das erreichte Ziel der alten höchsten Hoffaungen erblicken, die sich auf da» Ganze einer innerlich umfaßten Weltkultur gerichtet haben. In dieser reinen Lösung des Kulturproblems der Gegenwart wäre keine der stolzesten und strengsten Forderungen deutscher Kulturkraft und Sehnsucht aufzugeben, in deren Lebensheimat einst die kommende, vereinigte Kulturmenschheit sich finden und verstehen könnte. Zu einem solchen Volke zu gehören, würde alle Leiden und Verfolgungen der Welt aufwiegen überschwänglich . . . Dieses Volk, selbst in Armut und Schmach, hätte den Weltkrieg innerlich gewonnen, für sich selbst und für die Menschheit und es hätte den Kampf nicht umsonst gekämpft; dann wäre nichts verloren, nichts umsonst im höchsten Sinne — nicht umsonst all das unendliche und unsagbare Leiden aller Völker, nicht umsonst das Opfermeer von Blut und Tränen — nicht umsonst unsere Toten. Ihr Geisterchor begleitete den Dulderweg der Irdischen, versöhnt und frei vom Unzulänglichen des Menschheitsringens und erlöst von seiner Bitterkeit. M ü n c h e n , Mai 1920.

Vorbemerkung. Ursprünglich im Zusammenhang mit der „Kultur der Gegenwart", dem enzyklopädischen Sammelwerk des Teubnerschen Verlags geplant, sollte diese selbständig gewordene Abhandlung dann 1914 schon erscheinen, als der Kriegsausbruch die Drucklegung verzögerte. Der Krieg hat auch das große Unternehmen jenes wissenschaftlichen Gesamtwerks zum Stillstand gebracht, so daß seine früher erschienenen Bände nun vereinzelt und als Torso von dem umfassenden Wollen jenes Ganzen nur ein unvollkommenes Zeugnis ablegen. Ein Urteil über das in seinen Anfängen jetzt abgebrochene Werk ist daher für die Gegenwart schwer möglich — ob nun die einst vollendete Ausführung manche Hoffnung bestätigt hätte, die in dieser Studie hier schon aus dem Plan des Ganzen anzudeuten versucht wurde, oder ob es im wesentlichen nur eine „Buchbindersynthese von Fachabhandlungen" geblieben wäre, wie es S c h e l e r jüngst in seinem Aufsatz über die falsche Innerlichkeit („Von zwei deutschen Krankheiten", im Sammelband „Der Leuchter", Darmstadt, 1919) genannt h a t Für ans hier kommt es nur als Ausgangspunkt einer Gedankenfolge in Betracht, deren Beziehungen zu jenem Werk sich lediglich im ersten Hauptteil unserer Schrift erschöpfen und mit der abgekürzten Schlußanmerkung dieses Teils abbrechen. Der zweite wie der dritte Teil sind hiervon unabhängig und für sich allein verständlich. Für den Druck (dessen nachträgliche Ermöglichung ich dem Entgegenkommen der Vereinigung wissenschaftlicher Verleger, insonderheit dem freundlichen Interesse von Herrn Dr. C. T h e s i n g verdanke) ist nach Möglichkeit vereinfacht und gekürzt, so das einleitende Kapitel fast ganz weggelassen worden. Doch auch so wäre wohl die Veröffentlichung dieses noch schwerfällig im Abstrakten sich abmühenden Versuchs jetzt nicht gewagt worden ohne die innere Beziehung seines Hauptproblems zur neuerlichen Lage unserer Gegenwart, wie sie das Vorwort darlegt einerseits und die Beziehung seines Inhalts zu einer bedeutungsvollen Neuerscheinung andrerseits, über die im Nachwort berichtet ist. Vielleicht erleichtern diese beiden Berührungen auch das Verständnis des hier wesentlich nur prinzipiell Behandelten, dem andrerseits die absichtlich ausführliche Anordnung des Gedankengangs entgegenkommt, wie er aus dem Inhaltsverzeichnis 2U ersehen ist. Auf die Gefahr hin, manche Anknüpfung zu wiederholen, sollte möglichst jeder Teil für sich zugänglich sein, so daß die Gliederung des Ganzen schon von jedem Abschnitt aus verständlich wird nnd so der Grundgedanke auf verschiedenen Wegen und doch im Zusammen-

Vorbemerkung.

XIII

hang erreichbar und nachprüfbar bleibt — wenn freilich auch das notwendig erst Programmatische, oft nur Andeutende dieser gedrängten Studie ausdrücklich betont sei. (Ihr provisorischer Charakter, wie auch ihr Anknüpfen an jene scheinbar äußerliche Übersicht erklärt sich aus dem Notstand, daß ihr früherer Unterbau, ein metaphysischer und kulturphilosophischer Jugendversuch, für die Veröffentlichung noch nicht reif erscheint und andererseits die systematischkritische Ausführung ihrer theoretischen Aufstellungen, insonderheit auf naturphilosophischem Gebiet, in anderem Zusammenhang geschehen soll.) Der gewählte Ausgangspunkt, jene3 enzyklopädische Kulturwerk — (in Kap. II mit seinem französischen Analogon der Aufklärnngszeit, in Kap. III in seinen Kulturgrundlagen mit denen jener früheren Phase verglichen) — überwindet das sichtbar gewordene Problem der Relativität im Theoretischen durch seine eigene Strukturlehre (Kap. IV) und sachlich-inhaltlich durch die aus ihm verdeutlichte Weltkulturwiederholung und -Periodenbildung mit ihrem vergleichenden Erkenntniswert (Kap. V). Diese Momente ergänzen sich zu der Erklärung des bedeutsamsten Charakteristikums unserer Kulturepoche, der hervortretenden Intellektualität, entsprechend der Vorherrschaft von Naturwissenschaft und Technik (Kap. VI). Von diesem Resultat ausgehend versucht der Mittelteil dies einzelne Ergebnis umgekehrt in die Kulturgesamtheit wieder kritisch einzuordnen, deren Unzulänglichkeit und Schwäche daran erst verdeutlicht wird (Kap. VII). Zugleich werden aus der systematischen Darstellung dieser Problematik auch die positiven Kräfte und Bedingungen ersichtlich, die für jenes innere Gesamtkulturziel noch vorhanden sind und eben in dem aufgedeckten Fundament selbst wurzeln (Kap. VIII). Diese „technische" Kulturgrundlage wird in prinzipieller Hinsicht, wie in ihrer gegenwärtigen entscheidenden Kulturbedeutung aufgezeigt (Kap. IX) und die Verwirklichungsbedingungen ihrer Gesamtaufgabe wenigstens dem Wesen nach erörtert (Kap. X). Der dritte Teil endlich streift noch die äußeren Grundlagen der betrachteten Kulturverhältnisse in der Beziehung jenes technisch-geistigen Kulturproblems zu der Völkerverflechtung in Europa (Kap. XI), wie zu der Weltstellung Europas für die Kultarmöglichkeit der Technik auf der Erde (Kap. XII). Scheint die stufenweise fortschreitende Lösung jener Aufgabe den ersten Ansatzpunkt zunächst im mittleren Europa selbst zu finden, so würde andrerseits die Stellung und das Schicksal Deutschlands ihr am meisten äußerlich und innerlich entgegenkommen (Kap. XIII), dessen tragische, bewußt erkannte Isolierung diesem Volk nur mehr den höchsten Weg innerer Überwindung und Erfüllung eines Menschheitszieles offen läßt (Kap. XIV). Dies letztere erscheint zum Schluß als letzte Reife und Erweiterung des aufgegriffenen Problems, in dem so eine einzelne Entscheidung unserer Gegenwart doch auf den 'zukünftigen Schicksalsgang der ganzen Menschheit vorausdeutet (Kap. XV). Die Berechtigung bzw. die Begrenztheit dieser Ausblicke erörtert das Nachwort (Kap. XVI).

Inhaltsverzeichnis.

Vorwort (V). Vorbemerkung (XIII).

I. Teil. I. (Das Kulturbewußtsein unserer Zeit und seine Problematik. Lebensund Selbsterkenntnis in ihrer Bedeutung für das Einzelleben.) Analogien zum Kulturprozeß und zum Kulturbewußtsein (1). Der Ausgangspunkt in der Kulturselbstdarstellung (3). II. Vergleich des Werkes „Die Kultur der Gegenwart'' mit der französischen Enzyklopädie von Diderot und d'Alembert (4). Der Fortschritt ihr gegenüber in der systematischen Anordnung und im organischen Aufbau des Ganzen (6). III. Vergleich der Kulturlage des 18. und 20. Jahrhunderts; die westeuropäische Aufklärung; Deutschland und Leibniz (9). Die höhere Kulturfortbildung in der deutschen Klassik und die prinzipielle Lage unserer Gegenwart als ein neuartiges Problem (13). IV. Theoretische Stellungnahme zu diesem Problem der Relativität durch die philosophiegeschichtliche und kultursystematische Darlegung des betrachteten Kulturwerks (16). Die Dilthey sehe Strukturlehre der Kultur und die in sich gegründete Dynamik der Kulturentwicklung in ihrem formalen Resultat (20). V- Sachliche Überwindung des Problems am Inhalt des betrachteten Kulturwerks selbst (25). Die Wiederholung im Verlaufe der westlichen Weltkultur und ihre beiden Weltkulturperioden (28). Begriffliches Ergebnis dieser Doppelheit für unsere Gegenwart und die Kulturbetrachtung überhaupt (30). Anmerkung: Asiatischer Kulturverlauf (33). VI. Vereinigung des theoretischen und sachlichen Moments zur prinzipiell vergleichenden Strukturbetrachtung der zwei Weltkulturperioden (35). Die aus ihr begründete einseitig-intellektuelle Vorherrschaft in unserer Epoche (37). Das hierdurch bedingte Hervortreten von Naturwissenschaft und Technik (39) und seine Bestätigung an dem betrachteten Kulturwerk selbst (41).

Inhaltsverzeichnis.

XV

II. Teil. VIL Die historischen Entwicklungsbedingungen der Naturwissenschaft in unserer Weltepoche (43). Ihre philosophische Auswertung und die intellektuelle Kultureinheit (45). Ihre Unzulänglichkeit und die zunehmende Zerklüftung der Kulturfunktionen (46). Charakter der Kulturlage der Gegenwart und die notwendige Unmöglichkeit einer rein geistigen Kultursynthese (48). VIII. Graphisch-systematische Darstellung dieser gegensätzlichen Struktur der Gegenwartskultur (49). Die aus der dargelegten Struktur sich ergebenden Bedingungen und Möglichkeiten zur Gesamteinheit (51). Der Kulturunterbau als Wurzelboden und Vereinigungsgebiet der beiden Wachstumsseiten (53). Hieraus ersichtliche Gesamtkulturbedeutung des technischen Fundaments und dessen jetziger Kulturwert (54). IX. Technik in äußerlicher, populärer und in innerlicher, prinzipieller Kulturhinsicht (55). Diese ihre innere Bedeutung in der früheren Kulturentwicklung und in unserer Gegenwart (57). Produktive Arbeit als synthetische Kulturfijnktion (59) und als die Grundbedingung neuerer Gesamtkultureinheit (61). X. Verwirklichungsbedingungen dieser Kultursynthese in dem Wesen der technischen Arbeitsaufgabe und der hierauf gegründeten Kulturdurchbildungsmöglichkeit (62). Ihre Durchführung im Einzelnen und die Lebenserfüllung (64). Pädagogischer nnd organisatorischer Ausblick (66). Der theoretische Charakter dieser' Aufstellung und ihre Formalbedeutung (65).

III. Teil. XI. Die Voraussetzungen des erörterten Kulturprozesses in Hinsicht auf seine Träger, die Weltvölker (69). Die Beziehung ihrer gegenseitigen Verknüpftheit zu der Problematik der technischen Kultur (71) und die Bedeutung jener produktiven technischen Gesamtaufgabe für die nationale Mannigfaltigkeit und Verflechtung der europäischen Verhältnisse (73). XII. Die Weltstellung Europas und seiner technischen Kultur inmitten des asiatischen und amerikanischen Kontinents (74). Die erhöhte europäische Kulturaufgabe gegenüber der asiatischen und kolonialen Kulturmöglichkeit (78). Ihre zwingende Notwendigkeit und die Gesamtbedeutung jenes inneren Lösungsversuchs der technischen Kultur der Gegen wart (79). XIII. Rückwirkung dieser politisch-kulturellen Weltlage auch auf Europa selbst (80). Die noch einmal gesteigerte Aufgabe seines Mittelteils und die Bedeutung Deutschlands für die stufenweise Lösung (81). Seine innere und äußere Schicksalsaufgabe (82). Die geschichtliche Bestätigung (83) und die Bedeutung seines Werdegangs (85).

XVI

Inhaltsverzeichnis.

XIV. Die naturbedingte Tragik Deutschlands (87), ihre Selbsterkenntnis und ihr Wert (89). Die reine, sachliche Konzentration der höchsten Aufgabe (90) und die Schicksalsrerbundenheit Deutschlands mit der so erweiterten Lösung des Menschheitskulturproblems (91). XV. Die Weltaufgabe für die Völker der Welt-Kulturmenschheit und ihr Widerstreit (93). Die Überwindung in der inneren Erfüllung (94). Die Bedeutung dieser möglichen Verinnerlichung für den notwendig tragischen Ausgang des Kulturarbeitsprozesses (95) und der innere Sieg als einzige Endmöglichkeit der Weltkultur, wie als erhoffte Frucht der technischen Kulturkrisis der Gegenwart (96). Kulturbewußtaein und verzichtende Kulturerkenntnis (98). XVI. Kritisches Nachwort 1920 (99).

Erster Teil. I, IL Die Entwicklungsgeschichte der Menschheit und des Menschlichen in all seinen Auswirkungen läßt sich begreifen als ein Ringen um den Sinn, um Wert, Gesetz und Ordnung ihres Daseins. Die in der Gegenwart so viel besprochene, durchforschte und begründete „Kultur" ist nur ein neueres, bezeichnenderes Wort für diese große Ordnung, diesen inneren Gesamtsinn, den die Menschheit für ihr Leben als ein Ganzes zu erringen trachtet, trachten muß, seit überhaupt dies Leben da ist. Neu an den Bestrebungen der Gegenwart um dieses uralte Problem ist nur die größere, gesteigerte Bewußtheit und die schärfere, gleichmäßigere Durcharbeitung des gesamten Inhaltsreichtums dieser großen Fragestellung. Aufruhend auf dem, ifi erkannten und fortwirkenden Besitz verwandelten, gewaltigen Vermächtnis aller bereits ausgebildeten, einseitig fruchtbaren und wieder abgestorbenen Lösungsformen der Vergangenheit, vermag nun das historische Bewußtsein der ungleich erweiterten und rastlos sich entwickelnden heutigen Gegenwart, wirklich das Leben ihrer ganzen Menschheit von dem weitesten Kulturgesichtspunkt aus einheitlich zu umspannen. In dieser späten Zeit weitgehender Auflösung und Vermischung fester Formen ist auch die letzte Fragestellung nach dem Sinn, von allen einzelnen Bestimmungen (natur- und geisteswissenschaftlicher, sozialer, ethischer und religiöser Art) zur allgemeinsten Fassung fortgeschritten und sucht in dem Kulturbegriff für die formal differenzierte und gesetzmäßig S c h r ö t e r , Die Kulturmöglichkeit der Technik.

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Erster Teil.

greifbar gewordene Totalität menschlicher Ordnungen nun wieder die zusammenfassende und allgemeinste Antwort. Aber auch der Kulturprozeß teilt mit dem Einzelleben jenen schwer erfaßbaren Charakter des Portschreitens, Sichverwandeins, Reifens und Verwelkens, jenes wesentliche Merkmal alles Lebens, das in jedem Augenblick ganz da ist, unerschöpflich, und als Ganzes doch ein unaufhaltsam rastloses Vorüberwandeln ist, sein Sein und Wesen nur im Werden und Vergehen entfaltend. Für den gleichen Widerspruch zwischen der Fülle der unmittelbar erlebten Wirklichkeit und Mannigfaltigkeit und der Unmöglichkeit, die ihr zugrunde liegende, erlebte Einheit auch als Sinn einheitlich, zur gedanklichen Klarheit zu bringen, ließe sich daher vielleicht auch hier die gleiche Lösung finden, wenn statt von irgendwelcher Konstruktion des vielbesprochenen Sinnes der Kultur, nur von der eigenen Selbsterkenntnis der Kulturzeitalter ausgegangen wird. Nicht was Kultur an sich ist, wohl aber was unsere Zeit und Gegenwart als Wesen der Kultur — ihrer Kultur — begreift und ausdrückt, können wir, mitten im Fluß des gegenwärtigen Prozesses und in der ganzen Mannigfaltigkeit der voll lebendigen Realität erkennen. Denn wie im Einzelleben so gibt es auch Selbsterkenntnisse im Großen, die sich in dem Kulturbewußtsein eines Volkes, eines Völkerganzen, ja der Menschheit selbst ausbilden können. Auch der Kulturprozeß, in welchem die umfassendste Einheit des Menschlichen um ihre Wirklichkeit, um Sinn und Ordnung ihres Lebens ringt, erzeugt zu Zeiten ein gesteigertes Bedürfnis nach Zusammenfassung, nach bewußter Überschau und einheitlich geordneter Erkenntnis. Das sich endlos Ausbreitende soll gesammelt, klar bewußt und innerlich durchdrungen werden, so daß sich sein Sinn, der Sinn all der unendlichen Arbeit neu offenbare. Freilich wird auch die tiefstdurchdachte, nach dem Innersten gerichtete Gesamt-* darstellung der Kultur nur dann dem Ziel der Selbsterkenntnis dienen können, wenn in der eigenen Entwicklung des Kulturwachstums die Zeit für eine solche Aufgabe fruchtbarer Selbstschau wirklich da ist, was, wie im E nzelleben, so auch im Entwicklungsgange des Kulturprozesses immer wieder, doch nur an bestimmten einzelnen Reifepunkten sich ereignen kann. Nur dann wird die Selbstdarstellung notwendig sein und auch als Selbst-

Kapitel I.

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einsieht gelingen. Dann aber könnte solch ein Werk auch in sich selbst, in seinen eigenen Resultaten die Gewähr für jenen Sinn und Lebenswert enthalten; in der zeitlichen Gestaltung des in ihm begriffenen Kulturgehaltes kann in und neben dem Ergebnis für die Zeit, wenn anders nicht das Werk verfrüht und unreif unternommen war, vielleicht auch noch Endgültiges für das Erleben und Verstehen der Kulturerfüllung, des Kultursinns überhaupt gewonnen sein —und zwar durch seinen objektiven Inhalt und durch seine eigene Leistung selbst, ganz einerlei, ob jener eigentliche Erkenntniszweck dabei bewußt erstrebt war oder nicht. Vielleicht genügen hier diese Andeutungen, um den Versuch zu rechtfertigen, an der reifsten und reichhaltigsten Kulturdarlegung unserer Zeit, dem großen Sammelwerke der „Kultur der Gegenwart", 1 eine selbständige und immanente Kritik des Kulturinhalts zu entwickeln. Es bedarf dazu keiner der theoretischen Voraussetzungen über Grund und Wesen der Kultur, deren Mannigfaltigkeit sich in den Forschungen und Untersuchungen unserer auch theoretisch so kulturinteressierten Zeit einander widersprechend ausbreitet und sich schließlich im unfruchtbaren Widerstreite der verschiedenen philosophischen Prinzipien und Richtungen verliert. Ein demgegenüber subjektiv und zufällig erscheinendes Ausgehen von dem unmittelbaren Kulturbekenntnisausdruck selbst, wie er in dem umfassendsten Gesamtwerk unserer Gegenwart begonnen ist, erhält seine Berechtigung durch das Bewußtsein, daß das Wesentliche jener theoretischen Erträgnisse auch schon aus dieser großen, eigenen Kulturdarstellung selber sich ergeben werde, und zwar nicht nur als eingereihter, angehäufter Wissensstoff, sondern organisch, als lebendiges Ergebnis dieses Werkes selbst und seiner eigenen inneren Fruchtbarkeit — vorausgesetzt, daß eben dieses Werk gelungen und sein wahrer Zweck erreicht ist. Die Erage, ob diese „Kultur der Gegenwart" doch nur ein bloßes Sammelwerk und damit überflüssig sei, oder ob sich hier tatsächlich das Külturbewußtsein unserer Zeit in einheitlicher Ordnung ausgesprochen habe, wird nur durch die zu erprobende Leistung dieses Werkes selbst beantwortet. 1 „Die Kultur der Gegenwart, ihre Entwicklung und ihre Ziele." Geplant in 4 Teilen und insgesamt 58 Bänden bei B. G. Teubner. (Hiervon erschien bis Kriegsausbruch etwas über ein Drittel.)

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Fast unwillkürlich erinnert es an sein bedeutendstes früheres Gegenstück — an die französische Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts, in deren 35, von 1751 bis 1780 erschienenen Poliobänden das Zeitalter der Aufklärung den theoretischen Ertrag seiner Kultur einheitlich kodifizieren wollte. Auch dies war nicht der erste Versuch, den eine Zeit zu möglichst vollständig geordneter Vergegènständlichung ihrer Kultur- und Wissenslage unternahm, doch der erste wirklich gelingende Versuch der neueren Kulturentwicklung. Die vor ihr schon in den verschiedenen Ländern entstandenen Universalenzyklopädien in alphabetischer wie in systematischer Anordnung, deren Idee sich vom späteren Altertum her über das Mittelalter bis zur neueren Zeit erhalten und allmählich umgebildet hatte, sind sämtlich doch nur Anhäufungen von Wissensmaterie geblieben. Eine überlegene Verarbeitung als größere Gesamtheit, 'ist erst in der Encyclopédie erreicht. Bedeutendere frühere Einzelwerke hingegen, auf die sie sich ausdrücklich bezieht, kommen nur in ganz bestimmter Hinsieht in Betracht, wie B a c o n s Hauptschriften (1620/23) im Stammbaum und der Einteilung der Wissenschaften, oder B a y l e s Dictionnaire (1695/97) in seiner polemischskeptischen Tendenz. Die noch unselbständige, zweibändige englische Cyclopaedia von Chambers (1728) endlich bildete, durch ihren buchhändlerischen Erfolg, lediglich die äußere Anregung für die Verleger des französischen Unternehmens. Daß hier, trotz der Fülle verschiedener Mitarbeiter, eine so lebendige und eindrucksvolle Leistung möglich war, rührt nächst dem Geschick und Genie der beiden großen Herausgeber d'Alembert und Diderot freilich vor allem daher, daß die wissenschaftliche und philosophische Bewegung der neueren Kultur nach dem ungemeinen Aufblühen der mathematischen Naturforschung und der Metaphysik des siebzehnten Jahrhunderts im achtzehnten zu einer ganz besonders weitgehenden rationalen Gesamtverarbeitung gelangt war, die sich als philosophische Kulturbeherrschuhg der Aufklärungszeit vermessen konnte, das von ihr als Vernunft Erkannte auch im Ganzen aller Lebens- und Kulturbeziehungen bewußt einheitlich durchzusetzen. Dabei ist gleichgültig, ob jener Anspruch berechtigt, ob das Erreichte Ausdruck einer steigenden Kulturhöhe oder der beginnenden Zersetzung und Auflösung war. Der Wert der Encyclopédie

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als eines wirklichen Kulturdokuments beruht darauf, daß sie der organische Ausdruck einer einheitlichen Kulturtendenz und -wachstumskraft war, daß ihre Arbeit in das allgemeine Kulturniveau unmittelbar eingreifen und es weiterführen konnte. Denn an und in dieser gemeinsamen Kulturleistung so vieler bedeutenderen Geister der französischen Literatur verwirklichte und sprach sich der intellektuelle Fortgang eines Zeitalters selbst aus, so wie er damals vom Empirismus zu sensualistischem Positivismus, vom Deismus zu naturalistischem Atheismus und Materialismus weiterdrängte, und wie er in der immer schärferen Bekämpfung der religiösen Kulturformen noch einen nachdrücklichen polemisch* n Zusammenhalt gewann. Nur dieser innerlich mit seiner Zeit verknüpfte, aus ihr, mit ihr erwachsene Kulturlebensgehalt der Encyclopédie begründete ihre vorbildliche Bedeutung, trotzdem sie eigentlich den feindlichen Mächten der Staatsautorität erlag — ihr Weiterdruck verboten wurde — trotzdem auch die Bedingungen ihres Entstehens und Gelingens, die relativ einheitlichen Voraussetzungen der Pariser Gesellschäftssphäre, sich so bald schon änderten und ihre einseitig und intellektuell bestimmten Grundprinzipien selbst sich neuen, fremden Fortschrittsmächten gegenüber bald als überlebt erweisen sollten. Es gelang dann nirgends mehr, ein Gegenstück zu jener Leistung aufzustellen, und wenn ihr Einfluß auch bei den Nachbarnationen zur Verbesserung und Umbildung der verschiedenen Enzyklopädien beitrug, so setzte die Entwicklung dieser Werke in allen Ländern doch im Grund den früheren Typus bloßer Wissenshäufung fort. So wenig es auch unserer Zeit an Werken fehlt, die das in anderthalb Jahrhunderten seit dem französischen Versuch so ungeheuer angewachsene Wissensmaterial unserer Kultur wohl zu bewältigen imstande sind, so bedeutet doch kein einziges von ihnen, noch etwa die Vereinigung von allen mehr als bloße Summation und Aufzeichnung des Materials. Erst in dem neu auftretenden Gesamtwerk der „Kultur der Gegenwart" soll nun bewußt zum ersten Male wieder der prinzipielle Kulturgesichtspunkt in den Vordeigrund gerückt werden, als der zentrale Kernpunkt des geplanten ganzen Unternehmens. Es soll nicht allein Wissen übermitteln, sondern seine Darlegung in systematischer Verarbeitung zu dem lebendigen Totaleindruck

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Erster Teil.

al] ihrer sich verkettenden Beziehungen erheben, so daß damit ein greifbarer und tatsächlicher Niederschlag des Selbstbewußtseins unserer Kultur der Gegenwart als eines wirkenden, lebendige» Ganzen gewonnen wäre. Was sonst nur bei bedeutenden und führenden Erscheinungen unter den Einzelwerken zutrifft — daß sie gleichsam wie Zeiger den erreichbaren Kulturausdruck der Zeit an diesem Punkt angeben — ist eine Forderung, die schon an sich für die Darlegung einer größeren Kulturgesamtheit ein Problem bedeutet, insonderheit in der Ausdehnung auf das vollinhaltliche Kulturganze, von welchem nur der Stoff allein, und nur in den verschiedensten Fachenzyklopädien geordnet, vorliegt. Die überlegene Beherrschung eines solchen Ganzen ist durch bloße alphabetische Anordnung einer allgemeinen Enzyklopädie nicht zu erreichen. Das Werk des 18. Jahrhunderts behält zwar noch die alphabetische Einreihung der Artikel bei, doch als die wichtigste Ergänzung stel t es ihnen allen darum eine systematische Einleitung an die Spitze, gleichsam als überlegenes Haupt, als das Organ der Einheit, das die ganze folgende Materie der Artikel selbst durch eine Überschau all ihrer wissenschaftlichen Verzweigungen und gegenseitigen Beziehungen erst ordnen und beherrschen soll. Auf B a c o n s Stammbaum der Wissenschaften zurückgehend, von d ' A l e m b e r t verbessert und von ihm und D i d e r o t erläutert, zeigt diese Eingangslandkarte zur Encyclopédie eine auf Unterscheidung von Gedächtnis, Vernunft und Phantasie, sowie von geistigen und körperlichen Dingen aufgebaute schematische Einteilung und Ubersichtstabelle der Wissenschaften, Künste, Fertigkeiten usw. Dabei sollte dann die enzyklopädische Verkettung dieses Wissensmaterials dadurch gelingen, daß der Leser die Wissenschaft, der ein einzelner Artikel zugehörte, und die hinter dem Stichwort angegeben stand, in der Tabelle aufsuchen und, je nach Stellung und Verbindung zu den übrigen Gebieten, die verschiedenen Beziehungen jenes Artikels zu Artikeln der gleichen oder anderer mehr oder weniger verwandter Wissenschaften selbst herstellen konnte. Freilich ist klar, daß solche Übersichten mehr oder weniger willkürlich sind und eigentlich zumeist nur den architektonischen Ordnungs- und Spieltrieb ihrer Urheber beleuchten. Aber wenn

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auch diese Ordnungstabelle sachlich noch weit vollkommener ausgefallen wäre, so bleibt doch die Art dieser schematisch-theoretischen Vereinheitlichung und abstrakten Gliederung nur ein erdachtes, äußerlich hinzugefügtes, sicher niemals praktisch durchgeführtes Surrogat einer umfassend durchgestalteten lebendigen Einheit der Sache selbst. Die eigentliche Einheit und Kulturbedeutung jener Enzyklopädie wurzelt ja auch in Wahrheit gar- nicht hier, in diesem ihrem noch sehr unzulänglichen Versuch sachlicher Ordnung, sondern vielmehr in dem in ihr offenbarten einheitlichen Geist cler Zeitkultur, in dem sich die Verfasser aller dieser einzelnen Artikel gleichmäßig verbunden fühlten. Damit freilich auch noch nicht in selbsterarbeiteter Leistung, sondern in der einmaligen Gunst mehrfacher und zusammentreffender Umstände, die historisch nur bedingt, begrenzt und rasch vergänglich waren, in keiner Weise aber für das neue Werk des nun beginnenden Jahrhunderts mehr zutreffend sind. Längst ist die relative Kultureinheit jener so ausschließlich rationalen, intellektuellen Aufklärungsbewegung von ganz neuen, fremden und mächtigeren Kulturimpulsen aufgelöst und überlagert worden und aufs neue gilt es nun in einer Enzyklopädie der Gegenwart für die seither rastlos gesteigerte Kulturentwicklung eine tiefer und umfassender begründete Einheit erst wieder herzustellen. Kein D i d e r o t und d'Alembert beherrscht dabei mehr mit genialer Überlegenheit, zugleich als Anordner und .Hauptmitarbeiter, die ungeheure neue sich anhäufende Gesamtheit, auch noch ihrer mannigfach geteilten Darstellung den Stempel seines Geistes aufprägend. Keine einheitliche, angespannt auf ein bestimmtes Ziel gerichtete, gegen eine bestimmte Gefahr sich wendende geschlossene Zeitstimmung kommt, wie damals, einer Fülle von verwandten, gleichmäßig geschulten Schriftstellern entgegen, die halb Künstler, halb Gelehrte, ihren kleinen feingeschliffenen Artikeln selbst bei steigender Auflösung die weltmännisch wohlgefügte Form bewahrten. Fast philiströs pedantisch wirken ihnen gegenüber die schmucklosen, breitausladenden und schwergewichtigen Abhandlungen, aus denen sich die große Kulturübersicht der Gegenwart in systematischem Zusammenhang aufbauen soll, in Bänden und Abteilungen die einzelnen Gebiete weitumfassend aneinander ordnend. •

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Doch eben dieser systematische Zusammenhang zeigt an, daß die Entfaltung des Kulturbewußtseins nicht nur in die Breite, sondern auch in die Tiefe gegangen ist. Der einheitlich gegliederte Aufbau bleibt hier nicht theoretischer Versuch eines Einleitungsschemas, sondern er beherrscht organisch das Gesamtwerk selbst nach seinem ganzen Inhalt. Ja die Folgerichtigkeit und Fruchtbarkeit dieses, das Ganze innerlich verknüpfenden Systems muß hier das wirkliche Gelingen erst beweisen, denn durch sie allein kann sich der neuerreichte Kulturausdruck selbst bewähren: Nicht unterstützt durch zufällige Gunst der Zeitumstände, wird er sich in diesem neuen Werke nur dann verwirklichen, wenn durch die seither fortgeschrittene Entwicklung der Kultur für ihr gereiftes Selbstbewußtsein auch tatsächlich eine neue, tiefere r organische Einheit ihrer Struktur sichtbar geworden ist. Nur dann könnte ihre systematische Darlegung durch sich selbst schon auch diese Struktur und ihr einheitliches Gesetz anschaulich machen. Trotzdem will auch vor diesem Unternehmen die Skepsis nicht schweigen. Und zwar ist es ein ganz allgemeines, unwillkürliches Gefühl, aus dem heraus ein solches Werk, wie jegliche Kulturgesamtdarstellung, problematisch scheinen muß. Die Empfindung von historischer Bedingtheit und von Relativität wird nicht nur beim Erkennen und Beurteilen der Grenzen jenes älteren Versuches der Aufklärung wach, sondern sie richtet sich auch auf das neue Werk der eigenen Zeit und droht den Boden auch unter dem sich vollendenden Gebäude schon wieder zu lockern. Die Begründung freilich dieser Fragestellung wird sich erst ergeben, wenn wir nunmehr den Vergleich zwischen den beiden großen Kulturdarstellungen der Aufklärungszeit und der Gegenwart über die bisher noch allein herangezogenen formalen Verhältnisse ihres Zusammenhangs hinaus erweitern zur Betrachtung auch der inhaltlichen Voraussetzungen und der Bedingungen ihrer Entstehung.

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III. Wieder ist es unter den großen Kulturvölkern Europas nur eine Nation für sich allein, die die Ausdrucksgestaltung der Gesamtkultur der Gegenwart versucht. War es im 18. Jahrhundert Frankreich, so ist es jetzt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts , Deutschland, das zur Lösung dieser Aufgabe die Kräfte seiner eigenen Wissenschaft und Bildung einsetzt und zusammenfaßt. Dieser Wechsel der Nationen ist kein Zufall, sondern in der Folge und Entwicklung unserer Gesamtkultur begründet. Goethe vergleicht die Geschichte der Wissenschaft mit einer großen Fuge, „in der die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorschein kommen". Nirgends trifft dies augenfälliger und zwar auch für die eigentliche und zentrale Kulturentwicklungslinie zu, als in den letzten vier bis. fünf Jahrhunderten des europäischen Kuiturwachstums, so wie es sich seit Ausgang des Mittelalters durch das Ineinandergreifen der vier bedeutendsten modernen Kulturnationen, der italienischen, englischen, französischen und deutschen, als ein Ganzes stetig fortgebildet hat. Diese Periode der mueren Geschichte beginnt mit der allmählich abgeschlossenen Formation der neuen Territoria'- und Nationalstaaten, die sich nach dem mittelalterlichen Ringen in Europa nun selbständig gegenüberstehen und zugleich mit der endgültigen Ablösung der älteren Kulturerbschaften durch ganz neue Elemente der Verarbeitung und eigenen Produktion, wie sie in Renaissance, Reformation und Ausbildung der Naturwissenschaften auf den Hauptgebieten des Gesamtlebens gleichmäßig auftreten. Die Führung dieser neuen Entwicklung hat Italien, das im 15. und 16. Jahrhundert, von L i o n a r d o bis zu Galilei, seine große Kulturblütezeit erlebt. Doch diese glänzenden Anfänge waren weit entfernt, zu dauernder Kultureinheit zu führen. Selbst die hier übermächtige Wachstumskraft der Kunst verwelkte wieder und der kulturelle Rückschlag vollends, der von den älteren, unfruchtbar gewordenen, religiösen Einheitsmächten ausging, traf zersplitternde, staatlich geknechtete und geistig verkümmernde Länder. Die beiden letzten großen Genien, Giordano B r u n o und Galilei, stehen gleich einsamen Säulen am Eingang einer

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hol)ereil Geisteswelt, die zuerst zu betreten einem anderen, kräftigeren, glücklicheren Volk beschieden war. Erst das England des 16. und 17. Jahrhunderts besaß die Kraft, nach dem politischen und künstlerischen Aufschwung seiner elisabethanischen Blütezeit die schweren staatlichen Entwicklungsaufgaben auch der folgenden Zeit durch alle Gefährdung durchzuführen und gleichzeitig auch in der wissenschaftlichen Weiterarbeit die geistige Grundlegung der neuen Welt machtvoll zu fördern, die von Bacon und Hobbes zu Newton, Locke und Hume reicht und sich zu der wissenschaftlichen und religiösen großen Aufklärung des 17. Jahrhunderts verbreitert. Abermals später, gegen Ende dieses Jahrhunderts, reift gleichzeitig die große, politische und kulturelle Blüte der französischen Klassik, und Frankreich, das schon früher zu jener geistigen Entwicklung einen gewaltigen Vorläufer in D e s c a r t e s entsandt hatte, ergreift nun seinerseits im 18. Jahrhundert, in der wissenschaftlich-philosophischen Ausreifung seines- Geistes, auch die Weiterführung des von England Vorbereiteten zur letzten, allgemeinen Fruchtbarmachung. Jenes abschließende Werk der französischen Enzyklopädie begreift sich so als Endprodukt nicht nur der nationalen Kulturreife Prankreichs, sondern der viel weiter reichenden Europas selbst, als einer neuen, sich allmählich aufbauenden, internationalen Kultureinheit. Ein analoger Fortgang dieser Gesamtentwicklung war aus den bisherigen Verhältnissen daher erst zu erwarten, wenn ein weiteres großes Kulturvolk seine höchste Eigenreife als ein neues Element organisch dafür einsetzte.Gerade zu jener Zeit des Hauptaufschwungs', der Hauptgeistesarbeit der beiden westlichen Nationen, lag Deutschland völlig darnieder, obwohl es doch im Mittelalter zweifellos die längste und umfassendste, problemereichste Entwicklung unter den reifenden Kulturen der neuen Welt getragen hatte — auch weit hinein noch in den Anfang jener letzten europäischen Gesamtkulturperiode, die es mit eröffnet hat. Warum diese bedeutenden Neuanfänge im wirtschaftlichen Leben, in der Wissenschaft und Kunst, vor allem aber in der Religion — deren Bewegung hier in Deutschland weitaus die größte Tiefe, ja Angelpunkt ünd Zentrum fand — so bald zur völligen Verkümmerung und zur Verödung verurteilt waren, hat noch vielfältigere Gründe als die

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ähnliche Erscheinung in der späteren Geschichte Italiens. Noch unmittelbarer war der Absturz hier in Deutschland, beschleunigt durch den im dreißigjährigen Krieg besiegelten vollständigen physischen Zusammenbruch des ganzen Volkes und seiner Kultur. Und doch kann das verwüstete, verwilderte, zurückgeworfene Deutschland selbst in der Zeit seiner trostlosen Öde jener gewaltig sich aufringenden Kultur des Westens und der glänzenden Reihe jener Denker von B a c o n bis Locke und von D e s c a r t e s bis Voltaire, einen einzigen, doch überragenden Genius auf diesem Gebiete gegenüberstellen — L e i b n i z , ein Geisterreich für sich, in dessen Arbeit alles Wesentliche des dort Erreichten sich vertieft zusammenfaßt und zugleich eine neue Gedankenwelt voll Ahnungen und Keimen fernerer Entwicklungen auftaucht, wenn auch erst angedeutet, so doch immer schon im innersten und eigentlichsten Kern getroffen und ergriffen. L e i b n i z starb fast ein halbes Jahrhundert vor Erscheinen der französischen Enzyklopädie und ohne daß seine tieferen Ideen in das Bewußtsein auch der Besten jener Zeit hätten eindringen können. Heute erscheint ihr kühnstes Ziel, ihr freilich noch schematischer, mißglückter einleitender Versuch der systematischen Zusammenordnung alles Wissens überhaupt und seiner daraus folgenden demonstrativ enzyklopädischen Entfaltung nur wie ein schwacher Nachklang des ungleich umfassenderen, fast gigantischen Gedankens, mit dem sich L e i b n i z in rastloser Umformung und Höherbildung fünfzig Jahre lang getragen, ohne doch jemals dieses sein philosophisches und wissenschaftliches Testament ausführen zu können: • die von ihm geplante einheitliche Gesamtinventarisierung und Systematisierung alles menschlichen Wissens, der Vergangenheit wie auch der Zukunft; angeordnet in mehrfach sich umgreifenden Enzyklopädien, auf Grund einer bis zu der Abstraktion seiner „UniVersalcharakteristik" getriebenen logischen Auflösung, Aufreihung und rechnerisch geordneten Beherrschung sämtlicher Erkenntnisbegriffe; und ausgeführt von den von ihm gegründeten oder geplanten wissenschaftlichen Akademien bzw. einer von ihm geforderten internationalen Gesamtorganisation dieser aller. Wie eine phantastische Ahnung nur steht dieses Gedankengebäude jenseits des jemals wirklich Erreichten und Erreichbaren.

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Weder die Führer der Encyclopedie, soweit sie überhaupt von Leibniz' Forderungen schon genauere Kenntnis hatten, noch die Gegenwart und Zukunft kann diesem Ideale überhaupt genügen, das trotzdem nicht bloße Utopie zu nennen ist. Ist auch Art und Weise seiner theoretischen Voraussetzung und logischen Einkleidung in der Zeit bedingt und darum längst schon der Vergänglichkeit anheimgefallen, so deutet das Wesentliche dieses Projektes doch eben in die letzte Tiefe der Entwicklungsrichtung, aus der heraus tatsächlich dann die Folgezeit zur reiferen Umfassung und Verarbeitung des ganzen Gesamtkulturproblems gelangt ist — ähnlich wie die speziell philosophischen Entwürfe L e i b n i z ' , die zu ihrer Zeit unwirksam und unverstanden blieben, in wohl anderer und reiferer, doch nur organisch fortgebildeter, vertiefter Fassung dann in K a n t ihre Erfüllung finden sollten. Wie der unendliche, einsame Genius L i o n a r d o s der ganzen neueren Kultlirwelt voranschreitet, voll von Gesichten und Ahnungen des Kommenden, die oft genialer, größer, reicher sind als alles später von der Wirklichkeit Erreichte, so geht wieder Leibniz ihrem letzten, wissenschaftlichen und philosophischen Höhepunkt voraus, sein Zeitalter fast übermenschlich überragend, gleich einer geisterhaften Prophezeiung des noch zu Erwartenden. Diese Tatsache aber, daß so das deutsche Volk, das selbst in den Aufklärungskämpfen tatlos und gleichsam erschöpft beiseite stehen mußte, trotzdem gerade in ihren beiden sich befehdenden und letzthin ungelöst gegeneinander verharrenden Hauptmächten, der religiösen und der philosophisch-wissenschaftlichen, zu Anfang und Ende jener Zeit je einen Genius hervorgebracht hat, der alle analogen Erscheinungen der anderen Völker weit hinter sich zurückläßt: L u t h e r und L e i b n i z — diese Tatsache läßt es begreiflich erscheinen, daß eben Deutschland berufen war, auch im Gesamtgang der Nationen nunmehr seinerseits aktiv und weiterbildend in die große europäische Kulturaufgabe einzugreifen und dort, wo die bisherige Entwicklung über keine neuen höherführenden Kräfte verfügt, nun seine höchste Kulturblütezeit organisch steigernd dafür einzusetzen. Die Prophezeiung L u t h e r — L e i b n i z erfüllte sich zur Fortsetzung der Linie L e s s i n g — G o e t h e — K a n t und Hegel.

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Diese große Kulturblütezeit der klassischen deutschen Literatur, Musik, Philosophie und Wissenschaft hat nicht nur Deutschland in geistiger Beziehung den Vorsprung der vorhergehenden Nationen einholen lassen, sondern sie hat seine Kultur nun ebenso an die Spitze der Gesamtkulturbewegung Europas gestellt, wie vordem diese Wachstumsspitze von der französischen, vor ihr von der englischen und vor ihr von der italienischen Kultur gebildet und genährt war. Die beiden ausschlaggebenden neuen Kulturkräfte, die allen Rationalismus der Aufklärung überwanden— die kritische Erkenntnis und das historische Verständnis — durch deutsche Arbeit für den Weltkulturfortgang zuerst gewonnen, bleiben auch fortan die Angelpunkte der geistigen Gesamtentwicklung der europäischen Kultur, deren Portbildung nur von ihnen aus, durch sie gefordert, zu verstehen und zu begründen ist. Sie sind das Fundament der weiterbauenden Kulturreife im 19. und 20. Jahrhundert nicht nur in Deutschland, sondern ebenso in der Kultur der anderen Nationen. Daher der Unterschied, der sofort zwischen Werken vor und nach der Einwirkung des neuen Geistes, der von Herder bis zu Hegel und seiner Nachwirkung reicht, als zwischen Werken zweier ganz verschiedener .Welten des Verstehens fühlbar wird. Selbst Rousseau steht, trotz seines Protestes gegen seine Zeitkultur, noch durchaus unter der Form ihres rationalistischen Konstruktionsideals, wie es sich, selbst während der Revolution schon, noch einmal in Condorcets Abhandlung (Des progrès de l'esprit humain) kund gab — jener einseitig intellektuellen Entwicklungsauffassung, der erst Herder und dann die große deutsche Bewegung aus ganz anderen, organisch-schöpferischen Tiefen her gegenüber trat. In Deutschland entstanden, durchgebildet und vollendet, dehnte sich die Bewegung dann erst auf die Geistesarbeit auch der anderen Nationen aus, und so hat Deutschland denn auch die historische Berechtigung, den ersten Versuch der geistigen Zusammenfassung unserer neuen, jetzigen Gesamtkultur nunmehr allein, mit eigenen Kräften zu unternehmen. Vor den anderen ist die deutsche Nation dazu berufen durch die Stellung ihrer Reifezeit am Endpunkt der bisher erwachsenen Gesamtkultur Europas. Als letztes, abschließendes Glied dieser Entwicklung der bisherigen Gesamtarbeit hält sie die Fäden

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gleichsam noch aus erster Hand in ihrer eigenen, ihrer organischen Zusammenstellung und gleichmäßig beherrschten Darlegung am ehesten schon mächtig. Dies ist das bestätigende Moment in der Bewertung und Beurteilung jenes gerade von Deutschland ausgehenden Versuchs einer theoretischen Kultursynthese und Gesamtdarlegung der „Kultur der Gegenwart". Daneben steht ein weiteres, einschränkendes und problematisches, das neue Fragen aufsteigen läßt und jene schon erwähnte Skepsis neu begründet: Es ist die Tatsache, daß diese letzte große Kulturblütezeit, die deutsche Klassik, auch schon für uns selbst wieder historisch und Vergangenheit geworden ist. Auch Deutschland steht nicht mehr in ihr als einer gegenwärtigen Bewegung seiner eigenen Geschichte, sondern steht ihr mit und neben den anderen Nationen als einer abgelaufenen Bewegung gegenüber. Eine internationale Gesamtdurchbildung und Gesamtarbeit hat seitdem eingesetzt, und wenn auch Deutschland selbst noch am vertrautesten, unmittelbarsten mit jener großen geistigen Vergangenheit zusammenhängt, so steht es selbst doch ebensowenig mehr in jenem höchsten, schon durchlaufenen Scheitelpunkte seiner Bahn, wie Frankreich, England und Italien. Dies aber bedingt nun für den deutschen Geist eine selbständigere und bewußtere Einstellung zu der eigenen Vergangenheit und ihren Nachwirkungen in der Gegenwartskultur — vor allem auch zu der kulturgeschichtlichen Betrachtung, Forschung und Erkenntnis selbst. Die durch Distanz gewonnene, gereifte historisch-genetische Kultureinsicht richtet sich mit geschärftem Selbstbewußtsein auch auf sich und sieht vorerst nur Fragen, wo die klassische Ansicht der Antwort noch gewiß war. Nirgends wird dies deutlicher als an der kritischen, gerade heute wieder neu lebendigen Vergegenwärtigung des größten geschichts- und kulturphilosophischen Versuches jener Zeit, des He gelschen Systems, mit seiner bis dahin unerreichten Fähigkeit historischen Verstehens und begrifflicher Bewältigung und Ordnung von Kulturerscheinungen. Typisch drückt sich in ihm das Bewußtsein der erreichten Höhe und einer Kulturendlage aus, die noch uneingeschränkt das Recht hat, sich als letztes, höchstes Reife-

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Stadium zu empfinden, ohne daß ihr eigenes Entwicklungsprinzip sie schon zur Relativität verdammen könnte. Sie eben befindet sich in jenem Scheitelpunkt, von welchem ab ein analoger Fortschritt wie bisher nicht weiter möglich ist. Erst für die neu einsetzende Gesamtfortbildung der nunmehr gleichmäßig neben und aufeinander wirkenden, gleich reifen Hauptkulturen wird die Relativität, die auch die frühere Lösung nun zerstört hat, wieder deutlich zum Problem, und von der breiteren modernen Basis gleichberechtigter, zusammenwirkender Nationen wird auch die sehr bedingte Absolutheit jenes älteren Versuches iö seinen Voraussetzungen verstanden. Welche Wandlung zeigt allein schon der Entwicklungsbegriff selbst, mannigfach verschieden in den Einzelländern, von St. S i m o n und C o m t e bis zu B e r g s o n , von S p e n c e r und D a r w i n bis J a m e s , von M a r x und F e u e r b a c h bis zu H a r t m a n n und N i e t z s c h e , und wiederum von L o t z e bis zur wissenschaftlich-philosophischen Verarbeitung der Gegenwart. Dabei ist gleichzeitig auch die Materie der kulturphilosophischen Besinnung problematischer geworden, da die von der deutschen Klassik ausgehende Reihe der Begründer der historischen und Geisteswissenschaften, die von H u m b o l d t , N i e b u h r , Wolf und Grimm bis zu R a n k e und M o m m s e n reichte, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich erschöpfte, ohne schon den Anschluß an die neue theoretische Verarbeitung zu finden. Der Einfluß der mächtigen Entwicklung der Naturwissenschaften und Technik, deren prinzipielle Auswertung indes, nach Überwindung mancher oberflächlicher Entgleisungen, mit der erkenntnistheoretischen Hauptlinie der Philosophie wieder zusammentrifft, drang hier gerade noch mit unreifen und unberechtigten Verallgemeinerungen auch in kulturtheoretische Gebiete ein, um die hier schon bestehende Unsicherheit noch durch ganz fremdartige Widersprüche zu verwirren. Während so sachlich notwendig das betrachtete Problem in dem verflochtenen Kulturgang der Nationen neu heraufsteigt und auf die Fragen der entstehenden Gesamtkulturen Antwort fordert, findet es für seine theoretische Bewältigung den unentschiedenen Kampf verschiedenfachster, erst allmählich reifender, einander widersprechender Grundlagen und Prinzipien. Dies ist nur die historische Erklärung der schon eingangs angeführten theoretischen

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Kulturbewegtheit und Kulturunsicherheit der Gegenwart, die selbst vor einer sich vollendenden, gelingenden Gesamtdarlegung der „Kultur der Gegenwart" sich den berechtigten Zweifel erheben läßt, ob überhaupt ein solches Unternehmen in dem Fluß des ständig weiter drängenden Kulturprozesses noch von Wert, ja nicht in sich schon widersprechend sei. Denn ein bloßes relatives Augenblicksbild, ohne Halt und dauernde Bezüge, nur wie eine Welle in dem Strom vorübergleitend und in nächster Zukunft überholt, Vergangenheit geworden wie die anderen Versuche vor ihm — dies scheint keiner Arbeit wert zu sein. Unser Interesse an dem neuen Werke wird sich daher vor allem darauf richten, inwiefern seine Darstellung aus sich selbst heraus diese Gefahr der Relativität zu überwinden weiß, die der historische Rückblick als nächstes Problem gezeigt hat — und zwar, entsprechend seiner doppelten Bedeutung, sowohl sachlich durch den Inhalt selbst zu überwinden weiß, als auch formal und theoretisch durch die prinzipielle Stellungnahme, die mitten im vielfältigen Widerstreit moderner Wissenschaft, hier in ihm zu erreichen möglich war. Es sind gleichsam rechtfertigende erste Lebensfragen, deren Antwort auch das noch nicht abgeschlossene Werk jetzt schon enthalten kann. Da uns die inhaltlich-sachliche Seite dieser Fragestellung dann in den Fortgang unserer gegenwärtigen Kultur selbst führen wird, sei in dem folgenden Abschnitt zuerst ihre formale, theoretische Beantwortung erörtert, für die schon eine Stichprobe aus dem prinzipiellen Teil des Werkes genügt, um dann den späteren und sachlichen Zusammenhang nicht mehr zu unterbrechen.

IV. Wir finden die erforderlichen systematischen Erkenntnismittel dieses Unternehmens naturgemäß im ersten, geisteswissenschaftlichen Teil des Gesamtwerkes, der, nach Religion, Philosophie, Dichtung und Kunst geordnet, die spezifisch geistigen Kulturerträgnisse zusammenfaßt, speziell in der zweibändigen philo-

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sophischen Abteilung, die intellektuelle Seite des Kulturbewußtgeins. Die hier gegebene begriffliche Verarbeitung seines Gehaltes liefert auch die ordnenden Prinzipien seiner Überschau und Gliederung. Schon der Verlauf der philosophischen Entwicklung und Geschichte, den der erste Band dieser Abteilung von den Anfängen bis zu der jüngsten Gegenwart verfolgt, zeigt eine steigende Tendenz der Selbstbesinnung der Philosophie, von dem anfänglichen Umfassenwollen des Gesamtgehalts des Lebens immer mehr zu dem Ergründen und Erkennen seines inneren Zusammenhanges fortzuschreiten, wie er sich am eindrucksvollsten und reichhaltigsten in dem Kulturgefüge offenbart. Noch in der ersten großen Periode der europäischen Kultur hat die Philosophie in ihrer griechischen Ausbildung an der Forderung festgehalten, die einheitliche Erzeugerin und Herrscherin der menschlichen Kultur zu sein, in Kampf und Widerspruch mit der gleich unerfüllbaren, gleich ungerechtfertigten Forderung der Religion, welch letztere in den ermattenden Ausgangsjahrhunderten des Altertums den Sieg davontrug. Als aber die philosophische Entwicklung in der neuen Weltkulturepoche, nach der langen Abhängigkeitsperiode des Mittelalters wieder selbständig geworden, auf Grund der großen neuen Errungenschaften der naturwissenschaftlichen Arbeit das alte Erbe zu einem zweiten Höhe- und Gipfelpunkt umbildete, da bestand gerade ihr wertvollster Fortschritt in der, nach den neuen kühnen Anläufen zum alten Ziel, endlich errungenen Selbstbeschränkung dieses absoluten Herrschaftsanspruchs der Metaphysik zugunsten einer bloßen, doch gesicherten, begründeten Erkenntnis der Funktionen "und des systematischen Zusammenhangs der menschlichen Kultur — in welcher Einschränkung doch all die reifen Resultate und Hoffnungen der früheren Zeit geklärt mit einbeschlossen lagen. In diesem Sinne verfolgt auch der berufenste Darsteller, Wilhelm W i n d e l b a n d , in unserem Werk die neuere Philosophie von ihren Grundlagen und ersten Schritten bis zu ihrer sich vollendenden zentralen Zusammenfassung in den hier geradezu kultur-vernunftkritisch genannten Werken Kants-, und über ihre Umbildung, Verarbeitung und Ausbreitung der Folgezeit bis zu der neuerlichen Arbeit unserer Gegenwart, die diese Bestrebungen S c h r ö t e r , Die Kulturmöglichkeit der Technik.

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in der von D i l t h e y aufgestellten „Aufgabe einer Kritik der historischen Vernunft" zusammenfaßt und der abschließenden Gtesamtlösung entgegenführen will. Es ist ein günstiges Zusammentreffen, daß dieser letztgenannte unter den großen Denkern unserer Zeit — der eindringendste Kenner unserer geisteswissenschaftlichen Vergangenheit wie der hier zu erforschenden Kulturzusammenhänge — mit seinem .eigenen Beitrag dann die systematische Zusammenfassung einleitet, als welche nun der zweite Band der philosophischen Abteilung es versucht, den wesentlichen Ertrag und Stand der Gegenwart in den philosophischen Einzeldisziplinen darzustellen. Gemäß der erst in der Arbeit begriffenen und vielfach noch in sich geteilten Bemühung dieser Gegenwart ist es begreiflich, daß ihr wertvollstes und hauptsächliches Resultat "gerade schon in dieser einleitenden, programmatischen Überschau hervortritt, wie sie D i l t h e y hier, ausgehend vom Philosophiegeschichtlichen, jedoch endend im Systematisch-Prinzipiellen, über Zusammenhang und Gliederung einer einheitlichen Gesamtkulturfunktion darlegt. Diese Prinzipien D i l t h e y s stehen, als in dem geisteswissenschaftlichen Zusammenhang gegründet, auch der Philosophie äls solcher überlegen gegenüber, die hier als eine der Kulturfunktionen unter anderen, vielfach miteinander in Beziehung stehenden begriffen wird. Darum wird, nach deT einleitenden Andeutung dieses noch allgemeineren Zusammenhangs, die in dem ersten Teil der Abhandlung gegebene historische Durchmusterung der philosophischen Systeme ganz von selbst zu einer kritischen Auflösung der — vornehmlich metaphysisch formulierten — absoluten Forderung der theoretischen Philosophie, aus sich heraus die Ordnung und Beziehung der Kulturprinzipien und Funktionen herzustellen und ihre Beziehung zu bestimmen.. Weder diese noch die neueren, unmetaphysischen Bestimmungen der Philosophie vermögen mehr als ein jeweiliges, einzelnes Moment, einen einzelnen Standpunkt, aus dem Wesensbegriff der Philosophie selbst auszusondern, geschweige daß ihre lückenhaften Konstruktionen den tieferen Zusammenhang ersichtlich machen könnten, der alle diese Standpunkte gleichmäßig, sowie auch die verschlungenen Beziehungen der philosophischen zur künstlerischen und religiösen Aufgabe umgreift. Der allgemeinere historische Gesichtspunkt, der seine

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Überlegenheit durch diese Leistung dartut, begreift hingegen die Philosophie als vielgestaltige Punktion der menschlichen Kultur, und jeder Relativität entgeht er seinerseits durch die Erkenntnis des in sich gegründeten, in sich zentrierten Zusammenhanges der Kulturfunktionen überhaupt, wie ihn der zweite Teil der Abhandlung als selbständige Formen- und Erscheinungslehre des Kultursystems entwickelt. Diese Kulturlehre, in der wir hier den reifsten theoretischen Ertrag der geisteswissenschaftlichen Gebiete des Gesamtwerks sehen, geht aus von der Strukturanordnung des im Individuum wie in der menschlichen Gesellschaft sich betätigenden Lebens und Lebenszusammenhangs. Hinter diesen strukturellen Zusammenhang, dessen Auswirkungen in der Gemeilischaft und im Individuum sich wechselseitig stützen und verketten, vermag das Denken nicht zurückzugehen, da es ja selber nur ein einzelnes Moment in eben diesem Zusammenhang bedeutet. Eine Zurückführung seiner Verhältnisse auf scheinbar noch einfachere Prinzipien beruht auf Selbsttäuschung, da die Verhältnisse des seelischen Zusammenhangs, wie sie in jedem neuen Erlebnis eben nur erlebt, so auch im Ausdruck durch nachtastende Beschreibung nur bezeichnet, nicht aber erklärt werden. Unabhängig vielmehr von den Gesetzmäßigkeiten, die an den Vorgängen des Seelenlebens, wie im Naturverlauf sonst auch, wissenschaftlich festgestellt, durch Abstraktion vereinfacht und so in verschiedenem Grade weiterhin erklärbar werden, sind diese seine Vorgänge auch immer noch als Teile zum Zusammenhang des Seelenlebens vereinigt, und zwar verbindet dieser Zusammenhang, diese „Struktur" die seelischen Tatsachen von verschiedener Beschaffenheit doch einheitlich und wechselseitig zu einer inneren, erlebbaren Beziehung und Anordnung. Jene letzten, aufeinander nicht zurückführbaren psychischen Verschiedenheiten sind von jeher schon als solche anerkannt und roh zunächst als Vorstellen (Denken), Fühlen (Empfinden), Wollen (Tun) charakterisiert worden. D i l t h e y unterscheidet gegenständliches Auffassen (Wirklichkeitserkenntnis), Wertbestimmung (Lebenserfahrung), Regelgebung (Zwecksetzung) und findet die Grundform und das Schema ihres Zusammenhangs in der 2*

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Bedingtheit des psychischen Lebens durch die Umwelt und in seiner zweckmäßigen Rückeinwirkung auf dieselbe. Vielleicht noch glücklicher und einfacher umschreibt Simmel mit einem gleichfalls physiologischen Bilde das Schema jener Anordnung als Proportion des Zentripetalen (aufnehmend das Äußere dem; Innern vermittelnd), Zentralen (verarbeitend das so Erhaltene geistig umformend und besitzend) und Zentrifugalen (sich äußernd, Inhalte und Kräfte in die Welt entladend). Wichtiger jedoch als solche verschiedenartig möglichen Versuche bildlicher Umschreibung ist das Innewerden jenes immer neu sich wiederholenden Lebenszusammenhanges selbst, der nicht nur in der seelischen Gesamtheit, sondern auch in jeder ihrer grundsätzlich verschiedenen Funktionen selber schon sich auswirkt und jeden Moment des Seelenlebens mannigfach verknüpft erfüllt. Denn dadurch, daß diese Grundform psychischer Anordnung, als Wechselbeziehung und Vermittlung zwischen Aufnahme und Auswirkung, nicht nur zu eigenen Funktionen differenziert ist, sondern auch jede einzelne schon selbst mit aufbaut, ist ein gesteigerter und in sich selbst verflochtener Prozeß bedingt, der in dem Seelenorganismus gleichsam von Pol zu Pol verläuft und der in der lebendigen, teleologischen Entwicklung seinem stetigen und immer neu errungenen einheitlichen Ausgleich zustrebt. Diese nach Ausgleich ringende Entwicklung ist nichts anderes, als die hervorgehobene Struktur — in „Tätigkeit gedacht". „Aus der Struktur des Seelenlebens entspringt seine Entwicklung." Die nur durch Abstraktion isolierbaren Individuen bilden nun in Wirklichkeit in dem gemeinschaftlichen Leben Gesellschaft und Geschichte, und es erscheinen daher ganz analoge strukturelle Regelmäßigkeiten auch in diesen sozialen Gebilden, die aus den sich betätigenden strukturierten Individuen hervorgehen. Bei all der unendlichen, äußerlich bedingten, historischen Mannigfaltigkeit „entstehen doch aus der immer gleichen Struktur des Lebens dieselben Zweckzusammenhänge", die nunmehr als „System der Kultur" in ihrer Gesamtheit und in ihren gegenseitigen Beziehungen die grundsätzliche Anordnung des seelischen Zusammenhanges widerspiegeln.

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Wie in dem letzteren sich gegenständliches Wirklichkeiten auffassen im Denken und zielsetzende Zweckbestimmung im Wollen als Pole gegenüberstehen und doch in ihrer einfachen, elementaren Lebensleistung selbst unmittelbar verbunden sind, so erstreckt sich auch die menschliche Kultur von den Systemen der Wirklichkeitserkenntnis und -Verarbeitung (den Wissenschaften und all ihrer Auswirkung, Zusammenfassung und Differenzierung) „bis zu dem Inbegriff derjenigen ihrer Systeme, in denen sich die Willenshandlungen zusammengefaßt und differenziert haben" in Wirtschaft, Recht, staatlichen Ordnungen, Naturbeherrschung usw. Und wie zwischen vorstellenden und begehrenden Punktionen ein relativer Ausgleich mitten inne steht in dem bewertenden Gefühl, in der Empfindung der Bedeutsamkeit und der Lebenserfahrung, so zeigt auch die Kultur zwischen der Spannung der Erkenntnis und des Willens, zwischen dem „Logischen" und „Ethischen", ein Mittelreich gelösteren und zugleich inniger in sich geschlossenen Lebens — die künstlerische Tätigkeit, die ihrerseits aufnehmende Daseinserfassung und schöpferische Willenshandlung unmittelbar vereinigt, von dem allerersten, primitiven, mythologischen Empfinden an bis zu der ganzen Mannigfaltigkeit der ausgebildeten Reiche der Kunst und ihrer höchsten Schöpfungen. Immer ist hier das ganze Leben in seiner innersten Bedeutung gegenwärtig und jede Einseitigkeit des bloß logischen wie des bloß ethischen Bedürfnisses scheint zu seltsam geheimer, einheitliche! Erfüllung aufgehoben. Wie aber schon die vorstellend-erkennende wie auch die wollend-zweckbestimmende Funktion jeweils auch selbst notwendig mit den Elementen der ihr gegensätzlichen Funktion verbunden ist und darum auch das ganze Leben von sich selber aus jeweils zur Einheit zu erfüllen trachtet, so läßt diese eigentümliche, sich steigernde Verflechtung auch im System der menschlichen Kultur die beiden Gegenseiten nach dem Einheitsziel der Allunifassung und -Vollendung drängen. Neben jenem künstlerischen Gipfel erheben sich daher von beiden Seiten gleichberechtigt, mit gleichem Anspruch Philosophie und Religion. Die erstere als zur Einheit des Lebens erweiterte Absolutierung des gegenständlichen Verhaltens, die letztere als analoge Krönung und Erfüllung willensmäßiger Zusammenhänge und ihrer Konzeption zur Einheit. Sie

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beide wurzeln so in grundverschiedenem Boden, bedürfen jeweils auch der Wesenskräfte ihres Gegensatzes und streben letzthin doch zum gleichen Ziel, das auch vom Scheitelpunkt der Kunst aus seinerseits zugänglich schien. So wirkt sich hier noch einmal jenes seelische Strukturverhältnis als Kulturanordnung aus: „Religion, Kunst, Philosophie, sind so gleichsam eingeschaltet in die unerbittlich festen Zweckzusammenhänge von Einzelwissenschaften und von Ordnungen des gesellschaftlichen Handelns. Sie stehen so, unter sich verwandt und doch nach ihrem geistigen Verfahren sich fremd, in den merkwürdigsten Beziehungen." Sie „haben eine gemeinsame Grundform, die in die Struktur des Seelenlebens zurückreicht" und sie wiederholen zugleich diese Grundform im Verhältnis ihrer wechselseitigen Beziehungen. Dadurch ist eine letzte Analogie zum Seelenleben bedingt, denn aus den gleichen Gründen wiederholter und gesteigerter Verflechtung entsteht, wie dort in der Persönlichkeit, so auch hier im Kultursystem ein Einheitstrieb und eine nach Ausgleich ringelnde Entwicklung, deren Notwendigkeit nur der lebendige Ausdruck jener Strukturanordnung ist. Aus ihr wird eine eigentümliche und letzte Problematik aller Kunst verständlich wie auch der Gegensatz und Kampf der philosophischen und religiösen Lebens- und Kulturausbildung und -belierrschung, Denn „es liegt der furchtbare Ernst der Religion und Philosophie darin, daß sie den inneren Zusammenhang, der in der Struktur unserer Seele von der Wirklichkeitsauffassung zur Zwecksetzung geht, in seiner objektiven Tiefe erfassen und aus dieser selber das Leben gestalten wollen. So werden sie zu einer verantwortlichen Besinnung über das Leben, welches eben diese Totalität ist . . . Innig verwandt, wie sie so sind, müssen sie sich, eben weil sie dieselbe Intention der Gestaltung des Lebens haben, befehden bis zum Kampf um ihr Dasein." Diese Erkenntnis der Strukturanordnung der Kultur ist mehr als nur ein Schema der Übersicht der ineinandergreifenden Kultursysteme; sie eröffnet ein Verständnis für Wesen und Ablauf des Kulturvorganges selbst. Es bedarf nur dieser letzten Erweiterung und Übertragung der Strukturbetrachtung von dem systematischen auf den genetischen Gesichtspunkt, um hier im Werden und Ver-

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gehen, in den Formen der lebendigen Entwicklung die tatsächliche Auswirkung der dargelegten Beziehungen anzuerkennen. Gerade jene tiefste, unerbittliche Bewegung, die als die eigentliche Seele das Leben der nach Einheit ringenden Persönlichkeit wie des Kulturwerdens beherrscht, wird so dem Wesen und ihrer Notwendigkeit nach auf bestimmte, gesetzmäßige Verhältnisse beziehbar als der einheitliche Ausgleichsdrang, der aus der Spannung der Strukturanordnung sich erzeugt und weiterhin aus ihr bestimmbar bleibt. Denn diese letztere ist ja der eigentliche Grund, daß überhaupt von einer einheitsuchenden Bewegung des lebendigen Prozesses gesprochen werden kann, daß sich sein Ziel mit diesem einen Wort der Einheit wenigstens umgreifen und bezeichnen läßt, weil es gleichsam nur die formale Grundbedingung ausspricht, unter der „Struktur in Tätigkeit", und d. h. als Entwicklung möglich ist. In dem formalen Charakter dieser Betrachtungsweise liegt ihr eigentümlicher Wert. Sie beansprucht keineswegs als die Erfüllung oder Beantwortung der Kulturerforschung angesehen zu werden, wohl aber kann sie als Grundlage und Wegweiser für eine solche dienen. Denn wie in Leben und Entwicklungsgang der Einzelpersönlichkeit das Eingen um die eben ihr so notwendige Einheit gleichsam die Strukturlinie bezeichnet, um die sich die erkämpften Inhalte des Lebens ordnen und in eine ganz bestimmte, innere Beziehung setzen, so beleuchtet auch im Werden und Vergehen einer Kulturgesamtheit die aus der Struktur gewonnene Erkenntnis ihres Ausgleichsringens eine innere Formalbedingung ihrer einheitlich verketteten Erscheinungsfülle, und auch hier wird gleichsam die „genetische Strukturlinie" gezogen werden köiinen zur Erklärung ujid Vereinfachung des Ablaufs, des Zusammenund Gegenwirkens seiner großen geschichtlichen Perioden, Strömungen, Entwicklungsfolgen und -epochen. Ihr frei i}mflutendes Gestaltenchaos soll durch eine solche formale Linie noch nicht selbst begriffen, wohl aber doch geordnet uiid einheitlich überschaubar werden, so daß nach dieser prinzipiellen Orientierung jede Forschung unabhängig sich ausbreiten kann. So ist also zunächst auf dem formalen, theoretischen Gebiet, in der Methode der Kulturerfassung hier in dem Gesamtwerk jenes In-sich-selbst-gegründet-sein erreicht, das als ein erstes Er-

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fordernis einer der Relativität enthobenen Kulturanschauung sich gezeigt hat: Es kann tatsächlich, dem Prinzip nach, ein Gesamtbild der Kultur der Gegenwart erfaßt werden, weil der ihr eingeborene Strukturzusammenhang, der das Kulturverhältnis trägt, in seiner systematischen Anordnung darstellbar und theoretisch greifbar ist. Die Strukturordnung als inneres Gesetz des Kulturvorgangs läßt denselben als in jeder Gegenwart in sich zentriert und daher von der gleichen Bedeutsamkeit erscheinen, und zugleich ist das Gefüge dieser Ordnung, als unmittelbare seelische Realität, geistiger Darstellung und Untersuchung zugänglich. So bestätigt auch, wie sich noch ausführlicher zeigen wird, die Einteilung dieses Gesamtwerks selbst die in ihm abgeleitete Strukturerkenntnis, sowohl in seinem ersten Teil für sich, der eben nach Religion, Philosophie und Kunst geordnet ist, wie auch in dem Verhältnis der Hauptteile zueinander. Eben der innere und systematische Zusammenhang des Ganzen ermöglicht das Erfassen einer gegenwärtigen Kulturgesamtheit. Ein solches „Querschnittsbild", wie wir ein derartig gewonnenes Verzeichnis der in sich geordneten, auf sich bezogenen Kultur der Gegenwart wohl nennen könnten, erfordert freilich noch seine Ergänzung durch den zeitlichen Zusammenhang, als ein Verlauf von der Vergangenheit zur Zukunft hin verstanden, so wie ja auch im obigen schon eine Übertragung der Strukturbetrachtung von dem systematischen auf den genetischen Gesichtspunkt hin gefordert wurde. Doch dieses letztgenannte, an sich rein formale Prinzip ist weit davon entfernt, den zeitlichen Kulturverlauf nun, in der Art der früheren naiven Konstruktionen, aus sich selbst hervorgehen lassen zu können. Es dient nur der Ordnung und dem Verständnis des Entwicklungsganges, als ein Verbindungsglied zwischen dem zeitlichen und systematischen Zusammenhang, die erst vereinigt ein vollständiges Kulturverstehen bedingen. Allein der Inhalt jenes zeitlichen Kulturverlaufes muß, hiervon ganz unabhängig, selbst gegeben sein in der sachlich-empirischen Feststellung der Geschichte. So tritt neben die systematisch-theoretischen Prinzipien unseres Kulturwerks nun noch eine zweite, andere Forderung an seinen sachlichen, historischen Gehalt, der in sich selbst zum zweitenmal und von anderer Seite das Problem der Relativität

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zur Lösung stellt. Erst nach erlangter Klarheit auch über diese Frage und ihre dort erreichte Lösung (die der nächste, unabhängig vorgehende Abschnitt zu gewinnen sucht), wird dann im folgenden durch die Vereinigung der bisher noch getrennten Gesichtspunkte die erste zusammenfassende Antwort bezüglich der Bedeutung und des ersten Resultats unseres betrachteten Kulturwerks sich ergeben.

V. Die Schwierigkeit jeder entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung liegt darin, daß ihr Prinzip sich gegen sie selbst zurückwendet und ihre eigene Gültigkeit, als ein nur von der Zeit Bedingtes und Geborenes, in Frage stellt. All unsere Einteilungen und überschauenden Erkenntnisse bisheriger Kulturentwicklung wären eben unsere Ansicht, unser Eindruck, für unsere Nachkommen nur noch historisch interessant, doch ohne jeden objektiven Wert weder für Späterkommende noch für uns selbst. Und doch geht aller lebendige Zweck dieser aus der Vergangenheit geschöpften Kultur.erkenntnis unserer Gegenwart sehr objektiv auch auf die Zukunft, deren Gestaltung ja das Ziel unserer Arbeit, unseres Wollens ist, und darum fordern wir mit Recht von unserem Wissen, daß es mehr als bloße Meinung sei, daß es sich objektiv auch an der Wirklichkeit bewähre und dauernd seinen Zweck erfülle. Trotz aller aufgewandten Arbeit ist ein Werk rückschauender Kulturerkenntnis von dem Fluche unfruchtbarer Sinnlosigkeit nur dann befreit, wenn seine „Gegenwart" mehr ist als irgend eine Welle unter ungezählten andern, gleichen, gleich vorübergleitenden; wenn die von seinem Standpunkt aus gesehene Gliederung und Ordnung der geschlossenen Strömungsfolge mehr ist als ein subjektiver und nur von der Zeit bedingter Eindruck, dem beliebig viele spätere und ähnlich subjektive folgen mögen, ja dessen Anfangsteile schon wieder veraltet, überholt und unnütz werden können, ehe der Schlußteil ganz vollendet ist.

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Kein Erkennen vermag aus diesem Zirkel der vernichtenden Relativität herauszutreten, solange die vergangene Reihe des bisherigen Kulturgeschehens nur eine einsinnige und zusammenhängend fortschreitende Entwicklung darstellt. Aus ihrem einheitlichen, wenn auch bald langsameren bald schnelleren Verlauf kann keine „Gegenwart" das Recht zu ihrer eigenen, objektiven Abgrenzung und Einstellung entnehmen, da sie selbst ein Glied dieses Verlaufes bleibt, der seinerseits nur hypothetisch zu erkennen und namentlich in seiner Fortsetzung zur Zukunft nur aus völlig unbeweisbaren und unsicheren Analogien zu konstruieren ist — obwohl doch andererseits dieser Portgang das einzige Gesetz der angenommenen, sich steigernden Entwicklung ist, die wiederum ein jegliches gewonnene Prinzip zur bloßen Relativität herabdrückt. Diesen Schwierigkeiten wäre die Kulturerkenntnis unserer Gegenwart nur dann enthoben — und eben damit auch der Gegenwartsbegriff der Relativität entzogen —, wenn die bisher übersehbare Kulturentwicklung ihrem Wesen nach tatsächlich nicht ein solches unaufhörliches Ansteigen zeigte, das von unbekanntem Anfang immer höher nur zu einem unbekannten und in unbekannter Ferne sich verlierenden Schlußziel hinführte; sondern wenn vielmehr von dieser unserer Gegenwart, als dem Gegebenen und Bekannten, weil von uns unmittelbar Erlebten, ausgegangen werden könnte und wenn dessen Wesen, sei es ganz oder teilweise, an irgend einer Stelle des Vergangenen aufgefunden werden könnte; mit anderen Worten, wenn die Gegenwart, in ihrer wesentlichen Stellung, als die Wiederholung von, dem Wesen nach, schon einmal Dagewesenem, dereinst Geschehenem erschiene. Dann nämlich würde das Erkennen von Gegebenem, dem eigenen Erleben selbst Zugänglichem, ausgehen und von ihm aus jenen Punkt vergangenen Geschehens erst verstehen können, dessen rückschließender Ertrag dann wieder der Erkenntnis, Würdigung und Klärung unserer Gegenwart zugute käme. Aus der sich unablässig selbst berichtigenden und steigernden Wechselwirkung dieser beiden Momente, des Erlebens und Verstehens, würde sich für das Erkennen der gesuchte objektive Punkt ergeben, von dem sichere Prinzipien weiterführten und dieser feste Grund der wiederholten, im Vergangenen wiederaufgefundenen Wirklichkeit enthielte auch die Möglichkeit zu einer sich auf ihm allmählich, doch

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gesichert, aufbauenden Auffassung und Einteilung aller Vergangenheit und Gegenwart als eines lebendigen, organischen Geschehens. Das Leben und sein Verlauf besäße dann den eigenen Mittelpunkt jeweils schon in sich selbst, anstatt ihn in dem öden Schema einer inhaltlosen — weil nach einem unbekannten Ziel hin gehenden — stetigen Entwicklungsfolge doch in Wahrheit nur zu verlieren. „Kultur der Gegenwart" — dies Wort bedeutete dann, daß das Gegenwartsproblem schon einmal auch in der Vergangenheit gestellt und durchgelebt zu finden ist, daß es vordem auch eine „Kultur der Vergangenheit" gegeben habe — nicht allein im Sinn einer Vorstufe und früheren Entwicklungsform des in der Gegenwart Erreichten und „Kultur" Genannten, sondern in der Art, daß das wesentliche Ganze unserer gegenwärtigen Stellung zum und im Kulturgang, eben der Kern des jetzigen Lebensmoments der Menschheit, schon einmal erreicht und so verwirklicht worden sei; wenn auch vielleicht nicht in dem Grad und Reichtum, so doch dem inneren Wesen seines Lebenszentrums nach, unserer Kultur der Gegenwart durchaus vergleichbar. Dies aber bedingt noch eine weitere Auffassung der Kulturerscheinung — als eines Werdens, das auch den früher schon einmal erreichten Punkt der Gegenwart noch weiter überschreitet; nicht nur im Sinne einer höher steigenden Entwicklung, sondern auch eines absteigenden, verwelkenden Zerfallsprozesses, der nach dem Erreichen und Überschreiten seines Höhepunktes alle Endstadien des Sinkens und der Wiederauflösung durchlaufen kann, bis zu dem Wiederanfang einer neuen, abermals ansteigenden und ihrer Reife neu entgegensehenden Entwicklung. Damit wäre die Kultur als solche, befreit von jenem Schema und der Mannigfaltigkeit lebendigen Erkennens offen, eingeordnet in den Kreis des Lebens, das uns als Grunderscheinung alles Daseins nicht eine hypothetische Entwicklung, sondern überall und immer nur in sich selbst zentriertes Werden und Vergehen zeigt, ein langsames Entstehen, Reifen, Welken und im Tod Zerfallen. Dieser lebendige Daseinsprozeß des Steigens, Wachsens, Alterns, Sterbens, in unserem eigenen Leben und Erleben uns unmittelbar verständlich, ist die Zentraltatsache und der allem Lebensantlitz unerbittlich eingegrabene allgemeinste Grundzug, der uns jegliche Daseinserscheinimg erst im letzten Sinn begreifen und erleben läßt. Diese Urform des

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uns Auffaßbareu würde so auch die gesteigertste und letzte Daseinsordnuiig mit umfassen, wenn die Kultur der Menschheit gleichfalls als ein reifendes, vorübergehendes Sichbilden, als ein Wachsen und Wiederzerfallen, als Lebendiges, als Leben sich erkennen ließe. Hieraus erhellt die Wichtigkeit des in diesem Kulturwerk tatsächlich bestätigten Ergebnisses, daß unser Gegenwartsproblem schon einmal auch in dem Verlaufe der Vergangenheit zu finden ist. Diese Fundamentaltatsache ist für uns zunächst die hauptsächlichste Lehre, die auch das unvollendete Werk schon erhärtet und nach mehreren Richtungen hin zu klarer Anschauung gebracht hat — zum mindesten für die bedeutendste Kulturentwicklungslinie unserer eigenen Welt, der Weltkultur Europas, deren Darstellung weitaus den Hauptteil dieses Werkes bildet. Diese Weltkultur der Gegenwart, wie sie sich von Europa aus erdüberspannend ausgebreitet hat, ist ihrem prinzipiellen Wesen und ihrer Entwicklungsbedeutimg nach auch schon in einer lang verflossenen Vergangenheit verwirklicht worden: Was heute als der Abschluß langer und verschiedenartiger, verflochtener Entwicklungsreihen, zu einer Vielheit von Nationen ausgebildet, einheitlich zum Ganzen einer Weltkulturgemeinschaft sich zusammenschließt, das wiederholt, wenn auch in ungleich größerem Maße, die wesentliche Lage einer sich dereinst als Weltkultur behauptenden Gemeinschaft, die vor zwei Jahrtausenden am Mittelmeer sich ausgebreitet hat, als durch das Ineinandergreifen der griechischen und römischen Entwicklung zum erstenmal die. europäische Kultur, als solche reif geworden, sich zur damaligen Weltbeherrschung anschickte. Auch sie hatte ja schon ein anderes Altertum sich gegenüber — die früheren Kulturen von Ägypten, Vorderasien und Persien —, doch nicht im Sinne einer völlig abgebrochenen, fremden und erstorbenen Vergangenheit. Vielmehr sind wesentliche Elemente dieser älteren Grundlagen in fortdauerndem lebendigen Zusammenhang in die ansteigende Entwicklung eingegangen, die fast stetig einen Höchstbereich fortschreitender Kulturgemeinschaft darstellte, von dem den alten Orient vereinigenden persischen Weltreich über das makedonisch-hellenistische zum römischen Welteinheitsstaat des Mittelmeeres. Bei allen Umwälzungen und Neubildungen in dem Geschick der mannigfachen Völker geht schließ-

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lieh doch eine herauszuhebende Gesamtkultur-Entwicklungslinie in steigendem Zusammenhang bis zu der großen Reife und Sättigung der römischen Weltherrschaft, in welcher die alte Welt sich endgültig zusammenfaßte. Diese höchsterreichte Phase vereinigte die Erbschaften der früheren Kulturentwicklungen zu einer in sich selbst geschlossenen Gesamtheit, die nicht nur äußerlich von der Organisation eines Weltreichs gehalten und umspannt wurde, sondern die auch innerlich das Ganze der Kulturwelt und der Weltkultur bedeutete, da nun zum erstenmal von außen keine weitere, zusammenhängende Fortführung einer neuen Kultursteigerung mehr möglich war. Nur mehr in den eigenen, inneren Bedingungen des schon Erreichten lagen auch die Möglichkeiten der noch übrigen Entwicklung beschlossen, die zur einheitlichen Auseinandersetzung nur mehr aufeinander selber angewiesen waren. Dies ist das Moderne, mit dem Gegenwartsproblem Identische an jener Weltkultur des Mittelmeeres; erst heute wieder ist abermals ein analoger Zustand eingetreten. Wieder sind auf gänzlich neuer Grundlage erstandene, allmählich ausgereifte Volkskulturen nun zu einer weltumfassenden Kultureinheit verschmolzen, die7 in sich geschlossen, nur aus den eigenen Bedingungen heraus sich fortentwickeln kann. Dem gegenüber kommt es jetzt nicht in Betracht, daß tatsächlich die europäische jetzige Weltkultur (natürlich einschließlich der kolonialen Neubildungen Europas, von Amerika bis Australien) auf Erden nicht allein ist. Die noch vorhandenen Reste des Islam und der indo-chinesische Kulturkreis Asiens können kulturell, als völlig andersartige Entwicklungskreise, niemals auf sie einwirken. Es ist daher auch prinzipiell kein Unterschied, ob diese innerlich ganz fremden Kulturwelten sieh, wie heute, bekannt gegenüberstehen und äußerlich teils mit-, teils gegeneinander wirken, oder ob sie wie im Altertum, nur durch flüchtigstes Hörensagen sich berührten und im übrigen durch uubeschrittenes Dunkel voneinander getrennt waren. Ganz abgesehen jetzt von allen Verschiedenheiten tritt in diesem hier betrachteten Vergleichspunkt der Gesamtentwicklungsfolge die Analogie zwischen den beiden großen Weltepochen europäischer Kultur deutlich hervor. Wieder ist eine Sättigung erreicht, die äußerlich die nationalen staatlichen Gebilde nun zu einer allgemeineren Gesamtordnung verkettet hat, nur daß die vielfältig

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verbundenen modernen Staaten nicht mehr" von dem unbekannten Barbarengrenzwall des römischen Weltreiches, sondern von dem Horizont des äußerlich unterworfenen Erdballes selbst umschlossen werden; und innerlich ist in dem neuen Ganzen einer wieder anhebenden Weltkultur bei aller nationalen Mannigfaltigkeit doch abermals jene Gesamtreife und Durcharbeitung der Probleme zur geschlossenen; einheitlichen Kulturverbundenheit erreicht, wie sie erst einmal nur, an eben jenem Höhepunkt der Altertumskultur, dem Wesen nach sich durchgesetzt hat, um dann auch noch über diesen Standpunkt unserer Gegenwart hinauszuschreiten bis zum Abstieg und Zerfall. Daraus ergibt sich zwar keine Voraussicht für ein Sinken dieser unbestimmt bleibenden, weiteren Entwicklung unserer Gegenwartskultur, wohl aber eine Einsicht für die Stellung und Vergleichung dieser letzteren in dem Gesamtgang des europäischen Werdens. Dieser Gang ist seinem inneren Schema nach am besten dem Doppelgipfel einer Wellenlinie zu vergleichen. Die Kultur der Gegenwart hat, ansteigend, auf diesem zweiten Gipfel auch die Scheitelhöhe jener ersten Altertumskultur erreicht und dieser sichere Bezugspunkt liefert nun den Maßstab unseres Verstchens der Vergangenheit und Gegenwart. Ohne verfrühte Prophezeiungen über den Weitergang von der erreichten Stelle aus, der abwärts oder aufwärts führen kann, ist doch der Weg zu ihr hin deutlich sichtbar, und diese hauptsächliche Linie der Kulturentwicklung zeigt zwischen den beiden Gipfeln unserer Gegenwart und der Vergangenheit als Wellental ein Niedersinken von dem ersten und ein neues Aufsteigen zum zweiten Höhepunkt. Die zweimalige Reife in der europäischen, gleichsam pulsierenden Kulturentwicklung bedingt so eine ausnahmsweise, in der Weltgeschichte einzige Abfolge von Kulturauflösung und Neuanfang einer fortgesetzten und doch grundsätzlich verwandelten Ent^ Wicklung. Eine Kluft des Todes, des Verfalls und völligen Erloschenseins scheidet die beiden großen Weltkulturhöhen in der Vergangenheit und Gegenwart und gleichwohl sind sich beide doch so ähnlich, so verschwistert und so innerlich verbunden, daß sie nur als zwei Epochen einer einzigen, der in sich fortentwickelten Kultur Europas anzusehen sind. Diese merkwürdige zwiespältige Verbindung, die die zweite

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Weltkultur der ersten als gleich ursprünglich zur Seite setzt und andererseits doch beide einer Einheit unterordnet, bleibt grundlegender Gesichtspunkt für jede Vergleichung beider Weltkulturen. Nur von hier aus können erst die wirklichen und wesentlichen Unterschiede deutlich werden, wie sie dann für das Kulturverstehen überhaupt von so entscheidendem Wert werden sollten. Diese Zweiheit, Ähnlichkeit und Unterschiedenheit der beiden W&tepochen der sich wiederholenden Kulturentwicklung Europas ist, als einzigartiges und unvergleichliches Geschehen, ein Brennpunkt der Kulturerkenntnis und Kulturerforschung. Hier, wo so gleichsam in doppeltet Geschwindigkeit sich der Kulturgesamtprozeß verzehrt, eröffnet sich vom festen Punkt der Gegenwart und unseres Lebens aus der Blick doch auf die ganze Mannigfaltigkeit des kulturellen Werdens in der Not und Fülle seines reifenden, verketteten, notwendigen Entstehens und Vergehens. In der Tat sind, wenn auch vielfach noch nicht klar bewußt, von jeher die kulturentwicklungsgeschichtlichen Begriffe in der entstehenden Erforschung der neueuropäischen Wissenschaft aus eben diesem Vergleich der beiden großen Kulturbewegungen hervorgegangen. Von hier aus entstand allmählich erst die Einsicht in Kulturentwicklung überhaupt, die dann gleichzeitig mit dem wachsenden Verstehen und Überschauen der europäischen Kultur im Ganzen, auch vergleichend auf alle anderen Bildungen ringsum auf Erden übertragen wurde. Zerfallsprozesse, Reife, Aufstieg und Erlöschen wurden auch an anderen, fremden Kulturen deutlich, die aus sich heraus noch lange nicht diese Begriffsbildung ermöglicht hätten — bis zu der uralten, schwer übersehbaren, fremdartigen Kulturwelt Asiens, die sich in ihrem eindruckslosen, durcheinandergeschobenen Verlauf gleich einer ungeheuren niederen Ebene hinzieht — im Gegensatz zu dem scharf ausgeprägten, gebirgshaft aufgetürmten Kulturverlauf der westlichen Welt, der mit der steilen Linie seiner vielfachen und schroffen Gipfel, dem bedeutungsvollen Einschnitt seines Höhenzugs und seiner doppelten Erhebung so gleichsam ein Urgebirge der Kulturmenschheit darstellt, das alles andere überragt, bisher die lehrreichste, gewaltigste Erscheinung des Menschheitsgeschehens und seiner Gesetze. Andererseits wird aber auch ersichtlich, wie erst nach dem Eintritt der völligen Reife auch der zweiten Weltepoche, nach dem

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Durchlaufen also der nationalen Einzelbildungen und ihrem relativ einheitlichen Zusammenschluß zur Höhe unserer Gegenwart, diese vergleichende Erkenntnis jetzt erst voll und ganz auf diese beiden Weltepochen und ihre Höhezeiten sich erstrecken kann — auf jene ältere, vollendete und abgestorbene, wie auf die gegenwärtige, dem Reifepunkt noch nahe, in ihrer Zukunft unbestimmte. Ihre Zweiheit läßt vorwärts und rückwärts die Gesetze und Erscheinungen des Werdens, Reifens und Zerfallens in sonst unvergleichbarer Vollständigkeit und Mannigfaltigkeit verfolgen und eben diese nun bewußt erkannte und durchforschte Doppelheit der beiden Reifezeiten unserer Weltkultur, in ihrem Unterschied, Zusammenhang und Gegensatz, wird so zum Eckstein aller weltkulturgeschichtlichen Betrachtung, unbeschadet aller sonstigen Einteilungen, Periodengliederungen und Systeme einzelner Kulturzusammenhänge. Alle diese bauen sich erst auf jener Fundamentaltatsache, dem Doppelgang der wichtigsten Kulturentwicklung, auf; Unendliches, Unausgeschöpftes liegt in jener Zweiheit, deren vergleichende Erkenntniselemente und Erträge kaum noch in Angriff genommen sind und deren Abschließende Durcharbeitung und bewertende, endgültige Beurteilung erst einer fernen Zukunft möglich sein wird.* Hier aber soll aus dieser Einsicht — und nur insoweit sollte sie hier angedeutet werden — die Überlegenheit des reif gewordenen Kulturbewußtseins unserer Gegenwart erkennbar werden. Daß es auf Grund seiner erarbeiteten Resultate die hervorgehobene Gefahr der Relativität zu überwinden weiß, beweist hier seinen Wert als den eines in sich geschlossenen Kulturausdrucks des Lebens und der Welt der Gegenwart. Wie fern ist dies historische Bewußtsein von den früheren einseitig schroffen Vergewaltigungen der Vergangenheit wie auch der damaligen Gegenwart! In sich, als in der reifenden Entwicklung des Lebens selbst gegründet, trotz seiner Beweglichkeit gefestigt, erreicht es, wie schon theoretisch im selbständigen Pormalprinzip, so auch nach seinem sachlichen Gehalt hier die historische Selbständigkeit und Unabhängigkeit seines Bezugspunkts, die zur Lösung jenes oben angedeuteten Problems notwendig ist. — Diese bisher getrennt betrachteten Momente sollen nun zu einer weiterführenden Beurteilung zusammenwirken.

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*) Wer dem drangvollen Werde- und Zerfallsprozeß, dem Wiederanstieg zu noch weiter umfassender Reife in den beiden Weltepochen europäischei Kulturentwicklung und der Rastlosigkeit der sich noch erst befestigenden Gegenwart die dumpfe, würdevolle Ruhe östlicher Kulturgestaltungen entgegenhält, deren fast gleichmäßig abrollende Jahrtausende, deren sich scheinbar immer gleich lebendiges Verhalten zu einheitlich religiösen Tiefen den Mangel äußeren Kulturfortschreitens wohl aufwöge — der verkennt nicht nur, wie sehr die gleichen Tiefen, wenn auch oft vereinzelt und vom Reichtum anderer Entwicklung überdeckt, auch in der westlichen Kultur erreicht sind, sondern er verkennt auch überhaupt den prinzipiellen Unterschied der beiden Kulturwelten. So weit voll die asiatischen Kulturen f ü r eine vergleichende Gesamtkulturbetrachtung sind, so wenig können sie zu der speziellen Beurteilung unserer westlichen Weltkultur und ihrer gegenwärtigen Lage und Aufgabe beitragen, da ihr völlig andersartiger Entwicklungsgang zum Wesentlichen dieses europäischen Verlaufes keine Analogie darbietet. Wohl sind auch in Asien mehrere Entwicklungszentren zu beobachten — Iran, Arabien. Indien, China, Japan — wie auch eine mannigfache Schichtung von verschiedenen Kulturvölkern. Aber ihr Zusammenwirken hat in keiner Weise zu einem einzigen, organisch sioh entwickelnden Kulturzusammenhang geführt wie einst in Vorderasien und Europa. Schon die beiden ältesten, bedeutendsten Kulturentwicklungen Asiens, die indische und die chinesische, stellen getrennte Welten dar, die räumlich und zeitlich nebeneinandei verlaufen. Auch ihre gegenseitigen Kulturbeiührungen s ; nd nur gering — die relative Episode des chinesischen Buddhismus — und ihre Einwirkung auf andere Völker (die Indiens auf Tibet, Hinterindien und die Inseln, die Chinas auf die nördlichen und südlichen Grenzländer) h a t zwar eigenartige, doch kleinere und unzusammenhängende, an Bedeutung mit der Stammentwicklung überhaupt nicht mehr vergleichbare Kulturgebilde ins Dasein gerufen. Die beiden Hauptkulturen selbst aber verharren — seit ihrem lang vor unserer Zeitrechnung schon überschrittenen inneren Höhep u n k t — ununterbrochen in dem Fluß einer langsamen Fortbewegung, die durch keine neuen produktiven Völker je erfrischt und umgebildet worden ist. Daher der teilweise Eindruck von scheinbar greisenhafter Stagnation bei zugleich altertümlichen und doch auch höchst modernen Zügen. Indien und vor allem China sind fast gleich alt mit der ältesten und ersten westlichen Kulturperiode und führen ihre einfache Entwicklungslinie doch bis heute noch anhaltend weiter. Daher trifft jede Vergleichung nicht nur zeitlich, sondern auch dem Grad der Mannigfaltigkeit und Durchbildung nach zwischen Ost und West auf ganz verschiedene Verhältnisse. Wohl sind auch im Osten, etwa gleichzeitig mit dem Beginn der zweiten westlichen Kulturepoche, jüngere, neue Kulturentwicklungen entstanden — Japan, das um diese Zeit in den geschichtlichen Zusammenhang eintritt und der Islam, dessen Entfaltung wenig später in Arabien beginnt. Doch diese jüngeren Kulturwelten sind gegen jene älteren, angrenzenden S c h r ö t e r , Die KuUnrmöglichkelt der Technik.

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durchaus selbständig. Sie setzen jene nicht — wie in Europa die jüngere, die ältere Epoche — auf dem Boden der vergangenen und überlagerten Kulturschicht in Zusammenhang und Steigerung fort, sondern sie setzen neben jenen älteren ein, die ihrerseits bestehen bleiben und ganz unabhängig weiter wachsen. Nur teilweise (wie namentlich Japan von China) von der älteren Kultur beeinflußt, beginnen diese jüngeren Gebilde ihren eigenen Entwioklungskreis von sich aus zu durchlaufen, von den anderen abgetrennt, mit anderem Schicksal und mit anderer Zukunft. Dazu kommt bei dem Islam freilich eine Verflechtung und Ablösung ganz verschiedener Völker. Zwischen die religiöse und staatliche Grundlegung der Araber und die politische Endausgestaltung durch die Türken und durch das Osmanenreich schiebt sich eine neupersische Kulturepisode, die durch die Mongolenstürme endgültig beendet wird. Das Hereinbrechen dieser zerstörenden Barbarenstämme (im 13. und 14. Jahrhundert) hinterließ alle Kulturreiche ganz Asiens, das verschonte Japan ausgenommen, in Verwüstung, Schwächung und teilweise völliger Vernichtung. Fern jeglichem Vergleich zur Völkerwanderung, der Wende von der älteren zur neuen Weltkultur Europas, bringt diese auf Asien allein beschränkte Katastrophe weder neue Kulturvölker an die Stelle der Vernichteten, noch auch erneuert und verschiebt sie die vorhandenen und dauernden, sondern sie steigert nur noch die Vereinzelung der vielen abgesonderten Entwicklungen, die auf dem Boden Asiens nebeneinander stehen — in größeren Gebilden im Osten, in immer kleineren Splittern im Westen, wo sich ihr Gemenge mit der westlichen europäischen Weltkultur berührt, doch nie in allen Wechselkämpfen und Verschiebungen jemals wirklich durchdrungen h a t . Trotz eines Kampf- und Übergangsgebiets von Persien bis zum Mittelmeer, beharrt die wechselnde Grenzlinie als eine dauernde Scheide zwischen Morgenland und Abendland. Es ist aber nicht richtig, das jenseits dieser Scheide Liegende -—• verf ü h r t von der gewaltigen Bekennerzahl verschiedener Weltreligionen, wie des Islams und des Buddhismus — zu einer Art asiatischer Kulturgesamtheit zu vereinigen, als vermeintliches Gegenstück der europäischen, westlichen Weltkultur. Denn abgesehen von diesem allgemeinen Gegensatz zum Westen ist keine umfassende asiatische Kultureinheit vorhanden. Jenes reichhaltige, verwickelte Gemenge sehr verschiedener Kulturen ist geradezu gekennzeichnet durch seinen Mangel an einheitlichem, zusammenwachsendem, organisch sich verzweigendem Aufbau, geschweige daß von einer übergreifenden Gesamtheit einer genetischen wirklichen Weltkultur gesprochen werden könnte, wie sie sich im Westen, auf der vorderasiatischen und mittelländischen Grundlage, in fortzeugendem Zusammenhang verwirklicht h a t . Westlicher Weltkulturwille h a t in den letztvergangenen Jahrhunderten auch das asiatische Konglomerat umgriffen, das ihm innerlich trotz teilweiser Eroberung doch fremd und unzugänglich bleibt, und das sich äußerlich an einer Stelle (in Japan) mit den äußeren Kulturmitteln des Westens selbst bewaffnet hat. Die hieraus möglichen

Kapitel VI.

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Zukunftseinwirkungen realer, materieller Mächte bleiben hier jetzt noch außer Betracht, wo bei Abwägung der Kulturerkenntniewerte nur die Unvergleiohbarkeit der einen europäischen, westlichen Weltkultur mit allen anderen deutlich werden sollte. Nur aus ihr allein lassen sich alle Fragen ihres doppelten Entwicklungsganges, ihrer gegenwärtigen Kulturlage und -Aufgabe, als die bedeutendsten und wichtigsten der Gegenwart entscheiden.

VI. Versuchen wir die zwei bisherigen grundsätzlichen Ergebnisse einer Kulturstruktur und einer Doppelheit des europäischen Kulturverlaufes nun vereint zu überschauen, so ergibt eben der erstgenannte theoretische Ertrag auch für das zweite sachliche Gebiet (jenes zweimaligen Kulturaufstiegs) die Möglichkeit der Auswahl unter den vergleichenden Gesichtspunkten. Die erwähnte, sich aus der Struktur ergebende Ausgleichsbewegung der Kulturentwicklung nämlich muß in dieser Doppelheit der Kulturreife von besonderer Bedeutung werden, da sich hier dynamische, historische Auswirkungen mit prinzipiellen, systematischen Bedingungen durchkreuzen und verschmelzen. Es ist daher aus dieser Struktursystematik ein entscheidendes Einzelmoment für den Vergleich des Reifevorgangs in den beiden Weltkulturepochen zu erwarten, deren Zweiheit sich als fruchtbarstes Objekt für die kulturgeschichtliche Forschung gezeigt hat. Freilich soll damit noch keine erschöpfende Erkenntnis dieser Tatsache bezweckt sein, sondern nur eine bestimmte Einzellinie der Betrachtung herausgehoben werden, die es aber doch erlaubt, im Fluß des so unendlichfach verschlungenen Geschehens die erstrebte Einheit eines innerlichen, prinzipiellen Kulturausgleichs zu verfolgen — gleichsam einen Gradmesser des höchsten Standes des Ausgleichsprozesses abzulesen, wie er sich im Kulturwerden, von der ersten, verhältnismäßig unentwickelten Gemeinschaft an mit steigender Differenzierung der Kulturfunktionen immer stärker, immer reichhaltiger durchsetzt und damit in wesentlicher Hinsicht die Kulturerscheinungen in ihrer Folge selbst bedingt. 3*

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Erster Teil.

Je weiter rückwärts, in je frühere Zustände der Kultur zurückgegangen wird, um so inniger und unmittelbarer zeigen sich die gegensätzlichen Punktionen noch fast ungeschieden in der Einheit eines primitiven Ganzen an- und miteinander wirksam — nicht weil sich die späteren Verschiedenheiten noch nicht ausgebildet hätten, sondern weil sie sich, noch in einfacher Lebensnähe aneinander, gegenseitig selbst zu sättigen vermögen. Wie im Kind die seelischen Funktionen jeder Wirklichkeitsaufnahme, des Begehrenden, Triebhaften und des deutenden Gefühls gar wohl vorhanden, doch noch selbst vielfach verschmolzen sind, so gibt es eine primitive Kultureinheit, gekennzeichnet durch mythologische, symbolische Formung des Lebens, in der das Intellektuelle mit dem Triebmäßigen und beides mit dem anschaulich empfindenden Gefühl noch einfach und unmittelbar verbunden sind, so wie Daseinsbedeutung und Lebensgestaltung noch im Mythos und in mythischer Weltanschauung die Keime und Urformen von Philosophie, Kunst, Religion geschlossen ineinander fassen und als einzige, einheitliche Gewalt das ganze Leben in organischer Gesamtheit tragen. Von dieser jugendlichen, primitiven Einheit — selbst freilich kein Anfang, sondern erreicht vielleicht nach grauenvoller Wirrnis, Kampf und Ringen mit der Tierheit;.und auch hier nur als formales Ideal, nicht an sich selbst bewertet — entfernt sich die sich steigernde Kultur notwendig immer mehr mit der Erweiterung ihrer selbständig werdenden Funktionen, die nach der eigenen Einheit trachten und unter denen sich die willensmäßigreligiöse Entwicklung zunächst als die einflußreichste, die Gesamtkultur bestimmende erweist. Unter ihrer Vorherrschaft stehen nicht nur kleinere und schwächere und überhaupt die früheren Kulturen, sondern auch die großen Weltkulturen Asiens, deren Entwicklung immer wieder in das Religiöse einmündet und dort zur Ruhe kommt. Erst in der griechischen Kultur, einzig in ihr allein und damit in der aus ihr hervorgegangene^ durch sie gereiften Weltkultur Europas ist erreicht, daß jener religiösen Entwicklung, ohne ihre Tiefen preiszugeben, auch die gleich bedeutende und gleich selbständige Entwicklung der gegensätzlichen Funktion zur Seite trat, als sich in Griechenland die Wissenschaft als solche und damit die Philosophie bewußt konstituierte. In lückenloser Fortentwicklung schon hier zu ihrem ganzen Reichtum sich entfaltend, faßte sie

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zum ersten Male die Gesamtheit der Kultur vom anderen, intellektuellen Pol des menschlichen Wesens her zusammen und zwang so den gesteigerten Kulturzwiespalt auf einer höheren Stufe des Totalitätsproblems zu einem unvergleichlich reicheren und schwereren Entscheidungsringen um die letzte Lebenseinheit. Denn aus der gleichen Tiefe, aus dem gleichen gemeinschaftlichen Mutterboden emporgestiegen, richten sich beide Mächte gleichmäßig auf die entfaltete gewaltige Gesamtheit der Kultur. Der um den Preis dieses vertieften und erschwerten Kampfes erzielte Vorrang erhebt die Weltkultui Europas zu der größten und bedeutendsten der Erde und gerade ihre eigentümlichste und wichtigste Erscheinung, der Doppelablauf ihrer beiden großen Weltepochen, tritt zu dem Inhalt eben dieses Kampfes in bestimmbare Beziehungen. Ihr eigenes Verhältnis hat Anteil an jenem Widerstreit und Ausgleich und an den Bedingungen der jenem Gegensatz zugrunde liegenden Struktur. In der ersten Epoche dieser Weltkultur, dem „Altertum", der Weltkultur des Mittelmeeres, entspringt die reine Intellektualentwicklung neben der gleichmäßig fortflutenden religiösen, deren Lauf sie, ungemein rasch anwachsend, erreicht und überflutet — bis sich zeigt, daß keine Vermischung beider Ströme (der intellektuellen und der willensmäßigen Funktion) mehr möglich ist, sondern allein ein Kampf um die einheitliche Beherrschung der differenzierten Vollkultur. Bald nach dem Höhepunkt, und in den sinkenden ermattenden Jahrhunderten des äußeren Zusammenschlusses immer mehr, entscheidet sich das Übergewicht des EthischReligiösen. Die bedeutendste und tiefste seiner Entwicklungsformen bemächtigt sich der intellektuellen Elemente, und die widerspruchsvolle Verschmelzung ihrer Altersbildung, die christliche Kirche und Dogmatik, bleibt am Ausgang der erschöpften Kultur der alten Welt die relativ einheitlichste Gewalt. So stand die zweite Weltkulturentwicklung, die mit den neuen Völkern auf der alten Trümmerstätte anhob, von Anfang an unter veränderten Bedingungen. Nicht wie teilweise noch in den Anfängen jener Mittelmeerkultur, in den orientalisch-griechischen Kulturzusammenhängen, nahm hier eine selbständig fortdrängende Entfaltung ältere Kulturerbschaften in den eigenen, umbildenden Fortgang mit auf, sondern unvermittelt grenzte hier der primitive Anfangszustand der jugendlichen neuen Völker an das übermächtig

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Erster Teil.

starke Erbe einer späten Ausgangsphase der gealterten Kultur. Die ganze, dort errungene Tiefe religiösen Lebens lag in diesem Erbe verborgen, wenn auch vermischt mit all den Elementen und Ergebnissen des abgelaufenen Kampfes, und so befestigte sie abermals in der anhebenden Kultur die Vorherrschaft des Religiösen in den ersten Zeitaltern ihrer Entwicklung—der starken religiösen Neigung jeder kindlichen Kultur mit ihrer Glut entgegenkommend, doch fern jeder ursprünglichen und organischen Portbildung. Vielmehr wird nun die Jugendzeit der zweiten großen Weltkultur, in deren Aufstieg so ein früheres, einseitiges Ergebnis mit hineinverflochten wird, zu einem förmlichen Krankheitsprozeß, dessen Verlauf, historisch als das „Mittelalter" bezeichnet, zu den verwickeltsten und schwerverständlichsten Kulturvorgängen überhaupt gehört. Die wachsenden und sich entfaltenden Punktionen müssen sich in ihm in seltsamer Umkehrung des Natürlichen erst rückwärts aus der allzu frühen Bindung jenes schon erreichten und vei-erbten Ausgleichs lösen und bestimmen dadurch für die spätere Entwicklung der neuen Kulturreife einen grundsätzlich geänderten Wachstumsverlauf. Die erste Weltkulturentwicklung zeigt ein unabhängiges, gleichmäßiges Aufstreben der verschiedenen Kulturfunktionen, und ihr Ausgleichskampf zeigt einen steigenden Zusammenschluß zur relativen Einheit, wenn auch zu der einseitigen Übermacht der religiösen, willensmäßigen Punktion. Die zweite Weltkulturepoche, die die ererbte, religiöse Einheit zunächst wieder aufzulösen hat, tritt damit in zwiefachen Gegensatz zu ihrer Vorgängerin. Es wirkt in ihr von früh an jene lösende, befreiende und trennende Bewegung der auseinanderrückenden Kulturfunktionen, die als die Reaktion auf das Vorausgegangene zu verstehen ist. Kommt aber dann der ursprüngliche Einheitsdrang des Kulturwachstums auch in ihr nun wieder zum Erstarken, so wird andererseits, gleichfalls als Reaktion auf die vorausgehende und im Mittelalter übernommene religiöse Übermacht, gerade ein gesteigertes Hervortreten der intellektuellen Grundfunktion begreiflich, zu welcher der Schwerpunkt der Entwicklungsrichtung mehr und mehr verschoben wird. Die „Pendelwirkung" dieses Hergangs bestimmt die Wachstumslinie der zweiten Weltkulturbewegung, soweit diese hier für uns in Präge kommt.

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Das hier von weiteren Zusammenhängen aus begründete charakteristische Moment der Weltkultur der Gegenwart, die Übermacht des Intellektuellen, ist zumeist nur in seiner am meisten in die Augen fallenden und sozusagen populären Ausprägung bekannt als die grundlegende Veränderung aller Verhältnisse durch die modernen Naturwissenschaften und ihre Verwertung in der Technik. Dies ist das allgemein genannte Unterscheidungsmerkmal zwischen unserer und der vergangenen Weltkulturperiode, das zunächst ihre äußeren Erscheinungen, doch auch die inneren Beziehungen handgreiflich und einleuchtend zu beherrschen pflegt. In der an der Naturerforschung ausgebildeten modernen Wissenschaft, im Wissen und in der Verwendung dieses Wissens über die Natur, im umfänglichsten Sinne dieses Wortes, erscheint ein neues, fundamental und selbständig, die eigenste Errungenschaft der gegenwärtigen Entwicklung, mit der vor allem und zum eisten Male sie der "Verarbeitung des alten Erbes ein ganz neues, unabhängiges Prinzip entgegensetzt, fruchtbar genug, um den gesamten Aufbau der Kultur mit seinen Eigenkräften zu durchdringen. Diese Fruchtbarkeit der neuen Leistung macht sich sowohl im unteren Fundament praktischer Arbeit wie in der höchsten geistigen Ausprägung unserer Kulturwelt geltend. Die wissenschaftliche und philosophische" Entwicklung der neueren Kultur, die sonst in den vielfach notwendigen Analogien zu dem philosophiegeschichtlichen Prozeß des Altertums, mehr als ein anderes Kulturgebiet, die im menschlichen Intellekt liegenden Gründe dieses Wiederholungszwangs erkennen läßt, ist eben durch ihre naturwissenschaftliche Basis und erkenntnistheoretische Ausbildung jenen älteren Versuchen überlegen. Der Naturerkenntnis dieser neuen Wissenschaft trat nun auch die Naturbeherrschung an die Seite, und mit dieser, mit der Technik, ergab sich als zweite große Änderung die unvergleichliche Umwälzung in den äußeren Verhältnissen der neuen Völker. Diese revolutionierende Veränderung so vieler materieller Bedingungen, die nun die sämtlichen Nationen der ganzen Erde gleichzeitig zusammenwirken läßt und ihre Weltherrschaft über den Planeten anbahnt, hat auch das äußerliche Bild dieser Kultur und des modernen Lebens aller Vergangenheit als neu' und fremdartig entgegengesetzt — und eben diese äußeren,

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Erster Teil.

naturwissenschaftlich-technischen Errungenschaften und Erscheinungsformen unserer Kulturwelt sind es, denen auch die östlichen Kulturnationen, die der westlichen Welt fremd, verschlossen, unverstehend gegenüberstehen, sich zum Teil begierig öffnen, als einer überlegenen Gewalt, die so der neuen Weltkultur wenigstens äußerlich die Erde einheitlich zu unterwerfen scheint. Ein nur quantitativ abwägender Gesichtspunkt bleibt hier freilich unzulänglich und die Vorherrschaft von Naturwissenschaft und Technik in der Gegenwart besagt noch nichts über Wert oder Unwert dieser Tatsache. Wohl aber ist auch sie bedeutsam für die hier verfolgte eigentümliche Wachstums- und Wandlungsnotwendigkeit unserer Kultur der Gegenwart, zu der sie ihr bisheriger Entwicklungsgang und die Entscheidung dieses Zeitmoments gleichmäßig hinzudrängen scheint. Denn auch die neue Stellung zur Natur, dem Objekt menschlicher Erkenntnis und menschlicher Herrschermacht, ist ja nur eine Folge und ein Ausdruck jener allgemeinen Vorherrschaft des Intellektualen, da „Natur" im allgemeinsten Sinn eben den Inbegriff des wesentlich nur intellektuell Erfaßbaren bedeutet. Seine einseitige Übermacht aber begründet ein bestimmtes Schicksál unserer Kultur. Der Intellektualstrom im Kulturwachstum der Gegenwart, für den die naturwissenschaftlich-technische Vorherrschaft nur den letzten, äußerlich sichtbaren Ausdruck darstellt, besitzt unter den angedeuteten Umständen, durch die Aufeinanderfolge und Verkettung beider Weltkulturen, das entscheidende Gewicht der unerbittlich vorwärts schreitenden Gesamtbewegung. Wenn aber andererseits, worauf schon früher anläßlich der einander ablösenden nationalen Kulturblütezeiten hingewiesen wurde, auch die letzte Möglichkeit einer rein geistigen Synthese intellektueller Kultureinheit schon erschöpft sein sollte, so wird dann der Unterbau der Intellektualkultur in Naturwissenschaft und Technik selbst von prinzipieller, ausschlaggebender Bedeutung. Diese Gebiete wären dann nicht ein auffallendes, herausgegriffenes Moment der Gegenwart, sondern eben in diesen technischen und naturwissenschaftlichen Fundamenten selber schon, durch ihre eigene Entscheidung selbst, müßte sich dann die große Frage nach der möglichen organischen Gtesamtfortbildung unserer Weltkultur beantworten, deren Schicksal von diesem Einzelpunkt, gleichsam dem Durchgangs-

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knotenpunkt der Gegenwart aus, eine prinzipielle und endgültige Beurteilung erlaubte.*) * ) Als Spiegelbild kann hier noch einmal das betrachtete Gesamtwerk dienen, die Selbstdarstellung der „Kultur der Gegenwart", und zwar hinsichtlich seines systematischen Aufbaus. Am Ende des zweiten Kapitels •wurde auf die eventuelle Bedeutung dieses organischen Aufbaues als eines gesetzmäßigen Strukturausdrucks hingewiesen. Der symptomatische Wert dieser Spiegelung für das Kulturbewußtsein und die Kulturlage der Gegenwart kann hier auf Grund der oben betrachteten Zusammenhänge nun noch deutlicher bestätigt werden. Der geplante Aufbau jenes Werkes (als Symbol des Kulturganzen) wäre — um zunächst ein Bild zu brauchen — etwa einer Pyramide zu vergleichen, die von fern, beim Näherkommen, von ihrer Spitze her allmählich sichtbar wird und immer breiter nach der Eide zu anwächst, oder noch besser einer Pyramide, die, lebendig wachsend, gleichsam sich selbst im Laui der Zeit nach oben baut, so daß die Spitze, als das Ursprüngliche, vom Wachstum des Ganzen immer mehr gehoben, in den Himmel ragt wie ein uralter blitzzerspaltener Gipfel, indes an der Erde unten noch das Weiterwachstum Schicht auf Schicht in immer breiterer Entfaltung vor sich geht, im dauernden Zusammenhang mit dem erzeugenden Erdboden. — Dem ältesten Gipfel der Pyramide entspricht dei erste Teil des Werks, Religion, Philosophie und Kunst, den unmittelbarsten Kulturausdruck und die ursprünglichen, ältesten Bildungen der Kulturmenschheit in seinen Bänden umfassend. Auf dieses geistige Haupt folgen, nach unten sich verbreiternd, die beiden nächsten großen Teile, als Übersicht der menschlichen Kulturbetätigung nach Willen und nach Intellekt (oder gesellschaftlich und wissenschaftlich, nach Geschichte und Natur geordnet), als die Formen von „Staat und Gesellschalt" "einerseits und von „Naturwissenschaft" im weitesten Sinne andererseits; und endlich schließt der vierte Hauptteil, die „Technik", als erdennächstes Fundament gleichsam, -den ganzen Bau mit breitester Grundlage ab. An diesem vierfach abgestuften Bauwerk, das vom Seelischen der Kulturinnenwelt bis zu der praktischen Beherrschung der Materie herabsteigt, bilden so die eigentlichen geisteswissenschaftlichen Gebiete (Religion, Philosophie und Kunst; Staat und Gesellschaft) die erste und obere — Naturwissenschaft und Technik die zweite und untere, weitaus größere Hälfte. Schon im äußeren Verhältnis, der geplanten Bändezahl nach, überwiegen diese beiden letzteren, naturwissenschaitlich-technischen Teile die vorausgehenden geisteswissenschaftlichen erheblich, und noch mehr dem Textumfang und dem Plan der Einzelbände nach. Soll nun dieser Aufbau und das von seinem Zusammenhang gebrauchte Bild, wenn auch nur sinnbildlich, zur Lösung jenes dargelegten Kultuiproblems der Gegenwart beitragen, so müßte seiner systematischen Fassung und Gliederung wenigstens schon die Richtung zu entnehmen sein, in welcher in der kommenden Kultur ein einheitliches Lebensganzes zu verwirk-

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Erster Teil.

liehen sein w i r d , falls diese ü b e r h a u p t noch der lebendig wachsenden. Fortbildung fähig i s t . E s würde sich d a n n also n i c h t nur äußerlich die Pyramide der K u l t u r a n o r d n u n g über der Technik als jener u n t e r s t e n und materiellen Schicht aufzubauen h a b e n , sondern es m ü ß t e d a n n f ü r die Kultur der Gegenwart diese technische Grundlage, der Möglichkeit nach, wirklich den lebendigen, f r u c h t b a r e n Wurzelboden bilden, aus dem vereint die Kulturwachstumsrichtungen sich einheitlich erheben könnten, u m den ganzen Bau organisch a u f w ä r t s zu durchdringen. Nach dieser Hinsicht angesehen, würde allerdings die Einteilung des Werkes der Strukturanordnung unseres Seelenlebens u n d d a m i t der Kulturgesellschaft und K u l t u r s y s t e m e selbst entsprechen. In seinen beiden mittleren Hauptteilen, zu den zwei großen Reichen des Handelns u n d des Wissens, der Gesellschaft u n d der Wissenschaft, der staatlichen-sozialen u n d der intellektuellen-naturwissenschaftlichen Kulturbildung e n t f a l t e t , enthielte das Gesamtwerk so im ersten H a u p t teil dann die vormals ausgebildete Synthese beider Richtungen, als Geistesschöptung in dem Reich der K u n s t (Literatur), Philosophie und Religion •— aber im letzten, vierten, technischen H a u p t t e i l die f ü r die Gegenwart allein noch mögliche Synthese der grundlegenden Punktionsverschmelzung im Gebiet der technischen K u l t u r und Arbeit. Würde dieser Plan gelingen, d a n n allerdings bedeutete die Gliederung nicht bloßes Schema und a b s t r a k t e äußerliche S y s t e m a t i k , sondern Leben, innere Beziehung u n d S t r u k t u r , so d a ß der Aufbau jener Pyramide — um in diesem Bilde des Kulturganzen zu bleiben — bis zur u n t e r s t e n Grundschicht, der Technik, als lebendiges Gesamtwachstum einheitlich und von innen her verstanden werden k ö n n t e . D a n n allerdings erhöbe sich dies W e r k gleichsam als Denk- u n d Grenzmal für die Zeit, i n m i t t e n des Entschiedenen, Vergangenen, u n d des noch Möglichen und K o m m e n d e n . Entschieden ist das schon Gestaltete, das in i h m Dargestellte — die Welt des bisher abgelaufenen Prozesses, der mit dem Stand der Gegenwart nicht nur zufällig a u f h ö r t , sondern der mit ihr, wie sich gezeigt h ä t t e , das prinzipielle Ende ganz bestimmter E n t wioklungsmöglichkeiten und Entwicklungsstufen seines Wesens endgültig erreicht h a t : Jener Ausgleichsmöglichkeiten und Ausgleichsversuche, die von der einen Seite, von der einen GrUndfunktion aus die Kultur Vereinheitlichung u n t e r n a h m e n uiid deren Ausgangsphasen den absteigenden Char a k t e r dieses Zeitalters bestimmen. I h n e n gegenüber stehen die Anzeichen eines erst k e i m h a f t Aufstrebenden, das seinem Wesen nach vom Gange der bisherigen Entwicklung verschieden, einen Neuanfang u n d eine neue Art der kulturellen E n t f a l t u n g u n d Verwirklichung darstellen würde u n d das die K u l t u r der Gegenwart tatsächlich zu dem Wende- und E n t s c h e i d u n g s p u n k t der kommenden Verfalls- oder Wachstumsbewegung machen m ü ß t e . — Das hier Angedeutete soll der folgende Teil ausführlicher begründen.

Zweiter Teil. VII. Beidemal, in der Weltkultur der alten und der neuen Zeit, erscheint die Naturwissenschaft als ein noch aus dem Mythos selbst geborenes Umfassen und Erfassenwollen des lebendigen Weltganzen, und entwickelt sich doch bald und immer rascher nach der reinen Abstraktion hin weiter fort. Auch in der Antike haben die Naturwissenschaften nach ihrer Loslösung vom mythologischen Untergrund ihre eigenen Bahnen eingeschlagen, zuerst noch in Verbindung mit der gleichzeitig entstehenden Philosophie. Da aber in der letzteren die Richtung auf das Innenleben, auf das Seelische, das Ethische, die Vorherrschaft und schließlich die Alleinherrschaft gewann, so- hatten die Naturwissenschaften als solche nie einen bestimmenden Einfluß. Die in der systematischen Philosophie gipfelnde Intellektualentwicklung der Antike verfolgt ihr eigenes Schicksal, das sich früh von der Entwicklung der Naturwissenschaft ablöst und sich darum auch nach der eigenen Reifeentscheidung nie mehr mit jener berührt. Die letztere ist wie ein Seitenzweig am Baum, der mit dem Absterben des Ganzen, und auch für sich allein schon, schließlich abdorrt. Auch in der Neuzeit haben sich die Naturwissenschaften aus einem mythologisch-naturphilosophischen Vorzustand erst herausgearbeitet, der ihr natürlicher Anfang zu sein scheint. Doch vor diesem letzteren liegt hier nicht, wie in der Antike, noch ein allgemeiner mythischer Kulturzustand der primitiven Religion, sondern eben das letzte Resultat des späten, viel verschlungenen

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Zweiter Teil.

Vergeistigungsprozesses dieser intellektualisierten Religionsentwicklung selbst in seiner reifen und einseitigen Kultursynthese — nur durchbrochen von der aufsteigenden Kraft des neuen Wachstums. Die letztere, der Neubeginn der Intellektualbewegung (in Naturerfassung und Naturerforschung), wird so nicht gleich anfangs, wie in der Antike, hineingezogen in den Einheitsdrang der sich zusammenschließenden Kultur, von deren Aufgabe die eigentliche Naturwissenschaft im Altertum zuerst gehemmt und dann nur isoliert wird, sondern umgekehrt wird ihr selbständiges und reines Wachstum hier begünstigt von der Wiederauflösung jener vormals erarbeiteten Einheit. Diese wird als Erbschaft gleichsam schon besessen und als Forderung doch wieder überwunden und befreit so die differenziert gebundenen Kulturfunktionen kurze Zeit in einer eigenartigen Entlastung: Sowohl die ethisch-religiöse wie die wissenschaftlich-philosophische Entwicklung (Reformation und Renaissance) verlaufen in der neu anhebenden Kulturbewegung ganz getrennt. Die sich wieder verinnerlichende, in der Beschränkung sich konzentrierende Religion wächst zunächst nur den Tiefen ihres eigenen Erlebens zu, sich ablösend vom intellektuellen Beiwerk und den Aufgaben beherrschender Kulturvereinheitlichung. Die Intellektualentwicklung aber, auch ihrerseits zunächst befreit von jenem Drang umfassender Alleinheit, der als solcher nur in ihrer naturphilosophischen Anfangsperiode noch nachwirkt, läßt ihre Kraft nun ungebunden in das Bett naturwissenschaftlicher Forschung und Gestaltung strömen, mehr als jemals für die Wissenschaft als solche rein verfügbar und so ihre Leistung und Intensität ganz ungeahnt erhöhend. Später aber, bei dem jeder reifenden Kultur notwendigen Wiedererwachen jenes Einheitsdrangs, nimmt daher dann die neugeborene, in der Befreiung gleichsam vollkräftig erstarkte Intellektualentfaltung ihrerseits jenen Gesamtausgleichsversuch einheitlicher Kulturgestaltung auf sich selbst, um jene höchste Einheit nicht mehr durch die Annäherung an das Religiöse als „Funktionsverschmelzung", sondern einzig nuir durch ihre eigenen schöpferischen Kräfte zu gewährleisten. Abermals erreicht so die Kulturreife die Einheit nur durch die einseitige Vormachtstellung einer einzelnen Kulturfunktion — diesmal der intellektuellen, die in ihren höchsten Leistungen den

Kapitel VII.

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geistigen Reife- und Gipfelpunkt der neuen Weltkultur heraufführt, an Bedeutung, Wert und Reichtum dieser philosophischen Verklärung den vorwiegend religiösen, gegensätzlichen Ergebnissen des Kulturhöhepunkts des Altertums durchaus vergleichbar, doch auch von der nämlichen, ja von noch größerer Einseitigkeit wie jene, da nunmehr die Strömungsrichtung dieser Intellektualentwicklung nicht mehr abzulenken ist. Nur aus ihr selbst, durch sie hindurch kann sich der weitere Kulturfortgang entscheiden. Das aufgeführte Fundament der reinen Naturwissenschaft, als nüchternstes und konsequentestes Bauwerk der bloßen Jntellektualfunktion, ist nun zu fest, ein zu gewaltiges Bollwerk dieser nach außen drängenden Grundkraft des Intellekts, als daß er auch in seiner weiteren und reiferen Entwicklung, wie sie in der philosophischen Verarbeitung vor sich geht, von dieser seiner eigenen Bahnrichtung noch abweichen könnte. Die neuere Philosophie, die intellektuelle Reifefrucht der zweiten Weltkulturepoche, die ihrerseits nun auf die Einheit der Gesamtkultur hinarbeitet, um sie durch ihre theoretische Gestaltung zu umfassen, erwirbt doch ihre neue Kraft und Fruchtbarkeit allein nur durch die geistige Verarbeitung der stets lebendig weiterzeugenden naturwissenschaftlichen Grundlagen, und eben darauf gründet sich ihr wesentlich erkenntnistheoretischer Vorsprung vor der Philosophie des Altertums. Sie stellt ein Höchstmaß eigenmächtiger und reiner Intellektualentwicklung. dar, das auf sich selbst beruht. Verschwunden ist die frühere Gefahr, die die Philosophie des Altertums allmählich zu dem innerlichen, ethischen Gebiet hinüberdrängte, bis ihre Entwicklung mit der alternden religiösen Einheitsbildung selbst verschmolz. Die ungebrochene Intellektualfunktion strebt, freilich ebenso einseitig, die theoretische Bewältigung und geistige Vereinheitlichung der Gesamtkulturwelt an; in immer neuen und sich steigernden Versuchen — den gewaltigsten, die jemals unternommen wurden — nun von ihrem Reich aus nach der absoluten Lösung der bewußten Einheit ringend. Während der philosophische Prozeß des Altertums ausschließlich von der griechischen Nation getragen wird, deren Geistesentwicklung jenen Höhepunkt heranreift und die späteren Aus-

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Zweiter Teil.

gleichs- und Ausgangswirkungen in sich verarbeitet, lösen sich in der intellektuellen Aufgabe der neuen Weltkultur die vier bedeutendsten Kulturnationen — Italien, England, Piankreich, Deutschland — wechselnd ab und führen dadurch in Ergänzung ihrer Kräfte die Entwicklung der wissenschaftlichen Philosophie geradezu in organischen Reifestufen ihrem Gipfel zu. Die einzelnen Stationen sind: die italienisch-deutsche Naturphilosophie; die italienisch-deutsche mathematische Naturwissenschaft und ihre Entwicklung in England, Prankreich, Deutschland; der englische Empirismus, der französische Rationalismus; ihr erkenntnistheoretischer und metaphysischer Ausbau zu den großen Systemen des 17. Jahrhunderts und die Ausbreitung der letzteren zur Aufklärungsperiode des 18. Jahrhunderts, jener allgemeinen philosophischen Umfassung der Kultur, die nicht mehr subjektivanthropologisch orientiert ist wie ihr Gegenstück in der Antike, sondern konsequent sich noch auf den naturwissenschaftlichen Grundlagen behauptet. Diese Einseitigkeit wird überschritten in der höchsten, letzterreichten Stufe, die als die deutsche Kulturblüte die früheren Blütezeitalter der anderen Nationen abschließt. K a n t s erkenntnistheoretische Neuschöpfung, die sich ihrerseits auf der Verarbeitung der neuen Naturwissenschaften aufbaut, doch daraus die höchste Möglichkeit der philosophischen Gestaltung neu zurückgewinnt, beginnt nun aus dem Zentrum menschlichen Kulturbewußtseins eine noch einmal erneuerte, gereifte einheitliche Umfassung der geistigen Kulturgesamtheit, die von seinen Nachfolgern vollendet, auch die von der Aufklärung noch vergewaltigten Geistesgebiete in historischer Vertiefung in ein lebendiges Kultursystem organisch einbezieht. Sie zeigt sich als die letzte Stufe intellektueller Durchbildung und Vereinheitlichung der Kultur unseres Zeitalters, als reifste Frucht seiner von der Naturwissenschaft ausgegangenen Entwicklungsfolge und damit der reinen Intellektualentfaltung überhaupt. Wenn auch, nach einer Ruhepause, seitdem abermals die neue intellektuelle Arbeit in bedeutender und wertvoller Anspannung eingesetzt hat, so läßt doch gerade die verschiedenartige moderne Durcharbeitung schon erkennen, daß sie in Hinsicht der prinzipiellen Kultureinheit keineswegs über das alte Philosophen-

Kapitel VII.

erbe jener nationalen Blütezeiten irgendwie hinausführt. Sie beweist nur, daß auch dieser letzte Reifepunkt seitdem endgültig überschritten ist, und daß auch sein Vereinheitlichungswerk sich schon als unzureichend, dem Zerfalle unterworfen offenbart. Auch in der ersten Weltkulturepoche, dem Altertum, zeigt sich der systematisch-intellektuelle Höhepunkt nur als Beginn der Wiederauflösung, der- Niederlage intellektuellen Einheitsstrebens; aber verschieden hiervon ist die Lage und die Aussicht der Kultuj der Gegenwart, die dieser Unerreichbarkeit des Wachstumszieles tiefer, unerbittlicher, endgültiger gewahr wird. Die Wendung in das Innere, zum Ethischen und Religiösen, die die alte Welt schließlich zur intellektualisierten Religionseinheit geführt hat, ist nicht nur deswegen unmöglich, weil die Wiederholung religiöser Kultureinheit gegenüber jener einstigen, erstmaligen Gewalt von vornherein zur Ohnmacht verurteilt wäre, sondern auch deshalb, weil die eigentliche, wachstumskräftige Entwicklungsrichtung des wirklichen religiösen Lebens unserer Kultur von dem für sie unfruchtbar und sinnlos gewordenen Intellektuellen völlig abbiegt, nur den Tiefen ihres eigenen Lebens zugewendet und den theoretischen Grundlagen der Kultur ganz fremd geworden. Nicht nur die geistig unfruchtbaren, jeglichen organischen Kultursinns baren Reätitutionsbegierden unserer Kirchen, sondern auch die freiesten modernen, innerlichen Religionsbestrebungen rein seelischer Natur sind gleichermaßen — und nach ihrer geschichtlichen Voraussetzung notwendig — ohne irgendein Verständnis mehr für intellektuelle Forderungen und für die Bedingungen einer Gesamtkultur. Gerade die bedeutendsten und stärksten Bildungen des neuen religiösen Wachstums sind notwendig auch am weitesten von intellektuellen Ausgleichsfragen und Einheitsbedürfnissen entfernt. Auf der anderen Seite aber ist der fortschreitenden Intellektualentwicklung jedes Hinwenden zum Innerlichen, Ethischen und Religiösen zur Unmöglichkeit geworden. Im Gegensatz zu der Antike hat hier das Versagen der intellektuellen Kultureinheitsreife nach dem überschrittenen Höhepunkt die intellektuelle Wachstumsrichtung nicht gemildert und verändert, sondern in ihrer spezifischen Bewegung nach außen hin gesteigert und verstärkt: ihre besprochene Grundlage, die eigenmächtige Gewalt-und Frucht-

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Zweiter Teil.

barkeit der naturwissenschaftlichen Entwicklung, strömt nun gleichsam ungebunden in der eigentlichen Lebensrichtung reiner Intellektualauswirkung weiter, auch nachdem der auf ihren Prinzipien errichtete Umfassungsbau der einheitlichen philosophischen Verwertung, theoretisch unzureichend, eingestürzt ist und mit seinen Trümmern ihre Stätte weit umher bedeckt. Indes aus solchen Bruchstücken und Trümmern immer wieder, insonderheit in populären Schriften, eine matte Scheineinheit und Scheinfortbildung vorgetäuscht wird, geht der eigentliche Lebensstrom in der Gesamtheit selbständiger Wissenschaften frei -und immer roiner, ausschließlicher der theoretischen Differenzierung und Verarbeitung entgegen, als dem konsequenten Endziel intellektueller Funktionsentfaltung. Diese kann darum, bei der sich steigernden Verwissenschaftlichung nur immer weniger, in ihrer Arbeit und aus ihrem eigenen Fortschritt heraus das ethisch-religiöse Element aufnehmen, durch dessen Beherrschung und Umfassung sie allein sich zur Gesamtkultur erweitern könnte. Alle dahin zielenden Bestrebungen liegen schon rückwärts, in der überschrittenen letzten Kulturblütezeit der großen Intellektualsynthesen, nach deren Scheitern keine Wiederholung möglich ist, da jede weitere Entwicklung die Bedingungen hierfür ständig vermindert. In eigentümlich tragischem Verhältnis entfernt sich beiderseits, im intellektuellen wie im willensmäßigen Gebiet, gerade die ureigenste, gesündeste und stärkste Fortentwicklung der Kulturfunktionen, je bewußter ihre Arbeit sich vertieft, nur immer weiter von dem Ausgleich einer gegenseitigen Gesamtsynthese. Inmitten freilich breitet sich noch die Verlassenschaft der früheren philosophischen Versuche aus, vom Grundstamm der erkenntnistheoretischen Besinnung bis zu- der Verzweigung der methodologischen Verarbeitung, und diese intellektuellen Innenreiche, deren Gehalt das wertvollste und reifste Erbe der Bewegung bildet, sind auch in Zukunft ihres wissenschaftlichen Ertrages sicher. Doch dieser wird bei aller Steigerung nur immer reflexiv, betrachtend sein, ganz fern der produktiven Kraft des wirklichen Kulturwachstums. Nie wird Erkenntnis auch die Lebenswirklichkeit erzeugen und festhalten können. Jede von der Intellektualfortbildung aus noch mögliche Annäherung an die Gesamteinheit bleibt schließlich nur eine Erinnerung vergangener Synthesen,

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Kapitel VIII.

während die Gewalt der Gegenwart und Zukunft in nach außen drängender Bewegung die Kulturfunktionen immer weiter voneinander trennen muß.

Till Diese unzureichende, gleichsam nach außen, seitwärts, leer auslaufende Entwicklungsrichtung der doch andererseits mächtig und breit fundamentierten Intellektualentwicklung wird noch deutlicher in einem Schema der Gesamtkulturbewegung, wie ein solches die Strukturentfaltung bildlich hier vergegenwärtigen soll:

objektivwissentl. Seite.

subjektivwillentl. Seite.

Von beiden Seiten, nach denen und in die sich die Kultur entfaltet — von der gegenständlichen, erkennenden wie von der willensmäßig wirkenden —, erhebt sich das Einheitsbedürfnis der Gesamtkultur, gleichmäßig gleichsam in zwei sich zusammen^ neigenden Kreisbogen ansteigend, die sich im Scheitelpunkte oben treffen und zu einem Kreis vereinen, der als solcher die GesamtS c h r ö t e r , Die Kulturmöglichkeit der Technik.

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heit der Kultur bezeichnen möge. Nach diesem Scheitelpunkt allein hin zielt das Einheitswachstum der Gesamtheit. Nur in dieser zentralen Richtung aufwärts steigend kann es die Einheit dann erreichen und bewahren, wenn jede Seite gleichmäßig lebendig und im Gleichgewicht des Ganzen und das heißt wenn dieses Ganze selbst vollständig einheitlich im Wachstumstrieb verharrt. Seine Bewegung stieg in den zwei Weltkulturperioden doch vorwiegend von der einen und dann von der anderen Seite zu dem oberen Scheitelpunkte an, und diese Pendelschwingung einseitiger Kultureinheitsreife, wie sie zwischen beiden Weltkulturepochen und an ihren beiden Höhepunkten sich vollzieht, jede der beiden Hauptfunktionen nacheinander und für sich allein zu ihrer Reife führend, bedingt eben die Problematik unserer Gegenwart, im Bilde jenes Schemas ihr notwendiges Zurücksinken auf der synthetischen, zentralen Wachstumslinie. Die Wachstumskräfte sind vorhanden, beiderseits, doch stehen sie nicht mehr organisch im Zusammenhang und sind nicht mehr auf jenen Einheitspunkt gerichtet. Diese Mittelrichtung aber können sie durch kein nachträgliches Zusammenbiegen mehr erhalten. Der Lebensbrennpunkt der Kultur der Gegenwart befindet sich in der gesellschaftlich-sozialen wie in der wissenschaftlich-intellektuellen Sphäre mit all ihren Außenkräften, nicht mehr aber bei ihrer jeweiligen religiösen und philosophischen Erhöhung zur Gesamteinheitsbewegung. Diese letztere ist hier schon zur Unmöglichkeit geworden, selbst wenn sie gefordert und gewollt wird. Im Prinzip verhalten sich die beiden Sphären diesem Ziele gegenüber völlig gleich, nur daß die religiösen Erhebungsversuche des gewaltigen ethisch-sozialen Stroms der Gegenwart, infolge ihrer intellektuellen Ohnmacht wie infolge des erdrückenden Vergleiches zur Vergangenheit, in dem Gesamteindrucke vor der intellektuellen Bewegung zurücktreten. Im Reichtum dieser letzteren hingegen erborgen die Erhebungen zur intellektualen Einheit leichter eine täuschende Scheinwirklichkeit von den erst jüngst vergangenen, gescheiterten großen Versuchen dieser Art, wie von der Macht der allgemeinen wissenschaftlichen Arbeit, in der allein die Gegenwartskultur sich geistig auslebt. Die wirkliehe Gewalt des produktiven äußeren Fortschritts wirkt nunmehr in diesen Außenmächten der Gesellschaft und der Wissen-

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schaft und ist hier notwendig wohl aufwärts, aber nicht mehr zu dem Scheitelmittelpunkt der inneren Gesamteinheit gerichtet, so daß die Kräfte der Punktionen nur getrennt und gleichsam parallel ins Leere weisen, an der organischen Vereinigung durch den geschichtlichen Prozeß und sein seither gereiftes Resultat gehindert. Nun ist es wohl der allgemeine Ablauf jeder alternden Kultur, daß mit der wachsenden Differenzierung ihre Kräfte und Punktionsweisen sich mehr und mehr selbständig machen und sich unabhängiger auswirken, so daß schließlich die Gesamteinheit als Ziel nicht mehr erreichbar scheint — obwohl doch das Bedürfnis und die Sehnsucht nach ihr dauernd bleibt. Wer dieser höchsten inneren Synthese im eigenen Leben wie in der Kulturerfassung nicht bedarf, für den sind freilich solche Prägen bedeutungslos — doch ebenso auch alle höheren Kulturerscheinungen, deren Verständnis nur aus jener reifen Einheitssehnsucht möglich ist, mag auch ihr Ziel selbst unerfüllbar scheinen. Ein tragisches Geschick wäre für sie aber erst dann besiegelt, wenn notwendig jede mögliche Erfüllung ausgeschlossen bliebe und durch keine positive Wendung mehr in irgendwelcher anderen Form und Bildungsart gewährleistet sein könnte. Bisher sind nur die negativen Voraussetzungen klar geworden, doch noch nicht die neuen Möglichkeiten, die vielleicht den in der Gegenwart vorhandenen Kräften trotzdem zu Gebote stehen. Von diesen Kräften selbst muß ausgegangen werden zur Entscheidung jener Präge, und es ist auch die Richtung klar, in der allein noch eine solche eventuelle Lösungsmöglichkeit zu suchen ist. Nur aus einem schon von Anbeginn zentralen Gebiete kulturellen Werdens könnte noch die produktive Wachstumskraft zu jenem Einheitsziel aufsteigen, könnten jene beiden gegensätzlichen, grundlegenden Punktionen, die sich in den Außenmächten wissenschaftlichen und sozialen Lebens zu erschöpfen scheinen, doch noch ihrem Wesen nach geeint unmittelbar zusammenwirken — nun aber nicht mehr in der primitiven Ungeschiedenheit, sondern schon in der reifen . Fülle ihrer fortgeschrittenen Entwicklung, und trotzdem in ursprünglicher Vereinigung vom Quell und Mittelpunkt des kulturellen Lebens selbst entspringend. Es müßte, um im Bild jenes Schemas zu bleiben, eben schon von 4*

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unten an die schöpferische Kraft der beiden Grundfunktionen so nahe beieinander, aus dem, gleichen Boden, aus der gleichen Arbeit aufsteigen, daß ihr organischer Zusammenschluß, der in der oberen Hälfte des kulturellen Kosmos nicht mehr möglich ist, von Anfang her und schon von diesem Erzeugungsgrund aus vorbereitet, sich im eigenen zentralen Aufstieg ständig immer neu behaupten könnte, bis er abermals das Ziel der inneren Einheit und Totalität, nun als Gesamtreife, erreichte. Dies wenigstens wäre die positive Möglichkeit, die trotz der dargelegten negativen Bedingungen auch heute noch bestehen könnte. Nun ist kein Zweifel, daß neben und in all der Zerklüftung der Kultur der Gegenwart tatsächliche Momente auch auf eine solche Möglichkeit wenigstens hinzudeuten scheinen. Der naheliegende Gedanke freilich an das zentralste Reich des ganzen Kulturwerdens, das der Kunst, kommt hier für uns nicht in Betracht. Wenn auch die künstlerische Tätigkeit an sich eine Synthese beider Grundfunktionen darstellt, so bleibt diese doch in dem Bereich der eigenen, gestaltenden, spezifischen Kunstschöpfung, die zur sonstigen Differenzierung und Eigenentwicklung der zwei gegensätzlichen Funktionen und ihrer Kultursysteme keinen Zugang hat. Sie reicht in der zentralen Richtung wohl durch das Gebiet der ganzen Kulturwirklichkeit hindurch, in sich stets ihre eigene Erfüllung findend. Doch die, sie selbst umschließenden Gebiete der Gesamtkultur werden von ihr aus nicht beherrscht, geschweige zur Vereinigung gebracht. Es müßte aber eine solche vielmehr schon vom Wurzelpunkt des kulturellen Werdens die Bedingungen der Einheit sich gewinnen und in steigerndem Wachstum erhalten können. Statt die im Theoretischen nach oben zu endigenden Entwicklungslinien zu verfolgen, richtet sich daher unsere Betrachtung nun zurück auf ihren unteren Verlauf, der uns im Bild des kulturellen Schemas abwärts und der Mittellinie näher führt. Die naturwissenschaftliche Breite, in der die Intellektualbewegung, nach dem Scheitern ihrer philosophischen Verarbeitung und Überhöhung, in der Gegenwart verläuft und fruchtlos, gleichsam leer nach aufwärts sich verästelt, setzt sich hier nach unten zu lebendig fort in das Gesamtgebiet der praktischen Auswertung und Anwendung des naturwissenschaftlichen Wissens — in das

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Reich der Technik in dem weitesten und allgemeinsten Sinn des Wortes. Diese Wendung zu dem Grunde des Kultursystems, gleichsam dem materiellen Unterbau der heutigen gereiften Intellektualkultur, müßte also den letzten noch möglichen Wurzelboden für die neu sich bildende Kulturbedingung sichtbar machen. Die Richtung abwärts (in dem Schema des Kultursystems) bedeutet zunächst keinen Rückgang und keine Verminderung der wirklichen Wachstumstendenz. Sie führt uns vielmehr mitten in den äußeren Lebensstrom und die aus ihm aufsteigende Triebkraft der Gegenwartskultur. Wenn auch der kulturelle Oberbau der theoretischen und geistigen Vereinheitlichung der Naturwissenschaften mißlungen ist bzw. sich in bloßer wissenschaftlicher Flachheit verliert, so flutet doch in diesen „unteren" Regionen angewandter und notwendiger A r b e i t die wirkliche, fortdrängende Gewalt der gegenwärtigen Bewegung nur noch um so stärker, einfacher und mächtiger dahin. Was in der Wissenschaft als Drang des Fortschritts wirkt, das strömt zum großen Teil aus diesen tiefer liegenden, elementaren Quellen technischer Notwendigkeit. Diese dereinst durch die naturwissenschaftliche Ausbildung erst mit eröffneten Gebiete sind nun wiederum zu zeugenden Kraftspendern jener Wissenschaft geworden, so daß die Grenze zwischen der nach oben theoretisch abgeschlossenen und der von unten her praktisch bestimmten, ständig neu wachsenden Kraft der Litellektualbewegung sich vermischt. Von unten her, um diesen bildlichen Ausdruck beizubehalten, drängt so die ganze Macht und Not, der Zwang und Kampf der wirklichen, täglichen Forderung des Kulturdaseins, ja des Daseins selbst, in seiner einfachen Notwendigkeit der Lebensarbeit — und doch ist dieser elementare Strom der Lebensnotdurft und -gestaltung unmittelbar, organisch fest verbunden mit dem steigenden geistigen Wachstum wissenschaftlicher Begriffsarbeit und Forschung, und von hier aus mit dem ganzen theoretischen Ausbau der ausgereiften Intellektualkultur. So würde diese, bisher einseitig nach oben zu verfolgte Intellektualbewegung durch die Einbeziehung auch der Technik, als Gesamtheit flüssiger, umfassender begreiflich, bis zu den

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„materiellen" Wurzeln hin und von dem ersten Untergrund her als lebendiges Wachstum erfaßbar, dessen Wucht und Stärke schon von unten her belebend emporquellen könnte. Andererseits jedoch — und dies ist das Wesentliche des neuen Gesichtspunktes — liegt dieser tiefere und materielle Untergrund der Intellektualkultur als solcher ebenso unmittelbar auch im Gebiet der willensmäßigen, gesellschaftlichen, handelnden Kulturbewegung, deren in der Gegenwart wirksame Grundlage in prinzipiell ähnlicher Weise ebenfalls die Technik bildet. Die Entwicklung dieser letzteren beherrscht nicht nur das wirtschaftliche Leben, sondern ihre Kräfte, welche die gemeinsamen Arbeitsbedingungen erzeugen und bestimmen, stellen auch den Wachstumsboden dar für die gesellschaftlich-soziale Kulturbildung in all ihren ethisch-willensmäßigen Entfaltungen. Bis hinab in das Gebiet der technischen Kultur, das als der letzte materielle Ausgang einer schon erschöpften und vom Geistigen zurücksinkenden Endentwicklung erscheint, bleiben wir so in Wahrheit immer noch verbunden mit dem Keimtrieb des nach oben drängenden Kulturlebens der Gegenwart, und zwar nach seinen beiden gegensätzlichen Hauptwachstumsrichtungen des Wissenschaftlichen und des Sozialen hin. Gerade daß die beiden Grundrichtungen selbst gleich wurzelhaft in diese technische Ausprägung der gebieterisch nach vorwärts weisenden Aufgabe unserer Kultur verflochten sind, macht aber auch ihre noch wachsende Vereinigung wahrscheinlich, die nicht nur der äußeren Gemeinsamkeit jener sich gleichzeitig entwickelnden Kulturgebiete zu entstammen braucht. Denn hier bestände dann die Möglichkeit (wenigstens eine prinzipielle Möglichkeit) für die organische Synthese und das schöpferische Höhersteigen der einheitlich, innerlich verbundenen Kulturfunktionen selbst. Wäre dies der Fall und wäre die Verwirklichung der Möglichkeit nur von den Umständen der Gegenwart abhängig, dann allerdings erhielte die „Technik" eine bedeutungsvolle und fruchtbare Stellung im Gesamtkultursystem, von der aus ihre tiefe Kulturaufgabe und ihre eigentliche, ausschlaggebende Kulturbedeutung erstmals sichtbar würde. Denn dann wäre in der technischen Kulturbetätigung eben das mittlere Gebiet des inneren Kulturzusammenhangs erreicht, auf dem die beiden Grundfunk-

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tionen, die in ihrer Überhöhung und Vergeistigung fruchtlos nach der unmöglichen Vereinheitlichung trachteten, nun unten, in dem Fundament des Kulturlebens schon vereint, in prinzipiell verschmolzenem Zusammenwirken doch den Wurzelpunkt einer selbständigen und neu aufstrebenden Kulturbewegung bilden könnten. Wie weit dann deren Wachstum, sich organisch und zentral entwickelnd, zu dem letzten Ziel der Einheit und Totalität ansteigen würde, hinge nur von dem Grade seiner Kräfte ab; der fruchtbare Gesamtkulturboden wäre doch abermals gegeben, und mitten aus dem eigenen Trieb und Drang modernsten Lebens und der Zukunftsgier seiner Alltäglichkeit und seines Wollens, seines Mühens, seiner Qual und seiner Not heraus wäre die innerste, erzeugende Kulturbildungsgewalt zurückgewonnen, die dann auch die negativen Resultate früherer Entwicklungen mit an der positiven Arbeit ihrer Gegenwart teilnehmen lassen könnte. Immer wieder, immer neu, in allen Wandlungen der Kulturformen und Entfaltungen beharrte so die prinzipielle Lösungs- und Vollendungsmöglichkeit ein und desselben Grundproblems, und nur den Grad seiner Verwirklichung könnte die Ungunst oder Gunst der jeweiligen Gegenwart beeinflussen.

IX. Das Ergebnis der vorangegangenen Betrachttingen scheint paradox. Für den inneren Kulturzusammenschluß, der in den höchsten geistigen Kulturgebieten endgültig nicht mehr erreichbar ist, sollte sich eine letzte Möglichkeit und Hoffnung finden eben dort, in jenem Untergrund modernen Lebens, der als die Quelle aller hemmenden brutalen Mächte der bloß materiellen Zivilisation gilt? Und wäre auch diese erörterte, nur hier mehr zu erwartende Kulturbedingung tatsächlich die letzte und einzige Möglichkeit, die für den Reifezustand unserer gegenwärtigen Kultur und ihre Stellung in der jetzigen Epoche noch besteht — darf darum in die tatsächliche Not der Gegenwart so rasch auch die Not-

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wendigkeit hineingedeutet werden? Sind wirklich die Kulturgebiete der modernen Technik, dieses künstlichen Produktes, das sich nun zum erstenmal aus den Voraussetzungen unserer Zeit herausgebildet hat, mit einer künftigen, umfassenden und geistigen Kulturaufgabe in organischen Zusammenhang statt nur in äußere Analogie zu bringen ? Wie sollten die uralten Forderungen tausendjähriger Entwicklung mit diesem spröden, spätesten und augenblicklichen Erzeugnis materieller Vorbedingungen wirklich verknüpfbar sein? Mit dieser Welt der modernen Fabriken, Eisenhütten, Bergwerke, Maschinen und dem ungeheuren Wirbel des Weltarbeitslebens — so unendlich fern den geistigen Gebilden letzter Kultureinheitssehnsucht. Und wäre diese Sehnsucht und dies innere Bedürfnis auch vorhanden — wie könnte es sich eben in der technischen Kultur und mit den Mitteln technischer Kulturbetätigung verwirklichen und sich als den realen und lebendigen Gehalt der Gegenwart behaupten? Dies scheinen Gegensätze ohne jede Brücke des Verstehens, geschweige mit der Möglichkeit eben in wechselseitiger Durchdringung ein organisches und neues Wachstum zu erzeugen-. Vor allem gilt es hier ein Mißverständnis abzuwehren: die Verwechslung von „Technik" als einer Kulturfunktion — in diesem Sinn den intellektuellen, künstlerischen, religiösen oder staatlichen Funktionen und ihren Kultursystemen gleichgeordnet — mit der äußeren Erscheinungsweise unserer heutigen Technik. An dieser werden von kulturkritischer Seite meist nur jene allbekannten negativen Momente anklagend hervorgehoben, die in ihrer eigenartigen und überschnellen Entwicklung im vorigen Jahrhundert so besonders schroff zum Ausdruck kamen: die Übermacht und die brutale Vorherrschaft der materiellen Kräfte, die geistige Verarmung und Mechanisierung alles Lebens, die Ausnützung, Unterdrückung und Entwurzelung des Persönlichen, jener maschinenhafte Druck und Drang eines ganz außermenschlichen Getriebes, das seelenlos die überwältigten, versklavten Menschen in der Wucht seines sinnlosen, rasenden Fortgangs aufopfert und verbraucht. Wer wollte diese dunklen Züge im Antlitz der spezifisch technischen modernen Welt verkennen? Sie sind ihr eingegraben wie von je das Dunkle, Schwere, Niederziehende des Menschen Erbteil bleibt — nur ist es falsch und oberflächlich,

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diese hemmenden Erscheinungen aus der speziellen „Technik" zu erklären, statt aus der Unzulänglichkeit menschlicher Kraft, die jenen neuen Aufgaben noch nicht gewachsen ist. Nur hier, bei dieser noch nicht zureichenden Kraft hat die bewertende Kritik und auch die Hoffnung auf künftigen Fortschritt einzusetzen. Die durch die naturwissenschaftlich-technische Entwicklung geschaffene Lage unserer Zeit ist nur der materielle Grund, auf dem die menschliche Kulturkraft ihre schwere, wohl erschwerte, doch darum nicht unmöglich gewordene Kulturaufgabe zu bezwingen hat. Hier handelt es sich nur um diese Zukunftsaufgabe als um eine Notwendigkeit und Möglichkeit, der gegenüber alle Hemmungen und Unzulänglichkeiten unseres gegenwärtigen Anfangs- und Übergangszeitalters zu bekannt und selbstverständlich sind, als daß sie ausführlich berührt zu werden brauchten. Vielmehr käme es eben darauf an, in und trotz aller Schwierigkeit der Zeit doch auch die prinzipielle Kulturmöglichkeit zu zeigen, deren Erfüllung freilich von der Kraft der Menschheit abhängt, aber die dem Wesen nach in jeder Form und Lage des vielfältigen Kulturwandels nur immer neu als gleiches Ziel vorhanden ist — auch unter der Vorherrschaft der modernen Technik. Man braucht nur diese Technik der spezifischen modernen Eigenschaften zu entkleiden, die sie nur dem Grade, nicht dem Wesen nach zu etwas unvergleichbar Neuem machen, und sie allgemeiner, einfacher in ihrer eigentlichen, intellektuell-zwecksetzenden und wissentlich-wollenden Arbeitsleistung zu erfassen, um auch hier ein schon vorhandenes und wirkendes organisches Kulturprinzip wiederzufinden. Technik in diesem allgemeinen, weitesten und tiefsten Sinn — im Sinne schöpferischer, produktiver Arbeit um des sinnerfüllten Lebens willen — ist nichts Neues, erst Entstandenes. Sie ist gleich ewig, gleich notwendig, uranfänglich mit der Menschheit, mit dem Menschlichen, sobald dies überhaupt den ersten Schritt vom Tier zum Menschen, und das heißt zu menschlicher Kultur zu tun vermag. „Kultur" — in diesem Wort, das nun die letzte Vergeistigung unseres Problems bezeichnet und seine Totalität umfaßt, liegt auch, der Wurzel nach, der erste Ursprung seiner menschlichen Durchführung einge-

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schlössen. Denn das Bauen und Bearbeiten der Erde,. diese grundlegende Tätigkeit des ersten Ackerbauers, ist der konsequent fortzeugende Anfang des dauernden und unaufhörlich sich erweiternden Arbeitsprozesses, der die menschliche Kultur geboren hat, erhält und steigert, von der untersten Bezwingung und Bewältigung des Materiellen an bis zu den letzten Höhen geistig schöpferischer Leistung, die immer neu das Chaos abwehrt von der Menschheit und dem Menschlichen — so wie dereinst die Arbeit selbst das Menschentum erst bildete, ermöglichte und von der Tierheit und dem Drang des Chaos abgesondert hat. Nur in der Arbeit und nur durch die Arbeit konnte dieser Schritt gelingen, der das Mögliche, die Anlage erst voll zur Wirklichkeit erhob im Zwange der Zusammenarbeit, wie sie an besonders günstigen Ansiedlungsstellen der Erdoberfläche aus der Not gemeinschaftlicher Lebensfristung sich ergab. Erst durch die Arbeit erlöste die Gemeinschaft den Einzelnen genügend lang von dem fortwährenden, tierischen Kampf-, Abwehr- und Raubzustand zu freierem, gemeinsamen Einwirken und Erleiden in der sozialen Umwelt, wie andererseits von dem Angstzustand des chaotischen und überwältigenden Grauens vor der roh erfaßten Außenwelt zu einem reiferen und reineren, geistigen Aufnehmen und Handhaben ihrer Erscheinungen. Aber nicht nur als Grundlegung nach jenen beiden Richtungen bildet die Arbeit so den dauernden, gemeinschaftlichen Mutterboden menschlicher Kultur, schon von den Keimen kommender Entwicklung schwanger, sondern zugleich ist auch in ihrem Anfangsstadium schon verwirklicht, was dann später wieder erst so schwer erreichbar wird: die schöpferische und unmittelbare Einheit beider Grundfunktionen der Kultur wie des menschlichen Lebens überhaupt —- der aktiven und willensmäßig tätigen, einwirkenden, und der passiven, geistig, intellektuell aufnehmenden. Der Ackersmann, der primitive Werkmaim des Kulturbeginns, entwickelt in der Arbeit und Bearbeitung der Erde Schritt für Schritt noch beide Seiten seines Wesens aneinander, durcheinander, je nach Maß seiner Bewältigung des Daseins, eben seines Daseins. Sein für den Kulturfortschritt, für dessen inneres Wachstum brauchbares Wissen, Vorstellen, Empfinden wächst gemäß dem Tun und Handeln selbst in seiner Arbeit; er erarbeitet sich

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geistig, als Vorstellungs- und Begriffsordnung, was und wie weit er einwirkt auf die Welt, und umgekehrt ist jederzeit sein Wollen, Tun und Handeln ganz der Ausdruck seines geistigen Besitztums und Vermögens, das als solches voll in die Aktivität einfließen kann. Tun und Denken, Vorstellung und Willenstat verlaufen so flicht in getrennten Bahnen, sondern sind im Leben selbst verschmolzen, werden durch die Arbeit stetig in organischem Zusammenhang gefördert. Wie schon im Rhythmus primitivster Körperarbeit ein als Kunst einigendes Moment das Lebensganze voll durchströmt, so kann sich auch fortschreitend alles Wissen und Vorstellen noch in Tätigkeit umsetzen, und aus dem Tun heraus entsteht die vorgestellte Geisteswelt in dem Gebiet des äußeren wie des inneren Lebens. Ihr synthetischer, hier zuerst als Mythologie erwachsener Überbau ist darum wieder intellektuell und religiös zugleich, Denken und Wollen dem Prinzip nach abermals in sich vereinend. Wie aus dem grauenvollen Chaos angsteinflößender Umgebung sich hier langsam die besänftigten, bekannten Mächte lösen, wie das eigene, aus Furcht und Wirrnis sich klärende Wollen ihre Ordnung und Verwandtschaftskraft erzeugt, so tritt als ihre Einheit in noch allgemein mythischer Formung dann Gottheit um Gottheit, Sinn und Macht erkämpfend auf, als einheitlicher Ausdruck und als innere Gestaltung der gleichmäßig reifenden und noch gleichmäßig sich erfüllenden Lebenstotalität. Die Gegenwart, wie jede spätere und fortgeschrittene Kulturepoche, kennt diesen einfachen Elementarzustand — die Wurzel jedes schöpferischen Kulturverhaltens — in solcher Reinheit nur in einer einzigen, freilich zentralen kulturellen Tätigkeit, dem künstlerischen Schaffen. In diesem höchsten, unmittelbaren Prozeß der völligen In-eins-setzung von Einwirken und Aufnehmen, von Empfindungsausdruck und Vorstellungsgestaltung, verwirklicht sich im Schöpfer jedes wahren Kunstwerks stets aufs neue der Grundvorgang menschlicher Kultursynthese — seinem Prinzip und seinen Kräften nach. Freilich nur im Prinzip — denn jener mittlere zentrale Vorgang beschränkt sich eben auch nur auf den mittleren Bereich des kulturellen Lebens. Die künstlerische Tätigkeit schließt sich zu ihrem eigenen Reich zusammen, ohne mehr, wie einst am Anfang, in sich noch das Ganze der Kultur repräsentieren

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und verwirklichen zu können. Es gälte, wie der Künstler in dem Drang und der Gestaltungsarbeit seines Werkes beide Grundfunktionen nur als eine einzige lebendig auswirkt und dadurch sein Sein und Leben produktiv, einheitlich, voll zusammenfaßt — so auch den nicht mehr primitiven, den entwickelten Gesamtgehalt einer entfalteten Kultur in schöpferischer Arbeit zur Totalität und produktiven Einheit zu erfüllen. Es müßte möglich sein, ausgehend von der einfachen und lebendigen Einheit, die in jedem produktiven Arbeitsvorgang Tun und Denken, willentlich und wissentlich gegründetes Verhalten schon unmittelbar vereinigt, auch die späteren, differenzierteren Erscheinungen dieses Kulturarbeitswachstums von Schritt zu Schritt in gleichmäßigem Fortgang und dam't beständig auch im gleichgewichtigen, organisch sich verknüpfenden Zusammenwirken zu erleben. Dies gilt für jeden Schritt, für jede Stufe der Entwicklung immer neu, und immer, wieder könnte sich aus dem Gelingen jener Einheit auch die Kraft zu weiterschreitender, umfassenderer Einheit neu erheben. So würde, was beim Stand der gegenwärtigen Kultur noch als unmöglich fernes Ideal erscheint, doch in allmählicher Annäherung von Punkt zu Punkt greifbarere Gestalt gewinnen können: daß kein Wissen anders als vom ganzen Menschen voll erlebbar und erlebt auftreten könnte, als Produkt seiner gesamten, schöpferisch sich rein zusammenschließenden Persönlichkeit; und daß hinwiederum seine gereifte Tätigkeit die ganze Fülle geistiger Verarbeitung schon in organischer Entfaltung produktiv enthielte und fortführen könnte. Dann ginge wirkliches Kulturwerden von diesem inneren Lebenszentrum aus und könnte doch seinen wachsenden Reichtum einheitlich beherrschen. Nur jenes Wissen ist lebendig und von innerlichem Lebenswert, das unser ganzes, tätigkeitserfülltes Dasein in seiner Einheit verwirklicht und erhöht. Doch nur an Punkten'gleichsam unserer persönlichen Gesamtheit leuchtet solche Einheit auf, bei jedem anders und bei anderer Gelegenheit — vielleicht auch nur ein einziges Mal im Leben an irgendeinem Hauptgedanken, irgendeiner Wirkung, einer Tat oder einem Wissenszusammenhang plötzlich in voller Tiefe und Lebendigkeit erfahren. Aber solche Punkte sind Andeutungen, Hinweise auf eine Gtesamteinheit der ganzen,

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konzentrierten Lebensmächte, die durch innerliche Ausgestaltung und Verbindung dieser sich erweiternden Ansätze zu erreichen möglich wäre und die dann von sich aus weiterwirkend, steigernd sich behaupten könnte. Freilich nicht auf theoretischem, abstraktem Wege, durch Gedankenausbau irgendwelcher Art läßt sich dies Ziel erreichen, sondern nur dadurch, daß schon von Anfang her an der Vereinheitlichung festgehalten wird, die in der schöpferischen Arbeit wirksam ist und die den unablässig in ihr Wirkenden von innen her ergreift, erhöht und steigert, ihn zu mehr macht als er war und ist •— nicht geistig nur, in bloßem Wissen, oder ethisch, in persönlicher Veredelung, sondern umfassend als gleichmäßiges Wachstum zu einem mächtigeren und entwickelteren Organismus des beherrschten, vollen Lebens. Es wäre so ein langsam steigender Gesamtaufbau des ganzen Lebens denkbar, der nichts Fremdes mehr enthielte und doch alle Wirklichkeit des Daseins einheitlich umspannte, von der einfachen und materiellen Arbeit der Daseinsbehauptung bis zur höchsten, innersten Vergeistigung des Seins. So wie im Großen der Kulturzusammenhang eine gegliederte Gesamtheit schöpferischer Wirkung bilden könnte, von dem Untergrund technischer Arbeit, der Bewältigung der Erde und Naturbeherrschung an bis zu den letzten Höhen geistiger Gestaltung der nur mehr den inneren Menschen steigernden rein seelischen Kultur er scheinungen. Dies wäre dann keine nachträgliche Zusammenordnung, sondern ein gelebter innerer Zusammenhang, und eben schon die schöpferische Kraft der Unterschicht, der technischen Grundlage, würde aus sich selbst fortschreitend und selbstzeugend aufwärts durch die Glieder der- lebendigen Gesamtheit dringen, die sie nach und nach durch ihre eigene Entwicklung hervortreibt und wieder durchströmt, gleichwie das Blut den durch es selbst ernährten Organismus. Die Einheit der Kultur und ihrer produktiven Arbeitsleistung verbände innerlich das Unterste noch mit dem Höchsten, die Wurzelschicht noch mit dem Gipfel, da beide ihrem letzten Wesen nach ein und dasselbe wirkende, lebende Dagein sind, ein und dieselbe Aufgabe bedeuten.

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X. So werden denn nach dem vorausgehend Erörterten nun die Bedingungen der gegenwärtigen Kulturaufgabe und in ihr die prinzipielle Stellung jenes technischen Moments erkennbar. Bs käme darauf an, daß trotz der scheinbaren Kulturzerklüftung und des Zurücksinkens der Kulturbewegung es der Gegenwart gelingt, ihren Hauptlebensstrom, der in der technischen Ausprägung unaufhaltsam alle Zeiterscheinungen und Kräfte zielbestimmend in den eigenen Lauf mit aufnimmt, derart zu vertiefen, daß der Kern der in ihm fortschreitenden Arbeitstätigkeit tatsächlich wieder die Vereinigung der beiden Grundkulturfunktionen ihrem Wesen nach enthielte — und derartig zu erweitern, daß sein Eigenwachstum selber sich organisch zur Kulturgesamtheit dieser Gegenwart entwickeln könnte. Dann erzeugte die wirkliche Kraft der neuen Zeit auch ihren höchsten und lebendigen Kulturwert und zugleich wäre die Fülle der bisher erarbeiteten Kulturinhalte aufs neue in die Fruchtbildung mit eingeschlossen. Sowie nur überhaupt der Kern der technischen Kulturarbeit — als Arbeit — sich zum schöpferischen und umfassenden Erlebnis steigern könnte, wäre durch die systematische Verflochtenheit der Technik mit der strukturellen Kulturordnung die Verbindung zur Kulturgesamtheit selbst gesichert. In intellektueller wie in sozialer Hinsicht geht die lückenlos verbindende Entwicklung in Wissenschaft und in Gesellschaft bis zu den äußersten Verzweigungen der beiden Kultursphären, indes die gegenseitige, sie beide neu erfüllende Funktionsvereinigung hier nun jeweils im Lebensuntergrund der produktiven Arbeit den unmittelbaren, sowohl tragenden als auch erzeugenden, in sich ruhenden Stützpunkt finden würde, der aus eigener Kraft die Richtung auf das Einheitsziel erhalten und das Wachstum bis zur reinen geistigen Umfassung hin im stetigen Zusammenhang bewahren könnte. Diese lebendige Synthese von Wissen und von Handeln, von theoretischer und praktischer Funktion in Hinsicht auf das innerliche Ganze unseres Lebens und des Daseins, ist, wenn überhaupt in produktiver Arbeit lösbar, an jeder Stelle und an jedem Punkt des weitverzweigten technischen Herrschaftsbereiches denkbar, wo nur immer und in welchem Grad nur immer schöpferisch einheitliche

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Erfüllung des in innerlicher Arbeit angespannten Lebens eintritt. Dieser Lebenskern, gleichsam die Urzelle der geforderten Vollkultur der Gegenwart, entspränge nicht aus irgendwelchem theoretischen Geheimnis, sondern bildete sich allenthalben im sachlichen, breiten Strom der Tagesarbeit selbst, als immer neuer Ansatzpunkt und Kraftquell ihrer überall und ständig möglichen Verwirklichung. Von dem Verständnis der einfachsten Arbeit und ihres Naturvorgangs, über die sich anschließende, sich erweiternde Gesamtheit unseres Wissens, bis zu dem Erfassen des Weltganzen und wiederum von dem Erlebnis der einfachsten Arbeitsleistung und ihrer gemeinschaftlichen Aufgabe, über die Gliederungen der sozialen Bindungen, zu den Formen und dem Überbau der ethischen Beziehungen verliefe so nach beiden Seiten die Entwicklung als organischer Zusammenhang, in jedem Augenblick^ auf jeder Stufe gleich lebendig und ihrer Gesamtsynthese mächtig. Denn wenn jenes Einheitsziel der ganzen Richtung auch im Grund- und Ausgangspunkte der Bewegung schon gewahrt ist, kann es' sich auf jeder Stufe der Entwicklung in sich selbst behaupten und auf ganz verschiedenen Wegen gleichmäßig erreichbar bleiben. Immer in das Zentrum der Bewegung weisend, hat es von ihm aus auch immer zu dem Ganzen Zugang, so wie andererseits auch die erreichte letzte Höhe nur die völlige Entfaltung des im ursprünglichen Keime schon Enthaltenen bedeutet. Das reifste Ziel der intellektuellen wie der ethisch-religiösen Allumfassung kann als ein Erlebnis produktiver Arbeit in der ganzen Tiefe ausgeschöpft und ausgewertet werden, als die oberste Bestätigung dieses einheitlichen Kulturprinzips. Auch noch in dem gewaltigsten Versuch der weltbegreifenden, weltschöpferischen Phantasie und der Vfergeistigung des Weltinhalts, wie der sinnbildenden Gesamtverwertung des Lebensgehalts von Mensch und Menschheit trägt jener Zentralbegriff und Zentralsinn der L e b e n s a r b e i t noch das ganze All — so wie er für den Einzelnen die innerste Lebensrechtfertigung enthält. Nur wenn der einfachste Land- und Fabrikarbeiter wie der Höchstgebildete, der grübelnde Gelehrte wie der Mann der Tätigkeit von ihrer Arbeit, ihrem Leben aus unmittelbar zu dem Zusammenhang der vollen Kultureinheit aufzusteigen fähig sind — wenn auch je nach Art und

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Standort ihrer Arbeit in geringerer oder größerer Lebensbreite kann von der Möglichkeit einer einheitlichen Gesamtkultur gesprochen werden, die an allen Arbeitsstätten, allen Lebenspunkten gleichmäßig erwachsend, doch eine umfassend lebensvolle Einheit bilden würde; vom Wissensganzen bis zum Wirkungsganzen innerlich stetig geordnet, und das Weltleben der Gegenwart mit den Kulturerbschaften der Vergangenheit selbstschöpferisch von innen her verbindend. Diese Möglichkeit ist für ihre allmähliche Verwirklichung auf die bestehende, lebendige Gewalt der übermächtigen technischen Kulturströmung angewiesen, die die Gegenwart bestimmt. Eben die schon vorhandene Kraft und Wirkung gilt es auch für das erhöhte und verinnerlichte Ziel nutzbar zu machen. Nur wenn es gelingt, aus dem realen, nüchternen Prozeß der notwendigen Arbeit, gleichsam aus dem Ruß und Staub, dem Druck und Drang des Alltags selbst, die Flamme seelischer Belebimg zu entfachen, kann sich aus ihm das schöpferische Feuer einer dauernden und steigenden Kulturgestaltung nähren, die durQh eigene Kraft allseitig in die Tiefen des gesamten Lebens vorwärtsschreitend eindringt. Aber diese Kraft ist dann dieselbe, die auf anderen, rein geistigen Gebieten die Kulturleistungen der seelischen Form vollbringt. Darum ist sie und ihre Tat schon selbst der Weg zu jener Innerlichkeit der Kultur er füllung, die nicht fern und abgetrennt, in irgendeinem Reich für sich besteht. Wäre es wirklich so, wie es wohl in der Gegenwart den Anschein hat, daß zwei getrennte Kulturströmungen in ihr gleichsam nebeneinander fluten — eine verbrauchte, unfruchtbar gewordene, geistige und eine jugendliche, aber inhaltsleere, materielle, technische — dann freilich wäre es von vornherein unmöglich, diese immer weiter voneinander abdrängenden und die gegenwärtige Kultur zerreißenden zwei Richtungen je wieder wirklich fcu vereinen. Keine Macht der Welt vermag von außen für die bloße Kraft technischen Fortschritts ideale Ziele aufzustellen, sie nachträglich mit dem geistigen Kultlirgebiet in inneren Zusammenhang zu bringen, oder auch nur der Naturgewalt ihrer fortflutenden Entwicklung ein fadenscheiniges idealistisches Mäntelchen umzuhängen, wenn nicht in der technischen Kulturarbeit die

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eigene Seele, die lebendige, im tiefsten Innern schaffende, atmende Seele selbst erwacht. Dieser, aus der technischen Kultur der-einst erwachten, sie beherrschenden und der Natur rein hingegebenen Seele aber braucht kein geistiger Gehalt mehr fremd zu sein. Denn sie fände noch im höchsten dieser Inhalte, auch noch im ältesten Gewand, nur ihre eigenen Gesichte, ihre eigene Sehnsucht wieder, deren Träume sich erst dann im weitesten und vollsten Maß erfüllen würden. Das Wesentliche bleibt sonach der in unserer Betrachtung angedeutete Zurückgang auf den einheitlichen Wurzelpunkt und den gemeinsamen Keimboden jeder schöpferischen Kulturarbeitsleistung, die — zum Geistigen oder Realen hingewandt — gleichmäßig den Gesamtgehalt des Lebens in ihrer „Volltat" zu verwirklichen strebt. "Wie dieser Inhalt sich zur Mannigfaltigkeit des Geistigen und Seelischen ausbreitet und dort gleichsam nur den einseitig, geistig geformten Niederschlag seines Erlebens darstellt, so ist dies Erleben selbst in jeder echten, vollen Leistung gegenwärtig und an jedem Punkt und jederzeit bereit, auch das Bewußtsein der sachlichen Formen mit sich zu erfüllen. Daß dieses letztere noch in der technisch-materiellen, wirtschaftlichen und naturwissenschaftlichen Form zurücktritt' oder unterdrückt wird, liegt an keinem prinzipiellen Mangel, sondern an der Unreife und Ungeübtheit, an der Dumpfheit und Bedrängnis dieser noch gewissermaßen vergewaltigten Kulturform. Sollte eine Überwindung dieses Zustandes möglich sein, so könnte wieder ursprüngliches Leben einheitlich und einfach, rein und machtvoll zur Gesamtkulturumfassung sich erheben.*) Freilich ist hier so nur von Voraussetzungen und Bedingungen die Rede. Unsere Erkenntnis richtet sich nur auf die mögliche, nicht auf die notwendige Wirklichkeit. So dient auch unser Hinweis auf die produktive Arbeit als der möglichen Kulturgrundlage nur dazu, um in der Technik, der gegebenen Herrscherkraft der Gegenwart, neben dem Äußerlichen, Negativen auch das Positive, Innerliche ihrer schöpferischen Möglichkeiten zu bezeichnen. Hier liegen wirkliche, bejahende Momente einer möglichen zukünftigen Kulturentwicklung in der Gegenwart, wie auch die hindernden, verneinenden Momente in ihr vorhanden sind. Es gilt, die positiven wie die negativen zu betrachten und zu prüfen; aber die S c h r ö t e r , Die Kultivrmöglichkelt der Technik.

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Entscheidung über beide steht nicht der Erkenntnis zu. Wir sind nur forschende Beobachter eines Kulturprozesses mit den Anzeichen von steigender oder von sinkender Bewegung, durch die er seine eigenen inneren Lebenskräfte kundtut. Wir können für den Fall des Aufsteigens die Formen und Bedingungen seiner Entwicklung wohl erkennen und verstehen, doch daß er aufsteigt, hängt allein von seiner Kraft und nicht von unserem Begreifen ab. Genau gesprochen also von der Art und Ausbildung der schöpferischen Arbeit unserer Gegenwart und Zukunft — ob sie zu der bloß mechanischen Arbeit und Not zurücksinkt, oder ob sie dauernd sich zu produktiver, innerlicher Tätigkeit erhebt und steigert, die hier als Bedingung einer neuen möglichen Kulturentfaltung nachzuweisen versucht worden ist. Die Reifephase einer solchen würde sich für unsere Gegenwart und ihre Übergangskultur als Zukunftsmöglichkeit und Zukunftsaufgabe von der Vergangenheit abheben, als bewußte Grenze einer Zeit und ihrer Selbsterkenntnis: Der weitere Verlauf kann überhaupt nur abwärts führen, zu wachsender Entfremdung, Stagnation, Erstarrung, oder aufwärts, aber dann nur in der Richtung, in der Art und mit den Mitteln der erörterten und durch die gegenwärtige Entwicklung unserer Zeit bereits entschiedenen Kulturbedingungen. Auch dieser Ausblick auf die Zukunft beschränkt sich notwendig auf Formen, auf Formalbedingungen dieser erst möglichen Entwicklung. Die erfüllte Wirklichkeit kann nur der Zukunft selbst, nicht unserem Denken angehören. Doch sind für dieses eben die Formalprinzipien und -bedingungen von höherem Wert als jeder nur vermutete Gehalt, weil sich in ihnen ein beharrendes Gesetz der vielfach wechselnden, unsicheren Erscheinungsfülle jetzt schon klar erfassen läßt, : das unter ihrer Mannigfaltigkeit erhalten bleiben wird. — Was inhaltlich, das heißt an äußeren Beziehungen, noch zu bestimmen ist, versucht der letzte Teil abschließend darzustellen. *) Vielleicht bedürfte es nur der Erweckung dieses Lebens, der Hintanhaltung der bisherigen Schädigungen dieser jungen, keimenden Kulturweit. Freilich einer schon von unten her den ganzen Bau unseres Kultur gefüges lebensvoll durchdringenden, organisch fördernden Erziehung und Disziplinierung. Wichtiger als alle spätere Ausbildung ist hier der Beginn der Kulturauf nähme schon in den Schulen. Eben der Anfang der Kulturbewegung müßte in der allerersten Aneignung und Durcharbeitung schon

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Kapitel X,

selbstschöpferisch lind einheitlich vor sich gehen können, und zwar gerade in den unteren Elementarschulen und den auf ihnen aufgebauten Fortbildungsanstalten unserer Großstädte, mitten heraus aus dem Konflikt und der Anspannung ihrer Arbeitsförderungen — mit dem Idealziel der in selbsttätigem Fortschreiten errungenen, dauernden Lösung. Wenn ein bedeutsamer Beginn in dieser Richtung — zunächst unter Hervorhebung des ethischen und pädagogischen Gesichtspunktes — schon gemacht ist, und zwar nicht nur theoretisch in den zahlreichen grundlegenden Erörterungen G e o r g K e r s c h e n s t e i n e r s , sondern praktisch in den segensreichen Ausführungen, die die Lebensarbeit dieses großen Schulorganisators seinen Plänen schon gegeben hat und weiterhin verheißt, so ist nicht abzusehen, warum aus diesem Anfang sich nicht auch in Richtung des organischen Gesamtkulturwachstums noch sehr viel weitergehende Ergebnisse erwarten lassen sollten. Denn die dort im Mittelpunkt stehende K r a f t der „produktiven Arbeit" könnte ihre, in gemeinschaftliche Steigerung so fruchtbare soziale, ethische und pädagogische Wirkung erweitern auch auf das Erleben intellektuell bedingter, aber immer tiefer die Lebens* gesamtheit selbst umgreifender und schöpferisch wertvoller Inhalte des Kulturganzen. Eben in der Arbeitsrichtung auf die Einheit des umfassenden Kulturinhalts läge die ergänzende Korrektur f ü r jene noch dem arbeitenden Einzel-Ich anhaftende Beschränktheit und Einseitigkeit. Und warum sollte nicht von Anfang an bei der erziehenden Kulturvermittlung wieder das erfüllte, ursprüngliche und gleichmäßige Erleben der allmählich steigenden Inhalte schon auf jeder Stufe f ü r sich möglich sein ? Auf diesem Grunde ausgeglichenen Wachstums könnte dann das ganze Schulsystem bis zu den Hochschulen und Akademien sich aufbauen, auf jeder Stufe seines keimenden Lebens gewiß, und ohne die Gefahl, daß eine Stelle und ein Zweig des vielästigen Baums als dürres Holz und bloßes „Fachwerk" zu vertrocknen hätte, oder daß einzelne abgestorbene Außenenden gleichsam in das Leere stünden. Auch di« von Einsichtigen empfundene Spaltung unseres höheren Bildungssystems in Universitäten und technische Hochschulen — das schulmäßige Spiegelbild jener besprochenen inneren Entfremdung und Spaltung der geisteswissenschaftlichen -historischen und technisch - wirtschaftlich -naturwissenschaftlichen Strömung der Kultur der Gegenwart — wäre durch den angedeuteten Wachstumsaufstieg zu heilen, der die schöpferisch verinnerlichte Bildungseinheit schon auf jeder Stufe gleichmäßig ermöglichte und sie bis zur Zusammenfassung und zur Verlebendigung der höohsten Resultate hin festhalten könnte. Durch die hier erreichte innerliche Reife würde jene gegenseitige Entfremdung der, jetzt nur zur geistes- und naturwissenschaftlichen fachlichen Berufsausbildung dienenden Hochschulen ganz von selbst schon überholt und überwunden werden. Vielleicht kommt solcher zukünftigen inneren Verschmelzungsmöglichkeit noch eine Münchener Neugründung entgegen: die im „deutschen Museum" angebahnte allgemeine Sammlungs- Sichtungs- u n d 5*

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Zweiter Teil.

Vermittlungsstätte der naturwissenschaftlich-technischen Kulturbildungsmittel, Resultate und Absichten .— vorausgesetzt, d a ß das bedeutsame Museum, das gleichsam als ruhendes, gefaßtes Spiegelbild das in den äußeren Gebieten schon Erreichte und Gewonnene zu fruchtbarer Anschauung bringen soll, auch darüber hinaus nooh, als die produktiv vermittelnde, zentrale Kreuzungsstelle rückwärts überschauender und vorwärts forderflder Tendenzen, aus sich selbst schon die belebende und überlegene Schöpferkraft entbinden könnte, die womöglich jede naturwissenschaftliche und technische Tatsache und Tathandlung bis zum geistigen und seelischen Kulturerleben steigern und erhöhen würde. Die geschaffene Organisation böte hierfür wohl mannigfaltige Gelegenheit, und hiei, auf solchem F u n d a m e n t , ließe sich dann auch wohl eine Ergänzung und ein Gegenstück zu unseren Akademien der Wissenschaften denken — gleichsam ein geistiges, überschauendes H a u p t der naturwissenschaftlich-technischen Kultur, die dann, seelisch gereift, zu allen übrigen Inhalten und den Geisteswissenschaften selbst nicht erst die Brücke suchen müßte, da von Grund an schon in Aufnahme und Auswirkung nur eine einheitliche, ursprüngliche und lebendige Gesamtkultur allseitig sich entfalten könnte. (Ansätze zu analogen Zielen von technischer Seite her mehren sich in der neueren Literatur — von der nur programmatisch andeutenden kleinen Schrift von B e r g e r („Deutsche Kulturaufgaben", Cassel 1915) bis zu der mehrbändigen Werkreihe von R a t h e n a u (Berlin 1918), zu deren Problematik am besten L. v o n W i e s e s treffende Kritik („Freie Wirtschaft", Leipzig 1918) zu vergleichen ist. Das Wichtigste des uns bekannt Gewordenen scheinen die bedeutenden, am Einzelbeispiel der technischen Ausbildung den eigentlichen Kern der Sache treffenden Reformvorschläge von Prof. Dr. J u l i u s S c h e n k („Die Begriffe Wirtschaft und Technik" usw., Breslau 1912. „Der Ingenieur, seine Ausbildung" usw., München 1919. „Zur Reform des Unterrichtes" usw., Breslau 1920), die in spezieller technischpädagogischer Beziehung vielleicht manches anschaulicher werden lassen, was hier beim Verfolgen bloßer abstrakter Beziehungen schematisch bleiben muß. Den Anregungen dieses „Predigers in der W ü s t e " wäre nur weitgehende Durchführung und Fruchtbarmachung zu wünschen.)

Dritter Teil. XI. Durch die Zeiten menschlicher Kulturtntwicklung, schon von frühe an, zieht sich-ein wesentlicher Unterschied — der zwischen selbständig in einem Volk erwachsender Kultur und der ihr folgenden Ausbreitung, Übernahme und Verarbeitung im Gang der weiterschreitenden Kulturfortbildung, die über das EinzclvoJk und seinen Lebensgang hinübergreifend, allgemeineren Schicksalen zureift. Da sich ein allererster Anfang der Kulturentstehung im unzugänglichen Dunkel der Vorzeit verliert, so sind ja überhaupt von jeher nur die beiden Elemente des Kulturwerdens zusammenwirkend zu beobachten: Das kulturfähige Volk auf der einen und die von Vorgängern übernommene Kulturanregung bzw. Erbschaft und Kulturfortbildung auf der anderen Seite. Nur derart geht geschichtliche Kulturentfaltung überhaupt vor sich, daß schon vorhandene Kulturelemente Anstoß geben zur neu einsetzenden Entwicklung an neuem Volk und neuer Rasse, dereu Eignung sich aus dieser Übernahme und Weiterführung erst ergibt — sei es, daß die neugeschaffene Entwicklung sich iii einem eigenen großen, ja das Erbe an Bedeutung übertreffenden Lebensprozeß vollendet (wie beim Schicksal aller wichtigen Kulturnationen älterer und neuerer Zeit) — sei es, daß die Übernahme eine schwächere, einseitige Ausbreitung und Verflachung der allmählich sich verlierenden Kulturerbschaft bedeutet (wie bei manchen Halbkulturerscheinungen in der Geschichte des Islam, des Orients und Asiens) — oder endlich, daß die Kultureinwirkung

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Dritter Teil.

nurmehr Zersetzung und Verfall zur Folge hat (wie bei so vielen, von der höheren, doch unassimilierbaren Kultur berührten Halbkultur- und Naturvölkern). Diese Unterscheidung zwischen Eigenwachstum und Verarbeitung, unmittelbarer und vermittelter Kulturentfaltung, nimmt an Bedeutung zu mit der sich steigernden und sich umfassender zusammenschließenden Entwicklung der Weltkulturen. Auch ihre wesentlichen Grundbildungen sind zugleich auch Reifevorgänge in einer großen Nationalkultur; doch mehr und mehr setzt hier dann nach und über diesen jene weitergehende, vielfältig sich verflechtende Entwicklung der Kulturgebilde ein, die immer unabhängiger vom Einzelvolk und gleichsam nur der Kraft der geistigen Gebilde selbst imd ihrer Forderung nachgebend, nun in ihrer Weiterbildung und Verarbeitung einen selbständigen, eigenen Wachstumsvorgang formt, mit seinem Lebensverlauf von Blüte, Reife und Verfall auch noch jenseits aller Entwicklung eines Volks und einer Rasse. Wohl sind auch hie]' naturgemäß alle Verhältnisse der sich vermischenden, zusammenwirkenden, oder sich ablösenden und im Wandel vielfachen Geschicks verbrauchten Völker, als der substantiellen Grundlage auch der gesteigertsten, vergeistigsten Kulturfortbildung, für die letztere von immerwährender und ausschläggebender Bedeutung — doch dieser wechselseitig wirkende Zusammenhang zwischen dem Reife- und Zerfallsprozeß der späten, weitausgreifenden, geistigen Weltkulturgebilde und den sich unter diesen vollziehenden Schicksalen der sie tragenden Volkswandlungen ist ein ganz anderer, verwickelterer als der frühere, unmittelbar zwischen dem Werdegang der reifenden Einzelnation und ihrer in lebendigem, einfach-organischem Prozeß reifenden Nationalkultur. Er begründet eine neue Periode der Entwicklung. Schon in der babylonischen Geschichte und dann im Perserreich sind Ansätze zu einer solchen zu beobachten. Im vollsten Maß tritt diese grundsätzliche Änderung des Kulturfortgangs dann in dem gefestigten römischen Weltreich ein, als sich die erste Weltepoche europäischer Kultur am Mittelmeer zu einer eigentlichen Weltkultur zusammenschließt. Die Elemente, die zu ihrer Bildung zusammentreten, sind wohl alle als die Nationalkulturen einzelner Kulturvölker gereift; doch keines dieser Völker selbst, die ihren eigenen Wachstumshöhepunkt nun überschritten hatten,.

Kapitel XI.

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war fortan Träger jener Weltkulturfortbildung, sondern diese ruhte nun auf dem Verhältnis der verschiedenen zu einander, eben in ihrer Ausgleichung und Gegenwirkung, sowie auf der erst über ihnen sich vollziehenden Durchdringung und geistigen Auseinandersetzung der Kulturmächte und ihrer sich als wesentlich behauptenden Gebilde. Als späte Enderscheinung beginnt die internationale Weltkultur als solche ihren eigenen Entwicklungsprozeß. Auch bei der gegenwärtigen, der zweiten Weltkulturepoche ist dieser Hauptscheidepunkt schon eingetreten und seine Auswirkung fällt eben mit dem Übergangszeitalter unserer Kultur der Gegenwart zusammen — die Analogie und auch den Gegensatz zum ähnlichen Vorgang im Altertum vor Augen stellend. Statt jener einen, geistig überragenden Nationalentwicklung der griechischen Kultur, die schon im Hellenismus und dann im römischen Weltreich in allmählichem Fortgang zur intellektuell herrschenden Weltkultur sich ausgestaltet hat, erscheinen in der neuen Weltepoche die gleichzeitigen Nationalkulturen der zusammen sich neu bildenden germanisch-romanischen Hauptvölker des neueren Europa. Statt der einen intellektuellen Hauptlinie herrscht hier von Anfang eine Mehrheit gleicher, gleich bedeutender, zusammenwirkender Entwicklungen. Verlaufen sie zuerst auch noch verhältnismäßig isoliert, solange noch die Einzelvölker zu der nationalen Individualität sich erst zusammenschließen, so besteht die eigentliche reifgewordene Kulturentfaltung Neueuropas, wie schon früher erwähnt, in einer Wechselfolge seiner steigernd sich ablösenden und hierin sich bedeutungsvoll verflechtenden nationalen Hauptkulturzeitalter. In ihrer Reihe erschöpft sich das selbständige Kulturwachstum der Einzelvölker selbst, deren ausgereifter individueller Aufbau nirgends mehr durch irgendwelches nationale Kultur werden eine Weiterführung zu erwarten haben kann. Andererseits sind aber diese Elemente der modernen internationalen Weltkultur, die so zur gleichen Zeit, vom gleichen Ausgangspunkt, in Austausch und Abfolge ihrer inneren Höhepunkte den gemeinsamen Gesamtgehalt nun zur gemeinschaftlichen Reife brachten, einander darum ihrem Wesen nach verwandter, als dies beim Zusammenschluß der Weltkultur des Altertums der Fall war. Nicht sich fremde und gesondert ausgebildete Religions- und Intellektualentwicklungen traten, wie dort, erst

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Dritter Teil.

zu Neubildung und zu geistigem Wachstum .zusammen, sondern diese ihre durchgearbeitete Erbschaft wurde hier von allen neu entstehenden Kulturen relativ gleichmäßig aufgenommen, so daß sie von vornherein schon einer prinzipielleren Einheitlichkeit der Weltkultur der Gegenwart zustrebten. Die großen geistigen Kulturfunktionen stehen überall in ihr im gleichen, schon erörterten Verhältnis, das aus sich selbst heraus zu keiner weiterschreitenden, fruchtbaren Auseinandersetzung der Kulturgebilde führen kann und eine solche wird auch durch die äußerliche Mannigfaltigkeit der heugereiften Nationalkulturen nicht ersetzt. Wohl ist, im Gegensatz zum Altertum, die Mannigfaltigkeit der vielen und verschiedenartigen, in den verschiedenen Nationen individuell entwickelten Kulturzentren von größerer Reichhaltigkeit, und sie bedingt einen vielfältigeren, stärkeren Austauschprozeß zwischen den Einzelvölkern als jemals vorher — doch dessen Möglichkeit bezieht sich nur mehr auf das Äußere und auf den wissenschaftlich-sozialen Unterbau der sich vermischenden und ausbreitenden Weltkultur, nicht auf das produktive, innere Gebiet wirklichen Höherwachstunis. Der Mangel eines solchen — hier auch aus dem Pehlen weltkulturgeschichtlicher, organischer Funktionsbeziehung noch einmal erläutert — ist ja nur ein anderer, anders begründeter Ausdruck des früher schon an dem StrukturZusammenhang erklärten Sinkens der Kultur der Gegenwart zu bloß sozialen, wissenschaftlichen und technischen „Außengebieten". Kein innerer einheitlicher Kulturausglcicli verbindet mehr die Völker, sondern in der bloßen Form, Gestaltung und Vermittlung äußerlichen Lebens ist die Weltkulturgemeinschaft wirksam, und nicht innerliche Not und schöpferische Sehnsucht nach geistiger Einheit und Vollendung ist die Triebkraft'des gewaltigen Kulturweltlebens, sondern überwiegend die drängende materielle Macht der untersten Lebensnotwendigkeit, die Kampf und Arbeitsdruck der wirtschaftlichen Fortentwicklung beherrscht und von der übermächtigen Hochflut des technischen Wachstums getragen wird. Es erhellt unmittelbar, was es bedeutete, wenn diese überflutende, ansteigende Gewalt der „technischen" Kultur der Gegenwart von ihrer äußeren Kulturherrschaft sich — in und durch sich selber, durch das Wesen ihrer eigenen Grundfunktion — zur innerlichen Kulturfülle zu erheben fähig wäre, die in organisch reifer

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Fruchtbarkeit von dem grundlegenden Zusammenhang aus die Kulturgesamtheit einheitlich bis oben hin vollenden könnte; wenn also das zentral aufsteigende lebendige Kulturwerden, das weder in den abgeschlossenen nationalen Bildungen, noch in einer fruchtbaren Spannung internationaler geistiger Kulturbeziehungen den Boden für sein Wachstum findet, seine Kraft schon eben aus dein großen äußeren Lebensstrom der Gegenwart entnehmen könnte, der dann selbst nach innen und aufwärts gerichtet wäre. Denn dann wäre dieser Strom der Gegenwart, der in seiner Alleinherrschaft die Völker gleichsam nur mechanisch aneinanderdrängt und sie verbraucht, von seinen eigenen Erzeugern, den europäischen Kulturnationen, wieder unterworfen und zu höherem Dienst benützt. Weil dem Prinzip nach seine Tiefe, wie sich zeigte, bis zu dem Grunde der Kulturfunktionen selbst und ihrer Einheitsmöglichkeit hinunterreicht, so wäre seine völlige Beherrschung und Verinnerlichung gleichbedeutend mit der schöpferischen Verlebendigung einer erneuerten Kultur, die bis hinein in ihre neu zurückgewonnene Vergangenheit des inneren und äußeren Problems einheitlich mächtig würde. Dann aber würde der so reich differenzierte und gegliederte, aus nationalen Zentren sich aufbauende Menschheits- und Völkerkosmos unserer Welt eben der Eigenart und den Voraussetzungen jener technischen Kulturverwirklichung entgegenkommen. Denn die prinzipiell vorhandene Möglichkeit der Technik, fast an allen Einzelpunkten zur Kulturfunktion sich zu erheben, fände an der Mannigfaltigkeit verbundener und notwendig nach gleichen Zielen strebender Nationen das geeignete, in ihrem Wettstreit sich entfaltende Betätigungsgebiet für ihre materielle Fülle *— und zugleich sind diese nationalen Einzelglieder durch den systematischen Kulturzusammenhang ihrer Vergangenheit sich doch so nah und ähnlich, daß die volle Einheit eines europäischen Kulturganzen wirklich als ein lebendiges und allseitig wachsendes Ganze; sich entwickeln könnte.

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Dritter Teil.

XII. Ein europäisches Kulturganze — dieser noch problematische Begriff freilich mahnt unsere Betrachtung des technischen Einflusses auch hier in dieser Hinsicht noch zur Vorsicht. Denn mögen so auch in dem europäischen Völkerkomplex die äußeren Verwirklichungsbedingungen für die im letzten Hauptteil ausgeführte prinzipielle Kulturmöglichkeit der Technik schon vorliegen, welche Kraft verbürgt, daß diese Möglichkeit unter den Hemmungen der Wirklichkeit sich durchsetzt ? Gerade das Verfolgen der äußeren Grundlagen und äußeren Wirkungen der Technik aber wird uns einen derartigen vorteilhaften Zwang erkennen lassen, wenn wir diese europäische Grundlage nicht mehr isoliert für sich betrachten, sondern nun in ihrer Weltstellung zwischen den Kontinenten von Amerika und Asien, in dem Weltkulturzusammenhang der Erde. Wie schon früher erwähnt (Kap. V, Anm.) ist die moderne Technik mit ihren naturwissenschaftlichen Grundlagen und ihren wirtschaftlichen Polgen fast das einzige Moment westlicher Weltkultur, das auch das fremde, völlig anders aufgebaute, sich verschließende und alles Westliche verächtlich abweisende Asien in seinen Bann gezogen hat. Zunächst vom Westen selbst in durchaus egoistischer und materieller Expansion umgriffen, kolonialwirtschaftlich und industriell bedrängt und ausgebeutet, hat das alte Asien neuerdings auch selbständig nach diesen technischen Kulturmitteln gegriffen, deren äußerliche Übermacht es handgreiflich erfahren hatte. Japan ist das Beispiel dafür, daß ein ostasiatisches Kulturvolk sich der, seiner eigenen Entwicklung völlig fremden technischen Kulturgebiete, dieser jüngsten äußeren Resultate unserer Kulturwelt, in bewußter Arbeit zu bemächtigen vermag und sie für seine Zwecke ausreichend beherrschen kann, ohne darym doch seiner eigenen, andersgearteten Kultur in allem Wesentlichen je untreu zu werden. Es bleibt hier die naturwissenschaftlichtechnische Oberfläche freilich nur ganz äußerlich, ein künstlich angeeignetes Mittel zum Zweck, der aber trotz der Artfremdheit zur Stammkultur mit diesen Mitteln durchaus zu erreichen ist. Auch dort im Osten folgen aus der eingeführten Technik sozial und wirtschaftlich, ja militärisch und politisch sehr beachtenswerte umwälzende Tatsachen. Allein schon die unendlichen, un-

Kapitel XII.

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ausgeschöpften materiellen Möglichkeiten des chinesischen Millionenreiches verbürgen eine zukünftige panasiatische Entwicklung eben der technischen materiellen Kräfte Asiens, deren Quantität Europas Stellung wie die Weltverhältnisse im ganzen grundsätzlich verändern muß. Gleich einer Woge steigt diese östliche Zukunft dem Stammland Europa entgegen — auf immer fremd, ohne Zusammenhang mit all den asiatischen Kulturen, entfaltet sich die Technik, das Geschenk des Westens, bei den fernen Völkern doch in unheimlicher Wachstumskraft, wie ein selbständig wucherndes Gebilde, dessen Portschreiten, wenn auch nur durch die bloße materielle Wucht, die Weltverhältnisse beherrscht und für Europa ungünstig verschiebt. Merkwürdigerweise wiederholt sich dieses Schauspiel, nur in einem Punkt verändert, auch im fernen Westen. Der Kontinent von Nord- und Südamerika wie auch das Kolonialgebiet Australiens und Afrikas, im Gegensatz zu dem uralten Kulturboden Asiens fast ausschließlich von neuen, europäischen Volkselementen in verschiedenartiger Mischung besiedelt, hat seit zwei bis drei Jahrhunderten auf seinen ausgedehnten leeren Räumen eine vielgliedrige Staatenwelt entstehen lassen. Diese verschiedenen und unter sich verschiedenfach verbundenen Tochterkolonien der großen europäischen Nationen haben jedoch bisher noch nirgends und in keinem Punkt die innerliche, geistige Entwicklung ihrer europäischen Mutterkultur in eigenem Aufstieg erreicht, geschweige denn erweitert oder fortgebildet. Der produktive Bildungsgang der neuen Weltkultur verläuft ausschließlich in Europa, in jener Abfolge nationaler Kulturblütezeiten. -Er ist seither nirgends, weder in dem Stammland, noch in dessen Kolonialgebieten irgend fortgesetzt. Vielmehr herrscht im weiten Umkreis dieser letzteren allein die technische, soziale und wirtschaftliche Kulturstufe, das vorläufige Resultat der Gegenwart, zu dem die durchschnittliche europäische Entwicklung zurückgesunken ist oder bei dem sie stehen blieb, und das die Kolonialentwickluiigen, die jener großen kulturschöpferischen Grundlage entbehren, überhaupt noch niemals überschritten haben. Abermals wie in Ostasien — dort erst in der Zukunft — sind es auch hier vorerst nur die materiellen großen Möglichkeiten, die der technischen Kulturentwicklung einen neuen Nährboden darbieten und hier ihre treibhausartige, einseitige Entfaltung hervorriefen.

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Dritter Teil.

So scheint Buropa beiderseits von einer starken, in Zukunft noch unvergleichlich stärker anwachsenden Übermacht bedrängt, mit der sein eigenes Erzeugnis, die naturwissenschaftlich-technische Gegenwartskultur, nun ihrer materiellen Herrschaft ganze Erdteile neu unterwirft und sich, entwachsen, auch dem Mutterlande feindlich gegenüberstellt. Zweierlei wäre hierzu zu bemerken: Entweder ist wirklich dieses materielle Endergebnis unserer technischen Kulturstufe ein letztes Endstadium der geistig schon verbrauchten und erschöpften europäischen Entwicklung — dann ist es auch ganz gleichgültig, ob wir verarmten Epigonen einer größeren, doch abgestorbenen Vergangenheit vom materiellen Siegeslauf der mit unseren äußerlichen Resultaten ausgerüsteten Emporkömmlingen eigener oder fremder Rassen überflügelt werden. Oder dieses größte, bestverdiente Armutszeugnis in der Weltgeschichte trifft auf unser gegenwärtiges Europa noch nicht zu und die hier früher besprochenen Möglichkeiten einer aus der technischen Kulturgrundlage aufsteigenden inneren Gesamtkultur behaupten sich trotz aller Hindernisse — dann vermag die europäische Geschichte jener äußeren Übermacht ganz andere Kräfte und Aufgaben entgegenzuhalten, die die Entscheidung endgültig verändern. Am deutlichsten wird das Verhältnis gegenüber Asien, das in seiner weitaus einfacheren Kulturschichtung, der Zeitfolge wie der Zusammensetzung nach, aller historischen wie strukturellen europäischen Voraussetzungen jener technischen Kulturschöpfung entbehrt. Die Artfremdheit der letzteren zu Asien ist so groß, daß ohne dieses Zwischengebiet der äußerlichen, materiellen Arbeit überhaupt keine Kulturberührung" oder kulturelle Auseinandersetzung zwischen östlicher und westlicher Welt möglich wäre. Nur in dieser materiellen Außenschicht der Technik wirken die so grundverschiedenen und unvergleichbar fremden Welten aufeinander im Wettkampf der Macht. Aber aus dieser untersten, äußeren technischen Kulturschicht wird in Asien niemals ein organischer Kulturaufstieg hervorgehen, weil dies äußere und fremde Element dort eben äußerlich und isoliert verbleiben muß. Niemals kann dort, auf fremdem Boden, das einzig in der zweiten europäischen Kulturepoche selbst begründete naturwissenschaftlichtechnische Wachstum seine hier nur zu erwartende wirkliche Kulturmöglichkeit entfalten. Ebensowenig fände auch diese Entfaltung

Kapitel XII.

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den ihr nötigen Nährboden, die wechselweise Ineinanderflechtung von verwandten und selbständigen Kulturnationen. Das Pehlen jeder, auch der geringfügigsten eigenen Produktion und Fort : büdung — wie dies für den in Asien eingeführten technischen Kulturzustand durchgängig gilt — ist daher nicht etwa nur eine Schwäche der hier erst beginnenden Entwicklung, sondern der einfache Ausdruck des begründeten und prinzipiellen Unvermögens, hier selbstschöpferisch zu sein. Nur die quantitative Vervielfältigung des fertig erst vom Westen Übernommenen und Nachgeahmten, nur die Massenkonkurrenz wird so die westliche Technik von Asien zu fürchten haben, keinen Wettkampf schöpferischer Kräfte, deren Quellen hier für dies Gebiet ausschließlich europäischen Kulturvölkern entströmen. Wird deren Betätigung durch jene materielle Konkurrenz in Zukunft immer mehr bedrängt, so wird sie selbst nur immer strenger, immer angespannter sich zu steigern haben — zu dem eigenen, höheren, in Not erkämpften Wert. Die ursprüngliche Möglichkeit zur schöpferischen Übermacht bleibt so in naturwirtschaftlich-technischer Hinsicht, im Sinne äußerlicher, materieller Portbildung, und um so mehr im Sinne innerer, organischer Gesamterhöhung, auf der Seite der westlichen Weltkultur. Sie könnte keinen äußeren, nur ihren eigenen inneren Gefahren einst erliegen. Weder die Weltbedeutung der asiatischen Kulturen, noch ihre gTQßen eigenen Weltkulturaufgaben werden hier geleugnet — wohl aber ein dauernder und fruchtbarer Zusammenhang derselben mit den fremden Elementen der naturwissenschaftlich-technischen, westlichen Kultur. Die notgedrungene Übernahme dieser Elemente bedeutet für die östliche Kulturwelt letzten Grundes nur ein Hemmnis, eine fruchtlose, erschwerende Verwirrung. Doch für ihre eigenen Erzeuger, für die produktiven westlichen Kulturnationen k ö n n e n sie zum Mittel werden, um ihr äußeres und inneres Kulturgebäude als lebendige Gesamtheit fortzubilden. Nur hier allein enthalten sie trotz aller Hemmungen und trotz aller Gefahren auch die positiven Möglichkeiten einer überlegenen und weltumfassenden Kultureinheit und Kultursteigerung. Weniger klar erscheint die Stellung zu Amerika, da hier eine eventuelle Anfangsphase der erst kommenden Entwicklung noch nicht sichtbar und beurteilbar sein könnte. Die Schlackenkruste

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Dritter Teil.

der modernen naturwissenschaftlich-technischen Kulturwelt, die sich über die asiatischen Kulturvölker gleich einer fremden Panzerdecke schiebt, die, um im gleichen Bild zu bleiben, auf den europäischen Kultumationen als die eigene und selbsterzeugte Schale aufliegt, sie ist in Amerika und all den anderen großen Kolonialgebieten gleichsam das bis jetzt einzig vorhandene, außer und unter dem hier überhaupt noch kein Kulturleben erkennbar ist. • Die quantitativen Maße dieses bloß sozialen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, technischen Lebens können trotz ihres so überschnellen Wachstums nicht die vollständige inhaltliche Leere überdecken, die für ein europäisches Bewußtsein dem gewaltigen Getriebe doch verbleibt. Die Aufgabe, aus dieser Äußerlichkeit sich zu wirklichem Kulturwerden erst zu erheben — in dieser Passung für Asien unmöglich, für Europa trotz der Unfruchtbarkeit unserer Gegenwart doch eine schöpferische Möglichkeit bedeutend —, wäre zwar a,uch für Amerika nicht prinzipiell unlösbar. Denn die neue Weltepoche setzt sich hier doch in den Nachkommen der schöpferischen Völker fort, deren Kulturwachstum sie früher gebildet hatte, und an und für sich ist vielleicht bei altem wie bei neuem Kulturboden die Erwartung eines Aufstiegs gleichberechtigt. Nur die Zukunft selbst kann hier entscheiden. Die Welt, die die Kräfte für die Aufgabe befreit und aufbringt, wird die Führung des westlichen Weltkulturganzen einst übernehmen, sei es nun die ältere oder die junge Völkerwelt. Es bleibt freilich die harte Tatsache bestehen, daß nirgends in den Kolonialgebieten bisher auch nur keimhaft jene Möglichkeit und Hoffnung angedeutet ist. Ein Grund für diesen Mangel ist unschwer zu finden. Fehlt doch für alle diese neuen, weiten Welten in Hinsicht auf die innere Kulturentwicklung noch jede Not, noch jede Zwangslage, die alle tieferen Entscheidungen allein hervortreibt. Gleich noch unerzogenen Kindern sind ihre jugendlich unfertigen Gebilde noch sehr fern von all den schweren, bitteren Aufgaben des drangvoll reifenden und um sein Dasein selbst kämpfenden Völkerlebens, dessen Not und Tiefe vielleicht erst für sie beginnt, wenn nach vollzogenem Zusammenschluß der westlichen Kulturmacht noch ein weiteres Entscheidungsringen einst notwendig wird. Vorerst ist das Wahrscheinliche, daß dort,

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wo jetzt der schwerste Druck und Zwang der Aufgabe gesammelt ist, dort auch am ehesten die schöpferischen Kräfte aus der Tiefe brechen, ja förmlich gepreßt werden. Das heißt denn, daß das alte, kampfzerrissene, ergraute und vernarbte Europa, das Land der mannigfaltigsten und aufgewühltesten Geschichte, auch noch die neueste und schwierigste Weltaufgabe auf sich zu nehmen haben wird, um sie mit seinen eigenen Kräften zu bezwingen. Sie stammt aus seiner eigenen Vergangenheit als unabänderliche Aufgabe auch für die jetzige Entwicklung. Wie zur Entscheidung sind alle Verhältnisse hier konzentriert und lassen so am ersten hoffen, daß trotz aller Abnützung, Ermüdung und Verworrenheit doch aus Europa, aus dem mittelsten „Weltherzen" sich noch immer die Verjüngungskräfte zu der großen Schöpfertat anspannen werden, zu dem neuen Schritt vorwärts und aufwärts, den die äußere Not und den der innere Wachstumsdrang der Zeit erfordert. Dies also ist die eigentümliche Verkettung in der Kulturjage unserer Gegenwart, daß eben ihr äußerer materieller Druck selbst zu der innerlichen Lösung, zu der geistig sich erhöhenden, das Ganze umfassenden Überwindung zwingt. Eben das letzte, problematische, erschwerende Erzeugnis unserer Weltkultur — die Technik, in dem ganzen Umkreis ihrer wissenschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Kulturausprägung — die zunächst im materiellen Sinne der durch sie bewirkten äußerlichen, erdbeherrschenden Machtumwandlungen zum entscheidenden Weltfaktor anzuwachsen scheint, trüge durch ihre Ausbreitung selbst zu der eigenen Überwindung und Erhöhung bei. Denn ihre materielle, bloß quantitative Übersteigerung in den west-östlichen Weltmächten würde umgekehrt zum unerbittlichen Antrieb für das bedrohte und wertvollste Glied der irdischen Kulturgemeinschaft, das zentrale Ursprungsland Europa, sich der äußeren Übermacht, die im bloß Äußerlichen überlegen wäre, durch ein inneres Höherwachstum zu entziehen. Die im Erzeugungs- und Geburtsland nur als Kulturunterstufe bewertete Technik ließe so in ihrer Welterweiterung nun selbst die äußerlich zwingenden Kräfte von der ganzen Erde aus auf den Entstehungsherd feindlich zurückstrahlen und eben damit dort die eigenen Schlacken in der neuen Glut und Not vielleicht zur Schmelze bringen, deren aufflammendes Schöpferfeuer zu dem schweren Werk des inneren Gesamtkulturfortganges nötig

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Dritter Teil;

ist. Gelingt die angedeutete und in der „Technik" schlummernde Kultursynthese, so bedeutete die Technik, dieses Sorgenkind der geistigen Kulturbetrachtung, gerade in der Krise ihrer Gegenwartsaufgabe ein entscheidendes, bewegendes und steigerndes Moment und den vielfach verschürzten Durchgangspunkt sich erst erhebender, sich erst noch bildender Weltkulturmöglichkeiten.

XIII. Nur ein ins Negative weisender Gesichtspunkt freilich ist noch übrig (an sich aus der Vereinigung der beiden vorangegangenen abzuleiten) — die Folgen des erwähnten allseitigen „Weltdrucks" auf Europa nämlich sind eben vom Grad und von der Art der dort vorhandenen Völkermannigfaltigkeit abhängig. Krankt diese letztere trotz aller -kulturellen Gemeinsamkeit noch an zu vielen Spannungen und Gegensätzen, so kann jener Außendruck auch auf die europäische Verfle htung übergreifen und statt der erwarteten Verschmelzung die verzweigten und durchkreuzten Fäden eben an der wichtigsten, bedeutungsvollsten Sammlungs- und Verknüpfungsstelle abermals zerreissen. Oder es müßte doch, günstigstenfalls, der Drang der Weltstellung Europas sich für dieses schon noch einmal wiederholen und eine gesteigerte Entscheidungskrise erst dort selbst zum Austrag bringen. Betrachten wir nach dieser Hinsicht die Staaten Europas, wie sie jüngst (im Frühjahr 1914) ein unparteiischer Beobachter in selten reiner, objektiver Meisterschaft zu kennzeichnen versuchte — (Rudolf K j e l l e n „Die Großmächte der Gegenwart") —, so läßt das vielverflochtene Ineinander ihrer Gegensätze wohl die letzterwähnte Möglichkeit als die wahrscheinlichste erkennen. Und eben das bisher hervorgehobene technische Moment macht auch hier seinen Einfluß geltend: seine wirtschaftlichen Folgen und Bedingungen vor allem sind es, die den Kampf und Wettstreit der Nationen unter sich so unerbittlich und bedrohlich werden lassen. Insonderheit der unerwartet schnelle naturwissenschaftlich-technisch-

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wirtschaftliche Aufstieg Deutschlands, des politisch letztgeeinten unter den großen Kulturstaaten Europas, ist die Ursache eines naturnotwendig anwachsenden Druckes und seines ebenso notwendigen wirtschaftlichen Gegendruckes in Europa selbst. Vergegenwärtigen wir uns vollends die politischen Ergebnisse, die diese Tatsache gezeitigt hat — das Bündnissystem Frankreichs mit Rußland, Englands mit Japan und andererseits die herrschende Weltstellung Englands in Asien und Afrika, wie seine angelsächsische Verwandtschaft zu Amerika —, so zeigt sich in der Tat (und der Verlauf des unterdessen ausgebrochenen Weltkriegs hat, je länger desto mehr, dies nur aufs furchtbarste bestätigt), daß das hier angedeutete Verhältnis Europas zu seiner Außenwelt sich auch auf seinen eigenen Mittelteil selbst überträgt: Der materielle Druck der Weltteile greift auch auf die Randländer von Europa über und richtet sich so, noch einmal gesteigert, konzentrisch auf den zentralen Rest. Zu dieser auch schon für Europa selbst erschwerten Lösung also führen die verfolgten äußeren Problembedingungen. Auch hier wird sich das Volk Europas, dessen Wert und Leistung dieser Aufgabe gewachsen ist, unter den übrigen erst zu bewähren haben. An sich mögen alle großen europäischen Kulturnationen hierfür gleichwertig erscheinen. Andererseits ist nicht zu leugnen, daß jenes dynamische Verhältnis gegen den Kulturherd Europas einen sehr wesentlichen Unterschied bedingt, je nach der aktiven Hingabe und Beteiligung an ihm, oder dem positiven Widerstreben und Ankämpfen gegen seine tödliche Gefahr. In Hinsicht auf diese „kulturdynamische" Wachstumsprognose hin — und nur allein in dieser Hinsicht sollen hier die Weltverhältnisse betrachtet werden — gleiten die Weststaaten, England wie Frankreich, gleichsam aktiv in die Zone jenes Außendrucks herein. Sie nehmen selber Teil an dem von außen und durch äußerliche, materielle Umstände bedingten, gegen Europa gestauten Druck und werden so unfähig zu der eigentlichen europäischen Kulturaufgabe : diesem Druck durch innerliche Überwindung zu begegnen. Die Niveauerhöhung der erreichten, allenthalben (bis zur kolonialen Flachheit von Amerika und des amerikanisierten Asiens) sich ausbreitenden, materiell sich sättigenden Kulturstufe wird durch keine äußerliche Weltherrschaft ermöglicht. Ein Durchbrechen S c h r ö t e r , Die KulturmSgliehkeit der Technik.

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ihrer Kruste, ein schöpferisches Höhersteigen der Kulturbewegung ist nur dort noch zu erwarten, wo dem materiellen Druck, mit Willen oder unbewußt, durch bloßen Schicksalszwang, ein absoluter "Widerstand entgegenwächst. Beschränkt sich so diese "Wahrscheinlichkeit auch für Europa schon nur auf die mittleren Gebiete, so soll damit doch keineswegs etwa nun einer einseitigen Eignung Deutschlands, als des mächtigsten und aussichtsreichsten seiner mittleren Völker, das Wort geredet sein. Auch Deutschland zeigte trotz der Größe seiner Leistung mehr und mehr die Spuren der veräußerlichten, materialisierten Arbeit einer kulturell noch unbeherrschten Technik — vielleicht rücksichtsloser und abstoßender in der gewaltig vorwärts stürmenden, gierigen Arbeitshast und Arbeitswucht als andere Völker. Aber gleichzeitig ist Deutschland von den westlichen Nationen durch jene gesteigerte konzentrische Bedrohung durch den unausweichbaren äußeren Druck geschieden, deren Überwindung letzten Grundes doch eine rein ethische Kulturaufgabe darstellt. Ohne jedes Urteil über Deutschlands Wert und seine Kraft zur Lösung dieser Aufgabe, bemerken wir hier nur seine Einstellung in den Brennpunkt des Kulturproblems der Gegenwart — noch ohne Antwort auf die letzte Frage R. Kjellens (noch vor dem Krieg): ob „ein Großdeutschland bereit sei, vor der Geschichte Zeugnis abzulegen . . . im V e r a n t w o r t l i c h k e i t s g e f ü h l einer Mission für die Menschheit". Diese Mission ist, von einem bestimmten, einzelnen Gesichtspunkt aus, auch in unserer Betrachtung in einigen ihrer Gründe und Bedingungen beleuchtet worden. Daß sie sich an Deutschland wendet, mag zufällig sein. Denn wer will ermessen, ob die folgenschwere Isolierung Deutschlands schließlich doch aus seiner Lage als ein unabwendbares Schicksal hervorwuchs oder mehr noch durch den vollständigen Mangel an politischer Begabung und Einsicht verursacht ist ? Nachdem es aber nun soweit gekommen — einerlei durch welche Gründe —, daß sich der Osten und der Westen gleichmäßig gegen die Mitte Europas zusammenschlössen, so daß sie allein als Gegenpol den Druck der Umwelt, ja im Sinne jener technischen Verallgemeinerung über die Kontinente, wirklich fast den Druck der ganzen Welt auf sich vereint, bleibt Deutschland unerbittlich auch dazu verurteilt, alle seine Kräfte zu der

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Lösung der Aufgabe einzusetzen, ob sie nun hierfür ausreichen oder nicht. Wir haben diese Aufgabe als eine innerliche, d. h. nur mit ethischen, moralischen und kulturellen Kräften lösbare bezeichnet. Denn nur auf diesem Wege ist das Ziel einer Kulturerhöhung zu erreichen. Sinnfällig tritt bei Deutschlands Lage in Erscheinung, daß ihm überhaupt kein anderer Weg mehr übrig bleibt. Durch die Verkettung der Umstände fällt für Deutschland die Kulturaufgabe seiner Zeit mit seiner Selbstbehauptung — äußeres und inneres Geschick — mit so gebieterischem Zwang zusammen, wie kaum jemals für ein anderes Volk der Welt. Nichts größeres ließe eich von Deutschland sagen, als daß es dieser Schicksalsaufgabe seiner Geschichte, seiner Art und seinem Wesen nach nicht unwürdig zu nennen sei. Im Grund scheint dieses Schicksal sich in der Geschichte ja zu wiederholen, daß deutsche Kraft,und deutsche Tiefe vor Gesamtkulturaufgaben stehen, die den übrigen Nationen nicht mehr lösbar, ja schon gar nicht mehr verständlich sind. In dieser Hinsicht überragte schon die mittelalterliche deutsche Kaiserzeit in ihrem gigantischen Ausmaß die gleichzeitigen Entwicklungen der andern, nur im eigenen Wachstum verharrenden Nationen Europas an äußerer wie innerer Bedeutung. Hier allein kam ene Erbschaft der vergangenen ersten, mittelländischen Periode der europäischen Weltkultur in ihrer ganzen Fülle und Gewalt zur Übernahme, die zugleich auch freilich alle erst zu lösenden Probleme ihrer Fortbildung an eben dieser Stelle hier zusammendrängte. Die geistige Mittellinie des europäischen Weltkulturwachstums geht von den Trümmern Roms über das Mittelalter Deutschlands, dessen Kräfte fast ausschließlich an der Schwere jener übernommenen widersprechenden Aufgaben sich erschöpfen sollten. Denn die gemeinsame Entstehung und das gegenseitige, von Deutschland durchgekämpfte Entscheidungsringen zwischen Kaisertum und Papsttum sind nicht Überspannungen eines phantastischen WeltherrBchaftsanspruchs, sondern die notwendig und tragisch aufsteigenden Verwicklungen einer im tiefsten Kern ergriffenen Kulturerbschaft und ihrer universalen Kulturforderung. Bevor die neuen Völker noch aufs Neue zu der eingeborenen Kulturproblematik ihrer 6*

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eigenen späteren Schöpfung reif sind, treten die dereinst schon zum Ausdruck gekommenen Kulturfunktionen selbst in den ererbten riesenhaften Formen eines Weltstaates und einer Weltkirche wieder in Erscheinung und gelangen hier, in der empfänglichsten Nation, in ihrer ganzen gegensätzlichen Spannung zum Austrag. Und dies scheint von Anfang an der grundsätzliche Unterschied zwischen der schweren, tiefschürfenden deutschen und den glücklicheren westlichen Entwicklungen, daß diese letzteren verhältnismäßig frei, dem eigenen Bedürfnis und Vorteil gemäß, sich selbst entfalten können, unter günstigen Bedingungen befruchtet und nicht eigentlich belastet von dem älteren Erbe. Die deutsche Entwicklung schreitet umgekehrt gerade durch die Lösung jener großen, umfassend erneuerten Kulturprobleme fort, zu deren Übernahme und Fortbildung eine innere Notwendigkeit und Wahlverwandtschaft hier — sei st bei nicht zureichender Kraft — zu drängen scheint. Der deutsche Werdegang gleicht daher einem stufenweise aufgetürmten, immer wieder abgebrochenen Aufbau, dessen jeweiliger Aufstieg mehrmals immer wieder scheitert und zusammenbricht und dann aus einem Trümmerfeld aufs neue umgewandelt und gesteigert sich erheben muß. So begann die deutsche staatliche Entwicklung nach dem Sturz der alten Kaisermacht zum zweitenmal, nun mit ganz anderen, städtischen und ständischen Grundlagen und veränderten wirtschaftlichen Bedingungen verheißungsvoll sich zu erneuern, um inmitten der aufstrebenden europäischen Staatenwelt dem austauschmächtigen Zentral- und Kerngebiet des Erdteils die gebührende -Staats- und Kulturform zu gewährleisten. Doch abermals kam diese große und notwendig sich erhebende mitteleuropäische Organisation Deutschlands zu Fall, da ihre Lösung abermals mit inneren Problemen des religiösen Kulturerbes widersprechend sich verschmolz und nach den Kämpfen der Reformation und ihren wirtschaftlichen Folgen Deutschland dann der langen Kriegswirrnis, Zerrissenheit und fast dem Untergang überantwortet hat. Doch die um diesen bitteren Preis errungenen Tiefen sind von keinem anderen Volk erreicht. Sie führen durch die Schlackenkruste aller Tradition, Verarbeitung und Umbildung (schon in der mittelalterlichen Mystik wie in den Erschütterungski äften der

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Reformation) bis zu dem untersten religiösen Lebensgrund der älteren Kultur hinab, und ebenso hat Deutschlands dritter Kulturaufstieg (der in der Bedeutung seiner geistigen, klassischen Blütezeit im ersten Teil- hier für die Wissenschaft gewürdigt worden ist) die ihm vorausliegende große westliche Kultur im eigenen Wachstuni umfassend weiterführen können, weil er selbständig bis zu dem Grundquell des Gesamtprozesses durchbrach. Wie sich in K a n t und der auf ihm beruhenden deutschen Philosophie und Wissenschaft die sämtlichen Gedankenfäden der vorausgegangenen neueren Entwicklung vereinigten, um dann erst im organischen Neuaufbau einer tieferen und strengeren Erkenntnis überholt zu werden, so begründet diese weitere selbstschöpferische Fortbildung auch ein vertieftes, nun erst kongeniales Auffassen der analogen Leistungen der älteren Kultur. Nach L u t h e r erst fand das ursprüngliche Ericben über A u g u s t i n und P a u l u s zu J e s u s , als zu dem größten religiösen Genius zurück, nach K a n t und H e g e l erst zu der wirklichen vollen Tiefe griechischer Gedanken. Erst mit dem eigenen höchsten und bewußten Kulturschöpfertum erstand als Seitenfj'ucht des deutschen Geistes das vertiefte europäische Kulturverständnis im Bewußtsein seines zeitlichen, historischen, wie seines gegenwärtigen und gegenseitigen Zusammenhangs, der zwischen beiden Weltepochen wie auch zwischen den modernen Weltvölkern Europas als Gesamtaufgabe die gemeinsame Kulturarbeit bedingt' und sie nun abermals an dem Problem der technisch orientierten Gegenwart im vollen Umfang zu bewähren hat. In diesem Sinn ist wohl das deutsche Volk wirklich das mittelste Europas und seine Geschichte der Zentralstamm europäischer Kulturentwicklung. Tiefer als alle anderen hat er seine Wurzeln in den Grund des alten Erbes eingesenkt, dessen geheime Säfte auch in seinem Wachstum kreisen, es so oft erschwerten und verwirrten, ihn verschlungen, hart und knorrig machten — und doch streckt er seine jugendstarken Äste mitten in das Licht der Gegenwart und wartet erst noch auf die Früchte seiner zukünftigen Reife. Ist dieses Warten überhaupt berechtigt ? Waren nicht von jeher schon-»im deutschen Wesen, in der deutschen Bildung allzuviele Widersprüche folgenschwer und schmerzensvoll vereinigt, als daß sie noch zur fruchtbaren Einheit kommen sollten? Und war es

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nicht von jeher stets das Schicksal und Erbteil des deutschen Volkes immer die gesteigerten, schwersten Probleme äußerer und innerer Art durchaus nur in sich selbst verarbeiten zu müssen, den errungenen Wert der Reife nur nach langem, mühevollem Kampf endlich hervortreten zu lassen, doch die eigentliche Frucht, im äußeren wie im inneren Sinn, niemals für sich selbst einzuernten ? Und doch ist auch das mehrmalige Scheitern, das verworrene, verzweifelte Erkämpfen letzthin nur in der umfassenden und übergroßen Aufgabe begründet, die seit Anbeginn auf Deutschland liegt und deren Lösung mit dem deutschen Schicksal gleichbedeutend ist. Erst mit dem Blick auf dieses Ziel (der schöpferischen Einheit einer europäischen Gesamtkultur) erscheint der trümrriecvolle Gang des deutschen Kulturaufstiegs in der wahren Größe. Trotz aller Hemmungen hat nirgends ein gewaltigeres Hinarbeiten auf dies ferne unbewußte Endziel stattgefunden, als es die Jahrhunderte des deutschen Werdegangs durchzittert. Von der breitesten Grundlage, von dem tiefsten Fundament aus steigt die Pyramide wachsend an, und erst von ihrem Bauplan aus sind die einzelnen Stufen richtig einzuordnen. Von hier aus gesehen hätte Deutschland seine eigene höchste Ernte erst noch vor sich, in der sich sein tausendjähriges Wachstum und Wollen an der weltgeschichtlich drängenden Gegenwartsforderung zu der nur ihm noch möglichen Vollendung erst erfüllen soll. Dann wäre Deutschland auch in der gewaltigen nach außen gewendeten Arbeit des letzten halben Jahrhunderts noch nicht irre geworden an dem Ideal einer vergangenen Geistigkeit. Deren Verheißungen gelte es vielmehr erst in einer vollen, fruchtbaren Kulturgesamtheit zu verwirklichen, die jenseits aller Unzulänglichkeit von bloßen Intellektualsynthesen, auf dem Wurzelboden produktiver Arbeit und seelisch beherrschter Technik, doch organisch wieder des gesamten Geisteserbes als der eigenen und fortschreitenden Schöpfung mächtig wäre. Die von tiefer Sehnsucht nach Erfüllung und innerster Sättigung durchzogene Kulturentwicklung Deutschlands — ihrer Stellung nach vielleicht die Mittlerin zwischen Vergangenheit und Zukunft: der an ihrem eigenen Stamm gereiften letztverflossenen Kulturblütezeit und dem an ihrer eigenen Arbeitsleistung mit erwachsenen Kulturproblem der technisch unerlösten Gegenwart — hätte ein Recht auf dieses

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Ziel der inneren und äußeren Kulturvollendung. Bliebe ihre Einheit für Europa noch von deutscher Kraft und deutschem Geiste zu erhoffen, dann bewahrheitete sich in einem noch umfassenderen Sinn die stolze Prophezeihung S c h i l l e r s : „Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag des Deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit."

XIV. Oder entspringt ein solcher Stolz nur aus der inneren Abwehr unserer Schwäche und Bedürftigkeit, nur aus dem Unvermögen wirklichen Gelingens, das darum in eine ideale, übersteigerte Behauptung umschlägt — damals zu der Zeit staatlicher Ohnmacht und Zersplitterung, wie jetzt inmitten eines allgemeinen Hasses und Mißtrauens gegen Deutschland, das für derartige Hoffnungen nur Spott und Hohn zu ernten hätte? Eben weil der deutsche Kulturfortschritt in der Reihe europäischer Entwicklungen der jüngste und die anderen überholende ist, steht die deutsche Kultur als die zuletzt hinzugetretene naturgemäß in merklich anderem Verhältnis zu den vorhergehenden westlichen Kulturhöhen, als umgekehrt die letzteren zu ihr. Die weiter schreitende Entwicklung vermag die frühere zu verstehen; nicht umgekehrt die ältere die neuen, weiteren und schwereren Aufgaben der ihr folgenden Entwicklung. Gilt dies schon allgemein, wenn neben fertige Gebilde sich ein Neues, erst Werdendes stellt, voll Keimen, Möglichkeiten und drangvollen, ungelösten Aufgaben, so wird der unwillkommende Empfang notwendig nur noch um so übelwollender, je ursprünglicher und berechtigter die aufsteigende Kraft des Neuen ist. Unter diesem Vorgang, der sich im Einzelleben wie in der großen Folge der Völkergeschicke so oft wiederholt, verbirgt sich ja kein bloßes grämliches Mißverstehen des Älteren, sondern die tiefe, tragische Notwendigkeit des Wachstums, der Entwicklung überhaupt. Diese Tragik ist in vielen Kulturumwälzungen fühlbar; wohl am reinsten bei jeder ethischen Fort-

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entwicklung, da hier der Bahnbrecher des Wachstums durch den eigenen Triefe und Fortschritt notwendig dem Recht des älteren Zustandes gegenüber ins Unrecht gesetzt wird und verfolgt, einsam und unverstanden bleiben muß. Sein Recht wird erst viel später dann als allgemein errungenes anerkannt. Das Schicksal Deutschlands in der Gegenwart und in der nächsten Zukunft erschöpft sich keineswegs in diesem Zug, doch eines seiner wesentlichsten und bezeichnendsten Momente wird durch ihn getroffen. Er erklärt die unverstandene tiefe Fremdheit, die Deutschland in ganz Europa, selbst von Seiten seiner nächstverwandten Nachbarn her umgibt; jene Barre inneren Übelwollens und Mißtrauens, die auch geistig neben dem feindlichen Wall politischer und wirtschaftlicher Mächte Deutschland isoliert und seine Kraft auch hier im Geistigen nur immer wieder auf sich selbst zurückwirft. Wie im Einzelleben ist es auch für Völker schwer, dem Unfertigen, stammelnd mit sich Ringenden, sich selbst in seinen erst geahnten Zielen noch nicht ganz Verstehenden, gerecht zu werden — am schwersten für diejenigen, die notwendig durch dieses Werden überholt und überwunden werden müßten. Deutschland, dieses jüngste und urälteste unter den Völkern ist durch seine späte, tief und langsam fortschreitende Reife ausnehmend befähigt, all die übrigen verschiedenen Kulturzustände in ihren verschiedenen Reifephasen, den früheren und späteren, den einfachen und den verwickelten, mit gleichem Miterleben zu umfassen, zu verstehen und zu achten, zu bewundern und zu lieben. Die deutsche Kultur selbst aber, die schwerfällige, Widerspruchs- und zweifelvolle, langausholende und weitumfassende ist unter allen die mißkannteste und unverstandenste, die meist verleumdete und meistgehaßte — als ein zudringlicher Emporkömmling, der doch in Wahrheit von den Ahnen her gesätes und durchkämpftes höchstes Gut, der Zukunft erst noch ganz verständlich, zu heiliger Reife trägt und tragen muß! Deutschland unter den Weltvölkern in ihrem so verschiedenfach vorangeschrittenen Kulturwachstum trägt so recht eigentlich das Schicksal, das auch seinen Einzelnen oft auferlegt ist. Immer wieder ist es typisch für den geistigen Deutschen, daß sein individueller Werdegang als fast unlösbar schwere Aufgabe das ganze Leben unbeugsam durchzieht, und oft die volle Lebenshälfte für

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sich aufbraucht, bis das Chaos endgültig zur persönlichen Zielsetzung geordnet ist — vielleicht erst nach vielen schmerzlichen Abbrächen, nach Zertrümmerung und beharrlichem Wiederaufbau. Dieses von außen unverständliche und unverstandene Ringen ist der Ausdruck der nach umfassender Ordnung drängenden Gewalt der übergroßen Mannigfaltigkeit des deutschen Lebens. Sie ermöglicht das vollkommene. Gelingen dieses Lebens nur nach härtestem und langem Kampfe mit sich selbst — ein Kampf, der glücklicher beanlagten Naturen wohl erspart bleibt, der jedoch dem Sieger auch die ganze Tiefe und Unendlichkeit • des gesteigerten Lebens öffnet. Auch dieser Wert freilich ist vor der Zeit nicht mittoilbar, nicht an die Unreifen und Unbeteiligten und nicht von dem noch voller Mühsal um ihn Kämpfenden. Schwer beladen, gleichsam in der zitternden Anspannung der Fruchttragenden steht er noch vor der Aufgabe, und ob auch ihre Lösung für die anderen mit errungen wird, so bleibt er doch für sie notwendig unverstanden, einsam, ja unheimlich und verhaßt. Die Tragik, die mit diesem analogen Schicksal auch über der deutschen, innerlich und äußerlich von ihren Nachbarn auf sich selbst allein zurückgewiesenen Kultur liegt, entbehrt in ihrer Ausweitung auf das Yolksganze auch der eigenen, letzten Verschärfung nicht, die durch das klare Bewußtsein von ihrer Notwendigkeit bedingt ist. Denn der steile Weg zur höchsten Aufgabe des schöpferischen Kulturfortschrittes führt den von der Not erlesenen Vorkämpfer selbst nur durch die Einsamkeit und durch die eigene Not. Dem deutschen Volk, dessen Geschichte mehrfach wechselnd zu so schroffen Höhen und zu solchen Tiefen der Vernichtung führt wie nirgends sonst, ist dieser Pfad von Anbeginn vertraut. Er ist von jeher der bewußte Lebensweg des Besten, Innersten und Tüchtigsten an ihm gewesen. Kein anderes Volk ist mit so tragischer Weltanschauung und mit so schwerer Lebensstimmung schon in die Geschichte eingetreten, wie sie auf dem Grund alles Germanischen als eingeborenes Erbteil ruht. Von der Gewalt und finsteren Ahnung seiner alten Lieder an ist dieses Los und auch des „Helden heilige Not" dem deutschen Volke treu geblieben in dem durch die Zeiten lebendigen Geist, der noch die leise, schwermütige Klage und flammende Sehnsucht H ö l d e r l i n s mit dem titanischen Prophetenselbstbewußtsein F i c h t e s rein versöhnt in sich vereinigt. Eben

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weil von außen keine Hoffnung, kein Nachlassen und Entgegenkommen winkt, so muß hier auf dem Weg siegreicher Überwindung jeder Schritt schon in sich seihst das Ziel rechtfertigen. Das alte Wort, daß „Deutschsein heiße, eine Sache nur um ihrer selbstwillen zu tun", wird auch am allgemeinen Schicksal Deutschlands noch bewahrheitet, als welches es die eigene Aufgabe nur um der sachlichen und unbeirrten, intensivsten Arbeitsleistung selber willen noch auf sich zu nehmen und hinauszuführen hat. Kein Lohn und kein Verständnis, keine Hilfe und kein Mitarbeiten hat es irgendwoher zu erwarten. Rings von Haß bedrängt uiid von Feindschaft und Mißgunst, kann es diesem negativ nur seine ruhige Kraft entgegensetzen, positiv nur seine innerliche Leistung als die höchste, reinste der Kulturmenschheit der Gegenwart, deren errungener und in seiner Steigerung bewährter Wert zum Lebenszentrum eines sich organisch neu in seiner Aufgabe zusammenschließenden Europas werden müßte. In diesem Sinne gilt der Schluß von F i c h t e s Reden heute noch so gut wie ehedem. Zum mindesten das Sinken oder Steigen der Kultur Europas ist mit dem deutschen Schicksalsgang verbunden — je nachdem die Kraft hier ausreicht oder nicht zur Lösung des Problems. So ist es nichtVermessenheit, in dieser zu erwartenden oder nicht zureichenden deutschen Leistung — innerlich und äußerlich — gleichsam einen Weltknotenpunkt von allgemein entscheidender Bedeutung zu erblicken. In Deutschland, dem „mitt-mittelsten Völkerherz Europens" und der Welt, in seinem rastlos aushaltenden Pocl en wird sich die innere Kulturentscheidung Europas und damit einer noch weiter hinausreichenden Zukunft vorbereiten. Sein geheimer Herzschlag war in den bedrängtesten, schwersten Momenten hörbar, und wie es die innerlichsten und verborgensten Schmerzen, gelitten und aus den gefährlichsten Wunden geblutet hat, so hat es Kraft, noch von all der vereinten Lebensflut durchströmt zu werden, die in diesem Lebeijsmittelpunkt und Kreuzungspunkt versammelt, den Gesamtrhythmus ihrer zukünftigen Bewegung innerlich bestimmen wird. Nicht umsonst ist Deutschland reich an tiefgründigen Selbstbekenntnissen und Selbsterkenntnissen. Sehr treffend ist (von Z i e g l e r ) als die wichtigste Aufgabe deutscher Zukunft die Erhöhung und die Steigerung der schon bestehenden tiefen Ver-

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antwortlichkeit jedes einzelnen für seine höchste Wirklichkeit zu der umfassenden Verantwortlichkeit für die Verwirklichung aller und des Volksganzen selbst, bezeichnet worden — jene Ausgleichsau fgabe „zwischen den Wirklichkeiten unserer großen Seelen und den Bedürfnissen des ganzen Volkes", mit deren kultureller und politischer Lösung sich Deutschland erst die endgültige eigene Verwirklichung erringen würde. Noch einmal erweitert führt dieser Gedanke zur letzten Verantwortlichkeit v o r und f ü r die Menschheit selbst, wie er als letzte und wertvollste Frucht am deutschen Stamm aus jenem ersten individuellen Keim ausreifen könnte. Diese Aufgabe der Weltverantwortlichkeit ist verschieden von dem humanen Ideal früheren Weltbürgertums, in dessen von Aufklärungstheorien verflachte Träumerei das Wort der neuen harten Lebenswirklichkeit mit dem „erhabenen Namen der Pflicht" und der verinnerlichten und beseelten Arbeitsforderung noch unverstanden, fern hereintönt. Bs ist begreiflich, daß dieses Wort ungern gehört wird, und daß das Volk, in dem es langsam Leben werden will, für alle anderen nicht willkommen ist. Und doch ist dieser steile, schmale Weg allein die Wirklichkeit auch jener früheren Träume, die sich nicht in geistiger und theoretischer Verbrüderung sondern nur in der Not und drangvoll heißen Mühe der gelösten Aufgabe erarbeiten und bewahrheiten lassen. Der Gang des schöpferischen Lebens breitet sich nicht oben durch die freien Kronen in die Lüfte, sondern er führt unten durch die engen Pforten des bedrängten, zusammengepreßten Wachstums langsam in organischer Entfaltung aufwärts. So verwirklicht sich das ferne Ideal der Weltkulturmenschheit auch nur durch die allmähliche Verwirklichung seiner Voraussetzungen und Bedingungen im seelischen Innern der Völker und der Menschheit — : und dieser Weg des Wachstums geht vom Keimpunkte des Einzelvolkes aus, das sich zuerst zur Not und, Sehnsucht jenes Ziels im eigenen Schicksal erhoben hat. Deutschland — als letztgereifte Nation in der Kulturreihe Europas — vertieft und steigert dadurch auch die vor ihm von den anderen Völkern schon begonnene Verschmelzungsaufgabe, bei deren Lösungsstufe es ohne Deutschlands schöpferisches Hinzutreten geblieben wäre. Doch diese (für andere naturgemäß mißliebige) Erschwerung und Verschärfung des Kulturproblems und der umfassendere Wachstumstrieb des

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neuen Keimes läßt sich nicht mehr hemmen und zurückbiegen. Wie äußerlich das Gegenwartsproblem, wie sich gezeigt hat, unentrinnbar eben vor Deutschland in seiner ganzen Schwere aufsteigt, so hat dieses Volk (auch gegen seinen Willen) jener inneren Wachstumsnotwendigkeit zu folgen. Noch einmal wiederholt sich hier die gegenseitige Verbindung inneren und äußeren Geschicks, da nun für Deutschland jenes größere Einheitsziel der europäischen Gesamtkultur nicht als ein Äußeres und Fremdes von irgendwoher herantritt, sondern die Erfüllung seiner eigenen Notwendigkeit bedeutet — ein Heimkommen zu dem innersten und wesentlichsten Selbst, das sich nur so, in dieser Aufgabe von seiner eigenen Not erlöst. Immer ist ein wirklich schöpferisches Überholen der erreichten, innerlich bewältigten früheren Grundlage nur als organisches gleichzeitiges Fortschreiten auf der eigenen Wachstumslinie möglich. Und wie Deutschland in der Lösung jener europäischen Aufgabe nur sein eigentliches Wesen erst zu der Vollendung alles dessen bringen könnte, was in ihm noch unentfaltet seiner Reife zudrängt, so erzeugte die errungene Leistung eben in ihrer Konzentration aus sich heraus für immer neue Völker die organisch sich erweiternden Bedingungen, aus eigener und doch gemeinsamer Verpflichtung zu der Mitarbeit an der gewaltigen Einheitsaufgabe unserer Weltkultur, auch selbst zu einer „Weltkulturmenschheit" heranzureifen. Als Vorbereitung einer solchen wäre die erhoffte ferne Einheit von Europa zu betrachten, zu der hin sich der Entwicklungsgang vorerst nur immer noch verengt, gleichsam zur untersten und schmälsten Eingangspforte seiner ersten Lösungsstufe. Nur dieser schwere, langwierige Stufenweg allein kann den an Selbstverleugnung und Aufopferung gereiften Sieger einst dem Ziele näher führen. Das deutsche Volk hat diesen Pfad als erstes zu beschreiten. Von außen wie von innen her gesehen enthüllt sich seine festgeschlossene, förmlich verklammerte Notwendigkeit — als größeres Symbol zur Menschheit hin gerichtet — als die gleiche Schicksalsforderung. Ob es ihr nachkommt hängt von seiner zureichenden Kraft und seinem Willen ab, sich treu zu bleiben, das „zu werden, was es ist".

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XV. Immer freilich endigen so unsere Betrachtungen vor einer Präge und vor der Bedingung einer ungeheuren, erst zu leistenden, erst zu bewältigenden Arbeit. . Auch die neuerstehende Völkergemeinschaft unserer Gegenwart wird erst in Zukunft zu erweisen haben, ob sie dieser Aufgabe und Arbeit überhaupt gewachsen ist, sowohl in ihrem Ganzen wie in ihren Einzelgliedern. Für die Einzelvölker und -kulturen, die ihren nationalen Kreis durchlaufen haben, würde diese übernationale Gesamtaufgabe wie hier angedeutet wurde, mehr und Höheres bedeuten, als einen Wettbewerb nach Art und Weise der bisherigen. • Wohl wird auch dieser innerliche Arbeitswettstreit voller Kampf und Not und Mühsal sein, doch würde jedes Volk den härtesten und besten Kampf gegen die eigene Schwäche und den Feind in sich zu richten haben, und ein Anteil an dem letzten Ziel der Menschheitsarbeit wäre nur durch diese eigene Selbstzucht, Selbstbeherrschung und Veredelung des eigenen Seins im reinsten, höchsten Sinne zu erringen. Nur solche, gleichsam über sich selbst hinausgereifte Völkerindividuen könnten zu der großen Aufgabe gemeinschaftlicher Menschheitsarbeit sich vereinigen, sich an- und miteinander steigernd fortentwickeln zu dem vielfältig verbundenen, vielgestaltigen und innerlichen Ganzen einer reifen, einheitlichen Weltkulturmenschheit. Aber genügt es nicht, solche Gedanken nur zu äußern, um ihre Voraussetzungen und Bedingungen als unerfüllbar und imaginär ja nur als träumerische Phantasie vor einer ungenügenden und niemals zureichenden Wirklichkeit für immer abzuweisen? Die Ansätze dazu, geahnte Möglichkeiten, Hoffnungen und Wünsche freilich sind vorhanden, doch andererseits auch alle Dumpfheit, Unzulänglichkeit und Enge der menschlichen Natur, die in der trüben Not und Wut des Lebens trostlos und unrettbar nur nach abwärts weist, zu Niedergang, Verarmung und Erstarrung. Urewig, uralt, unentschieden ist der Kampf zwischen der Kraft und Hoheit und dem Jammer und der Niedrigkeit des Menschlichen, und auch die Gegenwart und ihre Lage wird ihn nicht entscheiden. Je genauer wir in sie hineinschauen, desto unsicherer muß der Ausgang dünken bei der leichtaufflammenden brutalen Feindschaft, die in dem Lebendigen und gegen das Lebendige andrängt — nicht sowohl aus der schon vielfach unterworfenen und überwundenen materiellen

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Umwelt, als vielmehr gerade aus dem Haß, der Mißgunst und Verworfenheit der Menschheit selbst, der Völker und Nationen unter sich, gegeneinander und wider ein reiferes Zusammenwirken. Bei aller Steigerung des ethischen Bewußtseins, "der sozialen Durchbildung und trotz der Ansätze zu größerer Gemeinsamkeit der Weltvölker, stehen sich selbst die kultiviertesten, verwandtesten Nationen nur wie lauernde Raubtiere gegenüber, deren drohender Vernichtungskampf noch jeden Augenblick ausbrechen kann. Doch wer durch solche Aussicht der wirklichen Weltverhältnisse entmutigt wird, hat die besprochene Kultur- und Arbeitsforderung in ihrer Lebenstiefe noch gar nicht erfaßt. Sie verlangt die Lösung ihrer Aufgabe um dieser Lösung und um der Erfüllung jedes durchgekämpften Augenblickes willen — unabhängig von der äußeren Bestätigung durch den Erfolg. Sie übersieht und leugnet keineswegs den Abgrund von Erbärmlichkeit, Trägheit und Widerstand, der alles Menschentum und seine feindlich wirre Welt zerreißt — doch wann und wie auch dieser Abgrund je zu überwinden sein wird, bleibt die Forderung der Überwindung doch der Ausdruck der unmittelbaren menschlichen Lebensnotwendigkeit und Lebenssehnsucht selbst. Ihre Erfüllung ist der innere Sieg, der in dem fortschreitenden steten Kampfe jeder Stunde neu errungen werden muß, der jedem Kämpfer offen steht und der allein über den Sinn der Gegenwart entscheidet. Kein erhofftes Ziel zukünftiger Geschlechter kann die Unzulänglichkeit vergangener rechtfertigen oder versöhnen, sondern jede Zeit ist darin nur auf ihre eigene Reife und Leistung angewiesen. Diese Forderung siegreicher Höherbildung ist so unerschütterlich in sich gefestigt, daß gegenüber ihrer inneren, Erfüllung heischenden Gewalt die Art und Weise ihrer äußeren Verwirklichung, so wichtig sie an sich ist, erst an zweiter Stelle in Betracht kommt — wie im Einzelleben, so auch bei den Völkern und der Menschheit. Die große Frage der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit zukünftiger Weltkriege tritt darum zurück vor der uns hier allein beschäftigenden: nach der Lösungsmöglichkeit der inneren Menschheitskulturaufgabe. So wahrscheinlich es ist, daß alle menschliche Entwicklung auch weiterhin von kriegerischen Auseinandersetzungen begleitet sein wird, so sicher ist es auch, daß die Entscheidung unserer Kulturaufgabe mit und in all jenen Kriegen immer nur

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eine rein innerliche sein wird. Wie noch kein unverdienter kriegerischer Mißerfolg die innere Entwicklungskraft je hat beeinträchtigen können, so hat jeder äußere Erfolg in dieser Hinsicht ethisch sich in der Geschichte erst bewähren müssen. Kriege sind die äußeren gewaltigen Erscheinungsformen der durch sie hindurch die Werte erst entscheidenden Kulturentwicklung. Die hier besprochene Kulturaufgabe Deutschlands bleibt sich immer gleich, gleich schwer, gleich unerbittlich, ob ihr Weg durch kriegerische oder friedliche Gebiete führen wird. Denn immer wird der schwere und mühsame Weg ihrer Lösungsbedingung als ein Weg ins Innere und das heißt als steil ansteigender, zu überwinden sein, sowohl für die Entwicklung eines Einzelvolkes wie für die der Menschheit. Kein weltfremdes, unerreichbar fernes Ideal soll diese Wendung in das Innere als die allein entscheidende bedeuten, sondern nur die sachliche, aus dem Erörterten sich prinzipiell ergebende Bedingung für die Gegenwart, sich fernerhin zu einer weiterreifenden, organisch höher steigenden Kulturentwicklung zu erheben — unabhängig davon ob diese Möglichkeit noch eintritt oder nicht. Zugleich ist aber diese letzthin auf den inneren Sieg gerichtete Entscheidung auch noch für die Zukunft die alleinige Bedingung, unter der für unsere menschliche Erkenntnis überhaupt eine abschließende Voraussicht aller irdischen Kulturentwicklung möglich ist und möglich sein kann. Denn selbst die optimistische Auffassung, die das Kommende, erst als unendliche Aufgabe zu Bezeichnende, gelingen fühlt, an sein allmähliches Erreichen glaubt, bleibt doch unweigerlich unter dem Ernst, unter dem resignierenden Charakter der Erkenntnis daß einheitliche Kulturvollendung — diese reichste Steigerung bewußten Lebens und des Daseins überhaupt — wohl eine große und gewaltige, doch äußerlich in sich notwendig schon beschränkte Arbeitsleistung und Arbeitsaufgabe darstellt. Selbst wenn die Menschheit je dereinst zu einem solchen mannigfaltig reichen Ganzen reifer Weltkultur und innerer Einheit sich vereinigt hätte und verbunden bliebe — was bei ihrem haßerfüllten, greuelvollen Wolfsgeschlecht so unwahrscheinlich klingt — so wäre dieses höchsterreichte Ziel verklärter und beseelter schöpferischer Arbeit, erreicht nach so viel Not und Qual und Untergang erloschener Sehn-

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sucht, doch nur im letzten Grund und Ausgang eine Vorbereitung, eine Arbeitsschule für den einstigen und letzten Kampf, den eine späte Menschheit unerbittlich um die ihr entschwindenden Lebensbedingungen gegen den Tod zu führen haben wird, der sie unweigerlich einst auf der alternden Erde ereilt. Der große Arbeitsvorgang des Kulturprozesses, der sich aus dem dumpfen Drang des TierischMenschlichen emporringt und als fernstes Ziel der Zukunft auf die erdbeherrschende und freie Einheit und Gemeinschaft der erhöhten und veredelten Weltmenschheit hoffen läßt, wird sich mit völliger Gewißheit doch in dieser letzten Arbeit des vereinten Todeskampfes vollenden, wie er sich einst im Anfang aus der Not des ursprünglichen Lebenskampfes entwickelt hat. Der so ins Tragische auslaufende Endabschluß des Kulturvorgangs als einer fortschreitenden Überwindung auch der materiellen Bindungen, der ihn, selbst trotz vielleicht erreichter Höhe und Vergeistigung, doch wieder materiell dem Untergang ausliefern muß, ist darum aber keineswegs nur pessimistisch zu bewerten — ebensowenig als es die Erkenntnis alles Lebens überhaupt in ihrem sicheren Wissen um den Tod zu sein braucht. Wer tiefer von den negativen Seiten menschlicher Natur berührt wird, dem wird die Aussicht auf den Tod der Menschheit und ihrer Kultur fast eher tröstlich scheinen, als ein Aufhören der allzu harten Unzulänglichkeit, des allzu grausamen und aussichtslosen Ringens mit der dumpfen Schwere und Verzweiflungsnot des Daseins. Wer das Positive zu betonen strebt, wird siegreich das Erreichte und den Kampf darum rechtfertigend bejahen und auch jener Endaussicht der einstigen Vernichtung wird er gegenüberstehen wie ein Krieger auf verlorenem Posten doch mit Siegerstolz und bis zuletzt nicht weichend, unerschüttert dem Verhängnis unterliegt. Wohl aber beleuchtet dies mit Sicherheit vorauszusehende Geschick des Menschlichen zum letztenmal -hier die Bedeutung der im Vorausgehenden erörterten, noch zu erwartenden Entscheidung unserer Kultur der Gegenwart. Denn eben für die feinste Zukunft menschlicher Kultur bleibt überhaupt kein äußerer, sondern nur noch der innere, seelische Sieg übrig. Die physische Unmöglichkeit für das Leben auf der Erde anzudauern, läßt für die Kultur dereinst nur jene innerliche Überwindungsmöglichkeit bestehen, die als die letzte Reife und als ideales Ziel ihrer Entwicklung

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zu erhoffen ist. Bin der gereiften Menschheit würdiger Endausgang menschlicher Geschichte, ein versöhnender Sieg auch über den Tod ist nur dann möglich, wenn es menschlicher Kultur gelingt, die äußeren wie die eigenen, eingeborenen Hemmungen durch ihre sich erhöhende und veredelnde Reinheit zu bezwingen. Im anderen Falle zeigt sich nur die Aussicht auf die unausdenkbar grauenvolle Katastrophe eines Endkampfs, gegen dessen hemmungslose Erbitterung und Grausamkeit selbst alle Qual und Not der aus dem Tierischen einst aufgebrochenen Kulturgeburt verschwinden müßte. Die Minute, die der Lebensmöglichkeit auf Erden überhaupt beschieden ist — und in ihr wieder der vorübergehende Moment des menschlichen Geschlechtes — mag der Dauer des Planeten gegenüber nur belanglos scheinen und für einen kosmischen Standpunkt des Weltall-Lebens mag sie auch belanglos sein. Die Menschheit selbst aber kann diesen Standpunkt nicht einnehmen, sondern sie hat sich den Sinn und Wert des eigenen Lebens zu erarbeiten. Sie kann dies auch trotz ihrer klar bewußten Begrenztheit, wie das Einzelleben trotz der Sicherheit des Todes seinen Sinn und seine Reife zur Vollendung bringen kann. Doch beide Male ist diese Erfüllung nur als innerlich gereifte Überwindung möglich. Dahin zielt der letzte Sinn jener besprochenen Entscheidung der Kultur, eben der technischen Kulturkrise der Gegenwart: ob ihre reifende Wachstumsbe^egung jetzt aufwärts oder abwärts gerichtet ist. Die „Technik", deren Problematik als ein Ausdruck dieser Krise sich ergeben hat, in deren Kraft und Möglichkeiten auch die Mittel ihrer Überwindung sich aufzeigen ließen, und die diesen Wendepunkt der Gegenwart unmittelbar und mittelbar heraufgeführt oder sein Kommen doch beschleunigt hat, erhält hier so zum letztenmal noch einen weithin deutenden, beachtenswerten Hintergrund. Die kurze Zeitspanne ihrer Entstehung und Ausbildung in dem letztverflossenen Jahrhundert scheidet doch in dieser Hinsicht alle ältere Menschheitsgeschichte merkbar von der kommenden. Wi6 jetzt erst und zum erstenmal, der ganze Erdball in der technisch-wirtschaftlichen Leistung als Kulturschauplatz in sich geschlossen ist, so offenbart zum erstenmal die aus derselben aufsteigende äußere und innere Weltkultur-Arbeitsaufgabe durch ihre notwendigen Grenzen schon den ganzen Ernst, der ihrer heutigen Entscheidung inne wohnt. Ob sich schon jetzt Schröter,

Die Kulturinägllohkeit der Technik.

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Dritter Teil.

bei dem erstmaligen Auftauchen des Problems, die Lösung aus dem Technisch-materiellen zu dem Seelisch-geistigen einer Kulturgesamtheit vorbereitet oder nicht, kann für das Schicksal menschlicher Kultur bestimmend bleiben. Denn der Weg zu ihrer dereinstigen Freiheit führt über die Lösung jenes technischen Problems, dessen Gebiete —ihrer Tiefe nach erfaßt — nicht nur die äußerliche Grundlage, sondern recht eigentlich den Mutterboden künftiger Kulturentwicklung darstellen. In diesem Sinn entscheidet die „Kultur der Gegenwart" in ihrer ganz speziellen Problematik doch gleichzeitig eine endgültige Reifemöglichkeit der Menschheit überhaupt, die nur dann ihrem kommenden Schicksal gewachsen sein kann, wenn sie hier, in dem ins Seelische erhöhten und um die Lebenstotalität geführten Einheitskampf der heutigen und technischen Kultur den innerlichen Sieg behauptet. Dieses Bewußtsein freilich mag die kühle Erkenntnisstimmung einer späten und vorangeschrittenen Kulturperiode sein. Sie deutet hier noch einmal auf den Stand und die Entwicklungsstufe unserer Kultur der Gegenwart, die in ihrem geschärften Selbstbewußtsein wohl vertieft, gereift, bereichert, aber auch gealtert scheinen mag, trotz all der Zukunftskeime und Anzeichen jugendfrischen Wachstums, die doch andererseits unzweifelhaft in ihr vorhanden sind als Möglichkeiten (wenn auch nur als Möglichkeiten) eines neuen Aufstiegs. Tatsächlich sind die beiden Momente — das des Alterns und ablaufenden Vergehens und das der Jugend und zukünftiger Neubildung — in der Gegenwart vereinigt, aber welches in der Wirklichkeit zunächst die Vorherrschaft behauptet, diese Frage ist nicht mehr Objekt unserer Erkenntnis. Dir genügt es beide, neben- und miteinander, zu umfassen, so wie sie zusammen, ineinander wirkend, überall auf Erden die Kultur- und Lebenswirklichkeit aufbauen, reifen und- verwelken lassen, jeder Zeit, jedem Geschlecht die Last des Alters und den Mut der Jugend neu gewährend. Auch die Kulturerkenntnis, die die Größe der gestellten Aufgabe erst an dem negativen Ausgang der bisherigen Vergangenheit ermessen läßt, reicht ihre Beurteilung gleichsam als verschlossene Frucht der Zukunft dar — mit all der Einschränkung Hoffnung und Forderung der Gegenwart — und nur die Zukunft selbst wird hierüber die wirkliche Entscheidung erst herbeiführen.

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XVI. Seit dem Abschluß dieser Studie (Frühling 1914) sind einige wichtigere kulturphilosophische Werke erschienen: £ . R a m m a c h e r s „Hauptfragen der modernen Kultur" 1914 und 0 . S p e n g l e r s „Untergang des Abendlandes" 1918, kurz vor dem „Reisetagebuch" des Grafen K e y s e r l i n g . Zwischen ihnen liegt die eigentliche Kriegsliteratur dieser vier Jahre, die stellenweise mannigfach von diesbezüglichen Gedankenrichtungen durchzogen ist. (Für sie ist ein grausamer Prüfstein die verflossene Zeit — und doch wird sich viel als dauernd wertvoll bewähren. Erinnern wir hier an die Namen N a t o r p , Simmel, Troeltsch, Cassirer, Ziegler, Wiese, Plenge, Naumann, H a n s l i k , B o r c h a r d , M a n n , so wird doch jeder noch andere anzufügen haben, deren Prägung jeweils einen denkwürdigen und beharrenden Gesichtspunkt hinterlassen hat.) Von dieser Zeitenscheide an beginnt die suchende Literatur der Gegenwart, die nach der Katastrophe nun abermals prüfend auf das dunkel wogende Gewässer des noch Kommenden und Möglichen hinausschaut. Die eigentlich hier geplante Übersicht dieser Versuche — bezogen auf die Problematik unserer Gegenwart wie andererseits auf die verschiedenen Richtungen der Kultursystematik — wird ihre Stelle besser in einer ausführlichen kulturkritischen Abhandlung über S p e n g l e r s „Untergang des Abetidlandes" finden, die nach Erscheinen seines zweiten Bandes veröffentlicht werden soll. So deutlich dieses merkwürdige Werk auch seine wissenschaftlichen und philosophischen Schwächen zur Schau trägt, so wenig ist unseres Erachtens doch die wissenschaftliche Kritik des In- und Auslandes bis jetzt fähig gewesen, den originalen und genialen Kern dieser trotz ihrer Mängel doch bedeutendsten synthetischen Erscheinung unserer Zeit herauszuheben, ihn in seinem symptomatischen Kulturwert zu begreifen und, wenn möglich, von den anhaftenden Unzulänglichkeiten zu befreien — was freilich ganz nur von dem Ideal einer gleichmäßigen Beherrschung aller metaphysischen, kultur- und geschichtsphilosophischen Fragen aus zu erreichen bliebe iind zugleich erweisen müßte, inwieweit die schon durchgearbeiteten Probleme unserer Gegenwart der aufgestellten Zukunftsforderung gewachsen wären. An dieser Stelle hier soll nur ein einzelner Gedanke jenes Werkes vergleichend herangezogen werden, weil er (bzw. seine von S p e n g l e r s Absicht übrigens abweichende Anwendung) eine durchgehende Eigenheit der Kriegsliteratur erleuchtet und zugleich auf den Gedankengang unserer Studie hier noch ein ergänzendes, lehrreiches Licht wirft. Dies ist die eigentümliche Verbindung, die S p e n g l e r den Begriffen Kultur und Zivilisation gegeben hat, welch letztere er als das regelmäßige, erstarrende Endstadium in dem organisch ablaufenden Lebensprozeß jeder verblühenden Kultur begreift. „Die Zivilisation ist das unausweichliche S c h i c k s a l einer Kultur . . . Die reine Zivilisation als historischer Prozeß besteht in einem stufenweisen Abbau anorganisch gewordener, erstorbener Formen. Zivilisationen sind die äußersten und künstlichsten Zustände, deren eine höhere Art Mensch fähig ist. Sie folgen dem Werden als das Gewordene, dem Leben als der Tod, dem Landö 1*

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und der seelischen Kindheit als das geistige Greisentum und die steinerne, versteinernde Weltstadt. Sie sind ein Ende, unwiderruflich, aber sie sind mit innerster Notwendigkeit immer wieder erreicht worden". Beispiele sind das Ende der ägyptischen Kultur, das Römertum als Ausgangsstadium der Antike, das nach Ablösung des Hellenismus in einem halben Jahrtausend von dem punischen „Weltkrieg" des Altertums über Revolution und Bürgerkrieg zur stoizistiachen Verflachung und alimählichen Erstarrung führt, mit Weltstadt und Provinz, Imperium und Kapitalismus, amorpher Großstadtmasse und verrohtem Synkretismus — und analog die erst beginnenden Ausgangsjahrhunderte des „Abendlandes", des modernen Europa, seit (von R o u s s e a u und der Revolution ab) die letzten großen westlichen Kulturzeitalter des Barock in die allgemeine europäische Zivilisation ausmünden, deren Imperialismus, Weltkriege, Demokratie und Sozialismus den Anfang eines ähnlichen Endablaufs einer absterbenden Weltkultur erkennen lassen. Noch abgesehen von der Fraglichkeit dieser Analogien ist das Auffallende hier die genetische Auffassung eines Gegensatzes (von „Kultur" und „Zivilisation"), dessen Erörterung den Geisteskampf der Völker im Weltkrieg von Anfang an durchzog. Bis zu dem Wort herab hat sich in ihm die innere Scheidung zwischen der westlichen, demokratisch selbstbewußten Zivilisation und dem ihr feindlichen deutschen Kulturziel beiderseits bewußt bestätigt und befestigt. Diese geistig-kulturelle, notwendige Gegensätzlichkeit ist hier, von anderem Gesichtspunkte aus, in'der Aufeinanderfolge der verschiedenen Reifephasen der europäischen Nationalkulturen begründet worden, zu denen Deutschlands Kulturklassik als die letzte, überholende hinzutrat und darum, auch in der Auswirkung der Folgezeit, in den umfassenderen Tiefen ihrer Forderung den anderen nicht mehr voll erreichbar, unverständlich und verhaßt blieb. Vereinen sich diese Auffassungen des sich zur „Zivilisation" vermischenden westlichen Kulturablaufs als eines erstarrenden, endgültigen Verfallsprozesses, so würde die deutsche Kultur auch ihrerseits als letzte in das unerbittliche, mehrhundertjährige Zersetzungsschicksal von Europa eingemündet sein und in bezug hierauf ist es nur eine sekundäre Frage, ob.diesen Eintritt in den europäischen Kulturtod äußerlich ein deutscher Sieg oder die Niederlage im Weltkrieg bezeichnet. Andererseits wäre, in dieser einen (vielleicht künstlich isolierten) und herausgehobenen Urteilslinie allerdings die deutsche Kulturselbsterkenntnis dann auf einer Höhe der Betrachtung angelangt, von der aus auch der Weltkrieg als Kulturvorgang und menschheitlicher, geistiger Gesamtprozeß die unabwendbar schon dem deutschen Schicksal eingeborene Tragik offenbarte: In dem aus ganz anderen Gründen ausgebrochenen Krieg — kulturell betrachtet — stemmte sich in Deutschlands innersten und besten Kräften ein verspätetes, letztes Wachstumsprinzip organischer Kultur der in den übrigen Völkern sich schon ausbildenden Gesamt-Weltzivilisation entgegen. Gerade der berechtigste, reifste Kulturtrieb Deutschlands (wenn ein solcher j e auch nur im Keim vorhanden und nicht bloß erdichtet oder konstruiert war), unter dessen idealer Forderung allein es seine ganze Stärke erst entfalten und mit

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dessen ethischer, das ganze Volk durchdringenden Behauptung es sieh selbst hätte behaupten können — gerade dieser wäre im Gesamtablauf des Weltkulturprozesses schon zum Untergange verurteilt gewesen, auch wenn Deutschland äußerlich gesiegt hätte. Sein eigentliches, innerstes Prinzip hätte den unaufhaltsam fortschreitenden Zivilisationsprozeß nicht mehr beeinflussen, j a selbst im eigenen Volk keine Auswirkungsmöglichkeit mehr finden können. Die Bedingungen für jene letzten Kulturmöglichkeiten wären schon vorbei und die Synthese politischer Vollkultur für unsere Welt eine vergebliche Sehnsucht gewesen. Damit erklärte sich ein letzter Grund für das Versagen Deutschlands: Mögen sich auch die unmittelbaren Ursachen aus den Mängeln seiner unpolitischen und militärisch einseitig beschränkten Anlage ergeben, so ist doch der Grund, daß diese Ursachen in Wirkung treten konnten, d. h. eben daß Deutschlands Kulturkraft ihre Hemmungen nicht überwinden konnte, selbst ein kultureller — und vielleicht mußte die innerliche Kulturkraft versagen, weil ihr höchstes Ziel organisch überhaupt schon nicht mehr zu erreichen war. Wie schließlich äußerlich, im Militärischen, so hätten wir auch innerlich und unbewußt, in unseren kulturellen Hoffnungen, die tatsächlichen Kräfte Deutschlands völlig überschätzt und falsch beurteilt. Jene von der Renaissance ab schematisch hervorgehobene, viel verflochtene Reihenfolge innerer Kulturhöhepunkte (Italien, Spanien, Holland, England, Frankreich) würde von der deutschen Kulturblütezeit dann schon endgültig abgeschlossen, die sich — gleich dem abgebrochenen deutschen Kulturaufschwung zu Anfang des Zeitraums — nicht mehr zu der vollen Fruchtbildung einer GeBamtkultur entwickeln konnte, weil die Reifezeit hierfür schon überschritten war. Was für die europäische Gesamtkultur an deutschen Einflüssen noch angelegt und zu erhoffen war — insonderheit nach der gewaltigen und führenden Kulturbedeutung des frühmittelalterlichen Deutschlands wohl noch einmal auch für seine Spätzeit zu erhoffen war — wäre gleichsam für die Verschmelzungsmöglichkeit zu spät flüssig geworden und darum (auch nur in seiner Anlage schon) unnütz und umsonst, tragisch verschwendet. Die für Europa wohl denkbare einheitliche Kulturfülle: die angelsächsische Welttüchtigkeit und herrscherliche Kolonialkraft, wetteifernd verbündet mit der ins Bedeutende erhöhten deutschen Arbeitsstärke und der Geistesmacht seiner Innerlichkeit, bereichert durch den Adel, die Vollendung und die frohe Formenklarheit der romanischen Kulturen — dieser ausgeträumte Traum von sich ergänzender, sich steigernder gemeinschaftlicher Wechselwirkung höchster Werte — wäre nicht nur an der Unvollkommenheit und Feindschaft seiner Volksträger gescheitert, sondern auch in sich schon von begrenzter Wachstumsdauer, insonderheit in seiner entscheidenden Hauptphase gewesen. Die Wirklichkeit Europa (getreu dem grausamen Gesetz natürlichen, geschichtlichen, persönlichen Geschehens) bildete nur einen Bruchteil seiner verschwendeten und nicht gereiften Möglichkeiten. Diese Wirklichkeit aber, im äußeren vom Rahmen des unifizierenden englischen Weltreichs fest umschlossen, inhaltlich ihres gegensätzlichen Reichtums beraubt

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und allmählich verödend, wäre so das Endprodukt des europäischen Kulturganges gemäß seinen vorhandenen und noch allein wirkenden Kräften. Im kulturellen Abstieg zur verdorrenden, erstarrenden Weltzivilisation gewänne so naturgemäß die fähigere und geeignetere Kraft des Angelsachsentums die Führerschaft, und eine müde Stimme der Resignation vermöchte dies vielleicht nur gut zu heißen — jene Stimmung, die jenseits des Zivilisationsfortschritts, zu tief von dem herbstlichen Welken all der reifen Stilgebundenheit und inneren Form der Hochkultur berührt, in die schwermütige Abschiedserkenntnis „finis musicae" mit einstimmt — während andererseits der Schmerz und Zorn über Deutschlands Versagen, über die Zerspaltung seines Wesens (in das Zerrbild rechts wie in das Zerrbild links) gleichfalls diesen Ausgang unmutig bejahen könnte als berechtigte und begreifliche Folge der vernichtenden Versäumnisse und aller deutschen Unzulänglichkeit. Das Heraufdämmern der Zivilisation des Abendlandes, als Gegensatz und Fortsetzung der abgeschlossenen Epoche schöpferischer großer Nationalkulturen, ist derselbe wesentlich entscheidende Kulturvorgang, den unsere Studie hier (auch ohne das Wort zu gebrauchen) als das „Zurücksinken der Kulturbewegung der Neuzeit zur Zerklüftung der bloß wissenschaftlichen und sozialen Arbeitsgebiete, unter Vormacht der die Gegenwart bestimmenden, rein technischen Kulturgestaltung" prinzipiell analysiert hat, wie sie andererseits die positiven Möglichkeiten und Bedingungen für die organische Aufwärtsbewegung aufzuzeigen und zu begründen versucht hat. Das gleichmäßig deutliche Nebeneinandersehen der positiven und der negativen Möglichkeiten aber scheint uns die Gefahr willkürlicher, einseitiger Vorausbestimmung zu vermeiden, der alle Versuche analogisierender Geschichtsbetrachtung unterliegen. Nichts rechtfertigt das Verwenden der Analogie hinsichtlich der geschichtlichen Zukunft im Ganzen. So wertvoll sie für die Vergangenheit und die auf jene bezogene Gegenwart in einzelnen, bestimmten Vergleichspunkten ist, so unzulässig wird ihre eindeutige Anwendung von der Gegenwart aus auf die Zukunft; so wenig liegt nur irgendein Grund dafür vor, daß auch in Zukunft etwas eintritt, weil in der Vergangenheit scheinbar gleichartige Voraussetzungen schon einmal zu ähnlichem geführt haben — vor allem deshalb, weil diese Voraussetzungen nie die gleichen sind. Die Weltgeschifihte wiederholt sich nicht. Bis zu dem Punkt der abgelaufenen Gegenwart hin mögen wir vergleichen und vergleichend die Vergangenheit begreifen — daraus aber für die Zukunft dogmatische Voraussagen abzuleiten, verlangt eine gewaltsame Einengung unserer Vorstellungsmöglichkeit. Die wenigen Jahrtausende bisheriger Geschichte liefern keine abschließende Formenlehre des Kulturgeschehens. Warum soll unsere Zukunft trotz aller erkannten und begriffenen Symptome vielfältigen Niedergangs nicht doch noch gänzlich anders, neuartig und viel verwickelter verlaufen als alle früheren Epochen? „Unerschöpft und unentdeckt ist immer noch Mensch und Menschenerde." Unbekannt oder doch unbegrenzbar der Möglichkeitsreichtum. der Kulturseelen und ihrer wandelnden Schicksale. Wunderlich beschränkt ist

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nur unsere Phantasie, die auch das Chaos künftiger Gestaltungsmöglichkeiten immer mit dem Maßstab schon vorhandener Analogien inhaltlich umfassen möchte. Eben im Gegensatz hierzu scheint uns der Wert einer Betrachtungsart zu liegen, die, gestützt auf systematisch weiterführende und übergreifende Prinzipien, neben die genetische Kulturbetrachtang treten könnte, um ihre Einseitigkeit durch eine gleichmäßigere Berücksichtigung aller offenbleibenden Unsicherheiten, neuen Wendungen und Möglichkeiten zu ergänzen. Sie leugnet nicht die sinkende Bewegung jenes Zivilisationsprozesses — die sie vielmehr ihrerseits, wenn auch aus anderem Gesichtspunkt und mit anderen Mitteln begründet — aber sie sieht in ihr nicht die Gesamtbewegung, sondern eine Einzelseite, eine Möglichkeit und ein Moment der Gegenwart, neben dem andersartige und gegensätzliche ebenso prinzipiell begründet stehen. Gerade weil keine Erkenntnis über diese Möglichkeiten zu entscheiden hat, noch jemals zu entscheiden haben wird, verbleibt die Freiheit und der Wille unserer Zukunft gegenüber völlig unberührt. Sie hängt allein nur von der Kraft and dem Vorhandensein dieses (jeder Abschätzung sich entziehenden) Gestaltungswillens ab, im Ganzen wie im Einzelnen. Beim Fehlen jener Kraft würde die angelsächsische Weltzivilisation verflachend ihr kapitalistisches Imperium ausbreiten können als ein Endstadium der sich zersetzenden neueuropäischen Geschichte. Dann aber wäre jedes Volk, das dieser Zivilisation selbst keinen eigenen neuen Geistes- und Kulturinhalt entgegensetzen •kann, nur wert bis an sein Ende unter dieser Weltherrschaft dahin zu vegetieren. Andererseits ist es ganz ebenso möglich und wahrscheinlich, daß jenseits aller gegenwärtig herrschenden, erstarrenden Gewalten erst die Fülle zukünftiger Kräfte aus den Tiefen der durchwühlten Menschheit ringend emporbreclien wird zur neuen und neuartigen Unendlichkeit ihrer beharrenden Aufgabe. W o und wie dies geschieht ist dunkel. Selbst die Möglichkeiten der Hauptvölker bleiben unentschieden. Denn wer weiß denn, ob das russische Chaos dereinst noch künftige Kulturvölker gebären wird voll neuer Unerschöpflichkeit, oder ob dieser Boden endgültig verwüstet und vergiftet ist? Wer weiß es, ob die deutschen Möglichkeiten in die Geisterreiche innerer Gewalt (und vielleicht ostwärts zu noch neuen, allgemeineren Kulturausgleichsproblemen) führen werden, oder ob dies Volk, verbraucht und unfähig zum Führer tum, in Selbstzersetzung jämmerlich und würdelos zugrunde geht — ein schalgewordener Best zu oft vergeudeten, verschütteten und abgewelkten, edelsten Kulturgehalts? — Nicht unrichtig ist jüngst verschiedentlich die politische Lage des heute verachteten, in vielem verächtlichen Deutschlands mit der Griechenlands zu P i a t o n s Zeit verglichen worden. Ob deswegen freilich auch der Geisteskeim unserer Zukunft in einer Akademie der Auserlesenen heranwächst, oder ob die andere Erwartung eines „faustischen" und weltumfassenden sozialen deutschen Sieges mehr Wahrscheinlichkeit für sich hat, sei dahingestellt. Wenn nur ein wirklicher und wesentlicher Kern des Volkes, wie gering auch immer, sich zu seiner eigensten Aufgabe und Arbeit zu-

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sammenschließt, so wird der Fruchtkern dieser seiner unersetzlichen Leistung und Wesensart auch die bedrückendste und härteste Schale zersprengen können, und dem Ernst, der Größe und der Unerbittlichkeit diese): aufbrechenden Menschheitsaufgabe gegenüber wird dereinst dann auch die Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Volk wieder belanglos sein. Denn immer wird die Scheidelinie zwischen Wachstum und Verfall — der Gegensatz, den jedes Volk allzu naiv während des Kampfes geistig zwischen sich und seinen Feinden aufgerichtet hat — in Wahrheit all die vielfältig verflochtenen Weltvölker selbst durchziehen, in jedem Volk mitten hindurch durch seine Schichten, Stände und Gruppierungen die scharfe Trennung tragend zwischen positiv aufbauender, ethisch und schöpferisch gerichteter, opferbereiter Arbeits- und Entwicklungskraft und den nur negativen und zersetzenden Tendenzen des in Volk und Staat zum Untergang führenden nackten Egoismus. Immer wird es darauf ankommen, ob jedes Volk den ideellen Kern seiner wertvollen Möglichkeiten aus seiner empirischen Versshüttung zu erlösen und herauszuarbeiten vermag und einzig diese hin und her schwankende eigene Entscheidung zwischen Kraft und Schwäche, zwischen Wert und Mangel seines Wesens wird das Schicksal seiner Zukunft selbst bestimmen. Hierin sind die festen Anhaltspunkte für das Kommende gegeben, nicht in irgendwelchen inhaltlichen Konstruktionen. Jedes Volk so gut wie jeder Einzelne kann C a r l y l e s Rat beherzigen: „ W i s s e woran du arbeiten kannst, und dann a r b e i t e daran wie ein Herkules." Es ist begreiflich, daß der grübelnde Gedanke über Schuld und Schicksal nicht zur Ruhe kommt, so lange die Entscheidung mit all ihren Möglichkeiten schwankend scheint, insonderheit bei dem gewaltsamen und plötzlichen Umsturz in den Geschicken Deutschlands. Doch der konsequenteste, tiefste Gedanke deutscher Geistesarbeit, der bewußt das ganze Schicksal als Ausfluß und Folge des Charakters trägt, gewinnt mit dieser vollen Selbstverantwortung seiner Vergangenheit zugleich die Freiheit und die Willenssicherheit der Zukunft gegenüber in all ihrer Wirklichkeit zurück. Eben weil die Kette der Ursachen letzten Grundes in dem metaphysisch freien Kern des eigenen Selbst verankert ist, das Schuld hat (vor sich) an seiner Vergangenheit, steht es vor seiner Gegenwart und .Zukunft schöpferisch und selbstbestimmend und trägt in seiner erfüllten eigenen Arbeit allein die innerlich gestaltende, lebendige Gewalt über sein Schicksal durch die Zeit. So lange es lebendig ist gilt für ein Volk wie für den Einzelnen: „Der Schöpfungstag ist ewig heut."

Vereinigung Berlin

wissenschaftlicher

Verleger

Walter de Qruyter & Co.

Leipzig

Das Naturbild der neuen Physik Von

Arthur Haas Dr. phil., a. o. Professor der Universität Leipzig

Mit sechs Figuren im Text 1920. Groß-Oktav. 114 Seiten. Preis geh. M. 13.— Durch die großartigen Fortschritte der theoretischen Physik hat unser Naturbild in den letzten Jahrzehnten eine völlige Neugestaltung erfahren. Die ältesten Begriffe der Naturphilosophen haben ihre Bedeutung geändert; früher nie geahnte Zusammenhänge haben sich der physikalischen Forschung erschlossen; unsere Naturanschauung hat sich in großartiger Weise erweitert und dabei doch vereinfacht und vereinheitlicht. Das Naturbild der modernen Physik wird in leichtverständlicher Weise und ohne alle mathematischen Formeln in dieser Schrift geschildert; ihren Inhalt bilden fünf Vorträge über elektromagnetische Lichttheorie, Molekularstatistik, Elektronen-, Relativitäts- und Quantentheorie.

Vereinigung Berlin

wissenschaftlicher

Verleger

Walter de Gruyter & Co.

Leipzig

Über Schlußprozesse

im produktiven Denken von

Max Wertheimer 1920. Groß-Oktav. Preis geheftet M. 3.— Ohne Verlegerteuerungszuschlag Im Gegensatz zu den traditionellen logischen Untersuchungen ist diese Schrift prinzipiell auf das l e b e n d i g e p r o d u k t i v e Denken gerichtet. Die Untersuchung geht von der Behandlung eines alten Problems der Schullogik aus, in strenger Forschung soll aber zu dem Wesentlichen wirklich s i n n v o l l e r , v o r w ä r t s d r i n g e n d e r D e n k p r o z e s s e vorgedrungen werden; es eröffnen sich Ausblicke auf eine anders gerichtete Logik und Denkpsychologie. Nicht nur für den Theoretiker, sondern auch für den P ä d a g o g e n bringt die Schrift in ihrer neuartigen Behandlung lebendiger Denkprozesse wichtige Anregungen.

Der Geist des Hellenentums in der modernen Physik von

Arthur Haas

Dr. phil., a. o. Prof. der Universität Leipzig

Antrittsvorlesung, gehalten am 17. Januar 1914 in der Aula der Universität Leipzig 32 Seiten. Preis geheftet M. 1.20 V e r l e g e r t e u e r u n g s z u s c h l a g 100°/o Das kleine aber ausgezeichnete Schriftchen ist nur mit lebhaftester Genugtuung zu begrüßen und Philosophen wie Physikern und Naturforschern überhaupt auf das wärmste zu empfehlen. Prof. B r u n o Bauch in den Kantstudien. Metzger