Beginn der Gegenwart: Studien zur juristischen Zeitgeschichte der 1980er Jahre [1 ed.] 9783737013291, 9783847113294

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Beginn der Gegenwart: Studien zur juristischen Zeitgeschichte der 1980er Jahre [1 ed.]
 9783737013291, 9783847113294

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Martin Löhnig (Hg.)

Beginn der Gegenwart Studien zur juristischen Zeitgeschichte der 1980er Jahre

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Xristoforov: Las Vegas, USA, September 2016, DMC DeLorean Back to the Future movie car on auto exhibition; Adobe Stock (#337572038) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1329-1

Inhalt

Martin Löhnig Einleitung: Wartezeit oder Zeitenwende?

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Malte Hakemann Zwischen Ordnungsdenken und universellem Menschenrecht. Der Begriff politischer Verfolgung in der Debatte um die Asylrelevanz von Folter . .

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Sebastian Gehrig Deutsche Staatsangehörigkeit und »Deutschenfähigkeit«: Das Teso-Urteil und die Debatten um Migration und bundesdeutsche Selbstbilder in den achtziger Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Freia Anders / Alexander Sedlmaier Legitimationsdiskurse und Gewaltbegriffe: Die Gewaltkommissionen der BRD, 1977–1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Robert Wolff Ein zeitgeschichtlicher Beleg für die Existenz politischer Justiz in der Bundesrepublik Deutschland? »Terrorismusbekämpfung« und Strafprozesse gegen die Revolutionären Zellen als blinder Fleck der Juristischen Zeitgeschichte der 1980er Jahre . . . . . . . . . . . . . . .

93

Stephan Müller Hausbesetzer – Recht, Politik, Prozesse

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

Andrea Kießling Gesundheitsschutz durch Eingriff oder Aufklärung? Das Ringen um den angemessenen Umgang mit der neuen Seuche AIDS . . . . . . . . . . 159

6 Michael Schied Drogenpolitik – Zwischen Repression und Methadon

Inhalt

. . . . . . . . . . . 187

Joachim Kummer Die Diskussion um das versammlungsrechtliche »Vermummungsverbot«

217

Andreas Fürst Volkszählung – Boykott, Sanktionen und die Entdeckung eines neuen Grundrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Jonas Plebuch Das dogmatisierende Jahrzehnt: Verfassungsrechtswissenschaft und Verfassungsgerichtsbarkeit in den 1980er Jahren . . . . . . . . . . . . . . 283

Martin Löhnig

Einleitung: Wartezeit oder Zeitenwende?

Die Grundstimmung war pessimistisch. Unter massiven Protesten der Friedensbewegung hatte die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen (»Pershing II«) stattgefunden. Die Angst vor einem dritten, atomaren Weltkrieg war weitverbreitet. An einer Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten nahmen 1981 etwa 300.000 Menschen teil. 1982 waren es über 500.000. Und 1983 fanden in mehreren deutschen Großstädten Friedensdemonstrationen statt, an denen sich weit über 1.000.000 Menschen beteiligten. Allein in Bonn demonstrierten über 600.000 Menschen, in Hamburg 400.000, in Süddeutschland bildeten mindestens 300.000 Menschen eine 100 Kilometer lange Kette von Stuttgart nach Ulm. Sitzblockaden vor geplanten Raketenstandorten etwa in Mutlangen fanden unter prominenter Beteiligung statt. Der amerikanische Film »The Day After« (1983), der allein in der Bundesrepublik Deutschland 3.600.000 Menschen ins Kino lockte, führte die Folgen eines Atomschlages eindrücklich vor Augen. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise waren in Form von stetig steigenden Arbeitslosenzahlen zu spüren. Nach einem ersten Anstieg von etwa 1 % auf etwa 4 % infolge der Ersten Ölkrise des Jahres 1973 stieg die Arbeitslosenquote Mitte der 1980er Jahre auf etwa 9 %. Über zwei Millionen Menschen waren damit von Arbeitslosigkeit betroffen. Der wirtschaftliche Strukturwandel und die zunehmende Automatisierung der Produktion hatten in den 1980er Jahren das Arbeitsleben deutlich verändert. Arbeitsplätze für unqualifizierte Menschen entfielen dauerhaft und es entstand eine Schicht von Arbeitslosen, deren Vermittlung in eine Beschäftigung kaum mehr möglich erschien. Diese sogenannte »Sockelarbeitslosigkeit« war allerdings abgefedert durch eine umfassende Sozialgesetzgebung – den aufkommenden Neoliberalismus kannte man nur aus der Zeitung, so daß es auf diesem Feld nicht zu Massenprotesten kam. Die Gewerkschaften waren überdies mit Arbeitskämpfen um die Einführung der 35Stunden-Woche beschäftigt und verstanden sich nicht als Vertretung der Arbeitslosen. 1984 schienen auch die Prophezeiungen eines 1948 erschienenen Bestsellers Wirklichkeit geworden zu sein. George Orwell hatte den totalen Überwachungs-

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Martin Löhnig

staat vorhergesagt, der – so die Befürchtung – nun von der neuen christlichliberalen Bundesregierung mit Hilfe einer Volkszählung tatsächlich errichtet werden sollte. Zahlreiche Menschen mißtrauten den neuen digitalen Datenverarbeitungssystemen, die einen unkontrollierten und unkontrollierbaren Zugriff des Staates auf Daten seiner Bürger befürchten ließen. Bei der Volkszählung 1970 hatten derartige Möglichkeiten noch nicht bestanden. Jetzt entstand eine Boykottbewegung, deren Vertreter eine wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erstritten, das erstmals ein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus der Verfassung ableitete (Fürst). Die Rechtsprechung dieses selbstbewußt auftretenden Gerichts konsolidierte sich in den 1980er Jahren während gleichzeitig in der Verfassungsrechtswissenschaft eine massive Dogmatisierung einsetzte (Plebuch). Bedroht schien plötzlich auch die seit den 1970er Jahren zunehmend gesellschaftlich akzeptierte sexuelle Freiheit, die sich auf Grundlage einer medizinisch scheinbar völlig unproblematischen und gleichzeitig sicheren Empfängnisverhütungsmethode, der sogenannte »Pille«, etablieren konnte. Das Akquirierte Immun-Defizienz-Syndrom – kurz AIDS – erwies sich schnell als Erkrankung, die auch außerhalb von in den 1980er Jahren noch stark stigmatisierten homosexuellen Beziehungen eine Rolle spielte. Außerhalb auch der als schmuddelig empfundenen, stetig wachsenden Drogenszene mit ihren hunderten Toten pro Jahr, der die Politik hilflos gegenüberstand und deren Abgründe durch den Film »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« (1981) in weiten Teilen der Bevölkerung bekannt wurden. Repression oder Aufklärung? Über den zutreffenden Umgang mit AIDS-infizierten Menschen und Angehörigen vom Risikogruppen wurde ebenso jahrelang gerungen (Kießling) wie über den Umgang mit drogensüchtigen Menschen (Schied). Auch ökologische Katastrophen wurden befürchtet. Der durch Industrieemissionen verursachte sogenannte »Saure Regen« schien ein massives Waldsterben zu verursachen. Dieses Waldsterben stand stellvertretend für zahlreiche Umweltprobleme, die nun plötzlich registriert wurden und die für Angst vor der Vernichtung der Lebensgrundlagen sorgten: Durch Tankerunglücke verseuchte Küstenstreifen beispielsweise oder Flüsse, die infolge von Abwassereinleitungen »tot« waren. »Erst stirbt der Wald, dann stirbt der Mensch«, so der Slogan. Im indischen Bhopal kamen bei einem Chemieunfall im Dezember 1984 mehrere 1000 Menschen ums Leben, im April 1986 ereignete sich in einem Kernkraftwerk im sowjetischen Tschernobyl der sogenannte »Größte Anzunehmende Unfall« (GAU). Warum sollte derartiges nicht auch vor der eigenen Haustür passieren, zumal die Bayerische Staatsregierung gegen massive Proteste aus allen Bevölkerungsschichten den Bau einer atomaren Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) in Wackersdorf bei Regensburg forcierte.

Einleitung: Wartezeit oder Zeitenwende?

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In den 1980er Jahren nahm auch die Zuwanderung aus entfernteren Regionen nach Deutschland zu. In den siebziger Jahren waren weniger als 10.000 Asylbewerber pro Jahr in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. Das in Art. 16 GG uneingeschränkt gewährte Asylrecht hatte sich vor allem an politische Flüchtlinge aus dem sogenannten »Ostblock« gerichtet. 1980 beantragten mehr als 100.000 Menschen politisches Asyl, vor allem Türken und Kurden, nachdem ein Militärputsch in der Türkei stattgefunden hatte. Deutlich weniger als die 1.000.000 Asylbewerber, die in den frühen 1990er Jahren dann alljährlich in das wiedervereinigte Deutschland einreisten, aber genug, um auch hier eine von pessimistischer Grundstimmung bestimmte Protestbewegung entstehen zu lassen. »Asylbetrüger« waren ein Thema des Bundestagswahlkampfs 1987, Überfälle auf Ausländer, die angeblich den Deutschen die Arbeitsplätze wegnahmen, und Anschläge auf Asylbewerberheime zum Schutz vor »Überfremdung« begannen. War das Erleiden von Folter im Herkunftsstaat ausreichend, um einen erfolgreichen Asylantrag stellen zu können (Hakemann)? Welchen Immigranten sollte der Weg in die deutsche Staatsbürgerschaft offenstehen (Gehrig)? Debatten auf dem Weg zum verfassungsändernden »Asylkompromiß« des Jahres 1993. Die von Kapitalismus- und Herrschaftskritik ebenso wie von Wachstums-, Fortschritts- und Technologiekritik getragene pessimistische Grundstimmung der 1980er Jahre fand Ausdruck in zahlreichen Protesten. Das Protestmilieu reichte vom radikalen Spektrum – einerseits sogenannte »Wehrsportgruppen«, andererseits die mit Hilfe der »Anti-Terror-Gesetze« bekämpften Gruppen »Roten Armee Fraktion« (RAF) und »Revolutionären Zellen« (RZ) – bis weit hinein in bürgerlichen Schichten. Sie war also insgesamt unpolitischer und pluraler als noch in den »roten« 1970er Jahren. Die Protestformen waren vielfältig: Von Bürgerinitiativen, Stadtteilläden und friedlichen Kundgebungen bis hin zu geradezu militärisch anmutenden Aufmärschen mit regelrechten Schlachten zwischen Polizisten und vermummten Demonstranten, die sich alsbald allerdings einem »Vermummungsverbot« ausgesetzt sahen (Kummer). Hinzukommen schwerste Straftaten wie die Polizistenmorde auf der Baustelle der Startbahn West, die 1987 zur Einsetzung einer »Gewaltkommission der Bundesregierung« führten (Anders/Sedlmaier), oder politischen Attentaten. Bei der Verfolgung von Straftaten reizte der Staat alle Mittel aus, teilweise überreizte er sie sogar, wie etwa im Fall der »Revolutionären Zellen« (Wolff). Das Jahr 1979 markiert – um mit Peter Sloterdijk oder Frank Bösch zu sprechen – ein »Schlüsseldatum des 20. Jahrhunderts«, eine »Zeitwende« (Frank Bösch). Es markiert speziell für die Bundesrepublik Deutschland den Auftakt einer Veränderung der westdeutschen Gesellschaft, die in den 1980er Jahren zu ihrer heutigen Gestalt findet. Die 1980er Jahre erscheinen rückblickend deshalb keineswegs als langweilige »Wartezeit« zwischen dem Ende der sozial-liberalen Reform-Ära und den Revolutionen der Jahre 1989/90, sondern eben – in den

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Martin Löhnig

Worten von Ulrich Herbert – als ein Experimentiererfeld für Pluralismus und Individualismus, das die bundesdeutsche Gesellschaft massiv transformiert hat. Die für die Wirtschaftswunderjahre von Helmut Schelsky diagnostizierte nivellierte Mittelstandsgesellschaft gelangte an ihr Ende. Kritisches Bewußtsein, Protest oder Distinktion stießen in einer sich pluralisierenden Mehrheitsgesellschaft nicht mehr auf durchgängige Ablehnung. Jugendliche beispielsweise, die in Hamburg, Berlin oder Frankfurt gegen die Sanierung oder den Abriß von Altbauvierteln protestierten und Häuser besetzten, konnten sich der Sympathie breiterer Bevölkerungsschichten erfreuen, was die Innenpolitik vor erhebliche Probleme stellte (Müller). Trotzdem hat sich die Juristische Zeitgeschichte mit den 1980er Jahren bisher kaum beschäftigt. Vorliegender Band möchte den Auftakt geben zu einer intensiveren rechtshistorischen Befassung mit diesem Jahrzehnt. Damit ist zugleich gesagt, daß die Autorinnen und Autoren dieses Bandes nicht die gesamte Rechtsgeschichte der 1980er Jahre erzählen, wohl aber verschiedene Rechtsgeschichten aus dieser Zeit, in denen allerdings immer wieder ähnliche Muster aufscheinen. Zuerst erzählt wurden diese Geschichten auf einer Tagung, die eigentlich in Regensburg stattfinden sollte, aufgrund von Covid-19 aber in einen virtuellen Raum verlegt werden mußte. Trotzdem deshalb die Kaffee- und Essenspausen als Gelegenheiten für Gespräche entfallen sind, schaue ich dankbar zurück nicht nur auf die Referate, sondern auch auf spannende Diskussionen, die sich in den hier publizierten überarbeiteten Fassungen der Referate spiegeln. Ebenso dankbar bin ich dem Förderverein Europäische Rechtskultur e.V. für die Unterstützung dieses Projekts.

Malte Hakemann

Zwischen Ordnungsdenken und universellem Menschenrecht. Der Begriff politischer Verfolgung in der Debatte um die Asylrelevanz von Folter1

Hätte die Überschrift der Presseerklärung zur Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) nicht gelautet: »Folter als solche kein Asylgrund«, sondern »Keine Abschiebung bei drohender Folter«, »so wäre mit ziemlicher Sicherheit nichts passiert«. So der ehemalige Präsident Eckart Hien in einem Vortrag vor der Berliner Juristischen Gesellschaft am 9. Oktober 2013. Im September 1987 war durch Knieschüsse ein Attentat auf den Senatsvorsitzenden Günther Korbmacher verübt worden, zu dem sich Angehörige der »Revolutionären Zellen« bekannt hatten. Die Gruppierung verwies auf die Rechtsprechung des 9. Senats zur Folter als Asylgrund.2 »Die Tücken des Asylrechts«, die Hien im Hintergrund des Attentats verortete, schlugen sich nieder in der Debatte um eine Entwicklung in der Verwaltungsrechtsprechung der 1980er Jahre. Der Begriff der politischen Verfolgung nach Art. 16 GG in seiner damaligen Form wurde so ausgelegt, dass ein Recht auf Asyl trotz Folter durch den Herkunftsstaat verneint werden konnte.3

1 Der Beitrag geht auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Rahmen der Forschergruppe 1765 der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu dem Thema »Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989« zurück. Überlegungen des Verfassers fanden Eingang in gemeinsam mit dem Historiker Jonathan Spanos erarbeitete Beiträge mit einem Fokus auf dem protestantischen Debattenraum, parallel erschienen im Jahr 2020 in der Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht sowie in den Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte. 2 Eckart Hien, 150 Jahre deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit – Vortrag, gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 9. Oktober 2013 im OVG Berlin-Brandenburg, Berlin 2014, S. 26. Zu den Revolutionären Zellen vgl. auch den Beitrag von Robert Wolff in diesem Band. 3 Zur Rechtsprechung im Überblick Jochen A. Frowein/Rolf Kühner, Drohende Folterung als Asylgrund und Grenze für Auslieferung und Ausweisung, ZaöRV 43 (1983), 537ff. Bis zum 30. 6. 1993 lautete Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«.

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1

Malte Hakemann

Einleitung

»Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«. Die Väter und die in geringerer Zahl vertretenen Mütter des Grundgesetzes hatten seinerzeit allen Konkretisierungen und Einschränkungen dieser Norm, die in Rechtsgeschichte und -vergleich ohne Beispiel war, eine Absage erteilt. Sie hatten sich aber auch nicht über den positiven Gehalt des neu geschaffenen Artikels verständigt. Vom vielbeschworenen deutschen Sonderweg ist dann schnell die Rede, was aber für sich genommen wenig erklärt: Nicht, dass man im Parlamentarischen Rat noch in den hergebrachten völkerrechtlichen Strukturen eines Auslieferungsrechts dachte. Dies belegen etwa die Äußerungen der Abgeordneten von Mangoldt, Schmid und Zinn im Ausschuss für Grundsatzfragen, in dem der Artikel seine finale Fassung erhielt.4 Auch nicht, dass die Verweise auf das Völkerrecht diffus blieben und jüngere Entwicklungen wie die Menschenrechtserklärung nur bis ins Entwurfsstadium nachweislich verfolgt wurden. Und auch nicht, dass im Wettstreit politischer Systeme der Blick auf die Verfolgung in der sowjetisch besetzten Zone fokussiert war.5 Der gewaltigen Implikationen des so schlicht daherkommenden Wortlauts dürfte man angesichts dessen kaum gewahr gewesen sein. Schlafwandlerisch, so mutet es in der Rückschau an, beschritt man einen Pfad, der erst durch die Rechtspraxis eingeebnet wurde.6 Was politische Verfolgung eigentlich im Kern ausmachen sollte, blieb tatsächlich Rechtspraxis und -wissenschaft überlassen. Seit 1978 war durch eine Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung7 die Zuständigkeit für Asylrechtsstreitigkeiten dezentralisiert. Verwaltungsrichter*innen waren daher zunächst veranlasst, sich eine eigene Auffassung zu bilden. Wirklich virulent wurde die Problematik im Zuge des Militärputsches in der Türkei am 12. September 1980 und im Zuge dessen steigender Flüchtlingszahlen. Die Verwaltungsgerichte sahen sich verschiedentlich mit Asylgesuchen oppositioneller bzw. kurdischer, türkischstämmiger Menschen konfrontiert. Diese machten geltend, sie seien im 4 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1: Ausschuss für Grundsatzfragen, München 1993, S. 62, 83–84. 5 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat (o. Fn. 4), S. 84–86. 6 Zur Entstehungsgeschichte ausführlich Jörg Berkemann, Politisch Verfolgte genießen Asylrecht – Zur Entstehungsgeschichte des Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG a. F. und wie man sie besser hätte nutzen können, in: Markus Krajewski/Matthias Reuß/Tarik Tabbara (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Helmut Rittstieg, Baden-Baden 2015, S. 215ff.; Klaus F. Gärditz, in: Theodor Maunz/Günter Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 83. Lfg. April 2018, Art. 16a Rn. 4–24 sowie der Überblick bei Paul Tiedemann, Das konstitutionelle Asylrecht in Deutschland – Ein Nachruf, ZAR 2009, 161ff. und Michael Wollenschläger/Ulrich Becker, 40 Jahre Asylgrundrecht, AöR 115 (1990), 369ff. 7 Zweites Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung vom 25. 7. 1978 (BGBl. 1978 I S. 1107).

Zwischen Ordnungsdenken und universellem Menschenrecht

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Rahmen der Verfolgung wegen Staatsschutzdelikten von Folter bedroht oder hätten solche bereits erlitten. In einem übergeordneten disziplingeschichtlichen Sinne wurde das Asylrecht zu einem späten Beleg für die Feststellung des Verwaltungsrechtswissenschaftlers Otto Bachof aus dem Jahr 1963, die Verwaltungsgerichte hätten an der Interpretation der Verfassung einen ebenso großen Anteil wie die Verfassungsgerichte.8 Zentrale Positionen (2.) und Argumentationslinien (3.) im asylrechtlichen Diskurs jener Zeit sollen im Folgenden skizziert und in einen weiteren disziplingeschichtlichen Kontext (4.) gestellt werden. Diese Kontextualisierung lässt Rückschlüsse auf Vorverständnisse zu, welche für die Auslegung des Art. 16 GG prägend gewesen sein mögen. Dadurch lassen sich einige Beobachtungen über den juristischen Diskurs und seinen Stand in der Zeit verdeutlichen, wie sie für die 1980er Jahre symptomatisch waren. Dies betrifft zum einen das Fortwirken eines etatistischen Ordnungsdenkens gegenüber universalistischen, menschenrechtlich engagierten Vorstellungen, zum anderen die Rückbesinnung von theoretischen Entwürfen hin zur Orientierung an den Bedürfnissen der Praxis sowie schließlich das Beharren auf Autonomie gegenüber einer verstärkt politisch geprägten Debatte.

2

Positionen

2.1

Die Entwicklung der Interpretation des Art. 16 GG bis in die 1980er Jahre

Die Geschichte der Aneignung des neuen Grundgesetzartikels durch die Rechtspraxis lässt sich kaum als Erfolgsnarrativ erzählen, eher als ein Mäandern höchstrichterlicher Suchbewegungen. Diese sind zugleich beispielhaft für das öffentlich-rechtliche Denken in normativen Hierarchieebenen.9 Das BVerwG war 1957 mit dem Vorgehen eines marokkanischen Staatsangehörigen gegen ein Aufenthaltsverbot konfrontiert. Dieses war nach der unter dem Grundgesetz fortgeltenden, ursprünglich preußischen Ausländerpolizeiverordnung verhängt worden. Der Kläger berief sich nun aber auf das Asylrecht des Grundgesetzes. Das Gericht wiederum rekurrierte zur Auslegung des Grundgesetzartikels auf die Genfer Flüchtlingskonvention. Diese war allerdings erst 1951, also nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, verabschiedet und 1954 in deutsches Recht 8 Otto Bachof, Über einige Entwicklungstendenzen im gegenwärtigen deutschen Verwaltungsrecht, in: Helmut R. Külz/Richard Naumann (Hrsg.), Jubiläumsschrift zum hundertjährigen Bestehen der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit, Bd. 2, Karlsruhe 1963, S. 3, 4. 9 Näher Christoph Engel, Herrschaftsausübung bei offener Wirklichkeitsdefinition – Das Proprium des Rechts aus der Perspektive des öffentlichen Rechts, in: Christoph Engel/Wolfgang Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 205ff.

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Malte Hakemann

transformiert worden. Deren Art. 1 A Nr. 2 formulierte als Maßstab der Einstufung als Flüchtling die »begründete Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen der politischen Überzeugung«.10 Dies, so der Senat, sei als Ausdruck einer allgemeinen Rechtsauffassung auch maßgeblich für den Grundgesetzartikel. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zog 1959 aus der nebulösen Entstehungsgeschichte die Konsequenz einer weiten Auslegung – gegebenenfalls sogar über die Flüchtlingskonvention hinaus. 1965 wurde die Ausländerpolizeiverordnung vom Ausländergesetz abgelöst, das nun ausdrücklich auf die Flüchtlingskonvention verwies.11 Stimmen kamen im Schrifttum der späten 1960er Jahre auf, die sich auch vor dem Hintergrund zunehmender Bedeutung der Menschenrechte für ein weites Asylrecht aussprachen – Otto Kimminich mit seiner Darstellung des Asylrechts von 1968 und seiner Bearbeitung im Bonner Kommentar ist hier etwa zu nennen.12 Sie veranlassten das BVerwG 1975, an der Begrenzung des Asylrechts durch das Völkerrecht nicht länger festhalten zu wollen. Das Gericht hielt den Begriff des politisch Verfolgten für »aus sich heraus erschöpfend bestimmbar« – dank der Transformation der Flüchtlingskonvention, der Verweisung im Ausländergesetz und der besagten Entscheidung des Verfassungsgerichts.13 Maßgeblich war danach die »begründete Verfolgungsfurcht«. Der Kasseler Verwaltungsrichter Günter Renner sah 1984 rückblickend einen in diesem »Zentralbegriff« des völkerrechtlichen Flüchtlingsschutzes bereits angelegten Dualismus von subjektiver Furcht und objektiven Gründen.14 1977 ergab sich die Gelegenheit, diesen Dualismus auf einen Nenner zu bringen. »Maßgebend dafür, ob die befürchtete Verfolgung eine politische ist, sind die Gründe, aus denen der Verfolgerstaat die befürchtete Verfolgung betreibt«, so der Senat in seinem Urteil vom 29. November.15 Eine eindeutige Positionierung. Es kam also nicht auf die subjektiven Befürchtungen der verfolgten Person an, sondern darauf, ob der verfolgende Staat die jeweilige Maßnahme aufgrund der in der Flüchtlingskonvention aufgeführten Motive vorgenommen 10 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. 7. 1951, verkündet mit Gesetz vom 1. 9. 1953 (BGBl. 1953 II S. 559). 11 Ausländergesetz, verkündet mit Gesetz vom 28. April 1965 in Kraft (BGBl. 1965 I S. 353). 12 Das Senatsurteil verweist auf Otto Kimminich, Asylrecht, Berlin 1968, S. 133ff.; Kimminich, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 20. Lfg./Zweitbearbeitung, Heidelberg 1968, Art. 16 GG Anm. 184; vgl. zudem Peter Lerche, Das Asylrecht ist unverwirkbar, in: Horst Ehmke/ Carlo Schmidt/Hans Scharoun, Festschrift für Adolf Arndt zum 65. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1969, S. 199ff. 13 BVerwGE 49, 202, 204. 14 Günter Renner, Asylanerkennung oder Abschiebung und Auslieferung bei Menschenrechtsverletzungen, NJW 1984, 1257, 1258. 15 BVerwGE 55, 82, 85.

Zwischen Ordnungsdenken und universellem Menschenrecht

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hatte. Das BVerfG schloss sich dem 1980 an: Während die Flüchtlingskonvention auf die begründete Furcht vor Verfolgung abstelle und damit auf das »subjektive Moment der Verfolgungsangst«, sei nach dem Grundgesetzartikel eine »objektive Beurteilung der Verfolgungsgefahr« erforderlich.16

2.2

Die Betonung der Motive des Verfolgerstaates durch das BVerwG

Nach dem Militärputsch in der Türkei nahm die Anwendung von Folter bei der Aufklärung von Staatsschutzdelikten zu. Zunächst sprachen sich die unteren Verwaltungsgerichte noch für die Asylrelevanz aus.17 Erstmals verneinte dann die 18. Kammer des Düsseldorfer Verwaltungsgerichts im Jahr 1981 das Vorliegen einer politischen Verfolgung.18 Dieser Rechtsprechung folgten der hessische und der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof 1982.19 Stets ging es um in der Türkei verhaftete, kurdische Asylbewerber*innen. 1981 war eigens für das Asylrecht ein neunter Senat am BVerwG eingerichtet worden, der 1983 die Instanzentscheidungen zum Anlass einer Klarstellung nahm. Selbst Verletzungen der Menschenwürde durch Folter im Rahmen der Strafverfolgung wegen eines politischen Delikts sollten einen Asylanspruch nur bei politischen Motiven begründen.20 Solche politischen Motive, so die Senatsentscheidung, seien nicht gegeben, wenn der Staat »lediglich – wenn auch möglicherweise mit autoritären Mitteln – seine Herrschaftsstruktur aufrechtzuerhalten trachtet und dabei die Überzeugungen seiner Staatsbürger unbehelligt lässt«. Politische Motive seien nur gegeben, wenn »ein Staat seine Bürger in ihrer politischen oder religiösen Überzeugung zu treffen, sie aus ethnischen oder Gründen der Nationalität zu disziplinieren, sie deswegen niederzuhalten oder sogar zu vernichten sucht«21. Vernehmliche Stimmen in der Literatur wie der seit 1983 als Präsident des BVerfG amtierende Wolfgang Zeidler oder der Staatsrechtslehrer Helmut Quaritsch pflichteten dem bei.

16 BVerfGE 54, 341, 359. 17 VG Schleswig, InfAuslR 1981, 156; VG Hamburg, InfAuslR 1982, 45; InfAuslR 1982, 163; VG Wiesbaden, InfAuslR 1981, 332. 18 VG Düsseldorf, Urt. v. 26. 8. 1981 – 18 K 11255/80. 19 VGH Kassel, InfAuslR 1982, 98, 99: »gewöhnliche strafrechtliche Ermittlungen« und VGH Mannheim, InfAuslR 1982, 255, 257: »allgemeines kriminalpolitisches Phänomen«. 20 BVerwGE 67, 184, 189. 21 BVerwG, (o. Fn. 20), 189f., ebenso BVerwGE 67, 195, 199f.; BVerwG NVwZ 1984, 653, 653.

16 2.3

Malte Hakemann

Die Betonung der Menschenrechtsverletzung des Verfolgerstaats durch Reinhard Marx

Eine gegensätzliche Auffassung vertrat Reinhard Marx, der 1983 in Frankfurt am Main mit einer Arbeit über den Begriff des Politischen im Asylrecht bei Erhard Denninger promoviert wurde.22 Ausschlaggebend für die Einstufung der Verfolgung als politisch, so Marx, sei die Verletzung von Menschenrechten. Negativ gewendet bedeutete dies, dass jeder nicht durch die Menschenrechtsordnung gerechtfertigte Verfolgungsgrund, unabhängig vom Rahmen der Flüchtlingskonvention, ein politischer war und damit politische Verfolgung vorlag. Die Person des oder der Verfolgten war also ebenso wenig ausschlaggebend wie die Motivation des Verfolgerstaates, sondern allein der objektive Tatbestand einer menschenrechtswidrigen Handlung. Die Kopplung von Menschenrechten und Menschenwürde führte Marx zu einem eindeutigen Ergebnis: Bereits erlittene oder drohende Folter entspreche schon aufgrund der Verletzung der Menschenwürde stets politischer Verfolgung und sei daher asylrelevant.23 Ähnliche Ansätze stellten ebenfalls auf die Menschenrechtswidrigkeit bzw. die Rechtsstaatswidrigkeit der Verfolgung ab.24 Versuche, den Begriff der politischen Verfolgung soziologisch inspiriert auszudeuten anhand des Politikbegriffs Max

22 Reinhard Marx, Eine menschenrechtliche Begründung des Asylrechts: rechtstheoretische und -dogmatische Untersuchungen zum Politikbegriff im Asylrecht, Baden-Baden 1984. 23 Marx vertrat seine Auffassung in zahlreichen Publikationen vom Ende der 1970er Jahre an, so Marx, in: Amnesty International (Hrsg.), Politisches Asyl in der Bundesrepublik Deutschland – Grundlagen und Praxis; Erfahrungsbericht und Dokumentation, Baden-Baden 1977, S. 37f.; Marx, Plädoyer für ein liberales Asylrecht, in: Amnesty International (Hrsg.), Bewährungsprobe für ein Grundrecht: Art. 16 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«, Baden-Baden 1978, S. 111, 128f.; Regina Heine/Marx, Ausländergesetz mit neuem Asylverfahrensrecht – Rechtsprechung zum Asylrecht mit Erläuterungen, Baden-Baden 1978, S. 279f.; Marx, Grundstruktur der Asylentscheidung, ZAR 1981, 42, 42; Marx, Die Gewissensfreiheit in Theorie und Praxis des Asylrechts, in: Gerhard Schult (Hrsg.), Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland ?, Baden-Baden 1982, S. 153ff.; Marx, in: Reinhard Marx/Gerhard Strate, Asylverfahrensgesetz, Frankfurt a. M. 1982, § 1 Rn. 7, 23–25, 51f.; Marx, Politisches Strafrecht und Folter im Asylrecht, ZAR 1984, 102ff. 24 So etwa Fritz Franz, Die Asylgewährung der Bundesrepublik Deutschland im Spannungsfeld der obergerichtlichen Rechtsprechung, DVBl 1978, 865, 871 und Bertold Huber, Legitimation der Folter in der Rechtsprechung zum Asylrecht, KJ 1983, 164, 167–169; sowohl auf die Rechtsstaatswidrigkeit als auch die Menschenrechtswidrigkeit stellen ab Hans-Ingo von Pollern, Das moderne Asylrecht – Völkerrecht und Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1980, S. 283f.; Dietmar Franke, Politisches Delikt und Asylrecht, Königstein/Ts. 1979, S. 61f.; Ernst Reichel, Das staatliche Asylrecht »im Rahmen des Völkerrechts« – Zur Bedeutung des Völkerrechts für die Interpretation des deutschen Asylrechts, Berlin 1987, S. 125f. sieht die menschenrechtswidrige Verfolgung zugleich als rechtsstaatlich illegitim an.

Zwischen Ordnungsdenken und universellem Menschenrecht

17

Webers vom »Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung«25, so insbesondere des OVG Hamburg,26 blieben vereinzelt.27

3

Linien

Anhand der Argumentationslinien fällt im Vergleich von Senatsrechtsprechung und der Position von Marx auf, was die Kontrahenten einander teils auch explizit zum Vorwurf machten: Die differenzierende Begriffsauslegung gegenüber einer normativen Aufladung des Artikels. Der dadurch den Asylrichter*innen eröffnete Wertungsspielraum gegenüber einer stärker objektivierenden Sichtweise. Schließlich die Relativierung von Folter entgegen einer Haltung, die diese nach dem universalen Maßstab der Menschenrechte schlechthin verurteilte.

3.1

Differenzierende Auslegung statt normativer Aufladung

Das BVerwG lud den Gehalt des Politischen anders als Marx nicht von vornherein durch Folter oder Menschenwürde auf.28 Die Folter erlangte nur indizielle Bedeutung.29 Politische Verfolgung lag jedenfalls dann nicht vor, wenn systematisch, gewissermaßen ohne Ansehen der Person, Beweismittel im Verfahren der Strafverfolgung erlangt werden sollten.30 Die Menschenwürde diente nur der Abgrenzung der Verfolgung von sonstigen Nachteilen und wurde vom Begriff des Politischen somit im Wege grammatikalischer Auslegung streng geschieden.31 Durch die Einführung eines zusätzlichen Kriteriums mit dem Verfolgungswillen wurde der Tatbestand aber zum einen ohne näheren Anhaltspunkt effektiv enger gefasst. Zum anderen markierte dies eine Abkehr von der denn auch, nur inso-

25 Max Weber, Politik als Beruf, Tübingen 1919, S. 4. 26 OVG Hamburg, InfAuslR 1983, 187, 199; 309, 310. 27 In die gleiche Richtung gingen noch Bertold Huber, Ausländer- und Asylrecht, München 1983, Rn. 441 und Baumüller, Peter/Brunn, Bernd/Fritz, Roland/Hillmann, Bernd, Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, 1982, Vorb. § 1 Rn. 83–85. 28 Kritisch dieser Auslegung Marxens gegenüber etwa Wolfgang Zeidler, Einige Bemerkungen zu den Versuchen, den Begriff der »politischen Verfolgung« zu bestimmen, in: Bernd Rüthers/Klaus Stern (Hrsg.), Festgabe zum 10jährigen Jubiläum der Gesellschaft für Rechtspolitik, München 1984, S. 551, 559–564. 29 BVerwG, (o. Fn. 20), 194. 30 BVerwGE 74, 226, 229. 31 BVerwG, (o. Fn. 20), 188–193, 195–199; kritisch zu diesem durch den Wortlaut nicht eben erzwungenen Verständnis Hans Kreuzberg, Politische Straftäter genießen Asylrecht, in: InfAuslR 1983, 119, 121.

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Malte Hakemann

weit in der Tradition der Asylentscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1959,32 als wenig ergiebig eingestuften Entstehungsgeschichte33 – entsprach doch nach Auffassung des Parlamentarischen Rates jedenfalls die Strafverfolgung wegen eines politischen Delikts je auch immer einer politischen Verfolgung und waren damit politische Straftäter, sofern Sie einem Auslieferungsverbot unterfielen auch asylberechtigt.34 Das BVerwG setzte schon anders an und hielt (nur) fest, dass die Strafverfolgung wegen eines politischen Delikts nicht bereits einer politischen Verfolgung widerspreche.35 Auch Marx lehnte eine allein an der Verfolgung Oppositioneller orientierte, nachgerade originalistische Auslegung ab. Er gelangte so aber zu einer effektiv weiteren Fassung des Tatbestandes unter Verweis auf die Vielzahl möglicher Fluchtursachen.36 Diesen Weg ging das BVerwG nicht mit.

3.2

Einzelfallbezug richterlichen Entscheidens statt objektivierter Maßstäbe

Das Hinzuziehen des Verfolgungswillens als eines weiteren Kriteriums führte aber dazu, dass Gerichte zwischen legitimem strafrechtlichen Rechtsgüterschutz und illegitimer politischer Gesinnungssanktion unterscheiden mussten.37 Marx kritisierte, dass der so eröffnete Wertungsspielraum Opportunitätsentscheidungen ermögliche. Der Begriff politischer Verfolgung werde nicht präzisiert, womit Rechtssicherheit hätte gewonnen werden können. Vielmehr werde ein Moment behördlicher und richterlicher Dezision eingebracht.38 So wurden etwa die Lageberichte des Auswärtigen Amtes zur Türkei in den unter- und obergerichtlichen Instanzen sehr unterschiedlich rezipiert.39 Aus der Justiz wurde zwar die 32 BVerfGE 9, 174, 179f., wo indes die Konsequenz einer weiten Auslegung des Asylgrundrechts gezogen wurde. Das hohe Gewicht der Entstehungsgeschichte und ein uneingeschränktes Asylrecht politischer Straftäter bekräftigte das OVG Hamburg, (o. Fn. 26), 197–199. 33 BVerwG, (o. Fn. 20), 191. 34 JöR1, 1951, S. 165ff.; vgl. auch den späteren Rekurs in der sogenannten Tamilen-Entscheidung des BVerfG vom 10. Juli 1989, BVerfGE 80, 315, 336f. 35 BVerwG, (o. Fn. 20), 188f. 36 Heine/Marx, Ausländergesetz, (o. Fn. 23), S. 279f. 37 Vgl. Volker Neumann, Feindschaft als Kriterium des asylrechtlichen Politikbegriffs, NVwZ 1985, 628, 629. 38 Reinhard Marx, Die Definition politischer Verfolgung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Dietrich Thränhardt/Simone Wolken (Hrsg.), Flucht und Asyl – Informationen, Analysen, Erfahrungen aus der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland, Freiburg i. Br. 1988, S. 148, 156f. 39 Simone Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1998, S. 334; aus jüngerer Zeit Björnstjern Baade, »Sehenden Auges dem Tode oder schwersten Verletzungen ausgeliefert«? Die Verwertung von Lageberichten als Beweismittel zur Feststellung der subsidiären Schutzbedürftigkeit von Asylbewerbern, in: Marje Mülder/Stefan Drechsler/Christian Helmrich/Veronika

Zwischen Ordnungsdenken und universellem Menschenrecht

19

Flexibilität begrüßt, aber auch eine transparente Fallgruppenbildung angemahnt.40

3.3

Relativierung der Folter statt universaler Verurteilung

Das BVerwG betonte, der Schutz vor Folter sei zwar ein Menschenrecht, Folter an sich begründe indes noch keine politische Verfolgung, da diese aus ganz unterschiedlichen Motiven erfolgen könne.41 Aus der Literatur sekundierten Wolfgang Zeidler und Helmut Quaritsch, indem sie auf unterschiedliche Anschauungen zu Folter und Menschenrechten in anderen Staaten und Gesellschaftsordnungen verwiesen.42 Im Ergebnis gelangte man so aber zur Relativierung der Folter. Demgegenüber vertrat Marx einen universalistischen Ansatz mit der Menschenrechtsordnung als allein entscheidendem, allgemeingültigem Maßstab.43 Der neunte Senat erkannte zwar die Menschenrechtswidrigkeit von Folter an. Das Menschenrechtsargument wurde aber gerade aus einer anderen Perspektive bemüht. Das Gericht berief sich auf die Auslegung des Asylrechts als eines aus humanitären Gründen gewährten Menschenrechts, nur um damit zu begründen, dass das Asylrecht kein politisches Institut sei. Es könne daher die Bundesrepublik auch nicht zu Stellungnahme oder Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten, etwa der Türkei, zwingen, sodass die politischen Verhältnisse vor Ort nicht maßgeblich seien.44

4

Kontexte

Wie fügt sich dies zum Kontext jener Zeit? Zunächst zur Einordnung der Akteure im damaligen fachjuristischen Diskurs, wobei dies die Rechtswissenschaft jener Zeit im weiteren und die öffentlich-rechtliche im engeren Sinne meint. Sodann zu einer neuerlichen Fokussierung auf den Staat. Schließlich auch zu einer ver-

40 41 42 43

44

Streule/Julia Weitensteiner (Hrsg.), Richterliche Abhängigkeit – Rechtsfindung im Öffentlichen Recht, Baden-Baden 2018, S. 71, 86f. Ulrich Schwäble, Zum Zustand des materiellen Asylrechts, DÖV 1989, 419, 424. BVerwG, (o. Fn. 20), 193f. Zeidler, Begriff der »politischen Verfolgung«, (o. Fn. 28), S. 551, 561f.; Helmut Quaritsch, Recht auf Asyl. Studien zu einem mißdeuteten Grundrecht, Berlin 1985, S. 72–78. Marx, Politisches Strafrecht und Folter im Asylrecht, (o. Fn. 23), 108 wendete sich gegen einen von ihm beklagten »Dualismus von Politik und Menschenrechten, welcher Politik lediglich als Machtpolitik, Menschenrechte dagegen als bloß moralische Postulate oder als ideologische Forderungen verstehen kann«. BVerwG, (o. Fn. 21), 197f.

20

Malte Hakemann

breiteten konservativ-skeptischen Haltung gegenüber der in einem weiteren, öffentlichen Rahmen stattfindenden Asyldebatte.

4.1

Rückzug auf die Praxisorientierung

In der Tat unterschieden sich im disziplingeschichtlichen Rückblick die 1980er Jahre von den Anfangsjahren der Bundesrepublik, in denen Naturrecht, grundgesetzliche Wertordnung und rechtsphilosophisch untermauerte Gerechtigkeitsideen bestimmend waren.45 Diese wichen einem Rekurs auf Verfahrensfragen, Dogmatik und vor allem: enge Orientierung an der Rechtsnorm. Die Rechtswissenschaft besorgte kaum mehr den theoretischen Überbau, wirkte nur mehr systematisierend und kommentierend.46 Auch in der Asyldebatte vollzog das Schrifttum die von der Verwaltungsgerichtsbarkeit forcierten Entwicklungen oft lediglich nach.47 So erfuhr denn auch die Rechtsprechung des BVerwG vergleichsweise wenig Gegenwehr – Berlin locuta, causa finita. Die Rechtsprechung, so beklagte Marx, sei zum »Quasi-Gesetzgeber« geworden.48 Sie stieß aber zugleich auch in die Lücke, die Gesetzgeber wie Wissenschaft belassen hatten. Größere Maßstäbe wie die von Marx betonte Menschenrechtsordnung schienen der Praxis und der dieser nacharbeitenden Literatur womöglich weniger handhabbar. Sie wurden etwa von Wolfgang Zeidler als utopisch und idealistisch abgetan.49 Helmut Quaritsch verteidigte das Primat autonom-juristischer Begriffsdeutung.50

4.2

Renaissance des starken Staates

Das Bild, das sich bis in die 1980er Jahre hinein entwickelte, war in den Augen der disziplingeschichtlichen Forschung das eines an vielen Fronten geforderten Staates, der einer zunehmenden Pluralisierung und Politisierung gesellschaftli45 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 4 – Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in West und Ost, München 2012, S. 547–549. 46 Zur Rolle der Dogmatik in den 1980er Jahren vgl. auch den Beitrag von Jonas Plebuch in diesem Band. 47 Dies kritisierte Marx, Die Definition politischer Verfolgung in der Bundesrepublik Deutschland, (o. Fn. 38), S. 148, 149, aber auch Quaritsch, Recht auf Asyl, (o. Fn. 42), Vorwort: »Die professionelle Staatsrechtslehre hat – mit seltenen Ausnahmen – die Gerichte mit der Auslegung des Art. 16 II 2 GG allein gelassen«. 48 Marx, Die Definition politischer Verfolgung in der Bundesrepublik Deutschland, (o. Fn. 38), S. 148, 149. 49 Zeidler, Begriff der »politischen Verfolgung«, (o. Fn. 28), S. 551, 560. 50 Quaritsch, Recht auf Asyl, (o. Fn. 42), S. 111.

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cher Akteure ausgesetzt war.51 Etatistisches Denken setzte sich wieder durch.52 In einer jüngeren Untersuchung zur Staatsrechtslehre seit 1979 wird dies typisiert als ein ordnungsbezogenes Staatsdenken, bei dem der Staat und die auf ihm beruhende Ordnung als Gegensatz zum Chaos als existentiell wahrgenommen werden.53 Auch das BVerwG ging in seiner Asylrechtsprechung wie schon Teile der Instanzgerichtsbarkeit von einem Recht des souveränen Staates aus, seinen Bestand und seine Ordnung zu verteidigen, wozu dann offenbar auch Folter gehören konnte.54 In der Entscheidung findet sich ein Verweis auf die Allgemeine Staatslehre Herbert Krügers aus den 1960er Jahren.55 Krüger seinerseits war ebenfalls Verfechter eines souveränen, sich nicht identifizierenden Idealstaats. Sein Werk hatte seinerzeit eine Debatte zwischen der überkommenen etatistischen Auffassung und einer aufkommenden pluralistisch-liberalen Haltung ausgelöst.56 Helmut Quaritsch wiederum nahm in seinen Ausführungen zum Asylrecht ebenfalls expliziten Bezug auf Krüger, wenn er ausführte, der Staat müsse auf veränderte Lagen angemessen reagieren können.57 Er verteidigte den »Stabilisierungszweck« von Foltermaßnahmen.58 Quaritsch wie Krüger lassen sich dem oben skizzierten Ordnungsdenken zuordnen.59

51 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 4, (o. Fn. 45), S. 547–549; Christoph Möllers, Der vermisste Leviathan – Staatstheorie in der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 2008, S. 63–67. 52 Zur etatistischen Tradition in der deutschen Staatsrechtslehre Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 4, (o. Fn. 45), S. 356–394; zur »Re-Etatisierung«, in den 1980er Jahren Möllers, Der vermisste Leviathan, (o. Fn. 51), S. 66. 53 Verena Frick, Die Staatsrechtslehre im Streit um ihren Gegenstand – Die Staats- und Verfassungsdebatten seit 1979, Tübingen 2018, S. 81–98 am Beispiel Ernst-Wolfgang Böckenfördes und Josef Isensees. Frick unterscheidet nach Ansätzen, die auf die Rechtfertigung von Staatlichkeit (S. 98–117) oder auf die Erkenntnis des Staates (S. 117–133) abzielen oder aber einem Denken in den Kategorien von Staatlichkeit mit prinzipiellem Misstrauen begegnen (S. 133–149). 54 BVerwG, (o. Fn. 21), 197 unter Verweis auf BVerwG, (o. Fn. 16) ; VGH Mannheim, (o. Fn. 19); Zeidler, Begriff der »politischen Verfolgung«, (o. Fn. 28), S. 551, 560. 55 BVerwG, (o. Fn. 20), 188 zitiert Krüger »m. w. Nachw.«, dieser (Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Berlin 1966, S. 679, 681) wiederum verweist auf die Verfassungslehre von Carl Schmitt. Volker Neumann, Carl Schmitt als Jurist, Tübingen 2015, S. 97 Fn. 95 ist dies Beleg dafür, dass Schmitt nicht als zitierfähig galt. 56 Frieder Günther, Denken vom Staat her – Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration, München 2004, S. 267–271. 57 Helmut Quaritsch, Arbeitsverbot und Sichtvermerk als »flankierende« Maßnahmen des Asylverfahrens, in: Walther Fürst/Roman Herzog/Dieter C. Umbach, Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. 1, Berlin 1987, S. 957, 969. 58 Quaritsch, Recht auf Asyl, (o. Fn. 42), S. 74. Eine solche »Entprivilegierung des politischen Straftäters« sei angesichts von »Attentat und Aufruhr, von Anarchie und Sezession« wohl verständlich (S. 92).

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Reinhard Marx demgegenüber deutete den Begriff des Poltischen funktional auf den Schutz der staatenübergreifenden Menschenrechte hin.60 Die Idee der Menschenrechte konnte sich indes erst in den späten 1970er Jahren auf großer Fläche durchsetzen.61 Dies erfolgte maßgeblich über den just gegen staatliche Souveränität gerichteten Aktivismus westlicher NGOs, insbesondere Amnesty International, die sich seit Beginn der 1970er Jahre eben etwa in Anti-FolterKampagnen hervortaten.62 Marx, seinerzeit juristischer Referent bei Amnesty,63 lag eine solche Herangehensweise nahe, Apologeten eines starken Staates konnte er damit nicht überzeugen.

4.3

Reservierte Haltung gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen

Dies fügte sich auch in das Klima einer konservativen »geistig-moralischen Wende«, die der seit 1982 amtierende Bundeskanzler Helmut Kohl bereits im Wahlkampf 1980 ausgerufen hatte.64 Die Asylbewerber*innenzahlen waren zwischenzeitlich von 11.000 im Jahr 1976 auf fast 108.000 im Jahr 1980 gestiegen und die Regierung bemühte sich um eine legislatorische Begrenzung der Zuwanderung.65 Eine betont zuwanderungskritische Position vornehmlich Angehöriger der Unionsparteien und konservativer Medien argumentierte mit Gefahren und Belastungen für das Gemeinwesen und möglichem Missbrauch, während vor allem bei SPD und Grünen, aber auch den Kirchen sowie liberalen Medien eine offenere Haltung auf die Argumentation mit Einzelschicksalen und 59 Ulrich E. Zellenberg, Staatstheorie im Widerspruch zum Zeitgeist – Zur Apologie des demokratischen Verfassungsstaats bei Ernst- Wolfgang Böckenförde, Josef Isensee, Herbert Krüger und Helmut Quaritsch, in: Frank-Lothar Kroll, Die kupierte Alternative – Konservativismus in Deutschland nach 1945, Berlin 2005, S. 215ff. ordnet Krüger wie Quaritsch einem konservativen Etatismus zu, der den Staat essentiell auflädt und gegen antistaatliche Auffassungen entschlossen Stellung bezieht. 60 Marx, Politisches Strafrecht und Folter im Asylrecht, (o. Fn. 23), 110. 61 Vgl. nur Samuel Moyn, Die Rückkehr des verlorenen Sohns – Einleitung: Die 1970er Jahre als Umbruchphase in der Menschenrechtsgeschichte, in: Jan Eckel/Samuel Moyn (Hrsg.), Moral für die Welt? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren, Göttingen 2012, S. 7ff. 62 Thomas Claudius/Franz Stepan, Amnesty International – Portrait einer Organisation, 3. Aufl., München u. a. 1978, S. 111ff. Näher hierzu sowie zur Rolle der christlichen Kirchen Jonathan Spanos/Malte Hakemann, Der Protestantismus und die Debatte um die Asylrelevanz von Folter in den 1980er Jahren, in: MKiZ 2020, 11, 24f. 63 Vgl. nur Marx, Das Asylrecht auf dem Prüfstand, in: Amnesty International (Hrsg.), Bewährungsprobe für ein Grundrecht: Art. 16 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«, Baden-Baden 1978, S. 189ff. 64 Klaus Stüwe, Die Rede des Kanzlers – Regierungserklärungen von Adenauer bis Schröder, Wiesbaden 2005, S. 320. 65 Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, München 2001, S. 264– 270.

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humanitären Erwägungen gestützt wurde.66 Die Debatte kulminierte in der Ausgabe des SPIEGEL vom 28. Juli 1986 mit dem Titel »Grenzen zu für Asylanten?«. Hier wurde das juristische Problem des umstrittenen Begriffs der politischen Verfolgung einer größeren Öffentlichkeit offenbar. Der Ordnungsdenker Quaritsch wurde mit der Feststellung zitiert, die Bundesrepublik habe sich durch den Asylartikel »ihrer Politikfähigkeit selbst beraubt«.67 Der liberalere Helmut Rittstieg, der 1979 den »Informationsbrief Ausländerrecht« ins Leben gerufen hatte, trat für Grund- und Menschenrechte ein, gleichwohl relativierte auch er im SPIEGEL, es sei typisch für deutsche Juristen, der ganzen Welt ihre Begrifflichkeit überzustülpen. Richterkolleg*innen warfen dem Asylsenat dem Artikel zufolge eine kaum nachvollziehbare »Rabulistik« und eine »restriktive Rechtsprechung, um gezielt Bevölkerungsgruppen aus dem Land herauszuhalten«, vor.68 So uneins man sich innerhalb des juristischen Fachdiskurses war, so deutlich wurde die Skepsis gegenüber Auswüchsen der allgemeinen Asyldebatte. Der Senatsvorsitzende Günter Korbmacher beklagte 1987 die »emotionsgeladenen Diskussionen« und sah die Judikative ob des »Verzicht(s) des Parlaments auf die Wahrnehmung seiner staatsleitenden Funktionen im Bereich des materiellen Asylrechts« schlicht in der Pflicht. Er zog eine systemfähige Rechtsprechung einer von »Polarisierung und Intoleranz« geprägten politischen Debatte vor. Diese sehe auf der einen Seite nur eine herzlose Staatsbürokratie statt rechtlicher Notwendigkeit und auf der anderen Seite karitativ tätige Kirchen, Menschenrechtsorganisationen und Wohlfahrtsverbände – eine »Flucht in die Irrationalität«, so Korbmacher.69 Auch Günter Renner verwahrte sich auf einer Veranstaltung von Amnesty International am 24. Januar 1984 in Bonn in Richtung von Reinhard Marx gegen den Vorwurf »inhumaner juristischer Haarspalterei« und äußerte Zweifel am Nutzen von »ethisch wohlfundierten Bekenntnissen«.70

66 Martin Wengeler, Topos und Diskurs – Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960–1985), Tübingen 2003, S. 443f., 446f., 478f. 67 Quaritsch, Recht auf Asyl, (o. Fn. 42), S. 25. 68 Der Spiegel, »Im Lager ist es besser als daheim« – Asylgrundrecht – Gütezeichen der Verfassung oder Fehlkonstruktion?, 28. Juli 1986. 69 Günter Korbmacher, Besteht auf dem Gebiet des Asyl- und Flüchtlingsrechts ein Bedarf an gesetzlicher Regelung?, in: Walther Fürst/Roman Herzog/Dieter C. Umbach (Hrsg.) , Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. 1, Berlin 1987, S. 901, 901, 904, 911. 70 Günter Renner, Asylanerkennung oder Abschiebung und Auslieferung, (o. Fn. 14).

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5

Malte Hakemann

Fazit

In der asylrechtlichen Debatte der 1980er Jahre kursierten verschiedene Interpretationen des Begriffs politischer Verfolgung. Zentral war zunächst die vom BVerwG bestätigte und im Schrifttum mehrheitlich unterstützte Auffassung von Teilen der Instanzgerichtsbarkeit, auf die Verfolgungsmotivation des Staates abzustellen. Das führte aber zu einer restriktiven Asylrechtspraxis auch und gerade im Falle von Folter. Demgegenüber stand eine insbesondere von Reinhard Marx vertretene Auffassung, wonach die Menschenrechtswidrigkeit der Verfolgung, etwa bei Folter gegeben, entscheidend sei. Ein überdauernder Etatismus kann in der Betonung des jeweiligen staatlichen Interesses erblickt werden. Demgegenüber konnte sich eine offenere, menschenrechtsorientierte Lesart (noch) nicht durchsetzen. Der Skepsis der herrschenden Meinung gegenüber anderen als autonom-juristischen Maßstäben entsprach die Fokussierung des Schrifttums auf die Dogmatik sowie die Distanz gegenüber der öffentlichen Debatte. Man mag dem entgegenhalten, dass hier bewusst die zwei vernehmlichsten Standpunkte kontrastiert werden und das Analyseraster letztlich auch den wechselseitigen Vorwürfen entspricht. Auch lässt sich aus diesen ersehen, dass man genauso gut ein anderes Narrativ entwerfen könnte, als es hier anklingen mag, das einer einzelfall- und praxisgerechten Judikatur und einer zeitgeistaffinen, aber wenig greifbaren Literatur etwa. Aus heutiger Sicht lassen sich nur Spekulationen darüber anstellen, ob die Vermutung zutreffend war, eine andere Formulierung der Presseerklärung zur Senatsentscheidung hätte das Attentat auf Günter Korbmacher verhindern können. »Keine Abschiebung bei drohender Folter«, so die von Eckhard Hien vorgezogene Deutung der Senatsentscheidung, denn für den Betroffenen sei »doch primär entscheidend, dass er nicht dem Folterstaat ausgeliefert wird, erst sekundär, ob er das ›richtige‹ Asyl erhält oder nur das sogenannte kleine Asyl, sprich Abschiebungsschutz«.71 Ungeachtet dessen, wie tragfähig diese Einschätzung war und ist – was damals geschehen ist, ist Grund genug, sich kritisch mit den möglichen Folgen eines wenig kontextsensiblen juristischen Diskurses auseinanderzusetzen.

71 Hien, Verwaltungsgerichtsbarkeit, (o. Fn. 2), S. 26.

Sebastian Gehrig

Deutsche Staatsangehörigkeit und »Deutschenfähigkeit«: Das Teso-Urteil und die Debatten um Migration und bundesdeutsche Selbstbilder in den achtziger Jahren

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Einleitung

Am 15. März 1984 schrieb Marco Teso einen erzürnten Brief an den Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen Heinrich Windelen. Es war nicht sein erster Brief an den Minister.1 Teso arbeitete zu diesem Zeitpunkt als Sportlehrer in Düren. Er lebte seit 1969 in Nordrhein-Westfalen, nachdem er aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in die Bundesrepublik Deutschland (BRD) übergesiedelt war. Nach fünf Jahren in seiner neuen Heimat hatte er einen Antrag zur Erneuerung seines Reisepasses eingereicht. Das Passamt Köln entzog Teso daraufhin 1974 seinen Anspruch auf deutsche Staatsangehörigkeit. Im Folgenden sollten seine juristischen Einsprüche gegen diese Maßnahme Teso bis zum Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe führen. Die rechtlichen Fragen, die dieser Fall an das Gericht stellte, öffnen nicht nur eine Perspektive auf juristische Debatten um den Zugang zu deutscher Staatsangehörigkeit im geteilten Deutschland, sondern erlauben auch einen Blick auf gesellschaftliche und politische Diskurse um Migration und nationale Identität in der Bundesrepublik der achtziger Jahre. Marco Tesos Biografie bildet viele Wirrungen deutscher Geschichte seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ab. Er wurde im Jahr 1940 in mitten des Zweiten Weltkriegs als Sohn des in Polen geborenen Italieners Ermede Amedea Teso und seiner deutschen Mutter in Meißen geboren. Noch vor dem Ende des Krieges trennten sich seine Eltern im Jahr 1944 wieder. In den Wirren des Kriegsendes verlor Teso zunächst jedwede Staatsangehörigkeit. Er blieb jedoch in der Obhut seiner Mutter, die im Jahre 1947 seinen deutschen Stiefvater heiratete. Nach der deutschen Teilung im Jahr 1949 verblieb die Familie zunächst in der neugegründeten DDR. Mit Erreichen seines vierzehnten Lebensjahres erhielt Teso im Jahr 1954 schließlich einen durch die ostdeutschen Behörden in Meißen ausgestellten Ausweis. Beide deutsche Staaten rangen in den Anfangsjahren der 1 Bundesarchiv Koblenz (hiernach: BArch), B137/10868, Briefwechsel Teso-Windelen.

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Sebastian Gehrig

Teilung noch intensiv um die Repräsentation der Deutschen und gingen juristisch wechselseitig von der Existenz nur einer deutschen Staatsangehörigkeit aus. Dies änderte sich im Jahr 1967 als die DDR ein separates Staatsbürgerschaftsgesetz einführte, dass die deutsche Teilung nun auch in der Existenz zweier getrennter Staatsvölker abbilden sollte.2 Die Bundesrepublik hatte nach 1949 offiziell immer darauf bestanden, alleinig die ungeteilte deutsche Staatsangehörigkeit »aller Deutscher« zu vertreten.3 Da die Bundesregierung in Antwort auf die Herausforderung durch das DDR-Staatsbürgerschaftsgesetz nach Abschluss der Ostpolitikvertragsverhandlungen im Protokoll zum Grundlagenvertrag mit der DDR 1972 ausdrücklich erklärt hatte, dass der Vertrag keine Staatsangehörigkeitsfragen regele, glaubte Teso weiterhin einen Anspruch auf einen westdeutschen Pass zu haben, nachdem er die DDR 1969 verlassen hatte. In den Debatten um Tesos Fall kommen zwei in der Forschung oft getrennt betrachtete Themenfelder zusammen. Zum einen gibt der Fall Einblick in gesellschaftliche Sichtweisen innerdeutscher und internationaler Migration in der Bundesrepublik der späten siebziger und achtziger Jahre. Lauren Stokes hat kürzlich angeregt, dass Zwangsmigration ein fester Teil historischer Masternarrative der Bundesrepublik werden solle.4 Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die Bundesrepublik kein Jahrzehnt erlebt, dass nicht durch eine Einwanderungsoder Flüchtlingswelle gezeichnet war.5 Zu oft aber ist Zuwanderung und innerdeutsche Migration getrennt betrachtet worden. Was die Einwanderung aus dem Osten vertriebener Deutscher nach 1945, die innerdeutsche Migration von Vertriebenen und später DDR-BürgerInnen und die Zuwanderung von »Gastarbeitern« und Asylsuchenden vor allem voneinander unterscheidet, ist die politische Interpretation dieser Migrationswellen und deren meist getrennte historische Einordnung in die Erzählung der Geschichte der »alten« Bundesrepublik. Weitet man den Blick auf die westdeutsche Nachkriegsgeschichte und betrachtet die Bundesrepublik und DDR als unweigerlich und oft gegen ihren Willen ver2 Sebastian Gehrig, Cold War Identities – Citizenship, Constitutional Reform, and International Law between East and West Germany, 1967–75, Journal of Contemporary History 49, 4 (2014): 794–814. 3 Ingo von Münch, Die deutsche Staatsangehörigkeit. Vergangenheit–Gegenwart–Zukunft, Berlin 2007, 90–108. 4 Lauren Stokes, The Permanent Refugee Crisis in the Federal Republic of Germany, 1949 –, Central European History 52 (2019), 19–44. Für eine kritische Bestandsaufnahme bestehender Masternarrative westdeutscher Geschichte und Anregungen für neue Perspektiven siehe: Frank Biess/Astrid M. Eckert, Introduction: Why do we need new narratives for the history of the Federal Republic?, Central European History 52 (2019), 1–18. Siehe auch: Douglas B. Klusmeyer/Demetrios G. Papademetriou, Immigration Policy in the Federal Republic of Germany – Negotiating Membership and Remaking the Nation, New York 2013. 5 Stokes, The Permanent Refugee Crisis in the Federal Republic of Germany, 1949 –, 44. Siehe auch: Patrice G. Poutrus, Umkämpftes Asyl. Vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart, Berlin 2019.

Deutsche Staatsangehörigkeit und »Deutschenfähigkeit«

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flochtene Staaten, die gleichzeitig immer auch innerhalb ihrer ideologischen Allianzen und international operierten, kristallisieren sich im Teso-Beschluss nicht nur deutschlandpolitische Fragen heraus, sondern gleichzeitig auch Ängste vor zunehmender »wirtschaftlicher Migration« in Zeiten ökonomischer Krisen seit den siebziger Jahren.6 Die juristische Neubewertung von Staatsangehörigkeitsfragen fiel damit auch in eine Zeit, in der es trotz Versuchen seit den siebziger Jahren immer noch nicht politisch durchsetzbar war, die Bundesrepublik offiziell als Einwanderungsland zu betrachten. Zum anderen spiegeln sich im Teso-Fall gesellschaftliche Kontroversen um eine westdeutsche nationale Identität in der Spätphase der deutschen Teilung. Andreas Wirsching hat die Geschichte der Bundesrepublik vom Beginn der Regierung Helmut Kohls bis zur Wiedervereinigung als »Abschied vom Provisorium« Bundesrepublik beschrieben.7 Die abschließende Beurteilung des Falls Teso durch das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1987 kann sicher als weiterer Schritt hin zur Akzeptanz der deutschen Zweistaatlichkeit gelesen werden. Da Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 das Kriegsende als »Tag der Befreiung« von der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten bezeichnet und der Historikerstreit 1986 die Konfliktlinien um die historische Einordnung des Nationalsozialismus und Holocaust sowie widerstreitende Deutungen deutscher Nationalgeschichte für eine breite Öffentlichkeit offengelegt hatte, werden die achtziger Jahre oft als Geburtsjahrzehnt einer postnationalen Identität der Bundesrepublik bezeichnet.8 Die Kehrseite dieser Entwicklung war jedoch auch eine Neuformierung einer nationalistischen Rechten, die mit der Verschiebung ins Postnationale ganz und gar nicht einverstanden war.9 6 Ibid.; Rainer Hofmann und Klaus Joachim Grigoleit haben die deutschlandpolitischen Implikationen des Urteils und die Neujustierung deutscher Staatsangehörigkeit diskutiert, diese Aspekte jedoch nicht weiterführend in die historische Landschaft der Zeit und Debatten um Migration und die deutsche Nation eingebettet. Siehe: Rainer Hofmann, Staatsangehörigkeit im geteilten Deutschland – Der Teso-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht 49 (1989): 257–300; Klaus Joachim Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage – Eine dogmatische und juristische Untersuchung zum judikativen Anteil an der Staatsleitung, Tübingen 2004, S. 291–296. 7 Siehe: Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Die Geschichte der Bundesrepublik 1982–1989/90, München 2006. 8 Konrad Jarausch, Die Postnationale Nation – Zum Identitätswandel der Deutschen 1945– 1995, Historicum (Frühling 1995): 30–35; Jan-Werner Müller, Verfassungspatriotismus, Berlin 2010; Wolfgang Bergem, Identitätsformationen in Deutschland, Wiesbaden 2005; Volker Kronenberg, Patriotismus in Deutschland – Perspektiven für eine weltoffene Nation, Wiesbaden 2005. 9 Für das konservative und rechtsnationale Spektrum der siebziger und achtziger Jahre siehe: Axel Schildt, »Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten.« Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren’, Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), 449– 479; Nikolai Wehrs, Protest der Professoren – Der »Bund Freiheit der Wissenschaften« in den 1970er Jahren, Göttingen 2014, S. 430–452; Peter Hoeres, Von der »Tendenzwende« zur

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Das Teso-Urteil ist als Teil dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu lesen. Im Kern ging es im Teso-Fall um die Neubestimmung von juristischen Kriterien, die am Ende ausdrücken sollten, wer Deutscher war und wer eben nicht. Die VerfassungsrichterInnen mussten diese Frage in den weiteren Horizont der rechtlichen Existenz des Nationalstaates nach 1945 einbetten und erneut Stellung dazu nehmen, inwiefern das Deutsche Reich »in den Grenzen von 1937« staatsrechtlich nach 1945 und 1949 fortbestanden habe und wie ein rechtlicher Auftrag zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten juristisch zu bewerten sei.10 Diese juristischen Grundsatzfragen wurden zu einer Zeit neuverhandelt, in der die beiden deutschen Staaten begannen, intensiv um die Deutungshoheit über die Erinnerung des Nationalstaats zu ringen. Von der Preußen-Ausstellung in West-Berlin 1981 zu den musealen Großprojekten des Deutschen Historischen Museums und Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu DDRInitiativen zur Etablierung einer revolutionären Tradition in der nationalen Erzählung seit den Bauerkriegen versuchten beide Staaten in ihren geschichtspolitischen Initiativen, die Nation für ihr ideologisches Projekt in Anspruch zu nehmen.11 Damit waren die achtziger Jahre Schauplatz intensiver geschichtspolitscher und identitätspolitischer Konflikte innerhalb der Bundesrepublik und zwischen den beiden deutschen Staaten, die den gesellschaftlichen Rahmen für die verfassungsrechtliche Auseinandersetzung um den Teso-Fall bildeten. »geistig-moralischen Wende« – Konstruktion und Kritik konservativer Signaturen in den 1970er und 1980er Jahren, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61, 1 (2013), 93–119; JanWerner Müller, German Neo-Conservatism, ca. 1968–1985 – Hermann Lübbe and others, in: Jan-Werner Müller (Hrsg.), German Ideologies since 1945 – Studies in the Political Thought and Culture of the Bonn Republic, London 2003, S. 161–184; Martina Steber, Die Hüter der Begriffe. Politische Sprache des Konservativen in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Berlin 2017, S. 240–354; Anna von der Goltz, Other ’68ers in West Berlin: Christian Democratic Students and the Cold War City, Central European History 50, 1 (2017), 86–112; Jerry Z. Muller, German Neoconservatism and the History of the Bonn Republic, 1968 to 1985, German Politics & History 18, 1 (2000), 1–32. 10 Für eine juristische und zeitgeschichtliche Diskussion zu Argumenten für und gegen den Untergang des Deutschen Reichs siehe: Joachim Rückert, Die Beseitigung des Deutschen Reiches–die geschichtliche und rechtsgeschichtliche Dimension einer Schwebelage, in: Anselm Doering-Manteuffel/Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.), Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 65–94; Sebastian Gehrig, Recht im Kalten Krieg. Das Bundesverfassungsgericht, die deutsche Teilung und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik, Historische Zeitschrift 303, 1 (2016): 66–97. 11 Zur Erinnerungs- und Geschichtspolitik siehe: Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland – Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990, Darmstadt 1999; Martin Sabrow (Hrsg.), Verwaltete Vergangenheit – Geschichtskultur und Herrschaftslegitimation in der DDR, Leipzig 1997; Mary Fulbrook, DDR-Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik, in: Georg Iggers, Konrad Jarausch, Matthias Middell, Martin Sabrow (Hrsg.), Die DDR-Geschichtswissenschaft als Forschungsproblem, München 1998, S. 419–432; Raina Zimmering, Mythen in der Politik der DDR – Ein Beitrag zur Erforschung politischer Mythen, Opladen 2000, S. 169–357.

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Entgegen eines stringenten Liberalisierungsnarrativs der Geschichte der Bundesrepublik seit den sechziger Jahren, das in der Prominenz post-nationaler Ideen und eines westdeutschen Verfassungspatriotismus seit den achtziger Jahren gipfelt, zeigen die Debatten um den Teso-Fall auch, wie sehr nationale Narrative immer noch einen Einfluss auf westdeutsche Selbstbeschreibungen vor der unerwarteten deutschen Einheit 1990 hatten.12 Sieht man den Teso-Beschluss nicht implizit als Teil der Endphase der deutschen Teilung, sondern als Neubestimmung der Zugehörigkeitsrechte zur westdeutschen Gesellschaft unter den veränderten weltpolitischen Bedingungen nach der Entkolonialisierung, der wirtschaftlichen Krisen seit den siebziger Jahren und sich wandelnder internationaler Rechtnormen von Menschen- und Bürgerrechten, eröffnet der Fall eine alternative Chronologie westdeutscher Geschichte, in der der Epochenbruch 1989/90 eine peripherere Rolle spielt. Die im Teso-Urteil gebündelten gesellschaftlichen Debatten um Zugehörigkeit von Einwanderern zur Nation zogen sich vielmehr von den späten sechziger Jahren über die Einheit Deutschlands hinweg bis hin zur Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes in den Jahren 1999 und 2000.13 Dieses Kapitel untersucht das Teso-Urteil somit in einer dreifachen Perspektive. In den öffentlichen, ministerialen und gerichtlichen Diskussionen um den Rechtsstatus Tesos kamen gleichzeitig westdeutsche Ansichten zum Stand deutsch-deutscher Beziehungen, nationaler Identität und Migration zum Ausdruck. Die Geschichte des Teso-Falls legt den weiterhin intensiven Bezug auf nationale und ethnische Identitätsmuster in der Bundesrepublik der achtziger Jahre offen. Damit kontrastiert eine rechtshistorische Perspektive auf Konflikte um die deutsche Staatsangehörigkeit stringente Liberalisierungsnarrative der Bundesrepublik. Im Zuge der jüngst in der historischen Forschung vertretenen Forderung, die Zeit vor und nach 1989 nicht nur als deutsche und internationale Epochengrenze zu betrachten, sondern gleichzeitig auch als Katalysator einer doppelten Transformation von Ost und West nach 1989, kann die Geschichte des Teso-Urteils als ein westdeutsches Puzzleteil in der Transformation von Grund-, Bürger- und Menschenrechten seit den späten sechziger Jahren gelesen werden,

12 Zum Liberalisierungsparadigma siehe: Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozess – Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland – Belastung, Integration, Liberalisierung, Göttingen 2002, S. 7–49. 13 Für eine solche historische Perspektive siehe: Jennifer L. Allen, Against the 1989–1990 Ending Myth, Central European History 52 (2019), 125–147. Siehe auch: Klusmeyer/ Papademetriou, Immigration Policy in the Federal Republic of Germany, S. 126–225.

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die Auswirkungen auf die Rechtswirklichkeit im vereinigten Deutschland bis heute hat.14

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Deutschlandpolitik und die Einbürgerung von DDR-BürgerInnen

Unbemerkt von vielen in der Bundesrepublik und der DDR hatte sich nach 1949 eine intensive Rivalität um die rechtliche Definition deutscher Staatsangehörigkeit im deutsch-deutschen und internationalen Verhältnis entwickelt. Nachdem die DDR-Regierung im Jahr 1967 ein eigenständiges Staatsbürgerschaftsgesetz erlassen hatte, dass das ursprüngliche Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz (RuStAG) aus dem Jahre 1913 ersetzte, hatte sich die Lage für westdeutsche Ministerien und Gerichte deutlich verschärft.15 Nach Abschluss der Ostpolitikverträge und der Aufnahme beider deutscher Staaten in die Vereinten Nationen im Jahr 1973 wurde es zunehmend schwieriger, der DDR die Fähigkeit zur legitimen Gesetzgebung in Souveränitäts- und Staatsangehörigkeitsfragen abzusprechen.16 Diese Auffassung hatte jedoch die westdeutsche behördliche und gerichtliche Praxis seit 1949 geprägt.17 Die Zeit, in der Teso von der DDR in die Bundesrepublik übersiedelte, war somit nicht nur von einer öffentlichen Radikalisierung der Debatte um die Neue Ostpolitik geprägt, sondern polarisierte auch die Verfassungsgerichtsbarkeit.18 In deutschlandpolitischen Rechtsfragen erreichte diese Entwicklung im Verfahren um den Grundlagenvertrag ihren Höhepunkt, in dem das Bundesverfassungsgericht in Reaktion auf die Ostverträge der Bundesregierung enge Grenzen für zukünftige außenpolitische Initiativen aufbürdete. Das Gericht wählte in seinem Urteil die berüchtigte Formulierung, dass die Souveränität der Bundesrepublik »identisch« mit der des 14 Phillipp Ther hat die historische Entwicklung über die Epochengrenze 1989 hinweg als eine solche doppelte Transformation beschrieben. Siehe: Phillipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent – Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2016; Phillipp Ther, Das andere Ende der Geschichte – Über die Große Transformation, Berlin 2019. 15 Zur Geschichte des RuStAG siehe: Daniel Sargent, Diasporic Citizens – Germans Abroad in the Framing of German Citizenship Law, in: K. Molly O’Donnell/Renate Bridenthal/Nancy Reagin (Hrsg.), The Heimat Abroad – The Boundaries of Germanness, Ann Arbor 2007, S. 17– 39. 16 Siehe: Gehrig, Cold War Identities; Mathias Stein, Der Konflikt um die Alleinvertretung und Anerkennung in der UNO – Die deutsch-deutschen Beziehungen zu den Vereinten Nationen von 1949 bis 1973, Göttingen 2011; Werner Kilian, Die Hallstein-Doktrin – Der diplomatische Krieg zwischen der BRD und der DDR 1955–1973, Berlin 2001. 17 Münch, Die deutsche Staatsangehörigkeit, 90–108. 18 Für den gesellschaftlichen Konflikt um nationale Identität in dieser Phase siehe: Florian Roth, Die Idee der Nation im politischen Diskurs – Die Bundesrepublik Deutschland zwischen Neuer Ostpolitik und Wiedervereinigung (1969–1990), Baden-Baden 1995, S. 109–145.

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Deutschen Reiches sei. Obwohl die RichterInnen diese oft zitierte Stelle des Urteils im weiteren qualifizierten und der Regierung das Primat in der Außenpolitik vor der Verfassungsgerichtsbarkeit bescheinigten, tat das Urteil viel, um nationalistische Identitätsmuster in den folgenden Jahren scheinbar mit höchstrichterlicher Billigung zu versehen.19 Die juristischen Konsequenzen der Ostpolitikverträge wogen daher schwer. Auf dem Höhepunkt der Konflikte um eine juristische Einhegung der Ostpolitik publizierte Jens Hacker, ein der CDU nahestehender Politologe, eine Studie zur ostdeutschen Auffassung der deutschen Rechtssituation. Im Schlusswort des Buches kam Hackers Frustration mit der erfolgreichen Verschiebung der deutschen Frage von einer staatsrechtlichen in eine völkerrechtliche Frage durch die DDR-Regierung zum Ausdruck.20 Zunehmend erfolglos versuchten westdeutsche Staatsrechtler und mit ihnen das Bundesverfassungsgericht im Grundlagenvertragsurteil vom 22. Mai 1973, diese Trennung von Staatsrecht und Völkerrecht in der Behandlung der deutschen Teilung gegen allen internationalen Gegenwind zu verteidigen.21 Diese deutschlandpolitischen Kontroversen legten zusammen mit Konflikten um die Behandlung von MigrantInnen in den folgenden Jahren den Grundstein für die gesellschaftliche Atmosphäre, in die das Teso-Urteil 1987 fallen sollte. Marco Teso war kein der Öffentlichkeit völlig unbekannter Ostdeutscher bevor er in die Bundesrepublik kam. Nach seiner Schulausbildung arbeitete er als Bauarbeiter für die Nationale Volksarmee (NVA) und boxte zeitweise im Kader des DDR-Nationalteams. Seine Frau Rita war ebenfalls eine bekannte Sportlerin. Sie gewann im Zweier die Kanuweltmeisterschaften für die DDR im Jahr 1961. Familie Teso entschied sich in den späten sechziger Jahren, die DDR zu verlassen. Hierzu plante Marco Teso, die italienischen Wurzeln seines Vaters strategisch zu nutzen. Im Jahr 1968 bewarb er sich erfolgreich im italienischen Konsulat in OstBerlin um einen italienischen Pass, den er zur Ausreise aus der DDR zu benutzen gedachte. Noch bevor er die DDR verließ, brachte ihm der Erwerb dieses Passes den Verlust seines Arbeitsplatzes ein.22 Aber dieser Pass erlaubte ihm auch, die DDR 1969 zu verlassen. Seine Frau und Kinder sollten ihm ein Jahr später folgen, nachdem ihr Ausreiseantrag von den Behörden bewilligt worden war. Nach 19 Zum Grundlagenvertragsverfahren im weiteren Horizont der deutschlandpolitischen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts siehe: Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, S. 271–289. 20 Jens Hacker, Der Rechtsstatus Deutschlands aus der Sicht der DDR, Köln 1974, S. 445–453. 21 Zur internationalen Rechtskampagnen der DDR mit dem Ziel, die internationale Gemeinschaft für die Unterstützung der Anerkennung der völkerrechtlichen Souveränität der DDR zu gewinnen siehe: Sebastian Gehrig, Reaching Out to the Third World – East Germany’s Anti-Apartheid and socialist human rights campaign, German History 36, 4 (2018), 574–597. 22 BArch B137/10868, Brief Teso an Windelen, 15. März 1984.

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seiner Einreise in die Bundesrepublik folgte Teso in den Fußstapfen der vielen DDR-Flüchtlinge vor ihm. Er erhielt zunächst einen Flüchtlingsausweis und am 17. August 1972 schließlich seinen westdeutschen Pass. Damit schien er auch juristisch voll in der Bundesrepublik angekommen zu sein. Tesos Antrag für einen finanziellen Ausgleich für sein verlorengegangenes Eigentum aus dem Jahr 1974 stellte seine Situation unvermittelt auf den Kopf. In Reaktion auf den Versuch, finanzielle Kompensationsansprüche gegenüber dem westdeutschen Staat geltend zu machen, entzogen Kölner Verwaltungsbeamte Teso seinen westdeutschen Pass. Seine Situation sollte noch prekärer werden, nachdem er den juristischen Weg beschritten hatte. Das Verwaltungsgericht urteilte, dass Teso nie die deutsche Staatsangehörigkeit besessen habe. Dies sei belegt, da ihm die ostdeutschen Behörden nie eine offizielle Einbürgerungsurkunde ausgestellt hätten. Damit sei er basierend auf der italienischen Staatsangehörigkeit seines Vaters Italiener.23 Teso war über alle Maßen über den Entzug seiner Staatsangehörigkeit verärgert. Im Jahr 1972 hatte die Bundesregierung im Brief zur deutschen Einheit erklärt, der die Haltung Bonns in Staatsangehörigkeitsfragen als Teil der Grundlagenvertragsverhandlungen darlegte, dass die Bundesrepublik von der Existenz nur einer deutschen Staatsangehörigkeit ausging. Diese Staatangehörigkeit werde nur durch die Bundesregierung vertreten. Dies sollte ein starkes Signal an die Bürgerinnen und Bürger der DDR senden, dass sie immer noch als Deutsche galten und Zugang zu westdeutscher Staatsangehörigkeit hatten, sollten sie es schaffen, die DDR zu verlassen. Während die Ostpolitik der Bundesregierung diese Geste der »offenen Tür« für DDR-BürgerInnen erneuerte, wurde das staatliche Verhalten gegenüber Asylsuchenden zunehmend repressiv. Nachdem die Bundesrepublik die erste kleine wirtschaftliche Rezession in den Jahren 1966/67 erlebte, begann sich die öffentliche Stimmung gegenüber Asylsuchenden zu drehen. Als die Bundesregierung im Zuge des Ölpreisschocks 1973/74 das Ende der Anwerbung von »Gastarbeitern« verkündet hatte, änderte sich mit der wachsenden Angst vor einer Flut von Asylsuchenden auch die gesellschaftliche Wahrnehmung der Gastarbeit. Einwanderung wurde nun generell als Problem betrachtet. Mit der gleichzeitig wachsenden europäischen Integration wandelten sich Einwanderungsdiskurse bis Mitte der siebziger Jahre.24 Dabei spielten die obersten Gerichte zunächst eine ausgleichende Rolle. Das Bundesverfassungsgericht stärkte 1973 das Recht von Ausländern gegenüber Ausweisungsanordnungen des Staates.25 23 »Dann eben Italiener«, Der Spiegel 49 (1982), 86ff. 24 Siehe: Marcel Berlinghoff, »Das Ende der Gastarbeit« – Europäische Anwerbestopps 1970–1974, Paderborn 2013. 25 Im Zuge der Anti-Terror-Maßnahmen hatte die Bundesregierung 1972 hunderte arabische Ausländer ausgewiesen. Dagegen legten palästinensische Studierende Verfassungsbeschwerde ein. Siehe: Klusmeyer/Papademetriou, Immigration Policy in the Federal Republic of

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Entgegen der zunehmend auf europäischer als nationalstaatlicher Ebene verhandelten Maßnahmen zur generellen Abschwächung von Einwanderung stärkte das Bundesverwaltungsgericht daraufhin das grundrechtlich geschützte Recht auf Asyl. Am 7. Oktober 1975 erklärte das Gericht, dass das Grundrecht auf Asyl keine immanenten Beschränkungen hatte und erweiterte damit den Grundrechtsschutz von Asylsuchenden.26 Mit der immer weiter zunehmenden Zahl Asylsuchender sollte sich diese Haltung der obersten Gerichte jedoch abschwächen bis das Grundrecht auf Asyl auch höchstgerichtlich in den neunziger Jahren entscheidend geschwächt wurde.27 Dieser wachsende öffentliche Druck auf die Regierung zu handeln, um befürchteten Einwanderungswellen vorzubeugen, sollte sich bald auch negativ auf die bisherige Staatsangehörigkeits- und Einbürgerungspraxis auswirken. Als eine gemeinsame Kommission aus Bund- und Ländervertretern im Jahr 1977 schließlich Empfehlungen für die Arbeitsmarktpolitik von ausländischen Arbeitskräften abgab, war das Gastarbeitermodell längst gescheitert. Jedoch weigerte sich die westdeutsche Politik anzuerkennen, dass die Bundesrepublik nach 1945 immer ein Einwanderungsland gewesen war und bestand auf der Annahme, dass ausländische Arbeitskräfte nach ihrer Erwerbskarriere wieder in ihre Heimatländer zurückkehren würden. Gleichzeitig nahm der Familiennachzug zu. Während 1961 noch nur 20 % der Gastarbeiter mit ihren Familien nach Westdeutschland kamen, waren es 1975 bereits 50 %. Mit der sich ausweitenden wirtschaftlichen Krise der siebziger Jahre und dem Druck auf den Bundeshaushalt nahm daraufhin eine abweisende Haltung gegenüber Einwanderern in der Presse zu. Bald schlug sich diese ausbreitende gesellschaftliche Abneigung auch in einer wachsenden Fremdenfeindlichkeit und Anschläge auf Asylbewerberheime nieder.28 Tesos Revisionsverfahren fiel in diese Zeit eines sich wandelnden gesellschaftlichen Klimas. Viele in der Bundesrepublik waren nicht bereit, Einwanderung als Teil der westdeutschen Geschichte seit 1949 erst in Form der deutschen Vertriebenen gefolgt vom Zuzug der »Gastarbeiter« als Teil des Wirtschaftswunders anzuerkennen. Mit den Bund-Länderempfehlungen von 1977 kam überdeutlich zum Ausdruck, dass sich die Politik diesen Realitäten verweigerte. Doch man sprach sich nicht nur mehrheitlich gegen die Idee des Einwanderungslands aus, sondern wandte sich nun auch explizit gegen EinbürgeGermany, S. 120f.; Quinn Slobodian, The Borders of the Rechtsstaat in the Arab Autumn – Deportation and Law in West Germany, 1972/73, German History 31, 2 (2013), 204–224. 26 BVerwG I C 46.69. 27 Uwe Wesel, Der Gang nach Karlsruhe – Das Bundesverfassungsgericht in der Geschichte der Bundesrepublik, München 2004, S. 323–327. 28 Klusmeyer/Papademetriou, Immigration Policy in the Federal Republic of Germany, S. 98f.

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rungen. Diese seien die Ausnahme und nicht die Regel. Das Bundesinnenministerium stellte klar, dass die Bundesrepublik nicht gedenke, durch Einbürgerung die Zahl der Staatsangehörigen zu erhöhen.29 Teso wurde nun zum Verhängnis, dass er seinen Anspruch auf einen italienischen Reisepass strategisch zur Ausreise aus der DDR benutzt hatte. Das weiterhin geltende Verbot von Doppelstaatsangehörigkeit im Zuge der Einschränkung von Einbürgerungen machte seinen Fall noch komplizierter. Im Jahr 1967 hatte sich Teso an das italienische Konsulat in West-Berlin gewandt. Nach Prüfung seines Falles wurde ihm daraufhin ein italienischer Pass ausgestellt, mit dem er 1969 in die Bundesrepublik gelangte, bevor er 1970 einen westdeutschen Personalausweis erhielt.30 Nachdem die Kölner Behörden ihm die Staatsangehörigkeit 1974 aberkannt hatte, entschied das Verwaltungsgericht am 4. Februar 1976 wie bereits erwähnt gegen Tesos Einspruch. Das Oberlandesgericht Münster wandelte dieses Urteil im Folgenden ab und wies die Behörden am 5. September 1978 an, Teso einen Staatsangehörigkeitsausweis auszustellen. Mit diesem Urteil gab sich nun wiederum die Stadtverwaltung Köln nicht zufrieden. Das Bundesverwaltungsgericht hatte damit über Tesos Schicksal zu befinden. Teso war vor allem deshalb so über das Urteil des Verwaltungsgerichts erzürnt gewesen, da das Gericht keinerlei Raum für seine Lebensgeschichte und die Zwänge der deutschen Teilung in seinem Urteil eingeräumt hatte. Das Gericht hatte die Tatsache, dass er keinerlei Verbindung zu Italien hatte, weder dort gelebt hatte noch die Landessprache beherrschte, nicht in das Urteil miteinbezogen. Maßgeblich erschien allein, dass souveräne Akte der DDR im Staatsangehörigkeitsfeld weiterhin bestritten werden sollten. Daneben wurde der Rechtstradition des frühen zwanzigsten Jahrhunderts folgend alleinig die Staatsangehörigkeit des Vaters als entscheidend für dessen Kinder angenommen. Tesos deutsche Mutter und die Tatsache, dass das Gericht feststellte, dass seine Eltern sich schnell wieder getrennt hatten, spielten daher auch keine Rolle. Diese Auffassung, die der Rolle der Mutter im Rechtszugang zu Staatsangehörigkeit keinerlei Bedeutung einräumte, war allerdings seit den sechziger Jahren im Zuge der sozialliberalen Reformpolitik immer mehr unter Druck geraten. Diese Reformbestrebungen halfen Teso jedoch nicht in seinem ersten Verfahren. Um das Problem der Einwanderung politisch zu lösen, machte die Bundesregierung um Helmut Schmidt 1978 den Versuch, durch ein Einwanderungsgesetz eine neue rechtliche Basis zu schaffen. Nun wurde ein unbefristete Aufenthaltsgenehmigung nach fünf Jahren ununterbrochenem Aufenthalt in der Bundesrepublik Gesetz. Nach acht Jahren erwarben Personen dann ein Aufenthaltsrecht, wenn sie gewisse Auflagen wie zum Beispiel deutsche Sprachkennt29 Ibid., S. 99. 30 Hofmann, Staatsangehörigkeit im geteilten Deutschland, 257–300.

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nisse nachweisen konnten. Der 1978 eingesetzte erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, der ehemalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD) sprach dann 1979 in seinem ersten Bericht unumwunden aus, was viele dachten. Die Bundesrepublik war ein Einwanderungsland.31 Im gleichen Jahr stärkte das Bundesverfassungsgericht erneut das Aufenthaltsrecht eines indischen Mitbürgers, dessen Aufenthaltserlaubnis von den Verwaltungsgerichten nicht verlängert worden war. Die Gerichte befanden, dass es nicht länger im Interesse der Bundesrepublik sei, dass der seit 1961 in Westdeutschland lebende Mann im Lande verbliebe.32 Hier schien die neue Linie des Bundesinnenministeriums seit Mitte der siebziger Jahre durch, dass Einbürgerungen und unbefristete Aufenthaltsgenehmigungen in Zeiten ökonomischer Krisen nicht mehr im westdeutschen Interesse seien. Das Bundesinnenministerium begann, ein größeres Interesse an Tesos Fall zu zeigen, sobald der Revisionsprozess am Bundesverwaltungsgericht angekommen war. Am 20. Juni 1979 übersandte das Ministerium eine Stellungnahme zum Prozess an das nordrhein-westfälische Innenministerium. Zu diesem Zeitpunkt bestritten die Bundesbehörden noch nicht die Tatsache, dass Teso rechtmäßig nach ostdeutschem Recht die DDR-Staatsbürgerschaft erlangt hatte. Die Verteidigungslinie im Prozess sollte sein, dass er nach westdeutschem Staatsangehörigkeitsrecht nicht die deutsche Staatsangehörigkeit erlangt habe.33 Jedoch dämmerte es den Ministerialbeamten bereits, dass mit der Anerkennung der DDR als Völkerrechtssubjekt im Grundlagenvertrag 1972 und der Schlussakte von Helsinki von 1975 am gleichzeitigen Festhalten an der »fortbestehenden gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit […] Probleme entstehen können.«34 Dies hätte nicht unbedingt als Neuigkeit gelten sollen, da den westdeutschen Bundesministerien diese Komplikationen seit den späten sechziger Jahren bekannt waren.35 Dass es sich bei den west- und ostdeutschen gesetzlichen Regelungen um »Kollisionsnormen« handle, war dem Bundesministerium so durchaus bewusst.36 Tesos Fall wurde zunehmend ein öffentliches Problem für die Bundesregierung sobald der Fall vor dem Bundesverwaltungsgericht verhandelt wurde. Nachdem das Oberlandesgericht Münster 1978 Tesos Forderung nach Aner31 Klusmeyer/Papademetriou, Immigration Policy in the Federal Republic of Germany, S. 100ff. 32 Ibid., S. 120f. 33 BArch B137/10868, Brief Bundesinnenministerium an den Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, 20. Juni 1979, S. 1–2. 34 Ibid., S. 4. 35 Siehe: Gehrig, Cold War Identities. 36 BArch B137/10868, Brief Bundesinnenministerium an den Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, 20. Juni 1979, S. 7.

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kennung seiner Staatsangehörigkeit Recht gegeben hatte, schaltete sich die Ständige Vertretung der DDR in den Fall ein. Der erste Sekretär der Vertretung Groh beklagte sich bei Ministerialrat Germelmann im Bundeskanzleramt über die Verletzung der Personalhoheit und Souveränität der DDR. Groh drohte diplomatische Spannungen an, da das Urteil des Oberverwaltungsgerichts festgestellt hatte, dass der Erwerb der DDR-Staatsangehörigkeit mit deutscher Staatsangehörigkeit unter bundesdeutschem Recht gleichzusetzen sei, um Teso einen Anspruch auf Staatsangehörigkeit zu bescheinigen. Groh prophezeite, dass die DDR-Regierung eine solche Rechtsauffassung als schwere Verletzung der staatlichen Souveränität der DDR betrachten würde. Er erinnerte das Bundeskanzleramt an die in der Schlussakte von Helsinki festgeschriebenen Garantien zur territorialen Integrität europäischer Staaten und komplementäre Rechtsnormen der Vereinten Nationen. Groh argumentierte, dass sich die tradierte westdeutsche Rechtsposition zur Frage deutscher Staatsangehörigkeit überlebt hatte. Gegeben der internationalen Verpflichtungen, die die Bundesregierung seit der Ratifizierung der Ostverträge und der Helsinki Schlussakte eingegangen war, konnte die westdeutsche Gerichtsbarkeit schlecht weiterhin die kausale Verbindung der DDR-Staatsgründung und damit der internationalen staatlichen Souveränität der DDR seit 1949 leugnen. Unter internationalem Recht und im zwischenstaatlichen Verhältnis der beiden deutschen Staaten, so Groh, müsste die Souveränität und Staatsbürgerschaft der DDR endlich akzeptiert werden. Obwohl Gremelmann das Münsteraner Urteil nicht kannte, wies er Grohs Bedenken in seiner Antwort erst einmal rundweg zurück. Außerdem könne die Bundesregierung nicht die richterliche Unabhängigkeit einschränken.37 Die Hoffnung innerhalb der Bundesregierung, dass der Fall Teso von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet bleiben würde, erfüllten sich damit nicht. Die DDR-Regierung tat nun ihren Teil, um den Fall zu einem Problem für die Bonner Regierung zu machen. Wie Groh vorausgesagt hatte, beschuldigte die DDR alsbald die Bundesregierung, die staatliche Souveränität des Landes zu untergraben.38 Im Urteil vom 30. November 1982 bezeichnete das Bundesverwaltungsgericht den Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit im Falle Teso wieder als rechtens. Das Gericht entschied, dass es sehr wohl die Rechtspflicht der Bundesrepublik sei, Ostdeutsche als Deutsche im Sinne des Grundgesetzes zu behandeln, sollten sie nach Westdeutschland umsiedeln. Jedoch galt dies nur für Personen, die nach westdeutschen Kriterien als Deutsche anzusehen waren. 37 BArch B137/10868, Auszug Vermerk betr. Staatsangehörigkeitsprobleme mit der DDR, 27. Oktober 1978. 38 BArch Berlin DP2/1864, Streng geheim – Zur Erweiterung der konsularischen Betreuung ständiger Einwohner Westberlins durch die Ständige Vertretung der BRD in der DDR, 16 Januar 1979. Siehe auch: BArch Berlin DY30/22276, Brief Sorgenicht an Krenz, 13. November 1984.

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Damit bekräftigte das Bundesverwaltungsgericht die stark ethnisch geprägten Staatsangehörigkeitskriterien, die immer noch in der Definition deutscher Volkszugehörigkeit die Spuren des Nationalsozialismus in sich trugen.39 Im Kern folgten die Bundesrichter hier der Linie des Bundesinnenministeriums, dass keinerlei Verwaltungsakte der DDR einen Einfluss auf die Rechtslandschaft der Bundesrepublik haben sollten. Und Teso haben eben durch einen solchen Verwaltungsakt 1954 seinen DDR-Ausweis erhalten. Das Urteil argumentierte, dass die rechtliche Verpflichtung des Grundgesetzes, für die Vereinigung Deutschlands zu arbeiten, die das Bundesverfassungsgericht im Grundlagenvertragsurteil 1973 nochmals bekräftigt hatte, in keiner Weise die generelle Akzeptanz von DDR-Rechtsnormen und Gesetzen miteinschloss.40 Damit ging das Bundesverwaltungsgericht von anderen grundlegenden deutschlandpolitischen Prämissen aus als das Oberlandesgericht Münster. In den widerstreitenden Urteilen kamen somit auch die parteipolitische Kontroversen der vergangenen Jahre um die Neue Ostpolitik zum Ausdruck.41 Teso war nun endgültig eine Person nationalen Interesses. Die Rechtsexperten des Bundesinnenministeriums legten in den folgenden Monaten die Marschroute für die Position der Regierung vor dem Bundesverfassungsgericht fest. Das Ministerium verlegte sich auf die Argumentation, dass Teso nie als Deutscher hätte behandelt werden sollen. Die Argumentation des Verwaltungsgerichts aufgreifend argumentierte man, dass Teso durch seinen italienischen Vater nach bei seiner Geburt geltendem Recht nur die italienische Staatsangehörigkeit vererbt worden sei. Damit habe die Kölner Passbehörde Teso keinesfalls die Staatsangehörigkeit entzogen, sondern nur einen bestehenden Fehler in der Behandlung Tesos korrigiert. Die neue Linie der Bundesregierung schloss somit die automatische Anerkennung von DDR-Einbürgerungen als Zugang zu westdeutscher Staatsangehörigkeit nicht völlig aus. Jedoch würden sich solche Fälle nur auf die Zeit vor dem Inkrafttreten des separaten DDR-Staatsbürgerschaftsrechts am 20. Februar 1967 beziehen. Diese neue Beschränkung schloss in den Augen des Ministeriums Tesos Recht auf Staatsangehörigkeit aus und respektierte indirekt das souveräne Recht der DDR ihre Staatsbürgerschaft eigenständig zu regeln. Jedoch ging das Bundesinnenministerium hier nur von einem stillschweigend anerkannten Recht der DDR seit 1967 aus und ignorierte die Rückdatierung der Anwendung des Staatsbürgerschaftsgesetzes durch die DDR-

39 Für die Auswirkungen dieser Kriterien in der Praxis siehe: Jannis Panagiotidis, The Oberkreisdirektor Decides Who Is German – Jewish Immigration, German Bureaucracy, and the Negotiation of National Belonging, Geschichte und Gesellschaft 38 (2013): 503–533. 40 BVerfGE 77, 137, 142f. 41 Für die Renaissance nationler Fragen siehe Roth, Die Idee der Nation im politischen Diskurs, S. 146–193.

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Regierung auf die Staatsgründung der DDR im Jahr 1949 – so problematisch diese Rückdatierung in sich selbst war.42 Die Bundesregierung unterstützte das Bundesverwaltungsgericht öffentlich unverzüglich nach der Urteilsverkündung im November 1982. Der neue Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) machte vor allem deutlich, dass die DDR-Behörden keinen Einfluss auf die ethnisch und territorial geprägte westdeutsche Definition deutscher Staatsangehörigkeit nehmen konnten. Die Bundesrepublik, so Zimmermann, nahm immer noch an, dass alle Personen und deren Nachkommen, die am 31. Dezember 1937 innerhalb des Deutschen Reiches gelebt hatten und deutsche Staatsangehörige waren, einen Anspruch auf Staatsangehörigkeit hatten. Im deutsch-deutschen Verhältnis wollte Zimmermann damit die Nichtanerkennung des souveränen Rechts der DDR zur Staatsangehörigkeitsregelung fortsetzen. Zimmermann verkündete daher einmal mehr die Auffassung seines Ministeriums, dass Teso nie Deutscher gewesen sei, um weitere juristische Debatten um deutsch-deutsche Rechtsbeziehungen zu vermeiden.43 Gleichzeitig hatten Interventionen wie das sogenannte Heidelberger Manifest von 1981 das gesellschaftliche Klima verschärft. Fünfzehn konservative Professoren hatten darin die zurückgehende Geburtenquote deutscher Familien bemängelt und vor einer multikulturellen Gesellschaft mit einer steigenden Anzahl von BürgerInnen mit Migrationshintergrund gewarnt. Nach einer Anschlagswelle auf Asylbewerberheime 1980 durch die rechtsradikalen Deutsche Aktionsgruppen markierte dies eine weitere Radikalisierung einer intellektuellen Neuen Rechten.44 Rechtsradikale Sprachformen einer »Unterwanderung des deutschen Volkes« und der »Überfremdung« der deutschen Sprache verschärften den Asylund Einwanderungsdiskurs weiter. Rechtskonservative Intellektuelle wie die Unterzeichner des Heidelberger Manifests versuchten, die Debatte um eine »geistig-moralische Wende« innerhalb und außerhalb der CDU an sich zu ziehen, die den Regierungswechsel 1982 begleiteten. Zeitweise fanden die Ideen zur Rückführung von »Gastarbeitern« und die »Überfremdung« der Westdeutschen dabei Eingang in die Rhetorik der neuen konservativen Regierung und zeigten die Radikalisierung des gesellschaftlichen Diskurses zu Beginn der achtziger Jahre.45 Bei Antritt der Regierung Kohl 1982 waren Meinungsumfragen zufolge 42 BArch B137/10868, Auszug Vermerk betr. Staatsangehörigkeitsprobleme mit der DDR, 27. Oktober 1978. Für die Rückdatierung des Gesetzes in der Anwendung durch die DDRBehörden siehe: Gehrig, Cold War Identities. 43 BVerfGE 77, 137, 145f. 44 Jan Rathje, Reichsbürger, Selbstverwalter und Souveränisten – Vom Wahn des bedrohten Deutschen, Münster 2017, S. 60–63. 45 Für die Verschiebung des Migrationsdiskurses nach rechts siehe: Andreas Wagner, Das »Heidelberger Manifest« von 1981 – Deutsche Professoren warnen vor »Überfremdung des

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68 % aller Westdeutschen für die Rückkehr der Gastarbeiter in ihre Heimatländer.46 Der rechte Flügel der CDU um Alfred Dregger tat das Seine dazu, die Migrations-, Asyl- und Einbürgerungsdebatte im Wahlkampf zur Bundestagswahl 1983 weiter zu politisieren.47 Dies schien die Stimmung innerhalb des Bundesverwaltungsgerichts zu beeinflussen, das in den Jahren nach 1983 die Rechte von »Gastarbeitern« wieder stärkte.48 Für Teso kam dieser Stimmungswandel jedoch zu spät. Mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom November 1982 war die Frage des Zugangs zu westdeutscher Staatsangehörigkeit im Fall Teso endgültig zu einer verfassungsrechtlichen Angelegenheit geworden. Zugleich warf der Fall ein Schlaglicht auf die sich verändernden deutschlandpolitischen Prioritäten westdeutscher politischer und juristischer Eliten. War in den fünfziger und sechziger Jahren noch ein allumfassendes Rechtsverständnis in Staatsangehörigkeitsfragen vertreten worden, um dem »Regime in Pankow« jedwede rechtliche Legitimität abzusprechen, standen in den achtziger Jahren plötzlich Ängste vor unkontrollierter Migration im Vordergrund. Dies war genau das Argument, dass innerhalb der zuständigen Bundesministerien und vom Bundesverwaltungsgericht vorgebracht wurde. Sollte Tesos Anspruch auf Staatsangehörigkeit stattgegeben werden, könnte dies juristisch unkontrollierter Immigration in die Bundesrepublik durch die DDR Tür und Tor öffnen. In diesem Zusammenhang war vielen innerhalb der Bundesregierung und im Westberliner Senat schon lange die von Ost nach West durchlässige Grenze innerhalb des geteilten Berlins ein Dorn im Auge. Obwohl es unter den Bedingungen des Kalten Krieges nicht zu erwarten war, dass plötzlich Heerscharen von zunächst in der DDR eingebürgerten AusländerInnen in die Bundesrepublik kommen würden, war es genau dieser größere politische Kontext, der gegen Teso in Stellung gebracht wurde. Der Fall legte nun auch Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Ländern offen. Während einer Besprechung in Freiburg am 10. und 11. Mai 1983 zwischen Bundes- und Ländervertretern der Innenministerien zeigte sich, dass alle Beteiligten zwar in Einzelfällen wie dem von Teso bereit waren, durch gebührenfreie Einbürgerungen Probleme der Bestimmung der Staatsangehörigkeit behördlich auf Basis des Vertrauensschutzes der Einzelperson zu lösen. Damit deutschen Volkes«, in: Johanna Klatt/Robert Lorenz (Hrsg.), Manifeste – Geschichte und Gegenwart des politischen Appells, Bielefeld 2010, S. 285–314; Karen Schönwälder, Migration, Refugees and Ethnic plurality as issues of public and political debates in (West) Germany, in: David Cesarani/Mary Fulbrook (Hrsg.), Citizenship, Nationality and Migration in Europe, London 1996, S. 159–178. 46 Klusmeyer/Papademetriou, Immigration Policy in the Federal Republic of Germany, S. 104. 47 Ibid., S. 106f. 48 Ibid., S. 122f.

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sollte durch behördliche Praxis, die als Einzelfallbehandlung gesehen werden sollte, die generelle staats- und völkerrechtliche Problematik gelöst werden, die Teso durch seine Verfassungsbeschwerde erneut aufgeworfen hatte.49 Die Beteiligten brachten hierbei jedoch auch ihre durch den Kalten Krieg geprägte Weltsicht und die zunehmend negative Einstellung zu Migration in die Bundesrepublik zum Ausdruck. Sollten die Betroffenen Zugang zu einer weiteren Staatsangehörigkeit »außerhalb des kommunistischen Machtbereichs« haben und daher nach Aberkennung der DDR-Staatsbürgerschaft keine Gefahr der Staatenlosigkeit bestehen, sähe die »Interessenlage« anders aus. Mit anderen Worten, dann solle versucht werden, die Ansprüche auf deutsche Staatsangehörigkeit abzuweisen.50 Dies traf auf Teso und seinen Zugang zur italienischen Staatsangehörigkeit zu. Uneinigkeit bestand darüber, wie Verwaltungsakte der DDR-Behörden wie Einbürgerungen rechtlich zu werten seien. Die Ländervertreter argumentierten, dass zumindest Einbürgerungen vor Inkrafttreten des DDR-Staatsbürgerschaftsgesetzes 1967 anerkannt werden sollten, als in der DDR noch das abgeänderte RuStAG von 1913 Anwendung gefunden hatte.51 Dies lehnten Vertreter des Bundesministeriums ab. In Reaktion auf diese Unstimmigkeiten mit den Ländern versuchte das Bundesinnenministerium, die eigene Rechtsaufassung innerhalb der Bundesministerien zu festigen. Um sich der Unterstützung des Auswärtigen Amtes, des Bundesjustizministeriums und des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen zu versichern, stellten die Beamten des Innenministeriums intern klar, dass die Linie im Teso-Fall ausschließlich zur Bekämpfung illegaler Immigration gedacht war. Deutsche DDR-BürgerInnen würden selbstverständlich ihre Rechte auf westdeutsche Staatsangehörigkeit behalten. Diese Einstellung schien auch in der Sprache des Ministeriums durch, als das Innenministerium die Bedenken anderer Bundesministerien besänftigen wollte. Auf die konsularische Praxis und die Behandlung ostdeutscher BürgerInnen sollte der Fall Teso auch nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. November 1982 keine Auswirkungen haben. Diese Haltung offenbarte ein stark ethnisch geprägtes Verständnis der Problemlage. Vor allem das Auswärtige Amt sollte beruhigt werden, indem das Bundesinnenministerium feststellte: »Die Auslandsvertretungen können sich entsprechend ihrer bisherigen Handhabung weiterhin regelmäßig mit der Vorlage eines DDR-Passes begnügen. Sie brauchen mithin die Deutschenbehandlung auch künftig nur dann von einer Sachprüfung durch die

49 BArch B137/10868, Niederschrift Besprechung von Staatsangehörigkeits- und Einbürgerungsfragen am 1./11. Mai 1983 in Freiburg, 22. Juli 1983, S. 2. 50 Ibid. 51 Ibid., S. 3.

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zuständige Staatsangehörigkeitsbehörde abhängig machen, wenn sie ernsthafte Zweifel am Besitz der Deutscheneigenschaften haben.«52

In diesem Zusammenhang gaben die Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums ohne Umschweife zu, dass eine weitergehende Untersuchung von Tesos Staatsangehörigkeit erst nach seinem Antrag auf finanziellen Ausgleich begonnen worden war. Das Ministerium plante, den Zugang zu Finanzleistungen in Zukunft weiter zu begrenzen. Dazu sollte von nun an zwischen deutschen DDRBürgerInnen und eingebürgerten DDR-StaatsbürgerInnen unterschieden werden.53 Das Bundesinnenministerium versuchte damit auch, ein altes westdeutsches Rechtsmantra weiterhin zu beschützen. Man wollte der DDR nicht offiziell das Recht zuerkennen, durch eigene Hoheitsakte Einfluss auf die Bundesrepublik zu nehmen. Sollten Einbürgerungen nach dem DDR-Staatsbürgerschaftsgesetz von der Bundesregierung anerkannt werden, so die Furcht des Bundesinnenministeriums, gäbe die Bundesregierung die letzten rechtlichen Vorbehalte gegen die deutsche Teilung auf, die im Brief zur deutschen Einheit als Teil des Grundlagenvertrags nochmals einseitig von der Bundesrepublik bekräftigt worden waren. Dabei machte das Bundesinnenministerium nun eine Unterscheidung zwischen formalen Einbürgerungsakten der DDR-Behörden und – wie im Falle Tesos – der alleinigen Ausstellung eines Personalausweises ohne Einbürgerungsurkunde. »Jedoch besteht zwischen der Bundesregierung und den Ländern Übereinstimmung darüber, daß allen DDR-Bürgern die weitere Deutschenbehandlung gesichert oder ihnen Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit verschafft wird, wenn sie – ohne Deutsche im Sinne des Grundgesetzes zu sein – in der Vergangenheit Staatsangehörigkeitsausweise erhalten haben oder in anderer Weise eine entsprechende amtliche Feststellung ihrer Staatsangehörigkeit getroffen worden ist. Die Weiterbehandlung als Deutsche erscheint insoweit aus Gründen des Vertrauensschutzes geboten. In anderen Fällen, insbesondere wenn – wie beim Beschwerdeführer – von DDR-Behörden lediglich Personalausweise ausgestellt worden sind, soll dagegen, wenn keine sonstigen Bedenken – z. B. aus Sicherheitserwägungen – ersichtlich sind, dem Betroffenen durch eine gebührenfreie Einbürgerung entgegengekommen werden. Von dieser Möglichkeit hat der Beschwerdeführer keinen Gebrauch gemacht, obwohl ihm dies mehrfach von den zuständigen Staatsangehörigkeitsbehörden angeboten worden war.«54

Nach Jahren juristischer Streitigkeiten wollte Teso in der Tat eine unbürokratische Einbürgerung nicht akzeptieren, sondern seine Rechte als Deutscher anerkannt sehen. Er wollte nicht einfach durch behördliches Entgegenkommen 52 BArch B137/10868, Brief Bundesinnenministerium an Auswärtiges Amt, Bundesjustizministerium, Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, 31. Oktober 1983. 53 Ibid. 54 BArch B137/10868, Brief Bundesinnenministerium an den Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, kein Datum, S. 14f.

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wieder die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben, sondern seine Rechte gewahrt sehen. Darüber hinaus ließ das Innenministerium auch offen, welche Auswirkungen ein Einbürgerungsakt auf Tesos Antrag auf finanziellen Ausgleich seiner Verluste durch das Verlassen der DDR bedeutet hätte. In der Kommunikation mit dem Bundesverfassungsgericht beschränkte sich das Bundesinnenministerium zunächst auf grundrechtliche und deutschlandpolitische Argumente. Bedenken hinsichtlich unkontrollierter Migration durch die DDR in die Bundesrepublik blieben außen vor. Das Bundesinnenministerium versuchte die Logik des Falles umzudrehen, um dem Bundesverfassungsgericht vor Augen zu führen, welche Konsequenzen ein Urteil zugunsten Tesos haben könne, sollte dies die Anerkennung von DDR-Recht bedeuten. Sollte Teso Recht gegeben werden, so das Ministerium, könnten andere Menschen ihre rechtlichen Ansprüche verlieren. »Die Anwendung dieses Rechts führte nicht nur dazu, daß die Deutschenfähigkeit auch nach vom Bundesrecht abweichenden Grundsätzen erworben würde und verloren ginge. Sie hätte in einer Reihe von Fällen vielmehr auch zur Folge, daß die Deutscheneigenschaft in grundgesetzwidriger Weise vorenthalten würde.«55

Diese potentielle Vorenthaltung gelte ins Besondere für die Rechte von »Spätaussiedlern«. Dieser Personenkreis wurde von der DDR-Regierung als staatenlos betrachtet. Die Bundesregierung wiederum erkannte deren deutsche Volkszugehörigkeit und damit eine Zugangsberechtigung zur deutschen Staatsangehörigkeit an. Diesem Einspruch gegenüber dem Bundesverfassungsgericht, um Zustimmung für die eigene Rechtsauffassung zu gewinnen, trat das Justizministerium intern umgehend entgegen. Der hier vom Innenministerium zitierte Artikel 116 GG stelle eben genau nicht auf Staatsangehörigkeit ab, sondern formuliere Eigenschaften, die Menschen ohne Staatsangehörigkeit als deutsch beschrieben. Somit träfe dieses Argument hier überhaupt nicht zu.56 Der grundlegende argumentative Ansatz in der Formulierung der Position der Regierung vor dem Bundesverfassungsgericht blieb damit innerhalb der Bonner Ministerialbürokratie umstritten. Das Auswärtige Amt wiedersprach dem Ansatz des Bundesinnenministeriums in der Folge am deutlichsten. Es erschien den Diplomaten schlechthin unmöglich, weiterhin im Ausland Ansprüche auf die Repräsentation von DDR-BürgerInnen geltend zu machen, sollte die Bundesregierung und das Bundesverfassungsgericht der Meinung des Innenministeriums folgen. Wenn nach der »offenbar auch in Ihrem Hause vertretenen« Ansicht, so das Auswärtige Amt in einem offen kritischen Brief an das Innenministerium vom 14. November 1983, Menschen wie Teso nicht mehr nach westdeutschem 55 Ibid., S. 21. 56 BArch B137/10868, Brief Bundesjustizministerium an Bundesinnenministerium, 14. November 1983, S. 4.

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Recht als Deutsche anzusehen seien, »würde sich die Bundesrepublik Deutschland in Widerspruch zu allgemein anerkannten Normen des Völkerrechts setzen, wenn sie durch ihre Paßbehörden für diese Ausländer gleichwohl deutsche Paßpapiere ausstellen würde.« Kurz und gut, die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts, die das Bundesinnenministerium teilte, gefährdete den bisherigen Auslandsschutz, den die Bundesrepublik in Drittstaaten DDR-BürgerInnen bot.57 Damit setzte man in den Augen des Auswärtigen Amtes die Sicherheit von Menschen aufs Spiel. Sollte die Bundesregierung nicht länger alle InhaberInnen eines DDR-Passes als Deutsche behandeln, würde dies die Position westdeutscher Botschaftsvertretungen weltweit beeinträchtigen. Botschaftsrat MüllerChorus wies konkret darauf hin, dass die Aufgabe dieser Rechtsposition durch die Bundesrepublik den sofortigen Verlust exklusiver Repräsentationsrechte »aller Deutscher« in mindestens neun befreundeten Staaten bedeuten würde. Die Bundesregierung hatte in den fünfziger Jahren innerhalb der westlichen Allianz und anderen verbündeten Staaten der Hallstein Doktrin folgend darauf bestanden, dass die DDR keinerlei offiziellen konsularischen Rechte zur Vertretung Ostdeutscher in diesen Staaten besitzen sollte. Dies war ein integraler Teil westdeutscher Nichtanerkennungspolitik und wurde auch nach Abschluss der Ostverträge weiterhin in vielen verbündeten Ländern praktiziert. Müller-Chorus sah in der Bekräftigung der Rechtsauffassung, dass trotz des Grundlagenvertrags nur eine deutsche Staatsangehörigkeit weiterbestehe die Quintessenz, um auch in Zukunft die besonderen Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschland auf der internationalen Bühne zu bekräftigen.58 Vor allem wollte er den Schutz von DDR-BürgerInnen in Drittstaaten – wo möglich – durch die Bundesrepublik weiterhin gewährleistet sehen. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts brachte »dieses glatte Funktionieren der Gewährung des Auslandsschutzes für DDRDeutsche … nunmehr ins Wanken.«59 Müller-Chorus wandte sich auch gegen die vom Bundesinnenministerium gepflegte Sprachregelung, dass es sich über Teso hinaus in seinem Fall nur um eine Einzelfallproblematik handle. Folgende Gruppen seien von der durch das Bundesinnenministerium formulierten Position dauerhaft betroffen: 1) zwischen 1954 und 1975 geborene eheliche Kinder deutscher Mütter und ausländischer Väter, 2) nichteheliche Kinder deutscher Väter und ausländischer Mütter, 3) in der DDR geborene Kinder, die staatenlos geworden waren, 4) in der DDR eingebürgerte Personen einschließlich derjenigen, die wie Teso, durch die 57 BArch B137/10868, Brief Auswärtiges Amt an Bundesinnenministerium, 14. November 1983. 58 BArch B137/10868, Brief Auswärtiges Amt an Bundesinnenministerium, Bundesjustizministerium, Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, 12. Oktober 1983, S. 1. 59 Ibid., S. 2.

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Erteilung von Personalpapieren eingebürgert worden waren. Das Auswärtige Amt sah finanzielle und anderweitige Konsularhilfe für DDR-BürgerInnen somit ernsthaft gefährdet. Vor allem wenn es um die Gewährung von Konsularschutz inhaftierter DDR-BürgerInnen im Ausland und die routinemäßige Aushändigung von für zwei Monate gültigen Reisepässen an DDR-BürgerInnen zur Weiterreise in die Bundesrepublik ging, sollten diese Menschen weiterhin eine westdeutsche Vertretung um Hilfe anrufen können. Das Bundesverwaltungsgericht habe eine Entwicklung ins Rollen gebracht, die auf die »Schaffung von Deutschen ›Erster und Zweiter Klasse‹« hinausliefe, da sie bestehende Konsularhilfen gefährde.60 Teso hatte noch vor 1967 seinen DDR-Personalausweis erhalten. MüllerChorus verstand daher die abweisende Haltung des Bundesinnenministeriums grundsätzlich nicht. Denn damit wäre er eigentlich in die routinemäßige behördliche Praxis gefallen, die annahm, dass bis 1967 das RuStAG in beiden deutschen Staaten angewandt wurde. Die Gefahr, das Betreuungsrecht für »alle DDR-Deutschen im Ausland entscheidend« zu schwächen, erschien dem Auswärtigen Amt ein unangemessen hohes Risiko. Man hätte, so Müller-Chorus, Tesos Anspruch auf deutsche Staatsangehörigkeit durchaus auf Basis etablierter behördlicher Praxis anerkennen können. Diesen grundsätzlichen Bedenken schloss sich nun auch das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen an.61 Das Bundesjustizministerium trat dieser Position des Auswärtigen Amts zwar zum Teil entgegen, hatte jedoch seinerseits auch Bedenken gegenüber der Argumentationslinie des Bundesinnenministeriums. Dr. Bülow vom Bundesjustizministerium machte dies vor allem an der Prozesstaktik des Bundesinnenministeriums fest. Statt ein weitreichendes verfassungs- und staatsrechtliches Argument vor dem Bundesverfassungsgericht aufzubauen, solle man dem Beschwerdeführer so wenig wie möglich Angriffsfläche bieten. Die Bundesregierung sollte sich strikt auf den Einzelfall Teso konzentrieren, um damit wenn möglich jegliche weiterführenden deutschlandpolitischen und staatsrechtlichen Probleme zu umschiffen.62 Dies bedeutete allerdings auch wieder, sich auf die Rechtslage im Jahr 1940 zu Tesos Geburt zurückzuziehen und seine deutsche Staatsangehörigkeit zu bestreiten. Entgegen dieser internen Kritik versuchte das Innenministerium mehr als je zuvor, die eigene Linie im Verfahren zu behaupten. In einer Stellungnahme gegenüber dem Bundesverfassungsgericht vom 6. Februar 1984 bestritt das Ministerium nun sogar, dass Teso jemals die DDR-Staatsbürgerschaft erlangt habe. 60 Ibid., S. 3. 61 BArch, B137/10868, Brief Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen an Bundesinnenministerium, Bundesjustizministerium, Auswärtiges Amt, 18. Oktober 1983. 62 BArch B137/10868, Brief Bundesjustizministerium an Bundesinnenministerium, Auswärtiges Amt, Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, 14. November 1983.

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Der alleinige Verwaltungsakt einer Passaushändigung an Teso 1954 sowie sein Militärdienst in der NVA galten dem Ministerium als unzureichende Anzeichen, dass Teso rechtmäßig DDR-Bürger gewesen sei. Ganz im Gegenteil. Das Bundesinnenministerium unterstellte nun den DDR-Behörden, Teso aufgrund einer »irrtümlichen Aushändigung eines Personalausweises« ab 1954 als Staatsbürger behandelt zu haben. Damit verfielen alle deutschlandpolitischen Komplikationen aus Sicht des Innenministeriums. Teso sei immer Italiener gewesen, egal was seine Biografie ausdrückte oder die DDR-Behörden und westdeutsche Passbehörden bis 1974 angenommen hätten.63 Dies brachte das Fass für Teso einmal mehr zum Überlaufen. Im März 1984 versandte er Briefe an das Bundeskanzleramt, den Bundestag, die FDP-Bundestagsfraktion, das Bundesinnenministerium, Auswärtige Amt, Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen und Bundesjustizministerium. Er bezeichnete die Stellungnahme des Bundesinnenministers als »Informations- und Gesichtsverlusterscheinungen, die so nicht im Raume stehen bleiben können, wenn man nicht von falschen Angaben wider besseren Wissens ausgehen möchte.«64 Entgegen der von westdeutschen Behörden und Gerichten benutzten biographischen Daten beharrte Teso darauf, dass er unehelich zur Welt gekommen sei. Dies habe die italienische Botschaft in Ost-Berlin ihm schriftlich am 23. Oktober 1983 bestätigt. Somit sei die deutsche Staatsangehörigkeit seiner Mutter bei Geburt für die Bestimmung seiner Nationalität ausschlaggebend gewesen. Die italienischen Behörden hatten ihm darüber hinaus bereits am 27. Mai 1983 bestätigt, dass sie ihn als deutschen Staatsbürger der DDR ansahen. Teso argumentierte daher, dass ihn seine uneheliche Geburt nach dem damals geltenden RuStAG zum Deutschen gemacht habe. Die italienischen Behörden hätten ihm trotz der unehelichen Geburt 1968 einen Pass ausgestellt.65 Teso bezichtigte die Behörden der Bundesrepublik der Untätigkeit und Inkompetenz. Nur dem italienischen Konsulat sei es zu verdanken, dass er in der Lage gewesen sei, die DDR zu verlassen. Dies brachte ihm Monate der Unsicherheit ein, während derer die DDR-Behörden ihn durch ein Besuchs- und Unterstützungsverbot seiner Frau und Kinder zur Aufgabe des italienischen Passes und Rückkehr zwingen wollten. Die Worte des Bundesinnenministers mussten daher wie Herzlosigkeit für ihn klingen. »Der Bundesinnenminister vergißt, daß als einzigste die Ital. Vertretungen Hilfe leisteten, während im Namen der Bundesregierung 17 Millionen GDR-Bürger [sic!] vor der

63 BArch B137/10868, Stellungnahme Bundesinnenministerium für das Bundesverfassungsgericht in der Verfassungsbeschwerde Teso, 6. Februar 1984, S. 6. 64 BArch B137/10868, Brief Teso an Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, 15. März 1984. 65 Ibid., S. 1.

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›spektakulärer‹ Inanspruchnahme der Botschaften zum Verlassen der GDR [sic!] gewarnt werden. Es kann daher unmöglich die im Grundgesetz verankerten Humanitäten und ihre Staatsangehörigkeitserwerbs- und Verlustgründe verletzen, wenn der Bf durch diese deutsch-italienische Tür in den freiheitlichen Bereich des GG gelangte.«66

Teso war schockiert, wie sehr die westdeutschen Behörden bereit waren, über die Rechtswirklichkeit des anderweitig oft kritisierte DDR-Unrechtsregimes und die Vorenthaltung der Freizügigkeit zu reisen hinwegzusehen. Sein Antrag auf einen italienischen Pass war den Umständen der deutschen Teilung geschuldet und keineswegs ein Akt, durch den er – so der Bundesinnenminister – eindeutig seine Absicht zu erkennen gegeben habe, die Staatsbürgerschaft der DDR aufzugeben. »Diese Behauptung ist der Ausbürgerungsdialektik und -Demagogie der GDR [sic!] zumindest ebenbürtig.«67 Teso beschuldigte die behördliche Praxis der Bundesrepublik »komplementäre[r] Tendenzen, die mit Komplizenschaft schwanger zu gehen scheinen.«68 Die Bundesregierung sei in Gefahr, die DDR-Regierung in ihrer Einmauerungspolitik der eigenen Bevölkerung aktiv zu unterstützen, sollten solche behördlichen Richtlinien weiterhin durchgesetzt werden. Schlussendlich setzte sich das Bundesinnenministerium gegen alle Widerstände in der Vertretung der Bundesregierung durch. Vor dem Bundesverfassungsgericht ging es somit um die Frage, ob Einbürgerungen nach dem DDRStaatsbürgerschaftsrecht, die nicht den Vorgaben des in der Bundesrepublik immer noch geltenden RuStAG entsprachen, trotzdem einen Anspruch auf westdeutsche Staatsangehörigkeit eröffneten. Dabei versuchte das Bundesjustizministerium zunehmend vergeblich, das Bundesinnenministerium davon abzuhalten, den verfassungsrechtlichen Rechtsstreit dahingehend zu erweitern, dass das Gericht zur Frage Stellung nehmen sollte, ob es immer noch eine ungeteilte deutsche Staatsangehörigkeit gäbe oder sich mittlerweile ein duales System etabliert hatte.69 Organisationen wie der Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen (Uf J) hatten das Bundesinnenministerium in diesem Unterfangen angefeuert. Der Uf J, ursprünglich eine Frontorganisation der Bundesrepublik im frühen Kalten Krieg, die auch in Ost-Berlin und innerhalb der DDR operiert hatte, und ihr stellvertretender Direktor Siegfried Mampel sprachen sich für einen dualen Ansatz aus. Mampel, der innerhalb des Uf J für verfassungs- und verwaltungsrechtliche Fragen zuständig war und später eine Honorarprofessur an der Freien Universität Berlin bekleidete, sah einen klaren Unterschied zwischen der deutschen Staatsangehörigkeit und DDR-Staatsbürgerschaft. Dieser 66 67 68 69

Ibid., S. 2. Ibid., S. 5. Ibid., S. 6. BArch B137/10868, Aufzeichnung zu der Verfassungsbeschwerde des Herrn Marco Teso gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 30 November 1982.

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rechtliche Unterschied und die illegitime Natur der DDR-Staatsbürgerschaft mussten in seinen Augen weiterhin gegen eine Gleichstellung der DDR verteidigt werden. Es ging dem Uf J also keineswegs um eine Anerkennung der DDRStaatsbürgerschaft, sondern um die Denunzierung eines von der DDR illegitim geschaffenen dualen Systems. Das Bundesjustizministerium befürchtete, dass das Bundesinnenministerium durch die Zurückweisung der Bedenken anderen Bundesministerien bereits ein für die Regierung negatives Urteil vorbestimmt hatte. Bülow prognostizierte, dass die vor dem Bundesverfassungsgericht vertretene Haltung der Regierung schon überwunden geglaubte rechtliche Spannung zwischen den beiden deutschen Staaten wiederaufleben lassen würde. Dem Bundesverfassungsgericht, so Bülow, würde gar nichts anderes übrigbleiben, als die Einheit der deutschen Staatsangehörigkeit zu bekräftigen. Nach dem berühmt berüchtigten Grundlagenvertragsurteil von 1973, in dem das Bundesverfassungsgericht die staatsrechtliche Identitätstheorie von Deutschem Reich und Bundesrepublik postuliert hatte, nur um im nächsten Atemzug der Regierung das Primat der Außenpolitik einzuräumen, hatte die deutsch-deutschen Beziehungen stark strapaziert. Bülow befürchtete eine Rückkehr in diese Zeiten und der Uf J hatte möglicherweise genau dies im Sinn.70 Für Bülow bedeutete dies, dass er den Prozess schon vor dessen eigentlichem Beginn vor dem Bundesverfassungsgericht für verloren hielt.71

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Vom Einzelfall zum Präzedenzfall: das Verfahren am Bundesverfassungsgericht

Aufgrund der offensichtlichen politischen Dimensionen nahmen führende Rechtspolitiker Stellung zum Fall Teso, nachdem das Bundesverfassungsgericht das Verfahren aufgenommen hatte. Im Februar 1984 sprach Rupert Scholz (CDU) auf Einladung der Studiengruppe Politik der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen. Er versicherte der versammelten Zuhörerschaft, dass er sich gegen jedwede Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft wenden würde. Obwohl der politische Einfluss der Vertriebenen seit den fünfziger Jahren zurückgegangen war, stellten sie immer noch ein wichtiges politisches Unterstützermilieu für die CDU dar. Scholz argumentierte, dass die Bundesregierung zwar 70 BArch B137/10868, Brief Dr. Mahnke (Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) an Bundesinnenministerium, Auswärtiges Amt, Bundesjustizministerium, 18. Oktober 1983; Position der Bundesregierung (Bundesinnenministerium) an den 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts, 6. Februar 1984. 71 BArch B137/10868, Brief Bundesjustizministerium an Bundesinnenministerium, Auswärtiges Amt, Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, 27. Januar 1984.

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gezwungen sei, die DDR-Staatsbürgerschaft innerhalb der DDR anzuerkennen. Dies solle allerdings nicht bedeuten, dass zwei separate Staatsangehörigkeiten auch in internationalen Beziehungen zu Drittstaaten gelten sollten. Damit versuchte Scholz seine ZuhörerInnen zur Unterstützung Tesos zu mobilisieren. Sollte Teso, der seine DDR-Staatsbürgerschaft durch die Ausstellung eines Ausweises erhalten hatte, vom Zugang zur deutschen Staatangehörigkeit ausgeschlossen werden, könne die DDR-Regierung das Argument verbreiten, dass eine legitime separate DDR-Staatsangehörigkeit existiere – zumindest für Teso und andere Personen mit einer vergleichbaren Biografie. Dies, so Scholz in Absprache mit den zuständigen Bundesministerien, müsse verhindert werden.72 In der Opposition beharrte die SPD-Spitze zur gleichen Zeit auf der Notwendigkeit einer weiteren Integrationsdebatte, die über deutschlandpolitische Erwägungen weit hinausging. Entgegen der ablehnenden Haltung der Bevölkerung befürworteten die Sozialdemokraten die Einführung der doppelten Staatsangehörigkeit. Wichtig für den Kontext des Teso-Falls war die damit verbundene Forderung, einen automatischen Anspruch auf Staatsangehörigkeit zu ermöglichen, wenn nur ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit besaß.73 Dass solche sozialdemokratischen Forderungen gegen den oft von Ausländerfeindlichkeit geprägten Diskurs der Öffentlichkeit gingen, hatte die CDU/CSU schon zu Beginn der achtziger Jahre bemerkt. Der radikale Gesetzesentwurf eines neuen Ausländergesetzes von Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU), der diese Stimmung aufnahm, hatte jedoch seit 1984 trotzdem keine Mehrheit im Bundestag finden können. Die SPD und FDP sowie Mitglieder der CDU/CSU verweigerten sich Zimmermanns Gesetzesvorlage. Nachdem somit der Wahlkampfrhetorik einer »geistig-moralischen Wende« von 1983 wenig Taten folgten, spalteten sich enttäuschte Rechtskonservative Ende der achtziger Jahre von der CDU/CSU ab und gründeten Die Republikaner, um nun offen nationalistische Parolen zu vertreten. Daneben erlebten die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) und Deutsche Volksunion (DVU) wieder mehr Zulauf. Neben der Migrations- und Integrationsdebatte zitierten enttäuschte Rechtskonservative auch die Hinwendung der Regierung zur DDR-Führung und die Gewährung des Milliardenkredits an die DDR als Gründe für eine Abkehr von den etablierten Parteien.74 Dies spiegelte die zwei Themenkomplexe, in denen es über den Einzelfall Teso hinaus im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nun ging: die Frage der Einwanderung und des deutsch-deutschen Verhältnisses. 72 BArch B137/10868, Notizen Rupert Scholz, zur Kenntnis Bundeskanzleramt, Bundesinnenministerium, Bundesjustizministerium, Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Auswärtiges Amt, 2. März 1984. 73 Klusmeyer/Papademetriou, Immigration Policy in the Federal Republic of Germany, S. 108. 74 Ibid., S. 110–113.

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Parteipolitische Erwägungen spielten damit eine prominente Rolle in der gesellschaftlichen Debatte um die deutsche Staatsangehörigkeit in den achtziger Jahren. Da das Problem steigender Asylantenzahlen spätestens in den achtziger Jahren zum innenpolitischen Politikum geworden war, wurde die Gefahr eines immer weiter zunehmenden Stroms von Asylsuchenden über den Flughafen Berlin-Schönefeld und die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin 1986 zu einem potentiellen Wahlkampfthema. Hiermit schienen sich die vom Bundesinnenministerium geäußerten Ängste einer unkontrollierten Migration über die DDR in die Bundesrepublik plötzlich zu bestätigen. Der SPD-Vorsitzende Willy Brandt sicherte der DDR-Regierung durch seinen Vertrauten Egon Bahr im September 1986 zu, dass eine mögliche SPD-geführte Bundesregierung nach der nächsten Bundestagswahl die DDR-Staatsbürgerschaft voll anerkennen könnte. Im Gegenzug sollte die Gefahr einer zunehmenden Migration von Asylsuchenden durch die »Hintertür DDR« gebannt werden. Nach der Zusage des SED-Vorsitzenden Erich Honecker zu dieser Vereinbarung verkündete der SPD-Kanzlerkandidat Johannes Rau am 18. September 1986, dass die DDR als Transitland für Asylsuchende bei einem SPD-Wahlerfolg nur noch Reisenden mit Anschlussreisevisen in ein Drittland den Zugang zur DDR und die Weiterreise nach WestBerlin gestatten würde.75 Diese Nebenaußenpolitik der SPD konnte den Sozialdemokraten jedoch auch nicht zur Mehrheit in der Bundestagswahl im Januar 1987 verhelfen. Im Sommer 1987 gingen die Überlegungen der SPD und SED über eine Neujustierung der deutsch-deutschen Beziehungen noch einen Schritt weiter. Am 27. August veröffentlichten die Grundwertekommission der SPD und die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED ein Strategiepapier. Unter dem Titel »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit« formulierten ost- und westdeutsche Politiker und Experten das Ergebnis von Diskussionen, die bereits im Jahr 1984 begonnen hatten. Trotz zahlreicher Kritiker innerhalb der SPD, von der CDU/CSU ganz zu schweigen, formulierte das Papier Wege, das deutsch-deutsche Verhältnis in seiner völkerrechtlichen Interpretation zu modernisieren und den Realitäten der nach der Schlussakte von Helsinki etablierten Sicherheitsarchitektur anzupassen.76 Diese schloss die volle Anerkennung der staatlichen Souveränität und territorialen Integrität der DDR mit ein. Im Gegenzug formulierte das Strategiepapier den Anspruch des offenen Wettkampfs der Ideen, der in den Zeiten des atomaren Patts sogar zur Friedenssicherung gefördert werden müsse. Oft als naiv und an 75 Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen – Deutsche Geschichte vom »Dritten Reich« bis zur Wiedervereinigung, München 2000, S. 460. 76 »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit«, Informationsdienst der SPD 3 (1987).

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den Realitäten des Kalten Krieges vorbeigeschrieben diffamiert, erlaubte das Papier dennoch nach seiner offiziellen Veröffentlichung im SED-Leitorgan Neues Deutschland DDR-DissidentInnen den Bezug auf ein neues von der Partei sanktioniertes Diskussionsrecht des Systemwettkampfs und des eigenen politischen Systems.77 Obwohl das Strategiepapier keine Mehrheit in der SPD fand, formulierte es en passant eine ausschließlich völkerrechtliche Perspektive auf die deutsche Teilung, die für westdeutsche staatsrechtliche Ansprüche auf einen Rechtstitel der Bundesrepublik in der Staatsnachfolge des Deutschen Reiches und einen Alleinvertretungsanspruch deutscher Staatsangehörigkeit keinen Raum mehr ließ. Das Bundesverfassungsgericht stand somit von mehreren Seiten unter Druck als sich die Beratungen zum Fall Teso ihrem Ende näherten.78 Die DDR-Regierung hatte seit den sechziger Jahren die Verschiebung der deutschen Frage von einer maßgeblich nach deutschem Staatsrecht debattierten zu einem völkerrechtlichen Problem betrieben. Mit einem Schwenk in Richtung der Rechtskampagnen kolonialisierter und kürzlich unabhängig gewordener Länder argumentierte die DDR-Regierung innerhalb der Vereinten Nationen, dass das Selbstbestimmungsrecht der DDR geachtet werden müsse. Diese neue internationale Rechtskampagne sollte helfen, die Alleinvertretungspolitik der Bundesrepublik zu beenden. Nach der Verkündung des DDR-Staatsbürgerschaftsgesetzes 1967 und einer neuen Verfassung zunächst 1968, die dann in revidierter Form 1974 als sozialistischen Verfassung proklamiert wurde, nutzte die SEDFührung die internationale Popularität des Selbstbestimmungsrechts, um dem Anspruch auf nationale Unabhängigkeit von der Bundesrepublik international Gewicht verleihen.79 Das Bundesverfassungsgericht verlegte sich nun auf das gleiche Rechtsprinzip, das Selbstbestimmungsrecht, um eine auf die Zukunft ausgerichtete rechtliche Interpretation der deutschen Teilung und deren Überwindung zu skizieren. Jedoch hatten sich seit der Hochphase der Entkolonialisierung, in der das Menschenrecht auf Selbstbestimmung als kollektives Recht großen Einfluss in völkerrechtlichen Debatten hatte, das Klima der Menschenrechtsdebatten innerhalb 77 Franz Walter, »20 Jahre Dialogpapier – Wie SPD und SED die DDR destabilisierten«, Der Spiegel (online), 26. August 2007, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/20-jahre-dialog papier-wie-spd-und-sed-die-ddr-destabilisierten-a-502059.html. Siehe auch: Thomas Meyer, Ein neuer Rahmen für den Ost-West-Dialog. Das gemeinsame Grundsatzpapier von SED und SPD – Kein nationales Memorandum, Neue Gesellschaft – Frankfurter Hefte 10 (1987): 870– 877. 78 Im Mai 1987 hatte das Gericht bereits das Recht auf Familienzusammenführung von Einwanderern gestärkt, um der zunehmend feindlichen öffentlichen Stimmung entgegenzuwirken. Siehe: Klusmeyer/Papademetriou, Immigration Policy in the Federal Republic of Germany, S. 121f. 79 Siehe: Gehrig, Reaching Out to the Third World.

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und außerhalb der Vereinten Nationen gewandelt. Nachdem die USA unter Präsident Jimmy Carter die Menschenrechte als Thema entdeckt hatten, verschob sich die Debatte um das Selbstbestimmungsrecht in den achtziger Jahren hin zu einem Fokus auf den individuellen Menschen.80 Um nun das gleiche völkerrechtliche Argument, das DDR-Rechtskampagnen der sechziger und siebziger Jahre als kollektives Recht zur Konstruktion einer »DDR-Nation« benutzt hatten, im Teso-Fall als individuelles Menschenrecht ins Feld führen zu können, musste das Bundesverfassungsgericht alte Ansprüche auf die Vertretung »aller Deutscher« qualifizieren. Da das Verfassungsgericht gleichzeitig die Schlussakte von Helsinki achten und die territoriale Integrität der DDR nicht beschneiden wollte, argumentierte das Gericht in seinem Urteil nun, dass DDRBürgerInnen erst verwaltungstechnisch als deutsche Staatsangehörige betrachtet würden, sobald diese in die Bundesrepublik gelangten und die Aktualisierung ihres Status zu deutschen Staatsangehörigen beantragten. In den Jahrzehnten seit 1949 hatte die Bundesrepublik des Öfteren DDR-BürgerInnen in Drittstaaten ungefragt als deutsche Staatsangehörige behandelt und damit ihre DDRStaatsbürgerschaft missachtet.81 Somit ebnete das Gericht den Weg, um im Folgenden in deutschlandpolitischer Perspektive das individuelle Recht auf Selbstbestimmung und die Beantwortung der deutschen Frage in freien und geheimen Wahlen zu fordern. Obwohl viele westdeutsche PolitikerInnen weiterhin die Rechtmäßigkeit der DDR-Staatsbürgerschaft bestritten, sahen sich die VerfassungsrichterInnen gezwungen, die deutsch-deutsche Rechtslage neu zu bestimmen. Seit den explosiven Jahren der Neuen Ostpolitik, zu denen das Bundesverfassungsgericht mit dem oft kritisierten Grundlagenvertragsurteil gehörig beigetragen hatte, war der Abstand zwischen den politischen Realitäten des Kalten Krieges, der Entwicklung des internationalen Rechts sowie der europäischen Integration und der westdeutschen Rechtsposition im deutsch-deutschen Verhältnis immer größer geworden.82 Daher nutzte das Gericht die Gelegenheit, die das Bundesinnenministerium und Tesos Vertretung den RichterInnen geboten hatte, um das deutsch-deutsche Rechtsverhältnis nochmals umfangreich zu besprechen. Im Grundlagenvertragsurteil hatte das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung sehr detaillierte Grenzen in der Anerkennung der DDR gesetzt. Vor allem hob das Urteil von 1973 hervor, dass die Kulturnation weiterhin einen legitimen, auch rechtlichen, Bezug auf spezielle deutsch-deutsche Bande erlaube. Dies zielte auf den Alleinvertretungsanspruch deutscher Staatsangehörigkeit ab. Im Teso80 Für diesen Wandel siehe: Joseph R. Slaughter, Hijacking Human Rights – Neoliberalism, the New Historiography, and the End of the Third World, Human Rights Quarterly 40, 4 (2018), 735–775. 81 Siehe: Gehrig, Cold War Identities. 82 Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, S. 291–296.

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Beschluss nahm das Gericht von solchen gesamtdeutschen Bezügen Abstand und gestand der Bundesregierung weitreichende diplomatische Befugnisse zu. Damit zog sich das Gericht aus der Einflussnahme auf die Außenpolitik, die es noch 1973 betrieben hatte, weitgehend zurück.83 In Reaktion auf die staats- und verfassungsrechtlichen Fragen, die das Bundesinnenministerium mit dem Fall verbunden hatte, verlegten sich die Karlsruher RichterInnen auf einen weiteren historischen und politischen Kontext in ihrer Urteilsbegründung. Das Gericht nahm damit die Herausforderung an, einmal mehr deutschlandpolitische Fragen zu beantworten.84 Dabei konzentrierte sich die Urteilsbegründung vor allem auf die bisher herrschende Meinung und Verwaltungspraxis, deutsche Staatsangehörigkeit ethnisch zu begründen. Damit nahm das Gericht die Debatten um Migration, Einwanderung und Einbürgerung auf. Die sich widersprechenden Urteile des Oberverwaltungsgerichts und Bundesverwaltungsgerichts hatten bereits auf den Ermessungsspielraum der Behörden in der Feststellung von Staatsangehörigkeit hingewiesen. Die behördliche Behandlung von Staatsangehörigkeitsanträgen hatte damit nie gänzlich auf objektiven Regeln beruht, sondern war oftmals auch von den politischen Überzeugungen von Verwaltungsangestellten abhängig.85 Dieser Einfluss tagespolitischer Debatten auf behördliche Praxis war vielen Beobachtern des TesoFalls nicht entgangen.86 Als das Bundesverfassungsgericht am 21. Oktober 1987 das Urteil im Teso-Fall verkündete, fiel schon in der zeitnahen wissenschaftlichen Interpretation des Urteils die Zweiteilung des Urteils auf.87 Das Gericht beschränkte sich nicht nur auf eine verfassungsrechtliche Prüfung zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit im Fall Teso, sondern schloss einen zweiten Teil zur völker- und deutschlandpolitischen Prüfung des Falls an.88 Entgegen früherer »statischer« Interpretationen, derer sich auch das Bundesverwaltungsgericht bedient hatte, zu einem angenommen Rechtstitel der Vertretung der Souveränität des Deutschen Reiches und damit seiner Staatsangehörigkeit durch die Bundesrepublik, legten die RichterInnen nun – in Rainer Hofmanns Worten – den Auftrag auf die deutsche Vereinigung hinzuarbeiten und die Einheit des deutschen Staatsvolkes zu erhalten »dynamisch« aus.89 Mit anderen Worten, da die Realitäten des Kalten 83 Sebastian Gehrig, Legal Entanglements. Law, Rights and the Battle for Legitimacy in Divided Germany, 1945–1989, New York 2021, 183–219. 84 Münch, Die deutsche Staatsangehörigkeit, S. 103ff. 85 Siehe: »DDR-Paß berechtigt zur Einbürgerung«, Süddeutsche Zeitung (4. Februar 1983); Panagiotidis, The Oberkreisdirektor Decides Who Is German. 86 »Dann eben Italiener«, Der Spiegel 49 (1982), 86ff. 87 Hofmann, Staatsangehörigkeit im geteilten Deutschland, 260f.; Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, S. 291–296. 88 Hofmann, Staatsangehörigkeit im geteilten Deutschland, 261–277. 89 Ibid., 263.

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Krieges und das Bestehen einer separaten DDR-Staatsbürgerschaft frühere orthodoxe staatsrechtliche Argumente unmöglich gemacht hatten, müsse eben die Erlangung der DDR-Staatsbürgerschaft als Anrecht auf die deutsche Staatsangehörigkeit gesehen werden. Diese Logik sollte die westdeutsche Position in Staatsangehörigkeitsfragen zukunftstauglich machen. Da seit 1967 alle neugeborenen Ostdeutschen nicht mehr die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten hatten und zunehmend mehr Fälle eintreten würden, in denen DDR-BürgerInnen nicht mehr zwingend nach den bestehenden Bestimmungen des RuStAG die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben würden, konnte ein völkerrechtliches Argument für ein freies Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen nachdrücklicher vertreten werden, wenn die DDR-Staatsbürgerschaft der deutschen Staatsangehörigkeit gleichgesetzt wurde. Wichtig war hier, dass alte Logiken einer automatischen Inanspruchnahme aller in der DDR lebenden BürgerInnen als deutsche Staatsangehörige auf deren Behandlung als Deutsche erst nach Erreichen der Bundesrepublik zurückgefahren wurden. Nur so konnte man in Zukunft vor allem in Auseinandersetzung mit Drittstaaten argumentieren, dass die deutsche Frage abschließend völkerrechtlich nur in freier Selbstbestimmung der Ost- und Westdeutschen entschieden werden könne, da in den Augen vieler internationaler Beobachter bisherig stur vertretene Alleinvertretungsansprüche der deutschen Staatsangehörigkeit genau dieses Selbstbestimmungsrecht von DDR-BürgerInnen bestritten hatten. Das Recht auf freie Selbstbestimmung ersetzte nun das frühere staatsrechtliche Beharren auf einer direkten Staatskontinuität oder Staatsidentität zwischen dem Deutschen Reich und der Bundesrepublik. Dieser radikale Wechsel in der Bestimmung des Verhältnisses zwischen der DDR und der Bundesrepublik erlaubte eine Neujustierung staatsrechtlicher Grundfragen. Es machte es dem Gericht möglich, von der territorialen Fixierung früherer revanchistischer staatsrechtlicher Argumente zur Staatsnachfolge des Deutschen Reiches »in den Grenzen von 1937« Abstand zu nehmen. Da das Bundesverfassungsgericht im Teso-Urteil hervorhob, dass die deutsche Einheit allein von der Bejahung der Einheit durch die Ostdeutschen in freier und geheimer Selbstbestimmung abhing, öffnete das Gericht zum einen den Weg zur staatsrechtlichen Anerkennung der Zweitstaatlichkeit. Zum anderen erkannte das Gericht den Ostdeutschen das Recht zu, für eine dauerhafte Teilung Deutschlands zu stimmen, solange dies in freien und geheimen Wahlen geschehen sollte. Damit konnte das Bundeverfassungsgericht die gesetzgebende Kraft der DDR im Feld der Staatsangehörigkeit anerkennen, solange die Grenzen der ordre public der Bundesrepublik eingehalten wurden. So spielte es auch keine Rolle mehr, ob eine Person die DDRStaatsbürgerschaft den verfassungsrechtlichen Bestimmungen der DDR folgend

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per offizieller Einbürgerung erhalten hatte oder durch einen behördlichen Akt der Ausweisvergabe wie im Fall von Teso.90 Die Aufgabe einer unmittelbaren Behandlung Ostdeutscher als deutsche Staatsangehörige machte es nötig, das Verhältnis von Deutschem Reich und Bundesrepublik im Detail zu besprechen. Die zuvor vertretene Linie der Teilidentität oder Identität der Bundesrepublik mit dem Deutschen Reich diente nun nur noch als historische Herleitung der Situation, in der sich die beiden deutschen Staaten in den achtziger Jahren befanden. Das Bundesverfassungsgericht leitete aus der Kontinuitätstheorie daher keine direkten Rechtsansprüche gegenüber der DDR mehr ab.91 Das Gericht nahm zwar weiterhin an, dass die Souveränität des Deutschen Reiches nach 1945 weiterbestanden habe. Dies war nötig, um Rechtssicherheit für unzählige Urteile zu wahren, die nach dem Krieg auf dieser grundsätzlichen Annahme getroffen worden waren. Im Gegensatz zu früheren Urteilen wurde dieser Fortbestand der Souveränität durch die alliierte Vertretung Deutschlands nach Außen während der Besatzungszeit begründet. Daher müsse eine endgültige Lösung des deutsch-deutschen Verhältnisses weiterhin in einem abschließenden Friedensvertrag niedergelegt werden. Das Gericht bestritt somit weiterhin die sowjetische und ostdeutsche Position, dass die Potsdamer Verträge von 1945 diese Situation schon eindeutig geklärt hätten.92 Damit erreichte das Bundesverfassungsgericht zwei grundsätzliche Veränderungen im Vergleich zu vorherigen Entscheidungen des Gerichts. Zum einen etablierte das Gericht eine direkte zwischenstaatliche juristische Beziehung zwischen der Bundesrepublik und der DDR im Feld der Staatsangehörigkeit. Zuvor hatte die offiziell herrschende Meinung jedwede legitime souveräne Gewalt der DDR hier bestritten, obwohl es bis in die achtziger Jahre durchaus Phasen der gerichtlichen und behördlichen Zusammenarbeit über die deutschdeutsche Grenze gegeben hatte. Zum anderen verschob das Gericht die Lösung der Frage der deutschen Einheit in den Bereich internationaler Rechtsnormen. Seit dem Abschluss der Schlussakte von Helsinki waren die alten staatsrechtlichen Argumente der bundesdeutschen höchsten Gerichtsbarkeit im Feld der staatlichen Souveränität und Staatsangehörigkeit unter extremen Druck geraten.93 Seit 1967 war zudem eine neue Generation Ostdeutscher als DDR-StaatsbürgerInnen geboren worden. Dieser neuen Realität und der möglichen Zukunft einer dauerhaften Teilung versuchte das Gericht nun Rechnung zu tragen. Dafür 90 BVerfGE 77, 137, 148f. 91 Zur ursprünglichen Logik der Staatennachfolge des Deutschen Reiches und der Identitätstheorie siehe: Gehrig, Recht im Kalten Krieg. 92 BVerfGE 77, 137, 154f. 93 Für die Politisierung rechtlicher Argumente in der Auseinandersetzung zwischen den beiden deutschen Staaten in dieser Phase siehe: Gehrig, Cold War Identities; Gehrig, Reaching Out to the Third World; Gehrig, Legal Entanglements, 183–258.

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hatte die westdeutsche Gerichtsbarkeit de facto die Legitimität der DDRStaatsbürgerschaft und deren Relevanz für die durch die Bundesrepublik vertretene deutsche Staatsangehörigkeit anzuerkennen. Somit kehrte das Gericht eine über mehrere Jahrzehnte gewachsene juristische Front im Kalten Krieg wieder um. Im Gegensatz zu älteren Urteilen des Gerichts stand nun die Gestaltung der Zukunft im Fokus. Zuvor hatte die Obsession mit der Kontinuitätstheorie vor allem dazu gedient, durch eine juristisch bindende Interpretation der Vergangenheit politische Ansprüche in der Gegenwart zu untermauern. Seit seiner Gründung im Jahre 1951 hatte das Bundesverfassungsgericht und die westdeutsche Staatsrechtslehre zusammen mit der Bundesregierung bis zum Ende der fünfziger Jahre die Gründung der Bundesrepublik als »Provisorium« von einer politischen Entscheidung innerhalb des Parlamentarischen Rates in die rechtlich bindende Kontinuitätstheorie zwischen der Souveränität des Deutschen Reiches »in den Grenzen von 1937« und der Bundesrepublik überführt.94 Nachdem das Gericht in den fünfziger Jahren noch von der Bundesrepublik als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches gesprochen hatte, hatten die Ostpolitikverhandlungen zu einer Radikalisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit geführt.95 Im Grundlagenvertragsurteil von 1973 hatten die Verfassungsrichter dann die bereits erwähnte berüchtigte Formel geprägt, dass das Reich und die Bundesrepublik staatsrechtlich identisch seien. Seither hatten politische AktivistInnen am rechten Spektrum aber auch CDU/CSU-Politiker diese Formel zur Ablehnung der Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition missbraucht.96 Nachdem das Gericht bereits im Jahre 1975 im Urteil zu den Ostverträgen mit der Sowjetunion und Polen die politischen und territorialen Realitäten des Kalten Krieges anerkannt hatte, ging der Teso-Beschluss nun noch einen Schritt weiter.97 Das Teso-Urteil bot einer neuen Generation von VerfassungsrichterInnen die Chance, die verfassungsrechtlichen Parameter der Deutschlandpolitik neu zu bestimmen. Im Jahr 1987 erschienen alte staatsrechtliche Erklärungsmuster nicht länger zeitgemäß und abseits der internationalen Entwicklung zwischenstaatlichen Rechts. Um dies unter den veränderten Bedingungen des Kalten Krieges, nach der Entspannungspolitik der siebziger Jahre und der Etablierung der neuen Sicherheitsarchitektur der Schlussakte von Helsinki zu ermöglichen, spielte das Staatsgebiet des Deutschen Reiches »in den Grenzen von 1937« im 94 Siehe: Gehrig, Recht im Kalten Krieg. 95 Für den Balanceakt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Staatsnachfolgefrage in den fünfziger Jahren siehe: Gehrig, Recht im Kalten Krieg. 96 Für die Reaktion der CDU auf die Neue Ostpolitik siehe: Andreas Grau, Gegen den Strom – Die Reaktion der CDU/CSU-Opposition auf die Ost- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition 1969–1973, Düsseldorf 2005. 97 Siehe hierzu: Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, S. 285–289.

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Teso-Beschluss keine große Rolle mehr. Der Fokus auf das Deutsche Reich in seinen Vorkriegsgrenzen, bevor die Nationalsozialisten ihre expansive Territorialpolitik in der Münchner Konferenz von 1938 umzusetzen begannen, klang in vielen westdeutschen Ohren und für die internationale Öffentlichkeit zunehmend revanchistisch. Die Übernahme finanzieller und rechtlicher Verantwortung des Reiches durch die Bundesrepublik war Beweis genug für die Staatsnachfolge Westdeutschlands. In einem dürren, aber gewichtigen Satz erkannte das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit einer dauerhaften Teilung an. Die Staatsnachfolge des Reiches durch die Bundesrepublik sei auch dann dauerhaft eingetreten, sollten Teile des ehemaligen Deutschen Reiches »permanent« ihren souveränen Status ändern. Damit war die deutsche Teilung nun auch juristisch als dauerhafte Möglichkeit endgültig anerkannt.98 Um sich vom bisherigen Fokus auf eine territoriale Formel zu lösen, verschob des Bundesverfassungsgericht den Schwerpunkt der Bestimmung des deutschdeutschen Verhältnisses auf den individuellen Menschen. Die Garantie einer deutschen Staatsangehörigkeit mit Bedeutung über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus, wie im Falle Tesos, so das Gericht, war eine normative Entscheidung. Da auch das Bundesverfassungsgericht nicht bereit war, die letzte Verbindung zwischen den beiden Staaten und damit eine einheitliche deutsche Staatsangehörigkeit für komplett nichtig zu erklären, obwohl die Bundesrepublik keine juristischen Mittel mehr außerhalb des eigenen Landes hatte, dieser Auffassung auch Gewicht zu verleihen, verlegte sich das Gericht alleinig auf die Forderung nach freien und geheimen Wahlen für die Ostdeutschen, um die deutsche Frage in freier Selbstbestimmung abschließend zu lösen.99 Dieser neue Fokus auf das Recht auf Selbstbestimmung konnte in den achtziger Jahren nicht mehr ohne die Anerkennung der rechtlichen Souveränität der DDR vollzogen werden. Das Gericht kam nicht umhin, geltendes DDR-Recht als legitimes ausländisches Staatsrecht zu akzeptieren.100 Das Bundesverfassungsgericht veränderte damit auch die Stellung ostdeutscher Behörden für die westdeutsche Gerichtsbarkeit und Behörden. Nachdem westdeutsche Gerichte seit den fünfziger Jahren die Legitimität ostdeutscher Gerichte und Behörden generell bestritten hatten, hob das Gericht nun die Gleichstellung ost- und westdeutscher Institutionen hervor. Dabei betonten die RichterInnen jedoch die demokratischen Grundrechte, die im Grundgesetz verankert waren und damit eine freiheitliche ordre public in der Bundesrepublik garantierten, die so in der DDR nicht existierte. Nachdem entkolonialisierte Staaten das Selbstbestimmungsrecht als Hebel für die Anerkennung ihrer internationalen Souveränität in 98 BVerfGE 77, 137, 155f. 99 BVerfGE 77, 137, 150f. 100 BVerfGE 77, 137, 153f.

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den sechziger und siebziger Jahren benutzt hatten, wovon auch die DDR profitiert hatte, hatten die von den USA seit Ende der siebziger Jahre angeführten Menschenrechtsinitiativen innerhalb der Vereinten Nationen erneut die Selbstbestimmung des Individuums betont.101 In dieser gewandelten Atmosphäre betonte nun das Bundesverfassungsgericht, dass eine legitime Lösung der deutschen Frage eben auf der Ausübung des individuellen Menschenrechts zur Selbstbestimmung der Ostdeutschen beruhen müsse. Durch das Teso-Urteil schloss sich die Verfassungsgerichtsbarkeit über ein Jahrzehnt nach Abschluss der Ostpolitikverträge endgültig der Entspannungspolitik der siebziger Jahre an. Da die Mehrheit der Westdeutschen erwartete, dass die Teilung über ihr eigenes Leben hinaus weiterbestehen würde, was auch im Urteil durchschien, betonte das Bundesverfassungsgericht, dass eben aus diesem Grund die Staatsbürgerschaft der DDR anerkannt werden müsse, da sonst ein weiteres Auseinanderleben der beiden Staaten nur noch wahrscheinlicher sei. Da das Gericht einmal mehr eine Quadratur des Kreises versuchte, um einerseits internationalen Rechtsnormen und der Helsinki-Schlussakte Genüge zu tun, aber anderseits auf ein deutsch-deutsches Band in der Anerkennung der DDRStaatsbürgerschaft als »Teil« der deutschen Staatsangehörigkeit bestand, gab es schnell wissenschaftliche Kritik an dieser Widersprüchlichkeit des Urteils.102 Die Urteilsbegründung operierte immer noch mit den Begriffen der »Teilidentität« zwischen Bundesrepublik und Deutschem Reich. Daneben akzeptierte das Gericht die Souveränität der DDR. Aber wie konnten damit ostdeutsche Gerichte immer noch »deutsche« Gerichte sein? Das Grundlagenvertragsurteil hatte die Souveränität und Institutionen des Reiches und der Bundesrepublik als »identisch« betrachtet, um die Legitimität der DDR als unabhängiger Staat zu bestreiten. Nun nahm das Bundesverfassungsgericht an, dass ostdeutsche Gerichte, Staatsbürgerschaft und Souveränität unabhängig von der Bundesrepublik waren, aber Entscheidungen ostdeutscher Gerichte und Behörden immer noch als »deutsche« Hoheitsakte zu werten waren, die in der Bundesrepublik Gültigkeit beanspruchen konnten.103 Damit etablierte das Teso-Urteil eine ebenso wider-

101 Zum historischen Kontext des Rechts auf Selbstbestimmung und dessen Politisierung in der internationalen Menschenrechtspolitik siehe: Eric D. Weitz, Self-determination – How a German Enlightenment Idea Became the Slogan of National Liberation and a Human Right, American Historical Review 120, 2 (2015), 462–496, hier 489–496; Jörg Fisch, The Right of Self-Determination of People – The Domestication of an Illusion, Cambridge 2015, S. 190– 217; Gehrig, Reaching Out to the Third World; Slaughter, Hijacking Human, 735–775. 102 Siehe: Juliane Kokott, Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Einbürgerungen in die DDR, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 7 (1988), 799–802. 103 BVerfGE 77, 137, 151.

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sprüchliche Logik wie das Grundlagenvertragsurteil, nur war es von einem anderen politischen Impetus getragen.104 Der Teso-Beschluss war daher erneut ein janusköpfiges Urteil. Es erforderte einige Kreativität, um das oft als revanchistisch kritisierte Grundlagenvertragsurteil von 1973 endgültig zu revidieren.105 Jedoch offenbarte die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft und deren Rechtskraft für die Bundesrepublik bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Teilidentität der Bundesrepublik mit dem Deutschen Reich einmal mehr die Spannungen, die der Druck nationaler Rhetorik am rechtskonservativen und rechtsradikalen Rand seit den siebziger Jahren immer noch auf die westdeutsche Gesellschaft ausübte. Das Gericht erreichte zwar eine Herleitung des Urteils, die die Richtlinienurteile der vergangenen drei Jahrzehnte miteinschloss.106 Der Preis hierfür war jedoch die umgehende fachwissenschaftliche Kritik an der Widersprüchlichkeit der Urteilsargumentation. Das Urteil beendete im Resultat ein für alle Mal die juristische Logik der kompletten Nichtanerkennung, die Verfechter der Kontinuitätstheorie und staatsrechtlichen Identitätstheorie zwischen dem Deutschen Reich und der Bundesrepublik seit den fünfziger Jahren in der Staatsrechtslehre und Verfassungsgerichtsbarkeit etabliert hatte.107 Der Wille der Ostdeutschen in freier und geheimer Selbstbestimmung die Zukunft Deutschlands zu entscheiden ersetzte in den letzten Jahren der deutschen Teilung alte staatsrechtliche Argumente eines Rechtsanspruches der Bundesrepublik.108

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Schlussbemerkungen

Das Teso-Urteil war zugleich Ausdruck einer verfassungsrechtlichen Neujustierung der deutschen Teilung als auch eine Reaktion auf eine zunehmende gesellschaftliche Abwehrhaltung gegenüber Einwanderung und Einbürgerung in der Bundesrepublik. Nachdem die »Gastarbeiter« offiziell lange Zeit nur als temporäre notwendige Arbeitskräfte gesehen wurden und nicht als MigrantInnen, bildet sich in der ab den siebziger Jahren an Schärfe zunehmenden Debatte um Asylsuchende eine wachsende generelle Abwehrhaltung gegenüber Einwanderung und Einbürgerung ab. Nachdem 1970 nur circa 10.000 Menschen Asyl in der Bundesrepublik beantragten, waren es 1980 schon 100.000. Bis ins Jahr 104 Zur wissenschaftlichen Rezeption des Urteils siehe: Hofmann, Staatsangehörigkeit im geteilten Deutschland. 105 Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, S. 294. 106 Siehe: Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, S. 180–301; Gehrig, Recht im Kalten Krieg. 107 BVerfGE 77, 137, 157f., 160f. 108 BVerfGE 77, 137, 160f.

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1992, als im Asylrecht der Anspruch auf ein vom Staat zu garantierendes Recht auf politisches Asyl – eine Lehre der Zeit des Nationalsozialismus – aufgegeben wurde, waren es 438.000 Menschen. Danach fiel die Anzahl politisch Asylsuchender bis zum Beginn der Flüchtlingswelle aus den Kriegsgebieten in Syrien wieder auf circa 30.000 Menschen pro Jahr.109 Die in diesem Kapitel diskutierten historischen Entwicklungen und die praktische Anwendung des Staatsangehörigkeitsrechts trugen dazu bei, dass das ethno-kulturelle Paradigma in der Bestimmung der »Deutschenfähigkeit« trotz lauter werdender Rufe einer Modernisierung dieser Rechtsnormen die westdeutsche Rechtswirklichkeit und politische Debatte weiter dominierten.110 Dieses zunehmend feindliche Umfeld für MigrantInnen spiegelte sich in der behördlichen und ministerialen Behandlung Tesos als Ausländer. Der Fall Teso verdeutlicht auch die sich verschiebenden Prioritäten der Bundesregierung in der Deutschlandpolitik während der siebziger und achtziger Jahre, die nun vielleicht sogar zeitweise mehr von ökonomischen als deutschlandpolitischen Überlegungen getrieben waren. In Reaktion auf die gesellschaftliche Stimmung am Ende der achtziger Jahre verschob das Bundesverfassungsgericht vorsichtig die Grundpfeiler der deutschen Staatsangehörigkeit innerhalb der rechtlichen Logik des Kalten Krieges. Seit den sechziger Jahren hatten sich gesellschaftliche Auffassungen von Bürgerrechten gewandelt. Die Rechte des einzelnen Menschen wurden zunehmend von Menschenrechtskonzepten beeinflusst, die über klassische deutsche staatsrechtliche Ideen der Grundrechte als Schutzrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat hinausgingen. Dies hatte zugleich Einfluss auf Konzepte legitimer Staatlichkeit. Die Hervorhebung des individuellen Selbstbestimmungsrechts der Ostdeutschen zu freien und geheimen Wahlen zur Lösung der deutschen Frage, und so auch zur erneuten Beantwortung der Frage des Verhältnisses von deutscher Staatsangehörigkeit und DDR-Staatsbürgerschaft, reflektierte zugleich sich wandelnde staatsrechtliche Ansichten zum deutschdeutschen Verhältnis. Nicht länger die erfolgreiche Übernahme der Staatlichkeit des Deutschen Reiches durch den einen oder anderen deutschen Staat dominierte die westdeutsche Diskussion, sondern die Verwurzelung staatlicher Legitimität in der Unterstützung der BürgerInnen für ihren Staat drückten die moralische und juristische Legitimität des Staatswesens aus.111 109 Wesel, Gang nach Karlsruhe, S. 323–326. 110 Klusmeyer/Papademetriou, Immigration Policy in the Federal Republic of Germany, S. 141. 111 Für die Wurzeln des lange andauernden Kampfes zwischen staats- und gesellschaftszentrierten Ideen des Staates in der Bundesrepublik siehe: Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949– 1970, München 2004. Für die sich wandelnden Ideen von Gesellschaft, die auch die juristische Debatte um den Staat beeinflussten siehe: Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen

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Die deutsche Einheit hatte keine unmittelbar transformierende Wirkung auf die rechtlichen Parameter der deutschen Staatsangehörigkeit. Zwar trat am 1. Januar 1991 endlich ein neues Gesetz in Kraft, dass MigrantInnen mehr Rechtssicherheit – vor allem für deren Aufenthaltsrechte – verschaffte. Das unter Federführung von Wolfgang Schäuble erarbeite Gesetz nahm nun endlich Abstand von der Idee einer Reduzierung der in der Bundesrepublik lebenden Menschen mit Migrationshintergrund. Zwar konnte sich die CDU/CSU immer noch nicht zur offiziellen Anerkennung einer Einwanderungspolitik durchringen – die »Gastarbeiter« wurden nun als historischer Ausnahmefall deklariert – aber das Gesetz erleichterte es jungen Menschen zwischen 16 und 23 Jahren aus zweiter oder dritter Generation, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erlangen.112 Nach dem Wegfall der deutschlandpolitischen Probleme dauerte es bis zur Jahrtausendwende, um das deutsche RuStAG zu modernisieren, das nunmehr Staatsangehörigkeitsgesetz heißt. Obwohl doppelte Staatsangehörigkeit weiterhin ein Zankapfel geblieben ist und vor allem türkischstämmige MitbürgerInnen vor die schwierige Wahl entweder der deutschen oder türkischen Staatsangehörigkeit gestellt bleiben, wurden mit der Reform von 1999/2000 zumindest Elemente des jus soli dem bis dahin ethnisch geprägten deutschen Staatsangehörigkeitsrecht hinzugefügt. Damit resultierten einige der seit den siebziger Jahren schwelenden westdeutschen Kontroversen in politischen Reformen.113 Weiterführende Forschungen werden zu klären haben, ob und in welcher Weise die in der DDR seit 1967 entstandenen Rechtstraditionen einer Staatsbürgerschaft Einfluss auf das vereinte Deutschland genommen haben. Zumindest linguistisch scheint der Begriff der Staatsbürgerschaft in den Medien und gesellschaftlichen Debatten den eigentlichen juristischen Begriff der Staatsangehörigkeit abgelöst zu haben. Damit ist die juristische und zeithistorische Bedeutung des Teso-Urteils jedoch nicht an ihr Ende gekommen. In den letzten Jahren haben rechtskonservative und rechtsradikale AktivistInnen die »verfassungsrechtliche Pflicht, die Identität des deutschen Staatsvolkes zu erhalten«, die im Teso-Urteil als Teil der weiterbestehenden Zugangsrechte von Ostdeutschen zur deutschen Staatsangehörigkeit genannt wurde, aus ihrem deutschlandpolitischen historischen Kontext gelöst. Mitglieder der Identitären Bewegung versuchen ähnlich wie sogenannte »Reichsbürger« mit selektiven und aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten aus Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, nationalistische und ras-

Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 208–390. 112 Klusmeyer/ Papademetriou, Immigration Policy in the Federal Republic of Germany, S. 115. 113 Ibid., S. 197–206.

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sistische Argumente wie das eines angeblichen »Volkstods« zu konstruieren.114 Um einer solchen politischen Agitation von rechts entgegenzutreten, erscheint eine weitergehende Beschäftigung mit der juristischen Zeitgeschichte der achtziger Jahre heute dringender geboten als jemals zuvor.

114 Hierzu z. B. »Identität: Angeblicher Verfassungsauftrag«, Frankfurter Rundschau (13. 07. 2017), https://www.fr.de/politik/angeblicher-verfassungsauftrag-11024520.html; Rechtsradikalismus – Die Mär vom »Volkstod«, Frankfurter Rundschau (28. 01. 2017), https://www.f r.de/politik/volkstod-11055880.html.

Freia Anders / Alexander Sedlmaier

Legitimationsdiskurse und Gewaltbegriffe: Die Gewaltkommissionen der BRD, 1977–1990

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Einleitung

Anfang Februar 1982 unternahmen die Mitglieder der Enquêtekommission »Jugendprotest im demokratischen Rechtsstaat« des Bundestages eine symbolträchtige Reise nach West-Berlin. Auf dem Programm standen ein Gespräch mit dem Regierenden Bürgermeister Richard von Weizsäcker (CDU) und eine Diskussionsrunde beim Präsidenten des Abgeordnetenhauses. Die Kommissionsmitglieder besuchten aber auch Projekte des sogenannten alternativen Milieus, die teilweise bis heute existieren: das Tommy-Weisbecker-Haus, ein selbstverwaltetes Wohnkollektiv für obdachlose Jugendliche, das 1973 aus einer Hausbesetzung hervorgegangen war, den 1977 gegründeten freien Jugendhilfeträger Werkschule Berlin e.V., die Redaktion der aus der linken Gegenöffentlichkeit der 1970er Jahre hervorgegangenen Zeitschrift Zitty sowie ein Frauenselbsthilfeprojekt. Im Mittelpunkt der Exkursion stand eine Stadtrundfahrt durch die Stadtteile Kreuzberg und Schöneberg, Hochburgen der Hausbesetzer, mit denen die Kommission ins Gespräch kommen wollte. Auf beiden Seiten bestand im Vorfeld Uneinigkeit darüber, ob man den »Dialog« aufnehmen sollte.1 Der Schöneberger Besetzerrat sah sich der Kritik eines Teils der äußerst heterogenen Hausbeset-

1 Der »Dialog mit der Jugend« war zu Beginn der 1980er Jahre eine Parole, die Politiker aller Couleur ausgaben. Die Enquêtekommission »Jugendprotest im demokratischen Rechtsstaat« sah sich dieser gegenüber in der Verpflichtung, erkannte jedoch, dass sie bei den Adressierten auf Misstrauen stieß. Die Distanz gegenüber dem Dialog wird in der ironischen Aneignung des Begriffes über die Alternativmedien hinaus deutlich. Deutscher Bundestag 9. Wahlperiode, Bericht der Enquête-Kommission »Jugendprotest im demokratischen Staat« gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 26. 5. 1981, Drucksache 9/41 v. 17. 1. 1983, weiterhin zit. als Endbericht, S. 21. Zeitgenössische Verwendungsweisen siehe z. B. Wolfgang Ebert, Dialog mit der Jugend, Die Zeit (13/1981) v. 20. 3. 1981; Besetzer-Post Berlin (15/1981), S. 15, 35; Keine Antwort gekriegt, Der Spiegel, 9. 11. 1981; Helmut Ortner (Hrsg.), Keiner fragt – Politiker antworten – Jugendliche zum »Dialog mit der Jugend«, Frankfurt a.M. 1985.

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zerbewegung ausgesetzt,2 der provokant forderte, diejenigen sollten bei den Gesprächen anwesend sein, die aufgrund von im Rahmen der Besetzerbewegung begangenen Strafdelikten in Berliner Gefängnissen einsaßen. Während Gerhard Schröder, als ehemaliger Juso-Vorsitzender für die SPD in die Kommission berufen, den Besuch beim Schöneberger Besetzerrat für »das Wichtigste« hielt, warnte der Landesvorsitzende der Jungen Union Bayerns, Alfred Sauter, vor dem »institutionalisiertem Gespräch«, da der Besetzerrat lediglich ein »spektakuläres Ereignis suche«.3 Dass ein Gespräch überhaupt zustande kam, werteten die Kommissionsmitglieder dennoch als erfolgreichen Schritt in einer Situation, die von massiven Spannungen zwischen sozialen Bewegungen und etablierten politischen Institutionen gekennzeichnet war und in der konfrontativ oder gewaltförmig verlaufende Proteste die öffentliche Debatte bestimmten, auch wenn diese nur einen Bruchteil des Protestgeschehens ausmachten.4 Die Einberufung einer Kommission, die Phänomene politischer Gewalt analysieren sollte, war kein Einzelfall. Seit den 1960er Jahren hatten Regierungen der westlichen Welt immer wieder das Bedürfnis, Gewalterfahrungen und -diskursen mit Expertise zu begegnen. Erstmals nach den sogenannten »Rassenunruhen« Mitte der sechziger Jahre in den USA, später auch in Westeuropa, Australien und Neuseeland wurden wiederholt Expertenkommissionen berufen, die Fragen nach den Ursachen von gewaltförmigen Ausprägungen politischen Protests nachgehen und Ratschläge erteilen sollten, wie der innere Friede wiederhergestellt werden könne.5 In der Bundesrepublik wurden neben der Enquêtekom2 Zur Berliner Hausbesetzerbewegung siehe: Freia Anders, Wohnraum, Freiraum, Widerstand: Die Formierung der Autonomen in den Konflikten um Hausbesetzungen Anfang der achtziger Jahre, in: Sven Reichardt/Detlef Siegfried (Hrsg.), Das alternative Milieu – Unkonventionelle Lebensentwürfe und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa 1968–1983, Göttingen 2010, S. 473–498. 3 Ablauf Berlin-Besuch, Protokoll Nr. 10, 18. 1. 1982, Parlamentsarchiv des Bundestages (PABT), 3406-1 Enquêtekommission »Jugendprotest im Demokratischen Staat«, 1981–1983. 4 Folgt man den Ergebnissen von Rucht zur Entwicklung und Struktur konfrontativer und gewaltförmiger Proteste in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik lagen die Höhepunkte konfrontativer Proteste (13,1 Prozent aller Protestereignisse) in den achtziger Jahren; gegenüber den siebziger Jahren verdoppelte sich der Anteil gewaltförmiger Proteste (10,3 bzw. 5,2 Prozent). Qualitative Gewaltindikatoren wie die Höhe des Sachschadens oder die Anzahl der Verletzten und der Festnahmen nahmen zu. Dabei ist jedoch zu betonen, dass der Anteil der Beteiligten an konfrontativen und gewaltförmigen Aktionstypen (0,5 bzw. 0,1 Prozent) in Relation zu allen in den achtziger Jahren an Protestaktionen Beteiligten marginal war. Dieter Rucht, Konfrontation und Gewalt. Verlauf, Struktur und Bedingungen unfriedlicher politischer Proteste in der Bundesrepublik, in: Jürgen Gerhards/Ronald Hitzler (Hrsg.), Die Eigenwilligkeit sozialer Prozesse – Festschrift zum 65. Geburtstag von Friedhelm Neidhardt, Opladen 1999, S. 352–378, S. 356ff. 5 Helmut Willems/Marianne Wolf/Roland Eckert, Soziale Unruhen und Politikberatung – Funktion, Arbeitsweise, Ergebnisse und Auswirkungen von Untersuchungskommissionen in den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik, Opladen 1993; Hans-Dieter schwind/ Jürgen Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt – Analysen und

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mission »Jugendprotest« zwei weitere interdisziplinäre Arbeitsgruppen ins Leben gerufen, in denen Juristen ihre Perspektiven auf die Proteste der »neuen« sozialen Bewegungen mit Sozial- und Politikwissenschaftlern sowie Psychologen und Psychiatern verhandelten: die im Auftrag der Konferenz der Innenminister der Länder 1977 gebildete Projektgruppe »Analysen zum Terrorismus« sowie die zehn Jahre später geschaffene »Unabhängige Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt«, kurz: »Gewaltkommission«. Bisher sind die Kommissionen, deren Expertisen zu Quellen der sozialwissenschaftlichen und historischen Erforschung von politischer Gewalt geworden sind, selbst kaum Gegenstand der Forschung.6 Waren die Ergebnisse und Arbeitsweisen der Kommissionen zeitgenössisch unter Wissenschaftlern umstritten, wurde ihre Bedeutung ex post allenfalls von beteiligten Wissenschaftlern hinsichtlich des Erfolges ihrer Beratungstätigkeit beschrieben. Insbesondere der ehemalige Vorsitzende der »Gewaltkommission« Hans-Dieter Schwind, Professor für Kriminologie und Strafvollzug an der Ruhr-Universität Bochum, und der ehemalige Vorsitzende der Unterkommission Soziologie, Roland Eckert, Professor für Soziologie an der Universität Trier, wurden nicht müde, auf ihre Bedeutung zu verweisen.7 Eine frühe Bilanz des Begründers der bundesrepublikanischen Kritischen Kriminologie Fritz Sack, Projektleiter im Forschungsverbund der Analysen zum Terrorismus, fiel dagegen ernüchternd aus.8

Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission), Bd. 3: Sondergutachten: Auslandsgutachten und Inlandsgutachten, Berlin 1990. 6 Die Unterlagen zu dem Forschungsverbund Analysen zum Terrorismus sind im Bundesarchiv Koblenz einsehbar, wenn auch unvollständig. Der Einblick in die Interna der Gewaltkommission ist leider nicht möglich, da die Akten durch das Bundesarchiv, obwohl vorhanden und bereits mit Signaturen versehen, laut Auskunft vom Sommer 2019 kassiert werden. 7 Hans-Dieter Schwind, Hat die (Anti-)Gewaltkommission vergeblich gearbeitet? Zur Akzeptanz und zum Stand der Implementierung ihrer 158 Vorschläge zur primären und sekundären Kriminalprävention, Die Kriminalprävention 4 (2000), S. 45–54, S. 52; Schwind, Zu Akzeptanz und Umsetzungsstand der Vorschläge der (Anti-) Gewaltkommission der Bundesregierung – Ein Überblick auf dem exemplarischen Wege, in: ders. u. a. (Hrsg.), Festschrift für Hans-Joachim Schneider zum 70. Geburtstag am 14. November 1998 – Kriminologie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Berlin 1998, S. 813–846; Roland Eckert/Helmut Willems, Gewaltforschung und Politikberatung – Die Kommissionen, in: Wilhelm Heitmeyer/HansGeorg Soeffner (Hrsg.), Gewalt – Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme, Frankfurt a.M. 2004, S. 525–544; Roland Eckert/Anette Schumacher/Helmut Willems, Im Schatten der Geschichte – Die (vergessene) »Gewaltkommission« der Bundesregierung (1987–1990), Zeithistorische Forschungen 15,2 (2018), S. 369–382, DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok.4.1188 [20. 10. 2020]. 8 Fritz Sack, Die Kriminologie im Dienste der Verarbeitung politischer Kriminalität – Erfahrungen im Dreieck von Staat, Politik und Wissenschaft, in: Manfred Brusten/Josef M. Häußling/Peter Malinowski (Hrsg.), Kriminologie im Spannungsfeld von Kriminalpolitik and Kriminalpraxis, Stuttgart 1986, S. 2–24.

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Versteht man die Kommissionen als Schnittstellen zwischen sozialer Bewegungsforschung und Gewaltforschung (auf der Objektseite) sowie (auf der Akteursseite) zwischen Wissenschaftsgeschichte, Politikberatung sowie der Theorie und Praxis politischer Legitimation, bieten sie einen Forschungsgegenstand anhand dessen sich Gewaltdiskurse der langen 1980er Jahre ausloten lassen. Darüber hinaus lässt sich zeigen, wie im Ringen um Definitionsmacht enge Verflechtungen zwischen Staat und Wissenschaft entstanden. Die Legitimation gewaltförmigen politischen Handelns – einerseits aus der Protestpraxis der Bewegungsakteure hervorgehende Delikte wie Widerstand gegen die Staatsgewalt, Landfriedensbruch, Nötigung oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung; andererseits der physische Einsatz der Staatsgewalt und deren juristische Verankerung etwa bei Eingriffsrechten der Polizei bei Demonstrationen und Räumungen, dem Vermummungsverbot oder der Kronzeugenregelung – war zentraler Bestandteil der Auseinandersetzung zwischen Bewegungsaktivisten und staatlichen Behörden. Einen methodischen Ansatz zur Erklärung der Tätigkeit von staatlichen Gewaltkommissionen sowie der Erfolge bzw. Misserfolge ihrer politischen Kommunikationsstrategien bietet die Analyse inverser Gewaltlegitimationen, also der Interaktion konkurrierender Gewaltnarrative, -definitionen und -diskurse, die bestrebt sind, sich gegenseitig zu negieren, wie sie der US-amerikanische Soziologe David Apter vorgeschlagen hat. Ausgehend von der Prämisse, dass Gewalt als ubiquitäres Phänomen der Legitimation durch Bezugnahme auf überindividuelle Einheiten bedarf, entwickeln soziale Bewegungen nach Apter dann Macht, wenn sie aus ihrer Interpretation politisch polarisierender Ereignisse »symbolisches Kapital« beziehen.9 Die Kommissionen erscheinen somit als Versuch der zunächst gegenüber neuen und ungewohnten Arten politischer Kommunikation relativ hilflosen staatlichen Autoritäten, auf diese eine adäquate Antwort zu finden und ihr symbolisches Kapital zu brechen bzw. umzuleiten. Da die »Gewaltfrage« immer auch unmittelbar Rechtsfragen berührt, stellt sich die Frage nach der Rolle juristischer Expertise, die hier im Mittelpunkt stehen soll. Insbesondere die Unabhängige Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt versuchte Ende der 1980er Jahre zur Klärung von Rechtsfragen beizutragen.

9 David Apter, Political Violence in Analytical Perspective, in: ders. (Hrsg.), The Legitimization of Violence (New York 1997, S. 5–15. Siehe zu Apters Ansatz: Alexander Sedlmaier, Konsum und Gewalt – Radikaler Protest in der Bundesrepublik, Berlin 2018, S. 30–32.

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Ex-post sind sich beteiligte Regierungsbeamte, Politiker und Wissenschaftler, die ihre Verdienste auch Jahrzehnte später noch hervorheben, weitgehend einig: Die »Einsetzung der Gewaltkommission 1987/88 durch die Bundesregierung« erscheint als »Meilenstein auf dem Weg zu einem geplanten, strukturierten und zielorientierten Dialog zwischen den Ministerien, den Bundes- und Landeskriminalämtern sowie Vertretern aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen.«10 In einem 2018 erschienenen Aufsatz postulieren die Autoren um Eckert die »Relevanz der Gewaltkommission für die Entwicklung der wissenschaftlichen Politikberatung«, die dazu beigetragen habe, die »öffentliche Wahrnehmung [zu] korrigieren.« »Auf der breiten Basis der Kommissionsarbeit«, so heißt es weiter, »waren Empfehlungen, die von der Verwaltung, der Justiz und von zivilgesellschaftlichen Einrichtungen wie der Straffälligenhilfe oder den Opferhilfeverbänden umgesetzt werden konnten, besser zu begründen als durch isolierte Einzelfallanalysen.«11 Mit Einsetzung der Kommission sei die Kriminalprävention zu einem »neue[n] Handlungs- und Politikfeld« geworden.12 Zwar beklagt die Kriminologin Wiebke Steffen – Mitarbeiterin des Bayerischen Landeskriminalamts und koordinierende Redakteurin der Arbeitsgruppe zu Polizei und Recht innerhalb der Kommission – in einem Rückblick aus dem Jahr 2014, dass die »Gutachten der Gewaltkommission ebenso wie die [aus ihr hervorgegangenen] Periodischen Sicherheitsberichte auf die Kriminalpolitik auf Bundesebene praktisch keinen Einfluss« gehabt hätten, da sich die Politik gegenüber Interventionen von Wissenschaftlern »taub« stelle,13 doch macht auch sie Fortschritte aus. So sei die 2001 erfolgte Gründung des Deutschen Forums für Kriminalprävention (DFK), einer an das Innenministerium angebundenen, privatrechtlichen Stiftung, ein gelungenes Bespiel für »Vernetzung und Kooperation […] als zentrale Voraussetzungen für gelingende Gewaltprävention.«14 Auch andere sozialwissenschaftliche Forschungsinstitute, wie z. B. das Deutsche Jugendinstitut, deklamieren die konsensuale Kooperation zwischen Wissenschaft und

10 Eckert/Schumacher/Willems, Im Schatten der Geschichte, S. 382. 11 Ebd., S. 388. 12 Wiebke Steffen, 25 Jahre Gewaltprävention in Deutschland – Stand und Perspektiven (Eröffnungsvortrag), 2014, 2. https://www.gewalt-praevention.info/html/download.cms?id= 124&datei=Steffen-Eroeffnung.pdf [20. 10. 2020]. 13 Steffen, Gewaltprävention, S. 5f. Wiebke Steffen wechselte 1978 vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Forschungsgruppe Kriminologie, in Freiburg zum Bayerischen Landeskriminalamt in München. Dort baute sie die Kriminologische Forschungsgruppe der Bayerischen Polizei auf, die sie bis 2002 leitete. 14 Ebd., S. 16.

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Politik: »Es entstanden neue Formen der Zusammenarbeit und Gremien«.15 Bereits 1994 hielt der ehemalige Vorsitzende der Gewaltkommission, HansDieter Schwind, über fünfzig Prozent der eingebrachten Vorschläge für umgesetzt. Stolz verwies er darauf, dass die Kritiker »verstummt« seien und berief sich auf Reinhard Rupprecht, Ministerialdirektor im Bundesministerium des Innern, der ihm geschrieben hatte, die Ergebnisse der Kommission seien aufgrund einer eigens durchgeführten »Adressatenbefragung« weiterhin »Grundlage für Entscheidungen«.16 Sechs Jahre später konnte Schwind vermelden, das BMI halte die Empfehlungen der Gewaltkommission auch unter der neuen rot-grünen Bundesregierung mit Innenminister Otto Schily »nach wie vor [für] aktuell«.17 Die Gewaltkommission hatte ihre Arbeit im Februar 1988 unter der Leitung Schwinds begonnen. In dessen Amtszeit als niedersächsischer Justizminister war im Juli 1978 die Sprengung des sogenannten Celler Lochs gefallen, die, wie man mittlerweile wusste, die Aktion Feuerzauber des niedersächsischen Verfassungsschutzes zur Vortäuschung eines Anschlags der RAF war.18 Als Stellvertreter wurde Schwind der FDP-Politiker und Tübinger Strafrechtswissenschaftler Jürgen Baumann an die Seite gestellt, der von 1976 bis 1978 Justizsenator in Berlin war. Die knapp 40 Mitglieder der Kommission rekrutierten sich aus Wissenschaftlern, Richtern, Staatsanwälten, Ministerial- und Polizeibeamten. Es gab Unterkommissionen zu Kriminologie, Soziologie, Psychiatrie und Psychologie, Öffentlichem Recht, Strafrechtstheorie, Strafrechtspraxis und Polizeipraxis. Zu den Unterkommissionsvorsitzenden zählte der bundesweit durch seine rechtspolitischen Interventionen bekannte ehemalige Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen und Präsident des Oberlandesgerichts Braunschweig, Rudolf Wassermann. Eine der ersten Aufgaben, die sich die Gewaltkommission stellte, war die Begriffsbestimmung. Dabei gingen die Beteiligten von zwei grundlegenden Problemen aus: (1) Der Gewaltbegriff sei de facto ein »Kampfbegriff« im politischen Feld. (2) Die Ausweitung des Gewaltbegriffes, die mit den Schlagworten Entmaterialisierung und Vergeistigung verbunden ist, entspreche nicht dem 15 Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hrsg.): Strategien der Gewaltprävention im Kindes- und Jugendalter – Eine Zwischenbilanz in sechs Handlungsfeldern, München 2007, S. 283, zitiert nach Steffen, Gewaltprävention, S. 17. 16 Hans-Dieter Schwind, Die Empfehlungen der (Anti-)Gewaltkommission – und was aus ihnen geworden ist, DVJJ-Journal 146 (2/1994), 114–120, 120; ders., Zu Akzeptanz und Umsetzungsstand, S. 816. 17 Schwind, Hat die (Anti-)Gewaltkommission vergeblich gearbeitet? S. 52. 18 Das Celler Loch wird im Bericht der Gewaltkommission nicht erwähnt, wie ein Kritiker genüsslich anmerkt: Ulrich Vultejus, Das Gutachten der Gewaltkommission, Demokratie und Recht (1990), S. 125–129, S. 129. Zu den Ereignissen aus journalistischer Perspektive Christa Ellersiek/Wolfgang Becker, Das Celler Loch – Geschichte einer Geheimdienstaffäre, Hamburg 1987.

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intuitiven und alltäglichen Verständnis von Gewalt.19 Von Beginn an legte die Kommission definitorisch fest: »[A]us der Sicht des staatlichen Gewaltmonopols […] soll es primär um Formen physischen Zwangs als nötigender Gewalt sowie Gewalttätigkeiten gegen Personen und/oder Sachen unabhängig von Nötigungsintentionen gehen. Ausgeklammert werden sollen die psychisch vermittelte Gewalt im Straßenverkehr und die strukturelle Gewalt.«20 Dem Gesetzgeber und der Rechtsprechung empfahl sie ausdrücklich einen restriktiven Gewaltbegriff. Zur politisch motivierten Gewalt entwickelte die Kommission 22 Thesen und 66 Vorschläge, die von der Rechtserziehung an Schulen bis zur Erweiterung polizeilicher Eingriffsbefugnisse reichten.21 Diese umfassten ein gutes Drittel der Gesamtheit der von der Gewaltkommission unterbreiteten Vorschläge zu verschiedenen Erscheinungsformen von Gewalt – inklusive Gewalt in Familie und Schule, im Stadion sowie auf Straßen und Plätzen – wobei der Terrorismus schon im Auftrag der Regierung an die Kommission ausdrücklich ausgeklammert blieb, da mit Blick auf die Analysen zum Terrorismus keine neue »TerrorismusUntersuchung« vorgesehen war.22 Die Einsetzung der Gewaltkommission war bereits im März 1987 in den Koalitionsvereinbarungen zwischen CDU/CSU und FDP auf Vorschlag der FDP festgeschrieben und durch Kabinettsbeschluss der Bundesregierung vom Dezember 1987 umgesetzt worden und im Bundestag auf weitgehende Zustimmung gestoßen.23 Der Abgeordnete Wolfgang Lüder (FDP) bezog sich dabei im April 1987 in einer Bundestagsdebatte direkt auf die Ergebnisse der Enquête »Jugendprotest« und verlangte deren Fortführung. Sie sollte staatliches Handeln gegenüber den zeitgenössischen Protestbewegungen bezüglich der »Aufrechterhaltung des Gewaltmonopols des Staates […] für die Bürger einsichtig und 19 Hans-Dieter Schwind/Jürgen Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt – Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission). Bd. 1: Endgutachten und Zwischengutachten der Arbeitsgruppen, S. 35, 37f. 20 Ebd., S. 38. 21 Ebd., S. 202ff. 22 Ebd., S. 35. 23 Als Ursache für die Einsetzung der Gewaltkommission werden in der Literatur häufig die »Schüsse an der Startbahn« vom 2. 11. 1987, durch die zwei Polizisten getötet wurden, angegeben. Eckert/Schumacher/Willems, Im Schatten der Geschichte, S. 370, datieren diese fälschlich auf das Jahr 1986. So fügt sich die Kommission besser in die Argumentationskette von einer »Eskalation politisch motivierter Gewalt im Kontext der Neuen Sozialen Bewegungen« ein, welche die Verschärfung des Demonstrationsstrafrechtes notwendig erscheinen ließ. Die letztlich vom BGH als Totschlag gewürdigte Tat eines Startbahngegners hatte unmittelbar breite Ermittlungen und Anklagen nach §129a StGB (Bildung einer terroristischen Vereinigung) nach sich gezogen, die zu Auflösungserscheinungen innerhalb der Protestbewegung gegen die Erweiterung des Frankfurter Flughafens beitrugen. Entscheidung des BGH v. 26. 2. 1993, 3 StR 207/92.

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nachvollziehbar« zu machen.24 Justizminister Hans Engelhard (FDP) vertrat die Position, die Bildung der Kommission sei ein Mittel, einer »seit Jahren deutlich werdende[n] Erosion des Rechts« entgegenzuwirken, »die mit dem Wort vom zivilen Ungehorsam [Hervorhebung i.O.] gekennzeichnet ist«, dessen Vertreter – gemeint waren nicht zuletzt die Grünen – »eine höhere Legitimität gegenüber der nur formalen Legalität unserer Gesetze« beanspruchten.25 Die Grünen waren aus der Bundestagswahl vom Januar 1987 mit 8,3 Prozent der Wählerstimmen gestärkt hervorgegangen. Die parlamentarische Präsenz einer Partei, die in wichtigen Teilen auch die neuen sozialen Bewegungen repräsentierte, war somit auf Dauer gestellt. In derselben Debatte hielt die Grünen-Abgeordnete Antje Vollmer der Regierung vor, der Staat befinde sich in einer »Legitimationskrise«. Die Gewaltdebatte solle nicht deshalb wieder angefacht werden, »weil es zu viele Gewalttäter in dieser Gesellschaft gibt, sondern weil es einen massenhaften gewaltfreien Widerstand gibt.« Sie warf CDU-Generalsekretär Heiner Geißler vor, er nenne »das gewalttätig und Rechtsbruch, was ganz einwandfrei gewaltfrei« sei.26 Lediglich der parteilose Abgeordnete Thomas Wüppesahl, Mitbegründer der Vereinigung Kritischer Polizisten und bis 1987 für die Grünen im Bundestag, gab zu Bedenken, man könne die im Haushalt angesetzten 620000 DM für die Kommission einsparen, weil sie wohl kaum zu »Ergebnissen und Lösungen« kommen würde, die man nicht schon »im Rahmen der Diskussion um die Sicherheitsgesetze, um das Demonstrationsstrafrecht und die Vermummung […] erläutert« habe.27 In der Tat hatten viele der strittigen Fragen des Demonstrationsstrafrechts bereits den Weg in gesetzliche Regelungen gefunden, bevor die Gewaltkommission ihre Arbeit aufnahm.28 Den an der Debatte Beteiligten standen die Protestereignisse des Jahres 1986 lebhaft vor Augen. Bei den massiven Protesten gegen die Wiederaufbereitungs-

24 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Deutscher Bundestag gegen Gewalt und Rechtsbruch in der politischen Auseinandersetzung, Drucksache 11/83; Beratung des Antrags der Fraktion der SPD, Verteidigung der inneren Liberalität und Stärkung der Demokratie, Drucksache 11/17; Beratung des Antrags der Fraktion der SPD, Gewalt in Staat und Gesellschaft, Drucksache 11/116; Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, 8. Sitzung, Bonn, 2. 4. 1987. 25 Ebd., S. 364. 26 Ebd., S. 361f. 27 Änderungsantrag des Abgeordneten Wüppesahl zur zweiten Beratung des Entwurfs des Haushaltsgesetzes 1990, Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, Drucksache 11/5841, 27. 11. 1989, S. 1. 28 Kleine Anfrage der GRÜNEN, Pläne der Bundesregierung zur erneuten Änderung des Strafgesetzbuches und des Versammlungsgesetzes im Zusammenhang mit Demonstrationen, Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, Drucksache 11/692, 12. 8. 1987; Steffen, Gewaltprävention, S. 2.

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anlage Wackersdorf war es zu drei Todesfällen gekommen.29 Bei dem umstrittenen und schließlich für rechtswidrig befundenen Polizeieinsatz gegen Teilnehmer eines Demonstrationszugs zum Kernkraftwerk Brokdorf wurden 861 Personen bis zu 13 Stunden im »Hamburger Kessel« quasi in Vorsorgegewahrsam genommen.30 Im »Häuserkampf« um die Hamburger Hafenstraße kam es regelmäßig zu Großeinsätzen der Polizei, insbesondere als am 20. Dezember 1986 rund 12000 Menschen für den Erhalt der Häuser demonstrierten.31 Im Monat zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht in einer 4:4-Entscheidung geurteilt, dass Sitzblockaden vor militärischen Einrichtungen (wie seit 1983 bei den Protesten gegen die Stationierung von Pershing-Raketen auf der Mutlanger Heide) weiterhin als Nötigung (§ 240 StGB) bestraft werden könnten, allerdings hatte das Sondervotum eben dies verneint.32 Somit war eine entscheidende Wende in der Nötigungsrechtsprechung bei Blockaden, die seit dem Laepple-Urteil von 1969 im Sinne eines vergeistigten Gewaltbegriffs angewandt und erst 1995 untersagt wurde, denkbar knapp umgangen worden.33 Zweifelsohne zog sich ein Riss durch das juristische Feld. Die Gewaltkommission schlug dem Bundesgesetzgeber bezüglich der Blockade vor, den § 240 StGB zu reformieren. Der Gewaltbegriff sollte bei Nötigung auf physische Gewalt eingeschränkt werden, bei gleichzeitiger Hinzufügung der Alternative eines »vergleichbar schweren psychischen Zwanges«.34 Hierbei handelte es sich um einen Kompromissvorschlag, der sowohl der Entscheidung des Verfassungsgerichts als auch dem Sondervotum gerecht werden wollte, was an der grundsätzlichen Strafbarkeit nichts änderte. In der Schweiz sagt man in solchen Fällen, sie wollten den Fünfer und das Weggli haben. Die Spannungen innerhalb der Unterkommission Strafrechtswissenschaft lassen sich daran erkennen, dass ihre Vertreter im Nachhinein Bedenken gegenüber diesem Kompromiss anmeldeten. Kritik kam vor allem von den Strafrechtslehrern Harro Otto (Bayreuth) und Volker Krey (Trier). Letzterer reklamiert für sich, dass die Bestimmung des Gewaltbegriffs aus der Sicht des staatlichen Gewaltmonopols in der ersten Plenarsitzung auf seinen Vorschlag zurückgehe. Er hatte bereits 1986 und 1989 in diesem Sinne Gutachten zum Gewaltbegriff für das Bundeskriminalamt verfasst.35 Beide grenzten sich vom Sondervotum der vier Verfassungs29 Janine Gaumer, Wackersdorf – Atomkraft und Demokratie in der Bundesrepublik 1980– 1989, München 2018, S. 232. 30 Jochen Hofmann, Zur Frage der Rechtswidrigkeit polizeilicher Maßnahmen – »Hamburger Kessel«, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (1987), S. 769–771. 31 Werner Lehne, Der Konflikt um die Hafenstraße – Kriminalitätsdiskurse im Kontext symbolischer Politik, Hamburg 1994, S. 229. 32 BVerfGE 73, 206 – Sitzblockaden I. 33 Zum Laepple-Urteil siehe Sedlmaier, Konsum und Gewalt, S. 207–212 und S. 287–289. 34 Schwind/Baumann, Bd. 1, S. 216. 35 BKA (Hrsg.), Was ist Gewalt?, Bd. 1 und 3, Wiesbaden 1986/1989.

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richter ab, indem sie hervorhoben, Blockaden stellten stets »eine Nötigung mit Gewalt« dar (Otto), bzw. »seien kein rein psychischer, sondern eben gerade auch ›physisch vermittelter Zwang‹« (Krey). Für Otto lag die »körperliche Kraftentfaltung […] hier im Errichten der Barrikade bzw. im Hinsetzen oder Hinstellen.«36 Somit sollte einer zentralen Form des zivilen Ungehorsams weiterhin per se die Verwerflichkeit der Gewalt anhaften, was nicht durch eine Konstruktion »psychischen Zwanges«, die laut Krey auf Baumann zurückging, aufgeweicht werden sollte. Der Vorschlag der Kommission, »die moralisch/ethisch klingende Verwerflichkeitsklausel insoweit durch einen neutralen Terminus zu ersetzen« erscheint eher kosmetisch.37 Krey sah keinen Gewinn darin, statt von »verwerflich« von »sozial unangemessen« zu sprechen, wie Baumann ebenfalls vorgeschlagen habe. Ferner hielt er fest, dass die strafprozessualen Vorschläge der Kommission zur »Beschleunigung des Strafverfahrens« und zur Verkürzung des Instanzenzuges »weit über das Ziel hinausschießen«.38 Einig war man sich aber, dass, wie vom Bundesjustizministerium angeregt, »politische, religiöse, weltanschauliche und wirtschaftliche Ziele des Täters nicht zur Rechtfertigung [von Blockaden] herangezogen werden können.«39 Die Gewaltkommission übergab ihre Ergebnisse und Empfehlungen im Januar 1990 an Bundeskanzler Kohl. Im Laufe des Jahres erschienen sie im Verlag Duncker & Humblot als vierbändiges Werk mit mehr als 2500 Seiten, das 1994 eine Neuauflage erlebte. Im Parlament, das durch die einsetzende Wiedervereinigungseuphorie einiger war denn je, konnten die Parteien gut mit dem Kommissionsbericht leben und pickten sich Aspekte heraus, die ihren jeweiligen rechtspolitischen Vorstellungen entsprachen. So hob der CDU-Abgeordnete Erwin Marschewski hervor, die Gewaltkommission habe dem Staat aufgetragen, »dem Versuch, ihm das Gewaltmonopol streitig zu machen, mit Entschiedenheit und Nachdruck entgegen[zu]treten.« An Herta Däubler-Gmelin, Sprecherin der Arbeitsgruppe Rechtspolitik der SPD-Fraktion, gewandt, forderte er eine harte Linie gegenüber den Hausbesetzern in Berlin, Hamburg und Düsseldorf. Demgegenüber vermochte der rechtspolitische Sprecher der Grünen, Gerald Häfner, dem Kommissionsbericht zu entnehmen, dass der Staat »nicht zu überzogenen 36 Harro Otto, Strafbare Nötigung durch Sitzblockaden in der höchstrichterlichen Rechtsprechung und die Thesen der Gewaltkommission zu § 240 StGB, NStZ 1992, S. 586–573, S. 570f. 37 Schwind/Baumann, Bd. 1, S. 217. 38 Volker Krey, Die strafrechtlichen und strafprozessualen Reformvorschläge der Gewaltkommission. Eine dogmatische und rechtspolitische Wertung, Heidelberg 1991, S. 29, 36. Krey gehörte 1975 zu den Gründungsprofessoren des Fachbereichs Rechtswissenschaft an der Universität Trier, wo er zum Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Methodenlehre der Rechtswissenschaft ernannt wurde. Zwischen 1978 und 1998 fungierte er zudem als Richter am 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz. 39 Schwind/Baumann, Bd. 1, S. 216.

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Mitteln greifen dürfe«; Vermummungsverbot und Verbot passiver Bewaffnung seien ein Fehler gewesen.40 In der Tat hatte die Gewaltkommission eine Überprüfung des 1985 in das Versammlungsgesetz eingeführten Vermummungsverbots empfohlen, das während der Arbeit der Kommission 1989 verschärft worden war.41 Für die SPD erklärte Däubler-Gmelin, die Ergebnisse der Kommission seien »besser als erwartet«; der Auseinandersetzung mit politischer Gewalt sei nicht der vorrangige Platz eingeräumt worden, vielmehr läge der eigentliche Ertrag in den unterstützenswerten Vorschlägen zum Thema »Gewalt in der Familie«.42 Eine fundierte Kritik an Arbeit und Ergebnissen der Gewaltkommission kam vielmehr von linksliberalen Experten und Intellektuellen. Ausgehend vom Institut für Rechtstatsachenforschung und Kriminalpolitik der Universität Bielefeld um Peter-Alexis Albrecht und Otto Backes veröffentlichten zwanzig namhafte Unterzeichner – unter ihnen Jürgen Habermas und Fritz Sack – eine Presseerklärung, die sie auf der abschließenden Pressekonferenz der Kommission auslegten. Die Autoren zeigten sich »beunruhigt durch die einseitige, von polizeilichen und strafjustitiellen Interessen geleitete Untersuchung«.43 Unmittelbar nach Erscheinen des Kommissionsberichts legten sie im Suhrkamp Verlag den Sammelband Verdeckte Gewalt: Plädoyers für eine ›Innere Abrüstung‹ vor. Hierin warfen sie der Kommission vor, sie habe die »Chance zu einer fundierten Analyse von Gewaltphänomenen […] nicht genutzt«, sondern staatliche und gesellschaftliche Gewaltpotentiale ausgeblendet, Gewalt individualisiert und ihre Ursachen verkürzt interpretiert. Die Kritik verdichtete sich darin, dass das Gewaltphänomen aus historischen, sozialen, politischen und ökologischen Bezügen herausgelöst worden sei.44 Die Vorschläge bezüglich der juristischen Behandlung von Sitzblockaden hielten die Kritiker unter Verweis auf das Sondervotum des Bundesverfassungsgerichts für einen Rückschritt in weitere Kriminalisierung.45 Insbesondere Jürgen Habermas brachte seinen öffentlichen Status als kritischer Intellektueller gegen die diskursive Stoßrichtung der Gewaltkommission in Stellung. Er warf der Gewaltkommission in harschen Worten vor, die »wissen40 Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, 8. 2. 1990, https://dserver.bundestag.de/btp /11/11194.pdf, 14891-14892 [20. 10. 2020]. 41 Schwind/Baumann, Bd. 1, S. 215f. 42 Presseservice der SPD, Bonn, 16. 1. 1990, Digitale Sammlung »Sozialdemokratische Pressemitteilungen 1958–1998, Friedrich-Ebert-Stiftung 2001–2003. 43 Zurück zum Obrigkeitsstaat – Über das Demokratieverständnis der Gewaltkommission der Bundesregierung. Aus einer kritischen Stellungnahme Bielefelder Strafrechtsprofessoren, Neue Praxis (1990), S. 90–92. 44 Peter-Alexis Albrecht/Otto Backes: Verdeckte Gewalt. Prolegomena zu den Plädoyers für »Innere Abrüstung«, in: Albrecht/Backes (Hrsg.), Verdeckte Gewalt. Plädoyers für eine ›Innere Abrüstung‹, Berlin 1990, S. 7–32, S. 9–12. 45 Ebd., S. 14.

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schaftliche Untersuchung von Gewaltphänomenen« aus der »Bürgerkriegsperspektive« des Staates zu betreiben. In Bezug auf die Sitzblockaden diffamiere das Gutachten das »moralisch motivierte Selbstverständnis des zivilen Ungehorsams« als »Gewaltrechtfertigung«. Den Versuch der Kommission, den Diskurs durch »politische und gesellschaftliche Sprachregelungen« einzuhegen, bezeichnete Habermas als »extremistische[n] Ausrutscher«, den Maßnahmenkatalog als »overkill an […] polizeitaktischen, beweistechnischen, strafrechtlichen und legislativen Regelungen«. Gerade in der Kombination von präventiven und repressiven Vorschlägen − was die Kommissionsmitglieder noch Jahre später als Erfolg verbuchten − sah Habermas ein »Konzept einer lückenlosen Vernetzung sozialer Kontrollen«: »Wie im Foucaultschen Bilderbuch verschmelzen die Eingriffe zu einem System: Helfen, Überwachen und Strafen gehen eine chemische Verbindung ein.«46 Die in der Metapher vom »Foucaultschen Bilderbuch« verdichtete Dystopie teilten vor allem diejenigen Wissenschaftler im Feld der Kriminologie, die mit der Entfaltung konservativer Definitionsmacht eine Zurückdrängung ihrer wissenschaftlichen Grundlagenarbeit aus dem akademischen und öffentlichen Diskurs zu fürchten hatten. Man war sich weitgehend einig darin, den Kommissionsergebnissen eine »geringe Theorie-Basis« zu attestieren, so etwa der Inhaber des Bremer Soziologie-Lehrstuhls für Resozialisation und Rehabilitation Stephan Quensel.47 Fritz Sack monierte als Mitunterzeichner der Bielefelder Erklärung, die Kommissionsergebnisse resultierten »trotz vorhandener wissenschaftlicher Befunde […] ausschließlich« aus »staatlichen Kontrollansprüchen«. Das gewählte »Akteur-Modell« des individuellen Gewalttäters wies Sack als »analytischen Fehlansatz« zurück, eben weil die »Handlungen politischer Akteure und Institutionen miteinander verknüpft« seien. Zu beachten sei die »Asymmetrie« zwischen den Handelnden, die es dem Staat ermögliche, seinen »strategischen Vorteil« zu nutzen, um politische in rechtliche Konflikte zu transformieren.48 Der einer linken Gesinnung weniger verdächtige Horst Schüler-Springorum, Professor für Strafrecht, Kriminologie, Jugendrecht und Strafvollzug an der LMU München und nicht zuletzt aufgrund seines Beitrags zur Großen Strafrechtsreform renommiert, merkte an, den kritischen Stimmen innerhalb der Kommis46 Jürgen Habermas, Gewaltmonopol, Rechtsbewußtsein und demokratischer Prozeß, in: ders.: Die nachholende Revolution – Kleine politische Schriften IV, Berlin 1990, S. 167–175, S. 169, 171f; siehe auch Jürgen Habermas, Eindrücke bei der Lektüre des ›Endgutachtens‹ der Gewaltkommission, in: Albrecht/Backes (Hrsg.), Verdeckte Gewalt, S. 180–190. 47 Stephan Quensel, Ansichten und Diskurse über Gewalt, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (1992), S. 249–260, S. 257. 48 Fritz Sack, Die Eskalation von Gewalt. Die Transformation politischer in gewaltbesetzte Konflikte, in: Albrecht/Backes (Hrsg.), Verdeckte Gewalt, S. 111–137.

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sion verbleibe die »Hofnarren-Rolle«. Das »Risiko der Benutzung kriminologischer Forschung als bloßes Alibi« für die Verfolgung weiterreichender kriminalpolitischer Interessen habe sich verschärft.49 Schüler-Springorum stellte das von ihm mitherausgegebene Kriminologische Journal als Forum akademischer Gegenwehr zur Verfügung, auch wenn sein Mitstreiter in der Münchner Projektgruppe für Sozialforschung, der Rechts- und Wissenschaftssoziologe Reinhard Kreissl, unter Verweis auf die Analysen zum Terrorismus zu bedenken gab, dass jeder Versuch einer rationalen Kritik, so auch die Bielefelder »Gegenkampagne«, an den strukturellen Vorgaben massenmedialer Öffentlichkeit scheitern müsse.50 Eine vom Arbeitskreis Junger Kriminologen verantwortete Ausgabe des Kriminologischen Journals machte sich zur Aufgabe, die Gewaltkommission zu dekonstruieren. Die Autoren regten an, Gewaltdiskurse selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung zu machen51 bzw. auf »Gewaltvokabular« zu verzichten, das ebenso Teil eines »ideologische[n] Manöver[s]« sei wie die AntiTerrorismuskampagne oder die Sympathisanten- und Radikalen-Debatte.52 In einer ausführlichen Bilanz, die Quensel 1993 für die von Kritikern und Mitgliedern der Kommission gemeinsam herausgegebene Festschrift zu SchülerSpringorums Emeritierung verfasste, greift er vor dem Hintergrund verschiedener Gesetzesentwürfe, die ganz im Sinne der Anregungen der Gewaltkommission weitreichende staatliche Eingriffsbefugnisse beinhalteten – insbesondere das »Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität« – nochmals die Frage nach der »Legitimationsfunktion« der Kriminologen für den Gewaltdiskurs bzw. des Gewaltdiskurses für ebenjene auf. Seine Folgerungen sind ernüchternd: Gerade »kritische Aspekte«, zu denen er u. a. die »in der Terrorismus-Enquête so wirkungsvoll eingesetzte Interaktions- bzw. Eskalationserklärung« zählt, hätten lediglich dazu gedient, dem Gesamtunternehmen Objektivität zu bescheinigen, letztlich aber zu ihrer »Verballhornung« in der Rezeption beigetragen. An »Ausweitungswünsche von Polizei und Strafrecht« sei man ja gewöhnt, doch nun kämen verstärkt wissenschaftliche Berater hinzu, die »zur fortdauernden Festi-

49 Horst Schüler-Springorum, Kriminologie als Herausforderung der Kriminalpolitik, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (KritV) 73,3/4 (1990), S. 313–326, S. 319, 325. Zwischen 1973 und 1998 hatte Schüler-Springorum die Schriftleitung der Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform inne. 50 Reinhard Kreissl, Die Gewalt, die Kommission und die gesellschaftliche Tagesordnung, Kriminologisches Journal (1990), S. 163–169. 51 Albert Funk/Johannes Stehr, Das Reden über Gewalt und sein Beitrag zur Stabilisierung von Herrschaftsverhältnissen, Kriminologisches Journal (1992), S. 3–7, S. 5. 52 Helga Cremer-Schäfer, Skandalisierungsfallen, Kriminologisches Journal (1992), S. 23– 36, S. 26.

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gung des einmal gewonnenen Einflusses« tendierten.53 Wie die eingangs erwähnten Erfolgsmeldungen von Kommissionsbeteiligten und institutionellen Verflechtungen zeigen, sollte Quensel mit seinen Befürchtungen bis in die jüngste Gegenwart recht behalten. Auch die Ergebnisse des Forschungsverbundes Analysen zum Terrorismus sollten lange in das wissenschaftliche Feld hineinwirken.

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Analysen zum Terrorismus

Der Forschungsverbund Analysen zum Terrorismus wurde nach der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und der Erstürmung eines nach Mogadischu entführten Lufthansa-Flugzeuges durch eine Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes von der Innenministerkonferenz noch im Herbst 1977 ins Leben gerufen. Die Rekrutierung wissenschaftlicher Experten erfolgte zunächst auf Initiative der Innenministerien der Länder, wodurch es die in der bundespolitischen Opposition befindliche CDU/CSU vermochte, die meisten ihrer Kandidaten durchzusetzen. Da sich Bayern plötzlich aus der Arbeitsgruppe zurückzog, fiel das Forschungsunternehmen im Januar 1979 organisatorisch ganz an das Bundesinnenministerium, was die politischen Machtverhältnisse, die sich in der Kommission und ihrem Vorgehen widerspiegelten, weiter diversifizierte. Aus dem langwierigen Entstehungsprozess gingen in mehreren aufeinanderfolgenden Schüben die Projekte von zwölf vertraglich an den Auftraggeber BMI gebundenen Wissenschaftlern hervor. Diese wurden in vier Forschungsgruppen eingeteilt: (1) Ideologien und Strategien der Terroristen, (2) biographische Lebenslaufanalysen von Terroristen, (3) interne Strukturen und Gruppenprozesse bei der Roten Armee Fraktion, der Bewegung 2. Juni und dem Sozialistischem Patientenkollektiv, sowie (4) unter dem Obertitel Gesellschaftliche Prozesse und Reaktionen soziale, politische und ökonomische Kontexte des Terrorismus. Im Fokus der Arbeitsgruppen stand eindeutig der »Linksterrorismus«, wobei nach dem Oktoberfestattentat im September 1980 auch Datensätze zu einer kleinen Gruppe von »Rechtsterroristen« einbezogen wurden. Die Ergebnisse wurden zwischen 1981 und 1984 in fünf Bänden im Westdeutschen Verlag veröffentlicht.54 Das Bundesministerium des Innern wird 53 Stephan Quensel, Gewalt-Spiele oder wie man ein Monopol legitimiert. Anmerkungen zum Gutachten der Gewaltkommission, in: Festschrift für Horst Schüler-Springorum zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Peter-Alexis Albrecht, Alexander P.F. Ehlers, Franziska Lamott, Christian Pfeiffer, Hans-Dieter Schwind, Michael Walter, Köln 1993, S. 33–52, S. 49–51. 54 Bundesminister des Innern (Hrsg.) Analysen zum Terrorismus, 4 Bde; Bd 1: Iring Fetscher/Günter Rohrmoser, unter Mitarbeit von Jörg Fröhlich, Hannelore Ludwig und Herfried Münkler, Ideologien und Strategien, Opladen 1981; Bd. 2: Herbert Jäger/Ger-

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hier lediglich als Reihenherausgeber und Verfasser kurzer Vorworte sichtbar. Die erhebliche Kontrolle und Einflussnahme von Seiten des BMI unter der Leitung des Ministerialdirigenten Reinhard Rupprecht, gleichzeitig Vizepräsident des BKA, wird in keiner Weise transparent. Im Folgenden möchten wir uns auf zwei Projektleiter konzentrieren: den Frankfurter Strafrechtswissenschaftler Herbert Jäger und seine »Studien zur Sozialisation von Terroristen« sowie auf den bereits erwähnten Fritz Sack, seinerzeit an der Juristischen Fakultät in Hannover der erste Soziologe auf einem kriminologischen Lehrstuhl in Deutschland. Sack lieferte mit der Studie »Staat, Gesellschaft und politische Gewalt: Zur ›Pathologie‹ politischer Konflikte« den kontroversesten Beitrag der Analysen zum Terrorismus. Der Vollständigkeit halber sei hier angemerkt, dass auch der zweite Beitrag im letzten Halbband der Analysen zum Terrorismus in vielen Hinsichten am selben Strang zog wie Sack. Er wurde von dem Leiter des Instituts für Recht und Kriminalsoziologie in Wien, Heinz Steinert verantwortet und betrachtete den »linken Terrorismus« in der BRD vergleichend mit Entwicklungen in Italien, Frankreich und den Niederlanden. Die dem Vergleich zugrunde liegenden Untersuchungen dieses Teams erschienen erst einige Jahre später im Suhrkamp Verlag.55 Das BMI gestattete die Veröffentlichung der Arbeiten von Projektmitarbeitern an anderer Stelle auf Antrag nach Abschluss der Gesamtprojekte, allerdings untersagte es Hinweise auf den Entstehungszusammenhang.56 Jäger thematisierte wiederholt »[d]ie Ungeklärtheit des Terrorismusbegriffs und damit die Problematik der Auswahlkriterien«.57 De facto berücksichtigte die BMI-Untersuchung Personen, die wegen § 129a StGB verurteilt, angeklagt oder mit Haftbefehl gesucht wurden, sowie Personen, die voraussichtlich nach diesem Paragraphen verfolgt worden wären, wenn es ihn zur Tatzeit bereits gegeben hätte. Jägers Projekt konzentrierte sich auf die kriminologische Auswertung einiger Interviews mit Verurteilten. Ein Unterprojekt versuchte, diese psychoanalytisch zu deuten.

hard Schmidtchen/Liselotte Süllwold, unter Mitarbeit von Lorenz Böllinger, Lebenslaufanalysen, Opladen 1981; Bd. 3: Wanda von Baeyer-Katte/Dieter Claessens/ Hubert Feger/Friedhelm Neidhardt, unter Mitarbeit von Karen de Ahna und Jo Groebel, Gruppenprozesse, Opladen 1982; Bd. 4,1: Ulrich Matz/Gerhard Schmidtchen, Gewalt und Legitimität, Opladen 1983; Bd. 4,2: Fritz Sack/Heinz Steinert, unter Mitarbeit von Horst Dreier, Uwe Berlit, Hubert Treiber, Protest und Reaktion, Opladen 1984. 55 Henner Hess/Martin Moerings/Dieter Pass/Sebastian Scheerer/Heinz Steinert, Angriff auf das Herz des Staates – Soziale Entwicklung und Terrorismus, 2 Bde, Berlin 1988. 56 Referat IS 7/Junkers, Vermerk, 10. 2. 1981: Sitzung Untergruppe 3 am 31. 1. 1981, Bundesarchiv Koblenz (BAK), Innenministerium, B 106/135429, Projekt 3 Prof. Sack, Bd. 1–2. 57 Jäger an Schmidtchen, 14. 4. 1981, BAK, B 106/135409, ASÖTE [Arbeitsstab Öffentlichkeitsarbeit gegen Terrorismus beim Bundesminister des Innern]-628032/1 »Lebenslaufanalysen« allgemein, Bd.1 (ab März 1978).

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Die Projektleiter konnten Unterverträge mit wissenschaftlichen Mitarbeitern abschließen. Jäger engagierte den Juristen und Psychoanalytiker Lorenz Böllinger, der 1982 auf einen Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Bremen berufen wurde. Die Projektmitarbeiter wurden einer Sicherheitsprüfung unterzogen. Im Falle Böllingers wurde moniert, dass er seine Wohnung an eine Frau untervermietet hatte, die Mitglied der Roten Hilfe war und sich 1974 vorübergehend wegen Verdachts auf Unterstützung einer kriminellen Vereinigung in Haft befunden hatte; ferner, dass nach Angaben des Verfassungsschutzes sein »Name auf einer Spendenliste der Roten Hilfe und in einem Verzeichnis für die Verteidigung von Linksextremisten geeigneter Anwälte« gestanden habe. Alle Mitarbeiter des BMI-Projekts mussten unterschreiben, »daß sie keine über die an Universitäten unvermeidbaren Kontakte zu linken Gruppierungen unterhalten.«58 Über andere Mitarbeiter des Projektverbunds teilte der Verfassungsschutz beispielsweise mit, sie hätten: einige Jahre zuvor ihr Auto vor einem Haus geparkt, in dem Angehörige der »Anarcho-Scene« wohnten; an einer Reise nach Albanien und einer Demonstration der KPD/ML teilgenommen; oder sich im Sozialistischen Bund engagiert.59 Im Fall Böllingers wurde nach Intervention Jägers in einem Gespräch der beiden Wissenschaftler mit dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes Horst Herold die Bedenken zurückgestellt: Den »Umstand, quasi als ›Sympathisant‹ zu gelten« halte man »in diesem besonderen Fall der Erforschung terroristischer Karrieren mit Hilfe psychoanalytischer Methoden sogar eher für günstig […]. Bei dem unausrottbaren Mißtrauen der Probanden und ihrer Anwälte sei dies gewissermaßen eine Voraussetzung zur Schaffung der notwendigen Vertrauensbasis.«60 Im September 1979 teilten Jäger und Böllinger, denen es lediglich gelungen war, mit drei von 34 für ihre »Einzelfalluntersuchungen bei der Erforschung terroristischer Karrieren« anvisierten Probanden zu sprechen, dem Ministerium nonchalant mit: »Irgendwelche Zwischenergebnisse lassen sich […] auf Grund des bisherigen Materialstandes noch nicht mitteilen.«61 Das sollte sich auch im Endergebnis nicht grundlegend ändern, obwohl sich die Anzahl der Interviewpartner verdoppelt hatte. Unter dem Titel »Die individuelle Dimension terroristischen Handelns: Annäherungen an Einzelfälle« heißt es, »daß es unter den 58 Walter (TE 40, vermutl. BKA), 2. 3. 1979, Betreff: Überprüfung von Mitarbeitern an Projekten des BMI zur »Ursachenforschung Terrorismus«, hier: Dr. Lorenz Böllinger, BAK, B 106/135412, ASÖTE -628032/5: Teilprojekt »Lebenslaufanalysen« (Prof. Jäger), Bd. 1 (Mai 1978–Dez. 1979). 59 ASÖTE, ORR Kowalski, »Ergebnis der Karteiprüfung wissenschaftlicher Mitarbeiter durch BKA und BfV«, 20. 7. 1978, BAK, B 106/135412. 60 Klaus zu »Geplante Befragung des Strafgefangenen Klaus Jünschke (JVA Diez) durch Dr. Lorenz Böllinger«, 19. 8. 1980, BAK, B 106/135412, Bd. 2 (Januar-August 1980). 61 Böllinger/Jäger, »Erste Erfahrungen mit Einzelfalluntersuchungen bei der Erforschung terroristischer Karrieren«, 5. 9. 1979, 8, BAK, B 106/135412, Bd. 1.

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gegebenen Forschungsbedingungen kaum möglich ist, derartige Extrementwicklungen auf Grund des vorhandenen Materials bis in ihre Einzelheiten zurückzuverfolgen.«62 In Jägers Beitrag überwogen von Anfang an methodisch kritische Überlegungen zu »Begrenzungen des Untersuchungsgegenstandes« einer »Terrorismusforschung zwischen den Fronten« und der schwierigen Quellensituation. Mit skeptischer Umsicht weisen Jäger und Böllinger in ihrem Fazit darauf hin, daß die Rolle von Staat und Gesellschaft weitgehend ausgeklammert bliebe: »Nur an wenigen Stellen des Berichts – wie auch des ihm zugrunde liegenden Materials – geraten die Wechselwirkungen von Ausstieg und Ausgrenzung, Absetzbewegung und Minorisierung, aber auch die Verstärkungsfunktion staatlicher Maßnahmen auf den Distanzierungsprozeß ausschnitthaft ins Blickfeld«.63 Im Gegensatz zur späteren Gewaltkommission schlossen sie eine konkrete Politikberatung explizit aus: »Die Frage, ob einzelne staatliche Maßnahmen kriminalpolitisch sinnvoll, verhältnismäßig und notwendig sind, liegt außerhalb des unmittelbaren Erkenntnisinteresses dieser Untersuchung und ist auf der Grundlage des analysierten Materials nicht zu entscheiden.«64 Die im engeren Sinn juristische Expertise des renommierten Strafrechtlers Jäger wurde in der Forschungsgruppe Lebenslaufanalysen allerdings kaum abgerufen. Die eigentliche Kontroverse um staatliche und gesellschaftliche Reaktionen auf den Terrorismus und damit die Diskussion kriminalpolitischer und juristischer Hintergründe entzündete sich am Teilprojekt von Fritz Sack, das von einem »Prozeß der Eskalation und Aufschaukelung« ausging. Von Beginn an stand die Teilnahme Sacks an dem Verbundprojekt Analysen zum Terrorismus auf der Kippe. Fast zwei Jahre dauerte das Tauziehen um seine Beteiligung. Sowohl in der Innenministerkonferenz als auch später im Bundesjustizministerium unter Hans-Jochen Vogel hegte man Misstrauen gegen Sack.65 Insofern lag es schon vor Beginn der Arbeit für Sack nahe, sich gemeinsam mit dem damals in Bremen lehrenden Rechtswissenschaftler Otto Backes von dem Vertrag zurückzuziehen. Rupprecht versicherte ihm jedoch, dass die Bedeutung seines Forschungsansatzes »nicht in Zweifel gezogen« würde, auch wenn allen Beteiligten bewusst sein müsse, »daß hier nicht nur die ›normalen‹ Schwierigkeiten einer Auftragsforschung […] zu überwinden« seien: »Auch gibt es bei diesem Projekt vielfältige politische Ansichten. Die ist sicher ein wichtiger Grund für das beschwerliche 62 Herbert Jäger, Die individuelle Dimension terroristischen Handelns – Annäherungen an Einzelfälle, in: Jäger/Schmidtchen/Süllwold, Lebenslaufanalysen, S. 120–173, S. 122. 63 Herbert Jäger/Lorenz Böllinger, Thesen zur weiteren Diskussion des Terrorismus – Ein vorläufiges Fazit, in: ebd., S. 232–237, S. 232–233. 64 Ebd., S. 235. 65 Fernschreiben Bund-Länder-Konferenz/Sieche an ASÖTE, 3.10. 1978; BMJ an ASÖTE, 5. 11. 1979, BAK, B 106/135429, Projekt 3 Prof. Sack, Bd. 1–2.

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und aufwendige Verfahren der Entscheidungsfindung, das nur bei Kompromißbereitschaft zu Ergebnissen führen kann.«66 Auch Jäger setzte sich nachdrücklich für Sack und sein Forschungsdesign ein und stellte gar die eigene Beteiligung, sollte dieser aus dem Projektverbund aussteigen, in Frage. Im Oktober 1978 schrieb er an die Projektkoordinatoren im BMI: »Ein gravierendes Problem ist für mich, daß offenbar die Teilnahme von Herrn Sack inzwischen zweifelhaft geworden ist und ich im Moment nicht sehe, in welcher Weise nun eigentlich die Kriminologie als die m. E. für die Terrorismusforschung zentrale wissenschaftliche Fachrichtung am Projekt mitwirkt.«67 Während Backes den Projektzusammenhang zu diesem Zeitpunkt verließ, ließ sich Sack die diplomatische Warnung Rupprechts nicht genug sein. Er holte sich mit dem Frankfurter Strafrechtswissenschaftler und zukünftigen Verfassungsrichter Winfried Hassemer einen prominenten Juristen und Vertreter einer herrschafts- und gesellschaftskritischen Kriminologie in seinen Mitarbeiterkreis. Zum Team gehörten auch der junge Horst Dreier, der knapp 30 Jahre später kurz davorstehen sollte, Hassemers Nachfolger am Bundesverfassungsgericht zu werden, Sacks Hannoveraner Kollege, der Verwaltungsrechtler Hubert Treiber sowie Sacks wissenschaftlicher Mitarbeiter Trutz von Trotha, der später als Gewaltsoziologe reüssieren sollte. Die Forschergruppe um Sack lenkte den Blick nachdrücklich auf die Reaktionen des politischen und staatlichen Systems auf den Terrorismus, zum Beispiel auf die »zehn Novellierungen des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und einiger anderer Gesetze«, die seit 1976 »auf die Kontrolle und Beschneidung von Handlungsressourcen für politisch motivierte Kriminalität und Konflikte zielten.«68 Uwe Berlit (heute Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht) und Dreier lieferten unter dem Titel »Die legislative Auseinandersetzung mit dem Terrorismus« einen ca. 90-seitigen Teil von Sacks veröffentlichtem Projektbericht.69 Solche Perspektiven stellten das BMI-Projekt Analysen zum Terrorismus immer wieder vor Zerreißproben. Sack und seine Mitarbeiter mahnten an, »es gebe kein theoretisches Modell der Gesetzgebung und ihrer Analyse«. Sie wollten ein »Raster für Normgenese: Wer ist Impulsgeber und definiert das Problem? Wie gelangen die Angaben über das Problem an den Gesetzgeber und wie werden sie dort verarbeitet? Werden in einem kontradiktorischen Prozeß (Hearing) Alternativen zum Gesetz erwogen?« Der energische BMI-Projektleiter Rupprecht orchestrierte die Kritik an solchen Ansätzen. Ge66 Backes/Sack an ASÖTE (Rupprecht), 21. 9. 1978; ASÖTE an Backes/Sack, 29. 9. 1978, BAK, B 106/135429, Projekt 3 Prof. Sack, Bd. 1–2. 67 Jäger an Junkers, 12. 10. 1978, B 106/135412, ASÖTE 628032/5: Bundesministerium des Innern, Teilprojekt »Lebenslaufanalysen« (Prof. Jäger). 68 Sack, Die Kriminologie im Dienste der Verarbeitung politischer Kriminalität, 3. 69 Analysen zum Terrorismus, Bd. 4/2, S. 228–318.

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genüber den vorgenannten Forschungsperspektiven mahnte er zur »Konzentration auf ›Bedingungen des Terrorismus‹ anstelle der Verselbständigung institutioneller Konflikte«.70 Sack hat die Eingriffe Rupprechts und seiner Mitarbeiter rückblickend wie folgt beschrieben (und nach eingehender Lektüre der teilweise im Bundesarchiv überlieferten Projektakten können wir seiner Darstellung nur zustimmen): »Die Sitzungen wurden in erster Linie von den staatlichen Vertretern dazu genutzt, ihre eigenen Vorstellungen zur Geltung zu bringen und Kritik [an unliebsamen Positionen] unter den Wissenschaftlern selbst zu stimulieren. Dies geschah mit großer Kompetenz […]. Darüber hinaus erschienen die Mitglieder der ministeriellen Arbeitsgruppe stets sorgfältig präpariert und intim mit den einzelnen Berichten vertraut zu den jeweiligen Projektsitzungen, was sich von den wissenschaftlichen Sitzungsteilnehmern, die mehr als einmal die zu diskutierenden Projektentwürfe und Ergebnispapiere nicht oder nur oberflächlich gelesen hatten, nicht sagen ließ.«71 Eine von Dreier angefertigte, sehr aufschlussreiche 52-seitige Studie zur anwaltlichen Ehrengerichtsbarkeit bei Strafverfahren gegen terroristische Gewalttäter analysierte Material zu dem »intensiven und breitenwirksamen Gebrauch ehrengerichtlicher Sanktionen« gegen RAF-Verteidiger wie Christian Ströbele (30 Verfahren, die letztlich lediglich zu zwei Rügen führten), Rupert von Plottnitz, Heinrich Hannover, Kurt Groenewold und andere, die den Charakter einer »unsichtbaren Prozeßordnung angenommen« hätten. Dreier legte nahe, daß »der tendenzielle Ausschluß aller politischen Elemente« betrieben worden und »es dadurch zu einer Verkürzung der Dimension des Prozesses und zu einer Restriktion der Artikulationschancen der Angeklagten« gekommen sei.72 Diese Überlegungen mussten für den veröffentlichten Endbericht offenbar auf etwa eine Seite unter der Überschrift »Zur Stellung der Terroristenverteidiger« gekürzt werden.73 Sacks Projekt geriet so sehr in die interne Kritik des vom BMI geleiteten Projektverbunds, dass zwischenzeitlich in Frage gestellt wurde, ob sein Projektbericht als Erfüllung seiner vertraglichen Verpflichtungen gewertet bzw. Aufnahme in die Veröffentlichungsreihe finden würde. Die Zurückziehung verbot sich für Sack, da das BMI die Auszahlung von Hassemers Honorar von der Abnahme des Berichtes abhängig machte.74 Das BMI ließ intern das »Prozeßrisiko« prüfen, ob es den Bericht als Vertragserfüllung ansehen müsse, da dieser »sehr engagiert, aggressiv 70 Referat IS 7/Junkers, Vermerk, 10. 2. 1981: Sitzung Untergruppe 3 am 20. 11. 1980, BAK, B 106/ 135429. 71 Sack, Die Kriminologie im Dienste der Verarbeitung politischer Kriminalität, 14. 72 Horst Dreier, Standesrecht und politische Prozesse, Oktober 1981, 50, BAK, B 106/135430, Bd. 1. 73 Analysen zum Terrorismus, Bd. 4/2, S. 253–254. 74 Vermerk Rupprecht auf Schreiben von Sack, 11. 1. 1983, BAK, B 106/135429, Projekt 3 Prof. Sack, Bd. 1–2.

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und einseitig« ausfalle. Dabei kam es zu dem Schluss, dass sich der »Wissenschaftsstreit« um die Methoden von Sack nicht vor Gericht klären ließe, da ihm durch Gerichte eingeholte, fachnahe wissenschaftliche Gutachter die »Wissenschaftlichkeit« sicher »uneingeschränkt attestieren« würden.75 Nach langwierigen Streitereien erschien der vierte Band in zwei Halbbänden erst 1984, drei Jahre nach den ersten beiden Bänden. Kritisiert wurde das Projekt Analysen zum Terrorismus und seine Ergebnisse von dezidiert linken Autoren, die ein prinzipielles Fernbleiben von staatlich initiierter Forschung befürworteten. Diese Position zeichnete sich schon in den Reaktionen auf Jägers Interviewgesuche unter den als sogenannte »Terroristen« Inhaftierten ab. An die Öffentlichkeit trat der Verleger und Autor linksradikaler Schriften Peter-Paul Zahl, der auf Jägers Ansinnen mit einem offenen Brief im Frankfurter ASTA-INFO antwortete. Zahl war 1976 in einem umstrittenen Revisionsverfahren wegen versuchten Mordes in zwei Fällen zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt worden; er hatte im Dezember 1972 auf der Flucht vor der Polizei bei einem Schusswechsel einen der ihn verfolgenden Beamten lebensgefährlich verletzt. In die Fahndung war er wegen des Verdachts aufgenommen worden, an einem Banküberfall der RAF beteiligt gewesen zu sein, was sich im Nachhinein nicht erhärten ließ. Zahl schrieb an Jäger: »Die Tatsache, daß Sie diesen Auftrag angenommen [haben], beweist von vornherein, daß Sie Diener einer Wissenschaft geworden sind, die Herrschaftswissen ist, Instrument zur Niederhaltung von Emanzipationswünschen«. Er wolle sich lieber an eine kritisch begriffene, auf Abschaffung von Herrschaft gerichtete Wissenschaft halten und nannte den Bielefelder Richter Helmut Ostermeyer, der sich kritisch mit dem bundesdeutschen Rechtswesen auseinandersetze, den norwegischen Rechtssoziologen und Abolitionisten Thomas Mathiesen sowie Peter Brückner, der wegen seiner politischen Aktivitäten zweimal von seinem Lehrstuhl für Psychologie in Hannover suspendiert worden war.76 Jäger verwahrte sich in einer Replik zwar gegen einige weitere Anschuldigungen Zahls, zeigte in seinen methodischen Reflektionen aber auch viel Verständnis für die reservierte Haltung seiner potentiellen Interviewpartner, zumal den Wissenschaftlern kein Zeugnisverweigerungsrecht eingeräumt worden war. Die Kritik linksgerichteter Wissenschaftler am Projekt Analysen zum Terrorismus richtete sich vor dem Erscheinen der letzten beiden Halbbände zu Recht auf die mangelnde Beleuchtung der Rolle gesellschaftlicher und staatlicher Hand75 Junkers, Vermerk zum Schreiben Bayer-Katte, 20. 12. 1982; Referat IS 7 an Ref. Z II 2, 3. 3. 1983; Referat Z II 2/Krause an Referat IS 7, 17. 3. 1983, BAK, B 106/135429, Projekt 3 Prof. Sack, Bd. 1–2. 76 Peter-Paul Zahl an Jäger, 1. 1. 1980, ASTA-INFO 1 (1980), S. 10; Jäger an BMI, 16.1.80; Junkers an Staatssekretär Dr. Fröhlich, »Offener Brief von Peter Paul Zahl an Prof. Jäger«, 21. 1. 1980, B 106/135412, Bd. 2.

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lungen und Einstellungen. Die Arbeitsdefinition von Terrorismus mit Hilfe von § 129a StGB wurde beispielsweise von dem Soziologen Reinhard Kreissl wie folgt kommentiert: »Dadurch entsteht dann der (gewünschte?) Eindruck, die juristische Bearbeitung des Problems korrespondiere in ihren Ergebnissen einer sozialwissenschaftlich abgesicherten Homogenität oder Struktur dieser Gruppe.«77 Eine Autorengruppe von Sozialwissenschaftlern und Psychologen machte auch nicht ganz zu Unrecht darauf aufmerksam, dass die Ursachenforschung zum Terrorismus, trotz gelegentlich differenzierter Herangehensweisen, die wohl beabsichtigte Tendenz aufweise, die sozialen Bewegungen der BRD seit 1968 als solche zu diskreditieren, indem sie als Rekrutierungsreservoir für Gewalttäter dargestellt würden: »Eine der wichtigsten vom Auftraggeber vorgegebenen Forschungshypothesen zielte auf die Unterstellung, soziale Bewegungen in der Bundesrepublik seien das Rekrutierungsfeld für ›Terroristen‹. […] Eine Allianz von Wert-Konservativen, Reaktionären, sozialdemokratischen Bessermachern und staatsbürokratischen Funktionären hat das Stigma geprägt und verordnet; die Forscher haben es unwidersprochen übernommen und reproduziert.«78 Andererseits habe die von den Sozialwissenschaftlern vorgenommene »psychologisierende Individualisierung« ihrer Studienobjekte das Ziel, diese zu entpolitisieren.79 Insofern habe die Beteiligung »kritischer« Wissenschaftler nicht »der Produktion von Gegenwissen« gedient, sondern der Legitimation des Gesamtprojekts und der weiteren Vernebelung, wenn nicht Verhinderung einer Diskussion über Gründe und Hintergründe des sog. Terrorismus»80 Und in der Tat: Die Analysen zum Terrorismus gelten vielen »Terrorismus«-Experten bis heute als »Standardwerk«, werden in der Regel aber nicht quellenkritisch reflektiert oder gar als Teil einer »Anti-Terrorismuspolitik« interpretiert.81 Trotz oder gerade wegen ihrer heterogenen Ergebnisse haben sie die »Terrorismus«Forschung lange nachhaltig geprägt und so letztlich der Definitionsmacht des Innenministeriums Vorschub geleistet.

77 Reinhard Kreissl, Die Studien zum Terrorismus, Kritische Justiz 3 (1983), S. 314. 78 Dietlinde Gipser/Sabine Klein-Schonnefeld/Klaus Naffin/Heiner Zillmer, »Analysen« zum Terrorismus – Wissenschaftliche Bausteine gegen soziale Bewegungen, Psychologie und Gesellschaftskritik 8,3 (1984), S. 40–66, S. 47. 79 Ebd., S. 55ff. 80 Ebd., S. 42. 81 Johannes Hürter, Anti-Terrorismuspolitik der sozialliberalen Bundesrepublik, 1969–1982, in: Hürter/Gian Enrico Rusconi (Hrsg.), Die bleiernen Jahre – Staat und Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland und Italien 1969–1982, München 2010, S. 9–20, S. 16; Kai Lemle, Sicherheitskonzepte in asymmetrischen Konflikten, Marburg 2017, S. 36.

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Enquêtekommission »Jugendprotest im demokratischen Staat«

Ein aufwendiges Teilprojekt der Analysen zum Terrorismus, eine von dem Züricher Soziologen Gerhard Schmidtchen geleitete Repräsentativumfrage aus dem ersten Halbjahr 1980, hatte das Verhältnis »Jugend und Staat« vor dem Hintergrund der Befürchtung die den »Handlungsmotive[n] der Terroristen« zugrunde liegenden »Themen und Anschauungen« könnten »über den engeren Kreis der Terrorismusszene hinaus eine gewisse Verbreitung haben«, zum Gegenstand. Heraus kam, dass ein knappes Drittel der jungen Befragten zwischen 18 und 35 Jahren dem »politischen System« kritisch gegenüberstand und sich gegenüber »politischen Änderungskonzepten« auf der Basis außerparlamentarischer Mittel aufgeschlossen zeigte. Schmidtchen empfahl als »Mittel der Legitimitätspolitik«, die »Repräsentationsfunktion auf allen Ebenen zu stärken«.82 Noch bevor die Studie 1983 veröffentlicht wurde, hatte die Jugendsoziologie, die schon die 68erRevolte nicht vorausgesehen hatte, seit 1980 regen Auftrieb erhalten: eine erneute Protestwelle, die in bundesweiten Hausbesetzungen sowie in der Friedens-, AntiAkw- oder der Anti-Startbahn-Bewegung Ausdruck fand, hatte sich angekündigt. Man kann von einem Boom sozialwissenschaftlicher Studien sprechen, die sich der Akzeptanz »unkonventioneller politischer Verhaltensweisen« widmeten. Besorgnis erregte, dass ca. fünf bis zehn Prozent der Befragten Streiks, Sitzblockaden und Besetzungen für legitim hielten.83 Die Jugend könne gar »der Demokratie verloren gehen«, lautete eine allgemeine Befürchtung.84 Es lag nahe, der weithin konstatierten »Legitimitätsschwäche«85 von Staat und Gesellschaft durch eine weitere Kommission entgegenzuwirken. Expliziten Anlass zur Einsetzung der Enquêtekommission Jugendprotest nach Schweizer Vorbild boten die »von gewalttätigen Auseinandersetzungen begleiteten Protestereignisse der Jahreswende 1980/81« im Rahmen der Berliner Hausbesetzerbewegung.86 Im Mai 1981 stimmte der Deutsche Bundestag dem von den Fraktionen der SPD und FDP vorgelegten Antrag zu, eine Enquêtekommission mit der Aufgabe zu betrauen, die Situation zu analysieren, allge82 Gerhard Schmidtchen (in Zusammenarbeit mit Hans-Martin Uehlinger), Jugend und Staat – Übergänge von der Bürger-Aktivität zur Illegalität. Eine empirische Untersuchung zur Sozialpsychologie der Demokratie, in: Matz/Schmidtchen, Gewalt und Legitimität, S. 106– 437, S. 250, 261, 344–348. 83 Nachweise bei Christoph Böhr/Eckart Busch, Politischer Protest und parlamentarische Bewältigung – Zu den Beratungen und Ergebnissen der Enquête-Kommission »Jugendprotest im demokratischen Staat, Baden-Baden 1984, S. 13. 84 Materialien der Enquêtekommission, Bundeszentrale für politische Bildung 1983, S. 7. 85 Ulrich Matz, Über gesellschaftliche und politische Bedingungen des deutschen Terrorismus, in: Matz/Schmidtchen, Gewalt und Legitimität, S. 16–104, S. 63. 86 Endbericht, S. 7.

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meine »Therapievorschläge« und »konkrete Vorschläge für die Gesetzgebung« zu erarbeiten.87 Die Enquêtekommission sollte der Frage nachgehen, »ob der Protest junger Menschen neue gesellschaftliche und politische Zielsetzungen« verlange. Aufgegeben war ihr, Ursachen, Formen und Ziele des Protestes zu untersuchen und dabei »Konfliktfelder« wie das Spannungsverhältnis zwischen »Gewaltproblematik« und »Rechtsfriede«, »Aussteigermentalität« und gesellschaftlichen Grundwerten sowie alternativen Lebensentwürfen auszuloten.88 Explizit ging es darum zu eruieren, wie sich das im Protest liegende Engagement »für politische Reformen nutzbar« machen ließe und »der Legitimität demokratischer Politik zu neuer Glaubwürdigkeit« verholfen werden könne.89 Das Gremium aus sieben Abgeordneten und fünf Sachverständigen wurde gemäß des parlamentarischen Kräfteverhältnisses von den Parteien besetzt. Vorsitzender der Kommission wurde der Jurist Matthias Wissmann, der auch Bundesvorsitzender der Jungen Union war. Stellvertreter wurde der Sozialdemokrat und Gewerkschafter Rudolf Hauck. Hinzu kamen zwei gelernte Juristen: der spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder, hier als ehemaliger Bundesvorsitzender der Jusos, und Alfred Sauter, Vorsitzender der Jungen Union Bayern.90 Das Sekretariat leitete Eckart Busch, Ministerialrat und Sekretär des Verteidigungsausschusses. Die Enquête holte von rund 70 Verbänden, Behörden und Vereinen – vom Verfassungsschutz über die Kirchen bis hin zum Zentralverband der Wohnungs- und Grundeigentümer – sowie von zwanzig Wissenschaftlern, überwiegend Pädagogen, Theologen und Soziologen, Stellungnahmen ein. Die anfänglich ins Gespräch gebrachten Experten Horst Schüler-Springorum und der Münsteraner Kriminologe Hans-Joachim Schneider kamen nicht zum Zug.91 Eine Besonderheit war der eingangs erwähnte »Dialog mit der Jugend« in zwei nichtöffentlichen »Gesprächsrunden«. Ein Zwischenbericht wurde Ende Mai 1982 im Parlament diskutiert,92 der Endbericht im Januar 1983 vorgelegt. Juristische Expertise im engeren Sinne war in der auf die »Probleme« Jugendlicher fokussierten Perspektive von vornherein kaum gefragt. Lediglich zum Thema »Demokratieverständnis« wurden Stellungnahmen des Deutschen Rich87 Deutscher Bundestag, 9. Wahlperiode, 757–2450, Kurzprotokoll der 1. (konstituierenden Sitzung) der Enquête-Kommission »Jugendprotest«, 2. 7. 1981, PA-BT, 3406-1. 88 Böhr/Busch, Politischer Protest, S. 35ff. 89 Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Materialien der Enquêtekommission, Bonn 1983, S. 9. 90 Ralf Altenhof, Die Enquête-Kommissionen des Deutschen Bundestags, Wiesbaden 2002, S. 182–183. 91 Protokoll Nr. 3, 28. 9. 1981; Protokoll Nr. 4, 19. 10. 1981, PA-BT, 3406-1. 92 Debatte über den Zwischenbericht, 8. 5. 1982, Plenarprotokoll 9/104; veröffentlicht in der Schriftenreihe des Bundestages »Zur Sache 1/82« mit einer Gesamtauflage von 90.000 Exemplaren, Zwischenbericht der Enquête-Kommission »Jugendprotest im demokratischen Staat« gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 26. 5. 1981, Drucksache 9/411.

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terbundes und der Bundesarbeitsgemeinschaft Christlich-Demokratischer Juristen angefordert. Ersterer verwies auf einschlägige Studien zum Anstieg von Jugendkriminalität, deren Ursachen in gestörten und zunehmender »Materialisierung« unterliegenden sozialen Beziehungen gesehen wurden, diagnostizierte aber auch »Werteverfall« und »Perspektivlosigkeit« angesichts der Jugendarbeitslosigkeit.93 Insgesamt gab der Richterbund Entwarnung, sei doch ein »Absinken des Rechtsbewußtseins« nur punktuell zu beobachten und eher Folge, denn Ursache des Protests.94 Auch die Christlich-Demokratischen Juristen betonten, dass die Mehrheit der Jugendlichen der Rechtsordnung positiv gegenüberständen, warnten aber davor, »ernstzunehmende Rechtsbrüche« bei Demonstrationen oder Hausbesetzungen im Namen »legitimer Ziele« oder »einer höheren Gerechtigkeit« zu verharmlosen. Das Ansehen des Rechts unter Jugendlichen sah man lediglich durch eine Rechtspraxis gefährdet, die mit zweierlei Maß messe, »Verständnis« für politisch motivierte Delikte aufbringe, aber Verkehrsvergehen von Jugendlichen zu streng ahnde.95 In einer 1984 rückblickend gezogenen Bilanz, die Busch gemeinsam mit Christoph Böhr verfasste – letzterer wissenschaftlicher Mitarbeiter des Kommissionsekretariats und mittlerweile als Wissmanns Nachfolger Vorsitzender der Jungen Union – kamen die Autoren zu dem Schluss, der Protest inklusive seines Potentials kollektiver Gewalt resultiere aus einer »relativen Deprivation«, die aus der Diskrepanz zwischen Wertansprüchen und Werterwartungen entstehe. Diese zeige dann politische Konsequenzen, wenn »Menschen davon überzeugt« seien, »daß Gewaltanwendung gegenüber den politisch Handelnden, Herrschenden und Verantwortlichen normativ gerechtfertigt« sei.96 Über die Entstehungskontexte solcher Überzeugungen und wie sich diese vermeiden ließen, war man entlang politischer Fraktionierungen uneins. Was die CDU-Vertreter als »Sozialisationsdefizit« betrachteten, wurzelte für die SPDVertreter in politischen Versäumnissen. Bei der Gesprächsrunde im Abgeordnetenhaus hatte der Abgeordnete der Alternativen Liste Manfred Rabatsch unter Verweis auf den Berliner Besuch der Eidgenössischen Kommission für Jugendfragen – dem Vorbild für die bundesdeutsche Enquêtekommission – im April 1981 bemerkt,97 dass man »sich solche Arbeit eigentlich sparen« könne, wenn sie »konsequenzlos« bliebe, denn Jugendliche und Hausbesetzer hätten lediglich 93 Bundeszentrale für politische Bildung, Materialien der Enquêtekommission, S. 389– 392. 94 Ebd., S. 390. 95 Ebd., S. 392–394. 96 Böhr/Busch, Politischer Protest, S. 9. 97 Hierzu Jan Hansen, Defining Political Dissidence: The Swiss Debate on the Riots of 1980–81, in: Knud Andresen/Bart van der Steen (Hrsg.), European Youth Revolt – European Perspectives on Youth Protest and Social Movements in the 1980s, Basingstoke 2016, S. 243–257.

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aufgenommen, was sich in Anhörungen von Mietergruppen und Betroffenenvertretungen als Erfahrung angesammelt habe: »nämlich fehlende Fähigkeit und Bereitschaft der Entscheidungsträger im politischen Raum […] das was die Mieter sagen […] aufzunehmen, einzubinden in den politischen Entscheidungsrahmen.« Stattdessen seien die Konzepte der Hausbesetzer, dieses »Sichbeteiligen an Zukunftsfragen«, mit »einer Gewaltstrategie einfach ignoriert und auch liquidiert« worden. Schröder adressierte nicht zuletzt die Regierungsverantwortung der SPD, indem er betonte, »wie tief […] die Kluft zwischen der etablierten Politik […] und den Jugendlichen« sei, weil »zehn Jahre Enttäuschung über den Versuch, in den Institutionen des Staates und mit ihnen bestimmte gesellschaftliche Mißstände abzustellen, zehn Jahre mißlungener Versuch, […] dazu geführt haben, daß […] sich die Situation so unversöhnlich darstellt: […] dieser Staat kann sein Gewaltmonopol nur dann behaupten, wenn er es nicht eskalierend, sondern deeskalierend einsetzt.«98 Die Jugendsoziologie verneinte dagegen einen Trend zur »Gewaltbereitschaft« und reduzierte den Konflikt auf eine »gestörte Kommunikation zwischen Jugendlichen und Erwachsenen«.99 Der Sachverständige Soziologe Henrik Kreutz warnte vor allem vor »einer Politik der Sprache«, in der der »Gewaltbegriff […] ständig reformuliert« werde.100 Insbesondere die Konzeption des Zwischenberichts hatte Diskussionen darüber ausgelöst, ob der Bericht eine »rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Würdigung« enthalten und wie er zum Verhältnis von Legitimität und Legalität Stellung beziehen solle. Der Kommissionsekretär Werner Gründler schlug vor, die Kommission solle eine Unterscheidung vorlegen, welche Protestformen »sie als noch legitim ansehe, und denen, die dies nicht mehr seien«. Hinlänglich diskutierte die Kommission den Abschnitt über die »Reaktionen auf den Jugendprotest«, in dem »von der These ausgegangen« werde, »daß das Verhalten staatlicher Organe in Berlin, Nürnberg, Frankfurt, Freiburg, Brokdorf entscheidend das Protestverhalten beeinflußt, es unter Umständen verschärft habe. […] Die Kommission solle sich darüber klar zu werden versuchen, ob es bei einer Fortsetzung der bisherigen Trends auch zu neuen Erscheinungen des

98 Diskussion der Gesprächsrunde beim Präsidenten des Abgeordnetenhauses (Peter Rebsch, Jochen Feilcke (CDU), Alexander Longolius (SPD), Manfred Rabatsch (AL), der Senator für Bau- und Wohnungswesen Ulrich Rastemborski (CDU), der Senator für Inneres Heinrich Lummer (CDU), Erika Heß (Bürgermeisterin Wedding), Günter Funk (Bürgermeister Kreuzberg), Detlef Prinz (DGB-Jugend), Klaus Pankau (DAG-Jugend), Dieter Kreft (Sozialpädagogisches Institut), Hans Schodick (Verein SO 36), Pfarrer Klaus Duntze (Evangelische Kirche); Protokoll Nr. 12, 8. 2. 1982, PA-BT, 3406-1. 99 Präsentation Endergebnisse der PROGNOS-Studie, Protokoll Nr. 24, 22. 10. 1982, PA-BT, 3406-1. 100 Protokoll Nr. 13, 5. 3. 1982, PA-BT, 3406-1.

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Terrorismus kommen werde.«101 Die Akzeptanz und Aneignung militanter Aktionsformen in breiten Teilen der sozialen Bewegungen sowie die neu aufkommende Bewegung der Autonomen – auf die die Verfassungsschutzberichte von 1980/81 hinwiesen102 – mögen zu diese Frage ebenso nahe gelegt haben, wie die Anwendung der §§ 129 und 129a StGB zur Strafverfolgung von Demonstranten aus der Hausbesetzer- oder Anti-Startbahn-Bewegung, die einige Justizbehörden forcierten. Eine vom Innenministerium erbetene Stellungnahme zu den Fragen der Kommission reichte Rupprecht, der anfänglich den internen Sitzungen der Enquêtekommission regelmäßig beiwohnte,103 an die Projektleiter der Analysen zum Terrorismus weiter. Nicht alle, unter ihnen Jäger, waren bereit, zu dem umfänglichen Fragenkatalog, der auf einen Zusammenhang zwischen sozialen Bewegungen, politischer Militanz und Terrorismus zielte, Stellung zu nehmen. Die meisten schwadronierten mit einer gewissen Beliebigkeit über ihre tagespolitische Einschätzung der »Jugend«. Lediglich der noch in der Verpflichtung stehende Fritz Sack versuchte unter Hinweis auf wissenschaftliche Standards der Begriffsbildung und zentrale internationale Studien noch einmal deutlich zu machen, dass er »die Bereitschaft, Art und Kontrolle staatlicher Gewaltanwendung (und die Ausdehnung des juristisch Möglichen) gegen soziale und politische Bewegung« für eine der »wichtigsten Variablen« halte, die die »Bereitschaft zur Gewaltanwendung determinieren«. Aber nicht nur der hohe Einsatz staatlicher Zwangsmittel sorgte Sack, sondern vor allem eine »politische Kultur«, die »politische Forderungen und Ziele über die Mechanismen der institutionellen und inhaltlichen Ausgrenzung ›diskursunfähig‹« zu machen versuche.104 In gewisser Weise integrierte die Kommission auch diese Kritik, indem sie im Ergebnis ihre Prämisse falsifizierte: Es handele sich nicht um jugendspezifische, sondern um gesamtgesellschaftliche Probleme. Sie betonte zwar explizit das Gewaltmonopol des Staates, forderte jedoch mehrheitlich, legitime staatliche Gewalt nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einzusetzen und Überre-

101 Protokoll Nr. 9, 11. 11. 1981, PA-BT, 3406-1. 102 Lukas J. Hezel, »Was gibt es zu verlieren, wo es kein Morgen gibt?« Chronopolitik und Radikalisierung in der Jugendbewegung 1980/81, in: Fernando Esposito (Hrsg.), Zeitenwandel – Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom, Göttingen 2017, S. 118–152, S. 129–130. 103 Protokoll Nr. 3 (nichtöffentlich, nur für dienstlichen Gebrauch), 28. 9. 1981, PA-BT, 3406-1. 104 BMI an Vorsitzenden der Enquête-Kommission »Jugendprotest«, Anlage II: Antworten einiger am Forschungsprojekt des BMI beteiligter Wissenschaftler zum Fragenkatalog der Enquêtekommission »Jugendprotest im demokratischen Staat« zum Thema »Gewalttätige Demonstrationen«, 20. 11. 1981, PA-BT 3406-1, Kommissionsdrucksache 04/10, 193, 195, 202.

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aktionen zu vermeiden. Auch stellte sie sich einer Dramatisierung von »Gewaltbereitschaft« entgegen.105 Juristisch wurden zwei Positionierungen der Kommission relevant: Noch vor Erscheinen des Endberichts wurde der Vorschlag des Zwischenberichts, das bestehende Prüfungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer abzuschaffen, im Rahmen des im Dezember 1982 beschlossenen Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung umgesetzt. Lösungsvorschläge für den Umgang mit der Hausbesetzerbewegung waren besonders gefragt. Hierfür wurden der Kommission 150.000 DM für empirische Untersuchungen, die Motive von Hausbesetzern und »gewalttätigen Demonstranten« untersuchen sollten, zur Verfügung gestellt. Rupprecht schlug vor, den »Zugang zu Hausbesetzern« nicht nur auf Berlin zu beschränken, und Schröder versuchte, den beauftragten Forschungsinstituten den Zugang zu den Besetzern über die sogenannten Paten [besetzter Häuser] zu verschaffen.106 Bezüglich der Hausbesetzungen sprach sich die Kommission für eine Legalisierung bestehender Besetzungen nach britischem Vorbild aus. Der Endbericht gab einer Mehrheitsmeinung Ausdruck, welche »die Tendenz zu unangemessen hohen Strafen« und die Strafverfolgung von Besetzern nach § 129 StGB (Bildung krimineller Vereinigungen) kritisierte.107 Die Mehrheit sprach sich ebenfalls dafür aus, eine Amnestie für Hausbesetzer analog zur Amnestie für Demonstrationsstraftaten nach 1968 auf den Weg zu bringen, zu der man sich allerdings letztlich nicht durchringen konnte.108 Während die Kommission nach außen für sich reklamierte, gegenüber der »Kluft zwischen Staat, Gesellschaft und Protestjugend« eine Brückenfunktion zu besitzen,109 wurde ihr insbesondere von den jugendlichen Gesprächspartnern vorgeworfen, dass ihre Vorschläge nicht »praktikabel« seien und man auch »keinerlei Vertrauen mehr in die Politik« habe.110 Zumal – das wusste man auch in der Kommission – die »Konfrontationsstrategie« des Berliner Innenministeriums, die besetzten Häuser unterdessen räumen zu lassen, den »Dialog un-

105 Endbericht, S. 20. 106 Protokoll Nr. 4, 19. 10. 1981, PA-BT, 3406-1. Viele besetzte Häuser hatten Schriftsteller, Künstler, Pfarrer etc. als »Paten«, die die Hausbesetzer mit Geld, Materialien, öffentlichkeitswirksamen Auftritten sowie bei den Verhandlungen mit den Behörden unterstützten. 107 Endbericht, S. 20. 108 Endbericht, S. 20, 35f. Eine Amnestie war insbesondere von Jugendlichen, die sich in das Gespräch mit der Kommission begeben hatten, gefordert worden. Protokoll Nr. 6, Top 1: Nichtöff. Anhörung von Jugendlichen im Bundesverband der AWO Bonn, 23. 11. 1981, PABT, 3406-1. 109 Endbericht, S. 7. 110 So ein Ergebnis der von der Kommission in Auftrag gegebenen PROGNOS-Studie. Auswertung Reaktionen auf den Zwischenbericht, Protokoll Nr. 20, 14. 5. 1982, PA-BT, 3406-1.

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glaubwürdig« werden ließ.111 Wie die Kommission noch vor der Veröffentlichung des Endberichtes befürchtet hatte, wurde die sozialpolitische Umsetzung ihrer Anregungen nicht weiterverfolgt.112 Der Regierungswechsel vom Herbst 1982 ließ sie ins Hintertreffen geraten.

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Fazit

Die hier behandelten Kommissionen waren zwischen 1977 und 1990 ein Mittel, den Konflikt zwischen Staat und sozialen Bewegungen zu flankieren. In politischen Konfliktsituationen, in denen militante Demonstrationen und Anschläge das staatliche Gewaltmonopol herausforderten, bildeten die Kommissionen eine Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Recht, Politik und Öffentlichkeit. Ihre Analysen sollten zu einer konsensualen Problemdeutung und (Re-)Definition des Gewaltbegriffes aus Sicht der staatlichen Institutionen beitragen. In der politischen Auseinandersetzung bot ihre Expertise eine Legitimationsressource, zumal die Kommissionen staatliche Gewaltausübungen von ihren Überlegungen ausnahmen, gefragt waren aber auch praxisnahe und handlungsorientierte Konzepte für die kurzfristige Umsetzung in Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz bis hin zu konkreten strafrechtlichen und strafprozessualen Reformvorschlägen. Dabei variierten die Auftraggeber, Arbeitsaufträge sowie die personelle Besetzung. In ihrer Zusammensetzung spiegelten sie politische Kräfteverhältnisse und heterogene Erkenntnisinteressen wider. Gemeinsam ist den Sachverständigengremien aber, dass sie Definitionen von Problemen wie »Gewalt«, »Protest« oder »Terrorismus« artikulierten und versuchten, politisch wie juristisch »angemessene« Reaktionen vorzuschlagen, auch wenn die Bewertungen in den Arbeitsgruppen hinsichtlich des Verhältnisses von präventiven und repressiven Maßnahmen variierten. In der Tendenz legten sie entpolitisierende Erklärungsmuster vor. Die komplexe Analyse gesellschaftlicher Interaktionen – wie sie Sack vertrat – fristete in der wissenschaftlichen Politikberatung ein politisch unerwünschtes Schattendasein, was langfristig in das wissenschaftliche Feld rückwirkte. Obwohl die Konflikte ein weites Feld juristischer Fragen berührten, spielte juristische Expertise lediglich eine untergeordnete Rolle. Kritik an einer verschärften Sicherheitsgesetzgebung, wie sie noch im Projekt von Sack formuliert worden war, wurde zehn Jahre später nur noch von externen Kritikern geäußert. Juristische Aushandlungsprozesse wie sie die Enquêtekommission Jugendprotest im Umgang mit Hausbesetzern vorgeschlagen hatte, mündeten bei der Gewaltkom-

111 Protokoll 26, 12. 11. 1982, PA-BT, 3406-1. 112 Beratung des Endberichts, Protokoll 30, 7. 12. 1982, PA-BT, 3406-1.

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mission in die Forderung sofortiger Räumungen.113 Aus der Ad-hoc-Lösung, Problemdefinitionen durch Experten einzuwerben, entstand in der Folge die Praxis der periodischen Sicherheitsberichte,114 in denen sich die von den Kritikern der Gewaltkommission befürchtete Tendenz zur Funktionalisierung der Kriminologie für die Kriminalprävention fortsetzte.

113 Vorschlag 82. 114 Deutscher Bundestag, Presseerklärung »Experten: Regelmäßige Sicherheitsberichte, Inneres und Heimat«, Anhörung vom 18. 2. 2019 (hib 176/2019), https://www.bundestag.de/presse /hib/594370-594370 [25. 10. 2020].

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Ein zeitgeschichtlicher Beleg für die Existenz politischer Justiz in der Bundesrepublik Deutschland? »Terrorismusbekämpfung«1 und Strafprozesse gegen die Revolutionären Zellen als blinder Fleck der Juristischen Zeitgeschichte der 1980er Jahre 1

Einleitung

Im März 2020 veröffentlichte die Journalistin und Autorin Ingrid Strobl im Verlag Edition Nautilus eine Autobiografie mit dem Titel »Vermessene Zeit. Der Wecker, der Knast und ich«. Im Buch beschrieb Ingrid Strobl u. a. ihre Verhaftung im Dezember 1987, die im Rahmen einer bundesweiten Razzia gegen die Revolutionären Zellen (RZ) und die Rote Zora vom Bundeskriminalamt (BKA) durch eine speziell konzipierte Ermittlungsmethode, das sogenannte »WeckerProgramm«, jahrelang vorbereitetet worden war. Die aus der Sicht des BKA nur in Teilen erfolgreiche Razzia wurde öffentlich als »Aktion Zobel« bekannt. Das BKA hatte bereits Anfang der 1980er Jahre bei der Untersuchung der Tatmittel von RZ- und Rote Zora-Anschlägen festgestellt, dass häufig ein Reisewecker, das Modell »Sonochron« der Firma »Emes«, zur Zündzeitverzögerung eingesetzt worden war. Daraufhin kaufte das BKA als federführende Ermittlungsbehörde Ende 1984 die letzte Baureihe des Weckers mit einer Stückzahl von 7.000 auf, versah bei jedem Wecker das Ziffernblatt mit einer spezifischen Nummer und ließ die gekennzeichneten Modelle nur noch in ausgewählten Fachgeschäften verkaufen.2 Die Ladeninhaber*innen kooperierten mit dem BKA, Spezialist*innen der »Terrorismusbekämpfung« bereiteten die Verkäufer*innen auf Ver1 U. a. Gabriele Metzler hat darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Begriff »Terrorismus« um einen jeweils zeitgenössischen Quellenbegriff handelt, der nur in Anführungszeichen genutzt werden sollte. Im weiteren Verlauf des Aufsatzes werden »Terrorismus« und alle daraus abgeleiteten Termini, wie z. B. »Linksterrorismus«, »Terrorist*innen« etc., in Chevrons gesetzt; vgl. Metzler, Gabriele, Erzählen, Aufführen, Widerstehen: Westliche Terrorismusbekämpfung in Politik, Gesellschaft und Kultur der 1970er Jahre, in: Johannes Hürter (Hg.), Terrorismusbekämpfung in Westeuropa, Demokratie und Sicherheit in den 1970er und 1980er Jahren (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 104), Berlin u. a. 2015, S. 117–136, hier S. 118. 2 Hunger, Bertolt/Siemens, Ansgar, Revolutionäre Zellen. Knockout für die Feierabendterroristen, Der Spiegel Online, https://www.spiegel.de/geschichte/revolutionaere-zellen-alsdie-feierabendterroristen-1987-aufflogen-a-1301140.html (3. Januar 2021).

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kaufsgespräche zu diesem Wecker-Modell vor und statteten die Geschäfte mit Überwachungskameras aus. Erstmals räumte Strobl öffentlich im Buch und in darauffolgenden Interviews ein, einen der gekennzeichneten Wecker, Nummer 6457, mit dem Wissen gekauft zu haben, dass dieser bei einem Sprengstoffanschlag der RZ gegen ein Lufthansa-Gebäude 1986 in Köln eingesetzt werden sollte.3 Am 29. August 2020 veröffentlichte Andrei Doultsev in der linken Tageszeitung »junge Welt« ein Interview mit Ingrid Strobl. Doultsev formulierte als Einstieg in das Interview die These, dass das Buch von Strobl ein »zeitgeschichtlicher Beleg für die Existenz politischer Justiz in der Bundesrepublik Deutschland« sei. Auf die Frage, ob Strobls »Verfolgung« durch Ermittlungsbehörden aus ihrer Sicht »böse Absicht beziehungsweise ein politisches Spiel« gewesen ist, antworte sie, dass es ihrer Meinung nach im Ermittlungsprozess nicht primär um ihre Person gegangen sei, sondern das Ziel der Ermittlungen darin bestanden habe, »endlich den Revolutionären Zellen […] eins auswischen zu können«. Ingrid Strobl beschrieb aus ihrer Sicht das Spezifikum »bundesdeutscher Linksterrorismusbekämpfung« in den 1970er-1980er Jahre im gleichen Interview wie folgt: »Was im Umgang mit den linken politischen Gefangenen darüber hinausging, das war der eigens dafür eingeführte Paragraph 129a, der ihre Rechte beschränkte und die Haftbedingungen verschärfte. Für sie gelten seither Isolationshaft, Besuchsbeschränkungen, jedes Wort kann jederzeit abgehört werden, etc. Sinn dieses Paragraphen war es, alle, die eine radikale und nicht ganz legale Politik vertraten, mit allen Mitteln zu verfolgen.«4

Nachdem der Bundesgerichtshof (BGH) das erste Urteil vom Juni 1989 gegen Ingrid Strobl aufgehoben hatte, veröffentlichte »Der Spiegel« am 25. Mai 1990 einen Artikel zum Themenkomplex und formulierte darin folgende Thesen: »Die Journalistin Ingrid Strobl war Opfer eines politischen Strafrechts geworden, mit dem bislang Rechtsbrüche, die eine geistige Nähe zu Zielen des Untergrunds vermuten ließen, gnadenlos verfolgt wurden – als ›Unterstützung einer terroristischen Vereinigung‹ nach Paragraph 129a des Strafgesetzbuches […] Das Bündel rigoroser Vor-

3 Vgl. u. a. Strobl, Ingrid, Vermessene Zeit, Der Wecker, der Knast und ich, Hamburg 2020, hier S. 10 u. 66–67; Akrap, Doris, »Ich wusste, wofür der Wecker war«. Ingrid Strobl über Knast und Klasse, taz. die tageszeitung online, https://taz.de/Ingrid-Strobl-ueber-Knast-und -Klasse/!5671159/ (3. Januar 2021). 4 Andrei Doultsev, »Unsere Absicht war, alle Frauen zu erreichen«. Über feministische Grundlagen, politischen Aktionismus und das Buch »Vermessene Zeit«. Ein Gespräch mit Ingrid Strobl, https://www.jungewelt.de/artikel/385313.revolution%C3%A4re-zellen-unsereabsicht-war-alle-frauen-zu-erreichen.html (3. Januar 2021).

»Terrorismusbekämpfung« und Strafprozesse gegen die Revolutionären Zellen

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schriften ist geradezu eine Ermunterung für Hardliner in der Justiz, jeden Verdächtigen aus dem Dunstkreis der Szene erst mal wegzuschließen.«5

Die beiden Strafprozesse gegen Ingrid Strobl zwischen 1989 und 1990 stellten den Abschluss der Strafverfahren wegen »Mitgliedschaft in und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung« nach § 129a Strafgesetzbuch (StGB) in den 1980er Jahren gegen die Revolutionären Zellen und die Rote Zora dar. Die zeitgenössisch getroffene Feststellung, dass Ingrid Strobl »Opfer eines politischen Strafrechts« geworden sei und die von ihr selbst dreißig Jahre später wiederholt wurde, ist bisher in der geschichtswissenschaftlichen Analyse der juristischen Auseinandersetzung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem »Linksterrorismus« nur am Rande aufgearbeitet worden. Der vorliegende Aufsatz schließt an zwei wesentliche Zweige der deutschen »Linksterrorismusforschung« an: staatliche »Terrorismusbekämpfung« und Strafprozesse auf der Grundlage des § 129a StGB gegen »linksterroristische Vereinigungen«. Im Mittelpunkt der bisher durchgeführten zeitgeschichtlichen Forschungen zu Ermittlungsverfahren und Strafprozessen gegen (vermeintliche) Mitglieder und/oder Unterstützer*innen »linksterroristischer Vereinigungen« nach § 129a StGB standen die Rote Armee Fraktion (RAF) und die Bewegung 2. Juni (B2J).6 Die staatliche Bekämpfung des »Linkterrorismus« dominiert bis

5 Strafrecht: Erst mal wegschließen. Der Bundesgerichtshof stoppt die uferlose Ausweitung der Strafvorschriften gegen Terroristen, in: Der Spiegel, 21. 5. 1990, S. 68–73, hier S. 68–72, http s://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13499807.html (2. Februar 2020). 6 Vgl. u. a. Heger, Martin, Ein Ende der Entkriminalisierung – Die Strafgesetze zur Bekämpfung des Terrorismus seit Ende der 1970er Jahre, in: Martin Heger/Anneke Petzsche/ Gabriele Metzler (Hg.), Terrorismusbekämpfung in Europa im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit, Historische Erfahrungen und aktuelle Herausforderungen (Schriften zum Internationalen und Europäischen Strafrecht 40), Baden-Baden 2019, S. 47–63; DiewaldKerkmann, Gisela, RAF und Strafverfahren gegen RAF-Mitglieder: Zäsuren in der Geschichte der RAF, in: Carola Klausing/Verena von Wiczlinski (Hg.), Die RAF – ein deutsches Trauma?, Versuch einer historischen Deutung, Mainz 2018, S. 104–131; Diewald-Kerkmann, Gisela, Justiz gegen Terrorismus. »Terroristenprozesse« in der Bundesrepublik, Italien und Großbritannien, in: Johannes Hürter (Hg.), Terrorismusbekämpfung in Westeuropa, Demokratie und Sicherheit in den 1970er und 1980er Jahren (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 104), Berlin u. a. 2015, S. 36–61; Diewald-Kerkmann, Gisela, Herausforderung der bundesdeutschen Justiz. Terroristinnen vor Gericht, in: Dirk van Laak/Irene BandhauerSchöffmann (Hg.), Der Linksterrorismus der 1970er Jahre und die Ordnung der Geschlechter (Giessen Contributions to the Study of Culture 9), Trier 2013, S. 163–182; Mehlich, Andreas, Der Verteidiger in den Strafprozessen gegen die Rote Armee Frakion, Politische Justiz und politische Strafverteidigung im Lichte der Freiheit der Advokatur, Berlin 2012; DiewaldKerkmann, Gisela, Frauen, Terrorismus und Justiz, Prozesse gegen weibliche Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni (Schriften des Bundesarchivs 71), Düsseldorf 2009; DiewaldKerkmann, Gisela, »Verführt« – »abhängig« – »fanatisch«: Erklärungsmuster von Strafverfolgungsbehörden und Gerichten für den Weg in die Illegalität – Das Beispiel der RAF und der Bewegung 2. Juni (1971–1973), in: Klaus Weinhauer/Jörg Requate/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.),

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heute neben der Organisationsgeschichte der RAF und den Wechselwirkungen zwischen Medien und Gewalt die bundesdeutsche »Linksterrorismusforschung«.7 Dabei fokussieren sich Forschungen zur Bekämpfung »linksterroristischer Vereinigungen« in der Bundesrepublik Deutschland stark auf die exekutiven und legislativen Reaktionen auf Anschläge, Entführungen und Morde der RAF und der B2J.8 Gabriele Metzler stellte fest, dass die »Anti-Terror-Politik« der Bundesrepublik Deutschland zu einem Erinnerungsort der wehrhaften Demokratie geworden ist.9 Forschungen zur Geschichte der Revolutionären Zellen konzentrierten sich bis heute weitestgehend auf die eigenständig operierende Internationale Revolutionäre Zelle (IRZ), die in Kooperation mit der Popular Front for the Liberation Terrorismus in der Bundesrepublik, Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren (Campus Historische Studien 42), Frankfurt am Main 2006, S. 217–243. 7 Metzler, Gabriele, Der historische Ort der Terrorismusbekämpfung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre, in: Martin Heger/Anneke Petzsche/Gabriele Metzler (Hg.), Terrorismusbekämpfung in Europa im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit, Historische Erfahrungen und aktuelle Herausforderungen (Schriften zum Internationalen und Europäischen Strafrecht 40), Baden-Baden 2019, S. 25–46, hier S. 25–26. 8 Vgl. u. a. Metzler, Der historische Ort; Hürter, Johannes, Der Staat. Staat und Terrorismus in der Bundesrepublik der 1970er Jahre, in: Carola Klausing/Verena von Wiczlinski (Hg.), Die RAF – ein deutsches Trauma?, Versuch einer historischen Deutung, Mainz 2018, S. 14–56; Metzler, Gabriele, »Im Zweifel für die Freiheit«? Innere Sicherheit und Rechtsstaat bei liberalen Innenministern, in: Frank Bösch/Thomas Hertfelder/Gabriele Metzler (Hg.), Grenzen des Neoliberalismus : Der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert (Zeithistorische Impulse 13), Stuttgart 2018, S. 319–340; Hürter, Johannes, Regieren gegen Terrorismus. Die Beispiele Westminster, Bonn und Rom in den 1970er Jahren, in: Ders. (Hg.), Terrorismusbekämpfung in Westeuropa, Demokratie und Sicherheit in den 1970er und 1980er Jahren (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 104), Berlin u. a. 2015, S. 63–79; Metzler, Gabriele, Erzählen, Aufführen, Widerstehen: Westliche Terrorismusbekämpfung in Politik, Gesellschaft und Kultur der 1970er Jahre, in: Johannes Hürter (Hg.), Terrorismusbekämpfung in Westeuropa, Demokratie und Sicherheit in den 1970er und 1980er Jahren (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 104), Berlin u. a. 2015, S. 117–136; Hürter, Johannes, Anti-Terrorismus-Politik. Ein deutsch-italienischer Vergleich 1969–1982, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 57 (2009), S. 329–348; Graaf, Beatrice de, Die Bekämpfung politischer Gewalt: Versuch eines internationalen Strukturvergleichs, in: Beatrice de Graaf u. a. (Hg.), Der »Deutsche Herbst« und die RAF in Politik, Medien und Kunst, Nationale und internationale Perspektiven (Histoire 2), Bielefeld 2008, S. 36–56; Weinhauer, Klaus, Staatsmacht ohne Grenzen? Innere Sicherheit, »Terrorismus«-Bekämpfung und die bundesdeutsche Gesellschaft der 1970er Jahre, in: Susanne Krasmann/Jürgen Martschukat (Hg.), Rationalitäten der Gewalt, Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Bielefeld 2007, S. 215–238; Weinhauer, Klaus, Zwischen »Partisanenkampf« und »Komissar Computer«: Polizei und Linksterrorismus in der Bundesrepublik bis Anfang der 1980er Jahre, in: Klaus Weinhauer/Jörg Requate/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Terrorismus in der Bundesrepublik, Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren (Campus Historische Studien 42), Frankfurt am Main 2006, S. 244–270; Weinhauer, Klaus, Terrorismus in der Bundesrepublik der Siebzigerjahre. Aspekte einer Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit, in: Archiv für Sozialgeschichte (2004), S. 219–242. 9 Metzler, Der historische Ort, S. 25.

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of Palestine – External Operations (PFLP-EO) Anschläge gegen israelische und »zionistische« Ziele sowie gegen US-amerikanische Militärgebäude in der Bundesrepublik durchführte. Weltweit bekannt wurde diese Zelle durch internationale Kommandoaktionen in Zusammenarbeit mit der PFLP-EO, u. a. durch die Organization of the Petroleum Exporting Countries (OPEC)-Geiselnahme im Dezember 1975 und durch die Entführung einer Air France-Maschine nach und der anschließenden Geiselnahme in Entebbe in Uganda im Juni und Juli 1976. Die Forschungen und Veröffentlichungen zur IRZ dominieren und überlagern bis heute die heterogene und vielseitige Geschichte der Revolutionären Zellen. Die »Terrorismusbekämpfung« und die damit verbundenen Strafprozesse gegen (vermeintliche) Unterstützer*innen und Mitglieder der Revolutionären Zellen sind bisher nur in Ansätzen untersucht worden. Edith Lunnebach, die Anwältin Ingrid Strobls, veröffentlichte bereits kurz nach dem ersten Prozess und der Aufhebung des Urteils durch den Bundesgerichtshof im Jahr 1990 eine Analyse zur Anklageerhebung sowie zur Prozessstrategie der Bundesanwaltschaft und des 5. Strafsenats des Oberlandesgerichts (OLG) Düsseldorf im Strafverfahren gegen Ingrid Strobl.10 Sasˇa Vojin Vukadinovic´ untersuchte 2013 in einer Publikation zu »verlängerten Feminismus-Obsession[en] bundesdeutscher Terrorismusfahnder« in einem Unterkapitel den Prozess gegen Ingrid Strobl.11 Markus Mohr beschäftigte sich 2016 in einem Aufsatz zu Anschlägen auf Filmspielhäuser als Reaktion auf die Verfilmung der israelischen Rettungsmission in Entebbe mit dem Strafprozess gegen die RZ-Mitglieder Gerhard Albartus und Enno Schwall.12 Bisher gibt es keine ausführliche Untersuchung der »Terrorismusbekämpfung« und der Strafprozesse gegen (vermeintliche) Mitglieder und Unterstützer*innen der Revolutionären Zellen. Generell existiert bis heute keine detaillierte, veröffentlichte geschichtswissenschaftliche Studie zu den Revolutionären Zellen.13

10 Lunnebach, Edith, Der Weckerkauf und seine Folgen – »Beschäftigung mit anschlagsrelevanten Themen oder geistige Nähe zum Terrorismus«, in: Helmut Janssen/Michael Schubert (Hg.), Staatssicherheit, Die Bekämpfung des politischen Feindes im Inneren, Bielefeld 1990, S. 140–150. 11 Vgl. Vukadinovic´, Vojin Sasˇa, Spätreflex. Eine Fallstudie zu den Revolutionären Zellen, der Roten Zora und zur verlängerten Feminismus-Obsession bundesdeutscher Terrorismusfahnder, in: Dirk van Laak/Irene Bandhauer-Schöffmann (Hg.), Der Linksterrorismus der 1970er Jahre und die Ordnung der Geschlechter (Giessen Contributions to the Study of Culture 9), Trier 2013, S. 139–161, hier S. 150–159. 12 Vgl. Mohr, Markus, Kampagne gegen einen »Hetzfilm« und der Entebbe-Strafprozess, in: Ders. (Hg.), Legenden um Entebbe, Ein Akt der Luftpiraterie und seine Dimensionen in der politischen Diskussion, Münster 2016, S. 151–173. 13 Stand Dezember 2020.

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Der Begriff »Politische Justiz« nimmt im Aufsatz eine Schlüsselrolle ein, sodass dieser zunächst einer näheren Bestimmung und Definition bedarf.14 Nach Auffassung des Juristen Gerhard Wolf wird die Bezeichnung »Politische Justiz« u. a. für eine »Schein-Justiz« verwendet und stellt einen anderen Ausdruck für »politische Rechtsbeugung durch vorsätzlich gesetzwidrige oder auf rechtsstaatswidrige Gesetze gestützte Urteile unter dem Deckmantel der Justiz« dar.15 Im allgemeinen Sprachgebrauch sowie in öffentlich und medial geführten Debatten werde der Begriff »Politische Justiz« häufig als ein Schlagwort für »politisch motivierte Willkür« gebraucht und sei ausschließlich negativ konnotiert.16 Otto Kirchheimer sprach von »politischer Justiz«, »[…] wenn Gerichte für politische Zwecke in Anspruch genommen werden, so dass das Feld politischen Handelns ausgeweitet und abgesichert werden kann. Die Funktionsweise der politischen Justiz besteht darin, dass das politische Handeln von Gruppen und Individuen der gerichtlichen Prüfung unterworfen wird.«17

Ziel der nachfolgenden Analyse ist es, in Anlehnung an Gerhard Wolf der Frage nachzugehen, ob es sich bei der »Terrorismusbekämpfung« gegen die Revolutionären Zellen in den 1980er Jahren um politisch konfliktgeladene, aber rechtsstaatlich korrekte Prozesse und Urteile handelte. Gleichzeitig werden anhand exemplarischer Beispiele die Praktiken der »Terrorismusbekämpfung« gegen die Revolutionären Zellen von Seiten der zuständigen Ermittlungsbehörden und der Justiz untersucht, die auf den »Anti-Terror-Gesetzgebungen« aufbauten. Der Aufsatz beginnt zunächst mit einer kurzen Darstellung, wer und was die Revolutionären Zellen eigentlich waren. Anschließend wird anhand ausgewählter Beispiele aufgezeigt, wie sich die Entwicklungen und Veränderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen der »Terrorismusbekämpfung« in der Bundesrepublik auf die Fahndungen und Ermittlungen gegen verschiedene Revolutionäre Zellen und das klandestine sozialrevolutionäre Gewaltnetzwerk RZ in den 1970er Jahren auswirkten. Im dritten Kapitel wird untersucht, in welchem Spannungsfeld Ermittlungen und Strafprozesse gegen (vermeintliche) RZ-Mitglieder und -Unterstützer*innen zwischen 1977 und 1990 vorbereitet und durch14 Der Begriff »Politische Justiz« wird im Aufsatz in Chevrons gesetzt, da es sich um einen Quellenbegriff handelt und zum Teil in medialen und wissenschaftlichen Debatten als politischer Kampfbegriff verwendet wird. 15 Wolf, Gerhard, »Politische Justiz«? – Rechtsstaatliche Gerichtsbarkeit oder Willkürjustiz!, in: Justizministerium des Landes NRW (Hg.), Politische Strafjustiz 1951–1968, Betriebsunfall oder Symptom? (Juristische Zeitgeschichte NRW 7), Düsseldorf 1998, S. 117–142, hier S. 125. 16 Vgl. Wolf, »Politische Justiz«?, S. 118. 17 Kirchheimer, Otto, [3.] Politische Justiz: Verwendung juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken [1965], in: Lisa Klingsporn/Merete Peetz/Christiane Wilke (Hg.), Politische Justiz und Wandel der Rechtsstaatlichkeit (Otto Kirchheimer – Gesammelte Schriften 4), Baden-Baden 2019, S. 135–831, hier S. 766.

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geführt wurden. In der Schlussbetrachtung werden die Ergebnisse des Aufsatzes pointiert zusammengefasst und die zentrale Fragestellung des Aufsatzes beantwortet: Waren die »Terrorismusbekämpfung« und die darauf aufbauenden Strafprozesse gegen die Revolutionären Zellen in den 1980er Jahren zeitgeschichtliche Belege für die Existenz einer »Politischen Justiz« in der Bundesrepublik Deutschland?

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Konnten von legislativer Seite aus durch die »Anti-Terror-Gesetze« der 1970er Jahre tatsächlich zielgerichtete juristische sowie fahndungsrelevante Handlungsmöglichkeiten gegen »linksterroristische Strukturen« konzipiert werden? Bevor die Genese der bundesdeutschen »Terrorismusbekämpfung« mit dem Schwerpunkt auf die Revolutionären Zellen in den 1970er Jahren skizziert und zusammengefasst wird, ist es zunächst wichtig zu verstehen, was die Revolutionären Zellen überhaupt waren. Das oft als dritte »linksterroristische Gruppierung« in der Bundesrepublik Deutschland bezeichnete klandestine Gewaltnetzwerk der RZ stand und steht bis heute im »Schatten der RAF« und hat kaum Eingang in die deutsche Erinnerungskultur gefunden.18 Mit mindestens 200 Anschlägen und einem verursachten Sachschaden von mindestens 400 Millionen D-Mark waren die Revolutionären Zellen das aktivste, international am besten vernetzte sozialrevolutionäre Gewaltnetzwerk in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.19 Das Gewaltnetzwerk bestand aus eigenständigen Zellen, die sich in der Regel aus drei bis sechs Personen zusammensetzten. Eigenständige Zellen bedeutet in diesem Kontext, dass die Zellen frei über ihre Anschlagsziele, ihre Gewaltformen und Gewalttechniken, über die Form der Tatbekennung etc. entscheiden konnten und keiner übergeordneten Instanz weisungsgebunden waren. Die erste Revolutionäre Zelle gründete sich in klarer Abgrenzung zur RAF. Im Gegensatz zur streng hierarchischen RAF-Konzeption, die auf das Leben und Agieren in der Illegalität ausgelegt war, basierte die RZ-Konzeption auf flachen Hierarchien und der möglichst langen Beibehaltung eines legalen, jedoch in Teilen klandestinen Lebens zum Schutz jedes einzelnen Mitglieds vor Fahn18 Wolff, Robert, Zwischen persönlicher Schuld und praktischem Internationalismus: Die transnationalen Verflechtungen der Revolutionären Zellen, in: Adrian Hänni/Daniel Rickenbacher/Thomas Schmutz (Hg.), Über Grenzen hinweg, Transnationale politische Gewalt im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2019, S. 281–305; Kraushaar, Wolfgang, Im Schatten der RAF. Zur Entstehungsgeschichte der Revolutionären Zellen, in: Ders. (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, S. 583–601. 19 Vgl. Hunger/Siemens, Revolutionäre Zellen.

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dungsmaßnahmen. Ziel der nationalen Revolutionären Zellen war es, aus der Legalität heraus an in der Bunderepublik Deutschland bestehenden sozialen und politischen Konfliktfeldern durch verschiedene Gewaltformen und Gewalttechniken zu partizipieren. Die einzelnen Zellen setzten sich aus Personen zusammen, die langjährige soziale Beziehungen und/oder Intimbeziehungen pflegten. Die RZ-Mitglieder kannten sich u. a. aus ihrer Schulzeit, partizipierten an gemeinsamen politischen Projekten im Kontext der Studentenbewegung und an studentischen sowie linksradikalen Milieus der 1970er oder 1980er Jahre, gründeten gemeinsam Verlage oder Buchhandlungen oder arbeiteten in den gleichen Betrieben und Unternehmen. Geschichtswissenschaftliche Forschungen zum »Linksterrorismus« verweisen darauf, dass die Begriffe »Terrorismus« und »Staat« konfliktbeladene Termini sind. »Terrorismus« ist zunächst ein Quellenbegriff, der bis heute nicht übereinstimmend definiert werden konnte und häufig, so Klaus Weinhauer, als »politisch wie moralisch abqualifizierende Zuschreibung« genutzt wird.20 Weinhauer stellte fest, dass der Begriff »Staat« in seiner Gesamtheit ebenfalls kaum zu definieren sei. Beide Begriffe ständen in einer engen Wechselwirkung zueinander, die durch den Ende der 1960er Jahre von staatlicher Seite in sicherheitspolitische Diskurse eingebrachten Begriff der »Inneren Sicherheit« noch enger miteinander verwoben wurden.21 Bei einer Analyse der Begriffsverwendung »Terrorismus« in der Bundesrepublik in Verbindung mit einer Untersuchung der expandierenden Sicherheitsbehörden wird nach Ansicht von Gabriele Metzler ein »tiefer Konflikt« sichtbar, »der die westdeutsche Gesellschaft seit den 1950er Jahren geprägt hatte […], 1968 vollends an die Oberfläche getreten war und dann, in der ›bleiernen Zeit‹ der 70er Jahre, seinen Höhepunkt erlebte.«22 Einhergehend mit weltpolitischen Veränderungen und einer Phase der Deeskalation im Kalten Krieg gab es ab spätestens Mitte der 1960er Jahre einen Trend in Richtung Entkriminalisierung und Liberalisierung des bundesdeutschen Strafrechts.23 Gleichzeitig wurden die aufkommenden Protestbewegungen in der Bundesrepublik mit zunehmender Intensität der Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Protestierenden als erhebliches Sicherheitsproblem eingestuft. Mit Praktiken und Methoden der Partisanenbekämpfung aus dem Zweiten Weltkrieg bekämpften kasernierte Polizeieinheiten in den Hochburgen der Proteste gezielt Demonstrierende.24 Zur Radikalisierung der »Außerparlamentarischen Opposition« (APO) trugen neben der Angst vor der Rückkehr des Faschismus in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der geplanten Verabschiedung der Not20 21 22 23 24

Weinhauer, Zwischen »Partisanenkampf« und »Komissar Computer«, S. 244. Vgl. Weinhauer, Zwischen »Partisanenkampf« und »Komissar Computer«, S. 244. Metzler, Der historische Ort, S. 27. Vgl. Metzler, Der historische Ort, S. 28–29. Vgl. Mangold, Hannes, Fahndung nach dem Raster (Interferenzen 23), Zürich 2017, S. 96.

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standsgesetzgebung und vieler weiteren Entwicklungen besonders die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 durch den Polizisten KarlHeinz Kurras bei.25 Die ausgebliebene Verurteilung von Kurras wurde innerhalb der APO als Beleg einer faschistoiden Staatsgewalt aufgefasst, mit der die Justiz kooperierte. Hannes Mangold stellte fest, dass gegen Ende des Jahres 1967 die Rede von einer Krise der Polizei medial auf ihren Höhepunkt zusteuerte.26 Eine kleine Anzahl von militanten Personen und Gruppen innerhalb der linksradikalen Milieus setzten sich fortan mit dem Aufbau von »Stadtguerillagruppen« nach lateinamerikanischen Vorbildern auseinander. Nach der sozialliberalen Regierungsbildung unter Bundeskanzler Willy Brandt als Resultat der Bundestagswahl von September 1969 setzte das neugewählte Kabinett auf einen gesamtgesellschaftlichen Reformkurs unter dem Slogan »Wir wollen mehr Demokratie wagen«.27 Obwohl ein Großteil der außerparlamentarischen Kritik durch den von Brandt versprochenen großen demokratischen Aufbruch staatlich eingehegt werden konnte, kritisierten besonders die sozialrevolutionär-orientierten linksradikalen Strömungen die Reformpolitik als sozialliberale Bestechungsaktion zur Erhaltung der bestehenden Machtverhältnisse. Hoffnungen auf mehr Demokratisierung und die Stärkung einer partizipatorischen Demokratie stellten sich jedoch nach Martin Sabrow als Illusion heraus, die » an der Sorge vor linksradikaler Unterwanderung – Stichwort ›Radikalenerlass‹ – und den Imperativen der inneren Sicherheit im Zuge der linksterroristischen Herausforderung der siebziger Jahre« zerschellten.28 Ab 1969 bildeten sich besonders in West-Berlin und München militante klandestine Gruppen, die sich selbst »Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen«, »Der Blues«, »Schwarze Ratten« und später »Tupamaros West-Berlin« oder »Tupamaros München« nannten. Brasilianische und uruguayische »Stadtguerilla«-Modelle erlangten ab spätestens 1969 durch die rasante Verbreitung des »Minihandbuch des Stadtguerillero« des brasilianischen »Revolutionärs« und »Stadtguerilleros« Carlos Marighella in deutscher Sprache bundesweit Aufmerksamkeit. Der Kleinkrieg in den süd25 Vgl. Diebel, Martin, »Die Stunde der Exekutive«, Das Bundesinnenministerium und die Notstandsgesetze (Veröffentlichungen zur Geschichte der deutschen Innenministerien 2), Göttingen 2019, S. 176–177; Hodenberg, Christina von, Das andere Achtundsechzig, Gesellschaftsgeschichte einer Revolte, München 2018, S. 33–38; Siegfried, Detlef, 1968, Protest, Revolte, Gegenkultur, Ditzingen 2018, S. 152–162. 26 Vgl. Mangold, Fahndung nach dem Raster, S. 77. 27 Vgl. Seefried, Elke, Mehr Planung wagen? Die regierende Sozialdemokratie im Spannungsfeld zwischen politischer Planung und Demokratisierung 1969–1974, in: Axel Schildt/ Wolfgang Schmidt (Hg.), »Wir wollen mehr Demokratie wagen«, Antriebskräfte, Realität und Mythos eines Versprechens (Willy-Brandt-Studien 6), Bonn 2019, S. 105–124, hier S. 113. 28 Sabrow, Martin, Zeit-Worte in der Zeitgeschichte, in: Axel Schildt/Wolfgang Schmidt (Hg.), »Wir wollen mehr Demokratie wagen«, Antriebskräfte, Realität und Mythos eines Versprechens (Willy-Brandt-Studien 6), Bonn 2019, S. 24–37, hier S. 24.

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amerikanischen Metropolen hatte als Modell des urbanen »bewaffneten Kampfes« großen Einfluss auf die Entstehung bewaffneter linker Gruppen und Strukturen in der Bundesrepublik.29 Die RAF gründete sich formell spätestens mit der Befreiung Andreas Baaders am 14. Mai 1970. Die an der Befreiung beteiligten Personen bauten ab diesem Zeitpunkt eine klandestine Organisationsstruktur auf.30 Nach einer Vorlage des Innenministers Hans-Dietrich Genscher wurde das von der Bunderegierung forcierte »Sofortprogramm zur Modernisierung und Intensivierung der Verbrechensbekämpfung« im November 1970 verabschiedet. Verbunden war diese Neuausrichtung der Innenpolitik mit einem Paradigmenwechsel von der äußeren zur inneren Sicherheit. Gabriele Metzler stellte fest, dass sich über den »euphorischen, sozialliberalen Reform- ein Unregierbarkeitsdiskurs« gelegt hatte.31 Im Konzept der »Inneren Sicherheit« wurden zentrale Elemente weitergeführt, u. a. die Konzeptionen einer wehrhaften Demokratie und Vorstellungen von außen gesteuerter Feinde im Innern, die Metzler als »DNA des bundesdeutschen Staates« bezeichnete.32 Innerhalb der staatlich fokussierten Themenschwerpunktsetzung auf das Konzept Innere Sicherheit wandelte sich die Konzeption des zentralen Feindes der inneren Ordnung vom »gefährlichen Gewohnheitsverbrecher« über den »Partisanen« zur »Stadtguerillera/zum Stadtguerillero«.33 Die Polizeien der Länder, der Bundesgrenzschutz, die Verfassungsschutzämter sowie das Bundeskriminalamt wurden in Reaktion auf die vermeintlich die Innere Sicherheit gefährdenden Entwicklungen mit umfangreichen finanziellen Ressourcen ausgestattet. Die Personalbestände des Bundeskriminalamtes und der Verfassungsschutzbehörden wuchsen prozentual am stärksten. Das BKA wurde als die zentrale Institution im Zentrum des Konzeptes Innere Sicherheit etabliert.34 Die RAF und die Anfang 1972 aus einem Zusammenschluss verschiedener bewaffneter klandestiner West-Berliner Gruppen entstandene Bewegung 2. Juni wurden spätestens nach der »Mai-Offensive«35 der RAF von staatlichen, politi29 Vgl. Mangold, Hannes, Die Stadtguerillera, in: Hannes Mangold/Alban Frei (Hg.), Das Personal der Post-Moderne, Inventur einer Epoche (Histoire 84), Bielefeld 2015, S. 51–64, hier S. 55. 30 Vgl. Terhoeven, Petra, Die Rote Armee Fraktion, Eine Geschichte terroristischer Gewalt, München 2017, S. 37–38. 31 Metzler, Der historische Ort, S. 43. 32 Metzler, »Im Zweifel für die Freiheit«?, S. 320–321. 33 Vgl. Mangold, Fahndung nach dem Raster, S. 102. 34 Vgl. Metzler, »Im Zweifel für die Freiheit«?, S. 324–325. 35 Die »Mai-Offensive« umfasste eine Reihe von sechs Sprengstoffanschlägen, die von Mitgliedern der RAF zwischen dem 11. und 24. 05. 1972 in der Bundesrepublik Deutschland verübt wurde. Die Anschlagsserie richtete sich gegen US-amerikanische Militäreinrichtungen, gegen westdeutsche Polizeieinrichtungen, gegen den Richter des Bundesgerichtshofs Wolfgang

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schen und medialen Institutionen und Akteur*innen als die größte Bedrohung der inneren Ordnung öffentlich dargestellt.36 Der klandestine »bewaffnete Kampf« der »Stadtguerilla«-Gruppen mit Anschlägen gegen das staatliche Gewaltmonopol, gegen den in der Gesellschaft und Politik diskursprägenden SpringerKonzern und gegen die Justiz der Bundesrepublik Deutschland stellte tatsächlich, wenn auch aus anderen Gründen als von politischer und medialer Seite formuliert, eine fundamentale Bedrohung des Staates dar. Helmut Janssen verwies darauf, dass sich die RAF und die B2J als die militantesten Ausprägungen regional unterschiedlicher linksradikaler Milieus den gängigen ökonomischen und ideologischen Kontrollmechanismen entzogen hatten.37 Die RAF als marxistisch-leninistische Kaderorganisation entwickelte durch die gewalttätigen Revolutionsbestrebungen ein nicht näher ausdifferenziertes, aber dennoch wirkmächtiges oppositionelles Gegennarrativ zum hegemonialen Lebensmodell. Dieses anti-staatliche Gegennarrativ stellte die politische sowie gesellschaftliche Ordnung durch einen bewaffneten radikal-transformativen Impetus grundlegend in Frage.38 Die RAF wurde von vielen Medien und staatlichen Akteur*innen zum Staatsfeind Nummer 1 erklärt.39 Einen Höhepunkt des reaktiven Krisenmanagements im Umgang mit Anschlägen und Geiselnahmen in der Bundesrepublik stellte das »Olympia-Attentat« im September 1972 in München dar.40 Spätestens nach dem gescheiterten Rettungsversuch der israelischen Geiseln durch bundesdeutsche Polizisten, die nicht für Einsätze dieser Art ausgebildet und ausgerüstet waren, rückte die Frage ins Zentrum der politischen Auseinandersetzungen, welche legislativen und exekutiven Antworten auf die neuen Bedrohungsszenarien notwendig seien. Die Oppositionsparteien CDU und CSU sowie Teile der SPD forderten im Bundestag ein umfangreiches und kompromissloses Vorgehen der Bundesregierung gegen »Terroristen« und das sogenannte »Sym-

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Buddenberg und gegen das Hamburger Springer-Verlagsgebäude. Bei den sechs Sprengstoffanschlägen wurden vier Menschen getötet und 74 Personen teils schwerverletzt; Vgl. Kellerhoff, Sven Felix, Eine kurze Geschichte der RAF, Stuttgart 2020, S. 54–59. Vgl. Janssen, Helmut, Der Sicherheitsstaat und die »RAF« – Wie man mit Recht eine »terroristische Vereinigung« (be-)gründet und sie (recht wirkungslos) bekämpft, in: Helmut Janssen/Michael Schubert (Hg.), Staatssicherheit, Die Bekämpfung des politischen Feindes im Inneren, Bielefeld 1990, S. 116–138, hier S. 117. Janssen, Der Sicherheitsstaat und die »RAF«, S. 117. Vgl. Diewald-Kerkmann, RAF und Strafverfahren, S. 104. Vgl. Grässle-Münscher, Josef, Kriminelle Vereinigung, Von den Burschenschaften bis zur RAF, Hamburg 1991, S. 128–129. Vgl. Oberloskamp, Eva, Das Olympia-Attentat 1972. Politische Lernprozesse im Umgang mit dem transnationalen Terrorismus, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (2012), S. 321– 352.

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pathisantenumfeld« ein.41 In dieser politisch aufgeladenen Phase gründete sich die erste Revolutionäre Zelle in Frankfurt am Main. Die Revolutionäre Zelle, wie die Mitglieder das klandestine sozialrevolutionäre Gewaltnetzwerk bis September 1976 in Bekennerschreiben und im eigenen Publikationsorgan Revolutionärer Zorn nannten, führte die ersten beiden Sprengstoffanschläge am 17. und 18. November 1973 gegen die Niederlassungen des Mischkonzerns International Telephone & Telegraph Corporation (ITT) in West-Berlin und Standard Elektrik Lorenz (SEL) in Nürnberg durch. In den Bekennerschreiben wies die Revolutionäre Zelle darauf hin, dass ITT einen Beitrag zum Militärputsch am 11. September 1973 und zum Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Salvadore Allende geleistet hatte. Beide Anschläge wurden mit der Beteiligung von ITT an der US-Intervention in Chile begründet. Die Programme zum Ausbau der Inneren Sicherheit zwischen 1970 und 1974 wurden durch die Innenministerien der Bundesländer, das Bundesministerium des Innern sowie zahlreichen Berater- und Fachgremien konzipiert und in umfangreichen politischen sowie administrativen Aushandlungsprozessen praktisch umgesetzt. Eine neue Phase der gegenseitigen Radikalisierung und der Gewalteskalation zwischen »Stadtguerilla« und dem »Staat« wurde mit dem Tod von Holger Meins am 9. November 1974 im Rahmen des dritten RAF-Hungerstreiks und der darauffolgenden Ermordung des West-Berliner Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann am 10. November 1974 eingeläutet.42 Auf der Ebene des materiellen Strafrechts waren die »Anti-Terrorismus-Gesetze«, denen umfangreiche Vorarbeiten in Bundestagsausschüssen, in Behörden etc. vorausgingen, die ersten sichtbaren Reaktionen des Gesetzgebers auf die zunehmende Eskalation zwischen Staat und den sogenannten »linksterroristischen Gruppierungen«.43 Das erste »Anti-Terrorismus-Gesetz«, das »Gesetz zur Ergänzung des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts« vom 20. Dezember 1974, häufig »Lex Baader-Meinhof« genannt, war eine direkte Reaktion auf den Hungertod des RAF-Mitgliedes Holger Meins am 9. November 1974 und die RAF-Geiselnahme in der deutschen Botschaft in Stockholm am 24. April 1975. Gleichzeitig sollten durch das erste »Anti-Terrorismus-Gesetz« die 41 Vgl. Balz, Hanno, Der »Sympathisanten«-Diskurs im Deutschen Herbst, in: Klaus Weinhauer/Jörg Requate/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Terrorismus in der Bundesrepublik, Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren (Campus Historische Studien 42), Frankfurt am Main 2006, S. 320–350, hier S. 323. 42 Diewald-Kerkmann, RAF und Strafverfahren, S. 104. 43 Vgl. Heger, Ein Ende der Entkriminalisierung, S. 49; Hürter, Johannes, Regieren gegen Terrorismus. Die Beispiele Westminster, Bonn und Rom in den 1970er Jahren, in: Ders. (Hg.), Terrorismusbekämpfung in Westeuropa, Demokratie und Sicherheit in den 1970er und 1980er Jahren (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 104), Berlin u. a. 2015, S. 63–79, hier S. 71–72.

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juristischen Rahmenbedingungen des »Stammheim-Prozesses« gegen die inhaftierten »Kader« der RAF im Frühjahr 1975 zugunsten staatlicher Interessen reformiert werden.44 Mit diesem Gesetz wurden massiv die Verteidiger*innenrechte eingeschränkt, der Verteidiger*innenausschluss neu geregelt, die Verteidiger*innenzahl beschränkt, ein Verbot der Mehrfachverteidigung ausgesprochen und die Verhandlung in Abwesenheit der Angeklagten ermöglicht. Mit der Entführung des CDU-Spitzenkandidat Peter Lorenz während der Abgeordnetenhauswahl in West-Berlin am 27. Februar 1975 durch die Bewegung 2. Juni und der Geiselnahme in Stockholm durch Mitglieder der RAF war das Ziel verbunden, inhaftierte Mitglieder der RAF und der B2J freizupressen. Diese erneute Eskalation führte nach Hannes Mangold zu einer »Verpolizeilichung des Politischen« und zu einer »Politisierung der Polizei«.45 Werner Maihofer, Bundesminister des Inneren, verständigte sich gemeinsam mit der Innenministerkonferenz auf eine noch härtere Gangart gegen den »Terrorismus«. Das BKA unter der Leitung von Horst Herold wurde mit umfangreichen Befugnissen ausgestattet sowie mit der zentralen Lenkung der polizeilichen Maßnahmen gegen »anarchistische Gewaltverbrechen« betraut. Im Mai 1975 wurde am Dienstort Bonn-Bad Godesberg die neue Abteilung »Terrorismus« eingerichtet.46 Bis zum Sprengstoffanschlag auf das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am 4. März 1975 durch die »Frauen der Revolutionären Zelle« waren Ermittlungsgruppen und Sonderkommissionen (Soko) in den jeweiligen Landeskriminalämtern für die bis dato mindestens acht Brand- und Sprengstoffanschläge der Revolutionären Zelle zuständig. Zu den Anschlägen, bei denen zum Teil massive Sachschäden entstanden, ohne das Personen verletzt wurden, bekannte(n) sich die RZ schriftlich. Die »Frauen der Revolutionären Zelle« verstanden ihren Anschlag auf das Bundesverfassungsgericht als bewaffnete Weiterführung der feministischen Proteste für das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch und gegen den § 218 StGB. Auf der 69. Arbeitstagung der Leiter der Landeskriminalämter am 12. März 1975 in Stuttgart wurde in Zusammenarbeit mit dem BKA als Reaktion auf den Sprengstoffanschlag gegen das Bundesverfassungsgericht entschieden, eine neue Sonderkommission für die Ermittlungen gegen die Revolutionäre Zelle einzurichten. Am 20. März 1975 nahm die Soko »Revolutionäre Zelle« in Stuttgart zentral die Ermittlungen auf.47 Eine »Soko RZ« 44 Vgl. Schulte, Philipp H., Terrorismus- und Anti-Terrorismus-Gesetzgebung, Eine rechtsoziologische Analyse (Kriminologie und Kriminalsoziologie 6), Münster u. a. 2008, S. 106– 119. 45 Mangold, Fahndung nach dem Raster, S. 184. 46 Vgl. Weinhauer, Zwischen »Partisanenkampf« und »Komissar Computer«, S. 255–257. 47 Bundesarchiv Koblenz, Handakte zum Ermittlungsverfahren gegen die »Revolutionäre Zelle« wegen des Sprengstoffanschlages auf ein israelisches Verkehrsbüro in Frankfurt am Main am 26. 08. 1974 2 (B 131/2421), hier: Landeskriminalamt Baden-Württemberg, Zwi-

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einzurichten wurde intern damit begründet, dass die Anschläge aufgrund der »Schwere und Bedeutung der Delikte« eine Gefahr »für die öffentliche Sicherheit« darstellten.48 In den Fokus der Ermittlungen rückten nach der Teilnahme von Hans-Joachim Klein an der OPEC-Geiselnahme in Wien im Dezember 1975 besonders die Mitglieder der Internationalen Revolutionären Zelle. Weder dem BKA noch den Landeskriminalämtern gelang es trotz umfangreicher Ermittlungsversuche die Strukturen und personellen Zusammenhänge der Revolutionären Zellen bis zum Januar 1977 aufzuklären und gerichtsverwertbar nachzuweisen. Klaus Traube, Atomphysiker und geschäftsführender Direktor der Kraftwerk-Union Tochterfirma Interatom, wurde aufgrund persönlicher Kontakte mit Hans-Joachim Klein im Dezember 1975 und Januar 1976 illegal, jedoch mit persönlicher Genehmigung von Werner Maihofer, in seinem Haus vom Verfassungsschutz mit technischer Unterstützung des Bundesnachrichtendienstes abgehört.49 Wie der »Lauschangriff« auf Klaus Traube sichtbar machte, führte der Erwartungsdruck auf die zuständigen Ermittlungsbehörden im Kontext der Ermittlungen gegen die IRZ dazu, dass die Grenzen legaler Handlungsmöglichkeiten im Kampf gegen den »internationalen Terrorismus« in als besonders brisant eingeschätzten Fällen deutlich überschritten wurden. Während des Untersuchungszeitraumes wurden sechs »Anti-TerrorismusGesetze« verabschiedet. Der Jurist Martin Heger hat die juristischen Kontroversen, die mit der Einführung der bundesdeutschen »Anti-Terrorismus-Gesetzgebung« verbunden waren, prägnant zusammengefasst: »Außer Frage steht dagegen, dass die als terroristisch (was auch immer man damit im Einzelnen meint) eingeschätzten Handlungen – die Terrorakte – zumeist auch losgelöst von diesem terroristischen Kontext Straftaten darstellen. […] Auch die Verabredung mehrerer Terroristen zu Begehung dieser Tat ist als ›Verbrechensverabredung‹ schon ohne Rücksicht auf die dahinterstehende Motivlage als solche strafbar (§ 30 StGB). Und wenn sich die Terroristen nicht bloß zu dieser einen Tat verabreden, sondern sich – wie häufig – längerfristig in Form einer illegalen Organisation, welche Straftaten zu begehen beabsichtigt, zusammentun, dann kann man bereits deren Gründung wie auch die

schenbericht Sprengstoffanschlag auf das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, am 4. 3. 1975, S. 131–137, hier S. 132. 48 Ebd. 49 Vgl. Kirchberg, Christopher/Schmeer, Marcel, The ›Traube Affair‹: Transparency as a Legitimation and Action Strategy Between Security, Surveillance and Privacy, in: Stefan Berger/Dimitrij Owetschkin (Hg.), Contested Transparencies, Social Movements and the Public Sphere, Multi-Disciplinary Perspectives, London 2019, S. 173–196; Schulz, Frauke, Werner Maihofer – im Zweifel für die Freiheit, in: Robert Lorenz/Matthias Micus (Hg.), Seiteneinsteiger, Unkonventionelle Politiker-Karrieren in der Parteiendemokratie (Göttinger Studien zur Parteienforschung), Wiesbaden 2009, S. 61–80, hier S. 77; Metzler, »Im Zweifel für die Freiheit«?, S. 330–331.

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Mitwirkung daran – wiederum ohne Rücksicht auf die dahinterstehende terroristische Motivation – als ›Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung‹ (§ 129 StGB) bestrafen.«50

Trotzdem entschied sich das Bundesministerium für Justiz unter der Leitung des Sozialdemokraten Hans-Jochen Vogel in enger Abstimmung mit dem Bundesministerium des Innern unter Werner Maihofer dazu, ein »wahres Feuerwerk an Gesetzgebung«, wie es Gabriele Metzler treffend beschrieb, gegen den »Terrorismus« abzufeuern.51 Die Verabschiedung des »Anti-Terroristen-Gesetzes« im August 1976 wurde einerseits aufgrund der Beweisnot in den Prozessen gegen (vermeintliche) Unterstützer*innen und Mitglieder der RAF und der B2J sowie andererseits aufgrund der Forderung nach erweiterten Zuständigkeiten zur Verbesserung und Intensivierung der »Terrorismusbekämpfung« beschlossen. Das Gesetzgebungsverfahren zum »Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozessordnung, des Gerichtsverfassungsgesetzes, der Bundesrechtsanwaltsordnung und des Strafvollzugsgesetzes«, wie das Maßnahmenpaket offiziell hieß, dauerte mehr als ein Jahr.52 Nach Martin Heger sei die Schaffung der »Anti-Terror-Gesetze« vor allem Symbolpolitik und eine »ad hoc Reaktion des Gesetzgebers« gewesen.53 Bei § 129a StGB handele es sich um eine »maßgeschneiderte Antwort des materiellen Rechts auf Verbrechen der RAF und der Bewegung 2. Juni« und »einen Beitrag zur Beseitigung des Ermittlungsnotstandes, der bei der Bekämpfung terroristischer Vereinigungen häufig auftritt«.54 Besonders Werner Maihofer sprach sich dafür aus, einen eigenen Straftatbestand für die Bildung und Mitgliedschaft in einer »terroristischen Vereinigung« in das Strafgesetzbuch einzuführen, um auch juristisch eine vermeintlich klare Linie zwischen »gewöhnlicher« und »terroristischer« Kriminalität zu ziehen. Mit § 129a StGB wurde in klarer Abgrenzung zu § 129 StGB – »Bildung krimineller Vereinigung« – eine gesonderte Rechtsregelung für das Gewaltphänomen »Terrorismus« und damit de facto eine Sonderregelung zur Bekämpfung von »Terrorist*innen« geschaffen. Eine präzise Definition, was »Terrorismus« eigentlich ist und wodurch sich »terroristische« von »kriminellen« Straftatbeständen unterscheiden, ist bis heute ausgeblieben.55 Die Einführung der »Anti-Terrorismus-Gesetze« glich einem verfassungsrechtlichen

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Heger, Ein Ende der Entkriminalisierung, S. 47–48. Metzler, »Im Zweifel für die Freiheit«?, S. 329. Vgl. Schulte, Terrorismus- und Anti-Terrorismus-Gesetzgebung, S. 119–135. Heger, Ein Ende der Entkriminalisierung, S. 53. Schulte, Terrorismus- und Anti-Terrorismus-Gesetzgebung, S. 125; BT-Drucks. 7/4405, S. 1–30, hier S. 8. 55 Vgl. Heger, Ein Ende der Entkriminalisierung, S. 59.

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Parforceritt, was den führenden Politikern zwischen 1976 und 1978 durchaus bewusst war.56 Für die vorliegende Analyse der »Terrorismusbekämpfung« gegen die Revolutionären Zellen waren insbesondere folgende Änderungen von großer Bedeutung: die primäre Ermittlungszuständigkeit des Generalbundesanwalts (GBA), verschärfte Fahndungsmaßnahmen in Form von Straßensperren und Razzien, Durchsuchungen von Gebäudekomplexen, Telefonüberwachungen, die Anordnung von Untersuchungshaft ohne besonderen Haftgrund sowie die Ausdehnung der Zuständigkeiten von Oberlandesgerichten.57 Der GBA wurde mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Zentrale der staatsanwaltlichen »Terrorismus«Ermittlungen ausgebaut. Philipp H. Schulte bezeichnete § 129a StGB als »Auffang- und Ausforschungstatbestand«, der einen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot sowie aufgrund der »Vorverlagerung der Strafbarkeit in das grundsätzlich straflose Vorbereitungsstadium« einen Verstoß gegen das Prinzip des Tatstrafrechts darstellt.58 Martin Heger wies dem materiellen »Anti-TerrorStrafrecht« den »Charakter eines trojanischen Pferdes« zu, da der Gesetzgeber mit der Einführung einer neuen Strafnorm in Form des § 129a StGB einer Debatte über die ausgeweiteten Ermittlungsmaßnahmen und den damit einhergehenden »erheblichen Grundrechtseingriffen« aus dem Weg gehen konnte.59 Besonders Politiker*innen der FDP haderten mit den illiberalen Verschärfungen des Strafrechts, die über Parlamentsausschüsse und den Bundesrat maßgeblich von der CDU/CSU mitgestaltet wurden.60 Klaus Weinhauer stellte fest, dass in den Jahren zwischen 1974 und 1977 die »Terrorismusbekämpfung« zum zentralen Feld der Inneren Sicherheit wurde.61 Bis auf die Verhaftung von Johannes Weinrich, Mitglied der IRZ und ab dem 24. März 1975 in Untersuchungshaft, blieben Fahndungserfolge gegen Mitglieder der Revolutionären Zellen bis Anfang 1977 zunächst aus.62

56 Vgl. Diewald-Kerkmann, Justiz gegen Terrorismus, S. 51. 57 Vgl. Diewald-Kerkmann, Gisela, RAF und Strafverfahren gegen RAF-Mitglieder: Zäsuren in der Geschichte der RAF, in: Carola Klausing/Verena von Wiczlinski (Hg.), Die RAF – ein deutsches Trauma?, Versuch einer historischen Deutung, Mainz 2018, S. 104–131, hier S. 108; dies., Justiz gegen Terrorismus, S. 48–49. 58 Schulte, Terrorismus- und Anti-Terrorismus-Gesetzgebung, S. 125–128. 59 Heger, Ein Ende der Entkriminalisierung, S. 54. 60 Hürter, Regieren gegen Terrorismus, S. 73. 61 Weinhauer, Zwischen »Partisanenkampf« und »Komissar Computer«, S. 259. 62 Vgl. Kraushaar, Im Schatten der RAF, S. 583.

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Gerhard Albartus wurde am 15. Dezember 1976 zusammen mit einem weiteren RZ-Mitglied festgenommen. Polizeibeamte hatten Albartus beim Versuch gestellt, in Dortmund ein Auto zu stehlen. Im Urteil gegen Albartus und Enno Schwall, geb. Borstelmann, stellten die Richter fest: »Der – durch das Eingreifen der Polizei verhinderte – Pkw-Diebstahl sollte der Erprobung, Vorbereitung oder Durchführung einer Aktion der Revolutionären Zellen dienen. Um welche Aktion es sich dabei handelte, ist ungeklärt geblieben.«63 Bei der Wohnungsdurchsuchung im Anschluss an die Festnahme in Dortmund erhärtete sich der Verdacht, dass es sich bei Albartus potenziell um ein Mitglied der Revolutionären Zellen handeln könnte. Polizeibeamte fanden zudem in dessen Brieftasche handgeschriebene Zettel mit Verabredungen für den 3. und 7. Januar 1977. Nach Feststellung der Identität wurde Albartus entlassen, jedoch aufgrund des Verdachts eines »terroristischen Hintergrundes« am 3. Januar 1977 rund um die Uhr observiert.64 Gegen 13 Uhr am 3. Januar 1977 traf sich Albartus mit Schwall und einem unbekannten Mann in einem Schnellrestaurant in der Kölner Innenstadt. Die drei Personen trafen anschließend eine unbekannte Frau in einem nahegelegenen Café. Die Observation ergab folgenden Sachverhalt: »Gegenstand der Unterhaltung war u. a. eine geplante Aktion gegen die Aufführung des amerikanischen Spielfilms ›Unternehmen Entebbe‹. Mitglieder der Revolutionären Zellen – darunter die Angeklagten – hatten beschlossen, in Kinos, in denen dieser Film damals gezeigt wurde, Feuer zu legen, um seine Absetzung zu erzwingen. Dies sollte planmäßig in den Spätvorstellungen am Abend des 3. Januar 1977 geschehen.«65

In zwei Kinos, im Gloria-Palast in Aachen und im Residenz-Theater in Düsseldorf, wurde am Abend des 3. Januar 1977 der Hollywood-Film »Unternehmen Entebbe«, der seit dem 23. Dezember 1976 in bundesdeutschen Kinos lief, vorgeführt. Der US-amerikanische Spielfilm thematisierte die Flugzeugentführung nach und die Geiselnahme in Entebbe zwischen dem 27. Juni und 4. Juli 1976 sowie die israelische Geiselbefreiung in der Nacht des 4. Juli 1976. Bei der militärischen Geiselbefreiung wurden die beiden IRZ-Mitglieder, Brigitte Kuhlmann und Wilfried Böse, erschossen, die als Geiselnehmer*innen an der palästinensisch-deutschen Kommandoaktion teilnahmen. 63 Bundesarchiv Koblenz, Bundesministerium der Justiz, Ermittlungsverfahren gegen Albartus u. a. (B 141/62511), Bd. 2, hier: Urteil des 4. Strafsenats des OLG Düsseldorf vom 19. Januar 1979–5 OJs 2/77 – IV 2/77 – gegen Gerhard Heinrich Albartus und Enno Schwall geb. Borstelmann, S. 1–174, hier S. 44. 64 Ebd., S. 45. 65 Ebd., S. 46.

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Das Observationsteam der Polizei beschattete Albartus und Schwall nach dem Treffen im Café weiter, dokumentierte die Vorbereitungen zum Brandanschlag und verfolgte beide Personen bis in den Kinosaal des Residenz-Theaters in Düsseldorf. Aus ungeklärten Gründen sahen und hörten die observierenden Beamten jedoch nicht, dass Enno Schwall während der laufenden Vorführung des Films versuchte, den in einer Plastikeinkaufstüte transportierten, ca. drei Kilogramm schweren Brandsatz unter lautem Rascheln scharfzumachen. Nach einiger Zeit und mehreren Unterbrechungen gelangen Schwall trotz der Dunkelheit im Kinosaal die letzten Handgriffe zur Aktivierung des Zündmechanismus. Die bei den Vorbereitungen entstandene mehrminütige Geräuschentwicklung durch das Rascheln der Plastiktüte, über die sich andere Besucher*innen beschwerten, überhörten die observierenden Beamten. Die Zündvorrichtung des Brandsatzes versagte aus ungeklärten Gründen, sodass dieser nicht wie geplant eine Stunde nach der Veranstaltung das Kino in Brand setzte. Erst am nächsten Morgen wurde der Brandsatz von einer Reinigungskraft entdeckt und durch ein fernlenkbares Spezialeinsatzgerät eines zur Hilfe gerufenen Entschärfungskommandos der Polizei mit Schrot beschossen. Erst daraufhin entzündete sich die Brandladung und es entstand, auch aufgrund der sofortigen Absetzung des Films, ein Schaden von bis zu 8.000 D-Mark. Ein zweiter Brandsatz im Kino Gloria-Palast in Aachen zündete ebenfalls nicht und konnte entschärft werden.66 Bei der »Deutschen Presseagentur«, der »Rheinischen Post« und der »Neuen Rheinzeitung« trafen am 5. Januar 1977 drei Briefe mit einem fotokopierten Bekennerschreiben ein, unterzeichnet von den »Revolutionären Zellen/ Kämpfer für ein freies Palästina«. Nicht nur in Westdeutschland, sondern in vielen Ländern kam es zu militanten Protesten und Anschlägen auf Kinos, die den Film vorführten.67 Enno Schwall und Gerhard Albartus wurden am 5. Januar 1977 verhaftet. Obwohl Schwall und Albartus bis in den Kinosaal hinein von Polizeibeamten observiert worden waren, gelang es Schwall, den Brandsatz zündbereit am Ort des geplanten Anschlags zu deponieren. Unter den Augen der Polizeibeamten konnte ein Anschlag vorbereitet werden, der nur durch Zufall keinen großen Sachschaden anrichtete. Dieses Beispiel zeigt sehr eindrücklich, dass die mit § 129a StGB verbundenen Ermittlungsmöglichkeiten, wie in diesem Fall Telefonüberwachungen und großangelegte Observationen, im Kontext der RZ-Bekämpfung nur bedingt erfolgreich waren. Bereits früh im Jahr 1977 kristallisierte sich heraus, dass es ein nicht unerhebliches Missverhältnis zwischen Ermittlungsmöglichkeiten und Fahndungs66 Ebd., S. 50–56. 67 Vgl. Mohr, Kampagne gegen einen »Hetzfilm« und der Entebbe-Strafprozess, S. 157–158; Ebbrecht-Hartmann, Tobias, Kampfplatz Kino. Filme als Gegenstand politischer Gewalt in der Bundesrepublik, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 41 (2014), S. 161–180, hier S. 177.

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defiziten gab. Wie ein roter Faden zogen sich Fahndungspannen durch die weiteren Ermittlungen gegen die Revolutionären Zellen bis Ende der 1980er Jahre. Als das Magazin »Der Spiegel« den illegalen »Lauschangriff« auf Klaus Traube am 28. Februar 1977 veröffentlichte, brachte dies Werner Maihofer und das Bundesamt für Verfassungsschutz in ernste Erklärungsnöte.68 Jedoch erst durch die aufgetretenen Fahndungspannen im sogenannten »Deutschen Herbst« und deren Aufarbeitung im »Höcherl-Bericht«, der nach der Ermordung von Hanns Martin Schleyers durch die RAF in Auftrag gegeben wurde, musste Maihofer im Juni 1978 zurücktreten. Selbst die letzten liberalen Unterstützer*innen, die Maihofers Politik der »Terrorismusbekämpfung« schon seit Jahren kritisch sahen und zähneknirschend mittrugen, hatten ihm nun vollständig die Unterstützung versagt.69 Gerhard Baum wurde zum neuen Bundesminister des Innern ernannt und verkündete einen Paradigmenwechsel in der Führung der ihm unterstellten Behörden. Er setzte sich u. a. für die Einhaltung von gesetzlichen und verfahrenstechnischen Regeln im BKA ein und begrenzte stark die umfangreichen Informationssammlungspraktiken der Spezialisten der »Terrorismusbekämpfung«.70 Kurt Rebman, der nach der Ermordung Siegfried Bubacks durch die RAF am 1. Juli 1977 Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof geworden war, formulierte auf dem Deutschen Richtertag im Jahr 1979 sehr deutlich, welche Rolle er der Strafverfolgung gegen »terroristische Gewalttäter« einräumte.71 Staatsanwaltschaften und Gerichte sollten im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihren Beitrag zur Gewährleistung der Inneren Sicherheit und des gesellschaftlichen Friedens leisten.72 Am 16. Januar 1978 begann vor dem 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf die Hauptverhandlung gegen Gerhard Albartus und Enno Schwall wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer »terroristischen Vereinigung« und anderen Anklagepunkten. Nachzuweisen, dass es sich bei den beiden Angeklagten um Mitglieder der Revolutionären Zellen handelte, stellte sich für die federführende Generalstaatsanwaltschaft zunächst als problematisch heraus. Das Hauptproblem bestand darin, dass es noch kein »gerichts- bzw. offenkundiges Wissen« der Gerichte zur Struktur, Ideologie und der personellen Zusammensetzung der Revolutionären Zellen gab. Dadurch war der Nachweis schwierig, dass es sich bei den RZ überhaupt um eine »terroristische Vereini68 Bundesarchiv Koblenz, Fachaufsicht über das Bundesamt für Verfassungsschutz – Veröffentlichungen im »Spiegel« vom 28. Feb. 1977 zum Fall Dr. Klaus Traube (B 106/106723). 69 Metzler, »Im Zweifel für die Freiheit«?, S. 330–331. 70 Weinhauer, Zwischen »Partisanenkampf« und »Komissar Computer«, S. 259–262. 71 Vgl. Rebmann, Kurt, Terrorismus und Rechtsordnung, in: Deutscher Richterbund (Hg.), Kurskorrekturen im Recht, Die Vorträge und Referate des Deutschen Richtertages 1979 in Essen, Köln 1980, S. 109–144. 72 Vgl. Diewald-Kerkmann, Justiz gegen Terrorismus, S. 42.

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gung« handelte. Weder die »Soko RZ« noch das BKA konnten konkrete Aussagen über die Struktur der RZ treffen. Die meisten Informationen über den Aufbau und das Konzept der RZ hatten die Ermittlungsbehörden aus dem Revolutionären Zorn gewinnen können, dem zunächst jährlich seit 1975 erschienen Publikationsorgan des Gewaltnetzwerks. Bei den Urteilsbegründungen in Strafprozessen gegen (vermeintliche) Unterstützer*innen und Mitglieder der RAF und der B2J konnten sich die Anklagebehörden bereits seit 1972 auf das sogenannte »gesicherte Wissen« über die Strukturen der RAF und der B2J durch Aussagen von zum Teil zweifelhaften »Kronzeug*innen« stützen. Ehemalige Mitglieder beider Gewaltnetzwerke hatten gegenüber den zuständigen Ermittlungsbehörden zum Teil umfangreiche Aussagen gemacht, denen als »vermeintliches Insiderwissen« ein hoher Stellenwert in Strafprozessen zugerechnet wurde. Schon früh gab es Zweifel an verschiedenen Schilderungen und Aussagen ehemaliger RAF- und B2J-Mitglieder, auch weil die Umstände der Kooperationen mit Ermittlungsbehörden zum Teil im Unklaren blieben. Von »gerichtskundigen Tatsachen« konnte zunächst beim Prozess gegen Schwall und Albartus keine Rede sein, da es bis zu diesem Zeitpunkt keinen Kronzeugen gegen die nationalen Revolutionären Zellen aus den eigenen Reihen gab und sich Schwall und Albartus zu den Vorwürfen nicht äußerten.73 Ein zweites grundlegendes Problem für die Staatsanwaltschaft bestand darin, dass neben Schwall und Albartus keine weitere Person ermittelt werden konnte, die an den Anschlägen am 3. Januar 1977 beteiligt war. Bereits vor dem ersten RZProzess und auch danach hatte der Bundesgerichtshof mehrfach festgestellt, dass unter einer »kriminellen« oder »terroristischen« Vereinigung ein auf eine gewisse Dauer angelegter organisatorischer Zusammenschluss von mindestens drei Personen zu verstehen ist, die ihren persönlichen Willen den Willen der Vereinigung unterordnen und sich als einheitlicher Verband fühlen müssen.74 Mit der Festnahme von Johannes R. am 22. Mai 1977, der zusammen mit Enno Schwall mehrere Straftaten durchgeführt und die Entführung einer Politikerin vorbereitet haben sollte, konnte die Problematik der dritten Personen, die zur Feststellung der Bildung und Mitgliedschaft in einer »terroristischen Vereinigung« notwendig war, zunächst gelöst werden. In der Anklageschrift gegen Johannes R. findet sich folgende Ausführung: »Ebenso wie die in dem Strafverfahren 5 OJs 2/77 Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf Angeklagten Gerhard Albartus und Enno Schwall gehört auch der Angeschuldigte R[.] der ›Revolutionären Zelle‹ an. Seine Mitgliedschaft ergibt sich unter anderem aus der

73 Vgl. ebd., S. 54. 74 Vgl. BGH, Urteil vom 11. 10. 1978, Az.: 3 StR 105/78 (S) m. w. N.

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engen Verbindung zu dem Angeklagten Schwall, die insbesondere in einem gemeinsamen Bezug zu einer Reihe von Straftaten deutlich zutage tritt.«75

Vor dem Staatsschutzsenat in Düsseldorf entwickelte sich ein zäher Prozessverlauf, in dem sich die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf bemühte, das in der Anklageschrift konstruierte Konzept der Revolutionären Zellen nachweisen zu können. Eine Sprengstoffexplosion am 23. Juni 1978 in Heidelberg änderte die Lage im Strafprozess gegen Schwall und Albartus grundlegend und bedeutete nicht nur auf der persönlichen Ebene einen schweren Schlag für die Revolutionären Zellen. Hermann Feiling hatte geplant, am gleichen Tag nach München zu reisen, um anlässlich der Fußballweltmeisterschaft einen Sprengstoffanschlag auf das argentinische Konsulat durchzuführen. Ziel des Anschlages war es, auf die von der argentinischen Militärdiktatur verübten Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen.76 Bei einer Prüfung des Zünders in seiner Wohnung verband Feiling die verwendeten Bananenstecker, obwohl der Stromkreis intakt war. Daraufhin explodierte der Sprengsatz, wodurch Hermann Feiling schwer verletzt wurde. Feiling wurde mit schwersten Verletzungen an Beinen und Augen sowie mit starken Verbrennungen am gesamten Körper in die Heidelberger Universitätsklinik eingeliefert.77 In den folgenden Tagen und Wochen machte er unter Bedingungen, die zum Teil den Rahmen rechtsstaatlicher Vernehmungsgrundsätze und -methoden deutlich überschritten, umfassende Aussagen zur Struktur, zum Aufbau und zur personellen Zusammensetzung jener Revolutionären Zellen, mit denen er selbst in Kontakt stand. Die Aussagen Hermann Feilings mit einem Gesamtumfang von knapp 1300 Seiten, die u. a. im Hamburger Institut für Sozialforschung einzusehen sind, wurden mit Methoden, die nach § 136a Strafprozessordnung (StPO) verbotene Vernehmungsmethoden darstellten und damit eigentlich dem Beweisverwertungsverbot unterlagen, nur wenige Stunden nach einer schwierigen und langwierigen Notoperation unter sehr umstrittenen Umständen generiert.78 Feiling musste direkt nach der Notoperation unter stärksten Schmerzmitteln komplexe Fragen beantworten, konnte sich nach seiner Genesung nicht einmal mehr an die Vernehmungen erinnern und äußerte sich selbst später zu seinen Aussagen mit den Worten:

75 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Duisburg, Johannes R.: Anklageschrift (Gerichte Rep. 515 Nr. 470), S. 5–108, hier S. 56. 76 Anklage gegen einen blinden Epileptiker ohne Beine. Staatsschutzsenat vertagt sich nach Vortrag des Verteidigers / Schwer verletzt durch eigene Bombe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. 11. 1980, S. 35. 77 Vgl. Kraushaar, Im Schatten der RAF, S. 598. 78 U.a. Hamburger Institut für Sozialforschung, Hermann Feiling Vernehmungen (Fei, He/001, 001).

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»Was mich am meisten mitnimmt, im Moment, ist […] daß da scheinbar Aussagen existieren, die von mir stammen. Diese Aussagen stammen aus einer Situation kurz nach der Operation. Ich kann mich weder an sie erinnern, noch kann ich sagen, daß sie so, wie sie mir dann später berichtet wurden, daß sie so der Wahrheit voll entsprechen. Ich hätte diese Aussagen jedenfalls nie gemacht, wenn ich einen klaren Kopf gehabt hätte.«79

Gerade weil die Wahrscheinlichkeit groß war, dass Hermann Feiling an seinen schweren Verletzungen noch im Laufe der ersten Tage im Krankenhaus sterben könnte und man trotz aller Versuche, Informationen über die Revolutionären Zellen zu ermitteln, nur wenige verwertbare Ergebnisse und Informationen vorweisen konnte, wurden die juristischen und rechtlichen Probleme, die mit der Vernehmung verbunden waren, zunächst in Kauf genommen. Ziel war es, endlich den lang erwarteten Ermittlungsansatz gegen die Revolutionären Zellen zu erhalten, die bis dato wackelige Anklage gegen Schwall und Albartus zu untermauern sowie zukünftig verwendbares »gerichtskundiges« Wissen zur Struktur der Revolutionären Zellen zu generieren. Zusammen mit den belastenden Asservaten, die bei der Verhaftung von Gerhard Albartus und Enno Schwall in deren Wohnungen festgestellt werden konnten, ergaben sich für den Strafprozess Möglichkeiten zur deutlich präziseren Konstruktion von Beweisketten, um den Vorwurf der Mitgliedschaft in der RZ nachzuweisen. Im Gerichtsprozess gegen Albartus und Schwall wurden die Aussagen von Feiling, der zur Zeit des Prozesses noch in einer Polizeiakademie – angeblich aus Sicherheitsgründen – von der Außenwelt isoliert war, als Beweismittel eingeführt, die Entstehungsumstände als »Lebensbeichte« umgedeutet und damit als gerichtsverwertbar legitimiert.80 Bereits am 24. Juni 1978 wurde, aufgrund der Aussagen Feilings, seine damalige Lebensgefährtin festgenommen und gegen sie ein Ermittlungsverfahren nach § 129a StGB eingeleitet. Ein weiteres (vermeintliches) RZ-Mitglied wurde im September 1978 festgenommen. Feiling belastete ungewollt RZ-Mitglieder der Zellen Frankfurt am Main, Frankfurt am Main-Heidelberg und aus dem Ruhrgebiet schwer, sodass diese innerhalb von kurzer Zeit in den Fokus der Exekutivorgane gerieten und sich einige davon ins Ausland absetzen mussten. Für das klandestine Gewaltnetzwerk der Revolutionären Zellen markierte der 19. Januar 1979 ein Schlüsseldatum der eigenen Geschichte. Der 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf verurteilte die beiden RZ-Mitglieder Enno Schwall und Gerhard Heinrich Albartus wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung u. a. zu sechs Jahren sowie zu vier Jahren und neun 79 International Institute of Social History, Initiative für Hermann, Sibylle und Sylvia – Dokumentation zum Prozess gegen Hermann, Sibylle u. Sylvia (BRO 692/8 FOL), S. 2. 80 Ebd., S. 1–10.

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Monaten Haft. In der Begründung des Urteils stellte erstmals ein bundesdeutsches Gericht fest, dass es sich bei den Revolutionären Zellen um eine terroristische Vereinigung handelt. Gleichzeitig war dies das erste rechtskräftige Urteil gegen Mitglieder der Revolutionären Zellen und determinierte u. a. weitere Maßnahmen der Exekutivorgane gegen das Gewaltnetzwerk der RZ. Wie wichtig die Aussagen Feilings für die Ermittlungen und Strafprozesse gegen die Revolutionären Zellen in den 1980er Jahren waren, zeigt eindrucksvoll ein Bericht von Generalbundesanwalt Kurt Rebmann an den Justizminister Hans-Jochen Vogel vom 30. April 1980.81 Generalbundesanwalt Rebman legte eine 141 Seiten umfassende Erkenntniszusammenfassung zur »terroristischen Vereinigung« Revolutionäre Zellen vor, die vom zuständigen Referat II B 1 a im Bundesministerium für Justiz kommentiert und mit Vermerken versehen wurde. Zur Herkunft der Informationen und Erkenntnisse über die RZ steht im Bericht des GBA: »Die bisherigen Erkenntnisse, die über Strategie, Organisationsstruktur und Mitglieder der terroristischen Vereinigung ›Revolutionäre Zellen (RZ)‹ gewonnen werden konnten, stützten sich neben dem Ergebnis der bisherigen polizeilichen Ermittlungen auf die eigenen schriftlichen Äußerungen der Vereinigung in ihren Bekennerschreiben sowie den fünf Ausgaben der Druckschrift ›Revolutionärer Zorn‹ in den Jahren 1975 bis 1978, vorwiegend jedoch auf die umfangreiche Aussage von Hermann Josef Feiling und die im Anschluß an seine Aussage geführten polizeilichen Ermittlungen sowie den Angaben von Hans-Joachim Klein in seinem Buch ›Rückkehr in die Menschlichkeit‹ sowie den in verschiedenen Zeitschriften gegebenen Interviews.«82

Hans-Joachim Klein, beteiligt an der OPEC-Geiselnahme im Dezember 1975 in Wien, hatte sich im Mai 1977 endgültig von der IRZ gelöst, indem er einen Revolver und einen Brief an das Spiegel-Büro in Rom geschickt hatte. Er warnte im Brief vor vermeintlich kurz vor der Tatausführung stehenden antisemitischen Vergeltungsangriffen der IRZ in Reaktion auf die israelische Geiselbefreiung in Entebbe am 4. Juli 1976. Klein veröffentlichte 1979, nachdem er immer wieder aus der Illegalität heraus Interviews mit verschiedenen Zeitungen geführt hatte, ein Taschenbuch mit dem Titel »Rückkehr in die Menschlichkeit«.83 Für das BKA, das nach dem Unfall von Hermann Feiling die »Soko RZ« auflöste, eine eigene

81 Bundesarchiv Koblenz, Bundesministerium der Justiz, Störung der öffentlichen Ordnung, Auflehnung gegen die Staatsgewalt, Übersicht über Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts gegen Mitglieder der terroristischen Vereinigung »Revolutionäre Zelle«, Band 1 (B 141/403104), hier: Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, 1 BJs 244/79-4, bisherige Erkenntnisse Ermittlungskomplex gegen Angehörige der terroristischen Vereinigung »Revolutionäre Zelle«, 30. April 1980, Prof. Dr. Rebmann, S. 001–142. 82 Ebd., S. 11. 83 Klein, Hans-Joachim, Rückkehr in die Menschlichkeit, Appell eines ausgestiegenen Terroristen (rororo aktuell), Reinbek bei Hamburg 1979.

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»Sondergruppe RZ« im Bundeskriminalamt aufbaute und alle Ermittlungen gegen die Revolutionären Zellen ab diesen Zeitpunkt zentral steuerte, war das Buch von Hans-Joachim Klein ein wichtiger Kronzeugenbericht eines ausgestiegenen IRZ-Mitglieds. Obwohl Klein keine Klarnamen von RZ-Mitgliedern nannte, war es dem BKA möglich, die Aussagen Feilings mit den Personenangaben von Klein abzugleichen. Freimut Duve, Herausgeber der Reihe »rororo« im Rowohlt Taschenbuch Verlag, in der Kleins Buch veröffentlicht wurde, machte in den Vorbemerkungen einen wichtigen Hinweis, der jedoch zunächst auch vom BKA nicht wirklich ernst genommen wurde: »Skepsis gegenüber einzelnen Passagen mußte zurückstehen hinter diesem Ziel: den Terrorismus der achtziger Jahre verhindern, bevor er entsteht.« Die zunächst ausgebliebene Skepsis gegenüber Angaben und Aussagen Hans-Joachim Kleins sollte sich erst in den Strafverfahren gegen Mitglieder der Revolutionären Zellen ab 2001 als schwerwiegendes Problem für den Generalbundesanwalt herausstellen. Im Bericht des Generalbundesanwaltes an den Justizminister vom 30. April 1980 wurde erneut festgestellt, dass die Revolutionären Zellen eine »terroristische Vereinigung« darstellten, da die RZ »kein loser Zusammenschluß politisch Gleichgesinnter« waren, »sondern als ein auf längere Dauer angelegter Verband mit organisierter Willensbildung in Erscheinung« getreten seien. Eine wichtige Grundlage für die Feststellung, ob es sich um eine »terroristische Vereinigung« handelte, war neben der Schwere der Straftaten und dem festen, auf Dauer angelegten Zusammenschluss die »organisierte Willensbildung«. Zu dieser wichtigen Konstruktionsbedingung einer »terroristischen Vereinigung« wurde im Bericht des Generalsbundesanwalts ausgeführt: »Die organisierte Willensbildung kann auch darin bestehen, daß ein dafür zuständiges ›Organ‹ (BGHSt 7, 225) – im vorliegenden Fall die aus verschiedenen Gruppen stammenden Herausgeber der Zeitschrift ›Revolutionärer Zorn‹ – die Zwecke und Ziele der Vereinigung allgemein und im voraus festlegt und verlautbart; Mitglieder oder Personen, die Mitglieder werden wollen, durch regelmäßige Veröffentlichungen ideologisch und praktisch schult und bei ihnen das Gefühl der Zusammengehörigkeit und des erfolgreichen Zusammenwirken hervorruft oder festlegt, es jedoch bewußt der Eigeninitiative einzelner Mitglieder oder Gruppen überläßt, das im Einzelfall sich anbietende Ziel auszumachen und im Sinne des verlautbarten Gesamtwillens anzugreifen. Auch eine solche Organisationsform zielt darauf ab, einen gemeinsamen Zweck mit bewußt und absichtlich vereinten Kräften zu erreichen. Eine solche Organisationsform ist nicht die einer bloßen ›Bewegung‹, die lediglich politisch-weltanschauliche Denkanstöße vermitteln will, sondern ist bestimmt und geeignet, Gleichgesinnte zu einer organisatorischen Einheit mit gemeinsamen Zielen zusammenzufassen.«84

84 Bundesarchiv Koblenz, Übersicht über Ermittlungsverfahren »Revolutionäre Zelle«, S. 26–27.

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Folgt man diesen Feststellungen des Generalbundesanwalts, nahm der Revolutionäre Zorn als Publikationsorgan der Revolutionären Zellen eine zentrale Funktion innerhalb des Gewaltnetzwerkes ein. Da kein organisatorischer und personeller Führungskern der RZ nachgewiesen werden konnte, der die »organisierte Willensbildung« der »terroristischen Vereinigung« RZ zentral steuerte, wurde über die Aussagen Feilings ein Herausgebergremium des Revolutionären Zorns als Führungszirkel der RZ konstruiert. Im Bericht steht weiter: »Im übrigen erschöpfen sich Organisation und Willensbildung in der ›Revolutionären Zelle (RZ)‹ nicht in der gemeinschaftlichen Herstellung der Zeitschrift ›Revolutionärer Zorn‹. Vielmehr bestehen unter den verschiedenen Gruppen der Vereinigung Kontakte vielfältiger Art: Gegenseitige Besuche, gemeinsame Besprechungen, Schulungen, Anlage von Depots sowie Zusammenwirken an einzelnen Anschlägen. Daß die Mitglieder der verschiedenen Gruppen sich als ein einheitlicher Verband fühlen, zeigt auch die Verwendung des gemeinsamen Namens ›Revolutionäre Zellen (RZ)‹ und eines einheitlichen Verbandssymbols, des fünfzackigen Sterns mit den Initialen ›RZ‹.«85

Spannend ist in diesem Zusammenhang die Antwort des Referat II B 1 a im Bundesministerium für Justiz vom 23. Juni 1980. Zunächst stellten die Mitarbeiter*innen in Reaktion auf den Bericht des Generalbundesanwaltes fest, dass die verübten Anschläge der Revolutionären Zellen »jeweils für sich gesehen als einzelne nicht das Ausmaß der von der ›RAF‹ und der Bewegung ›2. Juni‹ verübten Straftaten« aufwiesen. Direkt im Anschluss kam das Referat dennoch zum Schluss, dass die »Sozialschädlichkeit« der Revolutionären Zellen angesichts der Vielzahl von Anschlägen und der an ihnen beteiligten Personen sowie der durch die dezentralisierte Struktur bedingten Ermittlungsschwierigkeiten nicht hoch genug eingeschätzt werden könnte. Es sei davon auszugehen gewesen, dass, aufgrund der Kontinuität der in der Vergangenheit immer wieder an jeweils anderen Orten verübten Anschläge, eine Fortsetzung der Aktivitäten der RZ zu erwarten war.86 Anschließend stellte das Referat die entscheidende Frage, die über Jahrzehnte hinweg die juristische Aufarbeitung der Revolutionären Zellen beschäftigen sollte: »Es stellt sich die Frage, ob die RZ eine einheitliche, das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland umfassende terroristische Vereinigung mit Untergruppierungen darstellt oder ob es sich um mehrere terroristische Vereinigungen handelt.«87 Von den Mitarbeiter*innen des Justizministerium wurde festgestellt, dass diese Frage im Einzelfall eine »erhebliche praktische 85 Ebd., S. 27. 86 Bundesarchiv Koblenz, Bundesministerium der Justiz, Störung der öffentlichen Ordnung, Auflehnung gegen die Staatsgewalt, Übersicht über Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts gegen Mitglieder der terroristischen Vereinigung »Revolutionäre Zelle«, Band 1 (B 141/403104), hier: GG-Vermerk von Herrn Minister auf dem Bericht des Generalbundesanwaltes vom 30. 4. 1980, 23. Juni 1980, S. 143–148, hier S. 145. 87 Ebd.

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Bedeutung erlangen« konnte. So sei § 129a StGB im Prozess gegen Gerhard Albartus und Enno Schwall vor dem OLG Düsseldorf »nur bei Annahme einer einheitlichen Gruppe anwendbar« gewesen, »weil nur zwei Täter wegen des anstehenden Komplexes verurteilt werden konnten«.88 Am Bericht des Generalbundesanwaltes wurde des Weiteren kritisiert, dass die Feststellung, dass es sich bei den Revolutionären Zellen »um eine einheitliche das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland umfassende terroristische Vereinigung« handele, im Wesentlichen auf die Ausführungen im Urteil Albartus/Schwall des OLG Düsseldorf aufbaut und die Formulierungen der Richter »z. T. im Wortlaut übernommen wurden.«89 Dass die zum Teil konstruierten Erkenntnisse über die Struktur der Revolutionären Zellen bereits vom OLG Düsseldorf im Urteil relativiert wurden, habe der GBA nicht zur Kenntnis genommen und im Bericht »ohne einleuchtenden Grund in der Bezeichnung der RZ zwischen Singular (z. B. S. 25) und Plural (z. B. S. 112)« gewechselt. Anschließend schreiben die Mitarbeiter*innen des Justizministeriums: »Weiter ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben, daß nach den Feststellungen des vom Generalbundesanwalt vorgelegten Berichts das Konzept der ›Revolutionären Zelle‹ gerade dahingeht, autonome Gruppen zu bilden, die ›selbstständig und voneinander unabhängig ihre Aktionen durchführen‹. […] Ob sich die Einheitlichkeit über die Zeitschrift ›Revolutionärer Zorn‹ begründen läßt, ist ebenfalls zweifelhaft.«90

Die zuständigen Mitarbeiter*innen im Bundesministerium der Justiz hatten offensichtlich große Bedenken, ob die Ausführungen von Generalbundesanwalt Kurt Rebman zur Struktur und personellen Zusammensetzung der Revolutionären Zellen der Realität entsprachen. Die Rolle der Oberlandesgerichte, im speziellen Fall die Rolle des Staatsschutzsenats des OLG Düsseldorf, in Verbindung mit der Rolle des Generalbundesanwalts bei »Konstruktionen sozialer Wirklichkeiten« war immens. Die Ausführungen des GBA, der Generalstaatsanwaltschaften, polizeilichen Ermittlungsbehörden und Richter*innen in Strafprozessen über den »bundesdeutschen Linksterrorismus« im Allgemeinen und über die Strukturen der »Revolutionären Zellen« im Speziellen wurden von Journalist*innen zum Teil wörtlich übernommen. Die darauf aufbauenden Berichte und entworfenen sprachlichen Bilder strukturierten eine scheinbare Realität über die Revolutionären Zellen, die die öffentlichen Vorstellungen über das Gewaltnetzwerk und die wissenschaftliche Forschung zu den RZ bis heute stark prägten. Neben den Konstruktionen sozialer Wirklichkeiten stellten die Gerichtssäle der Oberlandesgerichte, die sich mit den Strafprozessen gegen (vermeintliche) Unterstützer*innen und Mitglieder der Revolutionären Zellen 88 Ebd., S. 145–146. 89 Ebd., S. 146. 90 Ebd., S. 146–147.

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beschäftigten, symbolisch aufgeladene Orte dar, in denen staatliche Macht inszeniert und soziale Wirklichkeiten konstruiert wurden.91 Die Feststellungen der Richter des 5. Strafsenats im Urteil gegen Albartus/Schwall zur Struktur der RZ wurden vom GBA zum Teil eins zu eins übernommen und hatten direkten Einfluss auf polizeiliche, strafprozessuale und strafvollzugsmäßige Maßnahmen im Kontext der nachfolgenden »Terrorismusbekämpfung« gegen die Revolutionären Zellen in den 1980er Jahren. Die Einwände des zuständigen Referats im Bundesministerium der Justiz gegen den Bericht des Generalbundesanwalts wurden von diesem nicht weiter beachtet. Die den Bericht des Bundesministeriums für Justiz abschließenden hoffnungsvollen Worte wurden nachfolgend fast vollständig enttäuscht: »Nach Auffassung des Referates bleibt abzuwarten, ob die Vernehmung des soeben in die Bundesrepublik Deutschland freiwillig zurückgekehrten und ebenfalls der Mitgliedschaft in der ›Revolutionären Zelle‹ verdächtigten Rudolf Raabe zu dem vorstehend dargestellten Problemkreis neue Gesichtspunkte ergibt. Darüber hinaus ist in dem noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren gegen Hermann Josef Feiling möglicherweise mit einer Klärung der hier behandelten Frage zu rechnen.«92

Gegen Hermann Feiling, seine damalige Lebensgefährtin und ein (vermeintliches) weiteres weibliches RZ-Mitglied begann der Prozess vor dem 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main am 25. November 1980. Feiling war zunächst, wie bereits beschrieben, wenige Stunde nach der Notoperation unter der Einwirkung stärkster Schmerzmittel in akuter Lebensgefahr als de facto Beschuldigter vernommen worden.93 Nachdem seine Aussagen, die knapp 1300 Seiten füllten, als gerichtsverwertbare Beweise in den Prozess eingebracht worden waren und der öffentliche Druck aufgrund der zunehmend publik gewordenen Aussageumstände massiv angestiegen war, wurde Hermann Feiling für verhandlungsunfähig erklärt.94 Trotz der bekannten Umstände der Entstehung der ersten Aussagen und trotz des vehementen Einspruchs des Anwalts von Hermann Feiling plädierte der Staatsschutzsenat erfolgreich dafür, die »FeilingProtokolle« zu verlesen.95 Ziel der zuständigen Bundesanwaltschaft war es ab diesem Zeitpunkt, die damalige Freundin Hermann Feilings sowie eine weitere Frau als Mitglieder der Revolutionären Zelle Frankfurt-Heidelberg zu verurteilen. Aufgrund der Entstehungsumstände der Aussagen von Hermann Feiling 91 Vgl. Diewald-Kerkmann, Justiz gegen Terrorismus, S. 39–40. 92 Bundesarchiv Koblenz, Übersicht über Ermittlungsverfahren »Revolutionäre Zelle«, S. 148. 93 Vgl. Anklage gegen einen blinden Epileptiker ohne Beine, S. 35. 94 Vgl. Schwache Indizien, aber ein starker Wille zum Schuldspruch, in: taz. die tageszeitung, 27. 7. 1988, https://taz.de/!1843369/ (3. Januar 2021). 95 Bei der ersten Vernehmung erzählte Feiling präzis, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. 1. 1981, S. 26.

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fand das Verfahren große öffentliche Beachtung.96 Wegen eines Brandanschlages auf das Heidelberger Schloss am 18. Mai 1978 mit dem Ziel, die Altstadtsanierungspraxis der städtischen Politik zu kritisieren, wurde Hermann Feilings damalige Lebensgefährtin zu 15 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Der Bundesanwaltschaft gelang es nicht, dass vermeintlich »gerichtsbekannte Wissen« mit diesem Fall in Verbindung zu bringen. Feiling hatte ausgesagt, dass seiner Lebensgefährtin nicht klar gewesen sein konnte, dass sie in der Vorbereitung des Anschlags auf das Heidelberger Schloss mit RZ-Mitgliedern sprach. Die Verteidiger*innen warfen zu Recht die Frage auf, wie wahrscheinlich es sei, dass eine klandestine »terroristische Vereinigung« wie die Revolutionären Zellen, über die das BKA so wenige Informationen hatte sammeln können, mit einem Nicht-Mitglied über einen Anschlag gesprochen habe. Im Unterschied zum Urteil gegen Albartus und Schwall fällt das deutlich geringere Strafmaß auf, da ihr »nicht mit der für eine Verurteilung ausreichenden Sicherheit« nachgewiesen werden konnte, dass sie ein Mitglied der Revolutionären Zellen war.97 Die weitere angeklagte weibliche Person musste in Ermangelung von Beweisen freigesprochen werden. Im Juni 1982 stellte sich Rudolf Raabe, der zeitweilig aus der Bundesrepublik geflohen, aber aufgrund einer schweren Nierenerkrankung zurückgekehrt war, freiwillig den Behörden.98 Hermann Feiling hatte in seinen Aussagen von einer neugegründeten Revolutionären Zelle in Mainz und einem aus Frankfurt am Main dorthin gezogenen RZ-Mitglied gesprochen. Die Beschreibungen Hermann Feilings passten auf Rudolf Raabe, der bereits seit Mitte der 1970er Jahre Kontakt zu verschiedenen weiteren potenziellen RZ-Mitgliedern hatte, in dessen Wohnung Elektrobauteile sowie linksradikale Schriften gefunden worden waren und der sich mit einem weiteren (vermeintlichen) RZ-Mitglied nach Großbritannien abgesetzt hatte.99 Der Staatsschutzsenat in Koblenz würdigte zwar die gesammelten Beweise, eine Verurteilung wegen einer Mitgliedschaft in den Revolutionären Zellen konnte jedoch nicht mit erforderlicher Gewissheit nachgewiesen werden. Raabe wurde nur wegen Fälschung eines Passes im Kontext der Flucht nach Großbritannien zu einer Geldstrafe von 1800 Mark verurteilt.100 Der gesamte Prozessverlauf entwickelte sich für den Generalbundesanwalt zu einer Farce, die durch die Entscheidung des Staatsschutzsenats in Koblenz bestätigt wurde. Helmut Janssen stellte zutreffend fest, dass sich besonders in den 1980er 96 International Institute of Social History Amsterdam, Prozeß, Sprengstoffexplosion, Haftunfähigkeit (Anarchiv Collection (ARCH01946) Umschlag 423). 97 Vgl. Schwache Indizien, aber ein starker Wille zum Schuldspruch. 98 Vgl. Findelkind vor der Tür, in: Der Spiegel, 20. 9. 1982, S. 82–87. 99 Vgl. Kontakte zwischen deutschen und irischen Terroristen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. 7. 1979, S. 1. 100 Landeshauptarchiv Koblenz, Prozess gegen Rudolf Raabe, Nr. 1988 (Bestand 582).

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Jahren bei der Bundesanwaltschaft die deutliche Tendenz zeigte, selbst aussichtslose Fälle in der eigenen Zuständigkeit nicht einzustellen, sondern mit allen Mitteln die Beschuldigten anzuklagen. Die Devise dieser Strategie des Generalbundesanwaltes bezeichnete Janssen als »Verurteilung um jeden Preis«.101 Wie der Fall Raabe zeigt, verliefen diese Prozesse jedoch häufig im Sand und führten nicht zu den erhofften Urteilssprüchen. Gisela Diewald-Kerkmann wies in einem Aufsatz daraufhin, dass oftmals Personen in Prozessen wegen § 129a StGB angeklagt und verurteilt wurden, die aufgrund der Werbung oder Unterstützung einer »terroristischen Vereinigung« angeklagt waren, aber nicht zur RAF gehörten.102 Ähnlich gelagerte Fälle finden sich auch im Kontext von Verfahren gegen Werber*innen und Unterstützer*innen der Revolutionären Zellen in einer noch nicht abschließend bestimmbaren Größenordnung in bundesdeutschen Archiven. Ein besonders gravierender Fall, der erneut vor dem Oberlandesgericht in Düsseldorf stattfand, löste zum Teil große mediale Bestürzung aus. Vier junge Männer zwischen 17 und 24 Jahren malten Nachts an die Wände von verschiedenen Einkaufszentren in Duisburg RZ- und RAF-Parolen, wurden dabei von der Polizei gestellt und wegen der angeblichen »Unterstützung und Werbung für eine terroristischen Vereinigung« zu Jugend- und Freiheitsstrafen verurteilt.103 Ein weiterer Prozess, der ebenfalls vor dem OLG Düsseldorf stattfand, richtete sich gegen einen Journalisten, der im Rahmen einer sogenannten »Fahrscheinaktion« der Revolutionären Zellen verhaftet worden war. RZ-Mitglieder und tatsächliche Unterstützer*innen verteilten Mitte der 1980er immer wieder gefälschte Fahrkarten des Rhein-Ruhr-Verbunds im Ruhrgebiet. Der Journalist benutzte eine dieser Fahrkarten, die er auch an seine Freunde und Kolleg*innen verteilte, und reichte eine Kopie des Bekennerschreibens der RZ zur Information über die Hintergründe der Fälschungen an Freund*innen weiter. Friedhelm B. wurden deshalb wegen der »Werbung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung« zu sechs Monaten Haft verurteilt.104 Keiner der knapp 100 Anschläge in den 1980er Jahren, zu denen sich verschiedene Revolutionäre Zellen bekannten, konnte auch nur im Ansatz durch das BKA ausermittelt oder mittels Prozessurteilen juristisch geahndet werden. Von Oberlandesgerichten, u. a. in Koblenz, Frankfurt am Main und Düsseldorf, kam es zu einer Vielzahl von Verurteilungen wegen zum Teil 101 Janssen, Der Sicherheitsstaat und die »RAF«, S. 135. 102 Vgl. Diewald-Kerkmann, Justiz gegen Terrorismus, S. 37. 103 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Duisburg, Vinceno B. und Burkhard M.: Verdacht der Bildung einer terroristischen Vereinigung 129a StGB (LAV NRW R, Gerichte Rep 485 Nr. 27). 104 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Duisburg, Friedhelm B.: Haftbefehl und Einlieferungsbescheid in die Justizvollzugsanstalt (LAV NRW R, NW 1386 Nr. 116).

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konstruierter Werbungs- und Unterstützungshandlungen für die Revolutionären Zellen, ohne dass der eigentliche Kern des Gewaltnetzwerkes ermittelt und juristisch belangt werden konnte. Wenn Revolutionäre Zellen Anschläge gegen staatliche Behörden verübten, die sich mit Asyl-Fragen beschäftigten, wurden alle linken Zeitschriften verdächtigt, die auch nur entfernt darüber berichteten, Werbung für die »Revolutionären Zellen« zu betreiben und Ermittlungen aufgrund von § 129a StGB eingeleitet. Diese Form der »Terrorismusbekämpfung« durch eine gezielte Kriminalisierungsstrategie von Teilen des linksradikalen Milieus stellte ein reaktives Konflikthandeln dar, dass nicht selten mit der richterlichen Unabhängigkeit kollidieren konnte. Das Vorgehen der Richter war vielfach, wie von Bernd Rüthers treffend beschrieben, durch den »Wind des jeweiligen Zeitgeistes und seinen ideologischen Vorgaben« bestimmt.105 Die bisher vorgestellten exemplarischen Beispiele für Strafprozesse gegen (vermeintliche) Mitglieder, Unterstützer*innen und Werber*innen der Revolutionären Zellen in den 1980er Jahren zeigen sehr deutlich, dass nicht nur die exekutiven Ermittlungsbehörden, wie das BKA, sondern auch Staatsschutzsenate immense Schwierigkeiten bei der »Terrorismusbekämpfung« gegen die Revolutionären Zellen hatten. Einen Höhe- und Wendepunkt erreichte die »Terrorismusbekämpfung« gegen die Revolutionären Zellen mit dem bereits einleitend geschilderten »WeckerProgramm« des BKA und der darauf aufbauenden Großrazzia mit der internen Bezeichnung »Aktion Zobel«. Zwischen dem 18. und 20. Dezember 1987 führten unter der Federführung des BKA und der Generalbundesanwaltschaft verschiedene Polizeibehörden eine umfangreiche Razzia gegen mutmaßliche Mitglieder der Revolutionären Zellen und der Roten Zora in Köln, im Ruhrgebiet und in Hamburg durch.106 Die Ermittlungsbehörden standen nach Jahren ohne sichtbare Erfolge gegen die Revolutionären Zellen massiv unter Druck.107 Die bundesweite Durchsuchungsaktionen basierten auf 23 Ermittlungsverfahren. Zur Begründung der Durchsuchungsbeschlüsse wurde das erste Mal der Terminus der »anschlagsrelevanten Themen« gebraucht. Die umfangreichen Möglichkeiten der Vorfeldaufklärung von potenziell »terroristischen Anschlägen«, die durch den § 129a StGB möglich waren, wurden über die Begriffsverwendung auf die Themenkomplexe Frauenbewegung, Asylproblematik sowie Gentechnologie ausgedehnt. Damit einher ging die Kriminalisierung jedweder linksradikaler Beschäftigung mit den aufgezählten Themenfeldern.108 Ingrid Strobl wurde bei der Durchsuchung ihrer Wohnung in Köln nicht angetroffen. Dar105 106 107 108

Vgl. Diewald-Kerkmann, RAF und Strafverfahren, S. 109. Vgl. Hunger/Siemens, Revolutionäre Zellen. Vgl. Lunnebach, Der Weckerkauf, S. 140. Vgl. Vukadinovic´, Spätreflex, S. 151–152.

»Terrorismusbekämpfung« und Strafprozesse gegen die Revolutionären Zellen

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aufhin erging gegen sie am 19. Dezember 1987 ein Haftbefehl, der nach ihrer Rückkehr in die Wohnung vollstreckt wurde.109 Im Haftbefehl wurde Strobl vorgeworfen, einen Reisewecker Modell Sonochron der Firma Emes mit der Nummer 6457 käuflich erworben zu haben, der als Zündzeitverzögerer bei einem Anschlag der RZ gegen ein Lufthansa-Gebäude in Köln am 28. Dezember 1986 benutzt worden sein soll.110 Am 26. Mai 1988 erhob die Generalbundesanwaltschaft am OLG Düsseldorf Anklage gegen Ingrid Strobl.111 Die Anklage baute auf der Argumentation auf, dass nur feste RZ-Mitglieder Tatmittel für Anschläge kaufen würden und niemals Nicht-Mitglieder mit der Beschaffung von Tatmitteln beauftragt worden seien. Diese Argumentation baute wiederum auf den in anderen Strafprozessen generierten »gerichtsbekannten Wissen« über den Aufbau und die Struktur der Revolutionären Zellen auf. Durch dieses »Zitierkartell«, wie Edith Lunnebach das Vorgehen in Prozessen gegen potenzielle Mitglieder der RZ nannte, sei die Unschuldsvermutung im Strafprozess gegen Ingrid Strobl unterhöhlt worden, da eine weitere Beweisaufnahme von Seiten der Generalbundesanwaltschaft nicht mehr für nötig befunden worden sei.112 Im Verlauf der Verhandlung brach jedoch die Mitgliedschaftsthese, die auf dem »gerichtsbekannten Wissen« aufbaute, zusammen. Die Verteidigung konnte nachweisen, dass die Argumentation der Anklage auf vermeintlichem Wissen aufbaute, das bisher nie festgestellt wurde. Auch die Vorbereitung und Durchführung des Anschlages konnte in der Beweisaufnahme nicht rekonstruiert werden. Die Argumentation des juristischen Nachweises der Mitgliedschaft von Ingrid Strobl in einer Revolutionären Zellen kam damit, auf Grundlage der damals bekannten Fakten, einer Erfindung des Generalbundesanwaltes gleich.113 Edith Lunnebach fasste die vom Fachreferat im Bundesministerium der Justiz bereits 1980 angedeuteten Problemstellungen, die in Reaktion auf den RZ-Bericht von Generalbundesanwalt Kurt Rebmann geäußert wurden, im Kontext des Prozesses gegen Ingrid Strobl präzise zusammen: »Gerade das macht eben die Gefährlichkeit der Konstruktion der terroristischen Vereinigung aus, die Sogwirkung des Terrorismusvorwurfes läßt die Gerichte vergessen, daß sie sich um den Nachweis der konkreten Schuld eines Täters bemühen müssen. Daß die terroristische Vereinigung ›schuldig‹ ist und damit mutmaßlich alle, die sich in diesen Randbereichen bewegen, wird nach der Ideologie des Staatsschutzes von vorn-

109 Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Berlin, Information zum Vorgehen des Gegners im Zusammenhang mit der Aktion »Zobel« vom 18. 12. 1987 (MfS, HA XXII Nr. 16870). 110 Vgl. Lunnebach, Der Weckerkauf, S. 141. 111 Vgl. Lunnebach, Der Weckerkauf, S. 141–142. 112 Vgl. Lunnebach, Der Weckerkauf, S. 143. 113 Vgl. Lunnebach, Der Weckerkauf, S. 148.

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herein unterstellt. Hinzu kommt, daß dann, wenn bereits die unbestimmte Nähe zu einer Organisation für eine Verurteilung nach § 129a StGB ausreicht, auch Verteidigungsrechte erschwert sind. Je unkonkreter der Vorwurf, desto schwieriger gelingt der Nachweis, man habe damit nichts zu tun.«114

Der 5. Strafsenat des OLG Düsseldorf sprach im Juni 1989 das Urteil gegen Ingrid Strobl. Strobl wurde wegen Unterstützung einer »terroristischen Vereinigung« in Tateinheit mit der Beihilfe zur Sprengstoffexplosion zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt.115 Am 8. Mai 1990 hob der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs das Urteil einstimmig auf. Von Seiten der Verteidigung Ingrid Strobls wurde die BGH-Entscheidung als ein Teilerfolg betrachtet, da Strobl aus der Untersuchungshaft entlassen wurde und § 129a StGB als Konstruktionsgrund der Verurteilung wegfiel. Dem Vorsitzenden Richter des 5. Strafsenats des OLG Düsseldorf, der in den 1980er Jahren eine ganze Reihe von Prozessen im Kontext der RZ geleitet hatte, war es nicht gelungen, den BGH auf Grundlage der durch den GBA konstruierten Anklage von seinem Urteil zu überzeugen.116 In der Revisionsverhandlung wurde Ingrid Strobl am 22. Oktober 1990 zu drei Jahren Haft verurteilt, die Untersuchungshaft auf die Haftstrafe angerechnet und die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt. Alle weiteren Ermittlungsverfahren nach § 129a StGB, die im Zusammenhang mit dem »Wecker-Programm« und der »Aktion Zobel« eingeleitet wurden, verliefen zunächst im Sand oder wurden eingestellt. Die Konstruktion von »anschlagsrelevanten Themen« als Beweis für die Mitgliedschaft in den Revolutionären Zellen hatte keinen juristischen Erfolg. Nichtsdestotrotz zerstörte die »Aktion Zobel« die RZ-Strukturen im Ruhrgebiet und Hamburg nachhaltig. Am 9. Juni 1989 wurde das letzte »Anti-TerrorismusGesetz« der 1980er Jahre verabschiedet.117 Das Gesetz zur Änderung des StGB, der StPO und des Versammlungsgesetzes erfolgte in Kombination mit einer Anpassung von bestehenden Strafnormen mit Blick auf eine Bekämpfung spezifischer Formen des »Terrorismus«.118 Besonders die Einführung einer Kronzeugenregelung sollte die Strafprozesse gegen (vermeintliche) Mitglieder der Revolutionären Zellen bis zum letzten RZ-Prozess 2014 maßgeblich bestimmen.

114 115 116 117 118

Lunnebach, Der Weckerkauf, S. 148–149. Vgl. Vukadinovic´, Spätreflex, S. 154. Vgl. Strafrecht: Erst mal wegschließen. Vgl. Heger, Ein Ende der Entkriminalisierung, S. 56. Vgl. Schulte, Terrorismus- und Anti-Terrorismus-Gesetzgebung, S. 166–181.

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Schlussbetrachtung

Waren die »Terrorismusbekämpfung« und die Strafprozesse gegen die Revolutionären Zellen in den 1980er Jahren zeitgeschichtliche Belege für die Existenz einer »Politischen Justiz« in der Bundesrepublik Deutschland? Die Verabschiedung der »Anti-Terror-Gesetze« der 1970er waren zunächst in erster Linie gegen die RAF und die B2 J gerichtet. Die »Anti-Terror-Gesetzgebung« war eine ad hoc Reaktion des Gesetzgebers auf die jeweilige momentane Bedrohungssituation. Mit der Ausweitung der Anschlagsthemen und der Zunahme der Anschläge von linken Gewaltakteur*innen in den 1980er Jahren wurden in den Strafgesetzänderungen immer weitere Strafhandlungen zum § 129a StGB hinzugefügt und die vermeintlichen »terroristischen Handlungen« weit in die militanten Widerstandsformen der »Neuen Sozialen Bewegungen« ausgedehnt. Gegen tatsächliche RZ-Mitglieder wurde in den 1980er Jahren – bis auf die Verfahren im direkten Anschluss an den Unfall von Hermann Feiling – keine Gerichtsprozesse geführt. Trotz ständiger Verschärfungen der Gesetzgebung war es dem BKA bis Dezember 1987 nicht möglich, die Strukturen der RZ nachhaltig zu zerschlagen. Die »Terrorismusbekämpfung« gegen die Revolutionären Zellen bis 1987 war in der Regel nur dann erfolgreich, wenn zufällige Ereignisse, wie die schweren Verletzungen durch die Zündung eines Sprengsatzes bei Hermann Feiling, und das Glück auf der Seite der Ermittlungsbehörden waren. Keiner der über 100 Anschläge von Revolutionären Zellen in den 1980er Jahren konnte ausermittelt werden und die Ermittlungsverfahren verliefen als sogenannte »Unbekanntverfahren« im Nichts. Auf diesen weiterhin vorhandenen Ermittlungsnotstand gegen die Revolutionären Zellen reagierten die zuständigen Staatsschutzsenate der Oberlandesgerichte und der Generalbundesanwalt mit großer Härte. Durch Behelfskonstruktionen wie dem Konzept der »geistigen Nähe zum Terrorismus« und der kontinuierlichen Ausdehnung des vermeintlichen »Terroristenumfeldes« bis weit hinein in breite soziale Protestbewegungen sollten potenziell militante Aktivist*innen zum Teil eingeschüchtert werden. Dabei erwies sich die Einführung des § 129 a StGB als regelrechter »Ausforschungsparagraf«, der mit umfangreichen Sonderbefugnissen auf polizeilicher und nachrichtendienstlicher Ebene verbunden war. Im Kontext der juristischen »Terrorismusbekämpfung« gegen die Revolutionären Zellen trat besonders das OLG Düsseldorf in Form eines »Sondergerichts« für RZ-Prozesse hervor. Ob dadurch auch eine politische Einflussnahme über den GBA etc. gegeben war, kann noch nicht abschließend beurteilt werden, da aufgrund von Aktensperrfristen und Persönlichkeitsrechten keine vollständige Sichtung aller Prozesse mit RZ-Bezug möglich ist. Nach Analyse der bisher zugänglichen Stichproben lässt sich jedoch die Tendenz feststellen, dass die Justiz im Kontext der »Terrorismusbekämpfung« gegen die RZ aufgrund der ausgebliebenen Erfolge der polizeilichen Ermittlungsbehörden

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besonders bei vermeintlichen Unterstützungs- und Werbungshandlungen zu Gunsten der RZ dazu neigte, Exempel zu statuieren. Da sich die Justiz bei Prozessen gegen vermeintliche RZ-Mitglieder schwer tat mit Verurteilungen, die einer Revision vor dem Bundesgerichtshof standhielten, wurden breite Maßnahmen politischer Aktivist*innen als Unterstützungs- und Werbungshandlungen ausgelegt, um gezielte Abschreckung im Sinne einer Politik der Inneren Sicherheit zu betreiben. Dass die Aussagen von Hermann Feiling, die unter mehr als fragwürdigen Bedingungen entstanden sind, in Prozessen gegen vermeintliche RZ-Mitglieder zugelassen worden sind, scheint aus Sicht staatlicher Akteur*innen und Institutionen nachvollziehbar, bedarf jedoch dringend einer erneuten historisch-juristischen Facheinschätzung unbeteiligter Expert*innen. Bei der »Terrorismusbekämpfung« gegen die Revolutionären Zellen und den damit verbundenen Strafprozessen in den 1980er Jahren ist es nach aktueller Quellenlage nachvollziehbar, von zeitgeschichtlichen Hinweisen für die Existenz einer »Politischen Justiz« in der Bundesrepublik Deutschland zu sprechen. Gerichte wurden durchaus für politische Zwecke in Anspruch genommen sowie das Feld der Inneren Sicherheit durch Staatschutzsenate ausgeweitet und abgesichert.

Stephan Müller

Hausbesetzer – Recht, Politik, Prozesse

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Hinführung: Rechtsbewusstsein und Rechtsstaat

Einer jeden Epoche wohnt das Spezifikum inne, dass sich in ihr ein besonderes Verhältnis von Recht und Gesetz entfaltet,1 welches sich jeweils inhärent im Rechtsbewusstsein ihrer Akteure niederschlägt. Rechtsbewusstsein umfasst jedwedes Verhalten und alle Einstellungen in der Dimension dessen, was Recht ist, Recht sein oder Recht leisten soll. Das Rechtsbewusstsein selbst lässt sich wiederum in drei verschiedene Felder untergliedern, welche starke Wechselbezüge aufweisen: das politisch-rechtliche Bewusstsein, das sozial-ethische Bewusstsein und das Rechtsgefühl.2 Ein kollektives juristisches Erinnern würde beim Versuch, einen letzten großen Einschnitt in der Entwicklung des Verhältnisses von Recht und Gesetz festzumachen, möglicherweise zunächst in der Zeit der Herausbildung moderner Gesetzgebungsstaaten landen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war ein tiefgreifender Wandel des Rechtsbewusstseins festzustellen, welcher im Streit zwischen Savigny und Thibaut Ausdruck fand.3 Doch könnte ein solcher Rückblick viel zu weit gegriffen sein. Aus heutiger Sicht lässt sich die Relevanz und Lebensnähe dieser an Thomas Würtenberger angelehnten Differenzierungen des Rechtsbewusstseins eindrucksvoll am Beispiel der Hausbesetzungen der 1980er Jahre nachempfinden.4 In jedem der drei von ihm skizierten Felder konnten in dieser Zeit starke Veränderungen festgestellt werden, welche die Bundesrepublik Deutschland als modernen Gesetzgebungsstaat in seiner rechtsstaatlichen Ausprägung mindestens auf die Probe stellten. Im Bereich des politisch-rechtlichen Bewusstseins nimmt insbesondere die Bewertung des Verhältnisses der eigenen Person zum Staat eine zentrale Rolle 1 Vgl. Thomas Würtenberger, Schwankungen und Wandlungen im Rechtsbewusstsein der Bevölkerung, NJW 1986, 2281ff., 2281. 2 Vgl. ebd., 2282. 3 Vgl. Sérgio Fernandes Fortunato, Vom römisch-gemeinen Recht zum Bürgerlichen Gesetzbuch, ZJS 2009, 327, 336f. 4 Vgl. Würtenberger, NJW 1986, 2281, 2281.

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Stephan Müller

ein.5 Als Kernbereich des sozialethischen Bewusstseins setzen die Grundwertungen der Verfassungen, wie auch die Eigentumsfreiheit, entscheidende Ansatzpunkte.6 Eine Bewertung des Rechtsgefühls schließlich muss anhand der Beurteilung des Gesetzesgehorsams sowohl im gesellschaftlichen als auch staatlichen Bereich erfolgen.7 Demzufolge soll in einem ersten Schritt dargestellt werden, wie die gesellschaftliche, politische, als auch rechtliche Spaltung in der Beurteilung der Hausbesetzungen und deren Rahmenbedingungen zu einer schon theoretischen, unausweichlichen Krise, welche auf einem rein rechtsstaatlichen Weg nicht mehr zu lösen war, führen mussten. In der Folge soll sich zeigen, wie selbst verschiedenartige, gar konträre Ansätze diese Krise zu bewältigen, letztendlich Brüche mit der Rechtsstaatlichkeit konkretisierten und verwirklichten.

2

Die Hausbesetzerbewegung als Motor eines Wandels im Rechtsbewusstsein

2.1

Verfehlte staatliche Wohnraumpolitik als Auslöser der Besetzungen

Hausbesetzungen waren der Bundesrepublik Deutschland Anfang der 1980 Jahre nicht neu, doch sicherlich in dem nun dargebotenen Ausmaß und in der durchgeführten Form unbekannt. Der Beginn vereinzelter Besetzungen lässt sich bereits auf das Jahr 1970 datieren.8 Doch erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1980 entwickelte sich ausgehend von Berlin eine aktive Hausbesetzerszene,9 welche besonders in den Jahren 1980/1981 bis zu ihrem erneuten Abflauen Mitte der 80er Jahre,10 eine sowohl gesellschaftliche11, politische12 als auch juristische13 Krise hervorrief. Mögliche Gründe für die Entwicklung sind sowohl im damali5 Vgl. ebd., 2282. 6 Vgl. ebd. 7 Zu näherer Konkretisierung des Rechtsgefühls: Vgl. Klaus Obermayer, Über das Rechtsgefühl, JZ 1986, 1ff. 8 Als erste echte Hausbesetzung in Deutschland gilt jedoch die Besetzung eines leerstehenden Hauses in Frankfurt Westend im September 1970, Vgl. Peter Brügge, Aufgeben können wir nicht mehr, Der Spiegel 1970/47, 49ff. 9 Vgl. Joseph Scheer, Jan Espert, Deutschland, Deutschland, Alles ist vorbei – Alternatives Leben oder Anarchie? Die neue Jugendrevolte am Beispiel der Berliner ›Scene‹, München 1982, S. 22. 10 Vgl. z. B.: OLG Düsseldorf, JZ 1990, 1088; OLG Düsseldorf, JR 1992, 165; Vgl. Handelsblatt, 09. 01. 1985. 11 Vgl. Scheer/Espert, Deutschland, Deutschland, Alles ist vorbei (o. Fn. 9), Vorwort. 12 Vgl. ebd. 13 Vgl. Heiko Artkämper, Hausbesetzer, Hausbesitzer, Hausfriedensbruch, Berlin u.a 1995, S. 1.

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gen Wohnungsmarkt der Bundesrepublik und der dazu entsprechenden Wohnraumpolitik, als auch in der veränderten Beziehung der Bürger zu staatlichem Handeln zu suchen. Anfang der 1980er Jahre lebte etwa ein Drittel der westdeutschen Bevölkerung in den großstädtischen Ballungszentren, wovon sich wiederum 80 % der Haushalte auf Mietswohnungen verteilten, bzw. auf Mietwohnungen angewiesen waren.14 Seit Ende des zweiten Weltkrieges bestand stets ein Mangel an bezahlbarem Wohnraum für kleinere und mittlere Einkommensschichten.15 Doch lagen die Parameter von Angebot und Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt mal mehr, mal weniger weit auseinander.16 In den Ballungsgebieten deckten sich Angebot und Nachfrage in den Jahren vor und während der Hausbesetzungswelle sogar nominell teilweise, dennoch eignete sich der verfügbare Wohnraum aus finanziellen oder auch tatsächlichen Gründen nicht zum Einzug und stand daher leer.17 Demgegenüber sind Wohnungsbautätigkeiten im Zeitraum von 1973 bis 1980 drastisch bis auf die Hälfte ihres Ausgangswerts zurückgegangen,18 was auf der falschen Annahme, die Bevölkerungszahl würde sich rückläufig entwickeln, beruhte.19 Sowohl der Gesetzgeber als auch das Bundesverfassungsgericht hatten die Notwendigkeit, der sich abzeichnenden Entwicklung des Wohnungsmarkts entgegenzuwirken, zwar bereits frühzeitig erkannt, doch zeigten die ergriffenen Maßnahmen nicht die gewünschte Wirkung.20 So wurde bereits am 04. November 1971 das MietRVerbG verabschiedet,21 dessen Art. 6 § 1 Abs. 1 die Landesregierungen zum Erlass von Rechtsverordnungen zum Verbot (samt Befreiungsvorbehalt) zweckentfremdeter Wohnraumnutzung in Krisengebieten ermächtigte.22 Allerdings versagten die vorgesehenen Mittel teilweise.23 In Berlin wurde im Frühjahr 1980 die entsprechende Zweckentfremdungsverbotsverordnung durch das Berliner Oberverwaltungsgericht sogar wieder außer Kraft gesetzt.24 Zu14 Vgl. Wolfgang Kröning, Alternativen zum gewöhnlichen sozialen Wohnungsbau, in: Institut Wohnen und Umwelt(Hrsg.), Wohnungspolitik am Ende?, Berlin 1981, S. 75ff. 15 Vgl. Bernd Malunat, Hausbesetzungen im Zeichen des Widerstands, RuP 1982, 143ff., 145. 16 Vgl. ebd. 17 Vgl. Artkämper, Hausbesetzer, Hausbesitzer, Hausfriedensbruch (o. Fn. 13), S. 10. 18 Vgl. Malunat, RuP 1982, 142, 145 m.w.N. 19 Vgl. Manfred Ganschow, Hausbesetzungen in Berlin – eine Betrachtung aus gesellschaftsund rechtspolitischer Sicht, Die Polizei 1983, 201ff., 203. 20 BVerfGE 38, 348 (Rn. 361). Vgl. BT-Drs. 6/2564, 4. 21 Gesetz zur Verbesserung des Mietrechts und zur Begrenzung des Mietanstiegs sowie zur Regelung von Ingenieur- und Architektenleistungen. 22 Vgl. Artkämper, Hausbesetzer, Hausbesitzer, Hausfriedensbruch (o. Fn. 13), S. 10. 23 Vgl. Andreas Suttner, »Beton brennt« – Hausbesetzer und Selbstverwaltung in Berlin, Wien und Zürich der 80er, Münster u. a. 2011, S. 112: Wurde zwar von der Möglichkeit eines solchen Erlasses durch die Landesregierungen sehr schnell und rege Gebrauch gemacht, wurde deren Inhalt nur sehr zurückhaltend umgesetzt. 24 Vgl. ebd.

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sammenfassend lässt sich die Wohnungsmarktkrise an einer 1978 erhobenen Wohnungsstichprobe festmachen.25 Nach Hochrechnung dieser 1 % Wohnungsstichprobe auf Bundesebene ergab sich ein Leerstand von ca. 655.100 Wohneinheiten.26 Demgegenüber stand laut Studien eine Zahl von etwa 600.000 Wohnungssuchenden.27 Der Staat hatte im Hinblick auf seine Wohnungsbaupolitik versagt.

2.2

Besetzungen als Ausdruck eines grundlegenden Misstrauens der Bürger gegenüber staatlichen Problemlösungen

Bereits ab Mitte der 1960 Jahre ist ein gravierender Wandel in der Auffassung des Verhältnisses des Bürgers zum Staat nachzuvollziehen.28 Ausgehend von einem in der Nachkriegszeit noch präsenten Grundvertrauen der Bürger in die möglichen, von staatlicher Seite angebotenen Lösungen sozialer und ökonomischer Probleme, verschob sich der Fokus mehr und mehr auf eine mögliche aktive politische Orientierung des Einzelnen.29 So waren Anfang der 1980er Jahre bereits 25–30 % der Gesamtbevölkerung der Ansicht, dass es gegen staatliche Grundsatzentscheidungen eine Veto-Position des Einzelnen geben sollte, welche gegebenenfalls durch gezielten Rechtsbruch durchgesetzt werden können müsse.30 Dieses Misstrauen prägte ganz grundsätzlich das Verhältnis der Bürger zum Staat und fand auch in den Besetzungen leerstehender Häuser Ausdruck. Bündig stellen sich die Hausbesetzungen als »eine radikale Art und Weise des Betroffenenwiderstandes dar, der sich über die vorgesehenen Konfliktregelungsinstanzen hinwegsetzte«31. Aufgrund jeweils im Detail unterschiedlicher stadtpolitischer Besonderheiten konnten diese »Aktionsformen« keine bundesweiten Parallelen aufweisen,32 weshalb es gerade notwendig erscheint sich einen groben 25 Vgl. Kröning, Alternativen zum gewöhnlichen sozialen Wohnungsbau (o. Fn. 14), S. 75ff. 26 Vgl. ebd.; ex post: Zahlen müssen leicht nach unten korrigiert werden: Vgl. etwa Rolf Amann, Der moralische Aufschrei – Presse und abweichendes Verhalten am Beispiel der Hausbesetzungen in Berlin, Frankfurt am Main 1985, S. 9. Jedoch einzige bundesweite repräsentative Studie, BT-Drucksache 9/341: 11. 27 Vgl. Bernd Malunat, Eigentum und Hausbesetzung: Einige soziologische und rechtspolitische Überlegungen zur aktuellen Problematik des Eigentumsrechts, Politische Vierteljahresschrift 1982, 257ff., 276. 28 Vgl. Würtenberger, NJW 1986, 2281, 2283. 29 Vgl. Max Kaase, Legitimitätskrise in westlichen demokratischen Industriegesellschaften: Mythos oder Realität?, in: Helmut Klages, Peter Kmieciak, Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, Frankfurt am Main 1998, S. 328ff. 30 Vgl. ebd. 31 Vgl. Suttner, »Beton brennt« (o. Fn. 23), S. 122. 32 Vgl. Raabe-Zimmermann, Jürgen, Sonnewald, Bernd, Die Entwicklung der Hausbesetzer-Szene und grundsätzliche Rechtsfragen, RuP 1982, 151ff.

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Überblick über die lokalen Vorkommnisse zu verschaffen, um das Handeln der Besetzer, die Besetzerbewegung an sich als auch ihre Rezeption durch die Bevölkerung einordnen zu können.

2.3

Eine Kurzchronologie der Besetzungen

Der skizzierte Nährboden brachte in den Jahren 1980 bis 1982 eine regelrechte Hausbesetzungswelle hervor.33 Zwischen Januar und April 1981, dem Höhepunkt dieser, konnten im ganzen Bundesgebiet 370 Besetzungen nachgewiesen werden.34 Schwerpunkte stellten Berlin-Kreuzberg und die Hamburger Hafenstraße dar, welche ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung der Hausbesetzungen rückten. Rund 80 000 Berliner waren, trotz des massiven Leerstands von knapp 10 000 Wohnungen, zu diesem Zeitpunkt auf der Suche nach passendem Wohnraum.35 Vor diesem Hintergrund gründete sich im August 1973 bereits die erste Bürgerinitiative »Mieterinitiative Klausenerplatz e.V.«, worauf viele folgen sollten.36 Da sich die gegründeten Bürgerinitiativen lange Zeit mehr oder weniger vergeblich37 mit rechtlichen Mitteln38 für eine zweckmäßige Sanierungen eingesetzt hatten, besetzten fünfzig Mitglieder der Initiative »SO 36« Anfang Februar 1979 mehrere leerstehende Wohnungen in der Görlitzer Straße 74.39 Nachdem die betreffenden Wohnungen in Eigenregie kostengünstig instandgesetzt wurden, schloss die BeWoGe Mietverträge mit den Besetzern ab.40 Die gelungene Aktion wurde unter dem Namen »Instandbesetzung« populär und rief eine Vielzahl von Nachahmern auf den Plan.41 Am vorläufigen Höhepunkt der Besetzungswelle Mitte 1981 galten in ganz West-Berlin 167 Häuser als besetzt.42 Infolge des Todes des 18-jährigen Demonstranten Jürgen Rattay führte eine zunehmende Verhandlungsbereitschaft der Lager letztendlich zu einem langsamen Ende der Krise 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42

Vgl. Artkämper, Hausbesetzer, Hausbesitzer, Hausfriedensbruch (o. Fn. 13), S. 1. Vgl. ebd. Vgl. Suttner, »Beton brennt« (o. Fn. 23), S. 122. Vgl. ebd. Kleine Lichtblicke hingegen waren bspw. Die Verzögerung des Stadterneuerungsprogramms; Vgl. ebd. Vgl. Margret Fabricius-Brand, Instandbesetzung contra Stadtzerstörung und Wohnungsnot, DuR 1981, 287ff., 287.: Der »SO 36« stellte fest, dass der Leerstand des betreffenden Wohnraums als Verstoß gegen Art. 6 Mietrechtsverbesserungsgesetz rechtswidrig war. Vgl. Scheer/Espert, Deutschland, Deutschland, Alles ist vorbei (o. Fn. 9), S. 24; Andere nennen auch eine Besetzung durch die Bürgerinitiative SO 36 vom 26.11.79 als erste Instandbesetzung, Vgl. Fabricius-Brand, 287, 288. Vgl. Scheer/Espert, Deutschland, Deutschland, Alles ist vorbei (o. Fn. 9), S. 25. Vgl. ebd. Vgl. Der Spiegel, »Die Berliner Linie ist ein Leichnam«, 1983/25, URL: https://magazin.spiegel. de/EpubDelivery/spiegel/pdf/14017952, Stand: 16. 12. 2020.

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in der geteilten Stadt.43 Von den 167 Häusern waren im März 1983 nur noch weniger als 80 besetzt.44 In über 40 Fällen räumte die Polizei, welche bis zu diesem Zeitpunkt ebenfalls rund 70 Fälle neuer Besetzungen vereitelte. Im November 1984 verkündete der Berliner Senat schließlich, dass es kein besetztes Haus mehr in Berlin gebe.45 In Hamburg wurden erst am 23. Februar 1982 die ersten Besetzungen öffentlich gemacht, welche jedoch ab Dezember 1981, anders als in Berlin, als schleichende Besetzung leerstehender Häuser an der Hafenstraße 108– 126, aber auch in der Bernhard-Nocht-Str. 16–24 im Stadtteil Sankt Pauli heimlich begonnen hatten.46 Abgesehen von diesen beiden Brennpunkten fanden jedoch im ganzen Bundesgebiet, wenn auch nicht in dem Ausmaß der Berlineroder Hamburger Szene, Besetzungen statt.47 Lediglich München, wo namentlich die Gruppe »Freizeit 81« wenig erfolgreich auftrat, nahm unter den deutschen Großstädten im Rahmen der Hausbesetzerbewegung keine sonderlich bemerkenswerte Rolle ein.48 Doch blieben die angesprochenen Handlungen der Besetzer mancherorts nicht rein gewaltloser Natur. Als es im Mai 1980 in Berlin zum ersten Mal zu Polizeimaßnahmen gegen die Besetzer kam und schließlich am 4. Juni wiederum in Berlin mit dem Haus am Chamissoplatz 3 eine erste Räumung vorgenommen wurde, radikalisierte sich die dortige Szene in der Folgezeit zunehmend.49 Die gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, welche ab diesem Zeitpunkt zum Alltag der Hausbesetzer geworden sind, fanden schließlich am 12. Dezember 1980 ihren Höhepunkt.50 Auslöser hierfür waren die ersten Festnahmen überhaupt durch die Polizei von Personen, welche versuchten ein Haus zu besetzen.51 Infolge der Festnahmen brachen, die ganze Nacht andauernde, Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Hausbesetzern aus, welche insbesondere von

43 44 45 46 47

48 49 50 51

Vgl. Der Tagesspiegel, »Der Tod hat den Blick für die Maßstäbe geschärft«, 14. 09. 1997, S. 10. Vgl. ebd. Vgl. Erhard Blankenburg, Thesen zur Hausbesetzerbewegung, RuP 1985, 38ff., 38. Vgl. Volker Rekittke, Klaus Martin Becker, Politische Aktionen gegen Wohnungsnot und Umstrukturierung und die HausbesetzerInnenbewegung in Düsseldorf von 1972 bis heute, URL: https://archiv.squat.net/duesseldorf/Index.html, Stand: 03. 09. 2019. So sind weiterhin die 1981 besetzte, später legalisierte Frauenstraße 24 in Münster, die Kiefernstraße in Düsseldorf, Vgl. ebd., Vgl. Wolfgang Prosinger, in: Ingrid Müller-Münch (Hrsg.)/Wolfgang Prosinger(Hrsg.)/Sabine Rosenbladt(Hrsg.)/Linda Stibler(Hrsg.), Besetzung, weil das Wünschen nichts geholfen hat, S. 9. Vgl. Günther Gerstenberger, Freizeit ’81 (I), URL: http://protest-muenchen.sub-bavaria. de/artikel/709, Stand: 03. 09. 2019. Vgl. Kuno Haberbusch, Die »Vernunft« schlägt immer wieder zu. »Berliner Linie« gegen Instandbesetzer. Dokumentation d. Ereignisse vom 3.2.79 bis 11.8.81, 2. Auflage, Berlin 1981, S. 7. Vgl. Fabricius-Brand, DuR 1981, 287, 291. Vgl. ebd.

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staatlicher Seite äußerst brutal geführt wurden.52 Während die nächtlichen Schäden, welche der Seite der Besetzerbewegung zugerechnet werden können, sich auf etliche eingeschlagene Fensterscheiben beliefen, schlugen als Folge der Krawalle auf Polizeiseite 60 Festnahmen zu Buche.53 Neben die Hausbesetzungen als solche traten eine Reihe anderer Delikte wie etwa Sachbeschädigungen, Körperverletzungen, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Landfriedensbruch.54 Eine ähnliche Entwicklung zeichnete sich wesentlich später auch in Hamburg in Folge der ersten am 28. Oktober 1986 erfolgten Räumung mehrerer Wohnungen in der Hafenstraße ab.55

2.4

Die heterogene Motivlage der Hausbesetzer

Diese Ereignisse mögen sowohl aus moralischer, aus dem Gesichtspunkt des Rechtsbewusstseins und auch rechtlicher Sicht zunächst so erscheinen, als stünde diesen und somit auch dem Handeln der Besetzer in Berlin und Hamburg lediglich eine Kategorisierung in »falsch« bzw. »unrechtmäßig« offen. Doch stellten die einzelnen Bürger, als Träger des Rechtsbewusstseins, bei der Beurteilung einer Tat eben auch maßgeblich auf die Motive der Besetzer ab. Diese eignen sich im Gegensatz zu den jeweiligen Aktionen der Betroffen auch wesentlich besser, um die Hausbesetzerbewegung an sich zu betrachten bzw. auch deren Entwicklung zu verstehen, als diese eben doch gerade bundesweite Parallelen aufweisen. Ursprüngliche Intention der Hausbesetzungen war es, vorhandenen, wie auch immer beschaffenen, Wohnraum als Wohnraum zu erhalten.56 Die Besetzer wollten hierfür nicht nur den vorgefundenen Wohnraum nutzen, sondern vielmehr vom Eigentümer geplanten Sanierungsmaßnahmen zuvorkommen und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten das besetzte Haus Instandsetzen.57 Diese sogenannten und in diesem Zusammenhang vielzitierten »Instandbesetzungen« wurden geradezu charakteristisch für die Hausbesetzerszene.58 Zur Gruppe der 52 53 54 55

Vgl. ebd., 292. Vgl. ebd., 291. Vgl. ebd., 292. Vgl. Rekitkke, Becker, Politische Aktionen gegen Wohnungsnot und Umstrukturierung (o. Fn. 46), https://archiv.squat.net/duesseldorf/Dipl_Int-1_4-2.html#Heading160. 56 Vgl. Jacqueline Klein, Sabine Porn, Instandbesetzen, in: Ingrid Müller-Münch(Hrsg.)/ Wolfgang Prosinger(Hrsg.)/ Sabine Rosenbladt(Hrsg.)/Lina Stibler(Hrsg.), Besetzung – weil das Wünschen nichts geholfen hat, S. 108ff., 108. 57 Vgl. Artkämper, Hausbesetzer, Hausbesitzer, Hausfriedensbruch (o. Fn. 13), S. 17. 58 Vgl. Dietrich Schultz, Rudolf Leppin, Staatsanwaltschaft contra Polizei? Staatsanwaltschaft im Spannungsverhältnis zwischen Legalitätsprinzip und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Jura 1981, 521ff., 522; Vgl. Scheer/Espert, Deutschland, Deutschland, Alles ist

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tatsächlich Wohnungslosen gesellte sich die Gruppe der Bürger,59 welche generell die negativen Auswirkungen der Wohnraumpolitik fürchteten und sich demonstrativ gegen diese stellen wollten.60 Der Kern des Protestes richtete sich gegen durch staatliche Wohnungsbaupolitik ermöglichte großräumige Flächensanierung.61 Doch rückten auch Fragen der Eigentumsordnung in den Mittelpunkt des Protestes, wenn, stellvertretend an privaten Spekulanten, das Ausmaß der Fehlentwicklung staatlicher Wohnungsbaupolitik dargestellt werden sollte.62 Im Verlauf des Jahres 1980 bildete sich aber eine Hausbesetzerszene heraus, welche sich mehr und mehr von diesen wohnungspolitischen Motiven emanzipierte.63 Wer die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Hausbesetzungen der 1980er Jahre verstehen wolle, müsse, wie es Manfred Ganschow formulierte, zwangsläufig die »komplexen Zusammenhänge einer pluralistisch orientierten Massengesellschaft vom Zeitpunkt des Neuanfangs 1945«64 bis in die Anfangszeit der 80er Jahre verstehen. In Folge der ersten erfolgreichen Aktionen des Jahres 1980 waren für viele Besetzer nämlich gerade andere als wohnungspolitische Motive ausschlaggebend für ihr Mitwirken.65 Trittbrettfahrer erkannten die Chance, welche von den Bürgerinitiativen, wie bspw. der SO 36, aber auch der Berliner Mietergemeinschaft oder dem Berliner Mieterverein, geschaffen wurde.66 Bereits Ende der 1960er Jahre kann der Beginn einer Entwicklung des Abbaus bürgerlicher, mit gleichzeitiger verschiebender Gewichtung auf postmaterialistische Werte festgemacht werden.67 Leerstehende Häuser boten den damals nach »Freiräumen« für die Verwirklichung ihr alternativen Überzeugungen Suchenden »Oasen«,68 in denen sie sich »glückselige Inseln« schaffen wollten. Die Besetzer suchten, »abseits aller positiven Pflichten, deren Erfüllung ein demokratischer Staat von seinen Bürgern erwarten muss, um auf Dauer bestehen zu können«69, nach ihrem ganz persönlichen Glück. Darüber hinaus ging der Abbau bürgerlicher Werte, wie bei derartigen Konstellationen des Öfteren der Fall, mit

59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69

vorbei (o. Fn. 9), S. 25. Vgl. zum Begriff der Instandbesetzungen: Haberbusch, ›Berliner Linie‹ gegen Instandbesetzer (o. Fn. 49), S. 4. In vielen Fällen, besonders in Berlin, organisiert in Bürgerinitiativen; Vgl. Ganschow, Die Polizei 1983, 201, 201. Vgl. Artkämper, Hausbesetzer, Hausbesitzer, Hausfriedensbruch (o. Fn. 13), S. 18.; Vgl. Amann, der moralische Aufschrei (o. Fn. 26), S. 9. Vgl. Raabe-Zimmermann/Sonnewald, RuP 1982, 151, 151. Vgl. ebd. Vgl. Suttner, »Beton brennt« (o. Fn. 23), S. 128. Ganschow, Die Polizei 1983, 201, 201. Vgl. Artkämper, Deutschland, Deutschland, Alles ist vorbei (o. Fn. 13), S. 25. Vgl. Ganschow, Die Polizei 1983, 201, 201. Vgl. Würtenberger, NJW 1986, 2281, 2285. Vgl. Artkämper, Deutschland, Deutschland, Alles ist vorbei (o. Fn. 13), S. 25. Gaschow, Die Polizei 1983, 201, 202.

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einer tiefen Katastrophenstimmung einher, welche 1981 in einem öffentlichen Aufruf zum »ökologischen Bürgerkrieg« mündete.70 Diese Katastrophenstimmung war also nicht nur rein sozialer Natur und wurde auch maßgeblich von der Angst vor dem Aufkommen eines Atomkriegs getragen.71 Diese Konstellation löste ein ungemeines politisches Protestpotential höchst unterschiedlicher Gruppen aus,72 welches je nach Richtung der entsprechenden politischen Ereignisse dementsprechend öffentlich zutage trat.73 Und so wurde die Besetzerbewegung eben nicht nur von der eigenen Wohnungsnot oder der Suche nach Freiräumen getragen,74 sondern auch maßgeblich von einer demonstrativen Intention, welche nicht nur unsinnige Baumaßnahmen und die Missstände auf dem Wohnungsmarkt anprangern wollte,75 sondern vielmehr das System des Kapitalismus selbst.76 Anders als die Studentenproteste der »68er Bewegung« waren die neuen Rebellen jedoch nicht davon getrieben, das politische Bewusstsein der Masse zu läutern, sondern im Gegenteil von einer tiefen Resignation über die Erkenntnis, dass normale politische Arbeit scheinbar nicht das Erhoffte versprach.77 Die Besetzer selbst fassten diese Motivationen in einer im Juni 1980 veröffentlichten Broschüre folgendermaßen zusammen:78 »Wir besetzen nicht nur Häuser. Wir leben in Kommunen oder mehr zusammen als in üblichen Mietshäusern. Wir wollen den Zusammenhang des Lebens erleben und zwar hier und heute. Wir kämpfen gegen Abriß und dazugehörige Abrißformen. Wir wehren uns in Schule und Betrieb gegen Konsumterror und jegliche Form der Unterdrückung.«79

Auch Berlins damaliger Polizeipräsident Hübner versuchte die verschiedenen Motive/Gruppen der Besetzerbewegung einzuordnen: »Für die Hausbesetzer mag es drei Motivgruppen geben: Es sind zum einen politisch motivierte Gruppen, die glauben, durch kalkulierte Rechtsverletzungen Änderungen in der Wohnungsraumpolitik erzwingen zu können. Eine zweite ist sich dadurch verwandt,

70 Vgl. ebd., 201, 201. 71 Vgl. Georg Fülberth, Leitfaden durch die Geschichte der Bundesrepublik, 2. Auflage, Köln 1987, S. 98ff. 72 Vgl. Würtenberger, NJW 1986, 2281, 2285. 73 Siehe etwa auch zu Anti-Atomkraftbewegung: Dieter Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, In: Roland Roth(Hrsg.)/ Dieter Rucht(Hrsg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945, Frankfurt am Main 2007, S. 245ff. 74 Vgl. Artkämper, Deutschland, Deutschland, Alles ist vorbei (o. Fn. 13), S. 25. 75 Vgl. Amann, der moralische Aufschrei (o. Fn. 26), S. 9. 76 Vgl. Ganschow, Die Polizei 1983, 201, 202. 77 Vgl. ebd. 78 Titel: »Wir sind dem Staat ein Dorn im Auge«. 79 BesetzerInnenrat 1980, 2,15, in: Renate Mulhak, Der Instandbesetzungskonflikt in Berlin, in: Peter Grottian(Hrsg.)/ Wilfried Nelles (Hrsg.), Großstadt und die neue soziale Bewegung, Basel 1983, S. 225ff.

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dass sie sich ohnehin gerne an Aktionen beteiligt, die am Rande der Gesellschaft und außerhalb der gemeinsamen Normen stattfinden. Hierunter dürften auch die meisten zu finden sein, die gerne möglichst kostenlos und billig, auf jeden Fall aber in einer Gemeinschaft mit eigenen Regeln leben wollen. Die dritte und gefährlichste Gruppe […] verfolgt das ausschließliche Ziel, auch das Thema »Wohnraumnot« politisch zu besetzen und damit vor allen Dingen das verhaßte System zu treffen.«80

Die Hausbesetzer der 80er Jahre stellten sich als ein Potpourri unterschiedlichster Gruppen von »Studenten, Schülern, Arbeitern, Arbeitslosen, Idealisten, Ökologen, Anarchisten, Punkern, Skin-Heads und auch auf Trebe befindlichen Kindern«81 dar, welche ausschließlich das Besetzen von Häusern an sich einte. Trotz ihrer Heterogenität war die Hausbesetzerbewegung als überwiegend gewaltlos einzustufen.82 Lediglich die Anhänger der zahlenmäßig als unerheblich einzustufenden »Anarcho-Szene« sowie die »existenziellen« Hausbesetzer wurden, insbesondere durch das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, als gewalttätig eingestuft.83 Dieser Heterogenität war es auch geschuldet, dass selbst die zahlenmäßig größte »Hausbesetzerbewegung« in Berlin bis Ende 1981 in einer strategischen Bewegungslosigkeit mündete, welche »in seltsamen Kontrast zu ihrem Aktionismus auf der Straße«84 stand. Die Gruppe der 20- bis 30-jährigen stellte demographisch betrachtet die überwiegende Zahl der Besetzer.85 Wie sich aus der bisherigen Darstellung ergibt, muss von einem einheitlichen Bild des typischen Hausbesetzers der 80er Jahre Abstand genommen werden. Sowohl in Bezug auf deren jeweilige Motivation als auch in Bezug auf ihr individuelles Handeln (insbesondere in der Frage der verwirklichten Delikte) und besonders vor dem Hintergrund massiver lokaler Unterschiede kann keine substanzielle Verallgemeinerung vorgenommen werden. Doch war es aufgrund der räumlichen Nähe, welche die Hausbesetzer unterschiedlicher Gruppen im Zusammenleben in besetzten Häusern pflegten, teilweise kaum nachzuvollziehen welche Häuser von wem besetzt wurden, wie mit diesen umgegangen wurde und inwiefern mit welchen Mitteln jeweils von den Bewohnern versucht wurde deren Besetzung zu behaupten.86 Auf der anderen Seite lieferten die Besetzer selbst Anlass Verallgemeinerungen vorzunehmen, als sie sich notwendigerweise als Bewegung inszenierten, um ihren strategischen Forderungen mehr Gewicht 80 Haberbusch, ›Berliner Linie‹ gegen Instandbesetzer (o. Fn. 49), S. 7. 81 Vgl. ebd. 82 Vgl. BMJFG 1981, Zur alternativen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland (211–2007), 27f. 83 Vgl. ebd. 84 Vgl. Raabe-Zimmermann, Sonnewald, RuP 1982, 151, 152. 85 Vgl. Suttner, »Beton brennt« (o. Fn. 23), S. 138. 86 Zum jeweiligen Vorgehen der Besetzer: Vgl. ebd., S. 127.

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verleihen zu können und staatlichen Vertretern mehr oder weniger auf Augenhöhe gegenübertreten zu können.87 Dies alles führte dazu, dass die geführte moralische als auch rechtliche Debatte um die Hausbesetzerbewegung sich im Schwerpunkt ebenfalls in dem höchst emotionalisierten Versuch der Verallgemeinerung verlief.88 Alle vorangegangen soziologischen Veränderungen führten dazu, dass sich die Bevölkerung an der moralischen Richtigkeit der Hausbesetzungen spaltete.

2.5

Resonanz der Besetzungen in der Öffentlichkeit

Ganz deutlich lässt sich diese Spaltung an repräsentativen Umfragen aus den betreffenden Jahren,89 speziell aus dem Jahr 1981 als dem Höhepunkt der Hausbesetzerbewegung, nachvollziehen. Nach einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen, veröffentlicht im ZDF Politbarometer Februar 1981, billigten 39,4 % der Gesamtbevölkerung die Besetzung leerstehender Gebäude.90 In der Gruppe der unter 24-jährigen befürworteten sogar 62,8 % der Befragten die Besetzungen, in der Gruppe der bis zu 29-jährigen immerhin noch 54,4 %.91 Lediglich 34,8 % der Bürger hätte, nach entsprechenden Hochrechnungen, die Besetzungen nicht geduldet.92 Dementsprechend forderten nur 48,9 %, dass Justiz und Polizei mit aller Strenge gegen die Hausbesetzer vorgehen solle, wohingegen 49,8 % der Gesamtbevölkerung ein zurückhaltendes Vorgehen des Staates vorzogen.93 Noch deutlicher drückte sich diese positive Resonanz in der Bevölkerung West-Berlins aus. So sprachen sich am 10. März 1982 ganze 86 % der West-Berliner für eine »sanfte Lösung«, also eine rechtliche Verschonung der Hausbesetzer aus.94 Doch erschöpfte sich die große Solidarität, welche den Hausbesetzern von Seiten der Bevölkerung entgegengebracht wurde, nicht nur in, im Rahmen von Umfragen, abgegebenen Bestärkungen. So bezog am 20. Dezember 1980 erstmals eine breite Öffentlichkeit aktiv Stellung, indem in Berlin 15 87 das bekannteste Beispiel hierfür stellt der Berliner Besetzerrat dar, welcher als Vertretung aller besetzter Häuser West-Berlins und folglich aller Berliner Hausbesetzer zuerst am 7. 9. 1979 gegründet wurde; Vgl. Artkämper, Deutschland, Deutschland, Alles ist vorbei, S. 26. 88 Vgl. Malunat, Politische Vierteljahresschrift 1982, 257, 258. 89 Vgl. Heribert Ostendorf, Forum: Strafbarkeit und Strafwürdigkeit von Hausbesetzungen, JuS 1981, 640ff., 640. 90 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen: Politparometer Februar 1981, 42ff. 91 Vgl. ebd. 92 Vgl. ebd. 93 Vgl. ebd.; Vgl. Karl Michael Kuntz, Spontis, Schlaffis und Chaoten, in: Stefan Aust(Hrsg.)/ Sabine Rosenbladt(Hrsg.), Hausbesetzer. Wofür sie leben und wie sie leben wollen, Hamburg 1981, S. 195f.: Eine Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach ergab, dass 51 % der Bevölkerung mit den Hausbesetzern Verständnis gehabt habe. 94 Vgl. FAZ, 10. 03. 1982, 6.

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000 Menschen unterschiedlichster Couleur (bis hin zu bürgerlich-liberalen Kreisen) auf die Straße gingen, um sich für die Freilassung der im Rahmen der Proteste des 12. Dezember 1980 Inhaftierten stark zu machen.95 Andernorts, in Hamburg, demonstrierten fünf Jahre später ebenfalls an einem 20. Dezember etwa 10.000 Menschen mit den Hamburger Hausbesetzern und für diese.96 Die gesellschaftliche Spaltung manifestierte sich konsequenterweise gleichsam in der Berichterstattung der Presse. Deren tatsächliche Resonanz reichte von Lob bis hin zu offenen Diffamierungen.97 Doch zeigte sich eine klare zahlenmäßige Tendenz, welche die Hausbesetzer von Seiten der Presse in die Nähe des Terrorismus gerückt sehen wollte.98 Auch in der politischen Debatte zeichneten sich die aufgezeigten Fronten ab. Diese waren nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Parteien anzusiedeln. Auf der einen Seite lies beispielsweise der spätere Berliner CDU Bausenator Ulrich Rastemborski 1980 verlauten,99 er hege durchaus »politische Sympathie« für die Instandbesetzer.100 Ganz anders sah dies der ab 1981 in der Berliner Senatsverwaltung tätige CDU Sicherheitsexperte Ulrich Brisna, welcher in den Entwicklungen der Hausbesetzerbewegung eine »kriegsmäßig logistische Vorbereitung(en) für eine großangelegte bewaffnete Offensive«101 der Besetzer gegen den Staat sehen wollte. Weiterhin erschöpften sich die jeweils geäußerten rechtlichen Argumente, mit welchen das eigene Rechtsgefühl gefüttert wurde, in einer unbefriedigenden Oberflächlichkeit.102 Es wurde etwa teilweise die Legalisierung von Hausbesetzungen gefordert, wobei oftmals unklar blieb was damit genau gemeint war.103 Ebenso häufig wurden Hinweise auf die Sozialpflichtigkeitsklausel des Art. 14 Abs. 2 GG gestreut.104 Dahingehend bekundete der Stuttgarter CDU-Oberbürgermeister Manfred Rommel beispielsweise, dass er es für falsch halte ein Haus mit Gewalt zu räumen, welches monatelang leer stand.105 Während diese Argumente allesamt an einer Pauschalisierung der Hausbesetzungen anknüpften, kann der Gegenseite dieser Vorwurf ebenso nicht verwehrt 95 Vgl. Rekittke/Becker, Politische Aktionen gegen Wohnungsnot und Umstrukturierung (o. Fn. 46), https://archiv.squat.net/duesseldorf/Dipl_Int-1_4-2.html#Heading161. 96 Vgl. ebd. 97 Vgl. ebd. 98 Vgl. Suttner, »Beton brennt« (o. Fn. 23), S. 128. 99 ab Juni 1981 bis 1983. 100 Vgl. Haberbusch, ›Die Berliner Linie‹ gegen die Hausbesetzer (o. Fn. 49), S. 9. 101 Vgl. ebd. 102 Vgl. zu diesem Vorwurf Ostendorf, JuS 1981, 640, 640; Ebenso die Gegenseite: Vgl. Erich Küchenhoff, Hausbesetzer vor Gericht. Neue Tendenzen in der strafrechtlichen Beurteilung von Hausbesetzungen, KJ 1982, 156ff., 156. 103 Vgl. Ostendorf, JuS 1981, 640, 640. 104 Vgl. Rupert Scholz, Rechtsfrieden im Rechtsstaat – Verfassungsrechtliche Grundlagen, aktuelle Gefahren und rechtspolitische Folgerungen, NJW 1983, 705ff., 706. 105 Vgl. die Zeit, 08. 05. 1981, 1981/20, Testfall Berlin, S. 10.

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bleiben. Häufig wurde sich auch in rechtlichen Fragen, wie oben bereits dargestellt, damit begnügt, die Hausbesetzer des »Terrorismus« zu bezichtigen,106 wobei man die Möglichkeit dieses Vorwurfs bereits mit einem Urteil des BGH vom 12. Februar 1975 belegen konnte.107

2.6

Die juristische Kontroverse

All diese Vorgänge belegen, wie die Strafbarkeit bzw. die Möglichkeit einer Legalisierung von Hausbesetzungen zu einem Bruch des kollektiven Rechtsbewusstseins geführt haben.108 Weder Politiker und Journalisten als wichtige gesellschaftliche Träger des Rechtsbewusstsein noch die breite Bevölkerung konnten dezidierte Ausführungen über die rechtliche Lösung des Problems anbieten.109 Gerade aber auch Juristen sind gesellschaftlich wichtige Träger des Rechtsbewusstseins.110 Der grundlegende Streit um die rechtliche/moralische Einordnung von Hausbesetzungen hatte sich folglich unausweichlich auch in einer dezidierten, rechtsstaatlich,111 juristischen Betrachtung fortzusetzen. Die Notwendigkeit einer solchen Untersuchung belegte auch eine Umfrage unter, zu Beginn der 80er Jahre in den Staatsdienst eingetretenen, jungen Richtern. So gaben 50 % der Befragten an, sie wollten ihre Entscheidungen am eigenen Rechtsgefühl, Rechtsempfinden und an Forderungen der praktischen Gerechtigkeit messen.112 Lediglich 45 % fühlten sich einer wortlautgetreuen Auslegung des Gesetzes verpflichtet.113 Nach Erhard Blankenburg haben sich drei Topoi der Rechtslehre bei der Auseinandersetzung um Hausbesetzungen als zentral erwiesen:114 Ob Aktionen der Hausbesetzer als Hausfriedensbruch gem. §123 StGB strafbar sein sollten, ob ein solches Verhalten aufgrund der anerkannten Wohnungsnot und einer unbefriedigenden Wohnungspolitik als gerechtfertigt an-

106 In die gleiche Kerbe schlug weiterhin der SPD Politiker und damalige Berliner Polizeipräsident Klaus Hübner, indem er im Kern der Gruppe der Haubesetzer ein eindeutiges Werben für den Terrorismus festmachte; Vgl. Haberbusch, Berliner Linie gegen Instandbesetzer (o. Fn. 49), S. 9. 107 Vgl. zur Möglichkeit der Realisierung dieses Straftatbestands durch Hausbesetzer: BGH, Urteil vom 12. 2. 1975–3 StR 7/74. 108 Vgl. Ostendorf, JuS 1981, 640, 640. 109 Vgl. ebd. 110 Vgl. Würtenberger, NJW 1986, 2281, 2282. 111 Vgl. Ganschow, Die Polizei 1983, 201, 201. 112 Vgl. Andreas Heldrich, Gerhard Schmidtchen, Gerechtigkeit als Beruf – Repräsentativumfrage unter jungen Juristen, München 1982, S. 36. 113 Vgl. ebd. 114 Vgl. Blankenburg, RuP 1985, 38, 41.

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gesehen werden konnte,115 und ob eine Abwägung der Verhältnismäßigkeit von polizeilichen Zwangsräumungen notwendig war, wenn hierzu ein Rechtstitel vorlag.116 Diese drei Punkte machen gleichsam deutlich, dass das kollektive Rechtsbewusstsein für sich letztlich zwei Fragen klären musste. Einerseits die Strafbarkeit der Hausbesetzer an sich, andererseits, aber erst nach Beantwortung der ersten Frage und abhängig von den daraus gezogenen Schlüssen, ob die besetzten Häuser und unter welchen Bedingungen diese geräumt werden sollten. Der Schwerpunkt der Debatte war jedoch vornehmlich strafrechtlichen Fragen vorbehalten.117 So rückte insbesondere die Vorschrift des §123 StGB, welche »lange Zeit ein geradezu stiefmütterliches Dasein«118 fristete, in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses und wurde noch weiter vor eine Zerreißprobe gestellt. Bestand anfangs der Debatte um die mögliche Strafbarkeit von Hausbesetzern gem. § 123 StGB zunächst Uneinigkeit, ob ein solcher Streit in der Rechtslehre überhaupt geführt würde119 bzw. werden solle,120 haben sich in Folge der ersten Urteile121 in Hausbesetzerprozessen unterschiedliche Ansichten zu dieser Frage herausentwickelt.122 Die Begründung des praktisch bezweckten Ergebnisses der »Verschonung«123 der Hausbesetzer wurde auch hier an unterschiedlichen rechtlichen Parametern versucht. 2.6.1 Leerstehende Häuser als befriedetes Besitztum? Eine erste Hauptfrage ließ sich wie folgt herunterbrechen: Erfüllen Besetzungen von leerstehenden Häusern den Tatbestand des Hausfriedensbruchs gem. § 123 StGB. »Wer in die Wohnung, in die Geschäftsräume oder in das befriedete Besitztum eines anderen oder in abgeschlossene Räume, welche zum öffentlichen Dienst oder Verkehr

115 Vgl. Hero Schall, Hausbesetzungen im Lichte der Auslegung des §123 StGB, NStZ 1983, 241ff., 241. 116 Vgl. Blankenburg, RuP 1985, 38 (41). 117 Vgl. Rainer Schröder, Forum: Zivilrechtliche Aspekte der »Instandbesetzungen«, JuS 1981, 635ff., 637. 118 Vgl. Schall, NStZ 1983, 241, 241. 119 Durchgängige Kommentierung der Strafbarkeit: Vgl. Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Eduard Dreher/Herbert Tröndle, §123 Rn. 5., 40. Auflage, 1979. 120 Vgl. Ostendorfs Konstatierung einer h. M.: Ostendorf, JuS 1981, 640,640.; bzw. Küchenhoffs energischer Widerspruch: Vgl. Erich Küchenhoff, Die Legende von einer herrschenden Meinung, JuS 1982, 235ff., 235. 121 welche allesamt eine einheitliche Verurteilung der Hausbesetzer wegen Hausfriedensbruchs einte; Vgl. Küchenhoff, KJ 1982, 156, 156. 122 Vgl. Schall, NStZ 1983, 241 242. 123 Vgl. Ostendorf, JuS 1981, 640, 640.

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bestimmt sind, widerrechtlich eindringt, oder wer, wenn er ohne Befugnis darin verweilt, auf die Aufforderung des Berechtigten sich nicht entfernt […].«124

Bereits Anfang der 1980er Jahre bestand ein Konsens, dass leerstehende oder sich im Bau befindliche Häuser keine Wohnung i. S. d. §123 StGB darstellen könnten,125 da diese eben keinen Wohnzweck aufweisen bzw. diese sich nicht als »Geschäftsräume« klassifizieren lassen.126 Vielmehr entbrach sich der Streit am Tatbestandsmerkmal des »befriedeten Besitztums«.127 Dieses liegt nach Entscheidungen des Reichsgerichts von 1885 bzw. 1888 vor,128 wenn »ein Grundstück vom Berechtigten in äußerlich erkennbarer Weise mittels zusammenhängender Schutzwehren gegen das willkürliche Betreten durch andere gesichert ist«129, was die herrschende Meinung auch im Fall der Hausbesetzungen als einschlägig ansah.130 Kritisch wurde gegenüber der Annahme dieser Urteile als Präjudiz angemerkt, dass diese sich eben nicht, wie in den Kommentaren fälschlicherweise vermerkt worden sei, auf leerstehende Wohnungen, sondern vielmehr sehr zurückhaltend auf den Neubau von Wohnraum bezogen.131 Problematisch erschien hiernach, dass die meisten leerstehenden Häuser aufgrund ihres Verfalls keine durchgängige Absicherung gegen das Betreten durch Dritte aufweisen konnten.132 Weitere Bedenken ergaben sich insbesondere dadurch, dass teilweise eine räumliche Anbindung des »befriedeten Besitztums« zu Wohn- oder Geschäftsräumen gefordert wurde,133 das »befriedeten Besitztums« nicht als Auf124 Vgl. § 123 StGB. 125 Vgl. Adolf Schönke/ Horst Schröder/Theodor Lenckner, §123 StGB Rn. 4, 20. Auflage, München 1980; Für Praktiker: Dreher/Tröndle, §123 Rn. 5 StGB. 126 Zum Wohnzweck: Vgl. Schall, NStZ 1983, 241, 241. Zu Geschäftsräumen: Vgl. Karl-Heinz Braun, Dieter Schmidt, Hausbesetzungen, insbesondere Räumungen, unter rechtlichen Aspekten, Die Polizei 1983, 206ff., 210; Vgl. Ostendorf, JuS 1981, 640, 640. 127 Vgl. Ostendorf, JuS 1981, 640, 640. 128 RGSt. 11, 283. RGSt. 10, 638. 129 RGSt. 11, 283; Aber auch in RGSt. 10, 638: Der Eigentümer oder berechtigte Inhaber das unbewegliche Gut in äußerlich erkennbarer Weise mittels zusammenhängender Schutzvorrichtungen gegen das beliebige Betreten durch Andere gesichert hat. 130 Dies hatte jedoch zur Folge, dass der Schutzbereich des §123 StGB sich auf jene Fälle reduzierte, in denen das besetzte Haus tatsächlich noch nach außen derart abgegrenzt war, dass die Umgrenzung trotz vorhandener Unterbrechungen insgesamt den Charakter einer einheitlichen Sperrvorrichtung gegen das Betreten durch Unbefugte noch nicht verloren hatte; Vgl. Schall, NStZ 1983, 241, 241. 131 Vgl. Küchenhoff, KJ 1982, 156, 159. 132 Vgl. Schall, NStZ 1983, 241, 241; Vereinzelt wurde sogar die Meinung vertreten, dass »befriedetes Besitztum« sogar dann gegeben wäre, wenn beim betreffenden Objekt Türen oder Fenster fehlten: Vgl. Volker Krey, Strafrecht BT 1, 5. Auflage, Münnchen 1983, §123 StGB.; Mit kritischer Stellungnahme dazu wiederum: Vgl. Schall, NStZ 1983, 241, 241. 133 Vgl. Schall, NstZ 1983, 241, 243; Gestützt wurde dieses Begehren mit dem Hinweis auf eine ursprüngliche Rechtsprechung des Reichsgerichts, welche dies als notwendige Beschränkung des befriedeten Besitztums gefordert hatte: Vgl. RGSt 1, 547; 3, 143; Doch revidierte das Reichsgericht selbst alsbald diese Entscheidung: Vgl. RGSt 11,293.

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fangtatbestand für leerstehende Wohnungen dienen könne,134 jedoch auch aus dessen sprachlicher Natur.135 Das Hauptargument aber, welches von nahezu allen Verfechtern der Straflosigkeit der Hausbesetzungen vorgebracht wurde, bestand in der notwendigen rechtsgutsorientierten Auslegung des Hausfriedensbruchs.136 So gelangten mehrere Autoren zu der Überzeugung, dass die Ansicht der damals überwiegenden Meinung, § 123 StGB schütze ganz allgemein ein gleichartiges Rechtsgut, nicht mehr zeitgemäß sei.137 Entgegen einer rein formalen Definition des Hausrechts, als Freiheit darüber zu entscheiden, wer zu der Wohnung oder den sonstigen Schutzbereichen Zutritt habe, solle der durch § 123 StGB verfolgte Schutzzweck als zentrales Kriterium herangezogen werden.138 Aus diesem Ansatz wurden wiederum verschiedene Anforderungen an das Merkmal des »befriedeten Besitztums« herangetragen. Überwiegend stellte man auf die Notwendigkeit ab, dass das Besitztum überhaupt noch irgendeine Funktion hatte, also vom Berechtigten tatsächlich genutzt wird, damit überhaupt ein Grund existiere, weshalb er dieses nach außen abgeschirmt wissen wollte.139 Doch gingen manche Autoren in ihren Forderungen insofern noch weiter, als sie speziell eine sinnvolle Nutzung des Wohnraums für erforderlich hielten.140 Bereits früh, in einem Beschluss des Amtsgerichts Bückeburg vom 1. Oktober 1981, wurde diese Literaturauffassung von einzelnen Gerichten rezipiert.141 »Die Besetzer sind […] nicht in ein befriedetes Besitztum eingedrungen. […], (da) wie bei leerstehenden Häusern häufig, die Türen (und Fenster) herausgebrochen gewesen […] sind.«142 Diese durch das Amtsgericht Bückeburg vorgegebene 134 Vgl.: AG Dortmund vom 20. 10. 1981 – Az.: 81 Cs 10 Js 333/81//81–519–81: So, mit Verweis auf das Preußische Allgemeine Landrecht. 135 Vgl. Küchenhoff, DuR 1981, 300, 300; Hiernach könne ein »befriedetes« Grundstück eben nur in solchen Fällen vorliegen, in denen dem Bezugsobjekt ein »Hausfriede« attestiert werden könne, da befriedet als »mit sicherem Frieden ausgestattet« gedeutet werden müsse; Vgl. Schall, NStZ 1983, 241, 243: Die Gegenmeinung nahm hierzu insofern Stellung, dass sich die andere mögliche Deutung von befriedet im Sinne eines »eingefriedeten Grundstücks« auf die Entstehungsgeschichte des §123 StGB stützten konnte, als auch vorgebracht wurde, die durch die anderweitige Deutung vorgenommene Einengung würde Strafbarkeitslücken und in der Folge lediglich Verwirrung schaffen; Weitere Referenz aus der Rechtsprechung: AG Dortmund vom 20. 10. 1981 – Az.: 81 Cs 10 Js 333/81//81-519-81. 136 Vgl. Schall, NStZ 1983, 241, 244. 137 Vgl. ebd. 138 Vgl. Küchenhoff, JuS 1982, 235, 235. 139 Vgl. Schön, NJW 1982, 1126, 1128. 140 Vgl. Küchenhoff, JuS 1982, 235, 235: forderte beispielsweise die Berücksichtigung der sozialen Funktion des §123 StGB; Vgl. Dieter Engels, Hausbesetzung ist kein Hausfriedensbruch, DuR 1981, 293ff., 293f.: Noch strengere Anforderungen wollte Dieter Engels stellen, indem er die Funktion von Wohnungen als auch des befriedeten Besitztums in der Schaffung einer Rückzugsmöglichkeit ins Private und in der uneingeschränkten Freiheit sich innerhalb des umfriedeten Raumes ohne Anwesenheit Dritter zu entfalten sah. 141 Az.: 4 Gs 533/81. 142 Az.: 4 Gs 533/81.

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Richtung, vom Spiegel als »Bückeburger Linie« bezeichnet,143 setzte sich in einigen weiteren erstinstanzlichen Entscheidungen fort.144 Eine besonders detaillierte Stellungnahme zu den beiden jeweils als Hauptargument herangezogenen Entscheidungen des Reichsgerichts von 1885 bzw. 1888 findet sich in der Rechtsprechung des Amtsgerichts Münsters,145 das ebenfalls verschiedene Ansätze aus der Literatur aufgriff und deshalb exemplarisch für diesen Streit herangezogen werden kann. Außerdem scheint diese Rechtsprechung dafür prädestiniert, den Bruch des Rechtsbewusstseins auch innerhalb der Justiz exemplarisch zu belegen.146 Das Gericht sprach zwei Hausbesetzer von der Anklage wegen Hausfriedensbruchs frei. Begründet wurde die Entscheidung, entsprechend dem Urteil des Amtsgerichts Bückeburg, mit der fehlenden Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale durch die Angeklagten. Weiter wurde jedoch zum relevanten Streit ausgeführt, dass durch die Entscheidung des Reichsgerichts von 1888147 gerade kein »Autoritätsbeweis für die Zugehörigkeit »leerstehender Wohnungen« zum Tatbestandsmerkmal »befriedetes Besitztum« […] geführt»148 würde, weshalb man sich ausdrücklich den Ausführungen Erich Küchenhoffs angeschlossen habe.149 Weiterhin ließ man in Bezug auf Engels und Küchenhoff verlauten, dass »befriedetes Besitztum […] an dieser Rechtsgutbestimmung zu messen«150 sei. Demgegenüber stehen verschiedene Urteile des Amtsgerichts Münster, welche zu konträren Einschätzungen gelangten. So stellten andere Richter des Amtsgerichts Münster in Entscheidungen vom 13. März 1981,151 1. Juli 1981,152 9. Februar 1981153 und 9. März 1981154 über komplett identische Lebenssachverhalte mit lediglich stellenweise verschiedenem Wortlaut fest, dass »aufgrund des […] festgestellten Sachverhalts«155 die Angeklagten »gemäß 123 StGB wegen Hausfriedensbruchs zur Rechenschaft zu 143 Vgl. Der Spiegel, 1981/43, Bückeburger Linie, S. 74. 144 Vgl. bspw. AG Dortmund vom 20. 10. 1981 – Az.: 81 Cs 10 Js 333/81/81-519-81, AG Stuttgart vom 22. 1. 1982 – Az.: B 2 Cs 2664/81, AG Mönchengladbach vom 4. 2. 1982 – Az.: 12 Ls/8 Js 521/81//180/81; AG Stuttgart, StrVert 1982, 75–78; AG Bochum vom 21. 4. 1982, StrVert 1982, 605. 145 Az.: 32 Cs 46 Ja 134/80///32 AK 758/80. 146 Vgl. Küchenhoff, KJ 1982, 156, 157: Dabei handelte es sich um die Besetzungen vierer zusammenhängender Münsterer Wohnhäuser im Januar/Februar 1980. 147 RGSt. 10, 638. 148 Az.: 32 Cs 46 Ja 134/80///32 AK 758/80. 149 Bezeichnet wurde speziell: Küchenhoff JuS 1982, 235ff. 150 Az.: 32 Cs 46 Ja 134/80///32 AK 758/80. 151 AG Münster vom 13. 3. 1981 – Az.: 15 Cs 46 Js 145/80//AK 748/80. 152 AG Münster vom 1. 7. 1981 – Az.: 17 Cs 46 Js 150/80//17 AK 815/80. 153 AG Münster vom 9. 2. 1981 – Az.: 36 Cs 46 Js 155/80//AK 661/80. 154 AG Münster vom 9. 3. 1981 – Az.: 14 Cs 46 Js 138/80// 14 AK 1151/80. 155 AG Münster vom 13. 3. 1981 – Az.: 15 Cs 46 Js 145/80//AK 748/80; AG Münster vom 9. 2. 1981 – Az.: 36 Cs 46 Js 155/80//AK 661/80.

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ziehen«156 seien. Diese Münsteraner Urteile, mitsamt der an ihnen geübten Kritik, stehen sinnbildlich für eine ganze Reihe von bundesweiten Urteilen, für diese die vorangegangenen Ausführungen in gleichem Maße gelten.157 2.6.2 Hausbesetzung als Notwehr Sowohl in der Bevölkerung als auch auf Seiten der Politik158 wurde zudem immer wieder geäußert, dass die Besetzer aus Notwehr heraus handelten und insofern gerechtfertigt sein sollten. Auch in der Rechtslehre wurde diese Argumentation vertreten. Die Begründung einer solchen Rechtfertigung fußte zumeist auf einem Zusammenspiel aus der Sozialpflichtigkeit des Eigentums gem. Art. 14 Abs. 2 GG und der persönlichen Wohnungsnot der Hausbesetzer.159 Eine überwiegende Meinung lehnte das Vorliegen eines solchen Rechtfertigungsgrunds mit Verweis auf den Charakter der Sozialpflichtigkeit des Eigentums als grundgesetzliche Pflichtanweisung für die privaten Eigentümer allerdings kategorisch ab und betrachtete die Hausbesetzungen folglich weiterhin als strafbar im Sinne des §123 StGB.160 So wurde argumentiert, die Durchsetzung dieser Pflicht läge aufgrund der fehlenden Drittwirkung der Grundrechte und des staatlichen Gewaltmonopols ausschließlich beim Staat.161 Die Annahme eines Widerstandsrechts komme der Anmaßung quasi-staatlicher Gewalt gleich.162 Exemplarisch für alle Theorien der Rechtfertigung der Hausbesetzungen sollen nachfolgend Bernd Malunats Ausführungen zur substantiellen Begründung eines Widerstandsrechts untersucht werden. Dieser ließ dabei offen, ob dieses Widerstandsrecht als Ungehorsam,163 Notwehr,164 Notstand, oder Wider156 AG Münster vom 13. 3. 1981 – Az.: 15 Cs 46 Js 145/80//AK 748/80. 157 Vgl. AG München vom 6. 8. 1981 – Az.: 412 Cs 112 Js 4128/81//412 Cs 112 Js 4130/81 als Beispiel für die ungenügende Erläuterung des Schuldspruchs der Hausbesetzer. 158 Vgl. zu Harald Lochs Beitrag: Scheer/Espert, Deutschland, Deutschland, Alles ist vorbei (o. Fn. 11), S. 22. 159 Vgl. Ostendorf, JuS 1981, 640, 641. Theoretisch auch andenkbar: Art. 5 I GG, scheidet aufgrund Art. 5 II GG aus; Art. 8 GG schiede wegen Öffentlichkeitserfordernis aus; Vgl. Braun/Schmidt, Die Polizei 1983, 206, 206ff. 160 Vgl. ebd. 161 Vgl. Rupert Scholz, Rechtsfrieden im Rechtsstaat – Verfassungsrechtliche Grundlagen, aktuelle Gefahren und rechtspolitische Folgerungen, NJW 1983, 705ff., 706. Zum staatlichen Gewaltmonopol: Vgl. Scholz, NJW 1983, 705, 707: Staatliche Gewalt ist die verfassungs- und gesetzgebundene, rechtlich legitimierte und rechtlich verantwortliche sowie demokratisch verfasste Gewalt; Demgegenüber ist das staatliche Gewaltmonopol als staatliches Rechtsmonopol, bzw. als die staatliche Pflicht und Verantwortung für Rechtmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit im gesamten Gemeinwesen zu verstehen. 162 Vgl. ebd. 163 Bspw. Hierzu: Erich Küchenhoff, Sozialdemokratischer Pressedienst 1983, 3. 164 Vgl. Argumentation Landesverband sozialdemokratischer Juristen, in Engels, DuR 1981, 293, 293 Fn. 3.

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stand eingestuft werden sollte.165 Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Erkenntnis, welche auch der Parlamentarische Rat bereits in seinen Verhandlungen über die Gestaltung des Eigentums berücksichtigt hatte, dass die Inhaltsbestimmung des Eigentums in erster Linie eine rechtspolitische sei:166 Nur die Wechselwirkung aus der Eigentumsgarantie für den Eigentümer und der Sozialpflichtigkeit des Eigentums könne »die Mehrheit der nichtbesitzenden Klein- und Mittelverdiener« zu einer Zustimmung zu einem Verfassungskompromiss167 bewegen. Lediglich einer in der Folge wesentlich von der ursprünglichen Intention der Verfassungsgeber abweichenden Verfassungsrechtsdogmatik und einer seither von großem materiellen Wohlstand geprägten, gelebten Verfassungsrealität sei es geschuldet, dass sich ein Eigentumsverständnis durchgesetzt hat, welches sich ausschließlich auf Art. 14 Abs. 1 GG stützt.168 Aufgrund der Missachtung des Art. 14 Abs. 2 GG bleibe der Rechts- und Sozialstaat auf der Strecke, auch die ähnlichen Wertungen des Art. 15 GG seien nie zur Anwendung gekommen.169 Der Bürger sei, trotz der Möglichkeit des Gesetzgebers, ein soziales Mietrecht zu schaffen, auf Wohnungsämter und Marktvermittlungen verwiesen worden.170 Diese unterschiedliche schwerpunktmäßige Behandlung von Eigentümerrechten und –pflichten habe, vor dem Hintergrund des Stellenwerts der Wohnung »als Mittelpunkt der menschlichen Existenz«171, wohnungslose Hausbesetzer dazu gezwungen, von ihrem archaischen Recht zum Widerstand Gebrauch zu machen.172 Im Ergebnis dürfe deshalb einem rechtmäßig geübten Widerstand gegen die staatliche Wohnungsmarktpolitik, in einer gefestigten Rechtsordnung nicht mit staatlicher Gewalt gegenübergetreten werden.173 Freilich können derartige Überlegungen nur unter der Annahme des Protestmotives der tatsächlichen eigenen Wohnungsnot angestellt werden. Aufgrund der weitreichenden Herleitung und der Vielzahl an theoretisch notwendigen, schwer nachweisbaren Voraussetzungen eines Rechts auf Widerstand, lassen sich in der Rechtsprechung kaum Nachweise für ein solches finden. Doch nahmen einige Urteile in ihrer Begründung trotzdem teilweise Bezug auf die Möglichkeit eines solchen Widerstandsrechts. Exemplarisch hierfür lehnte ein 165 Vgl. Malunat, RuP 1982, 143, 148. 166 Vgl. ebd., 144; Lediglich einem Missverständnis in der letzten Lesung der Grundrechte im Hauptausschuss des parlamentarischen Rates sei es geschuldet gewesen, dass eine bereits lange akzeptierte Missbrauchsvorschrift des Art. 14 GG letztendlich entfiel: Wer sein Eigentum missbraucht, kann sich auf den Schutz dieser Bestimmung nicht berufen. 167 Vgl. ebd., 143. 168 Vgl. ebd., 144; Vgl. Des., Politische Vierteljahresschrift 1982, 257, 263. 169 Vgl. ebd., 144. 170 Vgl. BVerfGE 18: 132. 171 BVerfGE 18:131. 172 Vgl. Malunat, RuP 1982, 143, 148. 173 Vgl. ebd.

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Urteil des Amtsgerichts Dortmund vom 10. Oktober 1981 bereits die Verwirklichung des objektiven Tatbestands des § 123 StGB ab,174 führte aber weiterhin aus, dass das Verhalten der angeklagten Hausbesetzerin als »legitime(r) Ausdruck des Protests und der Demonstration gegen eine immer unmenschlicher werdende und bürgerferne Verwaltung, die den eigentlichen Bedürfnissen ihrer Bürger zuwiderhandele, indem sie ein gewachsenes Stadtbild zerstöre, statt den Versuch zu unternehmen, die Bausubstanz durch Renovierung zu erhalten«175, zu verstehen sei. 2.6.3 Besonderheiten der Strafverfolgung In zweiter Instanz wurden die geschilderten freisprechenden Urteile sämtlich und ohne ausführliche Begründung176 aufgehoben.177 Dies veranlasste eine weitaus größere Zahl an Gerichten, welche zwar inhaltlich die ausgeführten dogmatischen Auffassungen der Straflosigkeit teilten, aus praktischen Gründen stattdessen die betreffenden Verfahren einzustellen.178 Die Möglichkeiten einer Beschwerde oder Sprungrevision, die nur gegen ein freisprechendes Urteil statthaft ist, konnte also ausgeschlossen werden179 und die Angeklagten hatten eine geringe Geldzahlung zu leisten, §§ 153, 153a StPO.180 Hierfür war lediglich die Zustimmung der zuständigen Staatsanwaltschaft erforderlich.181 Desweiteren wurde, infolge der ersten Prozesse, die mit zumeist harten Strafen geendet hatten,182 mehr und mehr auf die Möglichkeit zurückgegriffen, Sanktionen am unteren Ende des Strafrahmens anzusiedeln, sodass vielen gemäß § 123 StGB

174 175 176 177 178 179

AG Dortmund vom 20. 10. 1981 – Az.: 81 Cs 10 Js 333/81//81-519-81. Ebd. Mit eben dieser Kritik, Vgl. Schall, NStZ 1983, 241, 244. Vgl. OLG Köln, NJW 1982, 2674ff., OLG Hamm 1982, 2676ff. Vgl. Küchenhoff, KJ 1982, 156, 170. Zur Beschwerde: AG Mönchengladbach vom 4. 2. 1982 – Az.: 12 Ls/8 Js 521/81//180/81. Zur Sprungrevision, Bsp. für die Urteile: AG Dortmund vom 20. 10. 1981 – Az.: 81 Cs 10 Js 333/ 81//81-519-81; AG Münster vom 13. 3. 1981 – Az.: 15 Cs 46 Js 145/80//AK 748/80; AG Stuttgart vom 22. 1. 1982 – Az.: B 2 Cs 2664/81. 180 Vgl. Küchenhoff, KJ 1982, 156, 170. 181 Beachte auch gem. §153 I/§153 a I StPO die Möglichkeit der Staatsanwaltschaft bereits selbst von der Eröffnung des Hauptverfahrens bzw. der öffentlichen Klageerhebung mit Zustimmung des zuständigen Gerichts abzusehen. Dies wäre aufgrund des Charakters des §123 StGB als Privatklagedelikt insbesondere durch die Verneinung eines Allgemeininteresses an der Klageerhebung möglich; Dies sei insbesondere bei Verstößen gegen Zweckentfremdungsverbotsverordnungen nicht gegeben gewesen, Vgl. Braun/Schmidt, Die Polizei 1983, 206, 211. 182 Der Spiegel vom 30. 11. 1981, 1981/49, Hausbesetzer – Schlicht tolerieren, URL: https://www. spiegel.de/spiegel/print/d-14350430.html, Stand: 03. 09. 2019.

Hausbesetzer – Recht, Politik, Prozesse

147

schuldig gesprochenen Besetzern lediglich geringe Geldstrafen auferlegt wurden.183

3

Konkretisierung der Gefährdung des Rechtsstaats durch staatliches Handeln

3.1

Zwei kontradiktorische Lösungsansätze

Im Ergebnis hatte der gesellschaftliche, politische und juristische Streit um die Strafbarkeit der damaligen Besetzungen leerstehender Häuser zu einer Gefährdung der Rechtssicherheit und in der Folge des Rechtsfriedens geführt.184 Durch jede gerichtliche Entscheidung wuchs die Unsicherheit der Besetzer bzw. der Bevölkerung.185 Zur Schaffung der Rechtssicherheit sieht sich der Rechtsstaat jedoch in seinen zentralen Maximen verpflichtet.186 Damit Rechtssicherheit hergestellt sei, müsse gemäß des Bestimmtheitsgebots jede rechtsstaatliche Norm derart klar bestimmt sein, dass ein jeder Bürger auch ohne spezielle Kenntnis mit hinreichender Sicherheit deren Inhalt feststellen kann.187 Dies sei allerdings bereits dann der Fall, wenn sich der Regelungsgehalt der Norm durch Auslegung anhand der einschlägigen Methoden bestimmen lässt.188 Dies war, bedingt durch den Bruch im Rechtsbewusstsein (speziell in den Fragen des Rechtsgefühls und des politisch-rechtlichen Bewusstseins)189 der Bevölkerung, für die Strafbarkeit von Hausbesetzern nach § 123 StGB nicht mehr der Fall. Doch lag der Grund hierfür eben nicht in der Bestimmtheit des § 123 StGB, sondern alle Argumente setzten, gleichsam eine Etage höher, am verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff und seinen Schranken an. Wie konnte es also überhaupt zu einem solchen Streit kommen? Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde in Deutschland der Begriff des Rechtsstaats inhaltlich fortentwickelt und neu bestimmt.190 Anstelle eines nur bürgerlich-liberalen Rechtsstaates trat der

183 Vgl. bspw. AG Herne-Wanne vom 14. 12. 1981 – Az.: 8 Ds 33 Ds 398/81 AK-Nr. 332/81; LG Münster vom 28. 10. 1981 – Az.: 4 Ns 46 Js 155/80//(89/81). 184 Zur Gefährdung des Rechtsfriedens: Vgl. Scholz, NJW 1983, 705, 705. 185 Vgl. Fabricius-Brand, DuR 1981, 287, 290. 186 Vgl. ebd. 187 Vgl. BVerfGE 5, 25 (31f.). 188 Vgl. BVerfGE 21, 209 (215); 79, 106 (120). 189 Vgl. Würtenberger, NJW 1986, 2281, 2282. 190 Vgl. Deutscher Bundestag wissenschaftlicher Dienst, Rechtsstaat und Unrechtsstaat: Begriffsdefinition, Begriffsgenese, aktuelle politische Debatten und Umfragen, URL: https:// www.bundestag.de/resource/blob/575580/dddea7babdd1088b2e1e85b97f408ce2/WD-1-02 2-18-pdf-data.pdf, 7, Stand: 16. 12. 2020.

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soziale Rechtsstaat,191 welcher nicht mehr nur formell, sondern auch materiell bestimmt werden sollte.192 Der soziale Rechtsstaat wurde sogar in den Art. 20, 28 GG als unumstößliches Staatsziel statuiert.193 Aus materiell rechtsstaatlicher Sicht ist jedoch als weitere Voraussetzung an jede Norm zu stellen, dass diese konsensfähig sein muss194 und insbesondere die Grundrechte zu einer politischen Einheitsbildung beitragen.195 Dies war aber zumindest in Bezug auf die Schranken des Art. 14 GG nicht mehr der Fall. Der bisher skizzierte Streit kann folglich auf die unterschiedliche Gewichtung der formellen bzw. materiellen Rechtsstaatlichkeit196 und die Anerkennung des letzteren reduziert werden. In der Konsequenz lässt sich die Unvereinbarkeit dieser beiden Ansichten an der Strafbarkeit der Besetzer nach § 123 StGB anschaulich leicht darstellen. Diejenigen, die gemäß ihres Rechtsbewusstseins die Straflosigkeit der Hausbesetzer betonten, mussten Maßnahmen der Exekutive, welche sich gegen die Hausbesetzer an sich wendeten, aufgrund materieller Erwägungen als Unrecht einstufen.197 Diejenigen hingegen, welche die Strafbarkeit der Hausbesetzer forderten, sahen eine strafrechtliche »Nichtverfolgung« der Hausbesetzer als Verstoß gegen die formelle Rechtstaatlichkeit an.198 Ebenso für mögliche Lösungen der Hausbesetzerkrise mussten sich hieraus geradezu kontradiktorische Ansätze ableiten lassen. Für die Gruppe derer, welche die Straflosigkeit der Hausbesetzer propagierten, konnte sich eine Lösung allein innerhalb eines rechtspolitischen Rahmens abspielen.199 Sie waren dazu angehalten den Rechtsfrieden in der Bundesrepublik Deutschland wieder herzustellen,200 welcher jedoch notwendig ein gleichgerichtetes Rechtsbewusstsein der Politik und Gesellschaft als Grundlage des Konsenses der Rechtsgemeinschaft voraussetzt.201 So betonte beispielsweise der damalige Regensburger Strafrechtsprofessor Friedrich-Christian Schroeder 1982 191 Da eine zentrale Aufgabe des Sozialstaats eben auch in der Existenzsicherung seiner Bürger liegt, könnte an dieser Stelle auch auf die verfehlte staatliche Wohnungspolitik und ein Grundrecht auf Wohnen eingegangen werden. 192 Vgl. Deutscher Bundestag wissenschaftlicher Dienst, Rechtsstaat und Unrechtsstaat: Begriffsdefinition, Begriffsgenese, aktuelle politische Debatten und Umfragen, URL: https:// www.bundestag.de/resource/blob/575580/dddea7babdd1088b2e1e85b97f408ce2/WD-1-02 2-18-pdf-data.pdf, 7, Stand: 16. 12. 2020. 193 Vgl. hierzu auch Malunat, Politische Vierteljahreschrift 1982, 257, 263. 194 Vgl. Reinhold Zippelius, Rechtsphilosophie, 6. Auflage, München 2011 §30 I. 195 Vgl. Malunat, Politische Vierteljahresschrift 1982, 257, 263. 196 Insbesondere wurde sich auf die Verhältnismäßigkeit, welche gerade ein solches materielles Rechtsstaatsprinzip darstellt, berufen; Vgl. Scholz, NJW 1983, 705, 707. 197 Vgl. Malunat, RuP 1982, 143, 148. 198 Bsp. hierfür: Scholz, NJW 1983, 705ff. 199 Zu diesem Ergebnis kommen auch Raabe-Zimmermann/Sonnewald, RuP 1982, 151, 153. 200 Darüber herrschte Einigkeit, Vgl. Scholz, NJW 1983, 705, 705; doch mit unterschiedlichen Ansätzen. 201 Vgl. Würtenberger, NJW 1986, 2281, 2282.

Hausbesetzer – Recht, Politik, Prozesse

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im Rahmen einer Podiumsdiskussion, dass eine »vorzeitige Kriminalisierung eigentlich mehr Gräben aufreißt als hier an Engagement und an Bereitschaft zur Mitarbeit und Mitgestaltung unserer sozialen Ordnung vorhanden ist«202. Demnach sah man die einzig mögliche Lösung in der Wiederherstellung der Rechtssicherheit durch Integration der Hausbesetzer in die Gesellschaft, durch die Schaffung eines Konsenses, welcher nur durch beiderseitige Kompromissbereitschaft und materiell gerechte Gesetzgebung geschaffen werden konnte. Demgegenüber musste die Lösung für diejenigen, welche die Bestrafung der Hausbesetzer als rechtmäßig erachteten, allein in der Durchsetzung der Rechtssicherheit in Form der ausnahmslosen Verfolgung und Verurteilung der Hausbesetzer liegen.203 Sie sahen die Argumente der Gegenseite als Versuch »politische Ziele mit pseudojuristischen Mitteln«204 durchzusetzen an und äußersten den Vorwurf,205 dass solche Lösungsansätze völkerrechtlich anmuteten, insbesondere an den Krieg zwischen Staaten erinnerten.206 Die Vertreter dieser Auffassung waren der Überzeugung, dass ein für die Schaffung des Rechtsfriedens notwendiger Konsens nur durch den Einsatz staatlicher Gewalt möglich sei, was unter bestimmten Umständen aufgrund der anerkannten Wechselwirkung von Gesetz, sofern es denn durchgesetzt wird, und dem Gerechtigkeitsempfinden der Allgemeinheit nicht unbedingt aussichtslos erscheint. Der Bruch des Rechtsbewusstseins innerhalb der Bevölkerung am Beispiel der Hausbesetzungen hatte folglich Anfang der 1980er Jahre zu einer Gefährdung des notwendigen Rechtsfriedens als Konsens über die Befolgung der Rechtsordnung und dementsprechend zu einer unausweichlich gewordenen Krise des Rechtsstaats geführt. Eine Entscheidung der rechtsstaatlichen Organe für oder gegen den Einsatz staatlicher Gewalt kam somit einer »Entscheidung zwischen Skylla und Charybdis«207 gleich. Die staatlichen Organe befanden sich mithin in einer Zwickmühle. Der Bruch im Rechtsbewusstsein hatte dazu geführt, dass es eben keine rechtsstaatlich unbedenkliche Lösung mehr geben konnte. Die herausgearbeiteten Ansätze mussten sich logischerweise auch weiter im jeweiligen lokalen staatlichen Handeln finden lassen und zeigen eindrucksvoll auf, wie sich bedingt durch diese theoretische rechtsstaatliche Misere notwendigerweise weitere rechtsstaatliche Probleme in ihrer praktischen Ausführung entsponnen haben.

202 203 204 205 206 207

Küchenhoff, KJ 1982, 156, 171. Vgl. Scholz, NJW 1983, 705, 706. Gunther Arzt, Anmerkungen, JZ 1984, 428ff., 428 Fn.6. Weitere Kritik auch: Rupert Scholz, FAZ 1982/41, S. 9. Vgl. Scholz, NJW 1983, 705, 707. Vgl. Malunat, RuP 1982, 143, 149.

150 3.2

Stephan Müller

Die »Bayerische Linie«

Exemplarisch für eine rechtsstaatlich streng formelle Linie, welche ausschließlich mit dem Einsatz staatlicher Gewalt auskommen wollte, kann der Umgang Bayerns mit seinen wenigen Hausbesetzungen stehen. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen Bayerns waren denen anderer Regionen Westdeutschlands zu dieser Zeit sicher nicht unähnlich, wie sich am Beispiel Münchens zeigt. Auch in München standen 1981 immerhin 850 Wohnungen in 300 Häusern leer, wohingegen 16.000 Menschen auf Wohnungssuche waren.208 Auch der skizzierte gesellschaftliche Wandel machte vor der bayrischen Landeshauptstadt nicht halt. Als Beleg hierfür kann beispielsweise eine am 18. März 1981 veranstaltete Demonstration von 3.000 Menschen, welche sich für die Straffreiheit Münchner Hausbesetzer einsetzten wollten, herangezogen werden.209 Die zuvor geschilderte »formelle Lösung« kann nur Erfolg versprechen, wenn und solange die staatlichen Organe die Kapazitäten haben, um allen »Aktionen« mit Gewalt begegnen zu können. Eine solche Lösung durfte folglich gar nicht erst die Herausbildung einer allzu großen Hausbesetzerszene abwarten. Von Anfang an war man in Bayern, um der bayrischen Bevölkerung nicht mal die Möglichkeit der Bildung einer Hausbesetzerbewegung zu geben, um einen radikalen Kurs bemüht. Stellvertretend äußerte Franz Josef Strauß zur damaligen Problematik, dass in Bayern »kein Platz für Hausbesetzer, Chaoten, Anarchisten, Terroristen und Gesellschaftsveränderer«210 sei. Eine konsequente Umsetzung dieser »Doktrin« präzisierte der damalige Münchner Polizeipräsident Manfred Schreiber wie folgt: In München sollte kein Haus länger als 24 Stunden besetzt bleiben. Im Falle von Räumungen folge man der Linie »Tragen statt Schlagen«, wobei er anmerkte, dass dies auch aus rechtlichen Gründen nicht immer möglich sei.211 In Bayern setzte man, um den Hausbesetzungen jedwede Grundlage zu entziehen, noch wesentlich früher an und wurde insbesondere »präventiv« tätig. Den Höhepunkt solcher Maßnahmen stellten die »Massenverhaftungen von Nürnberg« vom 5. März 1981 dar, welche von der damaligen Presse deutschlandweit als größte Massenverhaftung in der Bundesrepublik seit 1945 bezeichnet wurden.212 Infolge der Vorführung eines Films über die Hausbesetzerszene der Niederlande im 208 Vgl. Gerstenberger, Freizeit 81 (1) (o. Fn. 48), http://protest-muenchen.sub-bavaria.de/ar tikel/709. 209 Vgl. ebd. 210 Vgl. Spiegel Online, Warum die CSU die Grünen umwirbt, 11. 2. 2009, URL: https://www.spie gel.de/politik/deutschland/generalsekretaer-dobrindt-warum-die-csu-die-gruenen-umwir bt-a-606731.html, Stand: 16. 12. 2020. 211 Vgl. Gerstenberger, Freizeit 81 (1) (o. Fn. 48), http://protest-muenchen.sub-bavaria.de/ar tikel/709, m.w.N. Archiv der Münchner Arbeiterbewegung, »Freizeit 81, Winter 81«. 212 Vgl. Der Spiegel 1981/12, S. 17–22.

Hausbesetzer – Recht, Politik, Prozesse

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Nürnberger Kulturzentrum KOMM sammelten sich ca. 150–200 Besucher für einen spontanen Demonstrationszug durch Nürnberg, in dessen Folge sechs Schaufensterscheiben zu Bruch gingen.213 Als der Demonstrationszug am frühen Morgen des 6. März 1981 schließlich wieder zum KOMM zurückfand, wurden die zurückgekehrten Demonstranten mit dem Vorwand erkennungsdienstlicher Maßnahmen aus dem Jugendzentrum herausgebeten und 141 der 142 Anwesenden pauschal, unter Missachtung elementarer Rechtsgarantieren des Strafvollzugs, mit dem Vorwurf des besonders schweren Falles des Landfriedensbruchs gem. §§ 125, 125a StGB verhaftet.214 Doch selbst für die Fälle, in denen die derartig praktizierte Abschreckung durch polizeiliche Repression nicht ausreichend erschien, wollte man sich gegenüber möglichen Hausbesetzungen gewappnet wissen. Problematisch erschien insbesondere, dass der Hausfriedensbruch, aber auch denkbare Sachbeschädigungen (§ 303 StGB) nur auf Antrag verfolgt werden.215 Um dieses Problem zu umgehen, ließ sich die Münchner Polizei vorsorglich Strafanträge von Hauseigentümern aushändigen,216 was rechtlich ebenfalls nicht unbedenklich erscheint. Zur Frage, von welchem Zeitpunkt an Strafanträge wirksam sind, enthält das StGB keine ausdrückliche Regelung.217 In der Mehrheit vertrat die damalige juristische Literatur in Anknüpfung an die hierfür relevante Rechtsprechung218 jedoch die Auffassung, dass ein vorsorglicher Strafantrag nur dann zulässig sei, wenn die konkretisierte Rechtsgutverletzung innerhalb einer kurzen Frist zu erwarten war.219 Dies allein bereits erscheint in den Fällen der »Blanko-Strafanträge« der Münchner Polizei nicht gegeben. Damit wird letztlich das Prinzip des Antragserfordernisses ausgehöhlt mit der Folge einer möglicherweise übermäßigen Strafverfolgung, welche bei Kenntnis der genauen Sachlage unter Umständen gar nicht beantragt worden wäre. Die »Bayrische Linie« verstieß somit in ihrer Umsetzung gegen rechtsstaatlich formelle Verfahrensgrundsätze.

213 Vgl. Die Zeit, 1981/48 S. 2; Vgl. Günter Frankenberg, »Landfriede« und Demonstrationsfreiheit, KJ 1981, 269ff., 269. 214 Vgl. Frankenberg, KJ 1981, 269ff., 269. 215 Vgl. Hans Jürgen Schroth, Der »vorsorgliche« Strafantrag bei Hausbesetzungen, NStZ 1982, 1ff., 3. 216 Vgl. Schroth, NStZ 1982, 1, 3; Vgl. Gerstenberger, Freizeit 81 (I), http://protest-muen chen.sub-bavaria.de/artikel/709.; Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 17. 3. 1981, 1. 217 Vgl. Schroth, NStZ 1982, 1, 2. 218 Vgl. BGHSt 13, 363. 219 Vgl. Schroth, NStZ 1982, 1, 3.

152 3.3

Stephan Müller

Die »Berliner Linie der Vernunft«

Stellvertretend für eine schwerpunktmäßig materiell rechtsstaatliche Gewichtung und in der Folge »politische« Lösung soll die »sanfte Berliner Linie der Vernunft« betrachtet werden. Wie es Hans-Jochen Vogel in seiner Regierungserklärung vom 12. Februar 1981 ausdrückte, hat »Jede Stadt […] ihre Persönlichkeit, ihre Individualität, ihre besonderen Probleme«220, weshalb es nicht »eine Konzeption […] für eine abstrakte Stadt« geben konnte, sondern »nur Konzeptionen für konkrete Städte«221. Dass dies tatsächlich der Fall und eine Entscheidung für oder gegen eine »formelle« Lösung bzw. »politische« Lösung unter Umständen keine echte zugunsten des eigenen Rechtsbewusstsein sein konnte, zeigte sich an West-Berlin bzw. der Entwicklung der Ereignisse, welche politisch in der »Berliner Linie der Vernunft« mündeten. Ab Beginn der Hausbesetzerwelle hatte sich der Berliner Senat fast zwei Jahre lang für ein friedliches Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und Wertevorstellungen eingesetzt.222 Da die sozialen Unruhen, ausgelöst durch die Hausbesetzungen, deutlich unterschätzt wurden und man die Krise als solche lange Zeit nicht anerkennen wollte,223 kam es erst sehr spät zu ersten rechtlichen Lösungsansätzen von staatlicher Seite.224 Mit im Jahr 1981 167 besetzten Häusern und dem gleichzeitigen Leerstand von 800 bis 900 Häusern im ganzen Stadtgebiet,225 war eine rein »formelle« Lösung durch die Anwendung staatlicher Gewalt tatsächlich unmöglich geworden.226 Dabei hatten insbesondere die Proteste vom 12. Dezember 1980 der Polizei ihre Grenzen aufgezeigt.227 Im Zeichen des Scheiterns in der Hausbesetzerkrise und aufgrund anderer Skandale musste der ursprünglich damit befasste Senat unter SPDBürgermeister Dietrich schließlich am 15. Januar 1981 zurücktreten.228 Es war nun eine, wenn nicht die Hauptaufgabe des unmittelbar darauffolgenden Übergangs-Senats unter dem eingangs zitierten Hans-Jochen Vogel geworden,

220 Regierungserklärung Hans-Jochen Vogel, abgegeben am 12. Februar 1981 vor dem Abgeordnetenhaus von Berlin, Berliner Forum 2/1981, S. 14. 221 Ebd., S. 17. 222 Vgl. Raabe-Zimmermann/Sonnewald, Recht und Politik 1982, 151, 152. 223 Vgl. ebd.; Vgl. Suttner, »Beton brennt« (o. Fn. 23), S. 139. 224 Vgl. Suttner, »Beton brennt« (o. Fn. 23), S. 130. 225 Vgl. Amann, der moralische Aufschrei (o. Fn. 26), S. 9; Vgl. Ganschow, die Polizei 1983, 201, 203. Vgl. Der Spiegel 1983/25, »Die Berliner Linie ist ein Leichnam«. 226 Vgl. Scheer/Espert, Deutschland, Deutschland, Alles ist vorbei (o. Fn. 9), S. 52: Zitat von Berliner Innensenator Frank Dahrendorf: Soll die Polizei 800 Häuser bewachen? 227 Vgl. Fabricius-Brand, Demokratie und Recht 1981, 287, 291; Vgl. Suttner, »Beton brennt« (o. Fn. 23), S. 155. 228 Vgl. Suttner, »Beton brennt« (o. Fn. 23), S. 155; Vgl. Amann, der moralische Aufschrei (o. Fn. 26), S. 45.

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die ausufernden Hausbesetzungen unter Kontrolle zu bekommen.229 Hierfür wählte der Jurist Hans-Jochen Vogel einen neuartigen Ansatz, welcher unter dem Eindruck stand, dass die Sicherung des Rechtsfriedens nur durch Zurückgewinnung der verlorengegangen Glaubwürdigkeit erreicht werden könne.230 Dieser bezog nicht nur die fehlgeleitete Wohnungspolitik in seinen Erwägungen ein, sondern wagte zudem, um der Heterogenität der Hausbesetzer gerecht zu werden, auch den Versuch, ihre alternativen Lebenskonzepte in diese neue Linie zu integrieren.231 Derartigen Überlegungen lag die Befürchtung zugrunde, konstruktive gemeinsame Lösungsansätze könnten durch, von außen an die instabile heterogene Szene herangetragene, Überforderung scheitern.232 Dieses Konzept wurde am 3. Februar 1981 als »Berliner Linie der Vernunft« verkündet.233 Deren Inhalt sah einen kompletten Verzicht der Verfolgung von Hausfriedensbruch und damit zusammenhängender Delikte, einen vorläufigen Verzicht auf Räumungen,234 bzw. das Angebot von Ersatzhäusern sowie die Bereitstellung von Geldern für Instandsetzungsarbeiten vor.235 Doch sollte die »Berliner Linie« eben nicht rechtsfreie Räume schaffen, sondern die Hausbesetzer auf sanfte Art und Weise in die Rechtsgemeinschaft zurückgeleiten.236 Gleichzeitig hatte sich gezeigt, dass der Einsatz staatlicher Gewalt stets aufs neue die Annäherungsversuche zwischen Senat und der Hausbesetzerszene torpediert hatte.237 Aufgrund dieser grundsätzlichen Konfrontation zwischen staatlichen Zielen und Aufgaben ergaben sich mehrere rechtliche Konflikte, welche in den Fokus der Öffentlichkeit rückten. Die erste Frage stellte sich in Bezug auf die sowohl zivilrechtliche als auch verwaltungsrechtliche Durchsetzung der Ansprüche der Eigentümer, welche kein Interesse an einer gütlichen Einigung zeigten. Zwar schloss die Berliner Linie Räumungen keinesfalls kategorisch aus, doch wurden diese unter bestimmte Bedingungen gestellt. Demnach hatte der Berechtigte Strafantrag zu stellen, die Räumung zu begehren, den Strafantrag und das Räumungsbegehren für die gesamte Dauer der polizeilichen Maßnahmen aufrechtzuerhalten als auch glaubhaft zu versichern, dass unmittelbar nach der Räumung mit Abriss- bzw. 229 230 231 232 233 234

Vgl. Suttner, »Beton brennt« (o. Fn. 23), S. 160. Vgl. Raabe-Zimmermann/Sonnewald, RuP 1982, 151, 153. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Amann, der moralische Aufschrei (o. Fn. 26), S. 45. Bereits länger besetzter Häuser; Neue Besetzungen sollten ebenfalls innerhalb von 24 h geräumt werden, Vgl. ebd. 235 Vgl. ebd. 236 Vgl. Raabe-Zimmermann/Sonnewald, RuP 1982, 151, 152f.: Trotzdem sah und sieht sich der Staat unabhängig von dieser Zielsetzung gesetzlich gefordert, die Gewährleistung der Rechte aller Bürger, eben auch der Eigentümer sicher zu stellen. 237 Vgl. Haberbusch, ›Berliner Linie‹ gegen Instandbesetzer (o. Fn. 49), S. 7.

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Instandsetzungsarbeiten begonnen werde.238 Ziel dieser Einschränkungen war die nachvollziehbare und berechtigte Intention ein »Katz- und Mausspiel zwischen Besetzern und Polizei«239 zu vermeiden. Rechtlich sind diese Anforderungen im polizeilichen Ermessen zu verorten und stellten auch geeignete Kriterien dar.240 In den Fällen der Wahrnehmung eigener Aufgaben, insbesondere polizeilicher Räumungen, konnte also aufgrund der Anforderungen der Berliner Linie von polizeilichen Tätigwerden Abstand genommen werden.241 Doch ergaben sich in den, wenn auch seltenen,242 Konstellationen, in welchen die Polizei zur Unterstützung des Gerichtsvollziehers zur Durchsetzung eines zivilrechtlichen Titels tätig werden musste, erhebliche Wertungsschwierigkeiten. Eine solche Unterstützung des Gerichtsvollziehers stellt keine Amtshilfe dar, sondern wiederum ein eigenständiges Tätigwerden der Polizei.243 Die geschilderten Ermessenserwägungen in einem solchem Kontext anzustellen, steht der Idee eines Rechtsstaats vollkommen konträr gegenüber.244 Ein weiteres Problem, welches unmittelbar mit der Radikalisierung der Berliner Hausbesetzerszene als auch des mit ihr angestrebten Kompromisses zusammenhing, trat in der Strafverfolgung als ein Konflikt polizeilichen Opportunitätsermessens und dem Legalitätsprinzip zu Tage.245 So machte der leitende Berliner Oberstaatsanwalt Groß deutlich, dass es für die Staatsanwaltschaft, anders als für einfache friedliche Hausbesetzungen im Hinblick auf § 123 StGB,246 außer Frage stand, dass die ebenfalls von Hausbesetzern begangenen Offizialdelikte, insbesondere §§ 249, 255, 240, 242, 113 und 129a StGB, aufgrund des Legalitätsprinzips verfolgt werden mussten.247 Doch hatten die Berliner Hausbesetzer nicht nur geschlossen darauf aufmerksam gemacht, dass es keine Ver238 Vgl. Raabe-Zimmermann/Sonnewald, RuP 1982, 151, S. 156. 239 Vgl. ebd. 240 Vgl. Bernhard Schlink, Die polizeiliche Räumung besetzter Häuser, NVwZ 1982, 529ff., 533: drohender Widerstand und drohende Ausschreitungen, daraus resultierende Gefährdungen von Personen und Stadtgebieten, geringes Interesse des Berechtigten an der Räumung, wie es aus dem Fehlen eines Strafantrags oder eines konkreten Nutzungsvorhabens hervorgeht, und schließlich die Rücksicht auf gerade laufende Verhandlungen oder eine erst zu erprobende politische Strategie einer Stadt sind legitime Ermessenskriterien. 241 Ausnahme: Ermessensreduktion auf null; Andere Ansicht zu Ermessenskriterien: Christoph Degenhart, Forum: Öffentlichrechtliche Fragen der »Hausbesetzungen«, JuS 1982, 330ff., 334. 242 Zu zivilprozessualen Schwierigkeiten der Bezeichnung der Klagegegner: Vgl. Hilmar Raeschke-Kessler, Einstweilige Verfügung gegen Unbekannt – ein Mittel gegen Hausbesetzer?, NJW 1981, 663ff., 663ff. 243 Vgl. Schlink, NVwZ 1982, 529, 533. 244 Vgl. ebd., 534. 245 Vgl. Schultz/Leppin, Jura 1981, 521, 531. 246 Vgl. Schultz/Leppin, Jura 1981, 521, 522. 247 Vgl. Artkämper, Hausbesetzer, Hausbesitzer, Hausfriedensbruch (o. Fn. 22), S. 23, Fn.55 m.w.N. Berl. Anwbl. 1981, 89.

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handlungen über einen friedlichen Kompromiss mit dem Senat geben werde, solange Besetzer inhaftiert wären.248 Zudem hatten die Erfahrungen bisheriger Verhaftungen auch gezeigt, dass von Seiten der Besetzer hierauf stets mit Gewalt geantwortet worden war.249 Vor diesem Hintergrund und wegen der ihr zukommenden Doppelfunktion sowohl der Strafverfolgung als auch der Gefahrenabwehr sah sich die Berliner Polizei nicht in der Lage, diese beiden Aufgaben pflichtgemäß wahrzunehmen.250 So erfuhr Anfang Februar 1981 die breite Öffentlichkeit erstmals von Verweigerungen der Polizeiführung, namentlich des Polizeipräsidenten Klaus Hübner, richterliche Durchsuchungsbeschlüsse für besetzte Häuser aus Angst vor dadurch aufkommenden neuen Krawallen zu vollstrecken.251 Während große Teile der CDU-Opposition, der Staatsanwaltschaft und sogar die Polizeigewerkschaft im Deutschen Beamtenbund dieses Verhalten als »Kapitulation des Rechtsstaats« einstuften, sprach der ÜbergangsSenat, speziell dessen Innensenator Frank Dahrendorf, Hübner zu, »in voller Übereinstimmung« mit der Anschauung des Senats gehandelt zu haben.252 Doch gipfelte dieser Konflikt darin, dass die Berliner Staatsanwaltschaft gegen den damaligen Polizeipräsidenten und auch gegen den Innensenator ein Ermittlungsverfahren wegen Strafvereitelung im Amt gem. § 258a StGB einleitete.253 Wie war die Rechtslage? Während eine solche polizeitaktische Verweigerung im Hauptverfahren bereits einen »rechtsstaatlich unerträglichen Widerspruch zu einer gerichtlichen Entscheidung« darstellt, ist eine solche Konstellation für Ermittlungsverfahren differenzierter zu betrachten. So statuiert Anlage A,254 B, III, Abs. 1 und Abs. 2 der RiStBV, dass für Fälle, in welchen sich »bei einem einheitlichen Lebenssachverhalt gleichzeitig und unmittelbar Aufgaben der Strafverfolgung und der Gefahrenabwehr« ergeben, »eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei in ganz besonderem Maße erforderlich«255 ist. Doch kann sich auch hieraus in keinem Fall ein grundsätzliches Recht der Polizei, nach staatsanwaltschaftlicher Weisung noch selbst Ermessenserwägungen anzustellen, ableiten lassen.256 Die Fragen des »ob« und des »wann« der Maßnahmen sind innerhalb des alleinigen Kompetenzbe248 249 250 251 252 253 254

Vgl. ebd., 55. Vgl. ebd., 30. Vgl. Schultz/Leppin, Jura 1981, 521, 532. Vgl. Scheer/Espert, Deutschland, Deutschland, Alles ist vorbei (o. Fn. 11), S. 57. Vgl. ebd. Vgl. Ostendorf, JuS 1981, 640, 640. Gemeinsame Richtlinien der Justizminister/-senatoren und der Innenminister/-senatoren des Bundes und der Länder über die Anwendung unmittelbaren Zwanges durch Polizeibeamte auf Anordnung des Staatsanwalts vom 1. Januar 1977. 255 Vgl. Gesetze in Bayern, URL: https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/RiStBVNN335, Stand: 16. 12. 2020. 256 Vgl. Degenhart, JuS 1982, 330, 335.

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reichs der Staatsanwaltschaft zu verorten.257 Somit konnte die Polizei das »Verfahrensgebot der Verhältnismäßigkeit der Güter- und Gefahrenabwägung« nicht »pflichtgemäß zur Grundlage für den Zeitpunkt« des polizeilichen »[…] Handelns gemacht«258 haben. Die zugunsten einer politischen Lösung notwendige Verweigerung der Vollstreckung richterlicher Durchsuchungsbeschlüsse stellte somit einen eklatanten Verstoß gegen das rechtsstaatliche Legalitätsprinzip dar.259

4

Ausblick

Es lässt sich folglich festhalten, dass sich sowohl »formelle« als auch »politische« Ansätze nicht nur auf theoretischer Ebene dem Vorwurf der Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien stellen mussten, sondern insbesondere auch in ihrer praktischen Umsetzung zwingend gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstoßen haben. Nachdem die geschilderte Hausbesetzerkrise nicht bis heute andauert,260 muss es trotzdem zu einer Lösung gekommen sein. Doch kamen die Impulse zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens nicht überwiegend von staatlicher Seite. Vielmehr waren es die Besetzer, welche sich nach und nach immer mehr fragmentierten und nicht als Bewegung, sondern vermehrt in kleineren Gruppen individuell nach Lösungen suchten,261 wonach sich die Frage nach einer staatlichen, einheitlichen Gesamtlösung erübrigte. Vor allem jedoch scheinen erneute Entwicklungen im Wertebild der westdeutschen Bevölkerung zu einer Versöhnung der Lager geführt zu haben. Ab Beginn der 1980er Jahre zeigten sich starke Annäherungstendenzen, die dazu führten, dass die ältere Generation in größerem Maße postmaterialistische Werte, die jüngere Generation wieder materialistische Werte akzeptierte.262 Diese Annäherungen waren es, welche in der Folge zur Herausbildung eines erneut majoritären Rechtsbewusstseins und letztendlich zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens führten.263 Damit hatte sich aber keines der damals erkannten Probleme erledigt, geschweige denn gelöst. Zwar wurde die infolge des konstruktiven Misstrauensvotums gegen Helmut Schmidt amtierende CDU/CSU/FDP-Regierung unter 257 Vgl. ebd.; Vgl. Schultz/Leppin, Jura 1981, 521, 533. 258 Vgl. Scheer/Espert, Deutschland, Deutschland, Alles ist vorbei (o. Fn. 11), S. 57. 259 Vgl. auch Heinz Zipf, »Kriminalpolitische Überlegungen zum Legalitätsprinzip« in: Jürgen Baumann(Hrsg.)/ Klaus Tiedemann(Hrsg.), Einheit und Vielfalt des Strafrechts: Festschrift für Karl Peters zum 70. Geburtstag, Tübingen 1974, 487, 501. 260 Gemeint sei die tatsächliche Krise, was vereinzelte Hausbesetzungen bis heute nicht unberücksichtigt lassen muss. 261 Vgl. Suttner, »Beton brennt« (o. Fn. 23), S. 172ff. 262 Vgl. Würtenberger, NJW 1986, 2281, 2287. 263 Vgl. ebd.

Hausbesetzer – Recht, Politik, Prozesse

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Helmut Kohl tätig und bereits am 20. Dezember 1982 wurde ein Gesetz zur Erhöhung des Angebots an Mietwohnungen verabschiedet, doch trug dessen Inhalt keineswegs den letztendlich ausschlaggebenden, sozialen Komponenten, welche zu der eingangs skizzierten Krise des Wohnungsmarktes geführt hatten, Rechnung.264 Ganz im Gegenteil wurde der Mieterschutz sogar durch die Einführung von Staffelmietverträgen noch weiter gelockert, zudem wurden auch Zeitmietverträge von bis zu fünf Jahren ohne Fortsetzungsanspruch im Falle erheblicher Baumaßnahmen legalisiert.265 Man hatte zwar den Leerstand als Grundvoraussetzung der Hausbesetzungsproblematik erkannt, doch wollte man dieses Problem scheinbar nicht durch die Schaffung eines sozialen Mietrechts, wie dies auch das BVerfG gefordert hatte,266 grundlegend lösen, sondern, getreu der wirtschaftspolitischen Maxime der Regierung, lediglich Investoren die Möglichkeit schaffen, die Zeit bis zu Abriss- bzw. Instandsetzungsarbeiten durch Zeitmietverträge zu überbrücken. Statt dessen scheinen sich die Ereignisse zu wiederholen, ohne dass sinnvolle Lösungen zur Behebung des Mangels an bezahlbarem Wohnraum gefunden worden wären. Seit Jahren spitzt sich die Lage des Wohnungsmarktes in deutschen Ballungsgebieten kontinuierlich zu,267 erste Stimmen zweifeln seit kurzem erneut öffentlichkeitwirksam die gelebte Verfassungsrechtsdogmatik des Eigentums an268 und in Berlin wurde bereits erneut zum »Systemkampf« aufgerufen.269 Für sich allein stellen solche Tendenzen sicher noch keine Gefährdung des Rechtsstaats dar, doch gehen die Parallelen viel weiter. Seit einiger Zeit deutet sich wiederum eine tiefgreifende Spaltung der deutschen Bevölkerung an nahezu identischen Themen wie damals ab. Insbesondere die Themen Migration, festgemacht an der »Flüchtlingskrise«, als auch die Themen Klima-, und Umweltschutz haben erneut ein ungemeines Protestpotential der ( jungen) Bevölkerung geweckt. Zwar verlaufen Wandlungen im Rechtsbewusstsein nicht nach einem Wenn-Dann-Schema, die Parallelen sind jedoch augenscheinlich. Und wenn schon nicht unmittelbar von gesellschaftlichen Entwicklungen auf Entwicklun264 Vgl. Hans Georg Lehmann, Chronik der Bundesrepublik Deutschland 1945/49–1981, München 1982, S. 152. 265 BT-DS 9/2248. 266 Vgl. BVerfGE 18: 132. 267 Vgl. Statistisches Bundesamt, Wohnkosten: Knapp 13 % der Bevölkerung fühlen sich belastet, URL: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Wohnen/eu-silc-ar mut.html;jsessionid=5B32D1EF5DA9CDAE372849BBE6DF1C80.internet732, Stand: 16. 12. 2020. 268 Vgl. RP Online, Kevin Kühnert will Besitz von Immobilien beschränken, 01. 05. 2019, URL: https://rp-online.de/politik/deutschland/juso-chef-kevin-kuehnert-will-besitz-von-immob ilien-beschraenken_aid-38504745, Stand: 16. 12. 2020. 269 Vgl. Der Tagesspiegel, Berlin probt den Systemkampf ums Eigentum, 02. 05. 2019, URL: https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/immobilien/nicht-erst-seit-kuehnert-berlin-probtden-systemkampf-ums-eigentum/24258580.html., Stand: 16. 12. 2020.

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Stephan Müller

gen des Rechtsbewusstseins geschlossen werden darf, so ist ein Schluss jedoch unabdingbar: Wenn sich das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung in Fragen des grundgesetzlichen Eigentumsbegriffs erneut spalten sollte, dann wäre eine erneute Krise des Rechtsstaats unausweichlich.

Andrea Kießling

Gesundheitsschutz durch Eingriff oder Aufklärung? Das Ringen um den angemessenen Umgang mit der neuen Seuche AIDS

Im Jahr 2020 wurde das Infektionsschutzrecht aus seinem Dornröschenschlaf geweckt, als Gesellschaft, Wissenschaft und Politik darüber diskutierten, mit welchen Maßnahmen auf die Corona-Epidemie reagiert werden sollte und ob das Infektionsschutzgesetz (IfSG) diese Maßnahmen überhaupt erlaubte. Gut 30 Jahre zuvor hatte es in Deutschland eine vergleichbare Debatte gegeben, als der bis Anfang der 1980er Jahre unbekannte Erreger HIV und die von ihm ausgelöste Krankheit AIDS entdeckt wurden. Damals stellte sich die Frage, zu welchen Maßnahmen das Bundesseuchengesetz (BSeuchG) die Behörden ermächtigte und ob diese Maßnahmen eine angemessene Reaktion zur Eindämmung der befürchteten Seuche darstellten. Der Beitrag zeichnet die damalige Debatte innerhalb der Rechtswissenschaft nach; abschließend wird auf die Konsequenzen eingegangen, die vom Gesetzgeber für das seit 2001 geltende IfSG gezogen wurden.

1

Die neue Seuche AIDS

Die Forschung geht davon aus, dass sich die verschiedenen Typen von HI-Viren aus eng verwandten Viren entwickelt haben, die bei Primaten in Afrika verbreitet sind. Erste HIV-Infektionen bei Menschen gab es in den 1950er Jahren.1 Zu einer größeren Verbreitung von HIV kam es aber erst 30 Jahre später in Nordamerika2: Anfang der 1980er Jahre gab es erste Berichte aus den USA über rätselhafte Erkrankungen zunächst bei homosexuellen Männern, schnell aber auch bei

1 T. Zhu/B. T. Korber/A. J. Nahmias/E. Hooper/ P. M. Sharp/D. D. Ho, An African HIV-1 sequence from 1959 and implications for the origin of the epidemic, Nature 1998, Feb 5;391 (6667), 594. 2 Michael T. Wright/Rolf Rosenbrock, Aids – Zur Normalisierung einer Infektionskrankheit, in: Günter Albrecht/Axel Groenemeyer (Hrsg.), Handbuch Soziale Probleme, Bd. I, Bd. II, 2. Aufl., Wiesbaden 2012, S. 195, 202.

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Andrea Kießling

Frauen, heterosexuellen Männern, Blutern und Kleinkindern.3 1983 wurde über erste Fälle in Deutschland berichtet.4 Bei neu auftretenden Krankheitserregern sind insbesondere zu Beginn viele Faktoren unklar: Dazu gehören die Übertragungswege des Erregers, die Infektiosität des Erregers und die Art und Schwere der übertragbaren Krankheit.5 Erkenntnisse ergeben sich für den Staat nur sukzessive durch Forschung während der Ausbreitung der Seuche. Anders als viele andere Krankheitserreger überträgt sich das HI-Virus nicht durch einen bloßen sozialen Kontakt (etwa durch Speicheltröpfchen beim Sprechen), sondern durch einen besonders intimen Kontakt (Geschlechtsverkehr) oder in einem besonderen medizinischen Kontext (Blutkonserven, Spritzen). Die Übertragung findet durch Körperflüssigkeiten (Blut und Genitalsekrete) statt, die über verletzte Haut oder verletzte Schleimhäute in die Blutbahn gelangen.6 Damit ähnelt die Übertragung von HIV der Übertragung des Hepatitis-B- und -C-Virus und allgemein sexuell übertragbarer Krankheiten. Die Besonderheit von AIDS liegt jedoch in der langen Inkubationszeit; die Krankheit bricht ggf. erst Jahre nach der Infektion mit HIV aus7.

2

Neue Seuchen und Recht

Der Umgang mit Krankheiten ist heutzutage geprägt von einer Sichtweise, die der Versorgung durch Ärzt*innen u. a. mit Medikamenten einen hohen Stellenwert einräumt. Dies gilt für verschiedene Arten von Krankheiten: So ist für viele Menschen der Gang zum Arzt bei chronischen Krankheiten wie Diabetes oder Rückenleiden üblich, dabei könnte deren Entstehen durch präventive Maßnahmen – genauer gesagt: durch die Änderung des Lebensstils – verhindert werden. Auch bei der Infektionskrankheitenbekämpfung spielen pharmazeutische Interventionen eine große Rolle: Kurative Möglichkeiten eröffnete die Entdeckung von Antibiotika und antiviralen Arzneimitteln. In präventiver Hinsicht führte die Entwicklung von Impfstoffen zu einer massiven Zurückdrängung einzelner Krankheiten, die Pocken konnten auf diesem Wege sogar ausgerottet werden. 3 Rudolf Gross, AIDS – Neue Krankheit oder plurikausales Syndrom?, Deutsches Ärzteblatt 1983, Heft 26, S. 26. 4 Rudolf Gross, AIDS – Neue Krankheit oder plurikausales Syndrom?, Deutsches Ärzteblatt 1983, Heft 26, S. 26. 5 Andreas Engels, Infektionsschutzrecht als Gefahrenabwehrrecht?, DÖV 2014, 464, 469. 6 Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 18; Andreas Costard, Öffentlich-rechtliche Probleme beim Auftreten einer neuen übertragbaren Krankheit am Beispiel AIDS, Berlin 1989, S. 23ff. 7 RKI-Ratgeber HIV-Infektion/AIDS, Inkubationszeit, Stand: 22. 11. 2018.

Gesundheitsschutz durch Eingriff oder Aufklärung?

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Dieser Bekämpfungsansatz steht jedoch nicht zur Verfügung, wenn plötzlich ein unbekannter Krankheitserreger die Gesundheit der Bevölkerung bedroht. Dies war im Jahr 2020 deutlich bei SARS-CoV-2 zu sehen und in einer vergleichbaren Ausgangssituation befand sich Deutschland Anfang der 1980er Jahre. Das Auftauchen von HIV/Aids erschütterte ein sehr weit verbreitetes, auf dem Vertrauen in das Gesundheitssystem aufgebautes Sicherheitsgefühl.8 Da eine Heilung nicht in Aussicht stand, konnte das Gesundheitssystem zur Eindämmung der Seuche wenig beitragen; gefragt waren vielmehr nichtpharmazeutische Strategien der öffentlichen Gesundheit (»Public Health«). An dem nichtpharmazeutischen Seuchenbekämpfungsansatz hat sich im Grundsatz seit Jahrhunderten bis heute wenig geändert: Wo Krankheitserreger über menschliche Kontakte übertragen werden, müssen diese Kontakte unterbunden werden. Diese Kontaktvermeidung bzw. -reduzierung kann durch Ge- bzw. Verbote angeordnet und notfalls mit Verwaltungszwang durchgesetzt werden. Die Rechtsgrundlagen für das entsprechende Seucheninstrumentarium – die Isolierung Infizierter von den Gesunden – finden sich im Infektionsschutzrecht (früher: Seuchenrecht), das zum Gesundheitsschutzeingriffsrecht9 gezählt werden kann.

2.1

Infektionsschutzrecht als Gesundheitspolizeirecht

Das heutige Infektionsschutzrecht hat sich aus dem (Gesundheits)Polizeirecht entwickelt. Während man lange Zeit die allgemeinen Polizeigesetze für die Anordnung der Ge- und Verbote anwendete, wurde nach einer Cholera-Epidemie in Hamburg im Jahr 1892 die Notwendigkeit eines besonderen Gesetzes erkannt; 1900 wurde das Reichsseuchengesetz (RSeuchG) verabschiedet.10 Das Seuchenrecht blieb Polizeirecht, zunächst waren die Polizeibehörden zuständig für die Ausführung. Der Anwendungsbereich war auf die Krankheiten »Aussatz (Lepra), Cholera (asiatischer), Fleckfieber (Flecktyphus), Gelbfieber, Pest (orientalischer Beulenpest), Pocken (Blattern)«11 beschränkt; für diese »gemeingefährlichen« Krankheiten galt eine Meldepflicht (§ 1). Kranke und krankheits- oder ansteckungsverdächtige Personen konnten einer Beobachtung unterworfen (§ 12) und/oder abgesondert (§ 14) werden. Das BSeuchG von 1961, das das RSeuchG ablöste, nahm Abstand von dem auf bestimmte Krankheiten begrenzten An8 Michael T. Wright/Rolf Rosenbrock, Aids – Zur Normalisierung einer Infektionskrankheit, in: Günter Albrecht/Axel Groenemeyer (Hrsg.), Handbuch Soziale Probleme, Bd. I, Bd. II, 2. Aufl., Wiesbaden 2012, S. 195, 206. 9 Zum Begriff Andrea Kießling, Der deutsche Sozialstaat als Sozialversicherungsstaat und seine Auswirkungen auf das Präventionsrecht, Rechtswissenschaft 2016, 597. 10 Dazu BT-Drs. 3/1888, S. 18. 11 § 1 RSeuchG.

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Andrea Kießling

wendungsbereich, es sollte ausdrücklich auch für neue, unbekannte Erreger gelten.12 Nur die Meldepflicht war auf bestimmte Erreger bzw. Krankheiten begrenzt (§ 3). Es gab weiterhin Ermächtigungsgrundlagen für die Beobachtung (§ 35) und Absonderung (§ 36) sowie die Möglichkeit, ein Tätigkeitsverbot auszusprechen (§ 37). Zusätzlich wurde eine neue Interventionsmöglichkeit geschaffen: Es sollte nun bereits die Verhütung der Entstehung von Krankheiten möglich sein statt nur die Bekämpfung der Weiterverbreitung der Krankheit nach einem Ausbruch.13 Als 1980 das BSeuchG reformiert wurde14, wurde erstmalig eine Generalklausel für die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten (§ 34) geschaffen15 – diese Generalklausel findet sich heutzutage in § 28 IfSG, der es 2020 zusammen mit seiner im November eingefügten Konkretisierung durch § 28a IfSG16 nicht nur innerhalb der Rechtswissenschaft zu Bekanntheit brachte.17

2.2

GeschlKrG

Parallel zum RSeuchG bzw. später dem BSeuchG galt bis zum Jahr 2001 ein eigenes Gesetz für die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten. Für das weitere Verständnis der Diskussion in den 1980er Jahren ist ein Blick auf diese Regelungen hilfreich, denn die Geschlechtskrankheitenbekämpfung folgte nach dem Zweiten Weltkrieg einem besonders rigorosen polizeirechtlichen Ansatz, der eine gewisse Blindheit für die tatsächliche Situation der Betroffenen und ihre Grundrechte aufwies. Ähnliches zeigte sich später im Umgang mit HIV/AIDS in Bayern. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt zunächst das Gesetz zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten aus dem Jahr 192718 fort.19 Geschlechtskrankheiten iSd Gesetzes waren »Syphilis, Tripper und Schanker« (§ 1). Als Geschlechtskrank12 13 14 15 16

BT-Drs. 3/1888, S. 20. BT-Drs. 3/1888, S. 19. BGBl. 1979 I S. 2248. Dazu BT-Drs. 8/2468, S. 27. Eingefügt durch Art. 1 des Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite v. 18. 11. 2020, BGBl. I S. 2397. 17 Über das Gesetzgebungsverfahren wurde ausführlich in den Medien berichtet. Das lag vorrangig nicht daran, dass § 28a IfSG von den Sachverständigen im Gesundheitsausschuss kritisiert wurde, sondern an der Kritik einiger »Querdenker«, die das Dritte Bevölkerungsschutzgesetz für ein »Ermächtigungsgesetz« hielten. Dieser Kritik lag eine Vermischung der Begriffe »Ermächtigungsgrundlage« und »Ermächtigungsgesetz iSv 1933« zugrunde. 18 RGBl. I S. 61. 19 Dazu Frank Rühmann, Aids und Recht: Zur Geschichte des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, in: Cornelius Prittwitz (Hrsg.), Aids, Recht und Gesundheitspolitik, Berlin 1990, S. 31, 33ff.

Gesundheitsschutz durch Eingriff oder Aufklärung?

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heiten gelten traditionell nicht Krankheiten, die an den Geschlechtsorganen auftreten, sondern sexuell übertragbare Krankheiten. Im Fokus der Verhinderung der Weiterverbreitung stehen somit – wie bei HIV – sexuelle Kontakte. Die Geschlechtskrankheitenbekämpfung auf der Grundlage dieses Gesetzes bestand in der Reglementierung der Prostitution. Hier herrschte in der unmittelbaren Nachkriegszeit zum Teil eine auf Zwangsmaßnahmen, Kontrolle (inklusive Razzien) und Überwachung ausgerichtete Grundhaltung, die sich allein gegen die Frauen – d. h. die Prostituierten und nicht die Freier – richtete.20 In den Jahren danach wurde um den richtigen Ansatz bei der Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten gerungen; ein Gesetzentwurf, der zwar fürsorgerische Elemente enthielt, aber aus heutiger Sicht sehr zwangsgeprägt erscheint, galt damals vielen als zu liberal.21 1953 wurde auf der Basis dieses Entwurfes ein neues Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (GeschlKrG)22 verabschiedet, das für »Syphilis (Lues), Tripper (Gonorrhoe), Weicher Schanker (Ulcus molle) und Venerische Lymphknotenentzündung (Lymphogranulomatosis inguinalis Nicolas und Favre)« galt (§ 1). Es sah zwar auch eine Beratung der Betroffenen vor, verzichtete aber nicht auf Zwang.23 So regelte es als mögliche Maßnahmen die Anordnung der Pflicht, ein Gesundheitszeugnis vorzulegen (§ 4), ein Berufsverbot (§ 5), eine Eheunbedenklichkeitsbescheinigung (§ 6 II) und ein Still- und Blutspendeverbot (§ 7 I, IV). Geschlechtskranke mussten sich einer Behandlung unterziehen (§ 3 I); es galt eine namentliche Meldepflicht u. a. für die Fälle, in denen sich Kranke weigerten, sich behandeln zu lassen (§ 12 I Nr. 1). Die Behandlung sollte durch niedergelassene Ärzte erfolgen, für die Überwachung und ggf. Zwangsmaßnahmen waren die Gesundheitsämter zuständig, außerdem sollte dort die Beratung stattfinden. Letztere wurde aber dadurch, dass »normale« Kranke zur Behandlung bereits einen Arzt aufsuchten, überflüssig24, so dass die Aufgaben der Gesundheitsämter in der Praxis hauptsächlich auf die Prostitutionskontrolle reduziert wurden.25 In manchen Städten beschäftigten die Gesundheitsämter Ermittler, die Personen, die sich einer Be20 Ulrike Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit, München 2004, S. 321ff., für die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten. 21 Zu dem Entwurf und der Diskussion Ulrike Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit, München 2004, S. 324ff. 22 BGBl. I S. 700. 23 Vgl. auch den Überblick und Ausführungen zum Konzept bei Otfried Seewald, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte von Aids, in: Cornelius Prittwitz (Hrsg.), Aids, Recht und Gesundheitspolitik, Berlin 1990, S. 37, 55ff. 24 Das GeschlrKG sah grundsätzlich vor, dass durch freiwillige Behandlung beim niedergelassenen Arzt und Kooperation mit den Behörden das seuchenrechtliche Instrumentarium nicht zur Anwendung kam (dazu ausführlich Otfried Seewald, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte von Aids, in: Cornelius Prittwitz (Hrsg.), Aids, Recht und Gesundheitspolitik, Berlin 1990, S. 37, 58ff.). 25 Ulrike Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit, München 2004, S. 344.

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handlung verweigerten, zwangsweise zu einer Untersuchungsstelle brachten und ggf. in einer Isolierstation in einem Krankenhaus unterbrachten.26 Die niedergelassenen Ärzte behandelten die Betroffenen jedoch nicht nur, sie mussten auch Personen, die sie verdächtigten, Geschlechtskrankheiten an andere zu übertragen, dem Gesundheitsamt namentlich melden (§ 12 I Nr. 2), was in der Praxis wohl nur bei Frauen (also Prostituierten) und nicht bei promiskuösen Männern geschah.27 Auch wenn das Gesetz die Adressatengruppe neutral umschrieb, wurde das Gesetz wie das Vorgängergesetz hauptsächlich auf Prostituierte angewendet. Die Notwendigkeit dieser Regelungen wurde mit der Gefährdung der allgemeinen »Volksgesundheit« begründet, die von den Geschlechtskranken ausgehe, obwohl es zum damaligen Zeitpunkt durch neue Behandlungsmöglichkeiten kaum noch zu gesundheitlichen Dauer- bzw. Folgeschäden kam.28 Durch den Einsatz von Antibiotika hatten Geschlechtskrankheiten zunehmend von ihrem Schrecken verloren, in dem Ansatz des Gesetzes drückte sich dieser Stand der Medizin jedoch nicht aus. Das GeschlKrG stellte angesichts seiner weitgehenden Befugnisse für einen besonderen Fall von Infektionskrankheiten Sonderseuchenrecht dar. Die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten war lange Zeit geprägt durch die Stigmatisierung der Kranken29, die sich in den rechtlichen Regelungen fortsetzte.30 Wer an einer anderen übertragbaren Krankheit erkrankt war, konnte nicht gezwungen werden, sich behandeln zu lassen; 1980 wurde in das BSeuchG aus verfassungsrechtlichen Gründen ein entsprechendes ausdrückliches Verbot (§ 34 I 3) aufgenommen.31 Dass das GeschlKrG dagegen eine Heilbehandlungspflicht enthielt – die genauso verfassungsrechtlich unzulässig sein musste32, wurde im Gesetzgebungsverfahren ausgeblendet; diese Behandlungspflicht für Geschlechtskranke – also aus Sicht des Staates: Prostituierte – wurde stillschweigend hingenommen. Zwischen Geschlechtskrankheiten und anderen übertragbaren Krankheiten bestand also eine »gesundheitsrechtliche Asymmetrie«33. 26 27 28 29 30 31 32 33

Ulrike Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit, München 2004, S. 336, 338f. Ulrike Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit, München 2004, S. 335. Ulrike Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit, München 2004, S. 329. Norbert Schmacke, Aids und Seuchengesetze: Anmerkungen zu historischen Erfahrungen bei der »Bekämpfung« von Infektionskrankheiten, in: Cornelius Prittwitz (Hrsg.), Aids, Recht und Gesundheitspolitik, Berlin 1990, S. 17, 22ff. Frank Rühmann, Aids und Recht: Zur Geschichte des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, in: Cornelius Prittwitz (Hrsg.), Aids, Recht und Gesundheitspolitik, Berlin 1990, S. 31. BT-Drs. 8/2468, S. 28. »Verfassungsrechtlich nicht unbedenklich«: Otfried Seewald, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte von Aids, in: Cornelius Prittwitz (Hrsg.), Aids, Recht und Gesundheitspolitik, Berlin 1990, S. 37, 56. Hans-Ullrich Gallwas, Gesundheitsrechtliche Aspekte der Bekämpfung von AIDS, AIFO 1986, 31, 37.

Gesundheitsschutz durch Eingriff oder Aufklärung?

3

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AIDS und die Frage nach den zulässigen Maßnahmen nach dem BSeuchG

Auch wenn es sich bei AIDS um eine sexuell übertragbare Krankheit – und somit um eine Geschlechtskrankheit – handelt34, war das GeschlkrG nicht anwendbar wegen des abschließend geregelten Katalogs von Krankheiten.35 Anwendbar hingegen war das BSeuchG, das offen war neue Krankheitserreger.36 Streitig war aber der konkrete Seuchenbekämpfungsansatz, mit dem man die Ausbreitung von HIV verhindern wollte. 1983 erklärte die Bundesregierung auf Anfrage, dass das Bundesgesundheitsamt37 in Zusammenarbeit mit der Organisation homosexueller Männer ein Flugblatt erarbeitet habe, »das den hauptsächlich betroffenen Personenkreis vor der Erkrankung warnen« solle.38 Man wies aber auch daraufhin, dass § 7 BSeuchG dazu ermächtige, die Meldepflicht übertragbarer Erkrankungen auszudehnen, falls die epidemische Lage dies erfordere. Bislang habe man von einer Meldepflicht abgesehen, »um eine Diskriminierung Krankheitsverdächtiger zu vermeiden«39. Der Verweis auf das BSeuchG soll Vorbote der »inneren Zerrissenheit« der Debatte gewesen sein, die die politische Debatte noch Jahre prägen würde: Das BSeuchG habe ab dem Zeitpunkt »wie ein Damoklesschwert über den Aids-Debatten« geschwebt.40 Im weiteren Verlauf der Diskussion standen sich – verkürzt gesagt – Maximalisten und Minimalisten gegenüber41: Während Bayern auf umfassende staatliche Interventionen setzte und zu diesem Zweck seinen sogenannten Maßnahmenkatalog einführte, der ganz im Sinne des traditionellen Seuchenrechts auf Meldepflichten und Zwangsuntersuchungen setzte, kämpfte insbe-

34 Otfried Seewald, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte von Aids, in: Cornelius Prittwitz (Hrsg.), Aids, Recht und Gesundheitspolitik, Berlin 1990, S. 37, 60. 35 Jochen Hofmann, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Probleme der Virus-Erkrankung Aids unter besonderer Berücksichtigung des bayerischen Maßnahmenkatalogs, NJW 1988, 1486, 1489; Andreas Costard, Öffentlich-rechtliche Probleme beim Auftreten einer neuen übertragbaren Krankheit am Beispiel AIDS, Berlin 1989, S. 113. 36 Siehe bereits oben II. 1. 37 Das Amt wurde 1994 aufgelöst, das AIDS-Zentrum und das Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie wurden mit dem Robert Koch-Institut zusammengelegt. 38 BT-Drs. 10/174, S. 21. 39 BT-Drs. 10/174, S. 21. 40 Henning Tümmers, Aidspolitik. Bonn und der Umgang mit einer neuen Bedrohung, Archiv für Sozialgeschichte 2012, 231, 235. 41 Günter Frankenberg, Aids und Grundgesetz – eine Zwischenbilanz, in: Cornelius Prittwitz (Hrsg.), Aids, Recht und Gesundheitspolitik, Berlin 1990, S. 93ff.; Uta Gerhardt, Zur Effektivität der konkurrierenden Programme der AIDS-Kontrolle, in: Bernd Schünemann/ Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, Baden-Baden 1988, S. 73.

166

Andrea Kießling

sondere die Bundesgesundheitsministerin Süssmuth für Aufklärung und Selbsthilfe.

3.1

Aufklärung und Zusammenarbeit mit Betroffenengruppen

Im Jahr 1986 warnte der Ausschuss für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit: »Maßnahmen wie die Einführung einer Meldepflicht« nach den Bestimmungen des BSeuchG oder des GeschlKrG führten »angesichts des spezifischen Krankheitsbildes, bisher fehlender Heilungsmöglichkeiten sowie der langen Latenzzeit zwischen Infektion und möglichem Ausbruch zu gesundheitspolitisch kontraproduktiven und schädlichen Auswirkungen, weil ihre eigentlichen Ziele, Vermeidung neuer Infektionen und Erkennung der Infektionsquelle, nicht oder nicht mehr erreicht werden können«42. Sie habe zudem »gesellschaftspolitisch bedenkliche Folgen«43. Gewarnt wurde vor einer Stigmatisierung der Homosexuellen.44 Die Strategie, für die sich die Bundesregierung einsetzte, setzte auf drei Ebenen an: Sie bestand aus einer bevölkerungsweiten Aufklärung, zielgruppenspezifischen Kampagnen45 und persönlicher Beratung46. Man setzte dabei auf eine enge Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen, die auch finanziell gefördert wurden.47 Die Bundesgesundheitsministerin Süssmuth nannte dies selbst »neue Wege«, die dadurch im Seuchenschutz beschritten wurden.48 Vollständig war damit die Anwendung des BSeuchG für die Bundesregierung aber nicht vom Tisch: Anfang 1987 verwies sie darauf, dass jedenfalls bei »Personen, die trotz Kenntnis einer vorliegenden HIV-Infektion durch uneinsichtiges und rücksichtsloses Verhalten andere gefährden und AIDS dadurch weiter verbreiten«, von den Möglichkeiten des BSeuchG Gebrauch gemacht werden sollte.49 Das BSeuchG reiche aus, um gegen »Desperados« und Nichteinsichtige vorzugehen.50

42 BT-Drs. 10/6299, S. 4f. 43 BT-Drs. 10/6299, S. 5. 44 Dazu Henning Tümmers, Aidspolitik. Bonn und der Umgang mit einer neuen Bedrohung, Archiv für Sozialgeschichte 2012, 231, 239. Siehe aus damaliger Zeit Rita Süssmuth, AIDS, Hamburg 1987, S. 95ff. 45 Zur zielgruppenbezogenen Prävention bei Homosexuellen ausführlich Michael Bochow, AIDS-Prävention: Erfolgsgeschichte mit offenem Ausgang, APuZ 2010, Nr. 15–16, 41. 46 Michael T. Wright/Rolf Rosenbrock, Aids – Zur Normalisierung einer Infektionskrankheit, in: Günter Albrecht/Axel Groenemeyer (Hrsg.), Handbuch Soziale Probleme, Bd. I, Bd. II, 2. Aufl., Wiesbaden 2012, S. 195, 208. 47 Dazu ausführlich Rita Süssmuth, AIDS, Hamburg 1987, S. 101ff. 48 Rita Süssmuth, AIDS, Hamburg 1987, S. 101. 49 BT-Drs. 11/54, S. 14. 50 Rita Süssmuth, BR-Plenarpr. 580 v. 25. 9. 1987, S. 307.

Gesundheitsschutz durch Eingriff oder Aufklärung?

3.2

167

Verfassungsbeschwerde

In der Praxis blieb es jedoch bei Aufklärung und Förderung der Selbsthilfe. Die Gegner dieses Ansatzes erhoben Verfassungsbeschwerde, mit der sie die Einleitung von Gesetzgebungsmaßnahmen zur AIDS-Bekämpfung verlangten, die AIDS den im GeschlKrG aufgeführten Krankheiten gleichstellen sollten. Das BVerfG nahm jedoch im Jahr 1987 die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Es bewertete das Vorgehen der Bundesregierung nicht als evident unzureichend; ihr könne kein Untätigbleiben vorgeworfen werden. »Von einem Mißerfolg dieser [Aufklärungs-]Kampagne kann derzeit schon deshalb nicht gesprochen werden, weil insoweit Erfolge nur langfristig zu erwarten sind.«51 Diesen Satz wiederum kritisierten die Befürworter härterer Maßnahmen: Ein Weg, der von den »klassischen Methoden der Seuchenbekämpfung« abweiche und in erster Linie auf einen unerprobten Weg setze, könne »sehr wohl als evident unzulänglich« angesehen werden.52 Mit der staatlichen Schutzpflicht sei es nicht zu vereinbaren, auf eine Strategie zu setzen, bei der erst nach langer Zeit sichtbar werde, ob sie effektiv war.53

3.3

Der bayerische Weg

Diese Kritik stammte von Peter Gauweiler, der in Bayern für die Konzeption der AIDS-Strategie zuständig war. Die Schutzpflicht gebiete es, nicht nur auf Aufklärung zu setzen.54 Dazu erließ Bayern den sogenannten bayerischen Maßnahmenkatalog v. 19. 5. 198755, der in Form einer Verwaltungsvorschrift56 die Anwendung des BSeuchG in Bayern einheitlich regeln sollte. Die Strategie bestand darin, die »allgemeinen und seit Jahrzehnten vertrauten Grundsätze der

51 BVerfG v. 28. 7. 1987–1 BvR 842/87 – Rn. 8. 52 Hans-Ullrich Gallwas, Anmerkung zum Beschluß der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 28. 7. 1987, AIFO 1987, 524, 525. 53 Hans-Ullrich Gallwas, Anmerkung zum Beschluß der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 28. 7. 1987, AIFO 1987, 524, 525; Peter Gauweiler, Zur Notwendigkeit eines geschlossenen Gesamtkonzepts staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der Weltseuche AIDS, in: Bernd Schünemann/Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, Baden-Baden 1988, S. 37, 49. 54 Peter Gauweiler, Zur Notwendigkeit eines geschlossenen Gesamtkonzepts staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der Weltseuche AIDS, in: Bernd Schünemann/Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, Baden-Baden 1988, S. 37, 45. 55 MABl. S. 246. 56 VGH München, NJW 1988, 758. Zur Rechtsnatur des Maßnahmenkatalog ausführlich Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 26ff.

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Seuchenbekämpfung auf AIDS« zu übertragen.57 Mit anderen Worten: Der bayerische Weg knüpfte an die Tradition der Geschlechtskrankheitenbekämpfung an, die Maßnahmen konzentrierten sich auf Kontrolle und Zwang bei männlichen und weiblichen Prostituierten sowie bei Drogenabhängigen.58 Manche dachten darüber nach, wegen der Ähnlichkeit der Krankheiten die über das BSeuchG hinausgehenden Zwangsbefugnisse des GeschlKrG auch auf die AIDSBekämpfung heranzuziehen.59 3.3.1 Risikogruppenkonzept Teil von Bayerns Strategie war das sogenannte Risikogruppenkonzept: Adressaten von Seuchenbekämpfungsmaßnahmen sollten nicht allein Kranke und nachweislich Infizierte sein, sondern Maßnahmen sollten gegenüber den Angehörigen bestimmter Risikogruppen bereits in einem frühen Stadium allein aufgrund der Risikogruppenzugehörigkeit ergriffen werden. Mit »Risikogruppen« waren nicht – wie während der Corona-Epidemie – Personengruppen gemeint, die ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf der Krankheit hatten, sondern die als »Hauptbetroffenengruppen«60 galten, die also statistisch betrachtet am häufigsten infiziert waren. Dass sich Maßnahmen der Seuchenbekämpfung vorrangig an diejenigen richten, die infiziert sind, gebietet der Grundsatz der effektiven Gefahrenabwehr. Ob der Risikogruppenansatz wiederum effektiv ist, hängt maßgeblich davon ab, ob die Typisierung, die dahintersteckt, überhaupt tragfähig ist. Problematisch wird das Risikogruppenkonzept dann, wenn man sich nicht auf die konkreten Übertragungswege des Erregers konzentriert, sondern sich am von der Norm abweichenden Verhalten und traditionell verpönten Formen von Sexualität orientiert61 und letztlich – wie in Bayern geschehen – typisierend gesellschaftliche 57 Peter Gauweiler, Zur Notwendigkeit eines geschlossenen Gesamtkonzepts staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der Weltseuche AIDS, in: Bernd Schünemann/Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, Baden-Baden 1988, S. 37, 51. 58 Ulrike Lindner, Der Umgang mit neuen Epidemien nach 1945, in: Malte Thießen (Hrsg.), Infiziertes Europa: Seuchen im langen 20. Jahrhundert, Berlin 2014, S. 115, 132. 59 In diese Richtung Hans-Ullrich Gallwas, Gesundheitsrechtliche Aspekte der Bekämpfung von AIDS, AIFO 1986, 31, 37; rechtspolitisch gefordert von Eike v. Hippel, AIDS als rechtspolitische Herausforderung, ZRP 1987, 123, 129. Ablehnend Reingard Bruns, AIDS, Alltag und Recht, MDR 1987, 353; Wolf-Rüdiger Schenke, Rechtsfragen der Bekämpfung von AIDS, DVBl 1988, 165, 166. Vgl. auch den Antrag Bayerns zur Änderung des BSeuchG: BR-Drs. 294/87, abgedruckt bei Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 192ff. 60 Michael T. Wright/Rolf Rosenbrock, Aids – Zur Normalisierung einer Infektionskrankheit, in: Günter Albrecht/Axel Groenemeyer (Hrsg.), Handbuch Soziale Probleme, Bd. I, Bd. II, 2. Aufl., Wiesbaden 2012, S. 195, 198. 61 Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 87f.

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Randgruppen adressiert: Im Fokus aller Maßnahmen standen männliche und weibliche Prostituierten und Drogenabhängige. Als krank bzw. infiziert galten »die Anderen«62. Bei der Prostitution zeigte sich dies sehr deutlich auch daran, dass – wie bei der Geschlechtskrankheitenbekämpfung – nur die Prostituierten63, aber nicht die Freier im Fokus des Staates standen.64 Rechtlich drückte sich der bayerische Risikogruppenansatz in einem typisierenden Verständnis der Kategorie der Ansteckungsverdächtigen gem. § 2 Nr. 3 BSeuchG aus. Das BSeuchG sah – genau wie das IfSG heutzutage – verschiedene infektionsschutzrechtlich relevante Personengruppen vor, die im Schrifttum auch als »Störer« bezeichnet werden.65 Bei der Gruppe der Ansteckungsverdächtigen verlangte das BSeuchG66 – anders als bei Kranken (§ 2 lit. a) BSeuchG, bestätigten Infizierten mit Symptomen), Ausscheidern (§ 2 lit. d) BSeuchG, bestätigten Infizierten ohne Symptome) und Krankheitsverdächtigen (§ 2 lit. b) BSeuchG, unbestätigten Infizierten mit Symptomen) – weder Symptome noch einen positiven HIV-Test, sondern es genügte allein die Wahrscheinlichkeit, dass die Betroffenen Krankheitserreger aufgenommen hatten und deswegen infektiös waren. Eigentliche verlangte dies – wie im Gefahrenabwehrrecht üblich – eine konkret-individuelle Wahrscheinlichkeitsbeurteilung. Der bayerische Maßnahmenkatalog hingegen legte fest, dass als ansteckungsverdächtig iSd § 2 lit. c) BSeuchG alle »männlichen und weiblichen Prostituierten« und alle »intravenös Drogensüchtigen (Fixer)« gelten sollten (Teil A, Nr. 1). Die Behörden mussten also keinen sexuellen Kontakt zu einem Infizierten im Einzelfall nachweisen, sondern konnten auf die bloße Risikogruppenzugehörigkeit verweisen, um die Wahrscheinlichkeit der Erregeraufnahme annehmen zu dürfen. Ein solch pauschal konstruierter Ansteckungsverdacht über die »Risikogruppen«-Zugehörigkeit hat zunächst erhebliches Diskriminierungspotential.67 Es stellte sich auch die Frage, wie die Gruppenzugehörigkeit festgestellt werden sollte: Einige hielten es für ausreichend, dass jemand an Treffpunkten von Risikogruppen in den Großstädten der Bundesrepublik Deutschland angetroffen 62 Ulrike Lindner, Der Umgang mit neuen Epidemien nach 1945, in: Malte Thießen (Hrsg.), Infiziertes Europa: Seuchen im langen 20. Jahrhundert, Berlin 2014, S. 115, 130; Malte Thießen, Infizierte Gesellschaften: Sozial- und Kulturgeschichte von Seuchen, APuZ 2015, Nr. 20/21, 11, 13. 63 Vgl. dazu Peter Gauweiler, Zur Notwendigkeit eines geschlossenen Gesamtkonzepts staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der Weltseuche AIDS, in: Bernd Schünemann/Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, Baden-Baden 1988, S. 37, 44: »gefährlich« sei die »Promiskuität«. 64 Kritisch Christine Maring, BR-Plenarpr. 580 v. 25. 9. 1987, S. 301. 65 Dazu Andrea Kießling, in: dies. (Hrsg.), IfSG, 2. Aufl., München 2021, § 2 Rn. 18. 66 Vgl. jetzt § 2 Nr. 4–7 IfSG, zu einem wesentlichen Unterschied seit Geltung des IfSG unten IV. 2. 67 Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 82.

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wurde, um selbst als Angehöriger der Risikogruppe zu gelten.68 Aus rechtlicher Sicht stellt sich die Frage, ob die Kategorie des Ansteckungsverdachts überhaupt solche pauschalen Einstufungen erlaubt. Die damalige Literatur kritisierte69, dass – abgesehen von der fehlenden statistischen Stichhaltigkeit70 und der fehlenden Aufnahme der Freier in das Risikogruppenkonzept71 – die »abstrakte und generelle, verhaltensunabhängige gruppenspezifische Lokalisierung des Ansteckungsverdachts« nicht mit der grundsätzlich »krankheits- und gefahrenspezifischen Stoßrichtung« des BSeuchG zu vereinbaren sei.72 2020/2021 stellte sich ein vergleichbares Problem bei den Reiserückkehrern aus Risikogebieten im Ausland, die durch Verordnung unter Quarantäne gestellt wurden. Hier wurden im Rahmen des § 30 IfSG pauschal alle Reiserückkehrer zu Ansteckungsverdächtigen erklärt. Die Rechtsprechung hielt es für ausreichend, dass sich die dem zugrundeliegenden Annahme auf eine 7-Tages-Inzidenz von 50 Neuinfektionen aus 100.000 Einwohner bezog.73 Auch dies ist aus statistischer Sicht sehr fragwürdig – erscheint doch die Annahme der Aufnahme von Krankheitserregern bei dieser Größenordnung zwar als möglich, aber wohl nicht in der überwiegenden Anzahl der Fälle als wahrscheinlich. Die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe kann im Ergebnis nur ein erster Anhaltspunkt für die Annahme eines Ansteckungsverdachts sein, der durch

68 Hans-Ullrich Gallwas, Gesundheitsrechtliche Aspekte der Bekämpfung von AIDS, AIFO 1986, 31, 36; Jochen Hofmann, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Probleme der VirusErkrankung Aids unter besonderer Berücksichtigung des bayerischen Maßnahmenkatalogs, NJW 1988, 1486, 1491. Kritisch Barbara Breitbach/Michael Breitbach/Ulli F. H. Rühl, AIDS-Bekämpfung und Bundesseuchengesetz, KJ 1988, 62, 70f. 69 Den Ansteckungsverdacht bei Risikogruppen hingegen bejahend Andreas Costard, Öffentlich-rechtliche Probleme beim Auftreten einer neuen übertragbaren Krankheit am Beispiel AIDS, Berlin 1989, S. 88f. 70 Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 88ff. Weniger kritisch, aber eine eingehende Prüfung fordernd Wolfgang Loschelder, Die Bekämpfung von AIDS als gesundheitsrechtliches Problem, in: Bernd Schünemann/Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, Baden-Baden 1988, S. 153, 165; differenzierend auch Wolf-Rüdiger Schenke, Rechtsfragen der Bekämpfung von AIDS, DVBl 1988, 165, 168. 71 Barbara Breitbach/Michael Breitbach/Ulli F. H. Rühl, AIDS-Bekämpfung und Bundesseuchengesetz, KJ 1988, 62, 68. 72 Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 86. 73 Vgl. dazu die unterschiedlichen Sachverhalte bei OVG Lüneburg v. 11. 5. 2020 – 13 MN143/20 – Rn. 38, und OVG Lüneburg v. 5. 6. 2020 – 13 MN195/20 – Rn. 33f. Ausführlich zum typisierten Ansteckungsverdacht mwN aus der Rspr. ANDREA KIESSLING, in: dies. (Hrsg.), IfSG, München, 2. Aufl. 2021, § 30 Rn. 20a. Durch das Epi-Lage-FortgeltungsG v. 29. 3. 2021 (BGBl. I 370) wurde mittlerweile mit § 36 Abs. 8 S. 1 Nr. 1 IfSG eine Verordnungsermächtigung für die Bundesregierung für die Reiserückkehrerquarantäne geschaffen. Damit hat sich die Figur des typisierten Ansteckungsverdachts wohl erledigt.

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weitere Erkenntnisse untermauert werden muss.74 Darüber hinaus wurde damals kritisiert, dass es die Konkretisierungsbefugnis der Verwaltung überschreite, wenn durch Erlass ein nicht widerlegbarer Ansteckungsverdacht für bestimmte Gruppen festgeschrieben werde: Aus einer Ermessensvorschrift des BSeuchG werde so eine zwingende Vorschrift für die Risikogruppen.75 2020/2021 räumte man Reiserückkehrern zumindest die Möglichkeit ein, sich durch einen negativen Corona-Test von der Quarantäne »freizukaufen«. 3.3.2 Reihenuntersuchungen Bevor Schutzmaßnahmen ergriffen werden können, müssen in der Regel Ermittlungen angestellt werden, damit herausgefunden wird, wer infiziert ist. Teil der Ermittlungsmaßnahmen können körperliche Untersuchungen zum Nachweis des Erregers sein (§ 31 I BSeuchG76). Der bayerische Maßnahmenkatalog sah vor, dass bei allen Personen, bei denen anzunehmen war, dass sie ansteckungsverdächtig waren, eine Blutuntersuchung durchzuführen war (Teil A, Nr. 3.4). Dies betraf ausdrücklich Personen, bei denen »begründete Anhaltspunkte« dafür bestanden, dass sie der Prostitution nachgingen oder »intravenös drogensüchtig (Fixer)« waren (Teil A, Nr. 2). Die Wahrscheinlichkeit der Krankheitserregeraufnahme wurde hier also noch einmal abgesenkt, da nicht mehr die Zugehörigkeit zur Risikogruppe festgestellt werden musste, sondern begründete Anhaltspunkte für die Zugehörigkeit ausreichten. Das ist zwar insofern konsequent, als Ermittlungsmaßnahmen eine geringere Wahrscheinlichkeit bei der Gefahrenbeurteilung erfordern als Schutzmaßnahmen, wie es sich ausdrücklich aus § 31 I BSeuchG ergab: Ausreichend war die Annahme eines Ansteckungsverdachts, also der Verdacht eines Verdachts. Dies ist bei Ermittlungsmaßnahmen, die in der Terminologie des Gefahrenabwehrrechts Gefahrerforschungseingriffe darstellen, zunächst hinzunehmen77 und letztlich in der Natur der Sache angelegt, da man das Vorliegen der Voraussetzungen für Schutzmaßnahmen durch die Ermittlungsmaßnahme erst herausfinden will. Beim Verdacht eines Ansteckungsverdachts – und somit bei den Ermittlungsmaßnahmen – kann somit eher auf die Gruppenzugehörigkeit verwiesen werden als beim Ansteckungsverdacht

74 Barbara Breitbach/Michael Breitbach/Ulli F. H. Rühl, AIDS-Bekämpfung und Bundesseuchengesetz, KJ 1988, 62, 68. 75 Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 47. 76 Jetzt § 25 III 2 Nr. 1 IfSG. 77 Andrea Kießling, in: dies. (Hrsg.), IfSG, 2. Aufl., München 2021, § 25 Rn. 3, zur gleichlautenden Regelung in § 25 IfSG.

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selbst.78 Wird jedoch schon der Ansteckungsverdacht nur noch typisierend festgestellt wie beim Risikogruppenkonzept, führt dies in Einzelfällen zu einem nur noch sehr losen Zusammenhang mit einer Infektionsgefahr. So hielt es der VGH München für rechtmäßig, dass sich ein ehemaliger Drogensüchtiger, bei dem der letzte negative HIV-Test 14 Monate zurücklag, einer erneuten Untersuchung unterziehen musste – ohne dass der Betroffene in der Zwischenzeit erneut Drogen konsumiert hatte.79 Ziel solcher Tests sei es auch, »einen Überblick über die Ausbreitung des HIV-Virus in der Bevölkerung allgemein und in bestimmten Gruppen zu gewinnen«80. Dass § 31 I BSeuchG zu Untersuchungen zu statistischen Zwecken ermächtigte, ist allerdings mehr als fraglich. Die Literatur hielt solche Tests teils für verhältnismäßig81, andere hielten sie für gesundheits- und rechtspolitisch fragwürdig82: Es sei unklar, welche Erkenntnisse diese Reihentestungen bringen sollten und wie sie mittelbar zur Bekämpfung beitragen könnten, da es keine Heilungsmöglichkeiten gibt, außerdem könnte ein negatives Ergebnis – das nicht unbedingt aussagekräftig ist, weil es Monate dauern kann, bis Antikörper gebildet werden – als »Unbedenklichkeitsbescheinigung« betrachtet werden.83 Sie könnten somit sogar kontraproduktive Effekte haben.84 An anderer Stelle hingegen wurde sogar über Reihentests für die ganze Bevölkerung nachgedacht.85 Hierfür hätte es jedoch keine Rechtsgrundlage gegeben86, da solche bevölkerungsweiten Tests völlig ver78 Wolfgang Loschelder, Die Bekämpfung von AIDS als gesundheitsrechtliches Problem, in: Bernd Schünemann/Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, Baden-Baden 1988, S. 153, 164f. 79 VGH München, NJW 1988, 2318, 2320. 80 VGH München, NJW 1988, 2318, 2320. 81 Grundsätzlich für die Verhältnismäßigkeit Andreas Costard, Öffentlich-rechtliche Probleme beim Auftreten einer neuen übertragbaren Krankheit am Beispiel AIDS, Berlin 1989, S. 122. Differenzierend Dirk Müller, AIDS-Verhütung und -Bekämpfung: Handlungsmöglichkeiten der Gesundheitsbehörden nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG). Aktuelle Entwicklungen und Diskussionsstand, DVBl 1991, 143, 145. 82 Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 97. 83 Reingard Bruns, AIDS, Alltag und Recht, MDR 1987, 353, 354; Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 101ff. 84 Reingard Bruns, AIDS, Alltag und Recht, MDR 1987, 353, 354. 85 Gert G. Frösner, Wie kann die weitere Ausbreitung von AIDS verlangsamt werden?, AIFO 1987, 61, 64f.; Eike v. Hippel, AIDS als rechtspolitische Herausforderung, ZRP 1987, 123, 128; Andreas Costard, Öffentlich-rechtliche Probleme beim Auftreten einer neuen übertragbaren Krankheit am Beispiel AIDS, Berlin 1989, S. 142f.: zulässig mit dem Ziel, Unwissende über ihre Infektion zu informieren. Für unzulässig wurden solche Tests gehalten von Reingard Bruns, AIDS, Alltag und Recht, MDR 1987, 353, 354; Wolf-Rüdiger Schenke, Die Bekämpfung von AIDS als verfassungsrechtliches und polizeirechtliches Problem, in: Bernd Schünemann/GerdPfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, Baden-Baden 1988, S. 147. 86 Wolfgang Loschelder, Die Bekämpfung von AIDS als gesundheitsrechtliches Problem, in: Bernd Schünemann/Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, Baden-Baden 1988, S. 153, 169, für die Generalklausel des § 34 BSeuchG.

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dachtslos gewesen wären und somit die Voraussetzungen des § 31 I BSeuchG nicht vorgelegen hätten. 3.3.3 Kondompflicht für ansteckungsverdächtige Prostituierte Personen, die auf dieser Grundlage getestet wurden, blieben laut Maßnahmenkatalog auch bei einem negativen Test ansteckungsverdächtig (Teil A, Nr. 4) – allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Risikogruppe. Für ansteckungsverdächtige Prostituierte in diesem Sinne sah der Maßnahmenkatalog eine Kondompflicht vor (Teil A, Nr. 4). In der Literatur hielt man eine solche Pflicht wegen der »geringe[n] Schutzinteressen der Prostituierten«87 – was auch immer das bedeuten sollte – für zulässig.88 Andere hielten eine Kondompflicht nur für nachweislich Infizierte für möglich89, bei negativem Test lägen die Voraussetzungen (Störereigenschaft) nicht vor.90 Kritisiert wurde auch, dass die Kondompflicht nur für Prostituierte und nicht für Freier gelten sollte.91 3.3.4 Schutzmaßnahmen gegenüber Infizierten Sobald sich ein Ansteckungsverdacht durch einen positiven HIV-Test bestätigt hatte, sollten gegenüber Infizierten, die wahrscheinlich nicht von allein die »entsprechenden Verhaltensregeln« einhielten, bestimmte Schutzmaßnahmen angeordnet werden (Teil A, Nr. 5). Dazu waren im Maßnahmenkatalog ein Blutspendeverbot, ein Stillverbot, eine Aufklärungspflicht über die Infektion gegenüber medizinischem Personal und dem Intimpartner und ein Berufsverbot für Prostituierte vorgesehen, die gestützt auf die Generalklausel angeordnet werden sollten (Teil A, Nr. 5.2.1). Für Berufsverbote war dies zunächst deswegen überraschend, weil § 38 BSeuchG eine besondere Ermächtigungsgrundlage hierfür enthielt. Die hielt man aber für nicht einschlägig mit der Begründung, dass Prostitution wegen der vermeintlichen Sittenwidrigkeit keinen Beruf dar87 Andreas Costard, Öffentlich-rechtliche Probleme beim Auftreten einer neuen übertragbaren Krankheit am Beispiel AIDS, Berlin 1989, S. 124. 88 Zur Kondompflicht auch Martina Rübsaamen, Der Ansteckungsverdacht im Sinne des Bundes-Seuchengesetzes insbesondere im Zusammenhang mit AIDS, AIFO 1987, 276, 278. 89 Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 124. 90 Barbara Breitbach/Michael Breitbach/Ulli F. H. Rühl, AIDS-Bekämpfung und Bundesseuchengesetz, KJ 1988, 62, 75; Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 124. 91 Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 124f.; ausführlich Barbara Breitbach/Michael Breitbach/Ulli F. H. Rühl, AIDS-Bekämpfung und Bundesseuchengesetz, KJ 1988, 62 (76). Dazu auch Dirk Müller, AIDS-Verhütung und -Bekämpfung: Handlungsmöglichkeiten der Gesundheitsbehörden nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG). Aktuelle Entwicklungen und Diskussionsstand, DVBl 1991, 143, 147 mwN.

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stelle.92 Der maßgebliche Unterschied lag aus Betroffenensicht wiederum darin, dass Tätigkeitsverbote, die auf der Grundlage des § 38 BSeuchG ausgesprochen worden wären, einen Entschädigungsanspruch ausgelöst hätten (§ 49 BSeuchG).93 Anordnungen aufgrund der Generalklausel taten dies nicht. Von anderen wurde überlegt, wie die Prostitution als geduldete (aber nicht erlaubte) Tätigkeit doch unter § 38 BSeuchG subsumiert werden könnte, weil dadurch eine andere »Privilegierung«94 vermieden worden wäre: Verstöße gegen ein Tätigkeitsverbot gem. § 38 BSeuchG hätten den Straftatbestand des § 64 II Nr. 5 BSeuchG erfüllt und nicht nur eine Ordnungswidrigkeit gem. § 69 I Nr. 4 BSeuchG dargestellt.95 Bei den Befürwortern dieses rigorosen Vorgehens wurde also überlegt, wie man über die belastende Wirkung des Tätigkeitsverbots hinaus einen möglichst weitgehenden weiteren belastenden Effekt für die Betroffenen erzielen könnte. Andere befürchteten, Berufsverbote könnten Prostituierte – insbesondere wenn keine Entschädigung vorgesehen sei – in den Untergrund drängen96; eine Entschädigung könne als »Ausstiegshilfe« dienen.97 Bei diesen Berufsverboten zeigte sich außerdem erneut die diskriminierende Schieflage zulasten der Prostituierten: Freier wurden nicht in entsprechender Weise adressiert98, ihnen wurde es nicht verboten, die Dienste von Prostituierten in Anspruch zu nehmen. Einige waren sogar der Ansicht, die staatliche Schutzpflicht zugunsten der Ehepartnerinnen der Freier und auch der übrigen Bevölkerung gebiete die Anordnung von Berufsverboten gegenüber Prostituierten.99 92 Andreas Costard, Öffentlich-rechtliche Probleme beim Auftreten einer neuen übertragbaren Krankheit am Beispiel AIDS, Berlin 1989, S. 133. 93 Dies offenbar übersehend Wolfgang Schumacher/Egon Meyn, BSeuchG, 3. Aufl., Köln 1987, § 38, S. 105, 4. Aufl., Köln 1997, § 38, S. 112: Es könne offenbleiben, ob Prostitution ein Beruf sei, da ein Tätigkeitsverbot jedenfalls nach § 34 angeordnet werden könne (vgl. auch ebenda, 3. Aufl., § 34, S. 97; 4. Aufl., § 34, S. 104). 94 Wolfgang Loschelder, Die Bekämpfung von AIDS als gesundheitsrechtliches Problem, in: Bernd Schünemann/Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, Baden-Baden 1988, S. 153, 167; Wolf-Rüdiger Schenke, Rechtsfragen der Bekämpfung von AIDS, DVBl 1988, 165, 170. 95 Martina Rübsaamen, Der Ansteckungsverdacht im Sinne des Bundes-Seuchengesetzes insbesondere im Zusammenhang mit AIDS, AIFO 1987, 276, 279; Wolfgang Loschelder, Die Bekämpfung von AIDS als gesundheitsrechtliches Problem, in: Bernd Schünemann/Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, Baden-Baden 1988, S. 153, 167. 96 Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 129f.; ähnlich Wolf-Rüdiger Schenke, Rechtsfragen der Bekämpfung von AIDS, DVBl 1988, 165, 170. 97 Dirk Müller, AIDS-Verhütung und -Bekämpfung: Handlungsmöglichkeiten der Gesundheitsbehörden nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG). Aktuelle Entwicklungen und Diskussionsstand, DVBl 1991, 143, 147. 98 Kritisch Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 128. 99 Andreas Costard, Öffentlich-rechtliche Probleme beim Auftreten einer neuen übertragbaren Krankheit am Beispiel AIDS, Berlin 1989, S. 134f.

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Auch die Aufklärungspflichten gegenüber Intimpartnern wurden kontrovers diskutiert: Während manche sie für verhältnismäßig und die Heranziehung der Generalklausel für zulässig hielten100, sahen andere einen intensiven Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, wofür man eine besondere gesetzliche Grundlage bräuchte.101 Man würde außerdem eine »fragwürdige Gelegenheit zur denunziatorischen Aufarbeitung von Beziehungskonflikten«102 schaffen. Nachgedacht wurde schließlich auch über eine »Kasernierung« infizierter Prostituierter103 im Wege der Absonderung gem. § 37 BSeuchG. Der Maßnahmenkatalog präzisierte § 37 BSeuchG dahingehend, dass dies bei HIV-Infizierten, »die nachweisbar uneinsichtig sind, z. B. weil sie wiederholt seuchenrechtlichen Anordnungen zuwidergehandelt haben und dadurch HIV weiterverbreiten und andere gefährden«, möglich wäre (Teil A, Nr. 7). Peter Gauweiler verstieg sich sogar zu der darüber hinausgehenden Aussage, bei Uneinsichtigkeit sehe das Gesetz zwingend die Absonderung vor, den Behörden stünde kein Ermessen zu.104 Eine Absonderung in der häuslichen Wohnung sei nicht ausreichend, deswegen müsse die Absonderung in einer Einrichtung erfolgen. Für wie lange eine solche Absonderung in Betracht käme, blieb offen, der zeitliche Aspekt wurde in Gauweilers Ausführungen nur gestreift: Zwar wies er daraufhin, dass die notwendige richterliche Anordnung zunächst nur für ein Jahr gelte, sie könne aber verlängert werden.105 Offen blieb dadurch, ob tatsächlich eine dauerhafte Absonderung hätte möglich sein sollen. 3.3.5 Meldepflicht Diskutiert wurde schließlich auch darüber, ob eine Meldepflicht für HIV-Infektionen und AIDS-Erkrankungen eingeführt werden sollte. Bayern wollte eine solche – die bei »Uneinsichtigen« sogar wie im GeschlKrG seit Jahrzehnten geregelt106 namentlich erfolgten sollte – im BSeuchG verankert wissen.107 Manche 100 Andreas Costard, Öffentlich-rechtliche Probleme beim Auftreten einer neuen übertragbaren Krankheit am Beispiel AIDS, Berlin 1989, S. 125. 101 Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 113. 102 Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 113. 103 Peter Gauweiler, »Kasernierung« von Aidskranken Prostituierten?, ZRP 1989, 85. Vgl. auch Eike v. Hippel, AIDS als rechtspolitische Herausforderung, ZRP 1987, 123 (129). 104 Peter Gauweiler, »Kasernierung« von Aidskranken Prostituierten?, ZRP 1989, 85, 88f. 105 Peter Gauweiler, »Kasernierung« von Aidskranken Prostituierten?, ZRP 1989, 85, 89. 106 BR-Plenarpr. 580 v. 25. 9. 1987, S. 298. 107 BR-Drs. 294/87, Nr. 3a, abgedruckt bei Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 192ff. Für zulässig hielt dies Andreas Costard, Öffentlich-rechtliche Probleme beim Auftreten einer neuen übertragbaren Krankheit am Beispiel AIDS, Berlin 1989, S. 145f.

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hielten eine namentliche Meldepflicht sogar für verfassungsrechtlich geboten.108 Andere differenzierten und forderten jedenfalls eine anonyme Meldepflicht.109 Bereits die Diskussionen über eine Meldepflicht ließ wohl die Bereitschaft sinken, sich freiwillig testen zu lassen; einer solchen Pflicht wurde ein hohes Diskriminierungspotential wegen der damit verbundenen Assoziation mit den Risikogruppen attestiert.110

3.4

Die Besonderheiten von AIDS und evidenzbasierte Konzepte

HIV und AIDS weisen insofern Besonderheiten auf, als die Inkubationszeit im Vergleich zu anderen Krankheiten sehr lang ist – es dauert nicht Tage oder Wochen, bis nach einer Infektion die Krankheit ausbricht, sondern ggf. Jahre. In dieser Zeit sind die Betroffenen aber schon ansteckend. Bis zum Auftauchen von AIDS bekannte Krankheiten führten entweder schnell zum Tod oder waren behandelbar. Von dieser Ausgangslage her war das BSeuchG konzipiert, die Befugnisse der Behörden waren vor diesem Hintergrund zu lesen. Bei AIDS handelte es nun sich um ein »medizingeschichtlich neuartiges Phänomen«111; auf lebenslang Ansteckende und unheilbare Kranke war das BSeuchG nicht ausgerichtet112, auch wenn sich dies nicht im Wortlaut der Ermächtigungsgrundlagen ausdrückte. Andere sahen eine solche Begrenzung des BSeuchG nicht: Sein Zweck wäre der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung; die Maßnahmen des Gesetzes seien nicht auf den Schutz des ansteckenden Betroffenen zugeschnitten.113 Soweit dies jedoch bedeuten sollte, dass das BSeuchG dadurch eine gewisse 108 Hans-Ullrich Gallwas, Defizite des seuchenrechtlichen Instrumentariums bei der Bekämpfung von AIDS, in: Wolfgang Klietmann (Hrsg.), AIDS, Stuttgart, New York 1987, S. 105, 114. Ablehnend Andreas Costard, Öffentlich-rechtliche Probleme beim Auftreten einer neuen übertragbaren Krankheit am Beispiel AIDS, Berlin 1989, S. 147. Differenzierend Wolfgang Loschelder, Die Bekämpfung von AIDS als gesundheitsrechtliches Problem, in: Bernd Schünemann/Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, Baden-Baden 1988, S. 153, 157ff. Ähnlich – und im Ergebnis dann ablehnend – Dirk Müller, AIDSVerhütung und -Bekämpfung: Handlungsmöglichkeiten der Gesundheitsbehörden nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG). Aktuelle Entwicklungen und Diskussionsstand DVBl 1991, 143, 146. 109 Eike v. Hippel, AIDS als rechtspolitische Herausforderung, ZRP 1987, 123, 127. 110 Wolf-Rüdiger Schenke, Rechtsfragen der Bekämpfung von AIDS, DVBl 1988, 165, 174. 111 Günter Frankenberg, Aids und Grundgesetz – eine Zwischenbilanz, in: Cornelius Prittwitz (Hrsg.), Aids, Recht und Gesundheitspolitik, Berlin 1990, S. 93, 98. 112 Reingard Bruns, AIDS, Alltag und Recht MDR 1987, 353f.; Günter Frankenberg, AIDSBekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 68. 113 Wolfgang Loschelder, Die Bekämpfung von AIDS als gesundheitsrechtliches Problem, in: Bernd Schünemann/Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, Baden-Baden 1988, S. 153, 158. Vgl. auch Wolfgang Schumacher/Egon Meyn, BSeuchG, 4. Aufl., Köln 1997, § 34, S. 105: Hielte man das BSeuchG auf AIDS wegen der Unheilbarkeit für nicht

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Blindheit für die individuellen Belange des Ansteckenden aufgewiesen hätte, wäre dies nicht mit den Grundrechten vereinbar gewesen. Eine weitere Besonderheit weist der Übertragungsweg auf: Die Übertragung von HIV beschränkt sich auf einige wenige Sachverhaltskonstellationen, man kann HIV/AIDS somit nicht einfach mit anderen Infektionskrankheiten gleichsetzen.114 Man konnte sogar andersherum fragen: Hatte der Gesetzgeber für sexuell übertragbare Krankheiten nicht gerade das GeschlKrG geschaffen, was aber ja nicht anwendbar war?115 War also vielleicht die Anwendung des BSeuchG wegen der Existenz des GeschlKrG ausgeschlossen? Jedenfalls war der Verweis der Maximalisten auf die »traditionellen und bewährten« Konzepte der Seuchenbekämpfung irreführend, weil diese Konzepte für ganz andere Krankheiten entwickelt worden waren.116 Bei der konkreten Anwendung des BSeuchG hätte man jedenfalls – so die Kritiker – den Übertragungsweg berücksichtigen müssen. So konnte man schon bezweifeln, dass eine nachgewiesene HIV-Infektion – also die Aufnahme des Krankheitserregers – den Schluss auf eine Übertragung des Erregers im Sinne des gefahrenabwehrrechtlichen Gefahrbegriffs erlaubte.117 Bei Erregern, die durch soziale Kontakte übertragen wird, ist dies der Fall, aber bei HIV wird eine Übertragung erst dann wahrscheinlich, wenn ein bestimmtes Verhalten hinzukommt. Der Begriff des Ausscheiders (also des symptomlos Infizierten) berücksichtigte dies nicht. Andere argumentierten ähnlich: Für die Annahme, dass jemand Störer sei, sei es nicht ausreichend, dass eine Person grundsätzlich die Gefahr verursache, sondern die Verursachung müsse unmittelbar erfolgen. Dies wäre nicht der Fall, wenn eine weitere Person selbstverantwortlich durch die Zustimmung zu ungeschütztem Geschlechtsverkehr die letzte Ursache setze.118 Es sei »rechtlich unzulässig, die Gesamtheit der Nicht-Infizierten als willenlose Werkzeuge der genannten Risiko- und Störergruppen zu betrachten«119. Die

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anwendbar, schaffe man ein Sonderseuchenrecht; schon die Tatsache, dass für sexuell übertragbare Krankheiten zwei verschiedene Gesetze gölten, sei bedauerlich. Otfried Seewald, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte von Aids, in: Cornelius Prittwitz (Hrsg.), Aids, Recht und Gesundheitspolitik, Berlin 1990, S. 37, 52. Vgl. Norbert Schmacke, Aids und Seuchengesetze: Anmerkungen zu historischen Erfahrungen bei der »Bekämpfung« von Infektionskrankheiten, in: Cornelius Prittwitz (Hrsg.), Aids, Recht und Gesundheitspolitik, Berlin 1990, S. 17, 18. Norbert Schmacke, Aids und Seuchengesetze: Anmerkungen zu historischen Erfahrungen bei der »Bekämpfung« von Infektionskrankheiten, in: Cornelius Prittwitz (Hrsg.), Aids, Recht und Gesundheitspolitik, Berlin 1990, S. 17, 18ff. So Barbara Breitbach/Michael Breitbach/Ulli F. H. Rühl, AIDS-Bekämpfung und Bundesseuchengesetz, KJ 1988, 62, 66. Otfried Seewald, Zur Verantwortlichkeit des Bürgers nach dem Bundes-Seuchengesetz, NJW 1987, 2265, 2274. Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 94. Ähnlich Otfried Seewald, Zur Verantwortlichkeit des Bürgers nach dem Bundes-

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Bevölkerung könne sich – in den allermeisten Fällen120 – auch ohne staatliche Zwangsmaßnahmen selbst schützen.121 Auch Zweckveranlasser seien HIV-Infizierte nicht.122 Andere verwiesen darauf, dass das BSeuchG eigene Störerkategorien verwende, die die traditionelle Störerbestimmung des Ordnungsrechts verdränge123; HIV-Infizierte nicht als seuchenrechtlich verantwortlich anzusehen, stehe im Widerspruch zum Wortlaut der Vorschriften bzw. dem Begriff des Ansteckungsverdachts124 und verkenne außerdem die Bedeutung der polizeirechtlichen Kausalitätstheorien.125 Jedenfalls ergebe sich aus solchen Überlegungen nicht eine Reduktion der seuchenrechtlichen Befugnisse.126

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Seuchengesetz, NJW 1987, 2265, 2274; Jochen Hofmann, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Probleme der Virus-Erkrankung Aids unter besonderer Berücksichtigung des bayerischen Maßnahmenkatalogs, NJW 1988, 1486, 1492. Ausnahmen bilden Gewalttaten (wie Vergewaltigungen) und untreue Partner*innen (Otfried Seewald, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte von Aids, in: Cornelius Prittwitz (Hrsg.), Aids, Recht und Gesundheitspolitik, Berlin 1990, S. 37, 42), außerdem gab es auch schon Übertragungen durch verseuchte Blutkonserven. Otfried Seewald, Zur Verantwortlichkeit des Bürgers nach dem Bundes-Seuchengesetz, NJW 1987, 2265, 2274; Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, BadenBaden 1988, S. 94; Barbara Breitbach/Michael Breitbach/Ulli F. H. Rühl, AIDSBekämpfung und Bundesseuchengesetz, KJ 1988, 62, 77. Zusammenfassen ließ sich diese Aussage in dem Satz: »AIDS bekommt man nicht, AIDS holt man sich.« (so Rita Süssmuth, AIDS, Hamburg 1987, S. 70f.). Otfried Seewald, Zur Verantwortlichkeit des Bürgers nach dem Bundes-Seuchengesetz, NJW 1987, 2265, 2274; Jochen Hofmann, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Probleme der Virus-Erkrankung Aids unter besonderer Berücksichtigung des bayerischen Maßnahmenkatalogs, NJW 1988, 1486, 1492; Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 94. Wolfgang Loschelder, Die Bekämpfung von AIDS als gesundheitsrechtliches Problem, in: Bernd Schünemann/Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, Baden-Baden 1988, S. 153, 163f. Wolf-Rüdiger Schenke, Rechtsfragen der Bekämpfung von AIDS, DVBl 1988, 165, 168. Wolf-Rüdiger Schenke, Rechtsfragen der Bekämpfung von AIDS, DVBl 1988, 165, 168; allgemein ablehnend auch Dirk Müller, AIDS-Verhütung und -Bekämpfung: Handlungsmöglichkeiten der Gesundheitsbehörden nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG). Aktuelle Entwicklungen und Diskussionsstand DVBl 1991, 143, 144f. Wolfgang Loschelder, Die Bekämpfung von AIDS als gesundheitsrechtliches Problem, in: Bernd Schünemann/Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, Baden-Baden 1988, S. 153, 164. – Beim Lesen dieser Literatur aus den 1980er Jahren zeigt sich deutlich, dass damals das Verhältnis des BSeuchG zum allgemeinen Gefahrenabwehrrecht – insbesondere bei der Bestimmung von seuchenrechtlicher Gefahr und seuchenrechtlich Verantwortlichen – nur im Ansatz geklärt war. Da das BSeuchG ab den 1990er Jahren wieder zurück in seinen Dornröschenschlaf fiel, kam es auch später nie zu dieser Klärung. Im Jahr 2020 stellte sich deswegen erneut die Frage, ob die infektionsschutzrechtlich relevanten Personengruppen unabhängig vom allgemeinen Gefahrenabwehrrecht oder unter Heranziehung der dort bekannten Kategorien – wie insbesondere des »Nichtstörers« – bestimmt werden (dazu Andrea Kießling, in: dies. (Hrsg.), IfSG, 2. Aufl., München 2021, Einf. Rn. 27, § 28 Rn. 6ff.).

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Insbesondere bei der Diskussion um die Absonderung Infizierter wurde deutlich, wie groß die Unterschiede zwischen Maximalisten und Minimalisten waren: Dass dieser intensivste Grundrechtseingriff, den das BSeuchG allgemein vorsah, bei HIV-Infizierten unverhältnismäßig sein musste127, lag für die Kritiker aus der Rechtswissenschaft auf der Hand. Sie beriefen sich auf den Übertragungsweg128 und auf die Tatsache, dass AIDS nicht heilbar ist129. Hauptkritikpunkte am bayerischen Risikogruppenkonzept waren außerdem die Stigmatisierung der Risikogruppen und die fehlende Evidenzbasierung. Man warf Bayern zunächst vor, Infizierte und Erkrankte ausgrenzen, in letzter Konsequenz gar einsperren zu wollen.130 Da dies hauptsächlich Homosexuelle, Prostituierte und Drogensüchtige traf, also Personen, die unabhängig von der Übertragung von HIV Stigmatisierung ausgesetzt waren, war auch von einem »Kreuzzug gegen Unmoral«131 die Rede. In der Strategie Bayerns zeigte sich ein typischer Umgang mit neuen Seuchen, »bei denen ein Großteil der Bevölkerung die Bedrohung auf andere Risikogruppen begrenzen möchte. Die Infektion wird zudem als Preis für das Überschreiten bestimmter Regeln identifiziert, selbst wenn das medizinisch und epidemiologisch nicht zu begründen ist.«132 Hinter »angeblichen seuchenpolitischen Forderungen« steckten somit »nicht selten sittenpolitische Zielvorstellungen«133. Als Bayern versuchte, durch Gesetzesänderungsanträge Anpassungen im Seuchenrecht vorzunehmen, wurde diesen Anträgen attestiert, dass ihnen »die straffe Hand eines Ordnungspolitikers« 127 Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 122; Otfried Seewald, Zur Verantwortlichkeit des Bürgers nach dem Bundes-Seuchengesetz, NJW 1987, 2265, 2273; Jochen Hofmann, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Probleme der Virus-Erkrankung Aids unter besonderer Berücksichtigung des bayerischen Maßnahmenkatalogs, NJW 1988, 1486, 1492; Reingard Bruns, AIDS, Alltag und Recht, ZRP 1989, 241; Dirk Müller, AIDS-Verhütung und -Bekämpfung: Handlungsmöglichkeiten der Gesundheitsbehörden nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG). Aktuelle Entwicklungen und Diskussionsstand, DVBl 1991, 143, 148. 128 Jedenfalls in diese Richtung Wolf-Rüdiger Schenke, Rechtsfragen der Bekämpfung von AIDS, DVBl 1988, 165, 169, der aber Absonderungen trotzdem nicht für unzulässig hielt. Er forderte für Absonderungen in jedem Fall eine richterliche Anordnung (170), eine Forderung, die im Jahr 2020 komplett ignoriert wurde (vgl. aber Andrea Kießling, in: dies. (Hrsg.), IfSG, 2. Aufl., München 2021, § 30 Rn. 29ff.; dies., Verfassungsblog v. 2. 7. 2020). 129 Otfried Seewald, Zur Verantwortlichkeit des Bürgers nach dem Bundes-Seuchengesetz, NJW 1987, 2265, 2272. Anders Andreas Costard, Öffentlich-rechtliche Probleme beim Auftreten einer neuen übertragbaren Krankheit am Beispiel AIDS, Berlin 1989, S. 109: § 37 BSeuchG lasse sich nicht entnehmen, dass eine Absonderung nur bei heilbaren Krankheiten zulässig sei, weil sonst lebenslange Absonderung drohe; die Vorschrift sei also auch bei AIDS anwendbar. 130 Christine Maring, BR-Plenarpr. 580 v. 25. 9. 1987, S. 300. 131 Wolf-Rüdiger Schenke, Rechtsfragen der Bekämpfung von AIDS, DVBl 1988, 165, 169. 132 Ulrike Lindner, Der Umgang mit neuen Epidemien nach 1945, in: Malte Thießen (Hrsg.), Infiziertes Europa: Seuchen im langen 20. Jahrhundert, Berlin 2014, S. 115, 130. 133 Reingard Bruns, AIDS, Alltag und Recht, MDR 1987, 353.

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anzumerken sei, der weiß, wie »man ›unerwünschte Elemente‹ aus dem Straßenbild einer Stadt entfernt«134. Sexualität sei außerdem nicht auf dem Verordnungswege zu reglementieren135; man müsse die Krankheit, nicht Menschen bekämpfen.136 Es könne davon ausgegangen werden, dass »seuchenpolizeiliche Interventionen an subkulturellen Milieus abprallen und eher kontraproduktiv wirken«137, da sie stigmatisierend seien. Ganz allgemein seien Zwangsmaßnahmen ungeeignet bei einem Erreger, der über intime Kontakte übertragen wird.138 Die Art der Übertragung des Erregers liege in dem »naturgemäß staatlicher Intervention und Kontrolle entzogenen Intimbereich«139. Bei intravenös Drogenabhängigen bestünden schon bei der allgemeinen Drogenpolitik Probleme; die Generalprävention schlage fehl.140

4

AIDS und das IfSG heutzutage: die Durchsetzung der Minimalisten

Die AIDS-Prävention gilt als der erfolgreichste Anwendungsfall bevölkerungsbezogener Verhaltensbeeinflussung in der Geschichte von Public Health141; die Prävention von Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist weit davon entfernt, vergleichbare Erfolge zu erzielen. Anfang der 1990er Jahre wurde klar, dass die befürchtete Epidemie – jedenfalls in der erwarteten Größenordnung – ausblieb. Hinzu kam, dass durch Arzneimittel die Folgen der HIV-Infektion abgemildert werden konnten und hierdurch eine Lebenszeitverlängerung ermöglicht wurde.142 Eine neue Therapiemöglichkeit seit 1996 – der Einsatz antiretroviraler Medikamente – führte dazu, dass eine Infektion nicht mehr gleichbedeutend mit dem Ausbruch von AIDS war.143 Dadurch wurde auch die »Medizin wieder zur

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Hermann Heinemann, BR-Plenarpr. 580 v. 25. 9. 1987, S. 303. Hermann Heinemann, BR-Plenarpr. 580 v. 25. 9. 1987, S. 304. Rita Süssmuth, BR-Plenarpr. 580 v. 25. 9. 1987, S. 306. Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 68; ders., Aids und Grundgesetz. Eine Zwischenbilanz, ZRP 1989, 412, 414. Ablehnend Andreas Costard, Öffentlich-rechtliche Probleme beim Auftreten einer neuen übertragbaren Krankheit am Beispiel AIDS, Berlin 1989, S. 118f. Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 21. Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 68f., 88. Michael T. Wright/Rolf Rosenbrock, Aids – Zur Normalisierung einer Infektionskrankheit, in: Günter Albrecht/Axel Groenemeyer (Hrsg.), Handbuch Soziale Probleme, Bd. I, Bd. II, 2. Aufl., Wiesbaden 2012, S. 195, 213. Henning Tümmers, Aidspolitik. Bonn und der Umgang mit einer neuen Bedrohung, Archiv für Sozialgeschichte 2012, S. 231, 248ff. Michael Bochow, AIDS-Prävention: Erfolgsgeschichte mit offenem Ausgang, APuZ 2010, Nr. 15–16, 41, 43.

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entscheidenden Instanz der Krankheitsbewältigung«144. Außerdem machten Bekämpfungsvorschriften mit zwangsweisen Absonderungsmaßnahmen noch weniger Sinn.145 In der Praxis setzte sich die Strategie der Minimalisten – wohl sowohl aus Gründen der Effizienz als auch aus grundrechtlichen Erwägungen146 – schließlich durch.147 Im Jahr 1990 legte die Enquete-Kommission »Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung« drei Jahre nach ihrer Konstituierung ihren Endbericht vor, der auch die Diskussion innerhalb der Rechtswissenschaft aufarbeitete und selbst eine Einschätzung der Rechtmäßigkeit einzelner Schutzmaßnahmen abgab.148 Die Kommission war sich dabei in einigen Punkten – z. B. den Absonderungen149 – nicht einig, dementsprechend breit bzw. differenziert waren auch die Empfehlungen.150 Im Jahr 2000 wurde dann das Seuchenrecht reformiert, das neue IfSG löste das BSeuchG151 und das GeschlKrG ab. Eine Meldepflicht für HIV/AIDS wurde nicht geregelt152; für die früher im GeschlKrG aufgeführten Krankheiten wurde sie nicht ins IfSG übernommen. Im Jahr 2016 wurde außerdem das ProstSchG153 verabschiedet154, das einzelne infektionsschutzrechtliche Bestimmungen im Zusammenhang mit der Prostitutionsregulierung enthält.

144 Michael T. Wright/Rolf Rosenbrock, Aids – Zur Normalisierung einer Infektionskrankheit, in: Günter Albrecht/Axel Groenemeyer (Hrsg.), Handbuch Soziale Probleme, Bd. I, Bd. II, 2. Aufl., Wiesbaden 2012, S. 195, 211. 145 Ulrike Lindner, Der Umgang mit neuen Epidemien nach 1945, in: Malte Thießen (Hrsg.), Infiziertes Europa: Seuchen im langen 20. Jahrhundert, Berlin 2014, S. 115, 134. 146 Michael T. Wright/Rolf Rosenbrock, Aids – Zur Normalisierung einer Infektionskrankheit, in: Günter Albrecht/Axel Groenemeyer (Hrsg.), Handbuch Soziale Probleme, Bd. I, Bd. II, 2. Aufl., Wiesbaden 2012, S. 195, 214. 147 Kritisch Reinhard Dennin/Michael Lafrenz/Arndt Sinn, Die Prävention der HIVInfektion: Ethik und Recht sind nicht mehr gefragt?, MedR 2009, 457. 148 BT-Drs. 11/7200, S. 175ff. 149 BT-Drs. 11/7200, S. 182f. 150 BT-Drs. 11/7200, S. 189f. 151 Der bayerische Maßnahmenkatalog galt bis zum Inkrafttreten des IfSG (https://www.suedde utsche.de/bayern/massnahmenkatalog-gegen-hiv-als-die-csu-in-den-krieg-gegen-aids-zog -1.1292107 – letzter Zugriff 16. 1. 2021), wurde aber wohl schon in den 1990er Jahren nicht mehr konsequent angewendet. 152 Kritisch Reinhard Dennin/Michael Lafrenz/Arndt Sinn, Die Prävention der HIVInfektion: Ethik und Recht sind nicht mehr gefragt?, MedR 2009, 457, 458. 153 Gesetz zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen (Prostituiertenschutzgesetz) v. 21. 10. 2016, BGBl. I S. 2372. 154 Ausführlich zum Ansatz des Gesetzes Stephan Rixen, Gewerberecht der Sexualität: Das Prostituiertenschutzgesetz, WiVerw 2018, 127; Caroline Mindach, Die Regulierung des Prostitutionsgewerbes – Zwischen Ordnungsrecht und Schutzgedanke, NordÖR 2019, 1.

182 4.1

Andrea Kießling

Beratung, Aufklärung

Festgeschrieben wurde im IfSG der Beratungsansatz. Als »Aufgaben des Gesundheitsamtes in besonderen Fällen« wurde in § 19 IfSG geregelt: »Das Gesundheitsamt bietet bezüglich sexuell übertragbarer Krankheiten und Tuberkulose Beratung und Untersuchung an oder stellt diese in Zusammenarbeit mit anderen medizinischen Einrichtungen sicher. Diese sollen für Personen, deren Lebensumstände eine erhöhte Ansteckungsgefahr für sich oder andere mit sich bringen, auch aufsuchend angeboten werden und können im Einzelfall die ambulante Behandlung durch einen Arzt des Gesundheitsamtes umfassen, soweit dies zur Verhinderung der Weiterverbreitung der sexuell übertragbaren Krankheiten und der Tuberkulose erforderlich ist.«

Der Begriff der sexuell übertragbaren Krankheiten ersetzt einerseits den Begriff der Geschlechtskrankheiten, der nicht mehr verwendet wird, zum anderen bezieht er AIDS mit ein. Die Regelung des § 19 IfSG stellte bei der Verabschiedung einen Meilenstein dar: Zum ersten Mal wurden die Gesundheitsämter verpflichtet, auch aufsuchend tätig zu werden; verankert wurde damit »eine zielgruppenorientierte Arbeitsweise«, »die nicht nur die tatsächlichen Verbreitungsmuster der Krankheiten, sondern auch die Lebensrealität der sozial Benachteiligten unter den Betroffenen in den Mittelpunkt stellt.«155 § 19 I 5 IfSG (bei Inkrafttreten des IfSG § 19 I 3) regelt ausdrücklich, dass die Angebote bezüglich sexuell übertragbarer Krankheiten anonym in Anspruch genommen werden können, soweit hierdurch die Geltendmachung von Kostenerstattungsansprüchen nicht gefährdet wird. Eine gesundheitliche Beratung für Prostituierte, die Fragen der Krankheitsverhütung einschließt, regelt § 10 ProstSchG. Die Beratung ist hier aber – anders als die nach § 19 IfSG – nicht freiwillig, sondern verpflichtend (§ 10 III ProstSchG).156

4.2

Schutzmaßnahmen

Eine wesentliche Neuerung mit erheblichen Auswirkungen auf die Möglichkeit, die traditionellen Schutzmaßnahmen anzuordnen, stellt die überarbeitete Legaldefinition des Ausscheiders dar. Während der Geltung des BSeuchG hatte es noch geheißen, dass Ausscheider jede Person war, die Krankheitserreger aus155 Michael T. Wright/Rolf Rosenbrock, Aids – Zur Normalisierung einer Infektionskrankheit, in: Günter Albrecht/Axel Groenemeyer (Hrsg.), Handbuch Soziale Probleme, Bd. I, Bd. II, 2. Aufl., Wiesbaden 2012, S. 195, 216. 156 Kritisch Sibylla Flygge, Schutz oder Gefahr? Das Prostituiertenschutzgesetz – eine Herausforderung für die Länder und Kommunen, Streit 2016, 99, 102f.; Volker BoehmeNeßler, Anmeldepflicht für Prostituierte – Staatliches Stigma?, ZRP 2019, 13, 14.

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183

schied, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein (§ 2 lit. d) BSeuchG). HIVInfizierte waren demnach Ausscheider und somit mögliche Adressaten von Berufsverboten und Absonderungen. Das IfSG definiert Ausscheider nun als eine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein (§ 2 Nr. 6 IfSG). Wesentlicher Unterschied zur früheren Rechtslage ist somit, dass es nicht ausreicht, dass die Erreger den menschlichen Körper verlassen: Eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit wird nur geschaffen, wenn der Erreger durch soziale Alltagskontakte übertragen wird. Bei Erregern, die über das Blut oder sexuelle Kontakte übertragen werden, besteht keine Gefahr für die Bevölkerung. Dies gilt nicht nur für HIV, sondern auch für Hepatitis. Damit können gegenüber diesen Betroffenen – solange sie nicht Symptome entwickeln und als Kranke gem. § 2 Nr. 4 IfSG gelten – alle im IfSG vorgesehenen Schutzmaßnahmen, die auf Adressatenseite verlangen, dass die Betroffenen Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider sind, nicht angeordnet werden. Für diese Art von Infizierten wird in der juristischen Kommentarliteratur der Begriff des Carriers verwendet157, der im IfSG selbst nicht genannt wird. Er wird jedoch bei einzelnen Ermächtigungsgrundlagen umschrieben: So kann ein berufliches Tätigkeitsverbot nicht nur gegenüber den vier genannten Personengruppen ausgesprochen werden (§ 31 S. 1 IfSG), sondern auch gegenüber »Personen, die Krankheitserreger so in oder an sich tragen, dass im Einzelfall die Gefahr einer Weiterverbreitung besteht« (§ 31 S. 2 IfSG). Grundsätzlich möglich sind somit Tätigkeitsverbote für HIV-infizierte Chirurg*innen, jedenfalls soweit sie sich nur auf Operationstätigkeiten beziehen. Allerdings muss stets geprüft werden, ob nicht durch mildere Mittel – wie durch Schutzkleidung, ggf. auch zwei Paar Schutzhandschuhe – die Infektionsgefahr in ausreichender Weise verringert werden kann.158 Eine Absonderung gem. § 30 I 2 IfSG ist im Falle von HIV-Infizierten nun ausgeschlossen. HIV-Infizierte, bei denen die Viruslast im Blut durch eine erfolgreiche antiretrovirale Therapie mindestens sechs Monate lang unter der Nachweisgrenze liegt, sind sogar noch nicht einmal Carrier, weil sie keine Krankheitserreger so in sich tragen, dass die Gefahr einer Weiterverbreitung besteht.159 Aber auch bei sexuell übertragbaren Krankheiten ist eine Absonderung gegenüber Kranken unzulässig, weil der Zweck der Verhinderung der 157 Stefan Bales/hans-Georg Baumann/Norbert Schnitzler, IfSG, 2. Aufl., Stuttgart 2003, § 2 Rn. 12; Helmut Erdle, IfSG, 7. Aufl., Landsberg/Lech 2020, § 1, S. 20; Jens Gerhardt, IfSG, 5. Aufl., München 2021, § 2 Rn. 43; Andrea Kießling, in: dies. (Hrsg.), IfSG, 2. Aufl., München 2021, § 2 Rn. 28. 158 Andrea Kießling, in: dies. (Hrsg.), IfSG, 2. Aufl., München 2021, § 31 Rn. 11. 159 Andrea Kießling, in: dies. (Hrsg.), IfSG, 2. Aufl., München 2021, § 2 Rn. 28.

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Weiterverbreitung nicht durch die Absonderung erfüllt werden kann. Eine Absonderung kann von vornherein nur bei Krankheitserregern in Betracht kommen, die durch soziale Kontakte übertragen werden. Die Kondompflicht bei der Ausübung der Prostitution ist seit 2016 spezialgesetzlich geregelt: Sie ist jetzt in § 32 I ProstSchG normiert und gilt sowohl für die Prostituierten als auch für deren Kund*innen. Die Pflicht wird flankiert von einem Werbeverbot nach § 32 III 1 Nr. 1 ProstSchG für Gelegenheiten zu sexuellen Dienstleistungen »unter Hinweis auf die Gelegenheit zum Geschlechtsverkehr ohne Kondom«. Die zuständige Behörde kann gem. § 11 III Nr. 1 ProstSchG zum Schutz der Gesundheit der Kund*innen Anordnungen gegenüber den Prostituierten erteilen. Berufsverbote gem. § 31 IfSG bleiben hiervon jedoch unberührt160 (vgl. § 11 V ProstSchG).

4.3

Spuren der 1980er-Jahre-Diskussion in der Literatur

Der Gesetzgeber hat nun also die in den 1980er Jahren geführten Diskussionen beantwortet. Umso erstaunlicher ist es, dass man in der aktuellen Kommentarliteratur weiterhin Fragmente dieser Diskussionen findet: in einer Auslegung des IfSG, die entweder schon auf Tatbestandsseite nicht vertretbar oder die blind für grundrechtliche Belange der Betroffenen ist. So wird es für zulässig gehalten, gestützt auf die Generalklausel des § 28 I IfSG die Pflicht, gegenüber Intimpartnern oder Familienangehörigen eine HIV-Infektion zu offenbaren, anzuordnen.161 Angedacht wird nach wie vor eine Absonderung HIV-Infizierter.162 Auch die Existenz des ProstSchG als gegenüber dem IfSG spezielleres Gesetz wird zum Teil nicht wahrgenommen.163

160 Andrea Kießling, in: dies. (Hrsg.), IfSG, 2. Aufl., München 2021, § 31 Rn. 3. 161 Helmut Erdle, IfSG, 7. Aufl., Landsberg/Lech 2020, § 28, S. 104; Jens Gerhardt, IfSG, 5. Aufl., München 2021, § 28 Rn. 37. 162 Stefan Bales/hans-Georg Baumann/Norbert Schnitzler, IfSG, 2. Aufl., Stuttgart 2003, § 30 Rn. 7; Helmut Erdle, IfSG, 7. Aufl., Landsberg/Lech 2020, § 30, S. 109; unklar Sandra von Steinau-Steinrück, Die staatliche Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten, Bern 2013, S. 216. 163 Vgl. etwa Jens Gerhardt, IfSG, 5. Aufl., München 2021, § 28 Rn. 37.

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Schluss

So wie es dem IfSG 2020 erging, so wurde in den 1980er Jahren auch das BSeuchG »aus seinem Dornröschenschlaf geweckt«164. In Bezug auf SARS-CoV-2 wird sich noch zeigen, welche gesetzlichen Veränderungen als Reaktion auf die Epidemie 2020/2021 erlassen werden: ob es bei § 28a IfSG bleibt oder ob noch eine umfassende Reform angestoßen wird. In den Worten zweier Beobachter der AIDSDiskussion in den 1980er Jahren: »Jede große Epidemie einer übertragbaren Krankheit führt zu neuen Gesetzen und neuen gesellschaftlichen Strukturen, die eine künftige Verbreitung der Erkrankung verhindern sollen, aber auch wesentliche Veränderungen im Gesundheitswesen mit sich bringen.«165 Das hat die Ablösung des BSeuchG und GeschlKrG durch das IfSG deutlich gezeigt.

164 Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 13. 165 Michael T. Wright/Rolf Rosenbrock, Aids – Zur Normalisierung einer Infektionskrankheit, in: Günter Albrecht/Axel Groenemeyer (Hrsg.), Handbuch Soziale Probleme, Bd. I, Bd. II, 2. Aufl., Wiesbaden 2012, S. 195, 200.

Michael Schied

Drogenpolitik – Zwischen Repression und Methadon

1

Drogentote von heute – ein Produkt der Drogenpolitik von gestern?

Im Jahr 2018 starben über 1.000 an den Folgen des Drogenkonsums.1 Die Zahl hochrisikoanfälliger Opioid-Gebraucher wird auf über 10.000 geschätzt und die Zahl an Personen, die mit Ersatzdrogen wie Methadon substituiert werden, beträgt knapp 80.000.2 All diese Zahlen sind Ergebnisse der vom Gesetzgeber betriebenen Drogenpolitik und würden bei einer anderen Herangehensweise an die Problematik rund um das Thema Drogen weit höher oder weit niedriger liegen, abhängig davon, ob man mit einem Gegner oder Befürworter der aktuellen Drogenpolitik spricht. Ein wichtiger Grundstein für die heute bestehende Drogenpolitik wurde zu Beginn der 80er-Jahre gelegt, als mit der Zunahme des so genannten Drogenproblems der Gesetzgeber tätig werden musste. Deshalb wurde 1982 eine Neufassung des BtMG auf den Weg gebracht, die mit weitreichenden Folgen für Strafverfolgung, Justiz, Konsumenten und Hilfseinrichtungen verbunden war. Diese Akteure der Drogenpolitik werden im Folgenden beleuchtet und in den zeitgeschichtlichen Kontext der 1980er und frühen 1990erJahren eingeordnet, um festzustellen, ob die getroffenen Maßnahmen den gewünschten Erfolg brachten. Am Ende soll schließlich das kontroverse Thema der Methadon-Substitution sowie eine damit möglicherweise einhergehende Wende in der Drogenpolitik diskutiert werden. Zu Beginn sollen kurz die Begriffe Drogen und Drogenpolitik definiert werden. Dass Substanzen, die wir heute in der Bundesrepublik als Drogen wahrnehmen, nicht per se Drogen sind, zeigt sich darin, dass der Konsum einiger Substanzen, die heute der Strafverfolgung unterliegen, früher oder in anderen 1 European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction, Europäischer Drogenbericht 2018, S. 88. 2 European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction, Europäischer Drogenbericht 2018 (o. Fn. 1), S. 83.

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Michael Schied

Kulturen problemlos anerkannt war oder noch immer ist.3 Oftmals wurde solchen Substanzen sogar spirituelle oder heilende Wirkung zugesprochen.4 Dieses Dilemma zeigt sich bereits bei der Definition der Begrifflichkeit Droge. So versucht sich die Welt-Gesundheitsorganisation (WHO) an einer möglichst nichtpräjudizierenden, aber trotzdem nicht inhaltsleeren Definition. Sie bezeichnet nämlich all diejenigen Substanzen als Drogen, die im lebenden Organismus eine oder mehrere Funktionen ändern können, insbesondere indem sie sich auf das zentrale Nervensystem auswirken.5 Somit würde diese Definition auch Alkohol und Arzneimittel erfassen.6 Im Gegensatz dazu führt der deutsche Gesetzgeber im BtMG eine Positivliste von Betäubungsmitteln an, auf die sich der gesetzliche Anwendungsbereich beschränkte.7 Im diesem Rahmen differenziert der Gesetzgeber weiter zwischen nicht-verkehrsfähigen, verkehrsfähigen, aber nicht verschreibungsfähigen sowie verkehrs- und verschreibungsfähigen Betäubungsmitteln.8 Während von der gesetzlichen Definition unter anderem auch Arzneimittel erfasst sind, definiert die Alltagssprache Drogen wiederum als meist illegale Rausch-, jedoch keine Genuss- und Arzneimittel und bewertet diese Substanzen sogleich auf einer moralischen Ebene negativ.9 Um die Drogenpolitik und die darauffolgende Politik der 80er-Jahre möglichst gut kontextualisieren zu können, erscheint es sinnvoll, eine möglichst weitgefasste Definition des Begriffs der Droge zu verwenden, der auch Genuss- und Arzneimittel einschließt. Denn eine weitgefasste Definition nimmt nicht die grundlegende Streitfrage bezüglich der Kategorisierung einzelner Substanzen in »legal« und »illegal« vorweg und ermöglicht zudem eine genauere historische und internationale Einordnung.10 Dennoch wird im Folgenden mit der gesetzgeberischen Definition des Betäubungsmittelgesetzes gearbeitet, da sich die Arbeit mit Maßnahmen der zeitge3 Schwendter, Rolf, Drogenabhängigkeit und Drogenkultur, Wien, 1992, S. 7f.; Körner, Hans Harald, Betäubungsmittelgesetz: deutsches und internationales Betäubungsmittelrecht, 2. Auflage, München, 1985, Rn. 1f. 4 Böker, Wolfgang in Nelles, Joachim/Böker, Wolfgang (Hrsg.), Bern, 1992, Drogenpolitik wohin?, S. 9; Körner, BtMG (o. Fn. 3), Einleitung, Rn. 1f.; Nelles/Böker, Drogenpolitik wohin?, (o. Fn. 4) S. 13; Schwendter, Drogenabhängigkeit und Drogenkultur, (o. Fn. 3) S. 204. 5 Wanke, klaus/Täschner, Karl-Ludwig, Rauschmittel – Drogen, Medikamente, Alkohol, Stuttgart, 1985, S. 1. 6 Hellebrand, Johannes, Drogen und Justiz – Überlegungen zur Einbindung der Justiz in eine fortschrittliche Drogenpolitik, Bonn, 1990, S. 7. 7 Körner, BtMG (o. Fn. 3), § 1, Rn. 3. 8 Körner, BtMG (o. Fn. 3), § 1, Rn. 6ff. 9 Scheerer, Sebastian/Vogt Irmgard, Drogen und Drogenpolitik – ein Handbuch, Frankfurt a. M., 1989, S. 6; Knauß, Ina/Erhardt, Elmar in Bundeskriminalamt, Freigabe von Drogen – Pro und Contra, BKA-Forschungsreihe, Sonderband, Wiesbaden, 1993, S. 18f. 10 Scheerer/Vogt, Drogen und Drogenpolitik (o. Fn. 9), S. 6; Behr, Hans-Georg/Juhnke, Andreas, Drogenpolitik in der Bundesrepublik, 1. Auflage, Leipzig, 1985, S. 18ff.

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schichtlichen Drogenpolitik beschäftigt und diesem Handeln stets die Definition im Sinne des Gesetzes zugrunde liegt.11 Die Diskrepanz bei der Begrifflichkeit der Droge setzt sich auch bei der Drogenpolitik fort. Diese kann als derjenige politische Teil bezeichnet werden kann, der sich allgemein mit Gebrauch, Missbrauch, Konsum und Handel von und mit Drogen beschäftigt.12 Es lassen sich klar drei drogenpolitische Hauptstrategien erkennen: der liberal approach, der social approach sowie der legal approach.13 Die Ansätze legen jeweils unterschiedliche Schwerpunkte: entweder fokussieren sie das Recht der Selbstbestimmung bzw. -schädigung, die vorbeugende Prävention und Therapie oder die repressive staatliche Verfolgung.14 Deutlich wird jedoch, dass die Drogenpolitik eine ungemeine Vielschichtigkeit und Wandelbarkeit aufweist, weshalb keiner dieser Ansätze in Gänze umgesetzt werden kann, sondern stets Mischformen mit ganz unterschiedlicher und individueller Schwerpunktsetzung bestehen.15 Diese Problematik setzt sich bei der Zuordnung der Drogenpolitik zu den politischen Ressorts innerhalb der Bundesrepublik fort: Während die Drogenpolitik beim Bund und in Hamburg Teil des Gesundheitsressorts ist, beschäftigen sich in Niedersachsen und Schleswig-Holstein die Sozialpolitiker damit, in Nordrhein-Westfalen stellen wiederrum Gesundheit und Soziales ein gemeinsames Ministerium.16 Dagegen siedeln Berlin und Bremen die Drogenpolitik im Jugendressort, Bayern wiederrum im Innenministerium an.17 Um die drogenpolitische Relevanz der 1980er-Jahre besser zu verstehen, erscheint es sinnvoll, zunächst in Kürze die Entwicklung des Drogenproblems während der 70er-Jahre zu beleuchten. Wurde 1972 das größte Problem des Drogenkonsums noch in der steigenden Arbeitsunfähigkeit der Betroffenen gesehen, so wurde bereits fünf Jahre später von einem »Mord auf Raten« oder einem »Höllenritt« gesprochen.18 Diese Ausweitung der Drogenproblematik in der Bundesrepublik zeigte sich auch statistisch durch den drastischen Anstieg der Drogentoten von 64 auf 500 zwischen 1970 und 1976 und der Zahl von 11 Scheerer/Vogt, Drogen und Drogenpolitik (o. Fn. 9), S. 6; Behr/Juhnke, Drogenpolitik in der Bundesrepublik (o. Fn. 10), S. 18ff. 12 Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), S. 7. 13 Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), S. 8; Heckmann, Wolfgang, Drogenpolitik in der Bundesrepublik aus therapeutischer Sicht, BewHi, 1987, 254, 256f. 14 Heckmann, BewHi, 1987, 254, 256f. 15 Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), S. 9f.; Kreuzer, Arthur, Therapie und Strafe – Versuch einer Zwischenbilanz zur Drogenpolitik und zum Betäubungsmittelgesetz von 1981, NJW, 1989, 1505; Eisner, Manuel in Böker/Nelles, Drogenpolitik wohin? (o. Fn. 4), S. 85; Heckmann, BewHi, 1987, 254, 256f. 16 Heckmann, BewHi, 1987, 254, 259. 17 Heckmann, BewHi, 1987, 254, 259. 18 Rauschgift: Härterer Trend, Der SPIEGEL, 46/1972, S. 66ff.; Heroin-Welle: »Mord auf Raten«, Der SPIEGEL, 23/1977, S. 184ff.

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ca. 60.000 Abhängigen zu Beginn der 80er-Jahre, wobei solche Zahlen stets großen und teils von der Interessenlage abhängigen Schwankungen unterliegen.19 Die zunehmende Drogensucht äußerte sich auch in einem Anstieg der Beschaffungskriminalität, etwa in Form von Apothekeneinbrüchen oder RezeptDiebstählen als deren typischste Ausprägung.20 Auch sei an dieser Stelle bereits auf die Entdeckung der Krankheit AIDS im Jahr 1981 durch amerikanische Wissenschaftler hingewiesen, die aufgrund ihrer starken Verbreitung im Drogenmilieu auch die drogenpolitische Diskussion maßgeblich beeinflusste.21

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Drogenpolitik der 1980er-Jahre

Mit dieser Zunahme des Drogenproblems und der Erfolglosigkeit der sonst üblichen Strafvollstreckung setzte der Gesetzgeber die bereits 1971 angekündigte Neuordnung des Suchtmittelrechts durch eine »rechtstechnische Rundumerneuerung«22 in Form des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) um.23 Dieses Gesetz stellte dabei Ausgangspunkt und Grundlage für die gesamte Drogenpolitik der 1980er-Jahre dar, weshalb im Folgenden dessen Einzelheiten und Neuerungen genauer dargestellt werden sollen.

19 Rauschgift: Der goldene Schuss, Der SPIEGEL, 42/1976, S. 60ff.; Stein-Hilbers Marlene, Was passiert mit Fixern? Strategien der Drogenpolitik, KrimJ, 1980, 17; Scheerer in Scheerer/Vogt, Drogen und Drogenpolitik (o. Fn. 9), S. 289f.; Bundesministerium für Gesundheit/ Heckmann, Wolfgang, Drogennot und -todesfälle, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Band 28, Baden-Baden, 1993, S. 33. 20 Heroin-Welle: »Mord auf Raten«, Der SPIEGEL, 23/1976, S. 184ff. 21 Robert-Koch-Institut, 1981 bis 1990: AIDS – die politische Dimension in den 1980er-Jahren, https://www.rki.de/DE/Content/Institut/Geschichte/Bildband_Salon/1981-1990.html, 31. 12. 2020; »Helft uns wenigstens beim Abtreten«, Der SPIEGEL, 44/1987, S. 44ff. 22 Scheerer, Sebastian, Freiheit und Kontrolle im neuen Betäubungsmittelgesetz, KJ, 1982, 229. 23 Deutscher Bundestag, BT-Drucks. 10/843, Bericht der Bundesregierung über die Erfahrungen mit dem Gesetz zur Neuordnung des Betäubungsmittelrechts, S. 6; Coignerai-Weber, Catherine/Hege, Hans, Drogenabhängigkeit und Straffälligkeit -Die unvollständige Reform des Betäubungsmittelgesetzes, MschrKrim, 1981, 133, 141; Slotty, Martin, Das Betäubungsmittelgesetz 1982 – Kurzbericht für die Strafrechtsparxis, NStZ, 1981, 321; Coignerai-Weber/Hege, MSchrKrim, 1981, 133, 134f.; Lange, Richard, Probleme des Betäubungsmittelstrafrechts, ZStW, 1983, 606.

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2.1

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Reform Betäubungsmittelgesetzes

Die Unterzeichnung des Haager Abkommens 1920, das sich die Bekämpfung des internationalen Drogenhandels zum Ziel gesetzt hatte, manifestierte sich im Opiumgesetz (OpiumG), das bis auf wenige Änderungen fast 40 Jahr lang beibehalten wurde.24 Durch das Gesetz sollte Unbefugten der Zugang zu Betäubungsmitteln verboten und der Missbrauch durch die Bevölkerung eingedämmt werden, wobei das vorrangige Schutzgut stets die sog. Volksgesundheit war.25 Durch die Ratifizierung internationaler Suchtstoffübereinkommen und den zunehmenden Rauschmittelmissbrauch wurde das OpiumG 1971 umfassend novelliert.26 Während der 70er-Jahre startete die Gesetzgebung mehrfach Versuche zur Neugestaltung und Vereinfachung des Betäubungsmittelrechts, dessen Ergebnis das reformierte BtMG war und am 1. 1. 1982 in Kraft trat.27 Aus den Gesetzesmaterialien lassen sich vier verschiedene Zielsetzungen des neuen BtMG herleiten: der Schutz der menschlichen Gesundheit, die Regelung des Verkehrs mit Betäubungsmitteln, die Ahndung von Delikten in Zusammenhang mit Betäubungsmitteln und die Motivation zur Therapie bei kleinen bis mittleren drogenabhängigen Straftätern.28 Die zur Erreichung dieser Ziele eingeführten polizeilichen Ermittlungsmethoden und Interventionsrechte sollten vor allem dazu dienen, gewerbsmäßige Drogenhändler besser fassen und bestrafen zu können, während straffällige Abhängige von der Strafverfolgung verschont werden und stattdessen zur Therapie motiviert werden sollten.29 Der legale Verkehr von Betäubungsmitteln bereitete seit jeher kaum Probleme, sodass vor dem Hintergrund der zunehmenden Drogenabhängigkeit der Fokus bei der Betrachtung des neuen Betäubungsmittelrechts vor allem auf den Neuerungen liegt, die sich mittelbar oder unmittelbar dieser Thematik anneh-

24 Joachimski, Jupp, Betäubungsmittelgesetz: BtMG – Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln in der Fassung vom 1. 3. 1994 mit ergänzenden Bestimmungen, 5. Auflage, Stuttgart, 1994, Einleitung, Rn. 1; Weber, Klaus, BtMG – Betäubungsmittelgesetz, 1. Auflage, München, 1999, Einleitung, S. 14. 25 Täschner, Karl-Ludwig, Therapie der Drogenabhängigkeit: ein Handbuch, Stuttgart, 1983, S. 188; RGSt. 63, 161; BGHSt, 1, 248, 250. 26 Weber, BtMG (o. Fn. 24), Einleitung, S. 14; Joachimski, BtMG (o. Fn. 24), Einleitung, Rn. 4ff.; Körner, BtMG (o. Fn. 3), Einleitung, Rn. 5. 27 Körner, BtMG (o. Fn. 3), Einleitung, Rn. 7; Joachimski, BtMG (o. Fn. 24), Einleitung, Rn. 7; Weber, BtMG (o. Fn. 24), Einleitung, S. 14. 28 Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), S. 5f.; Winkler, Karl-Rudolf in Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Drogenpolitik und Drogenhilfe, Schriftenreihe zum Problem der Suchtgefahren, Band 33, Freiburg, 1991, S. 11f.; Ayass, Wolfgang, Therapie statt Strafe – Neuer Akzent im Betäubungsmittelrecht, BewHi, 1981, 355. 29 Albrecht, Hans-Jörg, Drogenpolitik und Drogenstrafrecht, BewHi, 1987, 267, 272; BTDrucks. 10/843, S. 16.

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men.30 Die wichtigsten Änderungen erfassten dabei im Grundsatz die erweiterte Kontrolle des Betäubungsmittelumgangs, die Ausdehnung von Straftatbeständen sowie die Erhöhung der Strafrahmen, worauf im Folgenden an ausgewählten Beispielen eingegangen wird.31 Kennzeichnend für den gesamten Teil der Vorschriften über Straftaten und Ordnungswidrigkeiten in den §§ 29–34 BtMG war das höhere Strafmaß.32 Dabei wurde konkret der Strafrahmen für Vergehen auf vier Jahre heraufgesetzt, besonders schwere Fälle konnten zu einer Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren führen und besonders schwerwiegende Fälle des illegalen Handels oder Schmuggels stellten von nun an ein Verbrechen dar und konnten ebenfalls mit bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe bestraft werden.33 Eine weitere Neuerung stellte die sog. Kronzeugenregelung in § 31 BtMG dar. Dadurch sollten Rauschgiftdelikte besser aufgeklärt und im besten Fall durch die Aussage des geständigen oder reumütigen Täters verhindert werden, sodass sich auch hier die Intention des Gesetzgebers zeigte, den »kleinen« Täter zugunsten der Verhinderung eines größeren Betäubungsmitteldelikts straffrei zu lassen.34 Dabei wurde den Gerichten, wie auch an anderen Stellen, ein großer Entscheidungsspielraum hinsichtlich der Bewertung der Aussage des Kronzeugen gelassen, indem sie bewerten sollten, ob sie für einen Erfolg im Rahmen der Strafverfolgung ausreichten.35 Der zuvor bereits genannte und für die Neufassung des BtMG von den Medien gern verwendete Grundsatz von Therapie statt Strafe fand sich in den §§ 35–38 BtMG wieder. Dieser Abschnitt zeigte die gesetzgeberische Erkenntnis, dass Therapieanstrengungen über das im Strafvollzug und in der Bewährung mögliche Maß hinaus nötig sind, um eine gesellschaftliche Wiedereingliederung und eine wirksame Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität zu erreichen.36 Diese Regelungen sollten vor allem bei kleinen bis mittleren Rauschgiftdelikten zur Anwendung kommen, während das bereits angesprochene höhere Strafmaß vor allem Händler und Schmuggler härter treffen sollte.37 Dies bedeutete für drogenabhängige Straftäter, die sich freiwillig in Therapie begeben, dass die 30 Körner, BtMG (o. Fn. 3), Einleitung, Rn. 7; BT-Drucks. 10/843, S. 10ff.; Winkler in DHS, Drogenpolitik und Drogenhilfe (o. Fn. 28), S. 11f. 31 Coignerai-Weber/Hege, MSchrKrim, 1981, 133, 141; Körner, Hans Harald, Neuordnung des Betäubungsmittelrechts NJW, 1982, 673, 674. 32 Körner, BtMG (o. Fn. 3), Einleitung, Rn. 7. 33 BT-Drucks. 10/843, S. 15f.; Schmidt, Hans Wolfgang, Fragen des Betäubungsmittelstrafrechts, MDR, 1982, 881, 881f.; Müller, Bodo, Der Drogenabhängige und die Strafjustiz – Strafaussetzung zur Bewährung der Anwendung der §§ 35ff. BtMG, ZfStrVo, 1984, 274, 275. 34 Körner, BtMG (o. Fn. 3), § 31, Rn. 3; BT-Drucks. 10/843, S. 25; Slotty, NStZ, 1981, 321, 326. 35 Körner, BtMG (o. Fn. 3), § 31, Rn. 3. 36 BT-Drucks. 10/843, S. 25.; Körner, BtMG (o. Fn. 3), § 35, Rn. 1; Schmidt, MDR, 1982, 881; Slotty, NStZ, 1981, 321, 327; Körner, NJW, 1982, 673, 676f. 37 Ayass, BewHi, 1981, 355.

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Strafvollstreckung ganz oder teilweise unterbleibt und die Anklage oder das Verfahren eingestellt werden.38 Voraussetzung dafür war, neben der Zustimmung des Gerichts, dass die Strafe nicht mehr als zwei Jahre beträgt, die Straftat aufgrund der Drogenabhängigkeit begangen wurde und die Unterbringung in einer Therapieeinrichtung gewährleistet war.39 Maßgeblich zur Therapiemotivation sollte dabei auch der Druck einer Strafandrohung oder Inhaftierung beitragen, wobei der Gesetzgeber großen Wert darauf legte, dass die Regelung keine Kapitulation vor den Betäubungsmittelstraftätern darstellt.40 Deshalb sollte dieses Vorgehen grundsätzlich nur bei einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren Anwendung finden sollte, wobei in begründeten Ausnahmefällen eine Zurückstellung bei einer höheren Strafe möglich sein soll, sodass dieses Vorgehen als sogenannte Vollstreckungslösung bezeichnet wird.41

2.2

Drogenpolitische Maßnahmen von Strafverfolgung und Justiz

Die Drogenpolitik erschöpft sich aber nicht, oder besser erst recht nicht, in der bloßen Betrachtung der gesetzlichen Regelungen. Stattdessen wird über deren Effektivität vielmehr durch die praktische Arbeit der Strafverfolgung und Justiz vor Ort entschieden.42 Daher sollen nachfolgend, aufbauend auf den bisherigen Erkenntnissen zur BtMG-Neufassung, verschiedene drogenpolitische Maßnahmen von Politik, Strafverfolgung und Justiz näher betrachtet und erörtert werden. Gerade Strafverfolgung und Justiz nehmen dabei eine besondere Rolle ein, weil sich deren Tätigkeiten gegenüber Abhängigen und Betäubungsmittelstraftätern nicht nur auf den Einzelfall auswirken, sondern stets das Gesamtbild der Drogenpolitik prägen, beeinflussen und auch zu ändern vermögen.43 Auch nach dem Regierungswechsel 1982 und dem Inkrafttreten des reformierten Betäubungsmittelgesetzes blieb die Drogenpolitik ein aktuelles Thema im politischen Berlin. Dabei spielte für die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP vor allem die Bekämpfung und Eindämmung des Rauschgifthandels eine zentrale Rolle, während vor allem die Fraktion der Grünen allgemeine Kritik an der Drogenpolitik, etwa an der mangelnden Bereitschaft zur Liberalisierung des

38 BT-Drucks. 10/843, S. 25; Körner, BtMG (o. Fn. 3), Rn. 7. 39 Täschner, Therapie der Drogenabhängigkeit (o. Fn. 25), S. 193. 40 Körner, BtMG (o. Fn. 3), § 35, Rn. 1; Deutscher Bundestag, BT-Drucks. 9/27, Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Betäubungsmittelrechts, S. 25ff. 41 Coignerai-Weber/Hege, MschrKrim, 1981, 133, 141; Slotty, NStZ, 1981, 321, 327. 42 Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), S. 19. 43 Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), 1990, S. 20.

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Drogenumgangs, übte.44 Diese Meinungsverschiedenheiten führten zwar zu hitzigen politischen Debatten, Änderungen am BtMG erfolgten aber nur partiell und vermochten keine Änderung der Drogenpolitik im Allgemeinen herbeizuführen. Daher waren die gesamten 80er-Jahre aus politischer und gesetzgeberischer Sicht von der 1982 in Kraft getretenen Neufassung des BtMG geprägt.45 Die kaum vorhandene Bereitschaft für einen politischen Richtungswechsel in der Drogenpolitik zeigte sich in den lediglich zwei Betäubungsmittelrechts-Änderungs-Verordnungen von 1984 und 1986, die nur den Anwendungsbereich in den Anlagen des BtMG auf verschiedene synthetische Drogen erweiterten.46 Daher konnte die Politik, mangels mehrheitsfähiger Reformvorschläge und wegen des fehlenden Willens, sich mit der Drogenpolitik auseinanderzusetzen, keine weitreichenden Akzente, abseits der BtMG-Novellierung, setzen. Eine weit größere und praktisch relevantere Bedeutung kam dagegen der Strafverfolgung zu. Denn diese ist aufgrund ihrer rechtlichen Pflicht mit der konkreten Umsetzung der Drogenpolitik und des neuen BtMG betraut und stellt die größte Kontrollinstanz hinsichtlich des Umgangs mit Betäubungsmitteln gegenüber den Konsumenten dar.47 Daher soll im Folgenden auf die polizeiliche Drogenkontrolle im Allgemeinen sowie deren konkrete Ausgestaltungen am Beispiel des Einsatzes von V-Männern und der Anwendung der Kronzeugenregelung des § 31 BtMG eingegangen werden.48 Die Besonderheit von Rauschgiftdelikten, abseits von Beschaffungskriminalität, liegt für die Polizei darin, dass ein eigener aktiver Ermittlungsanstoß erforderlich ist, dem wiederum eigene und oft ganz unterschiedliche Wertungen und Schwerpunktsetzungen zugrunde liegen.49 Die Setzung von Schwerpunkten im Bereich der Drogenkontrolle ist zunächst einmal aufgrund der Endlichkeit polizeilicher Ressourcen notwendig.50 Dies führte zunächst zu einem massiven personellen und finanziellen Ausbau des 44 Deutscher Bundestag, BT-Drucks. 11/5518, Nachweisliche Lageverbesserung durch Liberalisierung des Drogenumgangs; Deutscher Bundestag, BT-Drucks. 10/1150, Rauschgiftkriminalität in der Bundesrepublik. 45 Deutscher Bundestag, BT-Drucks. 10/1334, Drogenkriminalität; Deutscher Bundestag, BTDrucks. 10/1323, Betäubungsmittelgesetz. 46 Körner, BtMG (o. Fn. 3), Einl., Rn. 8; Weber, BtMG (o. Fn. 24), Einleitung, S. 15; Joachimski, BtMG (o. Fn. 24), Einleitung, Rn. 8. 47 Kreuzer, Arthur in Kreuzer, Arthur/Wille, Rolf, Drogen – Kriminologie und Therapie – mit einer ausführlichen Darstellung aktueller Drogenprobleme einschließlich Aids, 1. Auflage, Heidelberg, 1988, S. 99; Kreuzer, Arthur, Jugend – Drogen – Kriminalität, 3. Auflage, Neuwied, 1987, S. 118. 48 Albrecht, BewHi, 1987, 267, 271. 49 Kreuzer, Arthur/Wille, Rolf, Drogen – Kriminologie und Therapie (o. Fn. 47), S. 99; Kreuzer, Jugend – Drogen – Kriminalität (o. Fn. 47), S. 118; Winkler in DHS, Drogenpolitik und Drogenhilfe (o. Fn. 28), S. 11; Thamm, Berndt Georg, Drogenfreigabe – Kapitulation oder Ausweg, 1. Auflage, Hilden, 1989, S. 238. 50 Kreuzer/Wille, Drogen – Kriminologie und Therapie (o. Fn. 47), S. 100.

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Polizeiapparats, etwa durch Bildung von Rauschgiftdezernaten, wodurch aber schon in den 70er-Jahren keine großen Erfolge gegen internationale Rauschgifthändler erreicht werden konnten.51 Die mangelnden Erfolge in der Bekämpfung des Rauschgifthandels und eine Überlastung der Ermittlungsbehörden führten vielfach zu einer Änderung des polizeilichen Ermittlungsverhaltens. Denn von nun an wurden vermehrt, entgegen der gesetzgeberischen Zielsetzung des neuen Betäubungsmittelgesetzes, Verfahren gegen Konsumenten und Kleinstdealer eingeleitet, die dadurch Opfer einer übertriebenen Kriminalisierung wurden.52 Zudem ließ der Gesetzgeber die Frage offen, nach welchen Kriterien Verdächtige zu verfolgen sind, weshalb dieses Vakuum durch informelle Regeln, wie der sinnvollen Ausnutzung von Kapazitäten, dem Verwirklichen einer intransparenten »Gerechtigkeit« oder dem polizeilichen Streben nach sozialpolitischer Gestaltung gefüllt wurde.53 Des Weiteren lag dem polizeilichen Handeln oft der Glaube zugrunde, dass die Verhaftung der Täter und Zerschlagung von Organisationsstrukturen auf unterster Ebene das Problem des international organisierten Rauschgifthandels lösen würde.54 Dies lässt sich beispielhaft an der Anwendung des § 30 BtMG belegen, der als Verbrechenstatbestand ausgestaltet wurde und in der Theorie dazu dienen sollte, den »großen profitgierigen Millionendealer«55 zu fassen, in der Praxis aber nahezu nur Drogenabhängige zu Verbrechern im Sinne des Gesetzes machte.56 Diese Zunahme polizeilicher Interventionen gegenüber Kleinstabhängigen verstärkte sich durch vielfach eingesetzte aggressive Ermittlungsmethoden, wie etwa den Einsatz von V-Männern oder die Kronzeugenregelung, die nachfolgend kurz dargestellt werden.57 Der Einsatz von V-Männern kommt in unterschiedlichsten Ausprägungen und Intensitäten vor, bezeichnet aber grundlegend Vorgänge polizeilicher Informationsgewinnung mittels Personen, die durch eigene Straftaten oder bekannte Verbindungen in das kriminelle Milieu Kontakt zur Polizei haben.58 Dagegen sind Untergrundfahnder oder verdeckte Ermittler Polizeibeamte, die getarnt in die kriminelle Subkultur eindringen und im Zuge der Ermittlungen 51 Albrecht, BewHi, 1987, 267, 272; Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), S. 61f.; Kappel, Sibylle in DHS, Drogenpolitik und Drogenhilfe (o. Fn. 28), S. 17; Stein-Hilbers, KrimJ, 1980, 17, 18. 52 Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), S. 61ff., S. 147ff.; Thamm, Drogenfreigabe (o. Fn. 49), S. 226ff. 53 Kreuzer, Jugend – Drogen – Kriminalität (o. Fn. 47), S. 119ff. 54 Kappel in DHS, Drogenpolitik und Drogenhilfe (o. Fn. 28), S. 19. 55 Kappel in DHS, Drogenpolitik und Drogenhilfe (o. Fn. 28), S. 19. 56 Winkler in DHS, Drogenpolitik und Drogenhilfe (o. Fn. 28), S. 12ff.; Körner, BtMG (o. Fn. 3), § 30, Rn. 1ff. 57 Scheerer/Vogt, Drogen und Drogenpolitik (o. Fn. 9), 1989, S. 41; Albrecht, BewHi, 1987, 267, 272f. 58 Krüger, Ralf, Verfassungsrechtliche Grundlagen polizeilicher V-Mann-Arbeit, NJW, 1982, 855; Kreuzer in Kreuzer/Wille, Drogen – Kriminologie und Therapie (o. Fn. 47), S. 104.

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teilweise Straftaten begehen müssen, um an die gewünschten Informationen zu gelangen.59 Dies erscheint bereits hinsichtlich des Legalitätsprinzips fragwürdig.60 Diese Ermittlungsmethoden nahmen insbesondere mit Anstieg der Betäubungsmittelstraftaten stark zu, da die bis dato klassischen polizeilichen Ermittlungsmethoden kaum erfolgsversprechend waren.61 Allerdings bewirkte der V-Mann-Einsatz, der bereits lange vor der eigentlichen Strafverfolgung beginnt, überwiegend die Anstiftung des Kleindealers zu schwereren Straftaten, anstatt tatsächlich auf die Hintermänner durchzugreifen.62 Der stark ausgeprägte Einsatz von V-Männern führte zu zahlreichen Folgeproblemen, wie etwa die Provokation von Straftaten, um im eigenen Verfahren besser gestellt zu werden oder die Möglichkeit der direkten oder indirekten Einflussnahme des V-Manns auf die Strafe des Verführten.63 Die eben genannten Probleme des V-Mann-Einsatzes setzten sich unmittelbar bei der Kronzeugen-Regelung des § 31 BtMG fort. Diese Strafzumessungsvorschrift spiegelte den gesetzgeberischen Willen wieder, Straftaten des organisierten Handels konsequenter zu verfolgen oder im besten Fall zu verhindern, während abhängige Straftäter geringe Strafen zu befürchten haben.64 Der Kronzeuge ist dabei, ebenso wie der V-Mann, eine Person aus der »Szene« und stellt den Strafverfolgungsorganen sein Wissen, über den eigenen Tatbeitrag hinaus, gegen eine Gegenleistung (oftmals Straferleichterung oder -verzicht) zur Verfügung.65 Obwohl die Regelung von Seiten der Kriminalpolizei als wirkungsvoll bezeichnet wurde und bereits zwischen 1982 und 1983 in über 500 Fällen zum Einsatz kam, gingen damit dennoch mehrere Probleme einher.66 So führte eine Aussage oftmals zu einer Kettenreaktion der Verdächtigen, von denen nun jeder die strafmildernde Wirkung der Kronzeugenregelung für sich in 59 Klink, Manfred/Kordus, Siegfried, Kriminalstrategie: Grundlagen polizeilicher Verbrechensbekämpfung, 1. Auflage, Stuttgart, 1986, S. 230. 60 Kreuzer in Kreuzer/Wille, Drogen – Kriminologie und Therapie (o. Fn. 47), S. 104; Stöver, Heino, Drogenfreigabe: Plädoyer für eine integrative Drogenpolitik, 1. Aufllage, Freiburg, 1994, S. 18; Thamm, Drogenfreigabe (o. Fn. 49), S. 199ff. 61 Klink/Kordus, Kriminalstrategie (o. Fn. 59), S. 230. 62 Gallandi, Volker, Der Therapiebedarf nach § 35 II BtMG bei Langzeitstrafen, ZRP, 1988, 197, 197f.; BGH, Urt. v. 6. 2. 1981 – 2 StR 370/80, NJW, 1981, 1626f.; Strate, Gerhard, Mit Taktik zur Wahrheitsfindung: Probleme der Verteidigung im Betäubungsmittelverfahren, ZRP, 1987, 315, 317. 63 Kreuzer, Jugend – Drogen – Kriminalität (o. Fn. 47), S. 126f.; Kreuzer, NJW, 1989, 1505, 1508; Körner, BtMG (o. Fn. 3), § 31, Rn. 4. 64 BT-Drucks. 10/843, S. 25; Winkler in DHS, Drogenpolitik und Drogenhilfe (o. Fn. 28), S. 16; Weber, BtMG (o. Fn. 24), § 30, Rn. 12; BGH, Urt. v. 24. 11. 1982 – 3 StR 384/82, NJW 1983, S. 692ff. 65 Körner, BtMG (o. Fn. 3), § 31, Rn. 1; Bernsmann, Klaus, Kronzeugenregelungen des geltenden Rechts, JZ, 1988, 539; Slotty, NStZ, 1981, 321, 326. 66 BT-Drucks. 10/843, S. 25; Körner, BtMG (o. Fn. 3), § 31, Rn. 4

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Anspruch nehmen wollte.67 Des Weiteren fehlte es den Kronzeugen oft auch an Glaubwürdigkeit, da sie ihre Aussage oft nur tätigten, um von sich als Täter abzulenken und mittels der Regelung des §31 BtMG eine Strafmilderung zu erreichen.68 Auch der nötige Schutz des Kronzeugen, der oft zum entscheidenden Belastungszeugen gegen kriminelle Organisationen oder ehemalige Mittäter avancierte und deshalb Vergeltungsaktionen aus der Szene befürchten musste, stellte die Strafverfolgungsorgane vor neue Schwierigkeiten.69 Zusammenfassend lässt sich anhand der beispielhaft gewählten Polizei-Maßnahmen zur Bekämpfung des Drogenproblems festhalten, dass diese vor allem bezweckten, abhängige Kleinstdealer aufzuspüren und deren Verhalten zu sanktionieren. Im Anschluss an die polizeilichen Ermittlungen beschäftigten sich Staatsanwaltschaften und Gerichte mit den Straftaten der Drogenkonsumenten, weshalb im Folgenden näher auf die Justiz und deren Urteile eingegangen wird. Der Justiz kam im Bereich der Drogenpolitik ein besondere Rolle zu, da sie hinsichtlich vieler relevanter Fragen einen großen Spielraum eingeräumt bekommen hat und mit ihren Urteilen die gesamte Drogenpolitik mitgestaltet, womit aber auch verschiedene, kaum klassifizierbare Strömungen bei Richtern und Staatsanwälten einhergingen.70 Diese fehlende Einheitlichkeit im Umgang mit Betäubungsmittelstraftätern, kann am Beispiel einer Befragung von Richtern zum Jugendstrafrecht gezeigt werden, bei der die geeigneten Maßnahmen für einen Sachverhalt zwischen Verfahrenseinstellung und 12 Monate Jugendstrafe mit Bewährung variierten.71 Des Weiteren standen die Richter bei straffälligen Drogenabhängigen stets vor der Abwägung zwischen Behandlungsbedürftigkeit und dem Schutz der Rechtsordnung.72 All diese Faktoren führen zu einer sehr unterschiedlichen Behandlung von Betäubungsmittelstraftätern durch die Gerichte, was für die gesamte Rechtsprechung in diesem Bereich während der 80erJahre charakteristisch war. Bereits Anfang der 80er-Jahre beschäftigte das Thema des Einsatzes von VMännern und Lockspitzeln den BGH, der die Grenzen der Zulässigkeit polizei67 Körner, Hans Harald, Der Aufklärungsgehilfe nach § 31 BtMG, StV, 1984, 217, 220; Weider, Hans-Joachim, Die Strafmilderung für den Aufklärungsgehilfen nach § 31 Nr. 1 BtMG, NStZ, 1984, 391, 398f. 68 Jaeger, Michael, Der Kronzeuge unter besonderer Berücksichtigung von § 31 BtMG, 1. Auflage, Frankfurt a. M., 1986, S. 131 ff, S. 162ff.; BT-Drucks. 10/843, S. 25; Körner, BtMG (o. Fn. 3), § 31, Rn. 3f., Rn. 20; Täschner, Therapie der Drogenabhängigkeit (o. Fn. 25), S. 212; Kreuzer, Jugend – Drogen – Kriminalität (o. Fn. 47), S. 126. 69 Thamm, Drogenfreigabe (o. Fn. 49), S. 204ff.; Weider, Hans-Joachim, Zur Problematik des polizeilichen V-Mannes, StV, 1981, 151. 70 Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), S. 69. 71 Kreuzer, NJW, 1989, 1505, 1507. 72 Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), S. 70.; Hachmann, Erwin/Jauß, Dorothée, Erste Ergebnisse einer Analyse von Urteilen zu Betäubungsmitteldelikten, MschrKrim, 1983, 148, 149ff.

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licher Lockspitzelarbeit dort zog, wo das provozierende Verhalten so gewichtig wird, dass der eigentliche Tatbeitrag in den Hintergrund tritt.73 In seiner konkreten Ausgestaltung führte der V-Mann-Einsatz und die Fragen rund um Intensität und Zweck unter Berücksichtigung des Übermaßverbots zu mehreren Entscheidungen und zu den unterschiedlichsten Meinungen innerhalb der fünf Strafsenate.74 Während die Literatur eine enge und zurückhaltende Auslegung der Strafzumessungsvorschrift des § 31 BtMG als notwendig erachtete, legte der BGH die sog. Kronzeugenregelung weit aus.75 Dadurch machte der Bundesgerichtshof auch in solchen Fällen eine Milderung der Strafe möglich, in denen weder ein umfassendes noch ein anfängliches Geständnis abgelegt wurde. Die negativen Folgen dieser weiten Auslegung waren etwa die Eröffnung von Fluchtmöglichkeit durch eine verspätete Aussage oder die bloße Offenbarung unwichtiger Informationen, wodurch der § 31 BtMG für die Strafverfolgung an Nutzen verlor.76 Bei der Anwendung der Kronzeugenregelung zeigt sich auch der bereits angesprochene große Ermessensspielraum der Gerichte, wodurch zwar eine ausreichende Einzelfallwürdigung gewährleistet wurde, jedoch auch eine sehr unterschiedliche Gewichtung einzelner Informationen ermöglichte.77 Zu einer Vielzahl von Entscheidungen führte auch die Begrifflichkeit der nicht geringen Menge in §§ 29 III Nr. 4, 30 I Nr. 4 BtMG. Mit der Unbestimmtheit der Mengenbegriffe im BtMG ging ebenfalls eine große Entscheidungsfreiheit der Justiz einher, weshalb der BGH Wirkstoffgrenzen für die einzelnen Betäubungsmittel festlegte.78 Dieses Vorgehen erwies sich etwa bei der THC-Bestimmung als problematisch, da beim Rauchen von Cannabis durch den Hitzeeinfluss

73 BGH, Urt. v. 6. 2. 1981 – 2 StR 370/80, NJW, 1981, 1626f.; BGH, Beschl. v. 13. 11. 1981 – 2 StR 242/181, NStZ, 1982, 126. 74 Wieczorek, Eberhard, Ultima ratio – der agent provocateur, Kriminalistik, 1985, 288, 289f. 75 Slotty, NStZ, 1981, 321, 326; Weider, NStZ, 1984, 391, 392; BGH, Urt. v. 28. 11. 1984–2 StR 608/84, NJW, 1985, 691f.; BGH, Urt. v. 1. 2. 1985 – 2 StR 482/84, NStZ, 1985, 361. 76 BGH, Urt. v. 31. 10. 1984 – 2 StR 467/84, NJW, 1985, 692; BGH, Urt. v. 28. 11. 1984 – 2 StR 608/ 84, NJW, 1985, 691f.; Körner, StV, 1984, 217; Weider, Hans-Joachim, Die neue Rechtsprechung zum Aufklärungsgehilfen nach § 31 BtMG, NStZ, 1985, 482, 485; Körner, Hans Harald, Anmerkung zu BGH, Urt. v. 28. 11. 1984, MDR, 1985, 687, 687f.; Schulz, Günther, Bedeutsame Aspekte zum Betäubungsmittelrecht seit der BtMG-Novelle, BewHi, 1987, 280, 281. 77 Körner, StV, 1984, 217, 221. 78 BGH, Urt. v. 2. 10. 1984, VI ZR 311/82, NJW 1985, 674ff.; BGH, Urt. v. 18. 7. 1984, NJW 1985, 1404ff.; BGH, Beschl. v. 7. 11. 1983 – 1 StR 721/83, NJW, 1984, 675f.; BGH, Urt. v. 18. 7. 1984 – 3 StR 183/84, NJW, 1985, 1404ff.; BGH, Urt. v. 1. 2. 1985 – 2 StR 685/84, NJW, 1985, 2771ff.; BGH, Urt. v. 11. 4. 1985 – 1 StR 507/84, NJW, 1985, 2773; Cürten, Die Problematik der Begriffe der »geringen Menge« und der »nicht geringen Menge« im Betäubungsmittelgesetz, 1. Auflage, Köln, 1985, S. 63.

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mehr THC als im trockenen Zustand entsteht.79 Dies zeigte auch deutlich die Notwendigkeit von Sachverständigen zur genauen Bestimmung von Qualität und Wirkstoffgehalt der Betäubungsmittel, während bei Unmöglichkeit eines solchen Verfahrens von den günstigsten Verhältnissen zugunsten des Angeklagten auszugehen war und auch die Art des Konsums Berücksichtigung fand.80 Auch bei der Betäubungsmitteleinfuhr war die nicht geringe Menge wegen § 30 I Nr. 4 BtMG relevant und wurde von der Rechtsprechung so restriktiv ausgelegt, dass bereits die Einfuhr nicht besonders großer Mengen zum Eigengebrauch den Tatbestand erfüllte, wobei aber zumindest die sorgfältige Prüfung eines minder schweren Falles gefordert war.81 Im Zusammenhang mit der nicht geringen Menge manifestiert sich auch das zuvor angesprochene strafrechtliche Vorgehen gegen den Konsumenten, da eine Vielzahl der BtMG-Entscheidungen eine geringe Menge zum Eigengebrauch zum Gegenstand hatten.82 Auch die vom Gesetzgeber gewollte Vereinbarkeit von Therapie und Strafe war Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung. Während das OLG Koblenz eine Praxis entwickelte, die mehr Betäubungsmittelstraftätern die Therapie ermöglichte,83 wurde dieses Vorgehen vom BGH verworfen und die Regelung des § 35 II Nr. 2 BtMG wurde restriktiv, aber uneinheitlich ausgelegt.84 Generell wurde im Rahmen der Strafvollstreckungszurückstellung die Endgültigkeit der Entscheidung kritisiert, da diese nur beschränkt rechtsmittelfähig ist.85 Einen weitere Auswirkung dieses Grundsatzes stellt § 37 BtMG dar, in dessen Rahmen bei therapeutischer Behandlung von der Strafverfolgung abgesehen werden 79 BGH, Urt. v. 13. 5. 1987 – 3 StR 123/87, NJW, 1987, 2881; Megges, Gerhard/Rübsamen, Klaus/Steinke, Wolfgang/Wasilewski, Jürgen/Zschockelt, Alfred, Die »nicht geringe Menge« Cannabis – Problematik der THC-Bestimmung, MDR, 1986, 457, 457f. 80 BGH, Beschl. v. 7. 12. 1984 – 2 StR 664/84, NJW, 1985, 1406f.; BGH, Urt. v. 18. 7. 1984 – 3 StR 183/84, NJW, 1985, 1404f.; Endriß, Rainer, Das Problem der »nicht geringen Menge« im Betäubungsmittelrecht – Bestandsaufnahme und Aussicht, StV, 1984, 258, 259. 81 BGH, Urt. v. 24. 11. 1982 – 3 StR384/82, NJW, 1983, 692ff.; BGH, Beschl. v. 10. 4. 1985 – 3 StR 73/ 85, BeckRS 1985, 31099176; Schoreit, Armin, Verbrechen und Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz, NStZ, 1988, 348, 352. 82 Stöver, Drogenfreigabe (o. Fn. 60), S. 23; Deutscher Bundestag, BT-Drucks. 12/2838, Strafverfolgungs-Statistik wegen Umgangs mit illegalen Drogen, S. 4. 83 OLG Koblenz, Beschl. v. 29. 10. 1984 – 2 VAs 41/84, NStZ, 1985, 177; Gallandi, Volker, Anmerkung zu OLG Koblenz, Beschl. v. 29. 10. 1984 – 2 VAs 41/84, NStZ, 1985, 177, 177f.; Winkler, K. R., Anmerkung zu OLG Koblenz, Beschl. v. 29. 10. 1984 – 2 VAs 41/84, NStZ, 1985, 178, 178f. 84 BGH, Beschl. v. 31. 3. 1987 – 5 AR (VS) 13/87 (KG), NStZ, 1987, 292f.; Görgen, Wilfried in DHS, Drogenpolitik und Drogenhilfe (o. Fn. 28), S. 55; Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), S. 114ff. 85 Tröndle, Herbert, »Zurückstellung der Strafaussetzung« und Strafaussetzung zur Bewährung, MDR, 1982, 1, 2f.; Slotty, Martin, Der drogenabhängige Straftäter und die gesetzlichen Therapiemöglichkeiten nach Inkraftreten des neuen Betäubungsmittelgesetzes, BewHi, 1982, 223.

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sollte, der aber wegen seltener Voraussetzungen, geringer Effektivität und hoher Arbeitsintensität kaum Anwendung fand.86 Diese restriktive Tendenz zum Strafvollzug wurde durch ein grundlegendes Misstrauen der Richter gegenüber der Therapie verstärkt, da teilweise eine generelle Ungewissheit sowie subjektive Fehlvorstellungen über den Ablauf der Therapie bestanden.87 Zudem kamen logistische Probleme, etwa in Form der geringen Anzahl geeigneter Therapieplätze, hinzu, sodass oft das persönliche Engagement des Richters oder Staatsanwalts ausschlaggebend für den Erhalt eines Therapieplatzes war und so der Strafvollzug in vielen Fällen die einfachere Alternative darstellte.88 Trotz vereinzelter Erfolge lässt sich hinsichtlich der dargestellten Rechtsprechung keine klare Linie, sondern vielmehr ein Nord-Süd- und ein Stadt-Land-Gefälle, insbesondere aber kein Vorrang der Therapie erkennen. Dies erscheint in rechtlicher Hinsicht bezüglich Art. 3 GG problematisch, führte vor allem aber im Alltag der Drogenabhängigen zu Ergebnissen und Lebensumständen, die das neue BtMG gerade vermeiden wollte.89

2.3

Auswirkungen der Drogenpolitik

Die dargestellten Maßnahmen von Politik, Strafverfolgung und Justiz wirken sich vor allem auf zwei Gruppen aus: die Konsumenten und die Therapieeinrichtungen. Was die Drogenpolitik bei ihnen bewirkte, soll im Folgenden dargestellt werden. Dass gerade Konsumenten und Kleinhändler Opfer der Ausweitung strafrechtlicher Sanktionen waren, zeigte sich statistisch daran, dass in den 80erJahren nur 1 % der Festgenommenen dem Typus des großen Rauschgifthändlers entsprach bzw. 1990 von über 100.000 Straftaten gegen das BtMG nur 0,2 % den Straftatbestand des Anbaus, der Herstellung oder des Handels mit Betäubungsmitteln erfüllten.90 Daher sollen und müssen die Auswirkungen der bundesdeutschen Drogenpolitik gerade für das Klientel des Konsumenten und 86 Absehen von der Verfolgung betäubungsmittelabhängiger Straftäter bei therapeutischer Behandlung (§ 37 BtMG), StV, 1983, 487, 487f.; Görgen in DHS, Drogenpolitik und Drogenhilfe (o. Fn. 28), S. 54f.; Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), S. 119f. 87 Kühne, Hans-Heiner, Therapie statt Strafe? Legislatorische Versuche zur Bekämpfung von Drogenabhängigkeit, MSchrKrim, 1984, 379, 386ff.; Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), 1990, S. 61. 88 Schulz, Günther, Drogenabhängige und die bundesdeutsche Justiz, BewHi, 1987, 237; Müller, ZfStrVo, 1984, 274, 278. 89 Gallandi, ZRP, 1988, 197, 198; Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), 1990, S. 70f.; Jarass, Hans in Jarass, Hans/Pieroth, Bodo, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland – Kommentar, 15. Aufl., München, 2018, Art. 3, Rn. 48ff. 90 Hess, Henner in Schaich-Walch, Gudrun/Neumeyer, Jürgen (Hrsg.), Zwischen Legalisierung und Normalisierung – Ausstiegsszenarien aus der repressiven Drogenpolitik, 1. Auflage, Marburg, 1992, S. 23.

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Kleinsthändlers genauer beleuchtet werden, weil sich die Auswirkungen einer Repressionspolitik nicht in Anzeigen und Urteil erschöpfen, sondern sich vielmehr erst im tatsächlichen Leben der Abhängigen, die täglich mit den gesetzlichen Auswirkungen konfrontiert werden, zeigen.91 Die durch das neue BtMG ausgeweitete Strafbarkeit aller Vorfeldhandlungen – ausgenommen des Konsums selbst – führt zur Strafbarkeit aller Abhängiger und bewirkt eine de-facto-Kriminalisierung des »straffreien« Konsums, wodurch in der Praxis die Pönalisierung des Drogenkonsumenten, im Gegensatz zum gesetzgeberischen Willen, erweitert wurde.92 Denn diese umfassende Strafbarkeit führte zur gesellschaftlichen Isolierung Drogenabhängiger mit einer immer geringer werdenden Chance auf soziale Wiedereingliederung sowie eine auf Abstinenz gestützte Therapie.93 Stattdessen wurden ca. 80 % der Drogenabhängigen dazu gezwungen, für die hohen Schwarzmarktpreise durch Beschaffungskriminalität oder Prostitution aufzukommen und gerieten so immer weiter in das Leben in Illegalität und kriminelle Subkulturen.94 Die Kriminalität aufgrund der Drogensucht manifestierte sich in einer zunehmenden Verelendung der Konsumenten, die sich vielfach in gravierenden Gesundheitsschäden abseits von AIDS und Überdosis, wie etwa Leberschäden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Nieren- und Lungenentzündungen, zeigte und oftmals Folge der Art und Weise des Opiatkonsums war, welcher wiederum aus Illegalität, Diskriminierung und Unterdrückung resultiert.95 Selbst wenn der strafrechtliche Erfolg in der Verknappung der Menge an Betäubungsmitteln gesehen wurde, so hatte dies nur die Herabsenkung der Gelegenheits- und Erstkonsumenten zur Folge, während Langzeitkonsumenten und Schwerstabhängige dadurch nur weiter in die Beschaffungskriminalität ge-

91 Samui, M. in Estermann, Josef (Hrsg.), Auswirkungen der Drogenrepression – Illegale Drogen – Konsum, Handel, Markt und Prohibition, Berlin, 1997, S. 148; Kreuzer, Jugend – Drogen – Kriminalität (o. Fn. 47), S. 11. 92 Albrecht, BewHi, 1987, 267, 271f.; Winkler in DHS, Drogenpolitik und Drogenhilfe (o. Fn. 28), S. 12ff.; Kaufungen, Matthias, Es werden Junkie-Bünde gegründet – zur Perspektive einer Fixer-Gewerkschaft, KrimJ, 1983, 298, 299; Kühne, MSchrKrim, 1984, 379, 379f. 93 Samui in Estermann, Auswirkungen der Drogenrepression (o. Fn. 91), S. 148; Scheerer in Scheerer/Vogt, Drogen und Drogenpolitik (o. Fn. 9), S. 290. 94 Stöver, Drogenfreigabe (o. Fn. 60), S. 32f.; Kreuzer, Arthur in Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugend-Gerichtshilfen e.V. (Hrsg.), Mehrfach Auffällige – Mehrfach Betroffene: Erlebnisweisen und Reaktionsformen, Dokumentation des 21. Deutschen Jugendgerichtstags, Schriftenreihe der DVJJ, Band 18, Bonn, 1990, S. 288ff.; Filipp, RalfPeter, Medizinische und juristische Aspekte zur Methadonsubstitution, 1. Auflage, München, 1995 S. 4. 95 Scheerer in Scheerer/Vogt, Drogen und Drogenpolitik (o. Fn. 9), S. 294f; Seidenberg, André in Estermann, Auswirkungen der Drogenrepression (o. Fn. 91), 16ff.

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trieben wurden.96 So wurde während der 80er-Jahren ein beträchtlicher Teil der Wohnungseinbrüche und schweren Diebstähle von Drogenabhängigen begangen, die sich dadurch einen Vermögensvorteil zum Erwerb von Betäubungsmitteln verschaffen wollten.97 Darüber hinaus führte die Kriminalisierung der Drogenkonsumenten, neben den angesprochenen sozialen und gesundheitlichen Folgen, zur Entstehung sog. offener Drogenszenen in Großstädten, die oft gewaltsam von der Polizei aufgelöst wurden.98 Darüber hinaus sahen sich Konsumenten oft auch Repressionen ausgesetzt, die weder in Akten noch in Statistiken auftauchten, wie etwa Platzverweise oder polizeiliche Schikane.99 Auch zeigte sich für die Konsumenten die Kehrseite des Grundsatzes Therapie statt Strafe. Denn der Abbruch oder das Nicht-Antreten einer Therapie führten unmittelbar zu Strafvollzug, während der abhängige Straftäter mit einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren von vornherein keine Chance auf eine Therapie hatte.100 Der Aufenthalt in einer Strafvollzugsanstalt, der an das Leben im Drogenmilieu anknüpft, war dabei geprägt von weiterem Drogenkonsum und Gesundheitsproblemen, wie etwa Infektionen mit dem HI-Virus durch unsaubere Spritzen. Mangels Möglichkeiten und Motivation eines Drogenentzugs in der Justizvollzugsanstalt, folgte nach dem Verbüßen der Haftstrafe fast immer ein Weiterleben in Illegalität und Kriminalität. Denn eine gesellschaftliche Wiedereingliederung wurde durch den nicht erfolgten Drogenentzug und die bloße Tatsache, dass die Person einen Gefängnisaufenthalt hinter sich hatte, erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht.101 Zwar sollten die hohen Freiheitsstrafen hauptsächlich den Rauschgifthändler treffen, dieser wurde aber sehr selten gefasst und auch der drogenabhängige Kleinkonsument konnte schnell eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren erreichen, da bereits die 96 Hartwig, Karl-Hans/Pies Ingo, Auf dem Prüfstand der Kritik? – Kritik auf dem Prüfstand!, Kriminalistik, 1989, 678, 678f.; Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), S. 63; Steinke, Wolfgang, Drogenprobleme leicht gemacht, Kriminalistik, 1989, 329. 97 Hunsicker, Ernst, Woher nehmen und nicht stehlen?, Kriminalistik, 1990, 211, 212f.; Erhardt, Elmar in Bundeskriminalamt, Drogen und Kriminalität, BKA-Forschungsreihe, Sonderband, Wiesbaden, 1993, S. 48ff. 98 Stöver, Drogenfreigabe (o. Fn. 60), S. 34ff.; Lesting, Wolfgang in Estermann, Auswirkungen der Drogenrepression (o. Fn. 91), S. 129ff. 99 Samui in Estermann, Auswirkungen der Drogenrepression (o. Fn. 91), S. 149ff.; Lesting, Wolfgang in Böllinger, Lorenz/Stöver Heino (Hrsg.), Drogenpraxis – Drogenrecht – Drogenpolitik: Handbuch für Drogenbenutzer, Eltern, Drogenberater, Ärzte und Juristen, 5. Auflage, Frankfurt a. M., 2002, S. 601f. 100 Coignerai-Weber/Hege, MschrKrim, 1981, 133, 142f.; Sickinger, Richard, Methadon – Hilfe zur Aufhebung der Unterdrückung der Opiatabhängigen, KrimJ, 1983, 284; Schulz, BewHi, 1987, 237, 238; Frommel, Monika, Therapie unter dem Druck der Freiheitsstrafe, StV, 1985, 389, 389f. 101 Kreuzer/Wille, Drogen – Kriminologie und Therapie (o. Fn. 47), S. 126; Balzer-Ickert, Cordelia in DHS, Drogenpolitik und Drogenhilfe (o. Fn. 28), S. 193ff.; Stöver, Heino/ Jacob, Jutta in Estermann, Auswirkungen der Drogenrepression (o. Fn. 91), S. 54ff.

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Einfuhr nicht geringer Mengen Betäubungsmittel zum Eigengebrauch teilweise als Verbrechen eingestuft und mit entsprechender Härte sanktioniert wurde.102 Durch das neue BtMG sollte vor allem die Therapie in den Vordergrund rücken und sich durch eine Verbindung des legal und social approach eine Symbiose aus dem materiellen und prozessualen Strafrecht sowie dem therapeutischen Prozess einstellen.103 Tatsächlich aber durchliefen die meisten Drogenabhängigen vor der Therapie einen Kreislauf aus Kriminalität, Strafverfolgung, Inhaftierung und Verurteilung.104 Dies führte bei vielen Konsumenten zu Entwicklungsstörungen und Traumata, wodurch die therapeutische Arbeit von Beginn an erschwert war bzw. es nur möglich war, an den gesundheitlichen, psychischen und sozialen Folgen der Kriminalisierung zu arbeiten.105 Zudem zeigte sich, dass die Therapie oft nur aus justiziellem Druck gewählt wurde, da sie als geringeres Übel gegenüber Strafvollzug oder dem Leben auf der Straße angesehen wurde, während eine Therapiebereitschaft nicht vorhanden war.106 Deshalb wurden die §§ 35ff. BtMG teilweise als Gefängnisvermeidungsvorschriften bezeichnet.107 Gleichzeitig wurden auch die Strafverfolgungsorgane in manchen Fällen gesetzlich dazu gezwungen, den Weg des Strafvollzugs einzuschlagen, während offensichtlich eine Therapie der bessere Weg wäre.108 Zwar war es eine juristische Tatsache, dass die Therapie einen Vertrauensprozess darstellte, dennoch versuchte die Justiz immer wieder auf das Vertrauensverhältnis zwischen Patienten und Therapeuten einzuwirken, um strafrechtlich relevante Informationen zu gewinnen.109 Dabei nutzten die Ermittlungsbehörden und die Justiz Maßnahmen wie gerichtliche Auflagen, drohten Therapeuten mit einer Strafe wegen Strafvereitelung oder zwangen Patienten, ihre Therapeuten von der Schweigepflicht zu entbinden.110 Dadurch wurde das ohnehin schwer aufzubauende Therapieverhältnis von Beginn an belastet und

102 103 104 105 106 107 108 109 110

Slotty, NStZ, 1981, 321, 325. BT-Drucks. 10/843, S. 6; Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), S. 151. Görgen in DHS, Drogenpolitik und Drogenhilfe (o. Fn. 28), S. 51. Görgen in DHS, Drogenpolitik und Drogenhilfe (o. Fn. 28), S. 51; Stöver, Drogenfreigabe, S. 37f. Görgen in DHS, Drogenpolitik und Drogenhilfe (o. Fn. 28), S. 53; Kreuzer, Drogen – Kriminologie und Therapie (o. Fn. 47), S. 132ff.; Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), S. 97ff. Kühne, MSchrKrim, 1984, 379, 387; Stöver, Drogenfreigabe, S. 37; Kraushaar, E. in Michels, Ingo Ilja (Hrsg.), Menschenwürde in der Drogenpolitik, 1. Auflage, Hamburg, 1993, S. 118f. Kreuzer, Jugend – Drogen – Kriminalität (o. Fn. 47), S. 118. Görgen in DHS, Drogenpolitik und Drogenhilfe (o. Fn. 28), S. 52f., 58; Adams, Manfred/ Eberth, Alexander, Die Therapievorschriften des Betäubungsmittelgesetzes in der Praxis NStZ, 1983, 193; BVerfG, Beschl. v. 24. 5. 1977 – 2 BvR 988/75, NJW, 1977, 1489ff. Görgen in DHS, Drogenpolitik und Drogenhilfe (o. Fn. 28), S. 53.

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die Therapie büßte im Allgemeinen einen Großteil ihrer Glaubwürdigkeit ein, da sie mehr und mehr als verlängerter Arm der Strafverfolgung gesehen wurde.111 Dabei wurden die Therapeuten von der Justiz oft als Mittel zur Informationsgewinnung gesehen. Beispielhaft für diese zunehmende Indienstnahme der Therapie durch die repressiven staatlichen Instanzen war die umstrittene Frage eines Zeugnisverweigerungsrechts für Therapeuten und Drogenhelfer.112 Diese Thematik war Gegenstand zahlreicher Urteile und politischer Debatten und führte sogar zur Verurteilung anerkannter Drogenberater zu Zwangsgeld und Beugehaft.113 Dieses Vorgehen beschädigte aber nicht nur auf das vom Gesetzgeber beschworene Verhältnis des Therapieverbundes aus Justiz, Verurteiltem und Therapieeinrichtung, sondern veränderte auch die Therapie von Drogenabhängigen im Allgemeinen114: Durch die angesprochenen justiziellen Eingriffe in die Therapie verhielten sich viele Abhängige aus Angst vor Auslieferung taktisch und zurückhaltend, indem sie wenig bis keine Informationen preisgaben oder aufgrund gerichtlicher Auflagen gezwungenermaßen kooperativ wurden, weshalb sich die Therapie vorrangig darauf konzentrierte, weitere Strafen zu vermeiden, ein neuer Lebensentwurf aber in den seltensten Fällen erarbeitet werden konnte.115 Während auch im Bereich der Drogentherapie manche Maßnahmen aufgrund ihres teils entwürdigenden Charakters Kritik erfahren hatten, so wurde aber auch oft und gerade im niedrigschwelligen Bereich vielfach akzeptierende Drogenarbeit betrieben, die jedoch von den Behörden mehr und mehr vereinnahmt, bürokratisiert und institutionalisiert wurde, wie etwa durch Berichts- und Meldepflichten. So wurde auch hier der wachsende Einfluss repressiver staatlicher Drogenpolitik deutlich, der die Arbeit mit Drogenabhängigen vor Ort beein111 BVerfGE 44, 353ff.; Stöver, Drogenfreigabe (o. Fn. 60), S. 38; Kowalsky, Kurt in Ludwig, Ralf (Hrsg.), Die narkotisierte Gesellschaft: neue Wege in der Drogenpolitik und akzeptierende Drogenarbeit, 1. Auflage, Marburg, 1991, S. 115f.; Kreuzer, NJW, 1989, 1505, 1509; OLG Hamm, Beschl. v. 17. 12. 1985–1 VAs 117/85, LSK 1988 260240; Schneider HansPeter, Anmerkung zu OLG Hamm, Beschl. v. 17. 12. 1985 – 1 VAs 117/85, StV, 1988, 25, 25f.; Heckmann, BewHi, 1987, 254, 260f. 112 Stegemann, Rahel Stefanie/Martens, Friederike, Zum Zeugnisverweigerungsrecht für Drogenberater, StV, 1989, 325, 325ff.; Meyer, ZRP, 1989, 423; Endriß, Rainer, Zeugnisverweigerungsrecht für Drogenberater, ZRP, 1989, 45. 113 BVerfG, Beschl. v. 31. 5. 1988 – 2 BvR 367/88, NJW, 1988, 2945; LG Mainz, Beschl. v. 20. 1. 1988 – 1 Qs 518/87, NJW, 1988, 1744f.; Deutscher Bundestag, BT-Drucks. 11/3482, Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Zeugnisverweigerungsrechts für Suchtberater/innen; Kreuzer in DVJJ, Mehrfach Auffällige – Mehrfach Betroffene (o. Fn. 94), S. 291; Täschner, Therapie der Drogenabhängigkeit (o. Fn. 25), S. 212ff. 114 Görgen in DHS, Drogenpolitik und Drogenhilfe (o. Fn. 28), S. 53ff.; Körner, BtMG (o. Fn. 3), § 35, Rn. 57. 115 Görgen in DHS, Drogenpolitik und Drogenhilfe (o. Fn. 28), S. 53ff.; Sickinger, KrimJ, 1983, 284; Dammann, Burkhard, Drogentherapie als privatrechtlich ausgestaltete From des Strafvollzugs, KrimJ, 1985, 97, 107.

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flusste und erschwerte.116 In der Praxis zeigten sich die drastischen Auswirkungen dieser Repression etwa an der Arbeit Nürnberger Streetworker, die zur Krankheitsvermeidung saubere Spritzen verteilten, die jedoch kaum jemand in Anspruch nahm, aus Angst, bei der Übergabe von der Polizei festgenommen und inhaftiert zu werden.117 Diese Folgen für Konsumenten und Therapieeinrichtungen machten die Verwirklichung des gesetzgeberischen Vorhabens von Therapie statt Strafe nahezu unmöglich und die immer weiter zunehmende staatliche Interventionen führten dazu, dass dieser Grundsatz in der Realität vielmehr als Therapie als Strafe angesehen wurde.118

2.4

Kritik und Reformvorschläge

All dies war Anlass für massive Kritik und eine Vielzahl an Reformvorschlägen, die eine tatsächliche Wende in der Drogenpolitik forderten und für unumgänglich hielten. Einige konkrete Reformvorschläge werden nachfolgend kurz dargestellt. Da die Kriminalisierung in der Strafbarkeit jedes einzelnen Konsumenten gipfelte, wurde gefordert, Einfuhr, Besitz und Konsum von Betäubungsmitteln zum Eigenverbrauch von der Strafe auszunehmen.119 Dies würde einerseits bei der Strafverfolgung Kapazitäten für die Verfolgung des organisierten Drogenhandels freimachen, andererseits einen ersten Schritt darstellen, um ein völliges Abgleiten des Konsumenten in die Illegalität zu verhindern.120 Die Vorschläge einer Straflosigkeit der Konsumenten reichten dabei von einer freiheitsentziehenden Zwangsunterbringung im nichtstrafrechtlichen Bereich über einen Wechsel in der Betrachtungsweise des Konsumenten, der Einstufung des Betäubungsmittelerwerbs als Ordnungswidrigkeit bis hin zu einem nahezu vollständigen Verzicht auf prohibitive drogenpolitische Elemente, gar der staatlichen Abgabe von Heroin an Drogenabhängige.121

116 117 118 119

Stöver, Drogenfreigabe (o. Fn. 60), S. 39; Scheerer, KJ, 1982, 229, 238f. Winkler, Karin, Drogenberater in Not, Nürnberger Nachrichten v. 6. 2. 1993. Stöver, Heino/Hopf, Joachim, Akzeptierende Drogenarbeit BewHi, 1990, 211, 212. Allmers, Volker, Entkriminalisierung der Betäubungsmittelkonsumenten, ZRP, 1991, 41, 43f. 120 Heckmann, Wolfgang/Kühnel, Peter, Die Deutsche Bewährungshilfe eV und ein nationales Gesamtkonzept der Suchtprävention BewHi, 1990, 287, 289; Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), S. 155ff. 121 Katholnigg, Oskar, Ist die Entkriminalisierung von Betäubungsmittelkonsumenten mit scharfen Maßnahmen zur Eindämmung der Betäubungsmittelnachfrage vereinbar?, GA, 1990, 193, 196ff.; Allmers, ZRP, 1991, 41, 43f.; Hessische Kommission »Kriminalpolitik, Entkriminalisierungsvorschläge der Hessischen Kommission »Kriminalpolitik« zum Betäubungsmittelstrafrecht, StV, 1992, 249, 252ff.; Böllinger, Lorenz, Strafrecht, Drogenpolitik und Verfassung, KJ, 1991, 393, 396f., Kreuzer, NJW, 1989, 1505, 1507.

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Die bei der Justiz, aber auch der Strafverfolgung, angesprochene ungleiche Rechtsanwendung sollte durch eine innere Reform, einhergehend mit Vermittlung von Fachwissen und Informationen verbessert werden, während eine bloße Beschränkung der Ermessensspielräume Pauschalisierungen und unzureichende Würdigung des Einzelfalls zur Folge hätte.122 Ein weiterer Kritikpunkt am BtMG war zudem die fehlende Differenzierung nach Gefährlichkeit und Art der Droge, wie es beispielsweise in den Niederlanden seit 1976 erfolgreich praktiziert wurde. Durch eine solche Änderung würden ähnlich positive Effekte, wie bei der Straflosigkeit des Eigengebrauchs eintreten, da ein Großteil polizeilicher und gerichtlicher Kapazitäten damit beschäftigt ist, Cannabis- oder bloße Probiersowie Gelegenheitskonsumenten zu verfolgen.123

2.5

Ist die Repressions-politik gescheitert? Methadonsubstitution als Alternative

Die eben genannten Kritikpunkte und Reformvorschläge mögen zwar auf Grund der vorangegangenen Feststellungen sinnvoll erscheinen, fraglich ist aber vielmehr, ob vereinzelte Änderungen ausreichen, um das medial propagierte Drogenproblem zu lösen. Denn die bundesdeutsche Drogenpolitik und das neue Betäubungsmittelgesetz standen zu Beginn der 80er-Jahre vor der Situation, mit Opiatkonsumenten Personen vor sich zu haben, die oftmals Täter und Opfer in sich vereinen.124 Die auf diese Situation hin ergriffenen, vorrangig strafrechtlichen, Maßnahmen erfüllten, wie sich aus den vorherigen Ausführungen ergibt, ihren Zweck nur bedingt, da der politische Wille zwar darauf gerichtet war, den Drogenhandel zu treffen, die gesetzlichen Bestimmungen aber gerade so ausgestaltet wurden, dass der drogenabhängige Kleinstdealer von den härteren Strafen getroffen wurde.125 Die negativen Folgen der deutschen Drogenrepression lassen sich exemplarisch am Beispiel des sog. Drogentods zeigen: Viele Todesfälle ereigneten sich bei Rückfällen, durch Mischkonsum zur Überbrückung von Entzugserscheinungen bei Lieferengpässen oder durch Selbstmord, der oft als einziger Ausweg aus Armut, Elend und Obdachlosigkeit gesehen wurde, wobei diese Todesursachen unmittelbare oder mittelbare Folge der Drogenrepression und der strafrechtli122 Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), S. 70f. 123 Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), S. 149; Sagel-Grande, Irene, Die niederländische Drogenpolitik, ZStW, 1997, 923, 923ff.; Trautmann, Franz, Akzeptierende Drogenarbeit in Amsterdam – Wie fortschrittlich ist die niederländische Drogenpolitik heute?, KrimJ, 1989, 126, 129. 124 Albrecht, BewHi, 1987, 267, 275. 125 Kreuzer, NJW, 1989, 1505, 1508.

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chen Stigmatisierung der Konsumenten waren.126 Diesem Prinzip der sozialen Deklassierung stand dagegen die medizinische Tatsache gegenüber, dass stets Nachfrage und Angebot an Drogen bestehen wird.127 Unter Berücksichtigung dieser stetigen Nachfrage, muss die Frage erlaubt sein, ob sich der Drogenmarkt gerade wegen der zunehmenden staatlichen Kontrolle immer weiter professionalisiert und rationalisiert hat.128 Da weder Repression, Strafverfolgung, noch die Therapievorschriften den Markt trocken legen konnten, schien es notwendig, Präventions- und Akzeptanzmaßnahmen auf sozialpolitischer Ebene zu ergreifen, um langjährigen Opiatabhängigen dauerhaft ein Leben außerhalb der Illegalität zu ermöglichen und durch akzeptierende Drogenarbeit eine gesellschaftliche Wiedereingliederung zu erreichen.129 Dieses Scheitern der bundesdeutschen Drogenpolitik zeigte sich auch in Statistiken, in denen sich weder die Zahlen von Drogentoten, Rauschgiftdelikten oder Erstkonsumenten verringerten, noch Substanzen vom Markt gedrängt oder die Etablierung neuer Rauschmittel verhindert wurde.130 Ein drogenpolitisches Umdenken schien daher unabwendbar, wobei ein wichtiger Baustein dazu die Methadonsubstitution sein könnte. Diese wurde etwa in den Niederlanden seit 1968 praktiziert und existierte in Amsterdam seit 126 Scheerer in Scheerer/Vogt, Drogen und Drogenpolitik (o. Fn. 9), S. 294ff.; Gersemann, Olaf in Estermann, Auswirkungen der Drogenrepression (o. Fn. 91), S. 183; Hartwig, Karl-Hans/Pies, Ingo, Rationale Drogenpolitik in der Demokratie, 1. Auflage, Tübingen, 1995, S. 116; Leicht, Astrid in Böllinger/Stöver, Drogenpraxis – Drogenrecht – Drogenpolitik, S. 219f. 127 Hartwig/Pies, Kriminalistik, 1989, 678. 128 Hartwig/Pies, Kriminalistik, 1989, 678, 678f.; Hellebrand, Drogen und Justiz (o. Fn. 6), S. 62f.; Scheerer in Scheerer/Vogt, Drogen und Drogenpolitik (o. Fn. 9), S. 290; Gersemann in Estermann, Auswirkungen der Drogenrepression (o. Fn. 91), S. 182f.; Stöver, Drogenfreigabe (o. Fn. 60), S. 21f.; von Hippel, Eike, Drogen- und Aids-Bekämpfung durch Methadon-Programme, ZRP, 1988, 289, 290; Hartwig/Pies, Rationale Drogenpolitik in der Demokratie (o. Fn. 126), S. 74 ff; Thamm, Drogenfreigabe (o. Fn. 49), S. 236; Adams, Michael, Wie zerstört man den Markt für Rauschgifte, ZRP, 1991, 202, 202f. 129 Vogt, Felix, Methadon – Substitution im Widerstreit, 1. Auflage, Freiburg, 1993, S. 9, Hippel, ZRP, 1988, 289, 289f.; Deutscher Bundestag, BT-Drucks. 10/5856, Bericht der Bundesregierung über die gegenwärtige Situation des Missbrauchs von Alkohol, illegalen Drogen und Medikamenten in der Bundesrepublik und die Ausführung des Aktionsprogramms des Bundes und der Länder zur Eindämmung und Verhütung des Alkoholmissbrauchs, S. 6; von Wartburg, Walter, Drogenmissbrauch und Gesetzgeber, 1. Auflage, Basel, 1974, S. 333ff.; Ramström, Jan, Drogenabhängigkeit: Psychosoziale Ursachen – Verlauf – Therapie, 1. Auflage, Köln, 1984, S. 203ff.; Bundesministerium für Gesundheit/ Heckmann, Drogennot und -todesfälle (o. Fn. 19), S. 167. 130 Kaiser, Andrea, Was erreicht die deutsche Drogenpolitik?: Eine ökonomische Analyse des illegalen Drogenmarktes, 1. Auflage, Marburg, 1996, S. 129f.; Leicht in Böllinger/Stöver, Drogenpraxis – Drogenrecht – Drogenpolitik, S. 219; Bundesministerium für Gesundheit/ Heckmann, Drogennot und -todesfälle (o. Fn. 19), S. 35ff.; Hartwig/Pies, Rationale Drogenpolitik in der Demokratie (o. Fn. 126), S. 7ff.

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den 80er-Jahren als niedrigschwelliges Programm, das sich vorrangig um eine gesellschaftliche Integration Drogenabhängiger bemühte.131 Ob mittels der Methadonbehandlung Drogenabhängiger auch in Deutschland eine akzeptierende Drogenpolitik herbeigeführt wurde, soll im Folgenden unter Berücksichtigung gesellschaftspolitischer und rechtlicher Würdigung festgestellt werden. Historisch geht die Versorgung Drogenabhängiger mit Medikamenten bis in die 1920er-Jahre zurück und bereits in den 1960er-Jahren wurden in Amerika erstmals Heroinabhängige mit Methadon behandelt.132 Methadon ist dabei ein synthetisches und hochwirksames Opioid, das die Entzugserscheinungen und das Verlangen nach Heroin mindert.133 Erreicht werden sollten dadurch vorrangig soziale Ziele, in Form einer Entfernung von der Drogenszene, dem Verzicht auf Beschaffungskriminalität und die soziale und psychische Stabilisierung des Konsumenten.134 Mit der Zunahme von Drogenkonsumenten in der Bundesrepublik, der fehlenden Effektivität repressiver Drogenpolitik und vor allem der wachsenden Verbreitung von AIDS wurde die Methadonbehandlung immer wieder auch für die BRD diskutiert, wobei sich diese Debatte zu einem Anschauungskonflikt zwischen der abstinenzorientierten und der akzeptierenden Drogenhilfe entwickelte.135 Dieser sog. Glaubenskrieg um Methadon lässt sich als die Diskussion um die Frage, ob methadongestützte Rehabilitation im Bereich der Drogenhilfe als weitere Alternative eingesetzt werden soll, bezeichnen.136 Die Meinungen reichten dabei von einer völligen Ablehnung der Methadon-Behandlung und dem Verharren auf der Leidensdrucktheorie und einem linearen Abhängigkeitsmodell über die streng ärztlich kontrollierte Abgabe bis hin zu der Forderung, jedem Abhängigen die Ersatzdroge zur Verfügung zu stellen.137 Die Befürworter der Methadonbehandlung sahen die Vorteile vor allem in einer allgemeinen Verbesserung der Lebensumstände, in einem Entgegenwirken der zunehmenden

131 Trautmann, KrimJ, 1989, 126, 127ff.; Trautmann, Franz in Bossong, Horst/Stöver, Heino (Hrsg.), Methadonbehandlung – Ein Leitfaden, 1. Auflage, Frankfurt a. M., 1992, S. 220. 132 Marx, Methadon-Praxis in Europa, S. 25f.; Täschner, Therapie der Drogenabhängigkeit (o. Fn. 25), S. 135. 133 Vogt, Methadon (o. Fn. 129), S. 13; Günthner, Arthur/Ullmann, Rainer in Krausz, Michael/Haasen, Christian/Naber, Dieter (Hrsg.), Pharmakotherapie der Sucht, 1. Auflage, Basel, 2004, S. 110f.; Kühne, Hans-Heiner, Methadon – Letzte Hilfe im Drogenhandel, ZRP, 1989, 1, 2. 134 Sickinger, KrimJ, 1983, 284, 285. 135 Vogt, Methadon (o. Fn. 129), S. 22; Heckmann, Wolfgang, Drogenmissbrauch und AIDS, BewHi, 1987, 147, 148f. 136 Finzen, Asmus, Der Glaubenskrieg um Methadon, FAZ v. 1. 7. 1987. 137 Heerklotz, Brigitte in Frank, Christel/Haarer, Gerhart (Hrsg.), Drogendeliquenz – Jugendstrafrechtsreform, 1. Auflage, Berlin, 1991, S. 157.

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Verelendung sowie der Verringerung von Beschaffungskriminalität.138 Dies bejahten zwar auch die Kritiker, die allerdings an der Erreichbarkeit dieser Ziele zweifelten und dies mit negativen Erfahrungen bisheriger Methadon-Versuche, etwa dem Beikonsum anderer Drogen oder dem Horten von Methadon zum Verkauf auf dem Schwarzmarkt begründeten.139 Eine Wende erhielt die Debatte durch die zunehmende Ausbreitung von AIDS und der damit einhergehenden Infektions-Angst der Gesamtbevölkerung, da die Methadon-Behandlung als wirksamste Form der HIV-Prophylaxe unter Drogenabhängigen angesehen wurde.140 Allerdings unterlag die Substitutionsbehandlung bereits von vornherein engen gesetzlichen Grenzen, wie etwa derer des § 13 BtMG, sodass mit den Forderungen nach der Einführung der Substitution auch eine Vielzahl rechtlicher Probleme einhergingen.141 Besonders relevant in dieser Hinsicht und für die großflächige Durchführbarkeit der Behandlung entscheidend, war eine mögliche Strafbarkeit der Ärzte durch die Verabreichung von Methadon an Drogenabhängige. Dabei ist zu beachten, dass bereits die einmalige Verschreibung von Methadon nach ständiger Rechtsprechung eine Gesundheitsschädigung im Sinne des § 223 StGB darstellte, was für die behandelnden Ärzte zu einer großen Unsicherheit führte.142 Diese Angst vor strafrechtlichen Sanktionen konnte erst durch einen Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 17. 5. 1991 gemildert werden, der sich mit der Substitutions-behandlung auseinandersetzte und für die Zukunft dieser Behandlungspraxis als wegweisend angesehen werden kann. Zunächst kam aber der Bundesärztekammer bezüglich dieser Thematik eine besondere Rolle zu, da sie als oberste Standesorganisation eine Richtlinienkompetenz gegenüber dem einzelnen Arzt, verbunden mit der Möglichkeit berufsrechtlicher Konsequenzen, innehatte.143 Erwähnenswert sind dabei die Stellungnahme des gemeinsamen Arbeitskreises des wissenschaftlichen Beirats und des Ausschusses »Psychiatrie, Psychotherapie und Psycho-hygiene« vom 04. 02. 1988 sowie der Beschluss des Vorstandes der Bundesärztekammer vom 09. 02. 1990. Demnach sind Drogenabhängige zwar als Kranke anzusehen, die ärztliche 138 Janczak, Hanna/Wendelmuth, Frank in Raschke, Peter (Hrsg.), Substitutionstherapie – Ergebnisse langfristiger Behandlung von Opiatabhängigen, 1. Auflage, Freiburg, 1994, S. 132ff. 139 Kühne, ZRP, 1989, 1, 2; Hippel, ZRP, 1988, 289, 291f.; Quensel, Stephan, Drogenelend – Cannabis, Heroin, Methadon – für eine neue Drogenpolitik, 1. Auflage, Berlin, 1982, S. 214ff. 140 Vogt, Methadon (o. Fn. 129), S 31. 141 Vogt, Methadon (o. Fn. 129), S. 37. 142 RGSt, 25, 375; Böllinger, Lorenz, Zur Strafbarkeit des Arztes nach §§ 223, 230 StGB wegen ambulanter Substitutionsbehandlung Drogenabhängiger JA, 1989, 403, 405. 143 Körner, BtMG (o. Fn. 3), § 29, Rn. 497; Wintergerst Wilhelm, Die Bundesärztekammer, 1. Auflage, München, 1982, S. 24f.; Kamps, Hans, Arzt- und kassenarztrechtliche Probleme bei der Behandlung Suchtkranker, MedR, 1984, 167, 171.

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Hilfe benötigen, die Behandlung mit Methadon soll aber nur in begründeten und seltenen Einzelfällen, wie etwa lebensbedrohlicher Entzugszustände oder dem Ende einer Schwangerschaft, zum Einsatz kommen.144 Abseits dieser seltenen Fälle, etwa zur sozialen Integration Drogenabhängiger, sei eine Methadonsubstitution nicht indiziert und würde dem therapeutischen Grundprinzip der Drogenabstinenz durch Aufrechterhaltung der Abhängigkeit zuwiderlaufen, sodass sich die ärztliche Standesorganisation nur zu Substitutionsversuchen in sehr kontrolliertem Rahmen durchringen konnte.145 Eine Ausnahme sollte nach der Bundesärztekammer nur für die Substitution im Rahmen wissenschaftlicher Erprobungsverfahren gelten, für die strenge Richtlinien und hohe Teilnahmevoraussetzungen festgelegt wurden und für die teilnehmenden Drogenabhängigen mit der Verpflichtung zu begleitender Sozial- und Psychotherapie einherging.146 Die Strafbarkeit der ärztlichen Vergabe von Betäubungsmitteln richtete sich nach § 29 I Nr. 6 BtMG und konnte für den zuwiderhandelnden Arzt zu Geldoder Freiheitsstrafe bis zu vier Jahren führen, sofern die ärztliche Verschreibung nicht nach § 13 BtMG begründet war.147 Diese Frage der Begründetheit war Gegenstand einer BGH-Entscheidung und konnte in rechtlicher Hinsicht als Ende des Methadon-Glaubenskriegs bezeichnet werden.148 Nach bisheriger Auffassung war für die Begründetheit der Betäubungsmittel-Verschreibung die Übereinstimmung mit den anerkannten Regeln der ärztlichen Wissenschaft bzw. der Schulmedizin maßgebend. Damit waren im Grundsatz die von der Bundesärztekammer vertretenen Auffassungen gemeint, sodass teilweise von einem Kooperationsvertrag zwischen Justiz und ärztlicher Wissenschaft gesprochen wurde.149 Der BGH wich aber in diesem Beschluss davon ab und stellte die Me144 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer, Ersatzdrogen Beschluss des Vorstandes der Bundesärztekammer vom 9. Februar 1990, DÄBl., 10/1990, A 775ff.; Bossong, Horst in Bossong/Stöver, Methadonbehandlung, S. 18. 145 Kühne, ZRP, 1989, 1, 4; Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer, Ersatzdrogen Beschluss des Vorstandes der Bundesärztekammer vom 9. Februar 1990, DÄBl., 10/1990, A 775ff.; Hellebrand, Johannes, Polamidonbehandlung Opiatabhängiger durch niedergelassene Ärzte, MedR, 1989, 222, 223f. 146 Gemeinsamer Arbeitskreis des Wissenschaftlichen Beirates und des Ausschusses »Psychiatrie, Psychotherapie und Psychohygiene« der Bundesärztekammer, Stellungnahme zur Frage der Ersatzdrogen, DÄBl. 10/1990, A 776f. 147 Weber, BtMG (o. Fn. 24), § 13, Rn. 20ff., § 29, Rn. 685ff.; Körner, BtMG (o. Fn. 3), § 29, Rn. 495 ff; Marx, Methadon-Praxis in Europa, S. 33; Kamps, MedR, 1984, 167, 170f. 148 Moll, Stephan, Das Ende der ( juristischen) Methadon-Debatte?, NJW, 1991, 2234; Laufs, Adolf, Die Entwicklung des Arztrechts, NJW, 1992, 1529, 1538. 149 RGSt 62, S 369, 385; BGHSt 1, S 318; BGHSt 29, 6, 9; Hellebrand, Johannes, Wende im Methadon-Glaubenskrieg? NStZ, 1992, 13, 14; Köhler, Michael, Selbstbestimmung und ärztliche Therapiepflicht im Betäubungsmittelstrafrecht, NJW, 1993, 762, 763; Filipp, Medizinische und juristische Aspekte zur Methadonsubstitution (o. Fn. 94), S. 38; Haffke, MedR 1990, 243, 247.

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thadon-Verschreibung nicht mangels Übereinstimmung mit den Regeln der ärztlichen Wissenschaft unter Strafe, sondern billigte dem behandelnden Arzt auf einem solch umstrittenen Gebiet wie der Ersatzdrogenbehandlung einen eigenen Ermessensspielraum zu.150 Somit hatte die Bundesärztekammer zwar noch immer eine Quasi-Richtlinienkompetenz gegenüber dem einzelnen Arzt inne, nicht aber gegenüber der Gerichtsbarkeit.151 Der Bundesgerichtshof erachtete zudem auch eine sozialmedizinische Indikation für die Einzelfall-Verschreibung von Methadon als zulässig an, sofern der Durchführung ein therapeutisches Konzept verbunden mit ausreichender ärztlicher Kontrolle zugrunde liegt.152 Damit stärkte die Rechtsprechung die behandelnden Ärzte und beseitigte die Unsicherheit bezüglich der Strafbarkeit der Betäubungsmittelverschreibung an Drogenabhängige. Denn ein strafbares Handeln lag nun erst dann vor, wenn der Arzt die Grenzen des ihm zugestandenen Entscheidungsspielraums deutlich überschritt.153 Wann dies der Fall ist, zeigte ein Urteil gegenüber einem niedergelassenen Arzt, der Ersatzdrogen an Drogenabhängige ohne Kontrollen und weitere medizinische Untersuchungen verschrieb.154 Die endgültige Beseitigung der Rechtsunsicherheit für die Ärzte erfolgte durch die Änderung des § 13 I 1 BtMG im Jahr 1992, sodass Methadon von nun an zur Behandlung einer Betäubungsmittelabhängigkeit verwendet werden durfte, woraufhin auch der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV) der § 2 a hinzugefügt wurde, der die Substitution gesetzlich regelte.155 Eine weitere zentrale Frage, um die Methadonbehandlung in finanzieller Hinsicht zu ermöglichen, war die Kostenübernahme durch die Krankenkassen, da Drogensüchtige durch repressive Drogenpolitik zu kriminellem Handeln gezwungen waren und in der Regel alle finanziellen Mittel für ihre Sucht verwendet haben.156 Diesbezüglich verabschiedete der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen 1991 nach verschiedenen Gerichtsentscheidungen Richtlinien, wonach die Methadonsubstitution nur Einzelfällen, für die die Indikatoren nahezu vollständig denen der Bundesärztekammer entsprechen, eine Leistung

150 MDR, 1991, 779, 780f.; Körner, Hans Harald, Die Strafrechtspraxis im Labyrinth neuer Betäubungsmittelrechtsbestimmungen, NJW, 1993, 233, 238; Köhler, NJW, 1993, 762, 763; Hellebrand, Johannes, Wende im Methadon-Glaubenskrieg, ZRP, 1991, 414, 415. 151 Vogt, Methadon (o. Fn. 129), S. 40; Hellebrand, ZRP, 1991, 414, 416. 152 Moll, NJW, 1991, 2234, 2235; Laufs, NJW, 1992, 1529, 1538. 153 Vogt, Methadon (o. Fn. 129), S. 40. 154 Moll, NJW, 1991, 2234, 2235; OVG Münster v. 6. 6. 1988 – 5 B 309/88, MedR, 1989, 44; Hellebrand, MedR, 1989, 222, 223f. 155 Bundesministerium für Gesundheit/Bühringer Gerhard, Methadon-Expertise: Expertise zum Einsatz von Methadon bei Drogenabhängigen in Deutschland, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Band 55, Baden-Baden, 1995, S. 10. 156 Zimmermann, Dieter in DHS, Drogenpolitik und Drogenhilfe (o. Fn. 28), S. 264ff.

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der Krankenkasse darstellen kann.157 Im Grundsatz wurde vom Ausschuss der Kassenärztlichen Vereinigung beschlossen, dass die Substitution aufgrund ihres sozialen und gesellschaftlichen, nicht aber medizinischen Behandlungsmusters keine Krankenbehandlung und somit keine Krankenkassenleistung darstelle.158

2.7

Erste Modellversuche: Pilotprojekte und der Frankfurter Weg

Die Pionierarbeit hinsichtlich der Methadon-Substitution leisteten auf deutschem Boden Nordrhein-Westfalen und die Stadt Hamburg.159 Eine Sonderrolle nimmt im Bereich der Drogenpolitik auch die Stadt Frankfurt mit dem von ihr eingeschlagenen Frankfurter Weg ein. Im Folgenden sollen in Kürze der Aufbau und die Umsetzung der ersten Methadonprogramme dargestellt werden. Nordrhein-Westfalen begann 1987 als erstes Bundesland, entgegen zahlreicher Widerstände, unter Berufung auf das AIDS-Problem mit einem Modell zur medikamentengestützten Rehabilitation Drogenabhängiger gemeinsam mit psycho-sozialer Betreuung im Rahmen eines fünfjährigen Erprobungsverfahrens.160 Als vorrangige Ziele wurden dabei vor allem die gesundheitliche Stabilisierung sowie die soziale und berufliche Rehabilitierung verfolgt. An diesem, mit hohen Einstiegskriterien verbundenen Modellversuch, konnten 250 Teilnehmer mit mindestens 14-jähriger Drogenerfahrung teilnehmen. Hamburg ergriff als zweites Bundesland im Jahr 1988, nach Vorfällen sog. wilder Substitution mit Codein, die gesundheitspolitische Initiative und begann damit, die Methadonbehandlung durch den »Hamburger Methadon-Vertrag« zu etablieren.161 Kennzeichnend für das Hamburger Modell ist die Regelung der Kostenteilung zwischen Krankenkassen, die für ärztliche Leistungen aufkommen, und den Behörden, die die Kosten der psychosozialen Betreuung tragen.162 Unter diesen Rahmenbedingungen entwickelte die Hansestadt ein eher niedrigschwelliges Programm gemeinsam mit niedergelassenen Ärzten und Apotheken und errichtete Drogenambulanzen, etablierte eine Sachverständigenkommission, die 157 Vogt, Methadon (o. Fn. 129), S. 42; Filipp, Medizinische und juristische Aspekte zur Methadonsubstitution (o. Fn. 94), S. 32ff. 158 PROGNOS/Ministerium für Arbeit, Gesundheit u. Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Wissenschaftliche Erprobungsvorhaben medikamentengestützter Rehabilitation bei intravenös Opiatabhängigen, Jahresbericht 1989, Köln, 1990, S. 135f. 159 Stöver, Heino/Michels, Ingo Ilja in Stöver, Heino (Hrsg.), Akzeptierende Drogenarbeit – Eine Zwischenbilanz, 1. Auflage, Freiburg, 1999, S. 179f. 160 Vogt, Methadon (o. Fn. 129), S. 48ff.; Kalke, Jens in Raschke, Substitutionstherapie (o. Fn. 138), S. 345; Marx, Methadon-Praxis in Europa, S. 138f. 161 Marx, Methadon-Praxis in Europa, S. 140f. 162 Kalke in Raschke, Substitutionstherapie (o. Fn. 138), S. 347; Bundesministerium für Gesundheit/Bühringer, Methadon-Expertise (o. Fn. 155), S. 127.

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über die Aufnahme in das Programm entschied, und konnte so bis 1993 ca. 1.200 Drogenabhängige behandeln.163 Ein ganz besonderes Augenmerk liegt auf der Stadt Frankfurt, die während der 80er-Jahre mit einer großen offenen Drogenszene im Bahnhofsviertel zu kämpfen hatte.164 Zur Lösung dieses Problems wurde auf einer Konferenz städtischer Repräsentanten der Drogenhilfe die Frankfurter Resolution verabschiedet. Die Städte forderten ein allgemeines Umdenken in der Drogenpolitik und sahen konkrete und drängende Maßnahmen zur Verbesserung der Situation in der tatsächlichen Entkriminalisierung jeglichen Drogenkonsums, der Errichtung niedrigschwelliger Methadon-Programme und der Schaffung gesetzlicher Rahmenbedingungen, die eigenes drogenpolitisches Handeln der Städte ermöglichen.165 Alle diese Modelle der Methadonsubstitution bewirkten bei den Teilnehmern eine stetige Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustands, des psychischen Wohlbefindens, den Aufbau eines stabileren, drogenfreien sozialen Umfelds sowie Fortschritte in der Beschäftigungs- und Ausbildungssituation, wenngleich diese sozialen Indikatoren oftmals nicht als medizinischer Erfolg angesehen wurden.166 Erwähnenswert ist auch die, im Vergleich zur abstinenzorientierten Langzeittherapie, für die ohnehin nur ca. ein Viertel der Drogenabhängigen zu gewinnen war, hohe Haltequote von ca. 80 %.167 Insgesamt konnte die Methadon-Behandlung daher in den gewünschten, vorrangig sozialen Bereichen deutliche Verbesserungen verbuchen, was zu einer Steigerung der Lebensqualität führte und für viele Drogenabhängige den ersten Schritt zu einer abstinenzorientierten Langzeittherapie und damit zu einem drogenfreien Leben darstellte. Während von Seiten der Therapeuten größtenteils ein positives Echo auf die BGH-Entscheidung, die Ausweitung der Methadon-Behandlung und die Erfolge der Substitution zu hören waren, fielen die Antworten in der Politik recht unterschiedlich aus. So sprach etwa Bundeskanzler Kohl 1990 von der Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Ächtung des Drogenkonsums und im Zuge des im selben Jahr beschlossenen Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplans, der nur kurz auf die Methadonsubstitution eingeht, wurden zahlreiche Kampagnen, al163 164 165 166

Bundesministerium für Gesundheit/Bühringer, Methadon-Expertise (o. Fn. 155), S. 127ff. Lesting in Estermann, Auswirkungen der Drogenrepression (o. Fn. 91), S. 129. European Cities on Drug Policy, Frankfurter Resolution, 1990. Raschke, Peter/Verthein, Uwe/Kalke, Jens in Raschke, Substitutionstherapie (o. Fn. 138), S. 27ff.; Kalke in Raschke, Substitutionstherapie (o. Fn. 138), S. 419f.; Täschner, Therapie der Drogenabhängigkeit (o. Fn. 25), S. 139ff.; Vogt, Methadon (o. Fn. 129), S. 59f.; Sickinger, KrimJ, 1983, 284, 289f.; Bossong in Bossong/Stöver, Methadonbehandlung, S. 35ff. 167 Raschke/Verthein/Kalke in Raschke, Substitutionstherapie (o. Fn. 138), S. 25; Bundesministerium für Gesundheit/Bühringer, Methadon-Expertise (o. Fn. 155), S. 70; Butzko, Harald, Methadon und Drogenarbeit BewHi, 1987, 306.

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lesamt auf abstinenzorientierte Prävention gestützt, gestartet.168 Hinsichtlich der Substitutionsbehandlung schloss sich die Union der Bundesärztekammer an und verharrt auf dem Standpunkt, die Methadon-Behandlung nur in seltenen, medizinischen Einzelfällen für zulässig zu erachten.169 Die Opposition, allen voran die Grünen und die SPD, forderte dagegen seit Ende der 1980er-Jahre eine Entkriminalisierung der ärztlichen Behandlung mit Methadon und die Förderung solcher Programme zur Verbesserung der sozialen Lage der Betroffenen.170 Erst im Jahr 1992 war die gesetzliche Zulässigkeit von Methadonbehandlungen Gegenstand einer politischen Debatte im Rahmen einer möglichen Änderung des BtMG hin zu einer Verankerung der rechtlichen Zulässigkeit der MethadonSubstitution durch die Einfügung der »ärztlichen Behandlung einer Betäubungsmittelabhängigkeit« in § 13 BtMG, was vom Bundesrat angeregt und vom Gesundheitsausschuss empfohlen wurde.171 In den Folgejahren konnte sich die Situation im Zusammenhang mit der Methadon-Substitution zwar aufgrund der gesetzlichen Neuregelung ein wenig entspannen, da zumindest eine Strafbarkeit der behandelnden Ärzte nun nicht mehr im Raum stand. Die bundesweite Ausbreitung der Programme ging aber nur schleppend voran, da insbesondere Bundesländer wie Baden-Württemberg, Bayern oder Rheinland-Pfalz keine eigenen wissenschaftlichen Erprobungsverfahren starteten und lediglich die ärztliche Einzelfallsubstitution zuließen.172 Dabei lässt sich, ebenso wie bei der Rechtsprechung in Betäubungsmittelstrafsachen, ein Nord-Süd-Gefälle erkennen, wonach die südlichen Bundesländer die ärztliche Einzelfallsubstitution an die strengen, von der Bundesärztekammer festgelegten, Kriterien knüpften und die nördlichen Bundesländer dagegen mit

168 CDU-Dokumentation 1990/22, S. 1; Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit/Bundesministerium des Inneren, Nationaler Rauschgiftbekämpfungsplan – Maßnahmen der Rauschgiftbekämpfung und der Hilfe für Gefährdete und Abhängige, Bonn, 1990, S. 27. 169 CDU Deutschland, Keine Macht den Drogen, CDU Dokumentation 1990/22, S. 4. 170 Deutscher Bundestag, BT-Drucks. 11/4936, Abrüstung im Drogenkrieg – Entkriminalisierung des Drogenkonsums, Verringerung der Kriminalität und Förderung von Hilfsangeboten; Deutscher Bundestag, BT-Drucks. 11/5966, Sofortprogramm für Heroinabhängige; Deutscher Bundestag, BT-Drucks. 11/7045, Substitutionsbehandlung Drogenabhängiger mit Methadon. 171 Deutscher Bundestag, BT-Drucks. 12/2737, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes; Deutscher Bundestag, BT-Drucks. 12/934, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes; Deutscher Bundestag, BT-Drucks. 12/2739, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes; Deutscher Bundestag, BT-Drucks. 12/2760, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes; Deutscher Bundestag, BT-Drucks. 12/2761, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes; Weber, BtMG (o. Fn. 24), § 13, Rn. 17, 48ff.; BGBl. 1992 I S. 1593. 172 Vogt, Methadon (o. Fn. 129), S. 45.

Drogenpolitik – Zwischen Repression und Methadon

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den jeweiligen Landesärztekammern den Indikationskatalog der Bundesärztekammer erweiterten.173 Die Methadonbehandlung in der Bundesrepublik war ein höchst strittiges Thema und führte sowohl gesellschaftspolitisch als auch rechtlich zu emotionalen Auseinandersetzungen zwischen vehementen Gegnern und Befürwortern. Der tatsächliche Nutzen der Methadon-Behandlung kann schwer beurteilt werden, da die Erfolge nicht im messbar medizinischen Bereich oder der Abstinenz liegen, sondern vielmehr zur gesundheitlichen und psychischen Stabilisierung Drogenabhängiger beitragen.174 In jedem Fall aber führte die Debatte aber zu einem teilweisen Umdenken in der Drogenpolitik, wie etwa das Beispiel Frankfurts zeigt, kann aber dennoch nicht für alle Drogenabhängigen als Allgemeinlösung angesehen werden.175 Nichtsdestotrotz hat sich die Methadon-Behandlung während der 80er-Jahre von einem rechtlichen Graubereich, verbunden mit sog. wilder Substitution, zu einer in der gesamten Bundesrepublik etablierten Behandlungsmethode entwickelt, die zwar nicht der originären Heilung der Sucht dient, dennoch aber einen humanitären Beitrag in der Drogenhilfe leisten kann.176 Diese Situation zu Beginn der 90er-Jahre stellte aber noch nicht den finalen Standpunkt der Methadon-Behandlung dar, da sich dieser Ansatz durch mehr öffentliche und fachliche Akzeptanz immer weiter entwickelte und zumindest die Folgen der Drogenabhängigkeit erheblich zu mindern vermag.177

3

Wann kommt die Wende in der Drogenpolitik?

Die Drogenpolitik der 80er-Jahre war grundsätzlich, von einigen Ausnahmen abgesehen, von Strafverfolgung und Repression geprägt, wovon vor allem Konsumenten und Kleinsthändler betroffen waren. Trotz der damit einhergehenden negativen Auswirkungen und den erkennbaren Erfolgen akzeptierender Drogenarbeit entschied sich die Bundesregierung, mit dem Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan drogenpolitisch weiterhin auf Strafverfolgung, Repression und Abstinenz zu setzen, anstatt den Abhängigen mit Akzeptanz und Toleranz zu begegnen und Möglichkeiten für ein geregeltes Leben oder einen humanen

173 Vogt, Methadon (o. Fn. 129), S. 46; Michels/Stöver in Stöver, Akzeptierende Drogenarbeit (o. Fn. 159), S. 180, S. 182. 174 Michels/Stöver in Stöver, Akzeptierende Drogenarbeit (o. Fn. 159), S. 180. 175 Kindermann in Kindermann/Sickinger/Hedrich/Kindermann, Drogenabhängig, S. 236. 176 Bossong/Stöver, Methadonbehandlung, S. 50; Michels/Stöver in Stöver, Akzeptierende Drogenarbeit (o. Fn. 159), S. 189; Hellebrand, ZRP, 1991, 414, 417; Butzko, BewHi, 1987, 306; Sickinger, KrimJ, 1983, 284, 288. 177 Michels/Stöver in Stöver, Akzeptierende Drogenarbeit (o. Fn. 159), S. 196.

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Ausstieg aus der Sucht zu eröffnen.178 So sieht die Bundesregierung auch im Jahr 1990 die weiterhin hohe Zahl an Drogentoten nicht als Resultat einer fehlgeleiteten Politik, sondern als Ergebnis der weltweiten Verschärfung des Drogenproblems als solches an.179 Zudem wurde die drogenpolitische Debatte auch durch den medialen Fokus auf die Extrempole, nämlich komplette Drogenfreigabe oder dem War on Drugs, sowie von zahlreichen Mythen und Halbwissen emotionalisiert, während Forschungsergebnissen, Rationalität und Tatsachen immer weniger Platz eingeräumt wurde.180 Das Resultat war ein Stillstand im Bereich der Drogenpolitik, weshalb Erfolge und Neuerungen nur dem Voranschreiten Einzelner, seien es Ermittler, Ärzte, Therapeuten oder Richter, verdanken sind. Ein großes Umdenken ist auf diese Weise aber auch in den 90er-Jahren nicht erfolgt, ist bis heute nicht eingetreten und auch in näherer Zukunft nicht zu erwarten.

178 BMJ/BMI, Nationaler Rauschgiftbekämpfungsplan (o. Fn. 168), S. 31ff. 179 Deutscher Bundestag, BT-Drucks. 12/3956, Umsetzung des Rauschgiftbekämpfungsplans, S. 3. 180 Kreuzer, Arthur in Böker/Nelles, Drogenpolitik wohin? (o. Fn. 4), S. 129ff.

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Die Diskussion um das versammlungsrechtliche »Vermummungsverbot«

1

Einleitung

Anlässe, das sog. strafrechtliche Vermummungsverbot1 zu diskutieren, gibt es seit seinem ersten (1985) bzw. seinem zweiten Erlass (1989) zu genüge. Während 2019 die Proteste in Hongkong das Verbot in die öffentliche Aufmerksamkeit rückten, wirft die 2020 von einigen Bundesländern pandemiebedingt angeordnete Maskenpflicht auf Versammlungen Vereinbarkeitsfragen mit dem Vermummungsverbot auf.2 Hinzu kommt die aufgrund besserer technischer Ausstattung von Kameras bedingte Frage, ob das Verbot nur gegenüber der Polizei gilt und sich z. B. Gegendemonstranten daher zum Schutz vor dem Filmen durch andere Demonstrationsteilnehmer maskieren dürfen.3 Begleitet werden diese Anwendungsfragen von der immer noch schwelenden Debatte um die – nach wohl überwiegender Auffassung bejahte4 – Verfassungswidrigkeit des Verbots. Bei diesen Diskussionen bleiben jedoch die geschichtlichen Hintergründe des Vermummungsverbots größtenteils unberücksichtigt. Das überrascht, denn der zweimalige Erlass des Vermummungsverbots war in der Öffentlichkeit hoch umstritten. Der Entstehungsprozess beider Gesetze bildet daher einen wichtigen (wenn auch keineswegs rühmlichen) Abschnitt in der juristischen Zeitgeschichte der Bundesrepublik. Der folgende Beitrag wirft deshalb einen genaueren Blick auf die Verbotsdiskussion, die in den späten siebziger Jahren begann und sich fast über die gesamten achtziger Jahre erstreckte. Im Fokus stehen dabei zum einen die verschiedenen Argumentationsweisen für und gegen das Verbot und 1 §§ 17a Abs. 2, Nr. 1, 27 Abs. 2, Nr. 2, 3c) VersG. 2 Siehe z. B. § 5 Abs. 2 der Berliner SARS-CoV-2-Infektionsschutzverordnung vom 23. 6. 2020. Zur Anwendung der Maskenpflicht bei gleichzeitigem Vermummungsverbot etwa VG Koblenz, Urt. v. 19. 10. 2020 – 3 K 371/20.KO. 3 Verneinend z. B. KG Berlin, NStZ 2012, 455ff. Bejahend z. B. AG Rotenburg (Wümme), NStZ 2006, 358. Hierzu auch Baha Nurettin Güven, Zur Reichweite des Vermummungsverbotes – Ist Vermummung zum Schutz vor Gegendemonstranten strafbar?, NStZ 2012, 425ff. 4 MüKoStGB/Tölle, 3. Aufl. 2018, VersammlG § 27 Rn. 3 m.w.N.

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seine schrittweise politische Durchsetzung. Zum anderen untersucht der Beitrag die Stellung und Bedeutung von rechtlichen Argumenten in der Verbotsdiskussion.

2

Erste Phase (1977–1985)

Die Debatte um ein strafgesetzliches Vermummungsverbot begann mit einer Gesetzesinitiative der Unionsfraktion im Bundestag am 5. Oktober 1977. Die damals noch als Maskierung bezeichnete Vermummung auf Demonstrationen sollte gesetzlich verboten und das Tragen entsprechender Kleidung mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe geahndet werden.5 Damit beabsichtigte die Unionsfraktion eine deutliche Verschärfung gegenüber der bisherigen Rechtslage, nach welcher ein Vermummungsverbot allein durch Auflagen gem. § 15 des damaligen Versammlungsgesetzes gestattet war.6 Das durch Auflagen erlassene Verbot, sofern sich die Veranstaltungsleiter hiergegen wehrten, war daher primär eine Angelegenheit der Verwaltungsgerichte,7 seltener der Zivilgerichte,8 wenngleich eine veröffentlichte Rechtsprechung erst zu Beginn der Achtziger nachweisbar ist. Das auf den Einzelfall beschränkte und gerichtlich überprüfbare Verbot sollte nunmehr durch einen generellen Straftatbestand ersetzt werden. Die Initiative zum Vermummungsverbot war dabei nicht die einzige strafrechtliche Änderung, die die Unionsfraktion für das Versammlungsrecht anstrebte. Sie war vielmehr Teil eines größeren Gesetzgebungspakets, zu welchem u. a. eine – bereits seit 1974 geforderte9 – Verschärfung des Landfriedensbruchs

5 BT-Drucks. 8/996, S. 1, 6. 6 Hiervon machten die zuständigen Landesbehörden – wie die Antwort auf eine kleine Anfrage im Bundestag 1983 nahelegt – auch ausgiebig Gebrauch. In den Jahren 1980, 1981 und 1982 erließen diese für 1820 Versammlungen Vermummungsverbote per Auflage, siehe Sten.Prot.BT der 25. Sitzung vom 29. 9. 1983, S. 1755. 7 VG Berlin, NVwZ 1982, 268ff. z. B. wies die Klage gegen eine Verbotsauflage in einem Beschluss vom Januar 1982 mit der Begründung ab, dass von einem Teil der Vermummten die Begehung von Ausschreitungen erfahrungsgemäß zu erwarten sei. Hierzu auch: Vermummungsverbot durch Gerichtsbeschluß bestätigt, FAZ vom 22. 1. 1982, 4. Ähnlich urteilte VG Minden, NVwZ 1984, 331f., welches davon ausging, dass die Meinungsäußerung die Identifikation des sich äußernden voraussetze und die Vermummung dem Gedanken der Meinungsfreiheit widerspreche. Eine einheitliche Meinung entwickelte sich in der Rechtsprechung aber nicht. So argumentierte BGH, NJW 1984, 1226, 1236 im Rahmen eines Schadensersatzprozesses, dass die Vermummung keinen Aufschluss über die Gewaltbereitschaft geben könne. 8 Z. B. BGH, NJW 1984, 1226ff. 9 BT-Drucks. 7/2772, S. 1; BT-Drucks. 7/2854, S. 4.

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(§ 125 StGB) und ein strafrechtliches Verbot von sog. »Schutzwaffen« gehörten.10 Da sich die Unionsfraktion aber noch in der Opposition befand und bis Ende 1982 befinden sollte, lehnte die regierende sozialliberale Koalition die Gesetzesinitiative vom Oktober 1977 ohne größere Diskussion ab. Die Unionsfraktion blieb jedoch bei ihren Forderungen und brachte schon am 16. März 1979 und 30. Juni 1981 die nächsten Gesetzesinitiativen ein. Wieder sollte die Vermummung auf Demonstrationen generell verboten und mit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe bestraft werden.11 Und auch der Bundesrat, in dem die Union die Mehrheit innehatte, brachte am 11. Januar 1982 einen Gesetzesentwurf zum Vermummungsverbot ein. Ebenso wie die vorangegangenen Initiativen im Bundestag, setzte sich dieser Vorstoß jedoch nicht durch.12

2.1

Motive und Hintergründe der Forderungen

2.1.1 Liberalisiertes Versammlungsstrafrecht und konservative Kritik Was bewegte die Unionsfraktion zu diesen Gesetzesinitiativen? Um den unmittelbaren Erfolg wird es ihr kaum gegangen sein, denn wie bereits erwähnt, befand sich die Union noch bis Ende 1982 in der Opposition. Die Gesetzesentwürfe waren also vielmehr ein Mittel politischer Kommunikation: Mit ihnen präsentierte sie einen konservativen Gegenentwurf zu dem, ihrer Meinung nach, allzu liberalen und ungeeigneten Versammlungsrecht. Die Anträge waren insbesondere eine Kampfansage an die 1970 von der sozialliberalen Koalition erlassene Liberalisierung des Versammlungsstrafrechts, welche zahlreiche Strafvorschriften des seit 1953 geltenden Versammlungsrechts gestrichen oder gelockert hatte. Insbesondere der Landfriedensbruch (§ 125 StGB), der zuvor die reine Teilnahme an einer unfriedlichen Demonstration bestrafte, beschränkte sich nach der Reform auf die Anwendung oder Förderung von Gewalt.13 Der Zweck der Reform war es, die andauernden Demonstrationsunruhen der 68er-Bewegung zu entschärfen und ein Zeichen in Richtung Liberalisierung des Demonstrationsstrafrechts zu setzen. Nach Meinung der Union und der sie begleitenden konservativen Medien und Meinungsführer hingegen war eine solche Liberalisierung keineswegs geeignet, 10 BT-Drucks. 8/996, S. 1, 6. 11 Hierzu BT-Drucks. 8/2677, S. 3f.; BT-Drucks. 9/628, S. 3. 12 Hierzu BT-Drucks. 9/1258, S. 3, 7. Siehe auch: »Bundestag debattiert über das Verbot von Vermummung und ›passiver Bewaffnung‹«, FAZ vom 23. 10. 1981, 4. 13 Darüber hinaus wurden die noch aus dem Kaiserreich stammenden Straftatbestände des »Aufruhrs« und »Auflaufs« gänzlich gestrichen und eine generelle Strafrechtsamnestie für bereits nach § 125 StGB Angeklagte erlassen. Siehe Straffreiheitsgesetz, in: BGBl. 1970 I S. 509ff. und 3. Strafrechtsreformgesetz, in: BGBl. 1970 I S. 505ff.

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die nach ihrer Ansicht evidente Gefährlichkeit von Demonstrationsgewalt zu mindern. Folglich bildete die Reform des Versammlungsstrafrechts von 1970 für sie einen ständigen negativen Bezugspunkt. Schon früh wies z. B. die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) auf die mangelhafte Wirkung der Reform hin, während politische Kommentatoren sie als rechtlichen und politischen Fehler bezeichneten, den nur ein strengeres Demonstrationsstrafrecht beheben könne.14 Auch die Union griff in ihren Gesetzesinitiativen zwischen 1977 und 1983 diese Meinung auf und hob das reformierte Versammlungsstrafrecht als Negativbeispiel hervor.15 Die Frage, wie mit Demonstrationsunruhen umzugehen sei, sollte stattdessen durch ein härteres Strafrecht, d. h. repressiv beantwortet werden. Die Union beabsichtigte aber nicht, einfach zum alten, vor der Reform von 1970 geltenden, Recht zurückzukehren. Angesichts neuer, im Verlauf der siebziger Jahre entstandener, Protestformen hätte eine einfache Wiederherstellung des ursprünglichen Versammlungsstrafrechts vieles ungeregelt gelassen. Deutlich wird das insbesondere beim Vermummungsverbot, denn Maskierungen auf Demonstrationen tauchten wohl erst ab 1973 auf und waren 1970 noch kein rechtspolitisches Thema.16 Den Initiativen ging es also vielmehr darum, die Grenze zwischen der Versammlungsfreiheit und einer Straftat im konservativen Sinne neu zu ziehen. Daher war es der Union ebenso wichtig, neuere Phänomene, wie eben die Vermummung, die ihrem Ideal eines geordneten und identifizierbaren Aufzugs widersprach, aufzugreifen und für strafwürdig zu erklären. 2.1.2 Demonstrationen und Demonstrationsbild Das politische Klima in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern schien für solche Forderungen günstig. Die Reform von 1970 hatte nicht die gewünschte befriedende Wirkung, denn nach wie vor gab es zahlreiche Demonstrationen mit 14 Z. B.: »Die Amnestie-Debatte im Bundestag«, FAZ vom 28. 2. 1970, 5; »Die Demonstrationen haben nicht abgenommen«, FAZ vom 2. 3. 1971, 3; »Zahl der Demonstrationen steigt«, FAZ vom 14. 4. 1972, 6; Friedrich Karl Fromme, Verteidigungslinie: Der Rechtsstaat, FAZ vom 4. 4. 1973, 1; Ludwig Martin, Reform des Demonstrationsrechts war ein Bärendienst, FAZ vom 7. 6. 1974, 10; Günther Willms, Das überschätzte »Demonstrationsrecht«, FAZ vom 18. 10. 1983, 8. Siehe auch Ludwig Martin, Wie steht es um unseren Staatsschutz?, JZ 1975, 312, 315; Ernst Müller-Meiningen, Strittiges Thema: Landfriedensbruch, SZ vom 4. 4. 1977, 4; »CSU: Steinwerfern Vermummung unmöglich machen«, SZ vom 15./16. 5. 1985, 7. 15 Siehe z. B. BT-Drucks. 8/322, S. 9; Benno Erhard, Initiativen, Alternativen, Verbesserungen – Die Rechtspolitik der CDU/CSU im vergangenen Jahrzehnt, ZRP 1980, 25, 28. Spätere Wiederholung z. B. in Sten.Prot.-BT der 150. Sitzung vom 28. 6. 1985, S. 11260; Sten.Prot.-BR der 568. Sitzung vom 26.9.86, S. 500. 16 Nach Vermutungen des Magazins Der Spiegel tauchte die Maskierung wohl erst 1973 auf, wobei sie vermutlich als Schutz gegen das von der Polizei eingesetzte Reizgas diente, siehe: »Wir machen Rambo auf links«, Der Spiegel vom 9. 11. 1987, 17, 22.

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einem gewaltsamen Verlauf. Zwar waren die überwiegenden Demonstrationen friedlich, zumindest nach den ab 1970 vom Bundesinnenministerium veröffentlichten Statistiken.17 Dennoch standen Demonstrationsunruhen regelmäßig im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit, was nicht zuletzt an den polarisierenden Themen der Proteste lag. In dieser Hinsicht hatte sich seit den Studentenprotesten Ende der sechziger Jahre wenig geändert. Zwar nahm die Größe und Heterogenität der Demonstrationen zu und auch die Themen der sog. neuen sozialen Bewegungen18 waren andere, wie Atomkraft, technische Großprojekte, die Volkszählung oder militärische Abrüstung. Die Protestdynamik war aber weiterhin oft von einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen den Demonstranten und der Einsatzpolizei geprägt. Noch relativ friedlich verliefen die ersten Proteste der neuen sozialen Bewegungen, wie z. B. der gegen das geplante Atomkraftwerk im baden-württembergischen Whyl, das eine Bürgerinitiative 1975 besetzte und so einen Baustopp veranlasste.19 Sehr viel konfliktreicher, oft mit Sachschäden und Verletzten verbunden, waren die Demonstrationen gegen das geplante Kernkraftwerk in Brokdorf,20 die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf 21 und gegen die Frankfurter Startbahn West.22 Barrikaden, Platzbesetzungen, Steinwürfe gehörten genauso zum Bild des Geschehens wie der brachiale Einsatz der Polizei oder des Bundesgrenzschutzes mit Schlagstöcken, Hubschraubern, Wasserwerfern und Reizgas. Und auch die immer öfter zu sehende Maskierung von Demonstranten rückte ab 1974 langsam, aber stetig in das 17 Vgl. die vom Innenministerium herausgegebene Demonstrationsstatistik, abgedruckt bei: Roland Appel/Dieter Hummel, Demonstrationsstatistik – Die Legende vom Anwachsen gewalttätiger Demonstrationen, CILIP Nr. 3 1989, 48ff. 18 Übersicht bei Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 1999, S. 620ff. 19 Dolores Augustine, Whyl, Brokdorf, Seabrook – Die Bekämpfung von Anti-AKW-Protesten zwischen Reform und Remilitarisierung der Polizei, in: Alexandra Jaeger/Julia Kleinschmidt/David Templin (Hrsg.), Den Protest regieren – Staatliches Handeln, neue soziale Bewegungen und linke Organisationen in den 1970er und 1980er Jahren, Essen 2018, S. 155, 163ff.; Heiner Busch/Albrecht Funk/Udo Krauß/Wolf-Dieter Narr/Falco Werkentin, Die Polizei in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1985, S. 328f. 20 Überblick bei Augustine, Whyl, Brokdorf, Seabrook (o. Fn. 19), S. 155, 168ff.; Busch/Funk/ Krauß/Narr/Werkentin, Die Polizei (o. Fn. 19), S. 331; Jürgen Busche, Gewalttäter und Demonstranten, FAZ vom 19.7.83, 8. 21 Überblick bei Janine Gaumer, Machtkampf um die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf – Staatliche Strategien gegen die Anti-Atomkraftbewegung in den 1980er Jahren, in: Jaeger/Kleinschmidt/Templin (Hrsg.), Den Protest regieren (o. Fn. 19), S. 181, 199f. 22 »Wieder Krawall an der Startbahn West in Frankfurt«, SZ vom 1. 2. 1983, 1; »Krawall mit Startbahngegnern«, SZ vom 13. 2. 1983, 1; »Schwere Auseinandersetzungen an der Startbahn West«, SZ vom 14. 3. 1983, 1; »Hessen kauft den ›WaWe 9‹«, SZ vom 28. 4. 1983, 10; »Wieder Zusammenstöße an der Frankfurter Startbahn West«, SZ vom 24. 5. 1983, 2; »Acht Personen bei Krawallen an Startbahn West festgenommen«, SZ vom 4. 11. 1983, 2; »Krawall an der Startbahn West«, SZ vom 6. 3. 1984, 1; »Krawalle an der Startbahn West«, SZ vom 16. 4. 1984, 1; »Startbahngegner legen Feuer auf Frankfurter Flughafen«, SZ vom 14./15. 7. 1984, 2.

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Blickfeld der Tagespresse. Aufmerksamkeit schenkte man ihr vor allem, wenn die Demonstration gewaltsam verlief oder ein gewaltsamer Verlauf zu befürchten war. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) z. B. schilderte im Februar 1974 Unruhen in Frankfurt, welche von zum »Bürgerkrieg« bereiten maskierten Teilnehmern ausgegangen sei.23 Ihr leitender Redakteur Hans Schuster sprach wenige Tage später von Frankfurt als einer »terrorisierten Stadt«.24 Anfang Januar 1977 berichtete die FAZ von einer angekündigten Anti-Schah Demonstration iranischer Studenten, an der, laut Angaben der Versammlungsleiter, 95 % der Demonstranten maskiert teilnehmen würden. Unter anderem mit der Begründung, dass von Maskierten begangene Straftaten nicht verfolgt werden können, untersagte das Ordnungsamt die Demonstration.25 Über den Zweck der Maskierung – womöglich die Angst der Studenten vor staatlichen Repressionen aus dem Iran – verlor die FAZ kein Wort. Im selben Jahr sprach die SZ von gewaltbereiten und maskierten »K-Gruppen« auf der Demonstration gegen das geplante Kernkraftwerk im nordrhein-westfälischen Kalkar.26 Wenngleich diese Berichterstattung oft selektiv arbeitete und manche Proteste rückblickend sehr viel friedlicher waren als dargestellt, bildeten Demonstrationsunruhen bundesweit kontrovers diskutierte Ereignisse. Dabei war es, von wenigen eindeutigen Fällen abgesehen, keineswegs klar, welche Seite die Eskalation der Gewalt zu verantworten hatte. Je nach politischem Standpunkt waren die Auseinandersetzungen Folge eines verfehlten, eskalierenden und unverhältnismäßigen Einsatzes der Polizei oder der Plan des »prügelnden Straßenmobs« und der »kriminellen Chaoten«.27 2.1.3 Konservative Wende Kurz gesagt blieben die Demonstrationsunruhen Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger ein in der öffentlichen Debatte polarisierendes Thema. Entsprechend heftig diskutierte man rechtspolitisch über die Reichweite der Demonstrationsfreiheit und die Abgrenzung von legitimer Meinungsfreiheit und ihrem strafbaren »Missbrauch«. Die oft erbittert geführten Diskussionen verdeutlichten, dass die Maßstäbe, anhand derer Demonstrationen und Demonstrationsunruhen bewertet werden konnten, bestenfalls offen, in den meisten Fällen jedoch heillos umstritten waren. Vor dem Hintergrund der medial präsenten Demonstrationsunruhen und der daran anknüpfenden Kontroversen bot 23 24 25 26 27

Helmut Herles, Erst flogen faule Eier, dann Pflastersteine, SZ vom 25. 2. 1974, 3. Hans Schuster, Die terrorisierte Stadt, SZ vom 27. 2. 1974, 4. Zu alldem: »Ordnungsamt verbietet Demonstration«, FAZ vom 6. 1. 1977, 17. »Friedliche Demonstration in Kalkar«, SZ vom 26. 9. 1977, 2. »CSU: Steinwerfern Vermummung unmöglich machen«, SZ vom 15/16. 5. 1985, 7; »Union sieht Forderung nach Vermummungsverbot bestätigt«, SZ vom 17. 4. 1984, 5.

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sich der Union daher die Gelegenheit, sich mit ihrer Forderung gegen die SPD und FDP abzugrenzen und den Wählern als Alternative zu empfehlen. Wer beim Versammlungsrecht eine harte Haltung demonstrierte und schärfere Gesetze forderte – so die Strategie – konnte sich in Zeiten tatsächlicher oder gefühlter Unsicherheit der medialen Aufmerksamkeit sicher sein und sich als handlungsbereite und -fähige Partei darstellen.28 Dies erklärt auch, warum die Union in Bezug auf die Vermummung vehement ein Verbotsgesetz forderte und sich nicht mit dem möglichen Verbot durch Auflagen zufriedengab. Ein strafgesetzliches Vermummungsverbot sollte die Rechtslage daher nicht nur ändern, sondern vor allem die Handlungsfähigkeit eines starken Staates demonstrieren. Insofern hatten die geforderten Gesetze auch eine, an das erschütterte Sicherheitsgefühl der Wähler adressierte, symbolische Funktion.29 Gleichzeitig artikulierten die Gesetzesanträge die von vielen Konservativen geteilte Meinung, dass die dynamischen, oft ungeordneten und nicht selten gewaltsam verlaufenden Großdemonstrationen der neuen sozialen Bewegungen die Demonstrationsfreiheit überstrapaziert hätten. Neben der unmittelbaren Wahlkampfstrategie drückten die Anträge also das ernst gemeinte Verlangen nach einer, den konservativen Vorstellungen angemessenen, Restriktion des Demonstrationsrechts aus. Sie sollten die vermeintlich unkontrollierten Proteste ordnen und die »friedlichen« vor den »unfriedlichen« Demonstranten schützen.30

2.2

Gefährdeter Staat?

Wie begründeten die Befürworter ihre Forderung nach einem Vermummungsverbot? Auch hier ist zu berücksichtigen, dass das Verbot kein isoliertes Gesetzgebungsvorhaben war, sondern zu einem strafrechtlichen Gesamtpaket gehörte. Das Vermummungsverbot wurde fast immer parallel zur Verschärfung des § 125 StGB und der Normierung des sog. »Schutzwaffenverbots« verlangt und war nur eines von mehreren Mitteln zur repressiven Neugestaltung des Versammlungsrechts. Es ist daher nur aus dem größeren argumentativen Kontext zu verstehen, der diesen geforderten Strafgesetzen zugrunde lag. Zu beachten ist auch, dass sich die Verbotsforderung stets auf die jeweils aktuellen und medial vermittelten Demonstrationen bezogen. Noch auf § 125 28 Ähnlich Peter Floerecke, Staatliche Normsetzung als Politik auf unterschiedlichen »Bühnen«. Empirische Ergebnisse zur Genese des Demonstrationsstrafrechts seit 1970, in: Günther Kaiser/Helmut Kury/Hans-Jörg Albrecht (Hrsg.), Kriminologische Forschung in den 80er Jahren, Freiburg 1988, S. 3, 8. 29 Floerecke, Staatliche Normsetzung (o. Fn. 28), S. 3, 8. 30 BT-Drucks. 9/628, S. 5; »Ungeahnte Brutalität«, FAZ vom 27. 6. 1983, 1.

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StGB beschränkt, sprach der Antrag der Unionsfraktion am 26. April 1977, von den »Erfahrungen der letzten Monate bei den gewalttätigen Demonstrationen in Brokdorf und Grohnde […].«31 Im Gesetzesantrag vom 30. Juni 1981 wurden Anlässe für die Forderungen gleich räumlich konkretisiert: »Berlin, Bremen, Brokdorf, Hamburg, Frankfurt, Freiburg, Nürnberg und andere Städte der Bundesrepublik sind zu Schauplätzen schwerer Gewalt geworden.«32 Auch Fachbeiträge, wie z. B. Detlef Mertens Abhandlung zur »Rechtsstaatsdämmerung« von 1982, hoben den Anlass ihrer Argumentation ausdrücklich hervor und nannten die Demonstrationen in Grohnde und Brokdorf als maßgebliche Ereignisse.33 Derartige Verweise auf das äußere Geschehen waren oft der Ausgangspunkt der Verbotsforderung. Die Argumentation selbst war auf diese Verweise aber nicht beschränkt. Sie bestand – wie in jeder politischen Diskussion – vielmehr darin, einen Deutungsrahmen zu etablieren, nach welchem das strafgesetzliche Vermummungsverbot als geboten und sinnvoll gelten konnte. Einen solchen Deutungsrahmen bot die Diagnose der »Staatsgefährdung« oder »Staatskrise«. Hiernach stelle die (allein von den Demonstranten ausgehende) ausartende Demonstrationsgewalt den Staat oder seine zentralen Funktionen infrage. So erhielten Demonstrationsdelikte eine über die einfache Rechtsgutsverletzung hinausgehende gefährliche Qualität, welche ein möglichst früh ansetzendes Strafrecht notwendig erscheinen ließ. Die Befürworter des Verbots bedienten sich damit des, unter zeitgenössischen Konservativen beliebten, Topos vom bedrohten Staat.34 Ebenso wie in anderen politischen Bereichen wurde dieser im Versammlungsstrafrecht argumentativ platziert und für eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit fruchtbar gemacht. 2.2.1 Konservatives Staats- und Demonstrationsverständnis Der Deutungsrahmen der Staatsgefährdung lebte zunächst einmal von einem idealisierten Bild des Staates, welches der destruktiven Demonstrationsgewalt gegenübergestellt werden konnte. Nicht zufällig nahmen unter den Befürwortern eines härteren Versammlungsstrafrechts, neben Politikern, Zeitungsredakteuren 31 BT-Drucks. 8/322, S. 9. 32 BT-Drucks. 9/628, S. 5. Weitere Bezüge z. B. bei »Union sieht Forderung nach Vermummungsverbot bestätigt«, SZ vom 17. 4. 1984, 5. 33 Detlef Merten, Rechtsstaatsdämmerung, in: Festschrift für Rudolf Samper, Stuttgart u. a. 1982, S. 35, 45f. 34 Siehe z. B. »Der Staat ist in Gefahr«, FAZ vom 6. 10. 1983, 11. Beispielhaft auch Martin, JZ 1975 (o. Fn. 14 ), 312, 315, für den das Demonstrationsstrafrecht ein Teil des »materiellen Staatsschutzrechtes« war. Allgemein hierzu Christoph Möllers, Der vermisste Leviathan – Staatstheorie in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 2016, S. 44ff.

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und leitenden Ministerialbeamten, auch Staats- und Verwaltungsrechtler (und nicht so sehr Strafrechtler) eine hervorgehobene Stellung ein. Sie veröffentlichten Anfang der achtziger Jahre kurz aufeinander folgend Beiträge in Fachzeitschriften oder Sammelwerken, welche für eine härtere Gangart des Staates gegen die als bedrohlich empfundenen Demonstrationsunruhen plädierten und ebendies staatstheoretisch untermauerten. Zu diesen Begründungen gehörte allen voran ein strikt vom Staat her gedachtes Grundrechtsverständnis. Die für den Staat konstitutive Sicherheitsfunktion35 erklärte man zum Fundament der Grundrechte, welche nur existieren könnten, solange ein starker, den Rechtsfrieden sichernder, Staat für ihren Schutz sorge.36 Die Versammlungsfreiheit war demnach auf die Sicherheitsgarantie des Staates angewiesen. Schon hieraus ergab sich eine feste Rangordnung: Der Staat und seine zentralen Funktionen (innere Sicherheit, der Rechtsfrieden, das Gewaltmonopol37 oder der öffentlichen Frieden) waren dem Grundrechtsgebrauch potenziell übergeordnet. Wo also im Fall der Demonstrationsgewalt ein ernsthafter Konflikt zwischen dem Staat und der Versammlungsfreiheit festgestellt werden konnte, war letztere nachrangig. Auf individueller Ebene wiederum korrespondiere mit den Grundrechten eine »Friedenspflicht«38 aller Staatsbürger, welche man einem vermeintlich exzessiven Freiheitsgebrauch gegenüberstellte. Ergänzt wurde dieses staatszentrierte Bild durch eine generelle Skepsis gegenüber der auf (Groß-)Demonstrationen zum Ausdruck kommenden sog. »Massendemokratie«, welche der eigentlichen Parteiendemokratie widersprach.39 Dabei war sich die große Mehrheit einig, dass Demonstrationen ein von Art. 8 GG geschütztes Freiheitsrecht darstellten. Weitergehende Ansätze, wie etwa der Versuch Hans Stöckers, die Demonstrationsfreiheit ganz aus Art. 8 GG zu verbannen, setzten sich im Ergebnis nicht durch.40 Dennoch zeigten sich viele Autoren darüber besorgt, dass eine demonstrierende Minderheit der Straße die parlamentarisch legitimierte Mehrheit des Volkes unter Druck setzen oder sogar 35 Merten, Rechtsstaatsdämmerung (o. Fn. 33), S. 35, 48. 36 »Vermummung, Datenschutz, Verfassungstreue – Thesen der CDU zur inneren Sicherheit«, FAZ vom 31. 8. 1982, 2; Josef Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit – Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, Berlin 1983, S. 19; Karl Hillermaier, Der Rechtsstaat als Garant der Grundrechte, BayVBl., 1984, 577ff. 37 Martin Kriele, Freiheit und Gleichheit in: Ernst Benda/Werner Maihofer/Hans-Jochen Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik, Berlin/New York 1983, S. 129, 153f. 38 Isensee, Sicherheit (o. Fn. 36), S. 23f. 39 David Templin/Julia Kleinschmidt, Einleitung – Protest und Regieren in den 1970er und 1980er Jahren, in: Jaeger/Kleinschmidt/Templin (Hrsg.), Den Protest regieren (o. Fn. 19), S. 7, 30. 40 Hans Stöcker, Das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit – eine ochlokratische Fehlinterpretation, DÖV 1983, 993ff.

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politisch überwältigen könne.41 Die neuen sozialen Bewegungen sah man im Widerspruch zur repräsentativen Demokratie und erst recht galten Demonstrationen nicht als Korrektur des Repräsentativsystems. Sie könnten daher auch keine Sonderstellung innerhalb der Rechte anderer behaupten, sondern müssten sich in das gesellschaftliche Bedürfnisgefüge einordnen. Wo eine Demonstration also die gleichwertige Gewerbe-, Verkehrs- oder Handlungsfreiheit behindere, habe sie im Zweifel zurückzutreten.42 Aber nicht nur den vermeintlichen Widerspruch zur Parteiendemokratie hob man hervor, sondern auch die potenzielle Gefährlichkeit einer Demonstration an sich. So betonten Beiträge z. B. von Gerhard Erdsieck, Hans Stöcker und Alexander Hollerbaum ein (im damaligen konservativen Denken ebenfalls beliebtes) Misstrauen gegenüber der demonstrierenden »Masse«. Sich auf Gustav Le Bons 1895 verfasstes Buch »Psychologie der Massen« beziehend, sahen sie in Demonstrationen eine irrationale, schwer kontrollierbare und potenziell gefährliche Ansammlung von Personen.43 Die medial wahrgenommene Gewalt entsprang nach ihrer Deutung aus dem »Wesen« der Demonstration selbst und nicht aus konkreten Geschehensabläufen vor Ort. Gewalt und Gewaltbereitschaft waren den Demonstrationen naturgemäß zukommende Eigenschaften. Jede Unruhe war folglich das Ergebnis einer demonstrationstypischen Gefahr,44 was die Argumentation der Befürworter von einer spezifischen und kontextbezogenen Analyse des Demonstrationsgeschehens entlastete. 2.2.2 Terrorismus, Weimar, Gewalteskalation In direkter oder indirekter Anknüpfung an dieses Staatsbild diagnostizierten Fachbeiträge, Zeitungsartikel oder die Union im Bundestag und Bundesrat eine von der Demonstrationsgewalt ausgehende Gefährdung des Staates oder seiner wesentlichen Funktionen. Sprachlich und strukturell war diese Diagnose alles andere als einheitlich, was sowohl an der kontroversen Natur der Demons41 »Das Recht ist ein Instrument des Friedens«, FAZ vom 17. 1. 1983, 5; Dieter Blumenwitz, Versammlungsfreiheit und polizeiliche Gefahrenabwehr bei Demonstrationen, in: Festschrift Samper (o. Fn. 33), S. 131, 133f. 42 Isensee, Sicherheit (o. Fn. 36), S. 48. 43 Gerhard Erdsieck, Die gewalttätige Demonstration im Rechtsstaat, FAZ vom 18. 8. 1969, 2; Alexander Hollerbaum, Demonstrationsfreiheit – Rückschritt zur plebiszitären Demokratie oder Ergänzungsvotum zu Art. 38 GG, Köln 1981, S. 22; Stöcker, DÖV 1983 (o. Fn. 40), 993, 996, 1002. Kritisch hierzu Alexander Kostaras, Zur strafrechtlichen Problematik der Demonstrationsdelikte unter Berücksichtigung von verfassungstheoretischen und massenpsychologischen Aspekten, Berlin 1982, S. 52f. Ähnlich auch Martin, JZ 1975 (o. Fn. 14), 312, 315, der von »Sturmfluten« sprach. 44 Gerd Benrath, Legalität und Opportunität bei strafrechtlichem Vermummungsverbot, JR 1984, 1, 3; Günther Schultz, Blick in die Zeit, MDR 1983, 183.

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trationsunruhen als auch an den unterschiedlichen Kommunikationsplattformen (wie Fachbeiträgen, Plenardebatten und Zeitungsberichten) lag. Deshalb überrascht es nicht, dass sich die meist polemische Argumentation selten um begriffliche Klarheit oder systematische Geschlossenheit kümmerte. So blieb z. B. der Bezugspunkt der Gefährdung sprachlich immer vage: Mal war der gesamte Staat bzw. Rechtsstaat gefährdet,45 mal seine wesentlichen Aufgaben wie die »innere Sicherheit«,46 der »Gemeinschaftsfrieden«,47 der »Rechtsfrieden«48 oder die »Autorität«.49 Nichts anderes galt für die zeitliche Perspektive, denn ob die Staatskrise schon begonnen hatte,50 unmittelbar drohte oder erst mittelfristig zu erwarten sei, wollte niemand so recht beantworten. Auch ein empirischer Zugang im Sinne eines tatsächlich zu beobachtenden Zerfalls von staatlichen Institutionen spielte keine entscheidende Rolle. Zwar zog die Union mit dem Beginn der Achtziger ebenfalls die Statistiken des Innenministeriums über die Zu- oder Abnahme von unfriedlichen Demonstrationen heran. Besonders aussagekräftig waren sie aber nicht. Wenn überhaupt, legten sie eine zahlenmäßige Abnahme von unfriedlichen Demonstrationen nahe. Für das Bild der Staatskrise waren statistische Bezüge damit eher zweitrangig,51 insbesondere, weil die Demonstrationsunruhen bereits durch die mediale Berichterstattung offenkundig waren. So zeigen die Verweise der Gesetzesinitiativen auf die »Erfahrungen der letzten Monate«,52 den Demonstrationen der »letzten Zeit«53 oder die oben genannten räumlichen Anknüpfungen, dass die Union die Ereignisse, über die sie sprach, als bekannt voraussetzte. Sehr viel wichtiger und beliebter waren assoziativ wirkende Vergleiche, allen voran mit dem Terrorismus, dem Ende der Weimarer Republik, einem Bürgerkrieg, der Anarchie oder allgemeiner der Gewalteskalation. Sie verliehen der Verbindung zwischen Demonstrationsgewalt und der Staatskrise eine Glaub45 46 47 48 49 50

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Herbert Bolten, Der Staat ist in Gefahr, FAZ vom 6. 10. 1981, 11. BT-Drucks. 8/322, S. 8. BT-Drucks. 7/2772, S. 1; BT-Drucks. 7/2854, S. 1. Rupert Scholz, Rechtsfrieden im Rechtsstaat – Verfassungsrechtliche Grundlagen, aktuelle Gefahren und rechtspolitische Folgerungen, NJW 1983, 705ff. Merten, Rechtsstaatsdämmerung (o. Fn. 33), S. 35, 48. Dies legte die Gesetzesinitiative vom 11. 11. 1974 nahe: »Radikale Gruppen und subversive Kräfte mißbrauchen in extensiver Weise und unter Anwendung sich steigernder Gewalt das Demonstrationsrecht im Kampf gegen verfassungsmäßige Ordnung und Rechtsstaat und fordern offen zu gewaltsamem Umsturz auf.« Siehe BT-Drucks. 7/ 2772, S. 1. Siehe auch Sten.Prot.-BT der 57. Sitzung vom 24. 2. 1984, S. 4074. Sten.Prot.-BT der 150. Sitzung vom 28. 6. 1985, S. 11272: »Es ist doch im Grunde genommen völlig unerheblich, wie viele Demonstrationen friedlich oder unfriedlich verlaufen. Das Ziel des Gesetzgebers muß es sein, jede Art von Gewalttätigkeit in einer Demonstration zu verhindern und fernzuhalten.« BT-Drucks. 8/322, S. 9. BT-Drucks. 9/628, S. 1, 5.

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würdigkeit, die publikumswirksam vermittelt werden konnte. Insbesondere der Terrorismusvergleich war hierfür geeignet, denn er rückte die Demonstrationsdelikte an ein Problemfeld heran, dessen staatsgefährdende Natur parteiübergreifend anerkannt war.54 Solche Bezüge waren keineswegs neu und existierten schon seit den späten Sechzigern in Bezug auf die Studentenproteste. So sprach der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger 1968 im Hinblick auf die Studentenunruhen vom »Terror der Straße«.55 Die Bezüge existierten fort, als die Studentenproteste abklangen und durch die Demonstrationen der neuen sozialen Bewegungen ersetzt wurden.56 Und auch nachdem der mediale und tatsächliche Höhepunkt terroristischer Gefährdung im Herbst 1977 erreicht war, blieb die Verbindung von Demonstrationsdelikten und Terrorismus in den achtziger Jahren lebendig. In regelmäßigen Abständen aktivierte sie die Fachliteratur und Tagespresse nunmehr zugunsten eines härteren Demonstrationsstrafrechts.57 Genauso bediente sich die Union dieser Vergleiche in ihren Gesetzesanträgen und öffentlichen Forderungen.58 Schon der erste Antrag platzierte das Vermummungsverbot neben die »Bekämpfung der terroristischen Gewaltkriminalität«, freilich ohne eine ausdrückliche Gleichsetzung zu wagen.59 Ähnlich verfuhr die rechtspolitische Bilanz der Union von 1980, nach der die Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts ein Kampf gegen die »terroristische Gewaltkriminalität« war.60 Mitte der Achtziger wurden die Vergleiche immer direkter. So behauptete der damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU):

54 Beispielhaft ist hier die Zusammenarbeit der sozialliberalen Koalition mit der Union während des Deutschen Herbstes in Bezug auf das sog. »Kontaktsperregesetz« vom 2. 10. 1977. 55 Zit. nach Andreas Musollf, Die Terrorismusdiskussion in Deutschland vom Ende der sechziger bis Anfang der neunziger Jahre, in: Georg Stözel/Martin Wengeler, Kontroverse Begriffe – Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin/New York 1995, S. 405, 407. Zur Übernahme des Vergleichs durch den Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann, siehe: »Das ist Terror der Straße«, Der Spiegel vom 1. 12. 1986, 45, 50. 56 So bezeichnete der damalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg Hans Filbinger 1975 die Demonstranten gegen das geplante Atomkraftwerk Whyl als »bundesweit organisierten Extremisten«, die nicht geduldet werden könnten, siehe Busch/Funk/Krauß/Narr/ Werkentin, Die Polizei (o. Fn. 19), S. 329. Siehe auch Stephan Scheiper, Innere Sicherheit – Politische Anti-Terror-Konzepte in der Bundesrepublik Deutschland während der 1970er Jahre, Paderborn u. a. 2010, S. 351. 57 Z. B. Schuster, SZ vom 27. 2. 1974 (o. Fn. 24), 4. Bezeichnend ist auch die Äußerung des damaligen bayerischen Innenministers Gerold Tandler, nach dem es »Flagge gegen die zunehmende Eskalation des Straßenterrors« zu zeigen galt, siehe: »Sind wir denn hier in Südamerika?«, Der Spiegel vom 16. 3. 1981, 17. 58 »Union sieht Forderung nach Vermummungsverbot bestätigt«, SZ vom 17. 4. 1984, 5. 59 BT-Drucks. 8/996, S. 1. 60 Erhard, ZRP 1980 (o. Fn. 15), 25, 28.

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»Wer dem vermummten Gewalttäter die Anonymität nimmt, geht gegen den Nachwuchs und das Sympathisantenfeld der Terroristen und der Gewalt vor.«61

Und in der Bundestagsdebatte vom 28. Juni 1985 stellte der Abgeordnete Karl Miltner fest: »Die Novelle zum Demonstrationsrecht wird die Gewalt bei öffentlichen Demonstrationen abbauen. Die Novelle wird die friedlichen Demonstranten vor Gewalt und Terror besser schützen.«62

Die Wortwahl war natürlich nicht auf den Ausdruck »Terrorismus« fixiert. Oft reichte die sprachliche Nähe zur Eskalation oder einem Bürgerkrieg aus, um dringenden Handlungsbedarf zur Ahndung der »Rechtsbrüche« anzuzeigen.63 Beliebt waren zudem Kriegsmetaphern von »Straßenschlachten«64 oder, wie im Antrag der Unionsfraktion vom 30. Juni 1981, die »unerträglichen« gewalttätigen Ausschreitungen.65 In ähnlicher Weise nutzte man »Weimar« als Argument,66 wenngleich nicht in demselben Umfang. Die Beiträge warnten vor dem »Schicksal Weimars«, der drohenden Anarchie oder Barbarei.67 Und auch hier lassen sich die Vergleiche bis zu dem Ende der Sechziger zurückverfolgen.68 Sie erschöpften sich aber keineswegs in Wortspielen. Vielmehr war man bemüht, mithilfe historischer Parallelen eine innere Verbindung von Demonstrationsgewalt und Terrorismus zu ziehen. Als Nachweis dienten erneut die Studentenproteste und der Linksterrorismus. In einem 1983 erschienen Beitrag in der NJW führte Rupert Scholz exemplarisch aus: »Bereits Ausgang der 60er Jahre wurden von den damaligen studentischen Protestbewegungen und ihren Vätern Gewalttätigkeiten gegenüber Sachen als ›legitimer Protest‹ ausgegeben, weil es ja ›nur‹ um die Beschädigung materieller Güter und nicht um die Beschädigung von Leib und Leben ginge. Wohin diese Entwicklung geführt hat, ist bekannt. Bekannt ist vor allem, daß sich auch die Wurzeln des Terrorismus in vielfältiger Weise auf jene schein-legitimatorischen Rechtfertigungsversuche zurückgeführt haben.«69 61 »Zimmermann beharrt auf Verbot der Vermummung«, SZ vom 2. 5. 1985, 6. 62 Sten.Prot.-BT der 150. Sitzung vom 28. 6. 1985, S. 11272. 63 Sten.Prot.-BT der 57. Sitzung vom 24. 2. 1984, S. 4074; Blumenwitz, Versammlungsfreiheit (o. Fn. 41), S. 131, 144; Stöcker, DÖV 1983 (o. Fn. 40), 993, 998. 64 »Demonstranten kündigen einen heißen Herbst an«, FAZ vom 12. 7. 1973, 23; »Die hessische Landesregierung untersagt vorerst weitere Demonstrationen in Frankfurt«, FAZ vom 26. 2. 1974, 1; Martin, FAZ vom 7. 6. 1974 (o. Fn. 14), 10. 65 BT-Drucks. 9/628, S. 1. 66 Allgemein hierzu Christoph Gusy (Hrsg.), Weimars lange Schatten – »Weimar« als Argument nach 1945, Baden-Baden 2003. 67 Merten, Rechtsstaatsdämmerung (o. Fn. 33), S. 35, 49. 68 Alfred Rapp, Die Tumulte und die Toleranz, FAZ vom 18. 2. 1969, 1; Erdsieck, FAZ vom 18. 8. 1969 (o. Fn. 43), 2. 69 Scholz, NJW 1983 (o. Fn. 48), 705, 707.

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Ähnliche Gedanken finden sich in dem Beitrag von Detlef Merten: »Eine Kette von Gewalttaten zieht sich mit zunehmender Radikalisierung und Brutalisierung von den Studentenunruhen in Berlin über die Ausschreitungen bei Kernkraftwerken (Grohnde, Brokdorf), die Bremer Bundeswehrkrawalle, die Frankfurter Flughafen-Blockade, bis hin zu den Hausbesetzungen, vor allem wieder in Berlin, hinterlassen die Morde an dem Berliner Kammergerichtspräsidenten von Drenkmann, an Generalbundesanwalt Buback, dem Bankier Ponto, dem Industriellen Schleyer und dem hessischen Minister Karry eine deutliche Spur. Nicht weniger gefährlich als eine spektakuläre Gewalttat ist für den Rechtsstaat jenes ›bißchen Gewalt‹, das Bürger zur effektivieren Durchsetzung ihrer Interessen heute schon als legitim und sozialadäquat ansehen und das den Rechtsstaat ebenfalls im Kern trifft.«70

Und auch der Vergleich mit dem Ende der Weimar Republik verharrte nicht an der sprachlichen Oberfläche, sondern verstand sich als historische Lektion, die aus den Straßenschlachten der zwanziger und frühen dreißiger Jahre sowie aus dem Untergang der ersten Demokratie zu ziehen sei71 und welche zumeist in eine Empfehlung zur Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts mündete.72 Solche inhaltlichen und historischen Verbindungslinien waren zwar unter Zeitgenossen nicht unumstritten. Dennoch besaßen sie im Kontext der damaligen, vom Linksterrorismus und Demonstrationsunruhen verunsicherten, Öffentlichkeit einiges an Überzeugungskraft. Im konservativen Spektrum waren solche Verknüpfungen ohnehin mehrheitsfähig, da der Terrorismus und die Demonstrationsgewalt als wesensverwandte Phänomene galten, deren Gemeinsamkeit in einer gegen den Staat gerichteten Anmaßung privater Macht bestand.73 Sie wurden aber auch außerhalb offiziell konservativer Kreise zur Interpretation von Studenten- bzw. Demonstrationsunruhen herangezogen.74 Konsequenterweise war es in der öffentlichen Meinung nicht fernliegend, die Schwelle der inakzeptablen, weil staatsgefährdenden Gewalt sehr niedrig anzusetzen und sie schon beim zivilen Ungehorsam als überschritten anzusehen.75 Ähnliche Schlagkraft besaß der Verweis auf Weimar. Nicht nur konnte die Argumentation teils an lebendige Erinnerungen anknüpfen. Sie spiegelte die verbreitete Meinung wider, dass die Demonstrationsunruhen und Straßenkämpfe oder allgemeiner ein

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Merten, Rechtsstaatsdämmerung (o. Fn. 33), S. 35, 45f. Willms, FAZ vom 18. 10. 1983 (o. Fn. 14), 8; Hillermaier, BayVBl. 1984 (o. Fn. 36), 577. Schultz, MDR 1983 (o. Fn. 44), 183, 184f. Ähnlich Thomas Biebricher, Geistig-moralische Wende – Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus, Berlin 2019, S. 128. 74 »›Mord beginnt beim bösen Wort‹«, Der Spiegel vom 17. 10. 1977, 203; Schuster, SZ vom 27. 2. 1974 (o. Fn. 24), 4. Siehe auch Scheiper, Innere Sicherheit (o. Fn. 56), S. 123f., 138f. 75 »Recht auf Versammlungsfreiheit wird überbewertet, sagt Spranger«, SZ vom 4. 5. 1984, 8; Merten, Rechtsstaatsdämmerung (o. Fn. 33), 35, 46.

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Zuviel an Demokratie die entscheidenden Ursachen für den Untergang der Weimarer Republik gewesen seien.76 2.2.3 Grundrechtsmissbrauch, Hemmschwelle, Beweisschwierigkeiten Die Staats- und Demokratieverständnisse und die Staatskrise bildeten den argumentativen Hintergrund, in den sich die Vermummung als strafwürdiges Verhalten einordnen ließ. Entsprechend negativ war das Bild von maskierten Demonstranten. Das zeigte sich bereits im kriminellen Beiklang des Wortes »Vermummung«, wenngleich auch die Kritiker selbst oft diesen Begriff verwendeten. Die Befürworter des Verbots waren sich zudem darin einig, dass die Vermummung keine Grundrechtsausübung darstellte und jede Meinungsäußerung die Identifikation der sich Äußernden verlangte. So befand sich die Verschleierung der Identität schon begrifflich außerhalb jedes grundrechtlichen Schutzbereiches. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie z. B. kulturellen Veranstaltungen, kannte man kaum Gründe, weshalb jemand auf einer Demonstration anonym bleiben wollte.77 Stattdessen sei die Vermummung ein Anzeichen der Gewaltbereitschaft, werde also vor allem von jenen genutzt, die das Grundrecht der Demonstrationsfreiheit »missbrauchen« würden.78 Die Befürworter präsentierten damit eine griffige schon aus dem äußeren Erscheinungsbild ableitbare Antwort auf die umstrittene Frage, wann ein Demonstrant unfriedlich war. Kurz vor dem Erlass des ersten Verbots fasste der Abgeordnete Anton Stark in der Plenardebatte vom Juli 1985 die Position wie folgt zusammen: »Vermummung und passive Bewaffnung passen unseres Erachtens nicht zu einer friedlichen Demonstration […]. Wer demonstrieren will, soll sein Gesicht zeigen. ›Demonstrare‹ heißt sich zeigen. […] In unserem freiheitlichen Rechtsstaat hat niemand einen berechtigten Grund, vermummt und passiv bewaffnet durch die Gegend zu ziehen.«79

Vom Deutungsrahmen der Staatskrise ausgehend, folgte die genauere Begründung des Verbots im Übrigen der für das Präventionsstrafrecht typischen Logik:

76 Schultz, MDR 1983 (o. Fn. 44), 183, 184f.; Hillermaier, BayVBl. 1984 (o. Fn. 36), 577. 77 Sten.Prot.-BT der 150. Sitzung vom 28. 6. 1985, S. 11260, 11271; Blumenwitz, Versammlungsfreiheit (o. Fn. 41), S. 131, 141; FAZ vom 16. 5. 1981, 12; »Stimme der Anderen – Vermummte Demonstranten«, FAZ vom 21. 3. 1981, 2. 78 Parteitag der CDU in Niedersachsen, FAZ vom 30. 3. 1981, 4; Jürgen Busche, Wofür demonstriert ihr, wenn ihr euch vermummt?, FAZ vom 26. 7. 1983, 3. Zeitgenössische Nachweise und Kritik zum Begriff des Missbrauchs bei Jörn-Henrik Meyn, Die sogenannte Vermummung und passive Bewaffnung – Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Probleme unter besonderer Berücksichtigung der Änderung des Versammlungsgesetzes von 1985, Frankfurt a.M. u. a. 1988, S. 115f. 79 Sten.Prot.-BT der 150. Sitzung vom 28. 6. 1985, S. 11260.

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Da Demonstrationsdelikte den Staat und seine Aufgaben gefährden und die Vermummung solche Delikte befördere, müsse so früh wie möglich, nämlich bereits bei den Vorstufen der Straftat angesetzt werden, zumindest aber durften die Straftaten nicht ungeahndet bleiben. So überrascht es kaum, dass die spezifischen Argumente für das Vermummungsverbot gerade nicht am (idealtypischen) Tatstrafrecht und der Idee der Rechtsgutsverletzung orientiert waren und sich stattdessen auf den Präventionsgedanken und die Vermeidung von Dunkelziffern konzentrierten. Daher bemühten sich die Befürworter, einen inneren Zusammenhang von Anonymität und Demonstrationsgewalt aufzuzeigen, etwa indem sie eine die Hemmschwelle senkende Wirkung der Anonymität unterstrichen oder die Korrelation von Maskierung und unfriedlichen Demonstrationen hervorhoben.80 In der Gesetzesinitiative der Unionsfraktion vom 30. Juni 1981 lautete die Begründung beispielsweise: »Die Erfahrungen mit unfriedlich verlaufenden Demonstrationen belegen, daß die Basis der Gewalt erheblich größer geworden ist. Es hat sich weiterhin gezeigt, daß sich militante Demonstranten typischerweise durch Vermummung und sonstige Unkenntlichmachung der Strafverfolgung entziehen […].«81

Und da Filmaufnahmen von Vermummten kaum noch möglich seien,82 hob man die Unerträglichkeit einer Dunkelziffer bei Demonstrationsdelikten besonders hervor und näherte sich so erneut dem Themenfeld des Terrorismus an, weil auch dort die Nichtaufklärung als nicht hinnehmbar galt.83 Dass die Lösung dieser Probleme allein in einem neuen Strafgesetz bestand, war dabei eine kaum hinterfragte Prämisse, sodass fast jede Argumentationskette entweder direkt oder andeutungsweise auf ein strafrechtliches Vermummungsverbot hinauslief.84 Zuweilen sicherte man sich aber auch mit der (etwas lückenhaften) Begründung

80 Sten.Prot.-BT der 59. Sitzung vom 22. 10. 1981, S. 3387; Sten.Prot.-BT der 121. Sitzung vom 8. 2. 1985, S. 9001; Scholz, NJW 1983 (o. Fn. 48), 703, 711; »Polizeioberrat wirft Richtern Weltfremdheit vor – Für Vermummungsverbot bei Demonstrationen«, FAZ vom 12. 10. 1984, 53; »Fragen nach dem Vermummungsgesetz«, FAZ vom 19. 4. 1985, 4. 81 BT-Drucks. 9/628, S. 5. 82 BT-Drucks. 8/322, S. 9. 83 BT-Drucks. 8/996, S. 11258: »Ganz schlimm und für einen Rechtsstaat unerträglich ist aber die Tatsache, daß unter der jetzigen Rechtslage wenige der Tausenden von Gewalttätern überhaupt bestraft werden, weil sie überhaupt nicht gefaßt werden können.« Siehe auch Wolfgang Fach, Souveränität und Terror, Leviathan 1978, 333: »[…] nirgends scheinen Dunkelziffern weniger lässlich als gerade bei terroristischer Kriminalität.« 84 Seltene Kritik, zumindest an den technischen Schwierigkeiten eines solchen Verbots, übte Friedrich-Christian Schroeder, Soll Vermummung strafbar sein?, FAZ vom 16. 5. 1981, 12.

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ab, dass ein gesetzliches Verbot schon deshalb praktisch nötig sei, weil Auflagen die Vermummung auf Spontandemonstrationen nicht erfassen würden.85

2.3

Kritik

Aufgrund der kontroversen und politisch gefärbten Natur des Demonstrationsstrafrechts kam erwartungsgemäß schon bald Kritik an den Forderungen der Unionsfraktion, insbesondere dem Vermummungsverbot, auf. Allerdings setzte diese Kritik nicht sofort ein. Die zwischen 1977 und 1981 eingebrachten Anträge und Begründungen der Unionsfraktion zogen noch keine größere Beachtung auf sich, zumindest nicht im Hinblick auf das Vermummungsverbot. Erst mit dem sich abzeichnenden Regierungswechsel 1982 nahm die Kritik zu. Sie war, anders als aufseiten der Befürworter, politisch deutlich heterogener und erstreckte sich vom linken Flügel der FDP bis in das neomarxistische Spektrum. Breit gestreut waren daher auch die Kritikpunkte, die von einem generellen Staatsmisstrauen bis hin zu rechtspraktischen Umsetzungsschwierigkeiten reichten. 2.3.1 Gefährdete Freiheit? Fundamentale Kritik übten die den neuen sozialen Bewegungen nahestehenden Medien. Eine bedeutende Rolle, vor allem im Bundestag ab 1983, kam zudem der 1979 gegründeten Partei Die Grünen zu, die sich zu großen Teilen aus einzelnen Organisationen und Verbänden der neuen sozialen Bewegungen rekrutierte. Da die (Groß-)Demonstration für sie die wesentliche Ausdrucksform ihrer politischen Forderungen war, musste sie das von der Union gewünschte Demonstrationsstrafrecht und allgemeiner jede staatliche oder polizeiliche Einschränkung als Bedrohung ihrer Partizipationsfähigkeit empfinden. Ihre Argumentation gegen das Vermummungsverbot kreiste genauso wie die der Befürworter um den Staat und seinem Verhältnis zur Demokratie, war aber in vielerlei Hinsicht spiegelverkehrt: Statt des von Demonstrationsgewalt gefährdeten Staates, bildete nunmehr die vom Sicherheitsstaat gefährdete Demonstrationsfreiheit den argumentativen Hintergrund. Auch die Kritik aus den neuen sozialen Bewegungen arbeitete also mit einem auf den Staat bezogenen Deutungsrahmen, innerhalb dessen sie die Maskierung nunmehr legitimierend platzierte. Dieses Bild eines, die Freiheit bedrohenden, Sicherheitsstaates knüpfte in vielen Punkten an das Staatsmisstrauen der Studentenbewegung der späten Sechziger an. Daher 85 Herbert Kast, Das neue Demonstrationsrecht – Das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches und des Versammlungsgesetzes vom 18. Juli 1985 und seine Vorgeschichte, Köln 1986, S. 34f.

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überrascht es nicht, dass Publikationsorgane, wie die Kritische Justiz oder Vereine wie die Humanistische Union, zusammen mit später hinzugekommenen Zeitschriften wie CILIP und zahlreichen Einzelpublikationen das Demonstrationsverständnis der neuen sozialen Bewegungen aus linker bzw. bürgerrechtlicher Sicht artikulierten, wobei die Publikationstätigkeit keineswegs auf diese Medien beschränkt war. 2.3.1.1 Demonstrationsfreiheit und Volkssouveränität Auch die Kritiker erkannten an, dass die Demonstrationen aus dem klassischen Bild der repräsentativen Parteiendemokratie herausfielen.86 Darin sahen sie allerdings kein Problem, im Gegenteil.87 Demonstrationen konnten sowohl politische Entscheidungsprozesse korrigieren oder – noch weitergehender – eine demokratiebildende Aufgabe haben.88 Wesentlich für die Demokratie seien Demonstrationen nicht zuletzt deshalb, weil nur mit ihnen eine im parlamentarischen Betrieb ungehörte Minderheit öffentliche Aufmerksamkeit erlangen könne.89 In jedem Fall sei sie ein wesentlicher Ausdruck der Volkssouveränität gegen verkrustete Repräsentationsstrukturen.90 Wegen der Nähe zu den Protestbewegungen wurden die neuen Formen und die Größe der Demonstrationen als Errungenschaft oder zumindest als anzuerkennende politische Kommunikation hervorgehoben.91 Und auch vereinzelte Gewalt auf Demonstrationen führe nicht automatisch zu ihrer Unfriedlichkeit.92 Nicht zuletzt, weil man einen sehr viel engeren Gewaltbegriff vertrat, war die Gleichsetzung von zivilem Ungehorsam und Gewalt nicht haltbar.93 Die Grenze zogen die Vertreter des linken Spektrums bei der Gefährdung und Verletzung der Individualrechtsgüter, nicht jedoch bei dem diffusen »öffentlichen Frieden« oder der »öffentlichen Sicherheit«.94 Den vom klassischen Demonstrationsverständnis

86 Thomas Blanke/Dieter Sterzel, Demonstrationsfreiheit – Geschichte und demokratische Funktion, KJ 1981, 347. 87 Alfred Rinken/Gert Brüggemeier/Klaus Marxen, Sitzblockaden gegen Raketenstationierung, KJ 1984, 44, 45. 88 Günther Frankenberg, Demonstrationsfreiheit – eine verfassungsrechtliche Skizze, KJ 1981, 370, 371f. 89 Zur Anerkennung der Minderheit in der Demokratie Frankenberg, KJ 1981 (o. Fn. 88), 370, 374f., 376f. Ähnlich äußerte sich der Innenminister von Nordrhein-Westfahlen Herbert Schnoor, siehe: »Dann kann die Polizei einpacken«, Der Spiegel vom 12. 9. 1983, 24: »[…] das Bürgerrecht auf Demonstration ist so etwas wie die Pressefreiheit des kleinen Mannes, der sich sonst kaum artikulieren kann.« 90 Rinken/Brüggemeier/Marxen, KJ 1984 (o. Fn. 87), 44, 46. 91 Günther Frankenberg, »Landfriede« und Demonstrationsfreiheit, KJ 1981, 269, 281. 92 Rinken/Brüggemeier/Marxen, KJ 1984 (o. Fn. 87), 44, 47. 93 Frankenberg, KJ 1981 (o. Fn. 88), 370, 381f. 94 Frankenberg, KJ 1981 (o. Fn. 88), 370, 382.

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vorgegebenen Maßstab eines geordneten Aufzuges und identifizierbaren Veranstalters erteilte man eine Absage.95 2.3.1.2 Sicherheits- und Obrigkeitsstaat Diesem weitgehenden Verständnis von Demonstrationsfreiheit setzte man den übergriffigen Staat entgegen. Hier wurde ein Deutungsrahmen bereitgestellt, innerhalb dessen Straf- oder Polizeigesetze wie das Vermummungsverbot als substanzielle Gefährdung bürgerlicher Freiheiten verstanden werden konnten. Die zentralen Begriffe waren der des »Sicherheits-«,96 »Polizei-«,97 »Obrigkeits-«98 und »Überwachungsstaates«.99 In ihnen sammelte sich ein vom Staatsmisstrauen getragener Gegenentwurf, der anstelle des gefährdeten Staates, die vom Staat ausgehende Beschränkung der Versammlungsfreiheit in den Vordergrund stellte und die befürchtete autoritäre Transformation der Bundesrepublik ausdrückte. Die Frage, warum sich der Sicherheitsstaat herausbildete und was ihn antrieb, beantwortete man unterschiedlich. Die Deutungsangebote waren teilweise neomarxistisch gefärbt, wie das 1980 erschienene Buch »Der Sicherheitsstaat« von Joachim Hirsch. Die große Mehrheit der Kritiker betonte indes die, im Staatswesen vorherrschende und den westlichen Demokratievorstellungen widersprechende, autoritäre Mentalität.100 Für Günter Frankenberg existierte eine »staatszentrierte Rechtstradition, in der Bürgerfreiheit immer schon hoheitlich durchtränkt und von Sicherheits- und Ordnungsimperativen überlagert war.«101 Welche Reaktionen ein derartiges Denken, angesichts der großen und heterogenen Protestbewegungen hervorrufen musste, war klar: »Eine Tradition, deren Bezugspunkte Demokratie und Freiheitsgarantien sind, hat sich im Handlungsbereich der Strafverfolgungsorgane bisher nicht festigen können. […] Staatsbeamte, die für ihre Interessen in aller Regel nicht auf der Straße demonstrieren, sondern auf dem Dienstwege remonstrieren, und die gelernt haben, öffentlichen Protest gegen Missstände als ›Flucht an die Öffentlichkeit‹ zu begreifen, ist eine Demonstration zwangsläufig fremd; wenn sie zur mitternächtlichen Stunde stattfindet: ein Ärgernis und, wenn sie nicht maßvoll verläuft, ein zu verfolgendes Unrecht. […] Das polizeilich95 Wolf-Dieter Narr, Soziale Merkmale von Demonstrationen, in: Sebastian Cobler/Reiner Geulen/Wolf-Dieter Narr (Hrsg.), Das Demonstrationsrecht, Hamburg 1983, S. 103, 107f. 96 Joachim Hirsch, Der Sicherheitsstaat: das »Modell Deutschland«, seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen, Frankfurt 1980. 97 Frankenberg, KJ 1981 (o. Fn. 91), 269, 280. 98 Narr, Soziale Merkmale (o. Fn. 95), S. 103, 121ff. 99 Oskar Negt, Gesellschaftliche Krise und Demonstrationsfreiheit, in: Sebastian Cobler/ Reiner Geulen/Wolf-Dieter Narr (Hrsg.), Das Demonstrationsrecht, Hamburg 1983, S. 17, 42. 100 Narr, Soziale Merkmale (o. Fn. 95), S. 103, S. 121ff.; Negt, Gesellschaftliche Krise (o. Fn. 99), S. 17, 27ff.; Frankenberg, KJ 1981 (o. Fn. 91), 269, 285; Reiner Geulen, Versammlungsfreiheit und Großdemonstrationen, KJ 1983, 189, 192. 101 Frankenberg, KJ 1981 (o. Fn. 91), 269, 285. Ähnlich Geulen, KJ 1983 (o. Fn. 100), 189, 192f.

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staatsanwaltschaftliche Vorverständnis von Demonstrationen und Demonstranten ist also, ohne dass es zu einer tatsächlichen Konfrontation gekommen sein muß, negativ aufgeladen.«102

Die Nachweise der autoritären Tendenzen im Staat waren gleichermaßen fallbezogen, wobei die Deutung der jüngeren Geschichte ebenfalls ein tragendes Argument darstellte. Der Sicherheitsstaat manifestiere sich z. B. im KPD-Verbot, der Spiegel-Affäre, den Notstandsgesetzen und den Ende der Siebziger erlassenen Sicherheitsgesetzen.103 Auch der Weimar-Vergleich wurde unter umgekehrten Vorzeichen angeführt, beispielsweise von Oskar Negt in einem 1983 erschienen Sammelband zum Demonstrationsrecht: »Es ist nicht so, daß die Weimarer Republik an den marodierenden Horden auf der Straße oder am Plebiszit zugrunde gegangen wäre. Die Weimarer Republik ist ganz anders ruiniert worden. Eine in der Substanz widerstandsfähige demokratische Gesellschaft, die vom Rande her aufgerollt wird, gibt es nicht […]. Aber der Faschismus, wie wir ihn kennen, ist im Zentrum gewachsen.«104

Diese Interpretation legte für die gegenwärtigen Verhältnisse dann den gegenteiligen Schluss nahe. Negt verband seine Deutung des Untergangs der Weimarer Republik daher mit einer aktuellen Warnung vor den Ursachen des nunmehr aufkommenden autoritären Staates: »Der Faschismus und alle autoritären obrigkeitsstaatlichen Transformationen wachsen und gedeihen im gesellschaftlichen Machtzentrum, weil sie dort am geschütztesten sind. Man darf Konservatismus und Rechtsradikalismus nicht leichtfertig auf Randgruppen projizieren, jedenfalls gilt diese Vorsicht für Deutschland; hier ist es immer die staatskonservative Gesinnung gewesen, welche die Demokratie bedroht und zerstört hat oder gar nicht erst entstehen ließ, und nicht das Gegenteil.«105

2.3.1.3 Repressives Versammlungsrecht Als wesentliches Betätigungsfeld des sich aufbauenden Sicherheitsstaates galt das politisch kontroverse und daher unliebsame Demonstrationsrecht. Die Kritiker gingen nicht so weit, dem Sicherheitsstaat eine völlige Abschaffung des Demonstrationsrechts zu unterstellen. Stattdessen solle die Demonstrationsfreiheit auf eine staatliche Konzession zurückgestuft und die Demokratie damit eines wesentlichen Elements beraubt werden.106 Die Kritik hatte viele Richtungen: Nicht nur das von der Union geforderte, auch das bereits geltende Versamm102 Frankenberg, KJ 1981 (o. Fn. 91), 269, 280f. 103 Claus Offe, Neukonservative Klimakunde – Eine Auseinandersetzung mit Wilhelm Hennis, Merkur 1978, 209. 104 Negt, Gesellschaftliche Krise (o. Fn. 99), S. 17, 33f. 105 Negt, Gesellschaftliche Krise (o. Fn. 99), S. 17, 34. 106 Frankenberg, KJ 1981 (o. Fn. 91), 269, 285.

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lungsrecht, welches den straff und hierarchisch organisierten Aufzug als Leitbild hatte, entsprach nicht den Maßstäben.107 Reiner Geulen etwa hielt die Regelungen des Versammlungsrechts wie die Anmeldepflicht, die fixierten Organisationsstrukturen und die Verbotsregeln des § 15 VersG für verfassungswidrig.108 Kritisch kommentiert wurde auch die Verbotspraxis, wie z. B. die kontroversen Demonstrationsverbote des Frankfurter Oberbürgermeisters Walter Wallmann109 oder die sog. »Nürnberger Massenverhaftungen« im März 1981.110 Derartige Ereignisse galten als Vorwand oder »Exempel«,111 um den Ausbau des Polizeiund Präventionsstaates öffentlich zu legitimieren: »Ob Friedensbewegung, Grüne, Atomkraftgegner und Hausbesetzer am Ende nicht doch zu entmutigen sind, ist gegenwärtig nicht die Frage. Ihre Absage an das politische Institutionensystem, ihre teilweise Abkehr vom parlamentarischen Weg und ihre Herausforderung des Legalitätsprinzips durch zivilen Ungehorsam haben – vermutlich wegen der Brisanz ihrer Forderungen und wegen der möglichen negativen Vorbildwirkung ihres Protests – Bemühungen inspiriert, die darauf abzielen, staatliche Macht und die Autorität des obrigkeitlichen Rechts von hoher Hand rasch und nachdrücklich zu bekräftigen.«112

So prangerte die Kritik stets die offensichtliche Überreaktion des Staates an, dem es nicht primär darum ginge, die jeweiligen Delikte zu ahnden, sondern den grundrechtlich geschützten Bereich der Freiheit einzuschränken113 und politische Opposition mit Staatsgefährdung gleichzusetzen.114 Sie seien, so Günther Frankenberg, der willkommene Vorwand, um die »kollektive Inanspruchnahme politischer Freiheitsgarantien einzuschränken, wenn nicht gar zu verhindern […].«115

107 Geulen, KJ 1983 (o. Fn. 100), 189ff.; Sabine Wolski, Die Wende im Demonstrationsrecht, KJ 1983, 272, 284f. 108 Geulen, KJ 1983 (o. Fn. 100), 189, 193ff. 109 Thomas Blanke, Demonstrationsruhe? Die Auseinandersetzungen zwischen dem Verwaltungsgericht Frankfurt/Main und der Exekutive über die Demonstrationsfreiheit, KJ 1983, 170, 172ff. 110 Frankenberg, KJ 1981 (o. Fn. 91), 269ff. Hierzu auch »Sind wir denn hier in Südamerika?«, Der Spiegel vom 16. 03. 1981, 17ff. 111 Frankenberg, KJ 1981 (o. Fn. 91), 269, 283. 112 Frankenberg, KJ 1981 (o. Fn. 91), 269, 283. 113 Frankenberg, KJ 1981 (o. Fn. 88), 370, 379; Renate Wiggershaus/Rolf Wiggershaus, Was schützt das »Gesetz zum Schutz des Gemeinschaftsfriedens«?, KJ 1976, 175, 179. 114 Hans Peter Bull, Politik der »inneren Sicherheit« vor einem mißtrauisch gewordenen Publikum, Leviathan 1984, 155, 158. 115 Frankenberg, KJ 1981 (o. Fn. 88), 370, 379.

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2.3.1.4 Anonymität und Überwachung Der Deutungsrahmen eines freiheitsgefährdenden Sicherheitsstaates war seit den Siebzigern in der Diskussion über das Verhältnis von Staat und Bürgerrechten präsent. Das Vermummungsverbot stand hingegen noch nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit, zumindest existierte Ende der Siebziger noch keine direkte Verbindung zwischen dem geplanten Gesetz und dem Konzept des Sicherheitsstaates. Anders als bei der Union, die ihren argumentativen Bezugspunkt schon durch die Gesetzesanträge selbst festgelegt hatte, blickte die Kritik des linken Spektrums anfangs eher auf die öffentlich wahrnehmbaren und praktisch relevanteren Themen. So richtete sich Ende der Siebziger und am Beginn der Achtziger die Aufmerksamkeit zunächst auf den vieldiskutierten Gewaltbegriff des Nötigungstatbestandes und der damit zusammenhängenden Frage nach der Rechtmäßigkeit des zivilen Ungehorsams.116 Und auch der Landfriedensbruch stand eher im Fokus, weil er bereits 1970 Gegenstand von Reformdebatten war. Erst mit der sich ankündigenden Gesetzgebung der konservativ-liberalen Koalition, also 1982/83, erweiterte sich ihre Kritik auf das Vermummungsverbot.117 Schon bald tauchten direkte Bezüge zur Vermummung auf, auch wenn sie oft kurz ausfielen und zahlenmäßig gering waren. Große Begründungsschwierigkeiten hatte man indes nicht, denn das argumentative Gerüst, innerhalb dessen die Vermummung legitimiert und das Strafgesetz kritisiert werden konnte, hatte sich bereits in den Jahren zuvor gebildet. So berief man sich auf die Formfreiheit des politischen Protestes,118 zu der neben dem zivilen Ungehorsam119 auch die gezielte Vermummung der Demonstrationsteilnehmer gehöre. Das faktische Zusammenhänge zwischen den Demonstrationsstraftaten und der Vermummung bestehen konnten, gestand man ein, rückte dies aber nicht in das Zentrum der Argumentation. Viel eher war die Nichtpreisgabe der eigenen Identität die Bedingung einer gefahrlosen Grundrechtsausübung.120 Wolf-Dieter Narr hob 1983 z. B. hervor, dass die Vermummung selbst einen demonstrativen Akt oder eine Schutzvorkehrung darstellen konnte.121 Und Sabine Wolski, die als 116 Zu der Diskussion am Beginn der Achtziger beispielsweise: Josef Brink/Rainer Keller, Politische Freiheit und strafrechtlicher Gewaltbegriff, KJ 1983, 107ff.; Frankenberg, KJ 1981 (o. Fn. 91), 269, 284; Wolski, KJ 1983 (o. Fn. 107), 272ff.; »Vom Landfriedensbruch zum Widerstand gegen den staatlichen Befriedungsanspruch«, CILIP Nr. 1 1983, 11ff.; »Uferlose Gewalt: Zur polizeilichen Diskussion über zivilen Ungehorsam und Blockaden«, CILIP Nr. 1 1983, 54ff. 117 Frühe Erwähnung etwa bei Wolf-Dieter Narr, Der demonstrative Kampf um die Versammlungsfreiheit, in: Sebastian Cobler/Reiner Geulen/ Wolf-Dieter Narr (Hrsg.), Das Demonstrationsrecht, Hamburg 1983, S. 7, 13f. 118 Frankenberg, KJ 1981 (o. Fn. 88), 370, 380; Geulen, KJ 1983 (o. Fn. 100), 189, 193; Rinken/ Brüggemeier/Marxen, KJ 1984 (o. Fn. 87), 44, 47. 119 Jürgen Habermas, Recht und Gewalt – Ein deutsches Trauma, Merkur 1984, 15, 16f. 120 Sieghart Ott, Das Demonstrationsrecht in der Diskussion, Vorgänge 1982, 16f. 121 Narr, Der demonstrative Kampf (o. Fn. 117), S. 7, 13.

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eine der ersten das geplante Vermummungsverbot etwas ausführlicher kommentierte, schrieb ebenfalls 1983 in der Kritischen Justiz: »Im übrigen ist durchaus nicht unwesentlich, inwieweit für ein Verhalten, das dazu dient, eine Identifizierung aufgrund etwa von Fotografien zu verhindern, das – u. a. durch den Radikalen-Erlaß geschaffene – innenpolitische Klima in der Perzeption der meist jugendlichen Demonstranten entscheidend ist. Diesen mag es überwiegend keineswegs als eine ›falsche Propaganda‹ erscheinen, ›daß staatliche Stellen Demonstranten erfassen und Lichtbilder mit nachteiligen Folgen auswerten‹. Durch dieses Prisma betrachtet ist die beabsichtigte Unerkennbarkeit nicht notwendig Vorbereitung zu strafbaren Handlungen, sondern schafft in zahlreichen Fällen erst die Voraussetzung für die Grundrechtsausübung.«122

Das Verbot, so Wolski weiter, berühre daher die Meinungsfreiheit in ihrem grundrechtlichen Wesensgehalt und laufe auf ihre praktische Aushebelung hinaus.123 Deutlich zeigt diese Argumentation die Anfang der Achtziger bestehende Sorge vor der staatlichen Erfassung124 und der zunehmenden polizeidienstlichen Erkennung auf Demonstrationen. Das für die nächsten Jahre wesentliche Argument der Verbotskritiker wurde bereits hier artikuliert, nämlich das Bedürfnis nach einer, vor staatlicher Überwachung geschützten, anonymen Meinungsäußerung. Es speiste sich nicht nur aus den von Wolski hervorgehobenen Berufsverboten, sondern ebenso aus den parallel verlaufenden Protesten gegen die Volkszählung, welche 1983 ihren Höhepunkt erreichten. Dass diese Sensibilität gegenüber den eigenen Daten die Kritik am Vermummungsverbot befeuerte, war nur konsequent, da das Überwachungspotential des Staates gerade in Gestalt polizeilicher Filmaufnahmen bei Demonstrationen konkrete Formen annahm. Nicht zufällig kritisierten Zeitschriften wie CILIP die immer stärker werdende technische Ausrüstung der Einsatzpolizei.125 Hier kristallisierte sich die Sorge vor den Repressionen eines mit den neusten technischen Überwachungsmitteln ausgestatteten Staates heraus.126

122 123 124 125

Wolski, KJ 1983 (o. Fn. 107), 272, 285. Wolski, KJ 1983 (o. Fn. 107), 272, 286. Zeitgenössische Einschätzung z. B. bei Bull, Leviathan 1984 (o. Fn. 114), 155ff. »Einige Daten zur Wirksamkeit EDV-gestützter Fahndungsmethoden bei der Polizei – Polizeiliche Erwartungen an den maschinenlesbaren Personalausweis«, CILIP Nr. 3 1983, 35ff.; »Informationstechnik der Polizei (I. Teil)«, CILIP Nr. 2 1984, 5ff.; »Informationstechnik der Polizei (II. Teil)«, CILIP Nr. 3 1984, 51ff. 126 Hierzu Burkhard Hirsch, Keine Strafe für Vermummte, FAZ vom 11. 4. 1981, 9; »Vorstoß gegen das Demonstrationsstrafrecht«, FAZ vom 8. 5. 1981, 2.

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2.3.2 Demonstrationsstatistik Die sich Ende 1982 in der Opposition wiederfindende SPD, Teile der Polizeigewerkschaft GdP127 und der links-liberale Flügel der FDP128 nahmen in der Diskussion, trotz einzelner Überschneidungen mit dem linken Spektrum, eine dritte Position ein. Zum einen äußerte man vorsichtiges Verständnis für die Vermummung. Obwohl man sie nicht als wesentlichen Bestandteil der Grundrechtsausübung ansah, unterstellte man vermummten Demonstranten nicht automatisch eine Gewaltbereitschaft.129 Zum anderen folgten beide Parteien weder dem Deutungsmuster einer Staatskrise noch dem eines entstehenden Sicherheitsstaates. Im Hinblick auf die Entwicklung des Staates lieferten sie im Grunde gar keinen Deutungsrahmen. Zwar fühlten sie sich ebenso wie die Union der »inneren Sicherheit« verpflichtet und grenzten sich damit deutlich vom linken Spektrum ab.130 Aber auch von der Union versuchten sie beim Vermummungsverbot Abstand zu gewinnen, weil sie ihre eigene liberale Strafgesetzgebung von 1970 verteidigen musste und die Union das Vermummungsverbot gerade als einen Gegenentwurf zu eben dieser Gesetzgebung präsentierte. Folglich sah sie keinen Anlass, von ihrem 1970 aufgestellten liberalen Leitbild abzuweichen.131 Anders als Vertreter des linken Spektrums konnten sie aber nicht auf einen sich aufbauenden Polizei- oder Sicherheitsstaat verweisen.132 Die darin zum Ausdruck kommende Skepsis gegenüber dem Staat wäre schon aufgrund der eigenen Regierungsbeteiligung der SPD in mehreren Bundesländern kaum glaubwürdig gewesen. Ihre Hauptkritik war daher empirisch orientiert.133 Ohne die generelle Problematik von Demonstrationsgewalt zu leugnen, bestritten die SPD und Teile der 127 Helmut Kerscher, Ringkampf um ein besseres Demonstrationsrecht, SZ vom 11. 10. 1982, 4. 128 »Demonstrationsverbot als äußerstes Mittel«, FAZ vom 22. 10. 1981, 28. 129 Burkhard Hirsch, Die Vermummten auslachen, FAZ vom 3. 9. 1983, 8. Hierzu auch: Ott, Vorgänge 1982 (o. Fn. 120), 16ff. 130 Hierzu Bull, Leviathan 1984 (o. Fn. 114), 155, 158f.; Ilona Heuermann, Skepsis gegenüber neuen Strafgesetzen, abgedruckt in: Friedrich-Naumann-Stiftung (Hrsg.), Versammlungsrecht – Dokumentation, Sankt Augustin 1987, S. 173; Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit, München 2009, S. 466. 131 Dieser Widerstand war aber nicht lückenlos. Das Waffenverbot etwa setzte die Union mit den Stimmen der SPD/FDP durch, BGBl. 1978 I S. 1790. Hierzu Wiggershaus/ Wiggershaus, KJ 1976 (o. Fn. 113), 175ff. Dennoch kam es auch auf Landesebene zu Verbotsforderungen, wenngleich keinen strafrechtlichen, siehe: »Weiter Ungewißheit über Schleyer«, SZ vom 15. 9. 1977, 2. 132 Eine Ausnahme bildete die Kritik der SPD an den sog. »Nürnberger Massenverhaftungen«, siehe »Sind wir denn hier in Südamerika?«, Der Spiegel vom 16. 3. 1981, 17. 133 Dies bedeutet umgekehrt natürlich nicht, dass das Spektrum links der SPD nicht mit Statistiken arbeitete, siehe etwa Appel/Hummel, CILIP Nr. 3 1989 (o. Fn. 17), 48ff. Allerdings lag hier mehr der Schwerpunkt auf dem Nachweis des Sicherheitsstaates.

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FDP den faktischen Staatszerfall. Einen Aufsatz von Rupert Scholz erwidernd, hob der Innenminister von Nordrhein-Westfalen Herbert Schnoor die überwiegende Friedlichkeit fast aller Demonstrationen in Gesamtdeutschland hervor und kam zu dem Schluss, dass allein schon wegen der geringen Anzahl an unfriedlichen Demonstrationen keine Rede von einer Gefährdung des Rechtsfriedens sein könne.134 Bezugspunkt war erneut die vom Bundesinnenministerium erfasste Demonstrationsstatistik, welche die Zahl der jährlich stattfindenden »friedlichen« und »unfriedlichen« Demonstrationen auflistete. Die Statistik schien zunächst für Schnoors Argumentation zu sprechen: Nach ihrem Höchststand von 36,09 % im Jahr 1969 lag der Anteil der unfriedlichen Demonstrationen ab 1980 bei ca. 3 bis 4 %.135 Die amtliche Statistik – so die Schlussfolgerung – weise also den Rückgang der unfriedlichen Demonstrationen nach.136 Dementsprechend unbegründet sei die Annahme einer Staatsgefährdung und die Notwendigkeit eines restriktiven Demonstrationsstrafrechts, erst recht des Vermummungsverbots. Statt einer Gesetzesänderung wollte die SPD die Polizeitaktik anpassen oder von der Möglichkeit des Verbots per Auflage besser Gebrauch machen. Schnell zeigte sich allerdings, dass die zur Verfügung stehende Statistik nur wenig Aussage- bzw. Überzeugungskraft besaß. Zum einen knüpfte sie an unbestimmte und politisch umstrittene Begriffe wie »friedlich« oder »unfriedlich« an, welche von den Ländern und der Polizei unterschiedlich ausgelegt wurden. Entsprechend ungenau war die Zählweise.137 Zum anderen konkurrierte der trockene Verweis auf die Statistik mit der sehr viel prägenderen medialen Berichterstattung. Nichtsdestotrotz hielt vor allem die SPD an diesem Kritikpunkt bis zum Ende der Achtziger fest, auch wenn bereits den Zeitgenossen und Kritikern bewusst war, dass die Aussagekraft gering blieb und im Grunde eine Leerstelle in der empirischen Erfassung des Demonstrationsgeschehens existierte. Ihren politischen Gegner konnte die SPD jedenfalls nicht überzeugen: Die Union hielt der zahlenmäßig geringen Gewalt stets ihre scheinbar neue Intensität entgegen. Gleichzeitig begann die konservativ-liberale Regierung eigene Erhebungen, um die Verbindung von Vermummung und Gewalt zu unterstreichen.138 134 Herbert Schnoor, Brauchen wir Verschärfungen des Demonstrationsrechts?, ZRP 1983, 185, 186. Diese Meinung teilte auch der BGH-Präsident Gerd Pfeiffer, siehe: »Soll die Polizei wahllos herausgreifen?«, Der Spiegel vom 11. 7. 1983, 20. 135 Abdruck der Statistik in: Friedrich-Naumann-Stiftung (Hrsg.), Versammlungsrecht (o. Fn. 130), S. 9f.; Appel/Hummel, CILIP Nr. 3 1989 (o. Fn. 17), 48, 49. 136 So z. B. Sten.Prot.-BT der 57. Sitzung vom 24. 2. 1984, S. 4054f. 137 Dies hob später Meyn, Vermummung und passive Bewaffnung (o. Fn. 78), S. 8f. hervor. Siehe auch Busch/Funk/Krauß/Narr/Werkentin, Die Polizei (o. Fn. 19), S. 321f.; Appel/Hummel, CILIP Nr. 3 1989 (o. Fn. 17), 48, 50; »1983 die meisten Demonstrationen«, FAZ vom 25. 2. 1984, 2. 138 Sten.Prot.-BT der 121. Sitzung vom 8. 2. 1985, S. 9001.

242 2.4

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Rechtliche Debatte

Welche Bedeutung hatten rechtliche Gesichtspunkte in der Diskussion? Der bisherige Überblick hat gezeigt, dass die Kontroverse zum Vermummungsverbot ein inhaltlich sehr breites Feld von Argumenten und Gegenargumenten abdeckte: Sie enthielt allgemeine Ausführungen zur Demokratie und zum Staat, zur Sicherheit und Freiheit sowie (massen-)psychologische Begründungen, historische Interpretationen, empirische Kritik und vor allem sprachliche Vergleiche. Aber auch eine an der Rechtsdogmatik orientierte Argumentation ist in der Debatte sichtbar. Der Kreis der Diskutanten war hier naturgemäß größer und umfasste, neben den Parteien, Medien sowie dem Bürgerrechtsspektrum, juristische Fachbeiträge ohne sichtbaren politischen Bezug. Eine genaue Trennlinie zwischen einer unpolitischen Fachdebatte und einer politisch gefärbten Auslegung von Rechtsnormen existierte aber nicht. Vielmehr war der Übergang zwischen beiden Bereichen – wie in jeder kontroversen Diskussion – fließend. Die Rechtskritik am geplanten Vermummungsverbot entwickelte sich recht schnell zu Beginn der achtziger Jahre. Bereits die 1982 gegebene Stellungnahme der (noch) sozialliberalen Regierung zu dem Gesetzesantrag des Bundesrats fasste die grundlegenden Bedenken zusammen: Ein strafgesetzliches Verbot verstoße gegen das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot und das Verhältnismäßigkeitsprinzip, zudem würde es die Einsatzpolizei aufgrund des strafprozessualen Legalitätsprinzips (§ 163 StPO139) zum Ermitteln und damit zum Einschreiten während einer Demonstration verpflichten und so eine Eskalation derselben riskieren. Ohne das gesetzliche Verbot könne die Polizei hingegen nach eigenem Ermessen gegen die Vermummung einschreiten und so mögliche Konflikte vermeiden.140 Diese Kritik wurde später von anderen Seiten wiederholt und zuweilen vertieft.141 Insbesondere die aus dem Legalitätsprinzip entspringende Problematik erfreute sich großer Beliebtheit und wurde z. B. vom Bundesjustizminister Hans Engelhard (FDP) aufgegriffen. Er teilte die Befürchtung, dass ein Strafgesetz die Polizei zum Einschreiten gegen die Demonstranten zwingen und so eine an sich friedliche Demonstration eskalieren lassen würde.142 Die Kritiker schienen hier einen kaum zu entkräftenden Zielkonflikt zwischen dem Vermummungsverbot 139 § 163 Abs. 1, S. 1 StPO lautet(e): »Die Behörden und Beamten des Polizeidienstes haben Straftaten zu erforschen und alle keinen Aufschub gestattenden Anordnungen zu treffen, um die Verdunkelung der Sache zu verhüten.« 140 Siehe zu alldem BT-Drucks. 9/1258, S. 7f. 141 Sten.Prot.-BR der 553. Sitzung vom 5. 7. 1985, S. 373f.; Sten.Prot.-BT der 150. Sitzung vom 28. 6. 1985, S. 11257; Ott, Vorgänge 1982 (o. Fn. 120), 16ff.; Claus Strohmaier, Das Demonstrationsrecht und seine Reglementierung, ZRP 1985, 153, 154, 156. 142 Zit. nach Benrath, JR 1984 (o. Fn. 44), 1.

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und einem grundlegenden Prinzip des Strafprozessrechts gefunden zu haben. Auch die Fachliteratur zeigte Interesse,143 ohne das eine einheitliche Meinung entstand. Während einige Beiträge die Kritik teilten,144 bestritten andere, dass das Legalitätsprinzip die Polizei auf Demonstrationen ausnahmslos zum Einschreiten verpflichte. Bei einem Konflikt von Strafverfolgung und Gefahrenabwehr – so z. B. Gerd Benrath in der Juristischen Rundschau – könne die Polizei zwischen der Strafverfolgung und der Gefahrenabwehr wählen.145 Die Aufnahme der Strafverfolgung sei demnach eine Einzelfallentscheidung. Diese Diskussion zum Legalitätsprinzip griffen Union und SPD 1984 und 1985 in den Debatten im Bundestag und Bundesrat auf.146 Die Frage nach dem Verbot wurde damit um eine rechtliche Seite bereichert, die allerdings nichts an den politischen Kräfteverhältnissen änderte. Die Debatte wurde also auch als juristische Fachdebatte geführt. Schnell zeigte sich jedoch, dass die rechtliche Kritik keine herausragende Bedeutung gegenüber den anderen Argumentationssträngen hatte. Vor allem der Verweis auf das Legalitätsprinzip, das wegen der hohen verfassungsrechtlichen Bedeutung nur in sehr engen, meist gesetzlich geregelten Fällen durchbrochen werden durfte,147 konnte die Frage nach dem Vermummungsverbot weder entscheiden noch inhaltlich lenken. Stattdessen verhielt es sich umgekehrt: Die Debatte zum Vermummungsverbot ließ die strenge Anwendung des Legalitätsprinzips fraglich werden.

2.5

Umsetzung des ersten Verbots

Im Jahr 1982 löste die konservativ-liberale Koalition unter Helmut Kohl die sozialliberale Koalition unter Helmut Schmidt ab. Die FDP hatte durch ihren Seitenwechsel der Union die Regierung ermöglicht. Eine Umsetzung des Vermummungsverbots war aber trotz der nunmehr konservativ-liberalen Mehrheit im Bundestag alles andere als sicher. Die Hindernisse bestanden nicht so sehr in der von außen kommenden politischen Kritik oder den rechtlichen Bedenken. 143 Die damalige Diskussion zum Legalitätsprinzip war aber nicht auf das Vermummungsverbot beschränkt, sondern erstreckte sich auf Demonstrationsgewalt als solche sowie auf Hausbesetzungen, siehe Peter Riess, Legalitätsprinzip – Interessenabwägung – Verhältnismäßigkeit. Über die Grenzen von Strafverfolgungsverzicht und Strafverfolgungsverschärfung zur Aufrechterhaltung des inneren Friedens, in: Festschrift für Hanns Dünnebier, Berlin/New York 1982, S. 149ff. 144 Strohmaier, ZRP 1985 (o. Fn. 141), 153, 155. 145 Benrath, JR 1984 (o. Fn. 44), 1, 2f. 146 Sten.Prot.-BR der 553. Sitzung vom 5. 7. 1985, S. 374; Sten.Prot.-BT der 150. Sitzung vom 28. 6. 1985, S. 11264. 147 Riess, Legalitätsprinzip (o. Fn. 143), 149, 157, 163.

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Viel größere Probleme bereitete der neue Koalitionspartner, denn die FDP hatte nur wenig Interesse, ein verschärftes Demonstrationsstrafrecht mitzutragen. Schon weil sie 1970 maßgeblich an seiner Liberalisierung beteiligt war, befürchtete sie bei einer Zustimmung den Verlust ihres liberalen Kerns.148 Die Durchsetzung des Verbots war daher mit dem Regierungswechsel keineswegs selbstverständlich. Ob es ein strafrechtliches Vermummungsverbot geben würde, war primär eine Frage des politischen Zusammenhalts und der inneren Dynamik der seit 1983 bestehenden konservativ-liberalen Koalition. Zweifellos waren hierbei die ausgetauschten Argumente für und gegen das Verbot wichtig. Ebenso relevant waren aber auch andere Faktoren, wie die politische Glaubwürdigkeit oder die aktuellen Zustimmungswerte für die 1985 und 1986 stattfindenden Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und Bayern. Trotz der Koalitionsbildung waren sich FDP und Union in der Frage zum Vermummungsverbot also uneins. Nur zögerlich arbeiteten sie deswegen auf ein Strafgesetz hin.149 Der Bundesinnenminister Friedrich Zimmerman, der zu den stärksten Befürwortern zählte, plädierte zwar bereits 1983 für ein Gesetz, scheiterte aber am Widerstand der FDP, insbesondere des Bundesjustizministers Hans Engelhard.150 Eine im Januar 1984 von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzesinitiative zur Änderung des Straf- und Versammlungsrechts enthielt daher noch keine Vorschrift zur Vermummung, erst auf Druck des Bundesrats, versprach die Bundesregierung die weitere Prüfung des Verbots.151 In der Hoffnung, eine klare Entscheidung zugunsten des Verbots herbeizuführen, führte die Koalition am 12. und 13. Dezember 1984 eine Expertenanhörung zum geplanten Versammlungsstrafrecht durch. Zur Enttäuschung der Union lehnte die Mehrheit der Sachverständigen die Pläne der Koalition aus unterschiedlichen Gründen ab. Nicht nur die Verschärfung des § 125 StGB, auch das Vermummungsverbot stieß nicht auf die erwartete Zustimmung.152 Ihre diesbezügliche Forde-

148 Ähnlich Floerecke, Staatliche Normsetzung (o. Fn. 28), S. 3, 8; »Die Innenpolitiker der Koalition schielen nach den Beauftragten der Parteivorsitzenden«, FAZ vom 3. 7. 1985, 5. 149 Siehe: »Kohl weist Zimmermann zurecht«, SZ vom 21. 5. 1985, 1; Sten.Prot.-BT der 57. Sitzung vom 24. 2. 1984, S. 4061. 150 »Späth verzichtet auf Initiative zur Vermummung«, SZ vom 20./21. 8. 1983, 1; »Weiter Streit über Verbot der Vermummung«, SZ vom 25. 8. 1983, 5; »CDU: Eckwerte des Etats sollen bleiben«, SZ vom 26. 8. 1983, 2; »Liberale Standhaftigkeit«, SZ vom 30. 8. 1983, 4; »Engelhardt lehnt Verbot der Vermummung ab«, SZ vom 1. 9. 1983, 1; »Union sieht Verbot nach Vermummungsverbot bestätigt«, SZ vom 17. 4. 1984, 5; »Union wünscht umfassende Absprache«, SZ vom 21.9.84, 2. 151 BT-Drucks. 10/901, S. 7f. Zu der Stellungnahme vorangehenden Debatte im Bundesrat siehe Sten.Prot.-BR der 526. Sitzung vom 2. 9. 1983, S. 291f. 302ff. 152 »Hierzu Neues Demonstrationsstrafrecht umstritten«, SZ vom 13. 12. 1984, 1; Claus Strohmaier, Das neue Demonstrationsrecht, StV 1985, 469; Hans Schueler, Eine Demonstration für die Bürgerfreiheit, Die Zeit vom 2. 8. 1985, 3ff.; Friedrich-Naumann-Stiftung

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rung hielt die Union dennoch aufrecht, sodass sich zwischen FDP und Union eine Pattsituation ergab. Aus ihr suchten die Rechtspolitiker der Koalitionsfraktion einen Ausweg und erarbeiteten im Januar 1985 den sog. »Berliner Kompromiss«.153 Auf die Vorschläge des Berliner Polizeipräsidenten Klaus Hübner zurückgehend,154 sollte hiernach die Vermummung auf friedlichen Demonstrationen eine Ordnungswidrigkeit sein. Sofern vermummte Teilnehmer einer unfriedlichen Demonstration sich nach mehrmaliger Aufforderung nicht entfernten, machten sie sich hingegen wegen Landfriedensbruchs strafbar, voraussichtlich mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren.155 Die CSU akzeptierte diesen Kompromiss zunächst nicht,156 womöglich auch, weil sie angesichts der 1986 anstehenden Landtagswahl in Bayern ihr konservatives Profil demonstrieren wollte.157 Teile der CDU strebten ebenfalls eine vollständig strafrechtliche Lösung an.158 Da sich die FDP aber nicht umstimmen ließ, blieb es im Ergebnis beim sog. »Berliner Kompromiss«.159 Der Bundestag nahm die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zum Gesetzesentwurf, entgegen der verfassungsrechtlichen Bedenken der SPD und Grünen, am 28. Juni 1985 mit 239 gegen 157 Stimmen an.160 Das am 18. Juli 1985 verkündete Gesetz trat am 26. Juli 1985 in Kraft. Die Vermummung wurde gem. § 17a Abs. 2 VersG generell verboten. Eine – praktisch kaum bestimmbare – Einschränkung bestand darin,

153

154 155 156

157 158 159 160

(Hrsg.), Versammlungsrecht (o. Fn. 130), S. 5; Floerecke, Staatliche Normsetzung (o. Fn. 28), S. 3, 14. Ludger Helms, Wettbewerb und Kooperation – Zum Verhältnis von Regierungsmehrheit und Opposition im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland Großbritannien und Österreich, Opladen 1997, S. 131; »Die Grenzen des Streits«, FAZ vom 1. 2. 1985, 1. »Anzeichen für Einigung in der Koalition über die Innen- und Rechtspolitik«, SZ vom 8./9. 6. 1985, 1. »Vermummung künftig Ordnungswidrigkeit«, FAZ vom 1. 2. 1985, 1; »Der Kompromiß stößt auf Vorbehalte«, FAZ vom 2. 2. 1985, 2; »Strauß will Kohl weiter unterstützen«, SZ vom 11. 6. 1985, 2. »Spranger will Vermummung unter Strafe stellen«, FAZ vom 31. 1. 1985, 6; »Der Kompromiß stößt auf Vorbehalte«, FAZ vom 2. 2. 1985, 2; »Die Koalition vor einem Streit über das Demonstrationsrecht«, FAZ vom 6. 2. 1985, 1f.; Gerd-Dieter Karey, Sinnloser Kompromiss, FAZ vom 12. 2. 1985, 10. »Lärm und Stillstand«, SZ vom 12. 4. 1985, 4. »Für die CDU ist die innere Sicherheit die Voraussetzung des sozialen Friedens«, FAZ vom 5. 3. 1985, 2; »Fragen nach dem Vermummungsgesetz«, FAZ vom 19. 4. 1985, 4; »Für Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts«, SZ 16. 3. 1985, 2. »Der Parteitag bekräftigt den Kompromiß zum Landfriedensbruch«, FAZ vom 25. 2. 1985, 3; »FDP kritisiert Unions-Ansichten zum Demonstrationsstrafrecht«, SZ vom 19. 3. 1985, 2; »Vermummungs-Kompromiß vor der Verabschiedung?«, FAZ vom 27. 6. 1985, 1. BT-Drucks 10/3573, S. 3; Sten.Prot.-BT der 150. Sitzung vom 28. 6. 1985, S. 11275; Hierzu auch Schueler, Die Zeit vom 2. 8. 1985 (o. Fn. 152), 3ff.; »Neues Demonstrationsstrafrecht in Bonn verabschiedet«, FAZ 29. 6. 1985, 6; »Demonstrationsstrafrecht verschärft«, SZ vom 29. 6. 1985, 1.

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dass nur jene Vermummungen verboten waren, welche die »Feststellung der Identität« verhindern sollten. Ausnahmen von dem Verbot regelte zudem der § 17a Abs. 3 VersG für Volksfeste oder andere kulturelle Veranstaltungen oder aufgrund besonderer behördlicher Genehmigung. Bei friedlichen Demonstrationen war die Vermummung eine Ordnungswidrigkeit (§ 29 Abs. 1, Nr. 1 b VersG). Bei unfriedlichen machte sich wegen Landfriedensbruchs (§ 125 StGB Abs. 2, Nr. 2 StGB) strafbar, wer vermummt blieb, »obwohl ein Träger von Hoheitsbefugnissen aufgrund des Versammlungsgesetzes oder eines Polizeigesetzes dazu aufgefordert hat, diese Gegenstände oder Aufmachungen abzulegen oder sich zu entfernen.«161

3

Zweite Phase (1985–1989)

Mit dieser zweiteiligen Lösung war die Union unzufrieden.162 Sie hatte nicht das erreicht, was sie seit 1977 vehement forderte. Schnell zeigte sich, dass die Durchsetzung eines vollständig strafrechtlichen Vermummungsverbots stärker war als der Kompromiss mit der FDP. Schon wenige Monate nach dem Gesetzeserlass kehrten daher CDU und CSU zu ihrer ursprünglichen Forderung zurück.163 Die Spitze bildeten erneut der Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann sowie der Ministerpräsident von Bayern, Franz Josef Strauß (CSU). Der äußere Anlass für die Verschärfung des nur wenige Monate alten Gesetzes war schnell gefunden: Die weiterhin vorkommenden Demonstrationsunruhen würden zeigen, dass das 1985 beschlossene Vermummungsverbot seine abschreckende Wirkung verfehlt habe.164 Damit gab es ab 1985 im Grunde zwei Diskussionsgegenstände, zum einen das kürzlich erlassene Gesetz und zum anderen das geplante vollständige Vermummungsverbot. Vereinzelte Monografien, wie die 1988 erschienene Dissertation von Jörn-Henrik Meyn, untersuchten das nunmehr geltende Versammlungsstrafrecht, insbesondere das Vermummungs- und Schutzwaffenverbot.165 Der Diskussionsschwerpunkt lag allerdings klar bei dem erneut geplanten vollständig strafrechtlichen Verbot. Und der Diskussionsbedarf war nach wie vor 161 Siehe zu alldem: BGBl. 1985 I S. 1511f. 162 »Stimmen der Anderen – Randalierer ohne Risiko«, FAZ vom 23. 4. 1986, 2; »Die Union ist mit dem geänderten Demonstrationsstrafrecht nicht zufrieden«, FAZ vom 7. 6. 1986, 2; Friedrich Karl Fromme, Schutz vor Masken, FAZ vom 21. 7. 1987, 1. 163 Beispielhaft auch die rechtspolitische Bilanz der CSU 1987, siehe Wilhelm Bayer, Rechtspolitische Bilanz der CSU zur 10. Legislaturperiode, ZRP 1987, 110, 111. 164 BT-Drucks. 11/2834, S. 7, 12; Sten.Prot.-BT der 95. Sitzung vom 23. 9. 1988, S. 6521; »Die Regierung uneinig über das Demonstrationsstrafrecht«, FAZ 12. 6. 1986, 1f.; »Kann ein Vermummter ›demonstrieren‹«?, FAZ vom 13. 8. 1986, 8. 165 Meyn, Vermummung und passive Bewaffnung (o. Fn. 78).

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hoch, weil die Demonstrationen und Polizeieinsätze weiterhin polarisierten und die FDP für einen zweiten Anlauf immer noch wenig Begeisterung aufbrachte. Und da das geplante vollständige Strafgesetz nicht von den früheren Forderungen abwich, setzte sich die Diskussion im Herbst 1985 mit den bekannten Positionen fort.166 Die Phase von 1985 bis 1989 unterschied sich in den Kerngedanken somit kaum von den vorangegangenen Jahren, wenngleich die Zahl der Beiträge stark zunahm. Die SPD und der linke Flügel der FPD betonten die zahlenmäßige Abnahme von gewaltsamen Demonstrationen,167 die notwendige Reform der Polizeitaktik168 und verwiesen auf die Demonstrationsstatistik.169 Die Vertreter der neuen sozialen Bewegungen und Die Grünen befürchteten weiterhin die Formierung eines Sicherheitsstaates bzw. den Abbau der Versammlungsfreiheit.170 Im konservativen Spektrum blieb das Narrativ der Staatsgefährdung dominant.171 Erneut bediente man sich der Verweise auf den Terrorismus,172 Weimar,173 Le Bons Massenpsychologie174 oder kritisierte die Strafrechtsreform von 1970.175 Die Demonstrationsstatistiken wurden wieder im eigenen Sinne interpretiert, indem man z. B. die Zahl der verletzten Polizisten hervorhob.176 Wirklich Neues konnte und wollte also keine Seite präsentieren. Die Argumentation der Befürworter und Gegner schöpfte ihre Überzeugungskraft vielmehr aus der steten Wiederholung der bekannten Argumente, Verweise oder der Datenlage. Um die Rechtsfragen wurden gleichfalls weiterhin kontrovers gestritten. Die Themenschwerpunkte waren erneut die Auslegung der Ver166 »Jenninger warnt vor Gefühlen der Feindschaft, der Wut, der Vergeltung«, FAZ vom 6. 11. 1987, 1; »Stimmen der Anderen – Über Vermummung nichts Neues«, FAZ vom 8. 10. 1987, 2. 167 Sten.Prot.-BR der 591. Sitzung vom 8. 7. 1988, S. 264; Sten.Prot.-BT der 95. Sitzung 23. 9. 1988, S. 6524; Sten.Prot.-BT der 138. Sitzung vom 21. 4. 1989, S. 10191, 10210. 168 Sten.Prot.-BR der 568. Sitzung vom 26. 9. 1986, S. 504; Sten.Prot.-BT der 95. Sitzung vom 23. 9. 1988, S. 6529. 169 Sten.Prot.-BT der 95. Sitzung vom 23.9.88, S. 6528. 170 Rolf Gössner (Hrsg.), Widerstand gegen die Staatsgewalt – Handbuch zur Verteidigung der Bürgerrechte, Hamburg 1988, S. 17ff.; Ders., Der Bürger als Sicherheitsrisiko, Neue Kriminalpolitik 1989, 24, 26. Rückblickend auch Erhard Blankenburg, Innere Sicherheit, in: Manfred Schmidt (Hrsg.) Lexikon der Politik Band 3, München 1992, S. 162, 166f. 171 Sten.Prot.-BR der 568. Sitzung vom 26. 9. 1986, S. 500; Sten.Prot.-BR der 571. Sitzung vom 28. 11. 1986, S. 654; Sten.Prot.-BR der 580. Sitzung vom 25. 9. 1987, S. 308. 172 Sten.Prot.-BT der 138. Sitzung vom 21. 4. 1989, S. 10188; »Fachleute uneins über Kronzeugenregelung«, FAZ vom 1. 12. 1988, 5; Siehe auch: »Wahlprogramm der CDU und CSU für die Bundestagswahl 1987«, abgedruckt in: Friedrich-Naumann-Stiftung (Hrsg.), Versammlungsrecht (o. Fn. 130), S. 176. 173 Werner Brand, Unheilvolle Sätze, FAZ vom 24. 12. 1987, 6; Sten.Prot.-BT der 138. Sitzung vom 21. 4. 1989, S. 10188, 10209. 174 Hans Schneider, Anmerkung zu BVerfG v. 14. 5. 1985 – 1 BvR 233/81 u. a., DÖV 1985, 778, 784. 175 Sten.Prot.-BR der 568. Sitzung vom 26. 9. 1986, S. 500. 176 Vgl. die Pressemitteilung des Bundesministeriums des Inneren vom 17. 2. 1987, abgedruckt in: Friedrich-Naumann-Stiftung (Hrsg.), Versammlungsrecht (o. Fn. 130), S. 53ff.

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sammlungsfreiheit, verfassungsrechtliche Maßstäbe sowie das Legalitätsprinzip.177 Wenngleich der Argumentationsinhalt also konstant blieb, verschob sich das Meinungsbild, zwar nicht eindeutig, aber doch spürbar gegen das Vermummungsverbot. Immer mehr politische oder juristische Fachbeiträge bestritten oder äußerten Zweifel an der rechtlichen Zulässigkeit eines solchen Verbots.

3.1

Brokdorf-Beschluss und Datenschutz

3.1.1 Sachverhalt und Entscheidung Einen wichtigen Aufschwung für die Kritiker brachte der im Mai 1985 ergangene sog. Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. Ihm lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im Februar 1981 verbot der zuständige Landrat mit dem Verweis auf zu erwartende Unruhen eine von Bürgerinitiativen angekündigte Demonstration gegen das Kernkraftwerk Brokdorf in Schleswig-Holstein. Die Demonstration fand dennoch statt und gehörte zu den zahlenmäßig größten in der Bundesrepublik. Der gegen das Verbot gerichtete Antrag landete nach Erschöpfung des Rechtswegs schließlich beim Bundesverfassungsgericht, welches 1985 hierüber entschied.178 Zwar hatte die den Fall entscheidende Rechtsfrage keinen direkten Bezug zu Art. 8 GG.179 Dennoch nutzte das Gericht die Gelegenheit, um sich ausführlich mit der Bedeutung und Reichweite des Versammlungsrechts auseinanderzusetzen. Im Fokus standen allgemeine Ausführungen zum Wert der Versammlungsfreiheit, der Kooperationspflicht sowie spezielle Vorgaben zur Anmeldepflicht und den Eingriffsbefugnissen staatlicher Behörden. Der maßgeblich von Helmut Simon, Roman Herzog und Konrad Hesse geprägte180 Beschluss nahm hierbei eine sehr versammlungsfreundliche Position ein. Bereits der Tenor hob die wesentliche und demokratische Funktion der Versammlungsfreiheit hervor: »Das Recht des Bürgers, durch Ausübung der Versammlungsfreiheit aktiv am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß teilzunehmen, gehört zu den unent177 Zu Letzterem Fromme, FAZ vom 21. 7. 1987 (o. Fn. 162), 1; »Vermummung als Straftatbestand einstufen«, FAZ vom 28. 7. 1987, 2; Clemens Spahn, Im Ermessen der Polizei, FAZ vom 16. 11. 1987, 11. 178 BVerfG, NJW 1985, 2395ff. 179 Zu den entscheidungserheblichen Fragen Jochen Hofmann, Demonstrationsfreiheit und Grundgesetz – Der Brokdorf-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, BayVBl. 1987, 97, 98. 180 Oliver Lepsius/Anselm Doering Manteuffel, Die Richterpersönlichkeiten und ihre protestantische Sozialisation in: Anselm Doering-Manteuffel/Bernd Greiner/Oliver Lepsius (Hrsg.), Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 1985, Tübingen 2015, S. 167, 169.

Die Diskussion um das versammlungsrechtliche »Vermummungsverbot«

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behrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens. Diese grundlegende Bedeutung des Freiheitsrechts ist vom Gesetzgeber beim Erlaß grundrechtsbeschränkender Vorschriften […] zu beachten.«181

Ohne dabei Straftaten zu relativieren, rückte das Gericht die bedeutende Funktion der Versammlungsfreiheit in das Zentrum seiner Entscheidung.182 Der Beschluss stellte sich somit recht deutlich gegen die unter Konservativen oft anzutreffende Skepsis gegenüber Versammlungen. Statt sie im Spannungsverhältnis mit der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie oder als potenzielle Gefahr für den Staat zu sehen, betonte das Gericht die stabilisierende und korrigierende Aufgabe der Versammlungsfreiheit.183 Diese vom Beschluss hervorgehobene Bedeutung war – wie schon der Tenor zeigt – zugleich eine direkte Vorgabe an die Staatsgewalt, insbesondere an die Legislative. Im Ergebnis setzte das Bundesverfassungsgericht die Hürden für eine verfassungsmäßige gesetzgeberische Einschränkung der Versammlungsfreiheit also hoch an. 3.1.2 Entscheidung zum Vermummungsverbot? Zur Vermummung äußerte sich der Beschluss nicht ausdrücklich. Sofern man ihn jedoch zu Ende denkt, dürfte klar sein, dass das Vermummungsverbot als gesetzlicher Straftatbestand kaum mit dem vom Bundesverfassungsgericht gezeichneten Bild der Versammlungsfreiheit vereinbar sein konnte. Folglich ermutigte das in ihm ausgedrückte Grundrechtsverständnis die Verbotsgegner. Sie sahen sich sowohl in ihrer Kritik gegen das geltende sowie gegen das geplante vollständig strafrechtliche Vermummungsverbot bestätigt. Für Die Zeit stand fest: »Er [der Beschluss, JK] läuft zum Teil im Wortlaut, vollauf aber im Geist dem Gesetzesbeschluß der Koalitionsmehrheit und seiner Begründung zuwider.«184 In den kommenden Plenardebatten untermauerte die SPD ihre Kritik am geplanten Gesetz nunmehr mit dem Brokdorf-Beschluss185 und sah sich zu einem Normkontrollantrag gegen die 1985 erlassene Gesetzesänderung ermutigt.186 Und auch in den Fachbeiträgen mehrten sich zwischen 1985 und 1989 die Stimmen, nach denen das bereits geltende sowie das geplante Vermummungsverbot angesichts

181 182 183 184 185

BVerfG, NJW 1985, 2395. BVerfG, NJW 1985, 2395, 2397. BVerfG, NJW 1985, 2395, 2397. Schueler, Die Zeit vom 2. 8. 1985 (o. Fn. 152), 3. Sten.Prot.-BT der 138. Sitzung vom 21. 4. 1989, S. 10211; Sten.Prot.-BT der 95. Sitzung vom 23. 9. 1988, S. 6529; 95; Sten.Prot.-BR der 568. Sitzung vom 26. 9. 1986, S. 502, 503. 186 Friedrich Karl Fromme, Fehldeutung eines Karlsruher Spruchs, FAZ vom 24. 8. 1985, 6.

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dieses Beschlusses gegen das Bestimmtheitsprinzip und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoße.187 3.1.3 Wert der Anonymität Ein weiterer Impuls für die Kritiker kam aus den Diskussionen zum Datenschutz und Persönlichkeitsrecht. Die am Brokdorf-Beschluss orientierten Bedenken verknüpften sich hier mit dem Ende 1983 ergangenen Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, welches das Recht auf informationelle Selbstbestimmung etablierte. Sehr viel stärker als noch vor 1985 betonten die Gegner des Vermummungsverbots in den kommenden Jahren den Wert der anonymen Meinungskundgabe auf Demonstrationen und machten auf die einschüchternde Wirkung polizeilicher Überwachung aufmerksam. Sowohl medial als auch in den Plenardebatten war von den Verbotsgegnern derselbe Tenor zu vernehmen. Die Strafverteidigervereinigung z. B. erklärte, dass das Vermummungsverbot mit dem Datenschutz rechtsstaatlich nicht vereinbar sei.188 Auch in Fachbeiträgen äußerte man Verständnis für die Anonymität auf Demonstrationen aus Angst vor einer staatlichen Überwachung.189 Dieser Standpunkt hielt bis zuletzt an. Kurz vor Abschluss der Gesetzgebung hoben etwa Die Grünen im Bundestag den Datenschutz als Grund für die Vermummung hervor, so etwa durch den Abgeordneten Gerald Häfner in der Plenardebatte am 21. April 1989: »Der häufigste Grund für die sogenannte Vermummung besteht auch gar nicht darin, Gewalt zu planen oder begehen, sondern besteht in der Sorge, […], daß man in die Dokumentationen der Polizei und anderer Stellen gerät. Sie wissen, daß heute bei praktisch jeder Demonstration Photo- und Videotrupps eine uneingeschränkte Aufnahme und Speicherung der Demonstranten betreiben.«190

187 Hofmann, BayVBl. 1987 (o. Fn. 179), 129, 130; Hölscheidt, Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nach dem Brokdorf-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, DVBl. 1987, 666, 672; Ralf Jahn, Verfassungsrechtliche Probleme eines strafbewehrten Vermummungsverbotes, JZ 1988, 545, 547ff. Differenzierend Kristian Kühl, Demonstrationsfreiheit und Demonstrationsstrafrecht, NJW 1985, 2379, 2381ff.; ders., Landfriedensbruch durch Vermummung und Schutzbewaffnung?, NJW 1986, 874ff. 188 »Kritik der Strafverteidiger-Vereinigung«, FAZ vom 25. 11. 1987, 2. 189 So z. B. Karl Heinz Kunert/Klaus Bernsmann, Neue Sicherheitsgesetze – Mehr Rechtssicherheit?, NStZ 1989, 449, 455f.; Hofmann, BayVBl. 1987 (o. Fn. 179), 129. Zum bestehenden Gesetz Claus Strohmaier, Das neue Demonstrationsrecht, StV 1985, 469, 471. 190 Sten.Prot.-BT der 138. Sitzung vom 21. 4. 1989, S. 10201. So auch die spätere Meinung der Minderheit im Rechtsausschuss, siehe BT-Drucks. 11/4359, S. 15.

Die Diskussion um das versammlungsrechtliche »Vermummungsverbot«

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3.1.4 Gefahr der Anonymität Das politische Kräfteverhältnis änderte sich aber weder durch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts noch durch die sich daran anschließende Kritik. Zu groß war der Wille der Befürworter, ein gänzlich strafrechtliches Verbot durchzusetzen. Dies zeigte sich vor allem in der unmittelbaren Reaktion auf den Brokdorf-Beschluss. So lehnte man ihn entweder gänzlich ab,191 reagierte mit Unverständnis192 oder interpretierte ihn im eigenen Sinne. Und wenngleich es mit dem Grundtenor des Brokdorf-Beschlusses und des Volkszählungsurteils kaum vereinbar war, lies sich ein Vermummungsverbot mangels ausdrücklicher Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts auch nicht zweifelsfrei ausschließen. Dieser, wenn auch geringe, Interpretationsspielraum reichte aus, um an der eigenen Position festzuhalten. Jochen Frowein sah den Beschluss sogar als Bestätigung, dass die Vermummung keine Grundrechtsausübung sei: »Daß die Vermummung dem Grundgehalt der Versammlungsfreiheit widerspricht, folgt aus den Entscheidungsgründen eindeutig. Das Gericht sieht eine besondere Persönlichkeitsentfaltung darin, daß der ›Demonstrant seine Meinung in physischer Präsenz, in voller Öffentlichkeit […] kundgibt‹«.193

Ihm beipflichtend meinte Friedrich Karl Fromme, dass der Beschluss das Vermummungsverbot zumindest nicht ausschließe.194 Auch an der zunehmend datenschutzrechtlichen Kritik störte man sich nicht. Diese musste aus konservativer Perspektive selbstverständlich unbegründet bleiben,195 weil sie ein Misstrauen gegenüber staatlicher Überwachungstätigkeit voraussetzte. Daher blieb für die Befürworter die Identifizierbarkeit ein wesentliches Merkmal der Meinungskundgabe196 und jede Vermummung ein Anzeichen krimineller Energie und Gewaltbereitschaft.197 Eine Isolation riskierten die Befürworter mit dieser

191 Überblick bei Hofmann, BayVBl. 1987 (o. Fn. 179), 97f.; Friedrich Karl Fromme, Mit ein bißchen Gewalt?, FAZ vom 29. 7. 1985, 8. 192 Schneider, DÖV 1985 (o. Fn. 174), 778, 783ff. 193 Jochen Frowein, Die Versammlungsfreiheit vor dem Bundesverfassungsgericht, NJW 1985, 2376, 2378. 194 Fromme, FAZ vom 24. 8. 1985 (o. Fn. 186), 6. 195 Gerhard Weck, Der Monat in Bonn, ZRP 1987, 451. 196 Sten.Prot.-BT der 95. Sitzung vom 23. 9. 1988, S. 6524; Sten.Prot.-BT der 138. Sitzung vom 21. 4. 1989, S. 10189f.; BT-Drucks. 11/4359, S. 14; Niederschrift des 34. Bundesparteitags der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, Bonn, 07./08.10.86, S. 57, 130. 197 Sten.Prot.-BR der 553. Sitzung vom 5. 7. 1985, S. 378; Sten.Prot.-BR der 568. Sitzung vom 26. 9. 1986, S. 501; Sten.Prot.-BT der 591. Sitzung vom 8. 7. 1988, S. 266; Sten.Prot.-BT der 95. Sitzung vom 23. 9. 1988, S. 6516, 6521; Sten.Prot.-BT der 138. Sitzung vom 21. 4. 1989, S. 10188; BT-Drucks 11/1932, S. 10; BT-Drucks. 11/2834, S. 7; BT-Drucks. 11/4359, S. 14; Wilhelm Vorndran Bayer, Rechtspolitische Bilanz des CSU zur 10. Legislaturperiode, ZRP 1987, 110, 111.

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Ansicht ohnehin nicht. Wie ein Interview mit Richard von Weizsäcker Ende 1987 zeigen sollte, hatte selbst der Bundespräsident eine ähnliche Meinung: »Vermummung ist doch kein Hilfsmittel für Datenschutz. Vermummung ist, […] ein Vorgang, bei dem die eigene Person verborgen wird, bei der man ein anderes Gesicht und damit eine andere Absicht dokumentiert. Eine Maske, […] das ist die Anmaßung von Autorität, die Verbreitung von Furcht und Schrecken. Das ist die Verwandlung dessen, der dem Maskierten gegenübersteht, und das ist nach den Grundsätzen einer freien selbstverantwortlichen Gesellschaft einfach nicht human. Ich finde, daß es doch von allen Beteiligten wirklich einsehbar sein müßte, daß wir uns mit offenem Visier zu begegnen haben.«198

3.2

Deutungskampf um Wackersdorf

Der Brokdorf-Beschluss gab also einen weiteren Anstoß für rechtliche Zweifel und drängte die Befürworter in die Defensive. Umstimmen ließen sie sich aber nicht. Stattdessen suchten sie nach eigenen Bezugspunkten im Zeitgeschehen, um ihre Ansicht zu stützen. Gelegenheit hierzu boten die ab 1986 zunehmenden Demonstrationsunruhen um die Wiederaufbereitungsanlage im bayrischen Wackersdorf, denn hier ließ sich die behauptete Staatskrise und Demonstrationsgewalt exemplarisch nachweisen und als Argument für das Vermummungsverbot einbringen. Die Proteste nahe der bayerischen Kleinstadt gehörten, schon wegen der Tschernobyl-Katastrophe, der Brutalität der Polizeieinsätze und der Ausschreitungen, zu den meistbeachteten und umstrittensten Ereignissen der achtziger Jahre. Mit Blick auf Wackersdorf sprach etwa die FAZ von der nun aufgehenden »Terror-Saat«.199 Und auch Friedrich Zimmermann wusste, wie er die dortigen Ereignisse einzuordnen hatte: »Neben dem Terrorismus ist es vor allem auch der Mißbrauch des Demonstrationsrechts durch kriminelle Gewalttäter, der die innere Sicherheit in der Bundesrepublik beeinträchtigt. Die schweren Krawalle in Brokdorf, Wackersdorf und anderen Städten […] machen deutlich, daß die bei Demonstrationen auftretenden Gewalttäter die Auseinandersetzung mit unserem Staat suchen.«200

198 »Mit offenem Visier«, Die Zeit vom 4. 12. 1987, 12. Beispiele für die argumentative Verarbeitung des Interviews in Sten.Prot.-BT der 95. Sitzung vom 23. 9. 1988, S. 6521; »Weizsäcker: Recht muss eingesehen werden«, FAZ vom 30. 11. 1987, 1. 199 »Terror-Saat«, FAZ vom 20. 10. 1986, 1: »Ein terroristischer Mord in Bonn – und nun wieder Gewalt sogenannter Demonstranten wegen Wackersdorf. Beides hängt zusammen – der CSU-Landesgruppenvorsitzende Waigel, einer der nüchternsten in Bonn, hat es am Wochenende in Erinnerung gerufen.« 200 Friedrich Zimmermann, Innere Sicherheit – Garant der Freiheit, in: Bundesministerium des Inneren (Hrsg.), Innere Sicherheit Nr. 1 vom 3. 4. 1987, 1, 2.

Die Diskussion um das versammlungsrechtliche »Vermummungsverbot«

253

Aber nicht nur die Union oder die FAZ verbanden Demonstrationsunruhen und Staatsgefährdung, auch Der Spiegel bediente sich des Bürgerkriegsszenarios.201 Hierauf aufbauend forderte Franz Josef Strauß, seinerseits stärkster Befürworter der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf, im September 1986 ein strafrechtliches Vermummungsverbot im Bundesrat.202 Doch ebenso wie eine Gesetzesinitiative im August 1987 scheiterte dieser Antrag.203 Es zeigte sich, dass die Befürworter des Verbots noch nicht die Deutungshoheit hatten. Denn trotz oder wegen der Ereignisse in Wackersdorf hatte die FDP ihre Bedenken. Viele ihrer Mitglieder sprachen sich nach wie vor gegen einen Straftatbestand aus und deuteten die Unruhen in Wackersdorf nicht als Staatsgefährdung oder Terrorismus, sondern als das Ergebnis einer fehlerhaften Einsatzleitung der Polizei.204 Und auch die Medien übten Kritik, weil der Verdacht aufkam, dass das von der Polizei in Wasserwerfen eingesetzte CS-Gas einen Demonstrationsteilnehmer getötet hatte.205 Die Wochenzeitung Die Zeit empfahl statt einer Gesetzesänderung daher die Aufstockung der Polizei und berief sich hierzu auf die Demonstrationen in Brokdorf und Wackersdorf.206 Die Pattsituation von 1985 schien sich zu wiederholen, als nach der Bundestagswahl 1987 die Union ihre Koalition fortsetzen musste und die FDP sich weiterhin gegen eine strafbewährte Vermummung aussprach. Die im März stattfindenden Koalitionsverhandlungen konnten daher kein politisch verbindliches Ziel formulieren.207 Ein Koalitionspapier unterstrich lediglich den Handlungsbedarf und nannte den Straftatbestand der Vermummung als mögliche Lösung.208 Der Streit um das Verbot wurde damit in die Regierungszeit hineingetragen.209 Die Chancen für ein Verbot standen diesmal allerdings etwas besser, denn innerparteilich bekam die FDP immer tiefere Risse. Offiziell blieb sie zwar wei201 So lautete der Titel der Ausgabe vom 21. 7. 1986: »Aufrüstung für den Bürgerkrieg«. 202 BR-Drucks. 409/86. Zur Diskussion: Sten.Prot.-BR der 568. Sitzung vom 26.9.86, S. 499ff. 203 Der Antrag wurde an den Rechtsausschuss verwiesen, wo er unbearbeitet blieb und 2010 (siehe Sten.Prot.-BR der 866. Sitzung vom 12. 2. 2010, S. 28) für erledigt erklärt wurde. 204 »Hirsch kritisiert den Polizeieinsatz in Wackersdorf«, FAZ vom 2. 6. 1986, 2; »Die Regierung uneinig über das Demonstrationsstrafrecht«, FAZ vom 12. 6. 1986, 1f.; »FDP lehnt Verschärfung des Demonstrationsrechts ab«, FAZ vom 30. 6. 1986, 1; Burkhard Hirsch, Auch wer die Täter deckt, macht sich strafbar, FAZ vom 16. 8. 1986, 6. 205 »Vorzügliches Arrangement«, Der Spiegel vom 7. 4. 1986, 28f. Siehe auch: »Als gäb’s nur Verbrecher und Terroristen«, Der Spiegel vom 28. 7. 1986, 56ff. 206 Hanno Kühnert, Verluste für den Rechtsstaat, Die Zeit vom 4. 7. 1986, 4ff. 207 »Zum Abschluß der Koalitionsverhandlungen zähes Ringen – Kronzeuge und Vermummungsverbot«, FAZ vom 7. 3. 1987, 1f. 208 »Was geschehen soll, was in Betracht kommt, worüber nachgedacht wird«, FAZ vom 16. 3. 1987, 7. 209 »Schwind soll die Gewalt-Kommission leiten«, FAZ vom 27. 6. 1987, 4; Günter Bannas, Wiederaufnahme eines alten Konflikts, FAZ vom 15. 7. 1987, 8; Fromme, FAZ vom 21. 7. 1987 (o. Fn. 162), 1; »Gewalt ist neu zu definieren«, FAZ vom 8. 5. 1987, 4.

254

Joachim Kummer

terhin bei ihrer Ablehnung, jedoch machten sich bereits einzelne Mitglieder für ein strafbewährtes Vermummungsverbot stark, sodass der Streit zunehmend zwischen dem linken und dem rechten Flügel der FDP verlief.210 Während der stellvertretende FDP-Vorsitzende Gerhart Baum die Beibehaltung des bisherigen Verbots empfahl, waren der Landesvorsitzende von Baden-Württemberg Walter Döring sowie der Landesvorsitzende von Nordrhein-Westfalen Jürgen Möllemann einem Strafgesetz zugeneigt.211 Ein mit Spannung erwarteter Bundesparteitag der FDP im September 1987212 brachte zunächst keine offizielle Kursänderung. Der dort gefasste Parteibeschluss sprach sich nach wie vor gegen ein strafbewährtes Vermummungsverbot aus. Allerdings hielt sich die FDP eine argumentative Hintertür auf, denn der Beschluss betonte, dass »nach jetziger Sachlage« kein Straftatbestand der Vermummung nötig sei.213 Neue Tatsachen – so schien es – würden neue Bewertungen nach sich ziehen.

3.3

Die Tötungsdelikte an der Startbahn-West

Die »jetzige Sachlage« änderte sich schnell, als Andreas E. am 2. November 1987 während einer Demonstration gegen den Ausbau der Startbahn West in Frankfurt a.M. zwei Polizeibeamte tötete und sieben weitere verletzte. Die von konservativer Seite und in den Medien oft unterstellte Verbindung von Terrorismus und Demonstrationsdelikten sowie der Staatsgefährdung schien sich endgültig zu bestätigen, nicht zuletzt, weil der Attentäter nach Medienberichten selbst maskiert gewesen sein soll.214 Die allgemeine Erschütterung über die Tötung, welche auch die Vertreter der neuen sozialen Bewegungen tief verunsicherte,215 erlaubte es den Befürwortern nochmal, einen Zusammenhang von Vermummung 210 »Wie wird sich die FDP hinsichtlich des Vermummungsverbots verhalten?«, FAZ vom 24. 7. 1987, 2; »Die FDP weiter uneins über strafbewehrtes Vermummungsverbot«, FAZ vom 22. 8. 1987, 2; »Die FDP vor ihrem Parteitag weiter uneins über Vermummungsverbot«, FAZ vom 29. 8. 1987, 1. 211 »Die FDP vor ihrem Parteitag weiter uneins über Vermummungsverbot«, FAZ vom 29. 8. 1987, 1f. 212 »Union will Umwelt-Haftpflichtversicherung«, FAZ 31. 7. 1987, 4; »Nöbel will in der FDP drei Strömungen ausgemacht haben«, FAZ vom 3. 8. 1987, 2; »Baden-Württemberg will Vermummungsverbot durchsetzen«, FAZ vom 12. 8. 1987, 5; »Stuttgart will mehr als Vermummungsverbot«, FAZ vom 19. 8. 1987, 4. 213 »FDP lehnt Strafbarkeit der Vermummung ab«, FAZ vom 7. 9. 1987, 5; »Langsame Weitergabe eines Entwurfs verärgert die FDP«, FAZ vom 12. 9. 1987, 1. 214 »Stimmen der Anderen – Falsch verstandener Liberalismus«, FAZ vom 5. 11. 1987, 2; »Wir machen Rambo auf links«, Der Spiegel vom 9. 11. 1987, 17, 19; Jürgen Furtwängler, Die Saat der Predigt von Gewalt geht auf, FAZ vom 20. 11. 1987, 8; Stephan Heuberger, Immer mehr Polizisten bei Demonstrationen verletzt, FAZ vom 23. 11. 1987, 11. 215 Siehe z. B. die Beiträge der Zeitschrift »Atom« Nr. 18/19, Januar 1988, S. 4ff.

Die Diskussion um das versammlungsrechtliche »Vermummungsverbot«

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und Gewalt zu betonen. Bereits zwei Tage später schrieb Friedrich Karl Fromme in der FAZ: »Wer sich, bevor er zur ›Demo‹ geht, unkenntlich macht, hat eine gewisse Bereitschaft zur Gewalt. Sie wird gesteigert durch das Vermummtsein. Es enthemmt; das muss endlich auch vom Gesetzgeber, auch der FDP, zur Kenntnis genommen werden.«216

Fast täglich waren nunmehr Forderungen in der FAZ zum Vermummungsverbot, Bezüge zum Bürgerkrieg oder der Staatsgefährdung zu lesen.217 Andere Medien wie z. B. Der Spiegel zogen ähnliche Vergleiche,218 zur Besinnung mahnende Stimmen blieben währenddessen in der Minderheit.219 Die Befürworter eines Vermummungsverbots innerhalb der FDP traten zunehmend selbstbewusster auf und setzten die immer noch gespaltene Partei weiter unter Druck.220 Obwohl erst ein Sonderparteitag der FDP am 12. Dezember die Entscheidung bringen sollte, arbeitete der Bundesvorstand auf ein Verbot hin und stimmte am 16. November mehrheitlich für eine vollständige Strafbarkeit der Vermummung.221 Bereits am 7. Dezember fasste Der Spiegel die Gründe dieser Kehrtwende treffend zusammen: »Allzugroß erschien ihm [Martin Bangemann, JK] der Druck der Union, allzu durchschlagend die populistische Forderung, nach den Polizistenmorden an der Frankfurter Startbahn West müsse gegen maskierte Chaoten endlich durchgegriffen werden. Rechtsstaatliche Bedenken gegen neue Strafbestimmungen und Zweifel an ihrer 216 Friedrich Karl Fromme, Nun ist es höchste Zeit, FAZ vom 4. 11. 1987, 1. 217 »Stimmen der Anderen – Falsch verstandener Liberalismus«, FAZ vom 5. 11. 1987, 2; »Zimmermann dringt auf schärfere Gesetze – Die SPD schließt Entgegenkommen nicht aus«, FAZ vom 7. 11. 1987, 1; »Gute Chancen für Vermummungsverbot«, FAZ vom 11. 11. 1987, 3; Hans Lothar Thiels, Der Gesetzgeber muß handeln, FAZ vom 13. 11. 1987, 11; »Spranger: Die geltenden Gesetze reichen nicht aus«, FAZ vom 24. 11. 1987, 5. 218 Siehe: »Terror aus dem Schwarzen Block – Die Vermummten«, Der Spiegel vom 9. 11. 1987. 219 So z. B. R. Leicht, Fehltritt, Die Zeit vom 20. 11.1987, 1. 220 Fromme, FAZ vom 4. 11. 1987 (o. Fn. 216), 1f.; »Haftbefehl gegen den Tatverdächtigen in Frankfurt erlassen«, FAZ vom 5. 11. 1987, 1; »Zimmermann dringt auf schärfere Gesetze – Die SPD schließt Entgegenkommen nicht aus«, FAZ vom 7. 11. 1987, 1; »Strauß lobt Becksteins »beachtlichen Erfolg«, FAZ vom 10. 11. 1987, 4; »Gute Chancen für Vermummungsverbot«, FAZ vom 11. 11. 1987, 3; Hans Beckmann, Einfach ignoriert, FAZ 17. 11. 1987, 36; »Döring fordert baldigen Sonderparteitag der FDP«, FAZ vom 20. 11. 1987, 5, »Mehrheit im Stadtparlament verlangt schärfere Gesetze«, FAZ vom 20. 11. 1987, 43; »Ergebnisse einer Anhörung zum Demonstrationsstrafrecht verbreitet«, FAZ 21. 11. 1987, 1; »Die hessische CDU bedenkt die Familienministerin mit Beifallsstürmen«, FAZ vom 23. 11. 1987, 4; »Spranger: Die geltenden Gesetze reichen nicht aus«, FAZ vom 24. 11. 1987, 5; »Zurück zum Alltag«, FAZ vom 30. 11. 1987, 1; »Auf dem Weg zur Degeneration des Liberalismus«, FAZ 11. 12. 1987, 11; »Staatsministerin Adam-Schwaetzer und Graf Lambsdorff wollen dem strafbewehrten Vermummungsverbot jetzt uneingeschränkt zustimmen«, FAZ vom 12. 12. 1987, 4. Zur Bundestagsdebatte: Sten.Prot.-BT der 36. Sitzung vom 5. 11. 1987, S. 2366f. 221 »Die Vermummung wird immer mehr eine Vorbereitungshandlung zur Ausübung von Gewalt bei Demonstrationen«, FAZ vom 17. 11. 1987, 2.

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Wirksamkeit seien, so die These Bangemanns und seiner Mitstreiter, öffentlich nicht mehr vermittelbar. Die Widerstandsposition müsse geräumt werden.«222

Unter dem Druck des eigenen Vorstands, der öffentlichen Meinung und der Union, stimmte auf dem außerordentlichen Bundesparteitag am 12. Dezember eine knappe Mehrheit von 210 gegen 185 Stimmen für das strafbewährte Vermummungsverbot.223

3.4

Gesetzgebung und Fachdebatte

Das Jahr 1987 endete für die Union mit einem politischen Erfolg. Die größte Hürde bei der Durchsetzung des Verbots, der Widerstand des linken Flügels der FDP, war aus dem Weg geräumt. In der Presse, vor allem in der FAZ, wurde es nach der Entscheidung der FDP schlagartig ruhiger. In den Jahren 1988 und 1989 konnte die Koalition daher das Vereinbarte umsetzen. Mit dem beschlossenen Verbot vor Augen, schwankte die juristische Fachdebatte derweil zwischen Kritik und Anpassung. Ralf Jahn antizipierte einen Normkontrollantrag der SPD (der nie kommen sollte) und setzte deshalb zu einer verfassungsrechtlichen Kritik an.224 Detlef Krauß ordnete das Verbot in die (verfehlte) Sicherheitspolitik ein und bestritt, ebenso wie Rainer Hamm, die Strafwürdigkeit der Vermummung.225 Andere Beiträge widmeten sich erneut dem Legalitätsprinzip und versuchten, es dem sich abzeichnenden Vermummungsverbot anzugleichen. Wenngleich sie das Legalitätsprinzip als rechtsstaatliche Errungenschaft betonten, näherte sich ihre Argumentation faktisch denen der Befürworter an und lief auf eine Lockerung der Strafverfolgungspflicht und damit des Legalitätsprinzips hinaus.226 Und auch die Regierungskoalition bewegte sich in dieser Hinsicht nicht auf die, vor allem von der SPD und linker FDP geäußerte, Kritik227 zu. Zwar versicherten Innen- und Justizministerium, die starre Handhabung des Legalitätsprinzips zu 222 »Schluß damit«, Der Spiegel vom 7. 12. 1987, 31. 223 »Nur eine knappe Mehrheit für Verschärfung des Vermummungsverbots«, FAZ vom 14. 12. 1987, 6. 224 Jahn, JZ 1988 (o. Fn. 187), 545, 546ff. 225 Detlef Krauß, Sicherheitsstaat und Strafverteidigung, StV 1989, 315, 321; Rainer Hamm, Vermummung als Straftatbestand?, StV 1988, 40ff. 226 Meyn, Vermummung und passive Bewaffnung (o. Fn. 78), S. 303f.; Edzard SchmidtJortzig, Möglichkeiten einer Aussetzung des strafverfolgerischen Legalitätsprinzips bei der Polizei, NJW 1989, 129, 138. Kritisch hierzu Herbert Schnoor, Abbau des Gewaltpotentials als politische Aufgabe, ZRP 1987, 279, 284. 227 Hierzu z. B. Sten.Prot.-BT der 138. Sitzung vom 21. 4. 1989, S. 10192, 10210; BT-Drucks. 11/ 4359, S. 14; Detlef Kleinert, Wie es die Parteien mit der Vermummung halten wollten, FAZ vom 26. 8. 1986, 15; »Freiheit der FDP«, FAZ 3. 12. 1987, 1; Schnoor, ZRP 1987 (o. Fn. 226), 279, 283.

Die Diskussion um das versammlungsrechtliche »Vermummungsverbot«

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entschärfen.228 Und tatsächlich schien es kurzzeitig so, als würde die konservativliberale Koalition zumindest eine Ausnahme zum Legalitätsprinzip in ihr Gesetz einarbeiten. Jedoch ließ die Union dieses Vorhaben am Ende fallen.229 Die datenschutzrechtlichen Bedenken zeigten immerhin etwas Wirkung. So führte die geplante Novelle neben dem Vermummungsverbot den § 12a VersG ein. Nach ihm konnte die Polizei Bild- und Tonaufnahmen »bei oder in [sic!] Zusammenhang mit öffentlichen Versammlungen nur anfertigen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, daß von ihnen erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen. Die Maßnahmen dürfen auch durchgeführt werden, wenn Dritte unvermeidbar betroffen werden.«230 Nach Meinung der Union waren damit die Bedenken gegen die polizeiliche Überwachung auf Demonstrationen aus dem Weg geräumt.231 Kritik der SPD, aber vereinzelt auch aus der FDP, an der hohen Unbestimmtheit der Norm und ihrer weitreichenden Ermächtigung zulasten der Demonstranten232 berührte die konservativ-liberale Koalition nicht. Der Entwurf zum § 12a VersG ging unverändert in das spätere Gesetz ein.233 Etwas weniger als vier Jahre nach dem ersten Gesetz, am 21. April 1989, stimmte der Bundestag erneut für ein strafgesetzliches Vermummungsverbot.234 Das neue Gesetz trat am 10. Juni 1989 in Kraft und verschärfte das bestehende Verbot auf mehreren Ebenen: So erweiterte man den Geltungsbereich des generellen Verbots in § 17a Abs. 2 Nr. 1 VersG auf das räumliche Vorfeld, d. h. auf den Weg zur Versammlung. Derjenige, der sich vermummt auf eine Versammlung zubewegte, musste daher mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe rechnen (§ 27 Abs. 2, Nr. 2 VersG). Untersagt war gem. § 17a Abs. 2 Nr. 2 VersG zudem das reine Mitsichführen von Vermummungsgegenständen, etwa im Rucksack und zwar während als auch auf dem Weg zu einer Versammlung. Ein Verstoß hiergegen stellte eine Ordnungswidrigkeit gem. § 29 Abs. 1, Nr. 1a VersG dar. Zudem war die Vermummung selbst gem. § 27 Abs. 2 Nr. 2 VersG während einer Versammlung strafbar, gleichgültig, ob diese friedlich oder unfriedlich verlief. Bestraft wurde zuletzt, wer sich »im Anschluß an oder sonst im Zusammenhang mit derartigen Veranstaltungen mit anderen 228 »Der Grundsatzbeschluß des Kabinetts zur inneren Sicherheit«, FAZ vom 5. 12. 1987, 4. 229 Sten.Prot.-BR der 591. Sitzung vom 8. 7. 1988, S. 267, 281. Siehe auch Kunert/Bernsmann, NStZ 1989 (o. Fn. 189), 449, 454. 230 BT-Drucks. 11/4359, S. 6. 231 BT-Drucks. 11/4359, S. 17; Sten.Prot.-BT der 138. Sitzung vom 21. 4. 1989. S. 10205. 232 Sten.Prot.-BT der 138. Sitzung vom 21. 4. 1989. S. 10210, 10217: »Diese Regelung führt nicht, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, zur Einschränkung staatlicher Befugnisse, sondern sie schafft zum ersten Mal eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für heimliche polizeiliche Bild- und Tonaufnahmen auch bei Versammlungen in geschlossenen Räumen.« 233 BGBl. 1989 I S. 1059. 234 »Der Bundestag stimmt dem Artikelgesetz zur inneren Sicherheit zu«, FAZ vom 22. 4. 1989, 1.

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zusammenrottet und dabei in der in Nummer 2 (d. h. vermummt, JK) bezeichneten weise aufgemacht ist«, § 27 Abs. 2 Nr. 3 c) VersG.235 Das neue Gesetz zeigt: Die konkrete Ausgestaltung des Verbots war sehr viel kleinteiliger, als sie die öffentliche Diskussion abbildete. Diese kreiste zu überwiegenden Teilen um das »Ob« eines Strafgesetzes. Die Detailfragen wurden abseits der öffentlichen Diskussion im Fachausschuss geklärt.

4

Fazit

Die Diskussion um das Vermummungsverbot berührte sehr grundlegende Bereiche der Demokratie, des Staates, der Sicherheit und der Freiheit. Neben den anderen Normen des geplanten Versammlungsstrafrechts, wie dem Landfriedensbruch oder dem Schutzwaffenverbot, ging es allgemein um die Reichweite und Grenzen der Demonstrationsfreiheit. Diese Fragen waren spätestens seit dem Ende der Sechziger vor allem im Kontext der Studentenproteste und später den neuen sozialen Bewegungen politisch hoch umstritten. Die Verbotsdiskussion war daher stark von den Eindrücken der späten Sechziger und Siebziger geprägt, wenngleich der Diskussionsschwerpunkt in den achtziger Jahren (zwischen 1983 und 1987) lag. Trotz zweier Gesetzgebungsphasen zeichnete sich die Debatte durch ein starkes Maß an Wiederholung und Kontinuität aus, weil sowohl in der ersten Phase von 1977 bis 1985 als auch in der zweiten Phase von 1985 bis 1989 der Diskussionsgegenstand faktisch derselbe war, nämlich die Frage nach einem vollständig strafrechtlichen Verbot der Vermummung. Der Erlass des ersten Gesetzes am 28. Juli 1985 war aus argumentationsgeschichtlicher Perspektive also kein großer Einschnitt. Nichts anderes gilt für den Regierungswechsel 1982, da die konservativ-liberale Koalition sich zunächst nicht auf ein vollständig strafrechtliches Verbot einigen konnte. Sehr viel bedeutender für die Verbotsdiskussion war das Jahr 1987, genauer der 2. November. Erst mit den Tötungsdelikten an der Startbahn West war das Gewicht der Verbotsforderung und der öffentliche Druck groß genug, um die FDP für ein vollständiges strafrechtliches Verbot zu gewinnen. Die seit den Siebzigern betonte Gleichsetzung von Demonstrationsunruhen mit Terrorismus, die Gefahr für den Staat, die innere Sicherheit oder den Rechtsfrieden und speziell die aggressionssteigernde Wirkung der Vermummung fanden hier ihre scheinbare Bestätigung. Kritischen Stimmen kam angesichts der allgemeinen Verunsicherung kein entscheidendes Gewicht mehr zu, vor allem nicht in der FDP, von der die Entscheidung zugunsten eines Vermummungsverbots letztlich abhing. 235 Siehe hierzu: BGBl. 1989 I S. 1059, 1060.

Die Diskussion um das versammlungsrechtliche »Vermummungsverbot«

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Die Diskussion war – ihrer kontroversen Natur gemäß – stark von den jeweiligen politischen Positionen geprägt. Die Vermummung galt entweder als eine aggressionssteigernde Handlung und Ursache der (staatsgefährdenden) Demonstrationsgewalt oder sie war die Bedingung für eine, vor staatlicher Überwachung geschützte, freie Grundrechtsausübung. Ebenso unterschiedlich war die Bewertung des Demonstrationsgeschehens. So konnten die Ereignisse in Brokdorf, Wackersdorf oder an der Startbahn West entweder als Terrorismus und Staatsgefährdung oder als Manifestation eines, die Demokratie und die Freiheit erdrückenden, Sicherheits- und Polizeistaats gelten. Mit dem gesetzlichen Verbot setzte sich letzten Endes eine konservative, auf Sicherheit und Ordnung fixierte, Sicht auf die Versammlungsfreiheit durch. Eine an der zahlenmäßig geringen Demonstrationsgewalt orientierte Kritik des Verbots gab es zwar auch, zumeist von der SPD und Teilen der FDP. Sie hatte aber, schon weil Demonstrationsstatistiken begrifflich nur rudimentär ausgeprägt waren, keine diskussionsentscheidende Rolle. Ähnliches gilt für die rechtlichen Argumente. Zwar fanden Bezüge zu Rechtsnormen, Rechtsprinzipien oder auch der Rechtsprechung, insbesondere der des Bundesverfassungsgerichts, statt. Und auch das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, die rechtsstaatlichen Prinzipien und die strafrechtlichen Kriterien erhielten ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. Rechtliche Gesichtspunkte waren aber letztlich nur weitere Aspekte unter vielen anderen und standen vor allem für die Befürworter nicht an vorderster Stelle. Der Inhalt oder die Bedeutung des Rechts für das Vermummungsverbot war stets eine Frage der jeweiligen Perspektive. Rechtliche Gesichtspunkte bildeten daher keinen, die einzelnen Ansichten übergreifenden, Rahmen und schon gar nicht hatten sie eine diskussionsentscheidende Bedeutung, wie die Debatten zum Legalitätsprinzip oder zum Brokdorf-Beschluss zeigen. Rechtsfragen teilten somit die Rolle von anderen Diskussionssträngen, die ebenfalls entsprechend der politischen Sichtweise interpretiert wurden. Kurz gefasst war das Recht ein Diskussionsgegenstand und kein Diskussionsmaßstab. Dieser Befund ist einerseits banal, da rechtliche Gesichtspunkte bei politisch umstrittenen Fragen oft selbst zum Streitgegenstand werden. Das gilt inbesondere dann, wenn die Maßstäbe, die das Recht für die Diskussion bereithält, noch kaum gefestigt sind und die Diskussion stark polarisiert. Und genau dies war bezüglich des Versammlungsrechts der achtziger Jahre der Fall. Andererseits ist der Befund bemerkenswert, vor allem wenn man die Entwicklung der Diskussion zwischen 1985 und 1989 betrachtet. Die rechtliche Kritik am Verbot wurde lauter und der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts sprach gegen die Einführung eines Strafgesetzes. Eine Abkehr vom geplanten Vermummungsverbot hätte also nahegelegen. Der politische Durchsetzungswille der Union war jedoch stärker.

Andreas Fürst

Volkszählung – Boykott, Sanktionen und die Entdeckung eines neuen Grundrechts

1

Einleitung

»In jenen Tagen erließ Kaiser August den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen. Dies geschah zum ersten Mal: damals war Quirinius Statthalter von Syrien. Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen. So zog auch Josef von der Stadt Nazaret in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt; denn er war aus dem Haus und dem Geschlecht Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete. Als sie dort waren, kam für Maria die Zeit ihrer Niederkunft, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz mehr für sie war.«1 Die Weihnachtsgeschichte, die alljährlich im christlichen Weihnachtsgottesdienst verlesen wird, beginnt mit einer Volkszählung. Schon daran zeigt sich, welch große Auswirkungen ein Zensus für eine Gesellschaft haben kann. Tatsächlich hat man auch während der Volkszählungsdebatte der 1980er Jahre mit dieser bekannten biblischen Geschichte gespielt. So stellten die Grünen beispielsweise im hessischen Landtag die Anfrage, ob es richtig sei, dass alle Hessen verpflichtet seien, auf einem Esel zu ihrem Geburtsort zu reisen, und fragten obendrein, was denn die Landesregierung zu unternehmen gedenke, damit schwangere Frauen während der geplanten Volkszählung nicht wegen mangelnder Übernachtungsmöglichkeiten in Ställen gebären müssten;2 auf diese Art und Weise brachten sie ihren Argwohn gegenüber der Volkszählung zum Ausdruck. Wie das biblische Beispiel zeigt, war das Phänomen der Volkszählung

1 Theobald, Michael (Hrsg.), Stuttgarter Neues Testament – Die Bibel, Einheitsübersetzung, Stuttgart 2018, S. 198. 2 Vgl. Hubert, Eva, Politiker fragen – Bürger antworten nicht. Die Boykottbewegung gegen die Volkszählung, in: Taeger, Jürgen (Hrsg.): Die Volkszählung, Reinbeck bei Hamburg 1983, S. 254–266, 261.

262

Andreas Fürst

zwar keinesfalls neu3 – neu war aber der große Widerstand breiter Bevölkerungsschichten. Denn anders als Josef von Nazaret, waren die Deutschen in den 1980er Jahren nicht gewillt, sich ohne Widerstand zählen zu lassen. Und tatsächlich: Durch die Aussetzung der Volkszählung durch das Bundesverfassungsgericht knapp zwei Wochen vor dem geplanten Stichtag – hierüber wird zu berichten sein4 – kam die Volkszählung zu einem unerwarteten5 Ende.

2

Volkszählungsboykott ab 1983 – Boykott und Sanktion

2.1

Ausgangslage und Ziel der Volkszählung

Im Einklang mit den Empfehlungen der Vereinten Nationen, Volkszählungen in regelmäßigen Abständen von in etwa zehn Jahren durchzuführen,6 wurde für 1981 in der Bundesrepublik Deutschland eine Volkszählung geplant; die letzte Volkszählung hatte im Jahre 19707 stattgefunden. Die dafür notwendige gesetzliche Grundlage konnte jedoch erst nach einem über drei Jahre andauernden Gesetzgebungsverfahren geschaffen werden, nachdem es zuvor zu langwierigen Finanzierungsstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern gekommen war.8 Das »Gesetz über eine Volks-, Berufs-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung«9 (VZG 1983) wurde am 4. März 1982 im Bundestag einstimmig verabschiedet und bildete die Grundlage für eine Volkszählung, deren Stichtag der 27. April 1983 3 Zur historischen Entwicklung ab 1871 und dem internationalen Rahmen des Zensus, siehe Kroppenstedt, Franz, Volks-, Berufs-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung 1983, in: Wickert, Günter (Hrsg.): Zeitschrift für Markt-, Meinungs- und Zukunftsforschung, Tübingen 1983, S. 5633–5646, 5633f. 4 Siehe dazu Kapitel 2.3. 5 Weder die Volkszählungsbetreiber, noch die Volkszählungsgegner rechneten mit einer Aussetzung der Volkszählung, vgl. »Wo ist denn die Intimität« (o. Fn. 18), Der Spiegel Nr. 13/ 1983, S. 34, 34 bzw. Krautzig, Uwe, »Volkszählung« 1983 – Bürgerbefragung oder Zwangserfassung?, in: Humanistische Union u. a. (Hrsg.), Volkszählung ’83. Bürgerbefragung oder Zwangserfassung?, Berlin (West) 1983, S. 5–8, 7. 6 Vgl. Kroppenstedt, Volks-, Berufs-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung 1983 (o. Fn. 3), S. 5633, 5633. 7 Bei der Volkszählung 1970 kam es – genauso wie bei den anderen vorangegangenen Volkszählungen 1946, 1950, 1961–zu keinen nennenswerten Protesten, vgl. Sahner, Heinz, Die Bedeutung der Volkszählung für die empirische Sozialforschung – dargestellt an der Volkszählungsdebatte 1987, Lüneburg 1987, S. 1. 8 Vgl. Horstmann, Kurt/ Hofmann, Heinrich, Die Volkszählung 1983 in der Bundesrepublik Deutschland, in: Tietze, Wolf (Hrsg.): Geowissenschaften in unserer Zeit, Weinheim 1983, S. 12–18, 14; Taeger, Jürgen, Das Volkszählungsgesetz 1983. Eine Bestandsaufnahme, in: Ders. (Hrsg.), Die Volkszählung, Reinbeck bei Hamburg 1983, S. 68–106, 80. 9 Gesetz über eine Volks-, Berufs-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung (Volkszählungsgesetz 1983), in: BGBl. 1982 I Nr. 13, S. 369–372.

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war.10 § 5 VZG 1983 sah eine Totalerhebung vor, d. h. jeder volljährige Bürger war zur Auskunft verpflichtet. Die damalige Bundesregierung (Kabinett Schmidt III) erwartete, dass die Zählungen »Angaben über den neuesten Stand der Bevölkerung, ihre räumliche Verteilung und ihre Zusammensetzung nach demographischen und sozialen Merkmalen sowie über ihre wirtschaftliche Betätigung liefern. [Die Ergebnisse der Zählungen] sind unentbehrliche Grundlage für gesellschafts- und wirtschaftspolitische Planungen und Entscheidungen des Bundes, der Länder und der Gemeinden; darüber hinaus finden die Ergebnisse vielfältige Verwendung bei der allgemeinen Beobachtung und Analyse von Änderungen der Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur.«11

So sollte beispielsweise durch die Frage nach dem für den Weg zur Arbeit hauptsächlich genutzten Verkehrsmittel ermittelt werden, wie die verkehrstechnische Infrastruktur bei zukünftigen Bauprojekten optimiert werden könnte.12 Letztlich sollten die Ergebnisse der Volkszählung also allen Bürgern zugutekommen. Nach dem konstruktiven Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt, das das Ende der sozialliberalen Koalition besiegeln sollte, war die neue Regierung unter Helmut Kohl und dabei federführend Friedrich Zimmermann als Bundesinnenminister für die Volkszählung verantwortlich.13

2.2

Volkszählungsboykott 1983: Die »Gefahren der Personalinformationssysteme«

Obwohl das Volkszählungsgesetz ein langes Gesetzgebungsverfahren durchlief, wurde es in der Öffentlichkeit lange Zeit nicht thematisiert. Wieso sich das dann schlagartig innerhalb kürzester Zeit geändert hatte, »kann bis heute niemand zulänglich erklären«.14 Die eigentliche Geburtsstunde des Volkszählungsprotestes fand in einer Hamburger Hochschule im Dezember 1982 statt. Im Rahmen einer Veranstaltung, die die »Gefahren der Personalinformationssysteme« dis10 Vgl. Massing, Otwin, Von der Volkszählungsbewegung zur Verrechtlichung oder: Öffentlichkeit, Herrschaftsrationalisierung und Verfahren, in: Hohmann, Harald (Hrsg.), Freiheitssicherung durch Datenschutz, Frankfurt a.M. 1987, S. 85–109, S. 94f. 11 BT-Drs. 09/451 (Gesetzentwurf Bundesregierung). 12 Vgl. Bergmann, Nicole, Volkszählung und Datenschutz – Proteste zur Volkszählung 1983 und 1987 in der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg 2009, S. 4; Insgesamt wären bei der Volkszählung 1983 36 Fragen zu beantworten gewesen, der Volkszählungsfragebogen 1983 ist abgebildet bei Bergmann, Volkszählung und Datenschutz (o. Fn. 10), S. 103–107. 13 Vgl. Bergmann, Volkszählung und Datenschutz (o. Fn. 10), S. 3. 14 Mückenberger, Ulrich, Datenschutz als Verfassungsgebot. Das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichtes, Kritische Justiz 1984, S. 1–24, 1.

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kutierte, sprach eine Frau das Thema Volkszählung eher beiläufig an. Sie wurde aufgefordert, sich als Zählerin zur Verfügung zu stellen und wusste nicht, ob sie dem nachkommen sollte. Noch am selben Tag entstand die erste Initiative für den Volkszählungsboykott (»VoBo-Ini«).15 Die Versammlung erkannte die politische Brisanz des Themas und verteilte sodann im Januar ein mehrseitiges Flugblatt, in dem zum Boykott der Volkszählung aufgerufen wird, nachdem sie sich zuvor anhand der Gesetzestexte und der geplanten Fragebögen über die Volkszählung informiert hatte.16 Diese Flugblattaktion sollte das bis Januar 1983 in der Bevölkerung vorherrschende kritiklose Meinungsbild zur Volkszählung nicht nur in Hamburg, sondern in der ganzen Republik grundlegend verändern.17 Wie ein Flächenbrand breitete sich der Protest innerhalb weniger Monate aus, sodass die Zahl der VoBo-Ins schon Mitte des Monats Februar auf 300 angewachsen war.18 In etwa ab diesem Zeitpunkt berichteten auch die Medien ausgiebig über das Thema Volkszählung; während zunächst nur Medien, die dem linken Spektrum zuzuordnen sind (taz, Hamburger Rundschau), die Volkszählung kritisiert hatten, erschienen kritischen Presseberichte nun auch in liberalen und konservativen Blättern (Zeit, Spiegel, Frankfurter Rundschau, Stern, Hamburger Abendblatt, Frankfurter Allgemeine Zeitung).19 Die sich zunehmende mediale Berichterstattung führte wiederum dazu, dass sich auch die Anzahl der Volkszählungskritiker und der VoBo-Ins vergrößerte. Nach Angaben des Magazins Spiegel wuchs die Zahl der VoBo-Ins bis Ende März auf 500 an.20 Die Bundesregierung hielt trotz der Volkszählungsboykottbewegung an der Durchführung der Erhebung fest; unter anderem berief sich Bundesinnenminister Zimmermann darauf, dass bei einem rechtmäßig und zudem einstimmig beschlossenen Gesetz nachträgliche Einwände nicht mehr berücksichtigt werden könnten.2122 Umgekehrt wollten auch die Boykotteure an ihrer Linie festhalten und den 27 April zum »Tag des zivilen Ungehorsams« machen.23 Die Motive hierfür waren unterschiedlich. Zum Teil kritisierte man die Sinnhaftigkeit der 15 Vgl. Massing, Von der Volkszählungsbewegung zur Verrechtlichung (o. Fn. 8), S. 85, 96. 16 Vgl. Hubert, Politiker fragen – Bürger antworten nicht (o. Fn. 2), S. 254, 258; hier ist auch ein Auszug des Flugblatts abgedruckt, in dem in erster Linie vor einem staatlichen Missbrauch der erhobenen Daten mithilfe von Computertechnologien gewarnt wird. 17 Vgl. Bergmann, Volkszählung und Datenschutz (o. Fn. 10), S. 41. 18 Vgl. Der gläserne Bürger, Der Spiegel Nr. 8/ 1983, S. 104–105, 104. 19 Vgl. Hubert, Politiker fragen – Bürger antworten nicht (o. Fn. 2), S. 254, 260.; Bergmann, Volkszählung und Datenschutz (o. Fn. 10), S. 42. 20 Vgl. »Wo ist denn die Intimität«, Der Spiegel Nr. 13/ 1983, S. 34–45, 34. 21 Vgl. »Wo ist denn die Intimität« (o. Fn. 18), Der Spiegel Nr. 13/ 1983, S. 34, 37. 22 Mückenberger weist darauf hin, dass eine Kluft zwischen Legalität und Legitimität beim Volkszählungsgesetz besteht, weil das vom Bundestag einstimmig beschlossene Gesetz auf eine so hohe Ablehnungsquote gestoßen ist, vgl. Mückenberger, Datenschutz als Verfassungsgebot (o. Fn. 12), KJ 1984, S. 1, 2. 23 Vgl. Hubert, Politiker fragen – Bürger antworten nicht (o. Fn. 2), S. 254, 265.

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Volkszählung im Allgemeinen und damit die Erhebung der Daten im Ganzen. Es wurde darauf verwiesen, dass auch die Volkszählung 1970 nicht zu einer vernünftigen, bürgergerechten Planung geführt habe, was beispielsweise an dem Fehlen von billigem Wohnraum in Großstädten oder der Vielzahl an Verkehrsstaus zu sehen sei; da diese Gruppe an Kritikern keinen Sinn in der Volkszählung erkannte, empfanden sie die Volkszählung als »Volksaushorchung«, die unzumutbar in die Privatsphäre der Bürger eingreift.24 Ein Großteil der Volkszählungskritiker erkannte demgegenüber an, dass statistische Daten für staatliche Planungszwecke notwendig sein können.25 Beanstandet wurden jedoch die mangelnde Gewährleistung der Anonymität durch die Konzeption des Fragebogens,26 sowie der mögliche Missbrauch der gewonnen Daten für andere als statistische Zwecke. Gerade letzteres dürfte der Hauptkritikpunkt der meisten Volkszählungsgegner gewesen sein. Befürchtet wurde, dass die gewonnenen Daten anderen Behörden, wie etwa dem Finanzamt, der Polizei und dem Verfassungsschutz, zu Verfügung stehen könnten und man dann aufgrund der Angaben bei der Volkszählung Nachteile zu erwarten hätte.2728 Den Anlass für derartige Befürchtungen hat der Gesetzgeber mit der Regelung des Melderegisterabgleichs (§ 9 Abs. 1 VZG 1983) selbst geschaffen, indem er in dieser Norm die Daten der Volkszählung für nichtstatistische Zwecke freigegeben hat;29 danach wäre es möglich gewesen, dass die Meldeämter Zugriff auf personenbezogene Daten wie u. a. Vor- und Familiennamen, Geburtsdatum und Staatsangehörigkeit erhalten, um diese zur Berichtigung der Melderegister verwenden zu können.30 Zwar enthielt dieser Melderegisterabgleich auch ein »Nachteilsverbot« (§ 9 Abs. 1 S. 2 VZG 1983), doch es bestand Unklarheit über die genaue Bedeutung des Wortlauts.31 Wiederum andere Kritiker wiesen darauf hin, dass Daten zwar 24 Vgl. Bodelle, Jürgen, Computerstaat? Nein Danke. Risiken der Informationstechnologie, Berlin 1983, S. 38–43. 25 Vgl. Krautzig, »Volkszählung« 1983 (o. Fn. 23), S. 5, 5. 26 Vgl. mit Auflistung der einzelnen Kritikpunkte an der der Konzeption des Fragebogens, Bergmann, Volkszählung und Datenschutz (o. Fn. 10), S. 21–24; Kauß, Udo/ Eckert, Albert, Volkszählung 1983 – Überlegungen, die den Gehorsam gegenüber zwangs- und bußgeldbewehrter staatlicher Neugierde erschweren, in: Humanistische Union u. a. (Hrsg.), Volkszählung ’83. Bürgerbefragung oder Zwangserfassung?, Berlin (West) 1983, S. 9–17, 11f. 27 Vgl. Bull, Hans Peter, Datenschutz oder die Angst vor dem Computer, München 1984, S. 310; Bodelle, Computerstaat? (o. Fn. 24), S. 41f. 28 Bisweilen sorgte man sich auch darum, dass anonyme Strukturdaten in die Hände privater Interessenverbände geraten könnten, und dadurch beispielsweise eine Mieterhöhung veranlasst sein könnte, vgl. »Laßt 1000 Fragebögen glühen«, Der Spiegel Nr. 13/ 1983, S. 28–32, 32. 29 Auch § 9 Abs. 2–4 VZG sahen die Weitergabe von Daten für nicht statistische Zwecke, insbesondere für administrative Zwecke, vor. 30 Vgl. Bergmann, Volkszählung und Datenschutz (o. Fn. 10), S. 24ff.; Bull, Datenschutz oder die Angst vor dem Computer (o. Fn. 27), S. 310f. 31 Vgl. Bull, Datenschutz oder die Angst vor dem Computer (o. Fn. 27), S. 311.

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vielleicht nicht jetzt, aber in politischen Krisenzeiten missbraucht werden könnten. Sie verwiesen auf die Volkszählung 1933 und das damit verbundene Schicksal der Juden in Deutschland (Deportation).3233 Um das Ausmaß der damaligen Diskussion verstehen zu können, die heute nur noch schwer nachzuvollziehen ist, weil heute eine wesentlich größere Datenmenge von staatlicher wie privater Seite erhoben und verarbeitet wird, muss die damalige Volkszählungskontroverse in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext betrachtet werden: »1984 ist nur noch eine Chiffre. Die Realität hat George Orwells utopische Vision aus den vierziger Jahren längst eingeholt, der Televisor, der jede unbotmäßige Äußerung und jede unerlaubte Handlung registrieren kann, ist gemessen am heutigen technischen Standard, von geradezu altertümlicher Primitivität […]. In naher Zukunft wird es jedoch Apparaturen geben, die ausnahmslos jede Lebensäußerung aufzeichnen und automatisch auf kriminelles, oppositionelles, von der Norm abweichendes oder sonst wie staatsabträgliches Verhalten hin analysieren können […]. Computerausweis, Volkszählung und Verkabelung sind Bausteine einer solchen Totalkontrolle.«34

Diese Einschätzung des langjährigen Spiegel-Redakteurs Norbert Pötzl aus dem Jahre 1985 veranschaulicht nicht nur die im vorherigen Kapitel dargestellten Protestmotive vieler Volkszählungsgegner, sondern skizziert auch die allgemeinen Katalysatoren des Protests. Tatsächlich befürchteten viele Volkszählungsgegner, dass sich das Schreckensszenario eines technologiegestützten totalitären Überwachungsstaates, das der Schriftstellers George Orwell so in seinem Roman »1984« dargestellt hatte und dessen Handlung im Jahr 1984 spielt,35 bald bewahrheiten könnte. Je näher das »prophezeite« Jahr rückte, desto größer wurde die Furcht vor dem tatsächlichen Eintreten dieses Schreckensszenarios. Angesichts der immer größer werdenden Anzahl neuer Überwachungsmöglichkeiten (z. B. Parabolspiegel mit Richtmikrophon) erachteten die Menschen dies für immer wahrscheinlicher,36 32 Vgl. Smilanic´, Mirko, Volkszählungen im »Dritten Reich« – Ein historisches Streiflicht, in: Humanistische Union u. a. (Hrsg.): Volkszählung ’83. Bürgerbefragung oder Zwangserfassung?, Berlin (West) 1983, S. 26–29, 26; Bodelle, Computerstaat? (o. Fn. 24), S. 49. 33 In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass die ursprünglich nicht vorgesehene Frage nach der jüdischen Religionszugehörigkeit erst auf den ausdrücklichen Wunsch des Zentralrates der Juden in Deutschland mitaufgenommen wurde, vgl. Kroppenstedt, Volks-, Berufs-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung 1983 (o. Fn. 3), S. 5633, 5637. 34 Pötzl, Norbert, Total unter Kontrolle – Computerausweis, Volkszählung, Verkabelung, Reinbeck bei Hamburg 1985, S. 183. 35 Orwell, George, 1984, 4. Auflage Berlin 2018, passim; George Orwell, dessen bürgerlicher Name Eric Blair gewesen ist, schrieb den Roman 1948 unter den Eindrücken des 2. Weltkriegs. Der Buchtitel 1984 leitet sich durch einen Zifferdreher des Vollendungsjahres ab, vgl. Ein schwieriger Sohn Englands – Das kurze Leben des Schriftstellers George Orwell, Der Spiegel Nr. 1/ 1983, S. 26–27, 26f. 36 Vgl. Die Neue Welt von 1984, Der Spiegel Nr. 1/ 1983, S. 19–25, S. 19ff.

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sodass bisweilen sogar angenommen wurde, dass schon 1983 das prognostizierte »Orwell-Jahr« werden könnte.37 Die Volkszählungsgegner zielten mit ihrem Boykott deshalb darauf ab, dem »Großen Bruder« so wenige Daten wie möglich zur Verfügung zu stellen, damit Orwells Fantasie nicht zur Realität werden könne.38 Bei den Volkszählungsprotestaktionen wurde immer wieder Bezug auf »1984« genommen und dieses »Motiv« künstlerisch in die Protestaktionen integriert.39 Auch ein Phänomen, das mehrere Autoren40 unter der Chiffre »Angst vor dem Computer« umschrieben, hatte maßgeblichen Einfluss auf die Volkszählungsproteste. Während die rasante Technologieentwicklung41 in wirtschaftlich prosperierenden Zeiten noch als Garant des Fortschritts gesehen wurde, änderte sich dieses Bild, als es in den 1970er Jahren wirtschaftlich abwärts ging.42 Vor allem die elektronische Datenverarbeitung (EDV), deren Tragweite insbesondere durch die erstmalige Anwendung der negativen Rasterfahndung infolge des »Deutschen Herbsts« demonstriert wurde, verängstigte die Menschen und schuf ein Bewusstsein dafür, dass es keine belanglosen, unsensiblen Daten mehr gebe.43 Es wuchs das Misstrauen der Bürger gegenüber Datenerhebungen und Datenbanksystemen (die damals wegen ihrer hohen Kosten nur von staatlicher Seite bzw. großen Wirtschaftsunternehmen unterhalten werden konnten), weil sie nicht nachvollziehen konnten, welche Gefahren bestanden, wenn ihre Daten in die falschen Hände geraten würden.44 In engem Zusammenhang damit ist für die frühen 1980er Jahre ein sich verfestigendes Datenschutzbewusstsein zu diagnostizieren,45 das im Kontext des sich in den 1970er und 1980er Jahren generell vollziehenden Wertewandels zu begreifen ist.46

37 Vgl. Hausmitteilung, Der Spiegel Nr. 1/ 1983, S. 3. 38 Vgl. »Laßt 1000 Fragebögen glühen« (o. Fn. 28), Der Spiegel Nr. 13/ 1983, S. 28, 30; http s://www.deutschlandfunkkultur.de/70-jahre-1984-george-orwells-dystopie-aktuell-und.976. de.html?dram:article_id=452333 (aufgerufen am: 7.01.21). 39 Vgl. (mit Abbildung eines solchen Proteststickers) HUBERT, Politiker fragen – Bürger antworten nicht (o. Fn. 2), S. 254, 257; Der Sticker will verdeutlichen, dass sich »1984«, also das Schreckgespenst eines totalitären Staates auch heute (1983) schon verwirklichen könnte, wenn nicht die Volkszählung boykottiert werde. 40 Siehe Pötzl, Total unter Kontrolle (o. Fn. 34), S. 1ff.; Bergmann, Volkszählung und Datenschutz (o. Fn. 10), S. 17ff.; Bull, Datenschutz oder die Angst vor dem Computer (o. Fn. 27), S. 16ff. 41 Zu Beginn der 1980er Jahre hielt z. B. der Homecomputer Einzug in die privaten Haushalte; die große Präsenz des Themas ist auch daran zu erkennen, dass »Der Computer« zum »Man oft the Year« 1982 vom Time Magazine gewählt wurde, vgl. Die Neue Welt von 1984 (o. Fn. 36), Der Spiegel Nr. 1/ 1983, S. 19, 20. 42 Vgl. Bull, Datenschutz oder die Angst vor dem Computer (o. Fn. 27), S. 19f. 43 Vgl. Pötzl, Total unter Kontrolle (o. Fn. 34), S. 15ff.; Bergmann, Volkszählung und Datenschutz (o. Fn. 10), S. 17f. 44 Vgl. Bergmann, Volkszählung und Datenschutz (o. Fn. 10), S. 19. 45 Vgl. »Laßt 1000 Fragebögen glühen« (o. Fn. 28), Der Spiegel Nr. 13/ 1983, S. 28, 30.

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Auf Grundlage der Untersuchungen von Friedhelm Neidhardt und Dieter Rucht lassen sich die Proteste der Volkszählungsgegner in sechs Aktionstypen, nämlich in öffentlichen Einspruch, Veranstaltungsprotest, Störungen, Gewalt gegen Sachen bzw. gegen Personen und justiziellen Protest, untergliedern.4748 Es gab also ein breites Spektrum unterschiedlichster Aktionsformen, zum Beispiel die Sammlung von Unterschriften boykottbereiter Bürger, Stände, an denen man sich über die Volkszählung informieren konnte, sowie Flugblätter, Plakate und Poster, in denen der Unmut über die geplante Zählung kundgetan wurde.49 An Klingelschildern, Briefkästen und Haustüren wurden Aufkleber mit dem Slogan »Betteln, Hausieren und Volkszählen verboten« angebracht.50 Neben diesen eher »klassischen« Aktionen, gab es eine ganze Reihe von unkonventionelleren Protestvarianten – etwa Graffiti an Brücken und Hauswänden,51 »Zählersorge-Telefone« und Theaterstücke,52 nur um einige wenige zu nennen. Die Proteste konzentrierten sich zu Beginn vor allem darauf, mittels öffentlicher Meinungsäußerung, mit der die Volkszählungskritiker die Missbilligung des Projekts Volkszählung zur Schau stellten, die Politik zu einem Umdenken zu bewegen, um auf diese Art und Weise zumindest eine Verschiebung der Volkszählung zu erreichen. Als man erkannte, dass die Bundesregierung hierzu nicht bereit war, ging es zunehmend darum, die Volkszählung zu verhindern bzw. so signifikant zu stören, dass die Zählungen jedenfalls zu keinen brauchbaren Ergebnissen führen konnten. Das propagierte Mittel war der Boykott der Volkszählung.53 Die Volkszählungsfragebögen sollten entweder nicht (»harter Boykott«) oder mit Falschangaben abgegeben werden (»weicher Boykott«); als dritte Möglichkeit wurde erörtert, dass gezielt technische Probleme bei den Lesegeräten der statistischen Landesämter verursacht werden sollten, indem etwa der Volkszählungsfragebogen genickt oder die Fragen anstatt mit Bleistift, mit Ku-

46 Vgl. Inglehart, Roland, Kultureller Umbruch – Wertewandel in der westlichen Welt, Frankfurt a.M. 1989, S. 136. 47 Vgl. Neidhardt, Friedhelm/ Rucht, Dieter, Protestgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland 1950–1994 – Ereignisse, Themen, Akteure, in: Rucht, Dieter (Hrsg.), Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt a.M. 2001, S. 27–70, S. 53f. 48 Dem justiziellen Protest ist ein eigener Abschnitt gewidmet (2.3.). 49 Vgl. Hubert, Politiker fragen – Bürger antworten nicht (o. Fn. 2), S. 254, 265; »Ohne Drohgebärde, ohne Angst«, Der Spiegel Nr. 16/ 1983, S. 17–23, 21. 50 »Laßt 1000 Fragebögen glühen« (o. Fn. 28), Der Spiegel Nr. 13/ 1983, S. 28, 28. 51 Vgl. »Agitieren, gezielt chaotisieren«, Der Spiegel Nr. 13/ 1983, S. 50–53, 50. 52 Vgl. »Laßt 1000 Fragebögen glühen« (o. Fn. 28), Der Spiegel Nr. 13/ 1983, S. 28, 28. 53 Als Beispiel für einen Boykottaufruf, siehe Schroeren, Michael, Ziviler Ungehorsam – Unsere letzte Möglichkeit, uns zu wehren, in: Humanistische Union u. a. (Hrsg.), Volkszählung ’83. Bürgerbefragung oder Zwangserfassung?, Berlin (West) 1983, S. 29.

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gelschreibern beantwortet werden wurden (die Lesegeräte konnten damals nur Graphitspuren lesen).54 In einfacher Sprache wurden in Protestratgebern55 die rechtlichen Handlungsmöglichkeiten zum Widerstand gegen die Volkszählung aufgezeigt, um auf diese Art und Weise die zahlreichen Volkszählungskritiker im Falle der Volkszählung auch tatsächlich zum Boykott motivieren zu können.56 Dadurch nahm man beispielsweise vielen potentiellen Boykotteuren die anfänglich große Angst vor angedrohten Bußgeldern in Höhe von bis zu 10.000 DM gem. § 14 BStatG a. F.,57 indem man darlegte, dass die wirklichen Strafzahlungen in einem gerichtlichen Verfahren aufgrund des Verhältnismäßigkeitsprinzips deutlich geringer ausfallen würden.58 Die Ratgeber zeigten außerdem anhand von Musterformularanträgen, wie man sich gegen die Auskunftspflicht oder gegen einen etwaigen Bußgeldbescheid durch Widerspruchs- und Anfechtungsklage (verbunden mit einem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz) wehren konnte.59 Die Hoffnung der Boykotteure war in diesem Zusammenhang, dass die Amtsgerichte zur Bearbeitung einer Vielzahl von Widerspruchs- und Anfechtungsklagen personell nicht hinreichend ausgestattet seien und die Verfahren infolgedessen eingestellt werden müssten.60 Friedrich Zimmermann mutmaßte noch im März 1983, dass es sich bei den Volkszählungskritikern um eine kleine Minderheit aus dem alternativen Spektrum handle und der »normale Bürger« keine Einwände gegen die Volkszählung habe.61 Diese Fehleinschätzung über die Anzahl der Skeptiker und deren politische Ausrichtung mag es auch erklärbar machen, dass er trotz der Proteste auf der unbedingten Durchführung der Volkszählung beharrte. Tatsächlich jedoch bildete die Volkszählungsboykottbewegung die ganze Bandbreite des politischen 54 Vgl. Bergmann, Volkszählung und Datenschutz (o. Fn. 10), S. 49–51; Hubert, Politiker fragen – Bürger antworten nicht (o. Fn. 2), S. 254, 263f.; Schmitz-Backes, Hermann, Wenn der Zähler vor der Tür steht…Das können sie tun, in: Humanistische Union u. a. (Hrsg.), Volkszählung ’83, Bürgerbefragung oder Zwangserfassung?, Berlin (West) 1983, S. 30–33, S. 30f. 55 Z. B.: Hippe (Hrsg.): Ausgezählt; Humanistische Union (Hrsg.): Volkszählung ’83. 56 Vgl. Bergmann, Volkszählung und Datenschutz (o. Fn. 10), S. 46f. 57 Gesetz über die Statistik für Bundeszwecke (Bundesstatistikgesetz), in: BGBl. 1980 I Nr. 12, S. 290–293. 58 Vgl. Schmitz-Backes, Wenn der Zähler vor der Tür steht (o. Fn. 54), S. 30, 30f.; Nagler, Axel, Was tun – Was Lassen? Juristisches Merkblatt für Zähler und Gezählte, in: Hippe, Wolfgang/ Stankowski, Martin (Hrsg.), Ausgezählt. Materialien zu Volkserfassung und Computerstaat. Ansätze zum Widerstand, Köln 1983, S. 32–35, 33; referierend Hubert, Politiker fragen – Bürger antworten nicht (o. Fn. 2), S. 254, 263f. 59 Mit Musterformularanträgen, siehe Nagler, Was tun – Was Lassen? (o. Fn. 58), S. 32, 32ff. 60 Vgl. Der gläserne Bürger (o. Fn. 16), Der Spiegel Nr. 8/ 1983, S. 104, 105; Hubert, Politiker fragen – Bürger antworten nicht (o. Fn. 2), S. 254, 263f. 61 Vgl. »Wo ist denn die Intimität« (o. Fn. 18), Der Spiegel Nr. 13/ 1983, S. 34, 34 und 37.

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Spektrums ab. An der Debatte zu Beginn des Jahres 1983 waren anarchistisch, systemkritisch und sozialdemokratisch eingestellte Bürger genauso beteiligt wie Teile der kleinbürgerlich, frühliberal oder wertkonservativ denkenden Bevölkerung.62 Diese Einschätzung lässt sich auch durch eine repräsentative Politbarometerumfrage der Forschungsgruppe Wahlen untermauern, die am 15. März 1983 und damit etwa ein Monat vor dem geplanten Stichtag der Volkszählung stattfand. Die Meinungsforscher kamen zu dem Ergebnis, dass 52 % der Befragten befürchten, ihre im Zuge der Volkszählung erhobenen Daten könnten missbraucht werden; nur 46 % der Befragten befürchteten einen solchen Missbrauch nicht. Obwohl die Bedenken bei den Wählern der Oppositionsparteien (SPD, Die Grünen) größer war als bei den Anhängern der Regierungsparteien, ist dennoch beachtlich, dass auch 40 % der Wähler der Unionsparteien misstrauisch waren.63 Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Vorbehalte gegenüber der Volkszählung nicht lediglich eine Randerscheinung des »links-grünen Milieus« waren, sondern bis weit in bürgerlich-konservative Bevölkerungskreise hineinragten. Noch erschreckender aus Sicht der Volkszählungsbetreiber musste ein zweiter Befund der Demoskopen erscheinen: Lediglich 72 % der Bürger (und die zum Teil mit erheblichen Bedenken) wollten sich an der Zählung beteiligen. Ganze 25 % gaben hingegen an, dass sie sich an der Volkszählung nicht beteiligen würden.64 Vor dem Hintergrund dieser großen Zahl an Menschen, die kurz vor dem Stichtag boykottbereit waren, darf ernsthaft bezweifelt werden, ob die Volkszählung brauchbare Ergebnisse hätte liefern können. Es bestand also erheblicher Handlungsbedarf, um die Volkszählung nicht zum Misserfolg werden zu lassen.65 Neben die Einschüchterungsversuche durch die Androhung von Bußgeldern in Höhe von bis zu 10.000 DM, deren Wirkung jedoch alsbald verblasste, traten die von zahlreichen Gemeinden ausgesprochenen Verbote von Informationsständen, mithilfe derer zum Boykott aufgerufen werden sollte.66 In diesem Kontext hat der VGH Kassel entschieden,67 dass es keine Sondernutzungserlaubnis für gesetzwidrige Zwecke gebe (Informationsveranstaltung im März/April 1983 mit dem Ziel eines Volkszählungsboykotts). Anders als das erstinstanzliche Verwaltungsgericht, das die Ansicht vertreten hatte, dass im Rahmen der Ermessensentscheidung der Behörde über die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis nur auf straßen- und wegerechtliche 62 Vgl. Mückenberger, Datenschutz als Verfassungsgebot (o. Fn. 12), KJ 1984, S. 1, 2. 63 Vgl. Friedrich-Naumann-Stiftung (Hrsg.), Materialien zur Volkszählung 1983, Sankt Augustin 1983, S. 64. 64 Vgl. Ebd. S. 64. 65 Vgl. Bergmann, Volkszählung und Datenschutz (o. Fn. 10), S. 59. 66 Vgl. »Ohne Drohgebärde, ohne Angst« (o. Fn. 49), Der Spiegel Nr. 16/ 1983, S. 17, 21. 67 VGH Kassel, Keine Sondernutzungserlaubnis für gesetzwidrige Zwecke, NJW 1983, S. 2280– 2282.

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Gesichtspunkte abgestellt werden dürfe und im Hinblick auf Art. 5 Art. 1 GG die wegerechtlich zuständige Behörde keine inhaltliche Überprüfung der voraussichtlich geäußerten Meinung vornehmen dürfe,68 kam der VGH zu dem Ergebnis, dass eine Sondernutzungserlaubnis auch dann versagt werden könne, wenn sie rechtswidrigen Zwecken dienen soll, wobei auch die voraussichtlich kundgetane Meinung zu berücksichtigen sei.69 Mit Blick auf Art. 5 I GG seien zwar Aufrufe an den Gesetzgeber, das Volkszählungsgesetz aufzuheben oder zu ändern, unbedenklich, Aufrufe an die Bürger, das Volkszählungsgesetz nicht oder fehlerhaft zu befolgen, seien jedoch nicht vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt, sondern erfüllten vielmehr den Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit (§ 116 OWiG).7071 Außerdem versuchte die Bundesregierung mit einer Aufklärungskampagne (»Wissen für die Zukunft«) für die Volkszählung zu werben; diese wurde jedoch erst nach der Wahl zum 10. Deutschen Bundestag am 6. März 1983 gestartet, da sie ansonsten während des Wahlkampfes untergegangen wäre.7273 Diese (verspätete) Maßnahme dürfte aber mit Blick auf die steigende Anzahl von Aktionen gegen die Volkszählung und die wachsenden Zahl an VoBoIns (s. o.) nur von geringem Einfluss auf die Bevölkerung gewesen sein.

2.3

Justizieller Protest: »Probieren wir doch, ob es legal geht«

Obwohl den justiziellen Formen der Konfliktaustragung in der Protestgeschichte der Bundesrepublik Deutschland insgesamt nur eine geringfügige Bedeutung zukommt, kann dem justiziellen Protest im Einzelfall – etwa bei der Anrufung von Verwaltungsgerichten bei der Anti-Atomkraftbewegung – eine ganz entscheidende Rolle zukommen.74 Und auch bei der Volkszählungsboykottbewegung war dieser Aktionstypus des Protests75 von ganz entscheidendem Gewicht, 68 Vgl. VGH Kassel, Keine Sondernutzungserlaubnis für gesetzwidrige Zwecke, NJW 1983, S. 2280. 69 Vgl. VGH Kassel, Keine Sondernutzungserlaubnis für gesetzwidrige Zwecke, NJW 1983, S. 2280. 70 Vgl. VGH Kassel, Keine Sondernutzungserlaubnis für gesetzwidrige Zwecke, NJW 1983, S. 2281f. 71 Zur Entscheidung des VGH Kassel kritisch, Schmidt, Walter, Der Ermessensrahmen bei der Versagung einer straßenrechtlichen Sondernutzungserlaubnis, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1985, S. 167–170, 167ff. 72 Vgl. »Wo ist denn die Intimität« (o. Fn. 18), Der Spiegel Nr. 13/ 1983, S. 34, 37. 73 Siehe dazu beispielsweise auch die Informationsbroschüre der Stadt Stuttgart, Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt (Hrsg.), Die Stadt informiert. Volkszählung ’83, Stuttgart 1983. 74 Vgl. Neidhardt, Protestgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland 1950–1994 (o. Fn. 47), S. 27, 53. 75 Zur Einteilung der verschiedenen Aktionstypen siehe schon oben.

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der als Alternative zur »klassischen Boykottbewegung«76, die sich zumindest zum Teil in Widerspruch zur Rechtsordnung setzte, offenstand.77 Viele Bürge nutzten die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG,78 um auf diese Art und Weise gegen die geplante Volkszählung vorgehen zu können. Im Rahmen des Volkszählungsprotests wurden insgesamt 1.223 Verfassungsbeschwerden eingereicht, wobei jedoch das Gros dieser Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen wurde.79 Zu zentralen Figuren wurden die beiden Juristinnen Gisela Wild und Maja Stadler-Euler, deren Verfassungsbeschwerde vom Bundesverfassungsgericht stellvertretend für alle Beschwerdeführer zur Verhandlung angenommen wurde80 und schließlich die Volkszählung 1983 verhinderte. Mit Urteil des ersten Senats vom 13. April 198381 – und damit nur zwei Wochen vor dem geplanten Stichtag am 27. April 1983 – wurde die Durchführung der Volkszählung bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde ausgesetzt.82 Die Entscheidung fiel mit fünf zu drei Richterstimmen denkbar knapp aus.83 Die Richter begründeten ihre Entscheidung zur einstweiligen Anordnung wie folgt: Würde sich die Verfassungsbeschwerde später als begründet herausstellen, würden durch den Vollzug der Zählung alle auskunftspflichtigen Bürger unwiderruflich in ihren Grundrechten verletzt. Die Aussetzung der Volkszählung führe hingegen nicht zu einem solchen irreparablen Zustand. Stelle sich später heraus, dass verfassungsrechtliche Bedenken der Volkszählung nicht entgegenstehen, könne die Volkszählung einfach zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Die schon entstandenen hohen Kosten für die Vorbereitung der Durchführung der Volkszählung ließen die Karlsruher Richter dabei zu keinem anderen Ergebnis gelangen.84 76 Mit »klassischer Boykottbewegung« sind hier alle anderen Aktionsformen als der justizielle Protest gemeint. 77 Vgl. Massing, Von der Volkszählungsbewegung zur Verrechtlichung (o. Fn. 8), S. 85, 101. 78 Mit der Verfassungsbeschwerde hat das Grundgesetz den Bürgern die Perspektive eröffnet, speziell den Vorrang der Grundrechte durchzusetzen. Diese Möglichkeit ist in der deutschen Verfassungsgeschichte neu (vgl. Art. 19 WRV). Jährlich werden ca. 6000 Verfassungsbeschwerden erhoben, vgl. Kingreen, Thorsten/ Poscher, Ralf, Grundrechte – Staatsrecht II, 34. Auflage Heidelberg 2018, Rn. 1285–1287. 79 Vgl. Sahner, Die Bedeutung der Volkszählung für die empirische Sozialforschung (o. Fn. 5), S. 3f. 80 Vgl. Schreier, Christian, Die Massenverfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht – Versuche der Revision von Rechtsnormen durch Bürgerinitiativen, Berlin 2011, S. 20. 81 BVerfGE 64, S. 67–72 [Urteil vom 13 April 1983. Einstweilige Anordnung; Aussetzung der Volkszählung]. 82 Vgl. BVerfGE 64, S. 67f. 83 Vgl. BVerfGE 64, S. 72. 84 Vgl. BVerfGE 64, S 70f.

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»Probieren wir doch, ob es legal geht«,85 hatten Wild und Stadler-Euler all jenen, die zum sofortigen Boykott aufrufen wollten, entgegengehalten. Dieser legitime, justizielle Protest war innerhalb der Volkszählungsboykottbewegung allerdings hochumstritten. Bisweilen wurde vor einer »Verrechtlichung des Konflikts« gewarnt, der einen »Dolchstoß in den Rücken der Spontaneitätsphilosophie und -praxis« des bisherigen Protests bedeuten und somit den »plebiszitären Tendenzen einer basisorientierten Demokratiekonzeption« den Wind aus den Segeln nehmen könne.86 Im Hinblick auf die erreichte einstweilige Anordnung und die damit verbundene Aussetzung der Volkszählung äußerte die taz in einem mit »Widerstand geklaut« überschriebenen Artikel, dass die Entscheidung des BVerfG zwar wohl nicht ohne den Druck der Bewegung zustande gekommen wäre, kritisierte aber, dass die Verfassungsbeschwerdeführerinnen mit dem Gang nach Karlsruhe ein Eigentor geschossen haben könnten, indem sie dem »eigentlichen Widerstand« die Luft abgedreht hätten.87 Diese Sichtweise unterstreicht einmal mehr die Einschätzung, dass es sich bei den Volkszählungsgegnern keinesfalls um eine homogene Gruppe von Akteuren gehandelt hat, und zeigt überdies, dass in Teilen der Bevölkerung offenbar das Vertrauen in den Staat im Allgemeinen und den Rechtsstaat im Besonderen nachhaltig gestört war. In der Adventszeit des Jahres 1983 sprach das Bundesverfassungsgericht dann sein berühmtes Volkszählungsurteil,88 in dem es das Volkszählungsgesetz 1983 für teilweise verfassungswidrig erklärt hat. Die Karlsruher Richter setzten der raschen »Entwicklung der automatisierten Datenverarbeitung«89 erstmals ein Grundrecht auf »informationelle Selbstbestimmung«90 entgegen. Die Richter führten dazu aus: »Unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung wird der Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten von dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG umfasßt [sic!]. Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzel85 Vgl. Schreier, Die Massenverfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (o. Fn. 81), S. 20. 86 Massing, Von der Volkszählungsbewegung zur Verrechtlichung (o. Fn. 8), S. 85, 101. 87 Vgl. Schreier, Die Massenverfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (o. Fn. 81), S. 22. 88 BVerfGE 65, S. 1–71 [Urteil vom 15. Dezember 1983 aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 18. und 19. Oktober; Volkszählungsgesetz 1983]. 89 Vgl. BVerfGE 65, S. 3. 90 Zum Streit, ob es sich dabei um die »Erfindung« eines neuen Grundrechts handelt oder ob es sich vielmehr um eine Konkretisierung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 1 und 2 GG handelt, siehe Hufen, Friedhelm, Das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts und das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung – eine juristische Antwort auf »1984«?, Juristenzeitung 1984, S. 1072–1078, 1073f. m. w. N.

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nen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.«91 Wie alle anderen Grundrechte, gelte das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aber nicht schrankenlos, sondern könne zugunsten überwiegender Allgemeininteressen eingeschränkt werden. Notwendig dafür sei eine gesetzliche Grundlage, die dem rechtsstaatlichen Gebot der Normklarheit entsprechen müsse. Darüber hinaus habe der Gesetzgeber den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten.92 Für den konkreten Fall, also die Verfassungsmäßigkeit des Volkszählungsgesetzes, hatte dies die folgenden Auswirkungen: Das Erhebungsprogramm der Volkszählungsgesetzes 1983 genügte den verfassungsrechtlichen Vorgaben.93 Als verfassungswidrig wurden aber die in § 9 Abs. 1 bis 3 VZG 1983 vorgesehenen Übermittlungsregelungen angesehen. Damit wurde sowohl verboten, dass die aus der Volkszählung gewonnen Daten mit den Melderegistern abgeglichen werden, als auch dass reindividualisierbare Daten an oberste Bundes- bzw. Landesbehörden und an Gemeinde bzw. Gemeindeverbände weitergegeben werden. Lediglich die Weitergabe der Daten zu wissenschaftlichen Zwecken (§ 9 Abs. 4 VZG 1983) wurde als verfassungskonform angesehen.9495 An diese und weitere verfassungsrechtlichen Vorgaben – etwa zur genauen Gestaltung der Fragebögen, der Möglichkeit, die Fragebögen gebührenfrei postalisch an die Erhebungsstelle zurückzuschicken oder zur (unzulässigen) Frage, ob jemand Insasse einer Anstalt sei – hatte sich der Gesetzgeber dann bei der nächsten einer Volkszählung zu halten.96 Erwartungsgemäß rief die Entscheidung die unterschiedlichsten Reaktionen hervor. Während das Urteil bei Datenschutzexperten,97 der Presse98 und in juristischen Fachkreisen99 weit überwiegend sehr positiv wahrgenommen wurde, 91 92 93 94 95

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97 98 99

Vgl. BVerfGE 65, S. 43 und BVerfGE 65, S. 1. Vgl. BVerfGE 65, S. 44ff. und BVerfGE 65, S. 1. Vgl. BVerfGE 65, S. 52ff. und BVerfGE 65, S. 1f. Vgl. BVerfGE 65, S. 61ff. und BVerfGE 65, S. 2. Erläuternd zum Inhalt des Volkszählungsurteils: Gola, Peter, Zur Entwicklung des Datenschutzrechts im Jahre 1984, Neue Juristische Wochenschrift 1985, S. 1196–1203, 1196ff.; Hufen, Das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts und das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (o. Fn. 91), JZ 1984, S. 1072, 1075. Eine detaillierte Erläuterung aller verfassungsrechtlichen Vorgaben würde den Rahmen der Arbeit sprengen, siehe dafür u. a. Hufen, Das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts und das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (o. Fn. 91), JZ 1984, S. 1072, 1073ff. Dem ehemalige Bundesbeauftragten für Datenschutz Bull war schon damals bewusst, dass das Urteil Maßstäbe für die Geschichte des Datenschutzes setzen würde, vgl. Bull, Datenschutz oder die Angst vor dem Computer (o. Fn. 27), S. 308f. Vgl. Schwere Schlappe, Der Spiegel Nr. 51/ 1983, S. 19–21, 19ff. Vgl. Simitis, Spiros, Die informationelle Selbstbestimmung – Grundbedingung einer verfassungskonformen Informationsordnung, Neue Juristische Wochenschrift 1984, S. 398–405, 398f.; Frohn, Hansgeorg, Zum Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, Die Öffentliche Verwaltung 1984, S. 458–459, 458f.

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sah es insbesondere Friedrich Zimmermann kritisch.100 Bis heute wird das Volkszählungsurteil – mit Blick auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung – in den einschlägigen verfassungs- und datenschutzrechtlichen Lehrbüchern als wegweisend bejubelt; das BVerfG habe geradezu visionär noch im »Lochkarten-Zeitalter« auf eine sich abzeichnende Entwicklung reagiert, die erst in jüngster Zeit massiv an Bedeutung gewonnen habe.101 Hervorzuheben ist daneben aber noch ein weiterer Aspekt: Das Gericht hat in einer für Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen ganz untypischen »Art Vorbemerkung«102 ausgeführt: »Die durch [das Volkszählungsgesetz] angeordnete Datenerhebung hat Beunruhigung auch in solchen Teilen der Bevölkerung ausgelöst, die als loyale Staatsbürger das Recht und die Pflicht des Staates respektieren, die für rationales und planvolles staatliches Handeln erforderlichen Informationen zu beschaffen. […] Die Möglichkeiten der modernen Datenverarbeitung sind weithin nur noch für Fachleute durchschaubar und können beim Staatsbürger die Furcht vor einer unkontrollierten Persönlichkeitserfassung auslösen […]. [Daher] nötigen die zahlreichen Verfassungsbeschwerden gegen das Volkszählungsgesetz 1983 das Bundesverfassungsgericht dazu, die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Datenschutzes umfassender zu prüfen.«103 In diesem Zusammenhang wirft Schneider, der zu den wenigen Kritikern des Volkszählungsurteils zählt, dem Gericht vor, es habe sich »von der künstlich entfachten Angstwelle gegen die Volkszählung«104 beeindrucken lassen. Obwohl diese Formulierung überspitzt sein dürfte, zeigt diese »Art Vorbemerkung« doch, dass die Karlsruher Richter den durch diese erste Massenverfassungsbeschwerde105 in der deutschen Geschichte und die begleitenden Proteste gegebenen Impuls sichtbar aufnahmen. Das Gericht stellt demgegenüber allerdings klar, dass die Agitation gegen die Volkszählung kein Werk einer kleinen Gruppe linker Ideologen gewesen sei, sondern breite Bevölkerungsschichten durch die Volkszählung verunsichert seien. Auch die generelle »Angst vor dem Computer« habe das Gericht dazu bewogen, sich eingehend mit den Fragen des Datenschutzes auseinanderzusetzen. Trotzdem darf bezweifelt werden, ob das Bundesverfassungsgericht auch 100 Vgl. Schwere Schlappe (o. Fn. 99), Der Spiegel Nr. 51/ 1983, S. 19, 19ff. 101 Vgl. Kühling, Jürgen/ Klar, Manuel/ Sackmann, Florian: Datenschutzrecht, 4. Auflage Heidelberg 2018, S. 31f. 102 Vogelsang, Klaus, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung?, Baden-Baden 1987, S. 51. 103 BVerfGE 65, S. 3f. 104 Schneider, Hans, Anmerkung zum Volkszählungsurteil, Die Öffentliche Verwaltung 1984, S. 161–164, 164. 105 Wegen der großen Anzahl an Verfassungsbeschwerden gegen das Volkszählungsgesetz, gelten diese als die erste Massenverfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht, vgl. Schreier, Die Massenverfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (o. Fn. 81), S. 14.

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ohne die große Anzahl an Verfassungsbeschwerden und Protesten zu dieser Entscheidung gekommen wäre.

2.4

Volkszählungsboykott 1987

Im Jahre 1987 fand schließlich die seit 1981 geplante Volkszählung statt. Nachdem sich das Gesetzgebungsverfahren erneut wegen Streitigkeiten verzögert hatte, wurde schließlich am 8. November 1985 das Gesetz über eine Volks-, Berufs-, Gebäude-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung (VZG 1987) erlassen und der Stichtag für den Zensus für den 25. Mai 1987 festgelegt.106 Neben der neu hinzugekommen Gebäudezählung bestanden einige Unterschiede zum Volkszählungsgesetz 1983, die sich vor allem aus der Umsetzung der verfassungsrechtlichen Vorgaben erklären; insbesondere enthielt das Gesetz ein strafbewährtes Reidentifizierungsverbot (§ 17 i. V. m. § 18 VZG 1987).107 Obwohl mancher Jurist bezweifelte, dass der Gesetzgeber den verfassungsrechtlichen Vorgaben aus dem Volkszählungsurteil ausreichend nachgekommen sein, und deshalb auch das Volkszählungsgesetz 1987 für verfassungswidrig hielt,108 erließ das BVerfG diesmal keine einstweilige Anordnung zur Aussetzung des Volkszählungsgesetzes und wies auch Verfassungsbeschwerden bezüglich des Volkszählungsgesetzes mangels hinreichender Erfolgsaussichten zurück.109110 Trotz der Streichung der Regelungen, die im Volkszählungsgesetz 1983 die Weitergabe der erhobenen Daten zu nicht-statistischen Zwecken in bestimmten Fällen vorgesehen hatten (§ 9 VZG 1983), der Neukonzeption der Fragebögen und der Einführung eines mit Strafe bedrohten Reidentifizierungsverbotes, wurde von Seiten der Volkszählungskritiker abermals befürchtet, dass sich amtliche Stellen oder Private aus dem durch die Volkszählung geschaffenen großen Datenpool bedienen könnten und die Betroffenen dadurch mit konkreten Nachteilen zu rechnen hätten; die vom Gesetzgeber getroffenen Schutz-

106 Gesetz über eine Volks-, Berufs-, Gebäude-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung (Volkszählungsgesetz 1987), in: BGBl. 1985 I Nr. 55, S. 2078–2083. 107 Vgl. Simon, Jürgen, Rechtsprobleme des Volkszählungsgesetzes 1987, in: Hohmann, Harald (Hrsg.), Freiheitssicherung durch Datenschutz, Frankfurt a.M. 1987, S. 219–234, 222. 108 Beispielsweise Hauck-Scholz, Peter, Verfassungskonformität der Volkszählung 1987?, Neue Juristische Wochenschrift 1987, S. 2769–2776, 2770. 109 Z. B.: BVerfG: Volkszählung 1987, NJW 1987, S. 2805; BVerfG: Volkszählung 1987, NJW 1988, S. 961; BVerfG: Volkszählung 1987, NJW 1988, S. 962. 110 Für eine detaillierte Übersicht zu den einzelnen Entscheidungen des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des Volkszählungsgesetztes 1987, siehe Meissner, Claus, Die Volkszählung in der Rechtsprechung – Versuch einer Bilanz, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1989, S. 1–11, 2ff.

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maßnahmen seien nicht ausreichend.111 Diese Sorgen trafen mit der Angst vor der weiterhin schnell fortschreitenden Technologisierung und vor dem Aufbau eines Überwachungsstaates zusammen. Genährt wurden die Ängste durch die von den Kritikern nicht als solche empfundenen »Sicherheitsgesetze« (z. B. ZEVIS), die im Laufe des Jahres 1987 verabschiedet werden sollten;112 der maschinenlesbare Personalausweis, der zum 1. April 1987 und damit kurz vor dem Stichtag der Volkszählung eingeführt wurde, erschien dabei als »Schlüssel zum Überwachungsstaat«.113 Obwohl die Volkszählung 1987 von einer breit angelegten Aufklärungskampagne begleitet wurde,114 entwickelte sich dennoch eine große Protestbewegung, die erneut verschiedene politische Lager und Bevölkerungsschichten umfasste; und auch die oben beschriebenen Aktionsformen der Volkszählungskritiker gegen die Volkszählung blieben grundsätzlich ähnlich.115116 Festzustellen ist aber erstens, dass sich der Protest radikalisiert hatte; so wurde beispielsweise ein Sprengstoffanschlag auf ein Leverkusener Meldeamt von nicht ermittelbaren Tätern verübt, die sich im Bekennerschreiben als »Volkszählungsgegner« bezeichneten.117 Ein zweiter Unterschied zur Volkszählung 1983 bestand darin, dass es 1987 auch zur Durchführung der propagierten Boykottaktionen als »ultima ratio« kam, nachdem die Volkszählung 1987 trotz der Protestaktionen pünktlich zum Stichtag durchgeführt wurde.118 Auch im Jahr 1987 wurde die Idee aufgegriffen, die Gerichte mit einer Vielzahl von Widerspruchs- und Anfechtungsklagen zu überlasten. Durch die Bereitstellung von Musterformularanträgen in den auch 1987 erschienen Protestratgebern119 sollte es tatsächlich zu einer großen Anzahl von Klagen kommen. Es ist den Volkszählungsgegnern tatsächlich gelungen, die Eingangs- und Erledigungszahlen der Verwaltungsgerichte beachtlich in die Höhe zu treiben, ihr Ziel 111 Vgl. Rottmann, Verena/ Strohm, Holger, Was sie gegen Mikrozensus und Volkszählung tun können, 11. Auflage Frankfurt a.M. 1987, S. 138f.; Simon, Rechtsprobleme des Volkszählungsgesetzes 1987 (s. Fn. 108), S. 219, 227. 112 Vgl. Appel, Roland, Vorsicht Volkszählung!, in: Appel, Roland/ Hummel, Dieter (Hrsg.): Vorsicht Volkszählung!, 3. Auflage Köln 1987, S. 12–36, 24f.; Rottmann, Was sie gegen Mikrozensus und Volkszählung tun können (o. Fn. 112), S. 178ff. 113 Rottmann, Was sie gegen Mikrozensus und Volkszählung tun können (o. Fn. 112), S. 181. 114 Z. B.: Bayrisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung (Hrsg.): Volkszählung ’87. Wirklich notwendig? Verfassungsgemäß? Datensicher?, 2. Auflage München 1987. 115 Vgl. Datenschrott für eine Milliarde?, Der Spiegel Nr. 12/ 1987, S. 30–53, 31ff.; »Als sei es des Teufels eigenes Werk«, Der Spiegel Nr. 21/ 1987, S. 24–32, 25ff. 116 Die Anzahl der VoBo-Ins soll auf über 1000 angestiegen sein, vgl. »Als sei es des Teufels eigenes Werk« (o. Fn. 116), Der Spiegel Nr. 21/ 1987, S. 24, 26. 117 Vgl. Datenschrott für eine Milliarde? (o. Fn. 116), Der Spiegel Nr. 12/ 1987, S. 30, 30. 118 Vgl. Bergmann, Volkszählung und Datenschutz (o. Fn. 10), S. 76. 119 Beispielsweise (mit Musterformularanträgen) Appel, Roland (Hrsg.): Vorsicht Volkszählung!, S. 230ff.

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aber, die Verwaltungsgerichtsbarkeit lahm zu legen, erreichten sie nicht.120 In der Literatur wurden allerdings Zweifel angemeldet, ob den Gerichten die Erledigung der Klagen immer auf rechtsstaatlich einwandfreie Art und Weise gelungen ist: Viele der mit solchen Verfahren betrauten Gerichte hatten einen deutlich höheren Streitwert festgelegt, als dies bei vergleichbaren Verfahren üblich ist; dadurch stiegen die Verfahrenskosten und damit das Kostenrisiko. Als Absicht hinter diesem Vorgehen wird vermutet, dass das erhöhte Kostenrisiko die Volkszählungsgegner davon abhalten sollte, den Rechtsweg zu beschreiten und statt dessen den Fragebogen auszufüllen.121 Moniert wurde ferner, dass manche Gerichte gegen grundlegendes verfassungsrechtlich garantiertes Verfahrensrecht verstoßen hätten, indem sie sich auf eine Begründung mit formelhaften Textbausteinen beschränkt hätten, die jedoch nicht immer auf den konkret zu entscheidenden Fall passten, sodass die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG verletzt worden sei.122 Darüber hinaus sei den Volkszählungsgegnern zum Teil das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verwehrt worden. Auch unter Berücksichtigung des Aspekts, dass die Verfahren teilweise ähnlich gelagert waren, sei es schlichtweg unmöglich, dass Richter eine so große Anzahl von Entscheidungen in so kurzer Zeit fällen und dabei jeden Fall individuell würdigen könnten.123 Umgekehrt sahen sich Volkszählungsgegner strafrechtlichen Ermittlungen ausgesetzt. Die Strafgerichtsbarkeit hatte sich vor allem mit der Frage zu befassen, ob der Aufruf zum Boykott der Volkszählung als eine »Öffentliche Aufforderung zu Straftaten« im Sinne des § 111 StGB zu qualifizieren war. Das LG Koblenz kam zu dem Ergebnis, dass die Verteilung von Flugblättern mit dem Inhalt »alle Bögen sind schon da, alle Bögen alle, Haushalts-, Mantel-, Wohnungsdinger, kriegt kein Zähler in die Finger, denn sie wer’n von uns zerknüllt und dann in den Müll gefüllt […] Schnipp-Schnipp-Schnapp da war die Nummer ab« nicht das Tatbestandsmerkmal »auffordern« erfülle, sondern lediglich als ein bloßes Anreizen zu einer Beschädigung oder Vernichtung der Volkszählungsbögen zu qualifizieren sei.124 In der überwiegenden Anzahl solcher Fälle war jedoch der Hauptstreitpunkt, ob die Beschuldigten zu einer »rechtwidrigen Tat«, nämlich einer Sachbeschädigung im Sinne des § 303 StGB, aufgefordert haben. Dabei mussten die Richter inzident prüfen, ob die Beschädigung bzw. Zerstörung der Volkszählungsfragebögen (insbesondere das Entfernen von Kennziffern)

120 Vgl. Meissner, Die Volkszählung in der Rechtsprechung (o. Fn. 111), NVwZ 1989, S. 1, 10f. 121 Vgl. Weichert, Thilo, Justizielle Massenabfertigung von Volkszählungsgegnern, Kritische Justiz 1987, S. 453–459, 454. 122 Vgl. ebd. S. 456f. 123 Vgl. ebd. S. 457f. 124 LG Koblenz, NJW 1988, S. 1609.

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eine Sachbeschädigung darstellt.125 Während etwa das LG Göttingen126 oder das LG Koblenz127 diese Frage und damit auch die Öffentliche Aufforderung zu Straftaten verneinten, kam die Mehrzahl der Gerichte zu einem anderen Ergebnis. So entschieden etwa das LG Bonn,128 das OLG Celle129 und das OLG Köln,130 dass das Entfernen von Kennziffern eine Sachbeschädigung darstelle und sich die Angeklagten daher wegen der Aufforderung zu einer rechtswidrigen Tat gem. § 111 StGB strafbar gemacht hätten. Um dem Verdacht einer Strafbarkeit nach § 111 StGB nachzugehen, veranlassten viele Staatsanwaltschaften Durchsuchungen der Räume von VoBo-Ins, aber auch der Privatwohnungen von Volkszählungsgegnern und beschlagnahmten unter anderem Flugblätter, auf denen zum Boykott der Volkszählung aufgerufen wurde.131 In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass bei Sichtung der Rechtsprechung eine konsequente strafrechtliche Verfolgung (§ 303 StGB) der Bürger, die entsprechend der Boykottaufrufe ihre Volkszählungsbogen unbrauchbar gemacht hatten, nicht feststellbar ist. Allerdings wurden Buß- und Zwangsgelder festgesetzt. Diese zeigten regional unterschiedliche Wirkung. Während schließlich in München nur 1,3 % der Bürger den Volkszählungsbogen nicht ausfüllten, wird die Quote für andere Städte höher geschätzt.132 Es darf aber vermutet werden, dass gerade diejenigen, deren Wille durch diese Maßnahmen gebeugt wurde, von der Möglichkeit des »heimlichen« weichen Boykotts – also der (teilweisen) Falschbeantwortung der Fragen – Gebrauch gemacht haben dürften. Das regional unterschiedliche Ende der Erhebungsphase, das eintrat, obwohl nicht von allen Auskunftspflichtigen Daten erhoben wurden, hat dazu geführt, dass nachgereichte Auskünfte nicht mehr verwertet werden konnten. Dadurch entfiel zugleich die gesetzliche Auskunftspflicht nach § 12 VZG 1987 für die säumigen Bürger, was zur Folge hatte, dass die Heranziehungsbescheide, mit denen die Auskunftspflicht gegenüber den einzelnen Boykotteuren nochmals besonders statuiert und gleichzeitig die Grundlage für die Zwangsmaßnahmen

125 Zur Bedeutung der Kennziffern für die Organisation der Volkszählung und den im Einzelnen vertretenen Meinungen für bzw. gegen die Strafbarkeit des Entfernens von Kennziffern als Sachbeschädigung, siehe Engelage, Christian, Ist das Abschneiden von Heftnummern auf Volkszählungsbögen strafbar?, Neue Juristische Wochenschrift 1987, S. 2801–2802, 2801f. 126 LG Göttingen, NStZ 1987, S. 557. 127 LG Koblenz, NJW 1987, S. 2828. 128 LG Bonn, NJW 1987, S. 2825. 129 OLG Celle, NJW 1988, S. 1101; Explizit von diesem Urteil wurde auch in den allgemeinen Medien berichtet, siehe Staatsziel beschnitten, Der Spiegel Nr. 4/ 1988, S. 21, 21. 130 OLG Köln, NJW 1988, S. 1102. 131 Vgl. Nur Schafe, Der Spiegel Nr. 18/ 1987, S. 130–132, 130; Staatsziel beschnitten (o. Fn. 131), Der Spiegel Nr. 4/ 1988, S. 21, 21. 132 Vgl. Ganz cool, Der Spiegel Nr. 13/ 1988 vom 28. 03. 1988, S. 63–66, 63ff.

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(Zwangsgeld) geschaffen wurden, gegenstandlos waren.133 Zuletzt soll noch ein vom Nachrichtenmagazin Spiegel dokumentiertes Ereignis erwähnt werden. Es wurden in etwa 1000 Aktivisten des Volkszählungsboykotts bundesweit in polizeilichen Datenbanken erfasst. Sie wurden wegen einiger Bagatelldelikte – wie etwa dem Überkleben von Volkszählungsplakaten mit Boykottparolen – in der eigentlich für Staatsfeinde und Terroristen vorbehaltenen Datei »PIOS« registriert.134 Gerade hierdurch dürften sich viele Volkszählungsgegner und -boykotteure in ihrem Misstrauen gegen staatliche Institutionen und der Befürchtung des schleichenden Aufbaus eines Überwachungsstaates bestätigt gesehen haben. Nach Ansicht des Statistischen Bundesamtes war die Volkszählung mit einer Teilnahmequote von 99 % am Ende ein voller Erfolg; aus diesem Grund bewertete man die Qualität der Volkszählungsdaten als gut, weshalb die Ergebnisse bedenkenlos veröffentlicht wurden, damit sie in der Folgezeit für Planungs- und Analysezwecke genutzt werden konnten.135 In der sozialwissenschaftlichen Literatur136 wird der Anteil harter Boykotteure137 in der Tat bei nur etwa 1,4 % gesehen, jedoch hätten nur 91,1 % der Bürger alle Fragen so gut wie möglich beantwortet. Daraus ergibt sich, dass 7,5 % der Befragten zumindest teilweise den weichen Boykott gewählt und dadurch heimlich das Volkszählungsergebnis verzerrt hatten. Das vor der Zählung erhobene beabsichtigte Antwortverhalten wies allerdings deutlich höhere Quoten auf. Diese Divergenz zwischen Teilnahmeabsicht und Teilnahmeverhalten bei der Volkszählung 1987 wird damit erklärt, dass die Bedenken nach Kenntnisnahme der tatsächlichen Volkszählungsfragen zurückgegangen seien, denn – trotz der frühzeitigen Aufklärungskampagne sei nämlich das Wissen über die konkreten Fragen gering gewesen. Die emotional aufgeladene Datenschutzdebatte rund um die Volkszählungskontroverse habe die Auseinandersetzung mit dem konkreten Vorhaben der Volkszählung 1987 überschattet.138

133 Vgl. Meissner, Die Volkszählung in der Rechtsprechung (o. Fn. 111), NVwZ 1989, S. 1, 2 und 10f. 134 Vgl. Großes Kaliber, Der Spiegel Nr. 3/ 1988, S. 99–100, 100; Staatsziel beschnitten (o. Fn. 131), Der Spiegel Nr. 4/ 1988, S. 21, 21. 135 Vgl. Bergmann, Volkszählung und Datenschutz (o. Fn. 10), S. 77f. 136 Vgl. dazu (mit Tabelle zur Teilnahmeabsicht/ Teilnahmeverhalten bei der Volkszählung 1987) Kühnel, Steffen-Matthias, Zwischen Boykott und Kooperation – Teilnahmeabsicht und Teilnahmeverhalten bei der Volkszählung 1987, Frankfurt a.M. 1993, S. 108. 137 Zur Begrifflichkeit siehe oben Kapitel »Aktionsformen«. 138 Vgl. Kühnel, Zwischen Boykott und Kooperation (o. Fn. 138), S. 257.

Volkszählung – Boykott, Sanktionen und die Entdeckung eines neuen Grundrechts

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Resümee

Der Deutsche Bundestag hatte das Gesetz über eine Volks-, Berufs-, Wohnungsund Arbeitsstättenzählung im März 1982 einstimmig verabschiedet. Zwar gab es langwierige Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern über die Finanzierung des Projekts – eine inhaltliche Auseinandersetzung über den Zensus hingegen nicht; niemand hatte geahnt, dass gerade dieses Gesetz eine so heftige Kontroverse in der Öffentlichkeit nach sich ziehen würde. In den Anfangsmonaten des Jahres 1983 entwickelte sich dann aber urplötzlich eine Protestbewegung, die das Land wie ein Flächenbrand erfassen sollte. Obwohl es sich bei der Volkszählung 1983 um die bereits vierte in der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland handelte, die zudem vom Erhebungsprogram der bisherigen nicht wesentlich abwich, entstand in der Öffentlichkeit eine heftige Diskussion darüber, zu welchen Zwecken der Staat die Daten erheben wollte oder durfte und wie er mit den erhobenen Daten umgehen würde. Viele Bürger machten sich Sorgen, dass die Daten von staatlicher oder auch privater Seite missbraucht werden könnten und sie dadurch mit Nachteilen zu rechnen hätten. Mitunter gingen die Vermutungen soweit, dass man unterstellte, die Daten würden unmittelbar nach den Zählungen an den Verfassungsschutz weitergegeben, damit dieser alle mutmaßlichen Verfassungsfeinde sofort identifizieren könne. 1983 wie 1987 gehörten zum Kreis der Volkszählungskritiker nicht nur eine kleine Minderheit linker Gruppierungen oder potenzieller Verfassungsfeinde, sondern breite Bevölkerungskreise verschiedener politischer Lager. Die Bedenken hinsichtlich der Volkszählung 1987 gründeten im Wesentlichen auf denselben Überlegungen. Die Befürchtungen bezüglich der Volkszählung 1983 erscheinen zum Teil nachvollziehbar, zumal der Gesetzgeber sie selbst veranlasst hatte, indem er den Fehler gemacht hatte, die Volkszählungsdaten zu nicht-statistischen Zwecken freizugeben (§ 9 VZG 1983) und dadurch das Vertrauen in die Anonymität der Volkszählung zu erschüttern. In Umsetzung der detailreichen Vorgaben des BVerfG hat der Gesetzgeber im VZG 1987 keine Regelungen mehr vorgesehen, die eine Datenübermittlung zu nicht-statistischen Zwecken ermöglicht hätten, und zudem ein strafbewährtes Reindentifizierungsverbot eingeführt; dadurch wurden hinreichende datenschutzrechtliche Vorkehrungen getroffen. Dass sich trotzdem wieder eine große Menge an Volkszählungskritikern zusammenfand, ist nicht mit der Volkszählung selbst zu erklären. Vielmehr war die Volkszählung 1987 noch mehr als die Volkszählung 1983 Kristallisationspunkt eines allgemeinen Misstrauens gegen die noch neuen Technologien (»Angst vor dem Computer«, insbesondere vor der Tragweite der EDV) sowie der Angst vor dem schleichenden Aufbau eines totalitären Überwachungsstaates und der damit einhergehenden Einschränkung der Bürgerrechte; hierzu hat wiederum der Gesetzgeber selbst beigetragen, weil 1987 eine

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ganze Reihe von Sicherheitsgesetzten verabschiedet werden sollte, die insbesondere die Einführung des maschinenlesbaren Personalausweises regelten. Der Widerstand gegen die Volkszählung diente als probates Mittel »dem Staat« seine partielle Ohnmacht zeigen, denn anders als bei anderen Projekten kam es beim Zensus nicht auf die Mitwirkung einer einfachen oder qualifizierten Mehrheit, sondern im besten Falle auf die Unterstützung aller Bürger an. Bleibender Erfolg der Volkszählungsboykottbewegung ist das von zwei Juristinnen erstrittene Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Dieser Erfolg ist allerdings keineswegs nur den beiden Verfassungsbeschwerdeführerinnen zuzurechnen, sondern der gesamten Bewegung, denn das BVerfG hatte in der »Art Vorbemerkung« selbst ausgeführt, dass es durch die große Anzahl von Verfassungsbeschwerden, den Protesten und der Verunsicherung in weiten Teilen der Bevölkerung zum Volkszählungsurteil bewogen worden war. Wann immer seither über das Thema Datenschutz gestritten wurde und wird, ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung Dreh- und Angelpunkt der Diskussion. Inzwischen haben sich die Umstände allerdings grundlegend verändert. Die Vorbereitungen für die Volkszählung 2021 haben nicht zu Protesten geführt, obwohl sich im Rahmen der Covid-19-Pandemie erneut eine verschiedene politische Lager umfassende staatskritische Protestbewegung herausgebildet hat. Hauptursache hierfür dürfte sein, dass der Großteil der Daten, der bei den Volkszählungen in den 1980er-Jahren erfragt wurde und deren Erhebung damals von Seiten der Bürger als bedenklich angesehen wurde, mittlerweile von vielen Menschen auf deren Social-Media-Profilen freiwillig preisgegeben wird. Die meisten Menschen haben sich mittlerweile durch ihren ständigen Begleiter Smartphone an die massenhafte Erhebung und Verarbeitung ihrer Daten gewöhnt. Dieser Gewöhnungseffekt birgt jedoch auch Gefahren, denn es besteht die Gefahr, dass persönliche Daten für Werbezwecke oder kriminelle Machenschaften missbraucht werden. Zwar ist der Begriff des Datenschutzes heute im kollektiven Gedächtnis präsent, doch in den seltensten Fällen ist sich der Einzelne darüber im Klaren, wie er seine Daten effektiv schützen kann – eine staatliche Aufklärungskampagne, diesmal zum Thema Datensicherheit, scheint dringend geboten.

Jonas Plebuch*

Das dogmatisierende Jahrzehnt: Verfassungsrechtswissenschaft und Verfassungsgerichtsbarkeit in den 1980er Jahren

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Einführung

Am Ende des Jahrzehnts, das hier als dogmatisierendes Jahrzehnt in der Geschichte der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft gedeutet werden soll, stellte der Bonner Verfassungsrechtler Bernhard Schlink seinem Fach ein geradezu vernichtendes Zeugnis aus: »Die Staatsrechtswissenschaft lebt publizistisch im Ghetto ihrer Fachzeitschriften und inhaltlich im Bann des Bundesverfassungsgerichts. Dessen Entscheidungen sind ihr Stoff, Anregung und Bestätigung. Harmonisierend arbeitet sie die Entscheidungen in ein kohärentes dogmatisches Korpus, schließt aus vergangenen Entscheidungen auf zukünftige und prüft, wann mit der bisherigen Rechtsprechung diese oder jene Lösung eines wirklichen oder gedachten Falls vereinbar ist. Oft denkt und arbeitet die Staatsrechtswissenschaft dem BVerfG eher nach als voraus; Kernstücke unserer Verfassungsrechtsdogmatik […] hat das Gericht nahezu aus dem Stand entwickelt und die Wissenschaft anschließend ausgearbeitet.«1

Diesen Befund brachte Schlink auf den Begriff eines die Staatsrechtswissenschaft bestimmenden »Bundesverfassungsgerichtspositivismus«, der für die »Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit« verantwortlich sei. Die Wendung vom Bundesverfassungsgerichtspositivismus ebenso wie die Metapher von der Entthronung sollten zu veritablen »Erfolgsformeln«2 werden. In seinem Festvortrag auf dem Deutschen Juristentag 1996 * Für wertvolle Hinweise danke ich Dr. Fabian Michl und Simon Pielhoff. 1 Bernhard Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 28 (1989), 161, 162f. Für den Versuch einer gleichsam empirischen Überprüfung dieser These anhand von ausgewählten Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus den Jahren 1957 (Elfes) bis 1983 (Volkszählung) siehe nunmehr die Beiträge in Dieter Grimm (Hrsg.), Vorbereiter – Nachbereiter? Studien zum Verhältnis von Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft, Tübingen 2019. 2 Christoph Schönberger, Bundesverfassungsgerichtspositivismus – Zu einer Erfolgsformel Bernhard Schlinks, in: Die Verfassung als Aufgabe von Wissenschaft, Praxis und Öffentlichkeit – Freundesgabe für Bernhard Schlink zum 70. Geburtstag, S. 41; differenzierte Würdigung der

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spottete etwa Josef Isensee, die Staatsrechtslehre agiere »als Magd der Verfassungsgerichtsbarkeit […], eine solche, die (frei nach Kant) ihr die Schleppe hinterherträgt, statt, wie es eigentlich ihres wissenschaftliches Amtes wäre, ihr mit der Fackel vorauszuleuchten.«3 Ungefähr ab der Jahrtausendwende wandelte sich die Stoßrichtung der Kritik. Im Mittelpunkt stand nun nicht mehr, wie noch bei Schlink – dem man nicht zu nahe treten wird, wenn man sein Wissenschaftsideal ins 19. Jahrhundert verortet –4, eine Kritik an der angeblichen Unterwerfung der Verfassungsrechtswissenschaft unter die Deutungshoheit des Bundesverfassungsgerichts, sondern vielmehr eine grundlegende Infragestellung des dogmatischen Paradigmas selbst.5 Die zahlreichen metadogmatischen Beiträge, die in den letzten Jahren Schlink’schen These auch bei Stefan Korioth, Der Befund »eines die Staatsrechtswissenschaft bestimmenden Bundesverfassungsgerichtspositivismus« – 1989 und 2014, in: ebd., S. 31ff. 3 Josef Isensee, Bundesverfassungsgericht – quo vadis?, JZ 1996, 1085, 1086; siehe ferner (mit jeweils eigenen Akzentuierungen): Walter Schmidt, Grundrechte – Theorie und Dogmatik seit 1946 in Westdeutschland, in: Dieter Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik – Studien zur Wissenschaftsgeschichte der Jurisprudenz, Frankfurt am Main 1996, S. 188, 208ff.; Michael Stolleis, Die brave Trägerin der Schleppe, FAZ v. 17. 12. 2001, S. 48; Matthias Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus – Die Ohnmacht des Verfassungsgesetzgebers im verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat, in: Otto Depenheuer u. a. (Hrsg.), Nomos und Ethos – Hommage anläßlich des 65. Geburtstages von Josef Isensee, Berlin 2002, S. 183, 188ff.; Michael Kloepfer, Vom Zustand des Verfassungsrechts, JZ 2003, 481, 483f. Die Schlink’sche These erfährt auch in der Außenwahrnehmung der Politikwissenschaft Zustimmung: Oliver W. Lembcke/Verena Frick, Staatsrechtslehre, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Handbuch Staat, Wiesbaden 2018, S. 123, 127–129 (die allerdings auch auf jüngere »Emanzipationsbewegungen« aufmerksam machen, 130–131). 4 Im Sinne einer Verfallserzählung kontrastiert Schlink eine goldene, durch begrifflich-konstruktive Leistungen wie die Lehre vom Staat als juristischer Person geprägte Vergangenheit der Staatsrechtswissenschaft mit ihrer intellektuell tristen, auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fixierten Gegenwart. Dass Schlink also nicht die Dominanz der Dogmatik selbst kritisiert, sondern nur deren gerichtspositivistische Verirrung, wird bereits daran deutlich, dass er als Remedur nicht etwa mehr Theorie, mehr Internationalität oder mehr Interdisziplinarität empfiehlt, sondern vielmehr eine »methoden- und dogmenstrenge Kritik« am Bundesverfassungsgericht (169); aufschlussreich ist insoweit auch Bernhard Schlink, Abschied von der Dogmatik – Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007, 157ff. 5 Siehe nur Winfried Brohm, Kurzlebigkeit und Langzeitwirkung der Rechtsdogmatik, in: Festschrift für Hartmut Maurer, München 2001, S. 1081ff.; Andreas Voßkuhle, Methode und Pragmatik im öffentlichen Recht – Vorüberlegungen zu einem differenziert-integrativen Methodenverständnis am Beispiel des Umweltrechts, in: Hartmut Bauer u. a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht – Wissenschaftliches Symposium aus Anlaß des 65. Geburtstages von Reiner Schmidt, Tübingen 2002, S. 171, 177ff.; Christoph Möllers/Andreas Voßkuhle, Die deutsche Staatsrechtswissenschaft im Zusammenhang der internationalisierten Wissenschaften – Beobachtungen, Vermutungen, Thesen, Die Verwaltung 36 (2003), 321, 327ff.; Oliver Lepsius, Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in: Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, Tübingen 2008, S. 1, 16–26; ders., Kritik der Dogmatik, in: Gregor Kirchhof/Stefan Magen/Karsten Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?

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erschienen sind, befassen sich vor allem mit den Kennzeichen, Funktionen, Leistungen und Gefahren (verfassungsrechts-)dogmatischen Arbeitens. Die Frage, wann und warum Verfassungsrechtsdogmatik zur hegemonialen Arbeitsweise6 der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft geworden ist, wird hingegen kaum gestellt. Der Dogmatikforschung mangelt es mit anderen Worten an Historizität.7 Für die bundesrepublikanische Verfassungsrechtswissenschaft soll diese Lücke mit dem vorliegenden Beitrag geschlossen werden. Die Hauptthese lautet, dass die Verfassungsrechtswissenschaft in den 1980er Jahren einen Dogmatisierungsprozess durchgemacht hat, und zwar nicht zufällig, sondern – um mit Max Weber zu sprechen – aus angebbaren Gründen, die in spezifischer Weise mit den 1980er Jahren zu tun haben. Um diese Hauptthese argumentativ zu entwickeln, muss ich zunächst einen historischen Schritt zurücktreten und das Profil der bundesrepublikanischen Verfassungsrechtswissenschaft vor 1980 umreißen (2). In einem zweiten Schritt werde ich knapp auf die Kennzeichen verfassungsrechtsdogmatischen Arbeitens unter dem Grundgesetz eingehen (3). Andere dogmatikkritische Beiträge differenzieren in aller Regel nicht zwischen den rechtswissenschaftlichen Teil-Dogmatiken, und das obwohl es auch methodologisch einen Unterschied machen dürfte, ob das Verfassungsrecht den Gegenstand8 dogmatischen Arbeitens bildet oder etwa das Bereicherungsrecht und damit ein Teilgebiet des Privatrechts, das sich bis heute plausibel als positiviertes – Was leistet und wie steuert die Dogmatik des öffentlichen Rechts?, Tübingen 2012, S. 39ff.; Matthias Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung – Eine Standortbestimmung der Verfassungstheorie, Paderborn 2009, S. 29–40; ders., Die deutsche Staatsrechtslehre im europäisierten Wissenschaftsdiskurs – Kennzeichen, Kernkompetenzen und Rezeptionshindernisse, JZ 2012, 1, bes. 4–7; Armin von Bogdandy, Das deutsche öffentliche Recht im europäischen Rechtsraum – Überlegungen zur disziplinären Fortentwicklung, in: Festschrift für Rainer Wahl, Berlin 2011, S. 651, 661ff. 6 »Dogmatik« bezeichnet als Homonym zugleich eine Methode, die Produkte dieser Methode sowie eine Disziplin; dazu im Überblick Alexander Stark, Interdisziplinarität der Rechtsdogmatik, Tübingen 2020, S. 77–80. Mir geht es im Folgenden einerseits um (Verfassungsrechts-)Dogmatik als Methode und andererseits um das (historisch kontingente) Selbstverständnis der Verfassungsrechtswissenschaft als dogmatische Disziplin. Monografisch zu den methodischen Aspekten der Dogmatik Jannis Lennartz, Dogmatik als Methode, Tübingen 2017. 7 Eine der wenigen Ausnahmen: Christian Bumke, Rechtsdogmatik – Eine Disziplin und ihre Arbeitsweise. Zugleich eine Studie über das rechtsdogmatische Arbeiten Friedrich Carl von Savignys, Tübingen 2017, S. 16–43. Von historisch-wissenschaftssoziologisch ausgerichteten Beiträgen wie dem vorliegenden sind solche Beiträge abzugrenzen, die aus einer disziplinären Binnenperspektive über den inhaltlichen Wandel der (Verfassungsrechts-)Dogmatik informieren; für die bundesrepublikanische Grundrechtsdogmatik jetzt etwa Christian Bumke, Die Entwicklung der Grundrechtsdogmatik in der deutschen Staatsrechtslehre unter dem Grundgesetz, AöR 144 (2019), 1ff. 8 Zur wissenschaftstheoretischen Grundfrage, ob sich eine Disziplin über ihren Gegenstand oder über ihre Methode konstituiert Lepsius, Themen (o. Fn. 5), S. 1, 8–16.

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wissenschaftliches Recht beschreiben lässt.9 Freilich soll damit nicht der (letztlich ideologischen)10 Unterscheidung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht das Wort geredet werden. Wie zuletzt Katharina Pistor eindrucksvoll aufgezeigt hat, ist auch das Privatrecht alles andere als unpolitisch.11 Dennoch spricht viel dafür, dass gerade das Verfassungsrecht eine andere wissenschaftliche Behandlung verlangt als das »einfache« Recht, denn Verfassungen sind eben nicht nur das Produkt politischen Handelns, sondern bilden auch dessen Maßstab.12 Oder systemtheoretisch gewendet: Indem Verfassungen einerseits die Erzeugung des Rechts politisieren und andererseits den politischen Prozess verrechtlichen, fungieren sie als strukturelle Kopplung zwischen politischem und rechtlichem System.13 Obwohl unter dem Dach der 1922 gegründeten und bis heute die Einheit des Fachs »Öffentliches Recht« institutionell verkörpernden Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer traditionellerweise sowohl verfassungs- als auch verwaltungsrechtliche Themen verhandelt werden,14 rechtfertigt es diese strukturelle Eigenart der Verfassung, den Beitrag auf die auf sie bezogene Wissenschaft zu beschränken, zumal sich nicht wenige der in der Bundesrepublik diskursprägenden Öffentlichrechtler primär als Verfassungs- und allenfalls sekundär als Verwaltungsrechtler verstanden und betätigt haben.15 9 In diese Richtung gehen die Überlegungen bei Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, in: Festschrift für Hans Ulrich Scupin zum 80. Geburtstag, Berlin 1983, S. 317, 323ff.; Werner Heun, Begriff, Eigenart und Methoden der Verfassungsrechtsdogmatik, in: Christian Starck (Hrsg.), Die Rolle der Verfassungsrechtswissenschaft im demokratischen Verfassungsstaat – Zweites deutsch-taiwanesisches Kolloquium vom 26. bis. 28. September 2002 in Taipeh, Baden-Baden 2004, S. 35, 38ff. 10 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre – Studienausgabe der 2. Auflage 1960. Herausgegeben von Matthias Jestaedt, Tübingen 2017, S. 494–499. 11 Katharina Pistor, Der Code des Kapitals – Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft, Berlin 2020. 12 Zum inneren Zusammenhang zwischen Verfassungsvorrang und Verfassungsfunktion grundlegend Dieter Grimm, The Achievement of Constitutionalism and its Prospect in a Changed World, in: ders., Constitutionalism – Past, Present, and Future, Oxford 2016, S. 357, 359–367. 13 Konzise zur Verfassung als Kopplung und Trennung von Recht und Politik Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht – Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, Berlin 2011, S. 281, 309ff. 14 Zu Geschichte und Gegenwartsbedeutung der Staatsrechtslehrervereinigung Michael Stolleis, Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer – Bemerkungen zu ihrer Geschichte (1997), in: ders., Ausgewählte Aufsätze und Beiträge. Herausgegeben von Stefan Ruppert und Milosˇ Vec, Bd. 2, Frankfurt am Main 2011, S. 591ff. 15 Zu denken ist etwa an Konrad Hesse, Helmut Ridder, Peter Lerche, Horst Ehmke, Peter Häberle, Dieter Grimm, Ulrich K. Preuß, Günter Frankenberg, Winfried Brugger, Otto Depenheuer, Werner Heun, Horst Dreier sowie – aus der jüngeren Generation – Niels Petersen

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Zu dieser intradisziplinären tritt eine zeitliche Beschränkung. Der Beitrag behandelt nur die Kennzeichen der Verfassungsrechtsdogmatik unter dem Grundgesetz. Schon wegen der unterschiedlichen Legitimationsgrundlagen (monarchisches Prinzip vs. Prinzip der Volkssouveränität) sowie des gänzlich verschiedenen Normen- und Institutionenarrangements (reines Organisationsstatut ohne Verfassungsgerichtsbarkeit vs. grundrechtlich dominierte Vollverfassung mit ausgebauter Verfassungsgerichtsbarkeit) wies etwa die spätkonstitutionelle, der »juristischen Methode« verpflichtete Verfassungsrechtsdogmatik Laband’scher Prägung16 nicht nur andere Kennzeichen auf,17 sondern erfüllte auch andere (disziplinstrategische sowie politisch-soziale) Funktionen als die bundesrepublikanische Verfassungsrechtsdogmatik.18 Dogmatik weist mit anderen Worten

und Florian Meinel. Bei den in den 1960er Jahren geborenen Staatsrechtslehrern wie Andreas Voßkuhle, Christian Bumke, Christian Waldhoff, Jens Kersten oder Christoph Möllers lässt sich eine solche Publikations-Asymmetrie zwischen Verfassungs- und Verwaltungsrecht interessanterweise seltener beobachten. Vgl. allgemein zu den Unterschieden zwischen verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Diskursen Franz Reimer, Diskursvergleich im Verfassungs- und Verwaltungsrecht, in: VVDStRL 77 (2018), 413, 438ff. 16 Selbstbeschreibung als Dogmatik bei Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, 5. Aufl., Tübingen 1911, S. IX (Vorwort zur zweiten Auflage): »Die wissenschaftliche Aufgabe der Dogmatik eines bestimmten positiven Rechts liegt aber in der Konstruktion der Rechtsinstitute, in der Zurückführung der einzelnen Rechtssätze auf allgemeinere Begriffe und andererseits in der Herleitung der aus diesen Begriffen sich ergebenden Folgerungen. […] Zur Lösung dieser Aufgabe gibt es kein anderes Mittel als die Logik; […] alle historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen – so wertvoll sie an und für sich sein mögen – sind für die Dogmatik eines konkreten Rechtsstoffes ohne Belang und dienen nur zu häufig dazu, den Mangel an konstruktiver Arbeit zu verhüllen.« [Hervorhebung i. O.]. 17 Umfassend zur Laband’schen Konzeption der Staatsrechtswissenschaft Walter Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus – Ein Beitrag zu Entwicklung und Gestalt der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht im 19. Jahrhundert, Tübingen 1993, S. 177ff. 18 Die disziplinstrategische Funktion lag in der Selbstbehauptung der Staatsrechtswissenschaft als eine der Privatrechtswissenschaft ebenbürtige Disziplin. Zur Herkunft der »juristischen Methode« aus der Privatrechtswissenschaft statt vieler Dieter Grimm, Das öffentliche Recht vor der Frage nach seiner Identität, Tübingen 2012, S. 21–28. Zur gesellschaftlich-sozialen Funktion des staatsrechtlichen Positivismus nach wie vor erhellend: Peter v. Oertzen, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus – Eine wissenssoziologische Studie über die Entstehung des formalistischen Positivismus in der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Frankfurt am Main 1974, S. 321f.: »Die von der streng wissenschaftlichen Methode des Staatsdenkens behauptete Unabhängigkeit von weltanschaulichen und politischen Werturteilen ist nur Schein. In Wirklichkeit dient die ›juristische Methode‹, dadurch daß sie sich auf die formale Bearbeitung des geltenden öffentlichen Rechts beschränkt und jede inhaltliche Kritik ausschließt, der Aufrechterhaltung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung. […] Die Einstellung der Laband-Schule ist im weiteren Sinne der Ausdruck der gesellschaftlich-politischen Struktur des zweiten Kaiserreiches.« Ähnliche Einschätzungen bei Dieter Grimm, Methode als Machtfaktor (1982), in: ders., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1987, S. 347, 361–366; Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Berlin 1997, S. 249–255.

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nicht nur eine intradisziplinäre, sondern auch eine historische Variationsbreite auf, die metadogmatische Beiträge zur Kenntnis nehmen sollten. Wer einen grundlegenden Methodenwandel19 beobachtet, kann seine These in aller Regel nicht empirisch validieren. In einem dritten Schritt soll die Dogmatisierungs-These aber zumindest exemplarisch plausibilisiert werden (4), bevor ich anschließend – und im Schwerpunkt – auf die Ursachen der Dogmatisierung eingehen werde (5). In einem fünften Schritt werde ich die Verfassungsgerichtsbarkeit der 1980er Jahre in den Blick nehmen, und zwar sowohl als einen Faktor, der die Dogmatisierung der Verfassungsrechtswissenschaft beeinflusst, als auch umgekehrt als einen Faktor, der seinerseits durch die Dogmatisierung der Verfassungsrechtswissenschaft beeinflusst wird (6). Zu dieser wechselbezüglichen Betrachtung zwingt nicht nur die weltweit wohl einmalige (und in den 1980er Jahren ihren Ausgang nehmende) personelle Verzahnung von Verfassungsrechtswissenschaft und Bundesverfassungsgericht,20 sondern auch dessen »verfassungsdogmatische Responsivität sowie die Neigung zu ›akademischen‹ Begründungsstilen«, durch die das Gericht »fest in die staatsrechtliche Diskursgemeinschaft eingebunden«21 bleibt. Im sechsten und letzten Schritt werde ich die heutige Verfassungsrechtswissenschaft mit der Verfassungsrechtswissenschaft der 1980er Jahre kontrastieren und dabei aufzuweisen versuchen, dass der dogmatic approach mittlerweile seinen paradigmatischen Charakter verloren hat und heute nur noch einer von vielen denkbaren Zugängen zum Verfassungsrecht ist (7). Die These lautet hier, dass erstaunlicherweise nicht die Wiedervereinigung, sondern erst die immer weiter voranschreitende Konstitutionalisierung der Europäischen Union für diese erneute Veränderung in Selbstverständnis und Arbeitsweise ursächlich war, und dass diese erneute Veränderung zu einer wachsenden Entfremdung zwi19 Zum »Methodenwandel« als wissenschaftsgeschichtlicher Kategorie Pauly, Methodenwandel (o. Fn. 16), S. 1–9. 20 Dazu etwa Thomas Oppermann, Bundesverfassungsgericht und Staatsrechtslehre, in: Peter Badura/Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1: Verfassungsgerichtsbarkeit – Verfassungsprozeß, Tübingen 2001, S. 421, 428ff.; Helmuth SchulzeFielitz, Staatsrechtslehre und Bundesverfassungsgericht – prozedural gesehen, in: ders., Staatsrechtslehre als Mikrokosmos – Bausteine zu einer Soziologie und Theorie der Wissenschaft des öffentlichen Rechts, Tübingen 2013, S. 375, 390–393, 399–401; Möllers, Legalität (Fn. 13), S. 281, 361ff.; Franz C. Mayer, Das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis im Verfassungsrecht in Deutschland, JZ 2016, 857, 861f. 21 So Klaus Ferdinand Gärditz, Die Staatsrechtslehre im Streit um ihren Gegenstand, Der Staat 57 (2018), 633, 646, der dort auch zu Recht anmahnt, dass sich eine Diskursgeschichte der Wissenschaft vom öffentlichen Recht nicht ohne Blick auf das Bundesverfassungsgericht schreiben lässt. Gleichsinniges Postulat bei Christoph Schönberger, Wissenschaftsgeschichte als Schlüssel zur Geschichte des öffentlichen Rechts? – Bemerkungen zu einem schwierigen Verhältnis, Rg 19 (2011), 285ff.

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schen Bundesverfassungsgericht und Verfassungsrechtswissenschaft geführt hat, deren Verhältnis längst nicht mehr, wie noch in den 1980er Jahren, als symbiotisch charakterisiert werden kann.

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Die bundesrepublikanische Verfassungsrechtswissenschaft vor ihrer Dogmatisierung

Die zivilisatorische Katastrophe des Nationalsozialismus hinterließ eine moralisch zerrüttete und personell ausgezehrte Verfassungsrechtswissenschaft. Die Zentralgestirne des Weimarer Methoden- und Richtungsstreits waren entweder bereits gestorben (Hermann Heller), blieben im echten Exil (Hans Kelsen), zogen sich notgedrungen ins fantasierte (»San Casciano«) Exil zurück (Carl Schmitt) oder begnügten sich nunmehr mit (Staats-)Kirchenrecht (Rudolf Smend): »In der Bundesrepublik diskutierten die Weimarer Theoretiker nicht mehr.«22 Auch inhaltlich fand die Weimarer Grundsatzkontroverse in der frühen Bundesrepublik keine Fortsetzung. Bestimmend war vielmehr »die Absicht […], schlicht und ohne große Worte wieder an die Arbeit zu gehen«23 – dieses Motto aus dem Vorwort zur ersten Nachkriegsausgabe des traditionsreichen »Archiv des öffentlichen Rechts« sollte zu einem Leitspruch der Verfassungsrechtswissenschaft der 1950er Jahre werden. Christoph Möllers hat sie treffend wie folgt charakterisiert: »Die überwiegende Mehrheit der Staatsrechtslehrer begab sich theoretisch auf den Rückzug und tat das, was ein Großteil der Zunft länger schon für die eigentliche Aufgabe des Faches gehalten hatte: die Auslegung von Normen und die Auswertung gerichtlicher Entscheidungen. Die Verabschiedung der Landesverfassungen und des Grundgesetzes, vor allem aber die Einrichtung des Bundesverfassungsverfassungsgerichts führten gerade nicht zu einer staats- oder verfassungstheoretischen Blüte. […] Scheu vor dem Grundsätzlichen, Distanz zur Politik sind, ob überzeugend oder nicht, die Konsequenzen, die die Disziplin aus der Erfahrung des Nationalsozialismus ziehen wollte. Statt der offensiven Entwicklung einer Theorie des demokratischen Verfassungsstaats zog man sich ins juristische Handwerk zurück.«24

22 Oliver Lepsius, Die Wiederentdeckung Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre, in: Christoph Gusy (Hrsg.), Weimars lange Schatten – »Weimar« als Argument nach 1945, Baden-Baden 2003, S. 354, 361. 23 AöR 74 (1948), 1, 2. 24 Christoph Möllers, Der vermisste Leviathan – Staatstheorie in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 2008, S. 31, 42. Eine ganz ähnliche Charakterisierung der Staatsrechtslehre der 1950er Jahre findet sich bei Michael Stolleis, Staatsbild und Staatswirklichkeit in Westdeutschland (1945–1960), in: ders., Aufsätze (o. Fn. 14), S. 679, 693: »Das breite Mittelfeld bewegte sich fast theorielos in getreulicher Gesetzesanwendung, der aber alle Festreden ab-

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Erst ab den späten 1950er Jahren trat dann allmählich eine neue, vom Nationalsozialismus unbelastete, durch die desillusionierende Erfahrung der »Stunde Null« jedoch entscheidend geprägte und insoweit »skeptische«25 Generation an Verfassungsrechtlern auf den Plan, die – bei allen Unterschieden im Einzelnen – ein Grundanliegen teilten: die »Vergrundgesetzlichung« sowohl des konstitutionellen als auch des Weimarer Erbes. Das konstitutionelle Erbe war vor allem ein begriffliches Erbe. Aus der konstitutionellen Monarchie übernommene Grundbegriffe des öffentlichen Rechts wie »Gesetz« oder »Gesetzesvorbehalt« mussten grundgesetzgemäß reformuliert werden. Die erfrischend provokativen Tübinger Habilitationsschriften von Dietrich Jesch26 und Hans Heinrich Rupp27 haben hier gerade deshalb Pionierarbeit geleistet, weil sie mit ihren überschießenden Konzeptionen (»Lehre vom Totalvorbehalt«) zum produktiven Widerspruch geradezu herausforderten.28

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geschworen hatten. Die Methodenfragen wurden von den Sachthemen abgekoppelt und marginalisiert.« Helmut Schelsky, Die skeptische Generation – Eine Soziologie der deutschen Jugend, 4. Aufl., Düsseldorf 1960. Zu den »Skeptikern« rechnet man heute – in Engführung von Schelskys Modell – diejenigen, die zum Zeitpunkt des Krieges Jugendliche oder junge Erwachsene waren, näher Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit – Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, 2. Aufl., Göttingen 2008, S. 31ff. Dietrich Jesch, Gesetz und Verwaltung – Eine Problemstudie zum Wandel des Gesetzmäßigkeitsprinzips, Tübingen 1961. Zu Jeschs Bedeutung für das Verwaltungsrecht unter dem Grundgesetz Ino Augsberg, Demokratische Aufklärung – Dietrich Jeschs Neubestimmung der Verwaltungsrechtsdogmatik unter dem Grundgesetz, in: Carsten Kremer (Hrsg.), Die Verwaltungsrechtswissenschaft in der frühen Bundesrepublik (1949–1977), Tübingen 2017, S. 287ff. Hans Heinrich Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre – Verwaltungsnorm und Verwaltungsrechtsverhältnis, Tübingen 1965. Ausführlich zu Rupps Motiven, Leitfragen und Methoden Andreas Funke, Ein Außenseiter, mittendrin – Zur Erfolgsbilanz des neo-kelsenianischen Verwaltungsrechts von Hans Heinrich Rupp, in: Kremer, Verwaltungsrechtswissenschaft (o. Fn. 26), S. 305ff. Siehe aus der zeitgenössischen Literatur etwa Peter Badura, Verwaltungsrecht im liberalen und im sozialen Rechtsstaat, Tübingen 1966; Fritz Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, Bad Homburg u. a. 1968; Walter Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte – Vergleich des traditionellen Eingriffsvorbehalts mit den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes, Berlin 1975. Allgemein zur verfassungsrechtlichen Überformung des Verwaltungsrechts in der frühen Bundesrepublik Christoph Schönberger, »Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht« – Die Entstehung eines grundgesetzabhängigen Verwaltungsrechts in der frühen Bundesrepublik, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz – Altes Recht und neue Verfassung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland (1949–1969), Berlin 2006, S. 53ff. Zu dem durch Jesch und Rupp ausgelösten Generationenkonflikt in der Verwaltungsrechtswissenschaft Frieder Günther, Denken vom Staat her – Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, München 2004, S. 257–264. Lehrreich zu den von Jesch und Rupp verwendeten Strategien, um sich von den tradierten Anschauungen des Fachs zu lösen Christian Bumke, Die Entwicklung der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Methodik in

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Das Weimarer Erbe war dagegen vor allem ein theoretisches Erbe, an das die bundesrepublikanischen Schüler von Rudolf Smend und Carl Schmitt ab den späten 1950er/frühen 1960er Jahren anknüpften, allen voran der Smend-Schüler Konrad Hesse und der Schmitt-Schüler Ernst-Wolfgang Böckenförde, die wohl prägendsten Figuren der Staatsrechtslehre der 1960er und 1970er Jahre. Hesse und Böckenförde waren zwar schon deshalb wissenschaftliche Antipoden, weil der eine von der Verfassung und der andere vom Staat her dachte.29 Beide einte aber das Bemühen, das antiliberale Erbe ihrer Lehrer – hier die Smend’sche Integrationslehre, dort der Schmitt’sche Dezisionismus – im Zeichen eines demokratischen Verfassungsstaats liberal umzudeuten.30 Zwei Debatten waren für die Verfassungsrechtswissenschaft der 1960er und 1970er Jahre konstitutiv: die Debatte um die Methoden der Verfassungsinterpretation31 und die Debatte um die Notwendigkeit der Unterscheidung von Staat

der Bundesrepublik Deutschland, in: Eberhard Schmidt-Aßmann/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, Baden-Baden 2004, S. 73, 109–111. 29 Die Grundorientierung an der Kategorie »Staat« oder der Kategorie »Verfassung« ist in den beiden maßgeblichen, jeweils von Nicht-Juristen verfassten Studien zur jüngeren Wissenschaftsgeschichte vom öffentlichen Recht das zentrale disziplinformatierende Ordnungsprinzip: Günther, Denken vom Staat her (o. Fn. 28); Verena Frick, Die Staatsrechtslehre im Streit um ihren Gegenstand – Die Staats- und Verfassungsdebatten seit 1979, Tübingen 2018. Es ist indes gerade charakteristisch für die Verfassungsrechtswissenschaft der 1980er Jahre, dass an die Stelle solcher Grundorientierungen die Dominanz einer theorieaversen Dogmatik trat. 30 Zur liberalen Schmitt-Rezeption durch Böckenförde insb. Reinhard Mehring, Zu den neu gesammelten Schriften und Studien Ernst-Wolfgang Böckenfördes, AöR 117 (1992), 449ff.; Christoph Schönberger, Der Indian Summer eines liberalen Etatismus – Ernst-Wolfgang Böckenförde als Verfassungsrichter, in: Hermann-Josef Große Kracht/Klaus Große Kracht (Hrsg.), Religion – Recht – Republik – Studien zu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Paderborn 2014, S. 121, 122–126. Zu den substantiellen Umdeutungen der Smend’schen Integrationslehre durch Hesse und Ehmke: Günther, Denken vom Staat her (o. Fn. 28), S. 165–174. Erhellende entstehungszeitliche Lektüren von Hesses bahnbrechender Antrittsvorlesung finden sich bei Rainer Wahl, Die normative Kraft der Verfassung – Die Antrittsvorlesung Konrad Hesses in ihrem historischen Kontext, in: Julian Krüper/Mehrdad Payandeh/Heiko Sauer (Hrsg.), Konrad Hesses normative Kraft der Verfassung, Tübingen 2019, S. 19ff.; Matthias Jestaedt, »Die normative Kraft der Verfassung« – Eine zeitgebundene Gründungsschrift der Bonner Staatsrechtslehre, in: ebd., S. 63ff. 31 Die wichtigsten Beiträge sind zusammengefasst in: Ralf Dreier/Friedrich Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation – Dokumentation einer Kontroverse, Baden-Baden 1976 (mit Beiträgen von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Ralf Dreier, Horst Ehmke, Ernst Forsthoff, Peter Häberle, Alexander Hollerbach, Martin Kriele, Herbert Krüger, Peter Lerche, Friedrich Müller, Christian Graf von Pestalozza, Peter Schneider). Ferner sind zu nennen: Helmut Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz – Kritik einer Argumentationsfigur des Bundesverfassungsgerichts, Baden-Baden 1973; Bernhard Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, Berlin 1976; Hans-Joachim Koch (Hrsg.), Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht – Über Grenzen von Verfassungs- und Gesetzesbindung, Frankfurt am Main 1977. Resümierender Abschluss der verfassungsrechtlichen Methodendiskussion

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und Gesellschaft unter den Bedingungen eines demokratischen Verfassungsstaats32. Beide Debatten wurden zwar durch die Rechtsprechung des (noch jungen) Bundesverfassungsgerichts angeregt;33 beide Debatten – und das ist für unser Thema entscheidend – hatten aber einen dezidiert nicht-dogmatischen Charakter.34 Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wurden nicht dogmatisch verarbeitet, sondern nur zum Anlass genommen für die Erörterung methodologischer bzw. demokratie- und grundrechtstheoretischer Grundprobleme – darin liegt, wie wir sogleich sehen werden, der wesentliche Unterschied zur Verfassungsrechtswissenschaft der 1980er Jahre. der ersten Nachkriegsjahrzehnte bei Bernhard Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, Der Staat 19 (1980), 73ff. 32 Die wichtigsten Beiträge sind zusammengefasst in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976 (mit Beiträgen von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Martin Drath, Horst Ehmke, Wilhelm Henke, Konrad Hesse, Josef Isensee, Joseph H. Kaiser, Ulrich K. Preuß, Helmut Ridder). Als Debattenbeiträge im weiteren Sinne dürfen gelten: Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft – Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, München 1971; Peter Häberle, Retrospektive Staats(rechts)lehre oder realistische »Gesellschaftslehre«? – Zu Ernst Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß – Materialien zu einer Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft, Berlin 1978. 33 Neben der mit dem Apotheken-Urteil (BVerfGE 7, 377) einsetzenden Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu einer übergreifenden, auch den Gesetzgeber bindenden »Leitregel allen staatlichen Handelns« (BVerfGE 23, 127 [133]), deren frühe theoretische Vermessung das große Verdienst von Peter Lerche ist (Übermass und Verfassungsrecht – Zur Bindung des Gesetzgebers an die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit, Köln u. a. 1961), wirkte vor allem die Wertordnungsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts diskursanregend, denn durch sie wurde einerseits die Frage nach der »richtigen« Methode der Verfassungsinterpretation aufgeworfen und andererseits – in dem Maße, in dem das Bundesverfassungsgericht immer neue objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte entdeckte und entfaltete – das klassisch-liberale, durch abwehrrechtliche Distanz geprägte Verhältnis zwischen Staat und Bürger in Frage gestellt. Zur Entwicklung der Wertordnungsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts statt vieler Horst Dreier, Dimensionen der Grundrechte – Von der Wertordnungsjudikatur zu den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten, in: ders., Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaats, Tübingen 2014, S. 185ff. Zur methodologischen Nachbereitung der Wertordnungsjudikatur in der Staatsrechtslehre Michael Wrase, Die Methoden der Grundrechtsinterpretation, in: Grimm, Vorbereiter (o. Fn. 1), S. 339, 379ff. 34 Vgl. auch Frieder Günther, Wer beeinflusst hier wen? – Die westdeutsche Staatsrechtslehre und das Bundesverfassungsgericht während der 1950er und 1960er Jahre, in: Robert Chr. van Ooyen/Martin H. W. Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl., Wiesbaden 2015, S. 205, 216f., der nach einer eingehenden Analyse des Verhältnisses zwischen Bundesverfassungsgericht und Staatsrechtslehre in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten zu dem Ergebnis kommt: »Als sich in der Staatsrechtslehre zu Beginn der 1960er Jahre innovative Strömungen bemerkbar machten […] entwickelte die Disziplin eine seit 1933 nicht mehr gekannte Breitenwirkung, der sich auch das BVerfG nicht entziehen konnte. […] Der Aufsatz von Schlink ist angesichts dieser Entwicklung also weniger als eine historische Analyse, sondern vielmehr als eine engagierte Gegenwartsbeschreibung der Staatsrechtslehre im Jahre 1989 zu verstehen.«

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Speziell in den 1970er Jahren, als Rüdiger Lautmann die Soziologie schon »vor den Toren der Jurisprudenz«35 wähnte, nahmen einige Verfassungsrechtler – zu nennen sind hier vor allem die späteren Verfassungsrichter Dieter Grimm und Wolfgang Hoffmann-Riem – auch Kontakt zu den Nachbarwissenschaften auf.36 Auf ein wesentliches Anliegen dieser interdisziplinären Offensive – die stärkere Verzahnung von Rechts- und Sozialwissenschaften in Forschung und Lehre – wird später noch zurückzukommen sein. In den 1980er Jahren wurde dann Dogmatik zur dominanten Arbeits- und Denkweise der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft.37 Damit ist freilich weder gesagt, dass nicht auch schon vor 1980 Verfassungsrechtsdogmatik betrieben wurde, noch umgekehrt, dass nach 1980 nur noch dogmatisch gearbeitet wurde. In die 1980er Jahre fallen vielmehr auch bedeutende nicht-dogmatische Forschungsleistungen. Erinnert sei hier nur an Peter Häberles Versuch, die Verfassungslehre als Kulturwissenschaft und die Verfassungsvergleichung als »fünfte« Auslegungsmethode zu etablieren,38 Dieter Grimms Beiträge zur (öf35 Rüdiger Lautmann, Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz – Zur Kooperation der beiden Disziplinen, Stuttgart u. a. 1971. 36 Dieter Grimm (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, 2 Bände, München 1976; Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd. II: Verfassungs- und Verwaltungsrecht, München 1977; ders. (Hrsg.), Sozialwissenschaften im öffentlichen Recht – Fälle und Lösungen für Ausbildung und Praxis, Neuwied 1981. 37 Oliver Lepsius spricht davon, dass »die deutsche Staatsrechtslehre bis weit in die 1970er Jahre keine genuin dogmatische Tradition kennt«: Oliver Lepsius, Problemzugänge und Denktraditionen im öffentlichen Recht, in: Eric Hilgendorf/Helmuth Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, Tübingen 2015, S. 53, 92. Nicht von Dogmatisierung, aber sinnverwandt vom Eintritt in eine »konsolidierende« Phase in den 1980er Jahren sprechen Gärditz, Staatsrechtslehre (o. Fn. 21), 633, 640 sowie Bumke, Entwicklung (o. Fn. 7), 1, 67, 77 mit Fn. 277 (bezogen auf die Grundrechtswissenschaft). Spätere Befunde zur Dominanz der Dogmatik in der Verfassungsrechtswissenschaft etwa bei Heun, Begriff (o. Fn. 9), S. 35, 38; Friedrich Schoch, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Verwaltungsrechtslehre und Staatsrechtslehre, in: Helmuth Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Berlin 2007, S. 177, 192; Walter Pauly, Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Deutschland, in: Armin von Bogdandy/Pedro Cruz Villalón/Peter M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. II: Offene Staatlichkeit, Wissenschaft vom Verfassungsrecht, Heidelberg 2008, § 27 Rn. 14; Michaela Hailbronner, We the Experts – Die geschlossene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, Der Staat 53 (2014), 425; Christoph Möllers, Das Grundgesetz – Geschichte und Inhalt, 2. Aufl., München 2019, S. 97–99; Uwe Volkmann, Die Dogmatisierung des Verfassungsrechts – Überlegungen zur veränderten Kultur juristischer Argumentation, JZ 2020, 965, bes. 968–970. 38 Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Berlin 1982; ders., Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat – Zugleich zur Rechtsvergleichung als »fünfter« Auslegungsmethode, JZ 1989, 913ff. Eine politikwissenschaftliche Würdigung dieses später in zahlreichen weiteren Arbeiten ausgebauten komparativ-kulturwissenschaftlichen Ansatzes findet sich bei Hans Vorländer, »Verfassungskultur« aus politikwissenschaftlicher Perspektive. Prolegomena zu einer Verfassungsrechtswissenschaft als Kulturwissenschaft, in: Robert Chr. van Ooyen/Martin H. W. Möllers (Hrsg.), Verfas-

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fentlich- und privat)rechtlichen Formierung der bürgerlichen Gesellschaft sowie zu Herkunft und Zukunft der Verfassung,39 Helmuth Schulze-Fielitz’ Beobachtung des informalen Verfassungsstaats,40 Horst Dreiers Wiederentdeckung von Hans Kelsen als Rechts- und Demokratietheoretiker,41 Josef Isensees etatistisch radizierte Verhältnisbestimmung von Staat und Verfassung42 oder Robert Alexys prinzipientheoretische Rekonstruktion der Karlsruher Grundrechtsrechtsprechung43. Verfassungsrechtsdogmatik wurde in den 1980er Jahren aber zum kollektiven Denkstil der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft. Darunter versteht Oliver Lepsius in Anlehnung an den lange vergessenen Wissenschaftssoziologen Ludwik Fleck44 eine durch ein Denkkollektiv gemeinschaftlich getragene Grundhaltung des wissenschaftlichen Problemzugriffs: »[W]enn es um Denkstile geht, darf (im Sinne Flecks) der Beitrag Einzelner jedenfalls dann vernachlässigt werden, wenn er am Ende für die Art und Weise, wie Forschung kollektiv betrieben wird, nicht relevant geworden ist.«45

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sungs-Kultur – Staat, Europa und pluralistische Gesellschaft bei Peter Häberle, Baden-Baden 2016, S. 27ff. Die Beiträge sind zusammengefasst in: Dieter Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1987 sowie in: ders., Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt am Main 1991. Zu Grimms Staats- und Verfassungsdenken siehe jetzt die Beiträge in Lars Viellechner (Hrsg.), Demokratischer Konstitutionalismus – Dieter Grimms Verständnis von Staat und Verfassung, Baden-Baden 2021. Helmuth Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat – Aktuelle Beobachtungen des Verfassungslebens der Bundesrepublik Deutschland im Lichte der Verfassungstheorie, Berlin 1984; siehe auch ders., Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung – besonders des 9. Deutschen Bundestages (1980–1983), Berlin 1988. Horst Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, Baden-Baden 1986 (2. Aufl. 1990). Dazu rückblickend ders., Die (Wieder-)Entdeckung Kelsens in den 1980er Jahren – Ein Rückblick (auch in eigener Sache), in: Matthias Jestaedt (Hrsg.), Hans Kelsen und die deutsche Staatsrechtslehre – Stationen eines wechselvollen Verhältnisses, Tübingen 2013, S. 175, bes. 183ff. Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I: Grundlagen von Staat und Verfassung, Heidelberg 1987, § 13. Zum Handbuch des Staatsrechts näher unten IV.1. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden 1985 (8. Aufl., Berlin 2018). Freilich ist von Alexys Prinzipientheorie – zur hiesigen Deutung der 1980er Jahre passend – gesagt worden, sie habe eine »nachgerade prononciert verfassungsgerichtspositivistische Ausrichtung«: Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz – Studien zur Interdependenz von Grundrechtsdogmatik und Rechtsgewinnungstheorie, Tübingen 1999, S. 217; gleiche Einschätzung bei Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 3. Aufl., Tübingen 2013, vor Art. 1 GG Rn. 79. Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache – Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung herausgegeben von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt am Main 1980. Lepsius, Problemzugänge (o. Fn. 37), S. 53, 61.

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Kennzeichen verfassungsrechtsdogmatischen Arbeitens unter dem Grundgesetz

Drei Eigenschaften kennzeichnen die Verfassungsrechtsdogmatik als kollektiven Denkstil der Verfassungsrechtswissenschaft: rechtsprechungsorientierte Systembildung (1.), nationale und disziplinäre Introvertiertheit (2.) sowie Entkontextualisierung (3.).

3.1

Rechtsprechungsorientierte Systembildung

Wenn es so etwas gibt wie einen Kern aller rechtswissenschaftlichen46 Dogmatiken, dann den Anspruch auf Bildung eines in sich konsistenten, materiell verstandenen Systems aus Aussagen und Begriffen, Figuren und Prinzipien, kurz: auf Systematisierung des kontingenten Rechtsstoffs.47 Auch dort, wo Dogmatik – etwa an einer gerichtlichen Entscheidung – Kritik übt, argumentiert sie stets aus der Perspektive eines Teilnehmers an dem gemeinsam mit der Rechtspraxis geführten dogmatischen Diskurs, nicht dagegen aus der (systemexternen) Perspektive eines Diskursbeobachters.48 Maßstab dogmatischer Kritik an Gerichtsentscheidungen ist deren »Systemgerechtigkeit«. Ein anschauliches Beispiel dafür sind die Anfang der 2000er Jahre ergangenen, das staatliche Informationshandeln betreffenden Entscheidungen in den Sachen »Glykol«49 und »Osho«50, mit denen das Bundesverfassungsgericht die in den 1980er Jahren kanonisierten Pfade der Grundrechtsprüfung (s. u.) zu verlassen schien, und sich

46 Erhellender Vergleich zwischen theologischer und juristischer Dogmatik bei Philipp Sahm, Elemente der Dogmatik, Weilerwist 2019. 47 Guter Überblick über gängige Dogmatikdefinitionen bei Christian Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, in: Kirchhof/Magen/Schneider, Dogmatik (o. Fn. 5), S. 17, 21–28. Zum Systemanspruch der Dogmatik affirmativ Wolfgang Kahl, Wissenschaft, Praxis und Dogmatik im Verwaltungsrecht, Tübingen 2020, S. 72–74; kritisch Lepsius, Problemzugänge (o. Fn. 37), S. 53, 65f. 48 Vgl. Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsdogmatik, in: ders./ Ulfrid Neumann/Frank Saliger (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 9. Aufl., Heidelberg 2016, S. 1. Zur Rechtsdogmatik als gemeinsamen Kommunikationsformat von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis Matthias Jestaedt, Wissenschaftliches Recht – Rechtsdogmatik als gemeinsames Kommunikationsformat von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, in: Kirchhof/Magen/Schneider, Dogmatik (o. Fn. 5), S. 117, 127–130. Zur Einnahme der Teilnehmerperspektive als notwendiger Bedingung dogmatischer Aussagen Stark, Interdisziplinarität (o. Fn. 6), S. 60–66. 49 BVerfGE 105, 252. 50 BVerfGE 105, 279.

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gerade dafür Kritik aus der Verfassungsrechtswissenschaft gefallen lassen musste.51 Damit ist zugleich ein zweites Charakteristikum der bundesrepublikanischen Verfassungsrechtsdogmatik angesprochen: ihre ausgeprägte und auf das Bundesverfassungsgericht bezogene Rechtsprechungsorientierung.52 Das Verfassungsrecht wurde lange primär aus der (notwendig begrenzten) Kontrollperspektive des Bundesverfassungsgerichts wahrgenommen, mal als Vorbereiter, bald immer häufiger als Nachbereiter gerichtlicher Entscheidungen. Weil Verfassungsrechtsprechung in der Bundesrepublik vor allem Grundrechtsrechtsprechung heißt, ist auch die Verfassungsrechtswissenschaft ganz überwiegend zu einer Grundrechtswissenschaft geworden.53 Das in geringerem Maße rechtsprechungsdurchwirkte Staatsorganisationsrecht erfuhr demgegenüber deutlich weniger Aufmerksamkeit.54

3.2

Nationale und disziplinäre Introvertiertheit

Zweitens zeichnete sich gerade die in den 1980er Jahren vorherrschende Verfassungsrechtsdogmatik durch eine nationale und disziplinäre Introvertiertheit aus.55 Nationale Introvertiertheit bedeutet erstens, dass sich die Verfassungsrechtsdogmatik gegenüber verfassungsvergleichenden Perspektiven weitgehend abschottete, worauf gleich noch näher einzugehen sein wird. Nationale Introvertiertheit bedeutet zweitens, dass sich die große Mehrheit der Verfassungsrechtler bis weit in die 1990er Jahre hinein kaum näher mit dem europäischen Integrationsprozess beschäftigt hat. Europa(verfassungs)recht war 51 Die Diskussion ist aufgearbeitet bei Wolfgang Kahl, Vom weiten Schutzbereich zum engen Gewährleistungsgehalt – Kritik einer neuen Richtung der deutschen Grundrechtsdogmatik, Der Staat 43 (2004), 167ff. 52 Dazu etwa Helmuth Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Mikrokosmos – Eine einleitende Vorbemerkung, in: ders., Staatsrechtslehre (o. Fn. 20), S. 3, 16–20. Allgemein zum ausgeprägten Praxisbezug der Dogmatik Horst Dreier, Rechtswissenschaft als Beruf – Zehn Thesen, in: ders. (Hrsg.), Rechtswissenschaft als Beruf, Tübingen 2018, S. 1, 45–50. 53 Dafür ist bezeichnend, dass sich in dem 1994 publizierten Sammelband »Rechtswissenschaft in der Bonner Republik« kein Beitrag zur Verfassungsrechtswissenschaft insgesamt, sondern nur ein Beitrag zur Grundrechtswissenschaft findet: Schmidt, Grundrechte (o. Fn. 3). 54 Näher Christoph Schönberger, Der »German Approach« – Die deutsche Staatsrechtslehre im Wissenschaftsvergleich, Tübingen 2015, S. 32–37. Dafür ist bezeichnend, dass die erste systematische Theorie des in vielerlei Hinsicht eigentümlichen bundesrepublikanischen Regierungssystems erst 2019 vorgelegt wurde: Florian Meinel, Selbstorganisation des parlamentarischen Regierungssystems – Vergleichende Studien zu einem Verfassungsproblem der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 2019; siehe auch ders., Vertrauensfrage – Zur Krise des heutigen Parlamentarismus, München 2019. 55 Zu beiden Aspekten Schönberger, »German Approach« (o. Fn. 54), S. 38–44.

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auch in den 1980er Jahren noch eine gleichsam exotische Angelegenheit von wenigen Spezialisten.56 Nur wenige im Fach anerkannte Staatsrechtslehrer – wie allen voran der Hamburger Staatsrecht-Nestor Hans Peter Ipsen – bemühten sich darum, die dynamischen Entwicklungen im längst von dessen völkerrechtlichen Wurzeln emanzipierten Europarecht in den verfassungsrechtlichen Mainstream zu vermitteln.57 Den allermeisten Verfassungsrechtlern blieb die staats- und verfassungstheoretische Brisanz der eher schubartig als schrittweise verlaufenden Integration in die Europäische Gemeinschaft jedoch verborgen – und das obwohl der EuGH die Verträge bereits in den 1960er Jahren konstitutionalisiert hatte58 und seit 1986 auch ganz offen von der »Verfassungsurkunde der Gemeinschaft«59 sprach. Weder diese semantische Kühnheit des EuGH noch das Schengener Abkommen von 1985 oder die Einheitliche Europäische Akte von 1987, mit der – in demokratisch durchaus heikler Weise – erstmals das Einstimmigkeitsprinzip im Rat aufgegeben wurde,60 fanden in der damaligen Verfassungsrechtswissenschaft nennenswerte Resonanz.61 Auch die europaverfassungsrechtliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus den 1980er Jahren wurde kaum beachtet; das gilt selbst für die 1986 ergangene Solange IIEntscheidung, in der das Bundesverfassungsgericht folgenreich erklärte, seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht fortan nicht mehr auszuüben.62 56 Zur allmählichen Emanzipation der Europarechtswissenschaft zu einer eigenständigen öffentlich-rechtlichen Disziplin Michael Stolleis, Europa als Vorstellung und Arbeitsgebiet der westdeutschen Staatsrechtslehre nach 1945 (2010), in: ders., Aufsätze (o. Fn. 14), S. 739ff. 57 Siehe etwa Hans-Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht in Einzelstudien, BadenBaden 1984. Zu den beklemmenden NS-Kontinuitäten in Ipsens technokratischer Europarechtskonzeption Anna Katharina Mangold, Hans Peter Ipsen: Ein technokratischer Meister der Begriffsprägung, in: Kremer, Verwaltungsrechtswissenschaft (o. Fn. 26), S. 177, 185–196. 58 EuGH, Urt. v. 5. 2. 1963 – Rs. 26/62 (van Gend & Loos) – Slg. 1963, 1; EuGH, Urt. v. 15. 7. 1964 – Rs. 6/64 (Costa/ENEL) – Slg. 1964, 1251. Rückblickend zur Rechtsprechung des EuGH als Ursache der Konstitutionalisierung der Verträge Dieter Grimm, Die demokratischen Kosten der Konstitutionalisierung – Der Fall Europa, in: ders., Europa ja – aber welches? – Zur Verfassung der europäischen Demokratie, 3. Aufl., München 2016, S. 95, 104–108. 59 EuGH, Urt. v. 23. 04. 1986 – Rs. 294/83 (Les Verts) – Slg. 1986, 1339 Rn. 23. 60 Dieter Grimm erblickt darin – allerdings im Abstand eines Vierteljahrhunderts – den »Beginn des europäischen Demokratieproblems«: Dieter Grimm, Europa (Fn. 58), S. 9, 19. Allgemein zur Integrationsgeschichte der 1980er Jahre etwa Frank Schorkopf, Der Europäische Weg – Geschichte und Gegenwart der Europäischen Union, 3. Aufl., Tübingen 2020, S. 22ff. 61 Durch die systematische Auswertung juristischer Fachzeitschriften empirisch nachgewiesen bei Anna Katharina Mangold, Gemeinschaftsrecht und deutsches Recht – Die Europäisierung der deutschen Rechtsordnung in historisch-empirischer Sicht, Tübingen 2011, S. 217ff. 62 BVerfGE 73, 339. Der zwölf Jahre vorher ergangene Solange I-Beschluss (BVerfGE 37, 271) war dagegen deutlich intensiver rezipiert worden: Mangold, Gemeinschaftsrecht (o. Fn. 61), S. 205–208, 217.

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Disziplinäre Introvertiertheit bedeutet, dass verfassungsrechtsdogmatisch ausgerichtete Arbeiten ganz überwiegend auf die Heranziehung nachbarwissenschaftlicher Erkenntnisse verzichten.63 Dogmatik ist die einzige rechtswissenschaftliche Disziplin, die Rechtswissenschaftler konkurrenzlos betreiben können. Für die sogenannten Grundlagendisziplinen gilt das nicht: In der Rechtsgeschichte konkurrieren Juristen mit Historikern, in der Rechtsphilosophie mit Philosophen und in der Rechtssoziologie mit Soziologen. Bezogen auf die spezifisch verfassungsrechtlichen Grundlagendisziplinen (Allgemeine Staatslehre, Verfassungstheorie, Verfassungsvergleichung) trat für die bundesrepublikanische Verfassungsrechtswissenschaft in dem Maße, in dem sich die Politikwissenschaft nach 1945 disziplinär emanzipieren konnte, eine neuartige Konkurrenz mit Politikwissenschaftlern hinzu. Auch darauf wird zurückzukommen sein.

3.3

Entkontextualisierung

Drittens – und eng mit dem Anspruch auf Systembildung verbunden – wohnt der Verfassungsrechtsdogmatik eine Tendenz zur Entkontextualisierung inne.64 Denn Systembildung setzt als notwendigen Zwischenschritt Abstrahierung voraus, und zwar in einem doppelten Sinne: erstens Abstrahierung von dem konkreten, zuständigkeitsauslösenden Sachverhalt und zweitens Abstrahierung von dem breiteren politisch-sozialen Kontext, in dem die Entscheidung steht. Zumal im ubiquitären Modus des Kommentierens einzelner Grundgesetz-Artikel verarbeitet die Verfassungsrechtswissenschaft typischerweise nur den sog. Maßstäbeteil einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung, also den Teil der gerichtlichen Begründetheitsprüfung, in dem das Bundesverfassungsgericht ohne Bezug auf den konkreten Fall abstrakt-generelle Interpretationsmaßstäbe aufstellt.65 Ein Beispiel für die sachverhaltsbezogene Entkontextualisierung ist die wissenschaftliche Verarbeitung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verfassungsgebot der »Folgerichtigkeit« gesetzgeberischer Entscheidungen. 63 Zum – in den 1980er Jahren freilich kaum genutzten – interdisziplinären Potential der Rechtsdogmatik jetzt grundlegend Stark, Interdisziplinarität (o. Fn. 6), Teil 3. 64 Näher Oliver Lepsius, Was kann die deutsche Staatsrechtslehre von der amerikanischen Rechtswissenschaft lernen?, in: Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre (Fn. 37), S. 319, 354–361; zum triadischen modus operandi der Dogmatik aus abstrahierender Dekontextualisierung, systematischer Konsistenzialisierung sowie deduktiv-applikativer Konkretisierung Jestaedt, Recht (o. Fn. 48), S. 117, 125f. 65 Zur Technik der Maßstabsbildung (»C.I.«) und deren legitimatorischen Problemen Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht – Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, Berlin 2011, S. 159ff.

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Obwohl das Bundesverfassungsgericht das Folgerichtigkeitsgebot zunächst nur zur Behebung eines spezifischen Rechtsschutzdefizits im Steuerrecht entwickelt hatte, wurde es in der verfassungsrechtlichen Literatur rasch aus seinem steuerrechtlichen Ursprungskontext gelöst und zu einem übergreifenden Verfassungsprinzip generalisiert.66 Ein Beispiel für die politisch-soziale Entkontextualisierung ist die wissenschaftliche Rezeption des Apothekenurteils aus 1958,67 das in der verfassungsrechtlichen Literatur vor allem als Leitentscheidung zu einem Einzelgrundrecht, nämlich der Berufsfreiheit, rezipiert wird. Dass das Bundesverfassungsgericht mit dem Apothekenurteil indes nicht nur erstmals in seiner Geschichte mit der Grundrechtsbindung des Gesetzesgebers Ernst machte, sondern auch echte Wirtschaftspolitik betrieb, indem es dem in der frühen Bundesrepublik verbreiteten Modell der staatlichen Wirtschaftslenkung ein jähes verfassungsrechtliches Ende bereitete und stattdessen die Gewerbefreiheit unter grundrechtlichen Schutz stellte, geriet in der auf den Maßstäbeteil der Entscheidung fixierten wissenschaftlichen Rezeption schnell aus dem Blickfeld.68

4

Erscheinungsformen der Dogmatisierung

Die Dogmatisierung der Verfassungsrechtswissenschaft manifestierte sich in der von ihr produzierten Literatur, in Qualifikationsschriften ebenso wie in Aufsätzen, in Kommentaren ebenso wie in Lehr- und Handbüchern. Es ist hier nicht der Ort, die gesamte verfassungsrechtliche Literatur der 1980er Jahre im Hinblick auf ihren Dogmatikgehalt zu untersuchen. Wer aber die in den 1980er Jahren etwa in Archivzeitschriften oder auf den Staatsrechtslehrertagungen behandelten Themen mit den prägenden Diskussionsgegenständen der Vorjahrzehnte vergleicht, wird feststellen, dass sich das Mischungsverhältnis zwischen dogmatischen und nicht-dogmatischen Beiträgen zugunsten der Dogmatik verändert hat. Dass eine streng dogmatische Arbeitsweise dem wissenschaftlichen Zeitgeist entsprach, kommt besonders plastisch in der Einleitung zu Gertrude LübbeWolffs 1988 erschienener Habilitationsschrift zum Ausdruck: »Während die Grundrechtstheorie in den vergangenen Jahren an einer Überproduktionskrise litt, wird die Nachfrage nach Grundrechtsdogmatik noch immer unzureichend befriedigt. Daß die Wissenschaft auf sich häufende Probleme im Umgang mit 66 Näher Oliver Lepsius, Kontextualisierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft, JZ 2019, 793, 798. 67 BVerfGE 7, 377. 68 Zur gewaltenteilungstheoretischen wie wirtschaftsgeschichtlichen Bedeutung des Apothekenurteils jetzt eingehend und archivgestützt Fabian Michl, Das Sondervotum zum Apothekenurteil – Edition aus den Akten des Bundesverfassungsgerichts, JöR n. F. 68 (2020), 323ff.

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dem traditionellen Handwerkszeug zunächst mit verstärkter Bemühung um das ›Grundsätzliche‹, um ein adäquates allgemeines Verständnis von Sinn und Funktion der Grundrechte reagiert, ist normal und notwendig. Dogmatischer Zugewinn ist davon allerdings nur zu erwarten, wenn die Bearbeitung der Grundsatzfragen in enger Verbindung mit den dogmatischen Alltagsproblemen der Praxis bleibt. […] Die festgestellte dogmatische Insuffizienz der üblichen grundrechtstheoretischen Systematisierungen wird sich mit rein grundrechtstheoretischen Überlegungen auch nicht beheben lassen. Wer wissen will, ob, wo und wie der in der Grundrechtstheorie reflektierte Wandel des traditionellen Grundrechtsverständnisses sich auf die dogmatischen Regeln der Fallbearbeitung auswirkt, muß zu grundrechtsdogmatischen Untersuchungen übergehen.«69 [Hervorhebung i. O.]

Auch Ernst-Wolfgang Böckenförde wurde vom dogmatischen Zeitgeist erfasst. Behandelte Böckenförde 1974 noch »Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation«70, analysierte er 16 Jahre später die »gegenwärtige Lage der Grundrechtsdogmatik«71. In den 1980er Jahren machte sich bei Böckenförde allerdings nicht nur eine terminologische, sondern auch eine konzeptionelle Wende bemerkbar. 1983 – und damit wohl nicht zufällig in dem Jahr, in dem er zum Bundesverfassungsrichter gewählt wurde (s. u.) – qualifizierte er die Staatsrechtswissenschaft als eine dogmatische Wissenschaft, deren Aufgabe es sei, »vermittels eines innersystematisch erarbeiteten Gefüges juristischer Begriffe, Grundsätze und Entscheidungsregeln eine überblickbare Erkenntnis, Zusammenfassung und praktische Handhabung des geltenden Staatsrechts« zu ermöglichen.72 Mit der systematischen Entfaltung des grundgesetzlichen Demokratieprinzips zu einem Legitimationskettenmodell ist die am stärksten rezipierte wissenschaftliche Leistung Böckenfördes aus den 80er Jahren denn auch konsequenterweise eine genuin dogmatische Leistung.73 So aufschlussreich solche individuellen Beobachtungen sind, soll es im Folgenden doch um etwas anderes gehen, nämlich um die Ermittlung und Analyse derjenigen Erscheinungsformen der Dogmatisierung, in denen gerade die kollektive Natur der Denkstilumwandlung der 1980er Jahre zum Ausdruck kommt. Dazu zählen: die Zunahme an anwendungsorientierter juristischer Literatur (1.),

69 Gertrude Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte – Struktur und Reichweite der Eingriffsdogmatik im Bereich staatlicher Leistungen, Baden-Baden 1988, S. 13, 20f. 70 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, 1529ff. 71 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen – Zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtsdogmatik, Der Staat 29 (1990), 1ff. Die terminologische Wende wurde bereits beobachtet von Schmidt, Grundrechte (o. Fn. 3), S. 210. 72 Böckenförde, Eigenart (o. Fn. 9), S. 317, 325. 73 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof, HdStR I (o. Fn. 42), § 22.

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die Kanonisierung der Grundrechtsprüfung (2.) sowie der Bedeutungsschwund der konstitutionellen Grundlagendisziplinen (3.).

4.1

Zunahme an anwendungsorientierter juristischer Literatur

a) Die vielleicht offensichtlichste Erscheinungsform der Dogmatisierung ist die Zunahme an anwendungsorientierter juristischer Literatur. Darunter soll hier in einem dezidiert nicht-despektierlichen Sinne solche juristische Literatur verstanden werden, die sich nicht vorrangig an die scientific community richtet, sondern entweder an Jurastudierende oder an juristische Praktiker. Zur anwendungsorientierten Literatur zählen also in erster Linie Lehrbücher und Kommentare sowie eingeschränkt auch Handbücher. Im Rückblick erscheinen die 1980er Jahre vor allem als das Jahrzehnt, in dem die Gattung Lehrbuch einen regelrechten Boom erlebte. Viele der noch heute gebräuchlichen Lehrbücher des Staats- und Verfassungsrechts sind erstmals in den 1980er Jahren erschienen, darunter die Lehrbücher von Peter Badura,74 Ulrich Battis/Christoph Gusy,75 Christoph Degenhart,76 Jörn Ipsen77 und Bodo Pieroth/Bernhard Schlink78. Nun gab es natürlich auch schon vor 1980 verfassungsrechtliche Lehrbücher. Bereits 1951 ist das Lehrbuch von Theodor Maunz erschienen,79 das bis zur Erstauflage von Konrad Hesses »Grundzügen des Verfassungsrechts«80 (1967) praktisch konkurrenzlos blieb. In den Folgejahren kamen einige weitere verfassungsrechtliche Lehrbücher auf den Markt: 1968 das Lehrbuch von Ekkehart

74 Peter Badura, Staatsrecht – Systematische Erläuterung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, München 1986 (7. Aufl. 2018). 75 Ulrich Battis/Christoph Gusy, Einführung in das Staatsrecht, Heidelberg 1981 (6. Aufl., Berlin/Boston 2018). 76 Christoph Degenhart, Staatszielbestimmungen, Staatsorgane, Staatsfunktionen, Heidelberg 1984 (36. Aufl. 2020). 77 Jörn Ipsen, Staatsorganisationsrecht, Frankfurt am Main 1986 (32. Aufl., München 2020). 78 Bodo Pieroth/Bernhard Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, Heidelberg 1985 (in der mittlerweile 36. Aufl. 2020 fortgeführt von Thorsten Kingreen/Ralf Poscher). 79 Theodor Maunz, Deutsches Staatsrecht – Ein Studienbuch, München 1951 (in der mittlerweile 33. Aufl. 2018 fortgeführt von Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger). 80 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe 1967 (20. Aufl., Heidelberg 1995). Würdigungen finden sich unter anderem bei Ignacio Gutiérrez Gutiérrez, Zur Entstehung, Rezeption und Fortgeltung von Konrad Hesses Verfassungslehre, JöR n. F. 64 (2016), 643ff.; Peter Häberle, Konrad Hesse (1919– 2005), in: ders./Michael Kilian/Heinrich Wolff (Hrsg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts – Deutschland – Österreich – Schweiz, 2. Aufl., Berlin/Boston 2018, S. 1039, 1042–1047; Alexander Hollerbach, Öffentliches Recht an der Universität Freiburg in der frühen Nachkriegszeit – Aus Anlaß des 100. Geburtstages von Konrad Hesse am 29. Januar 2019, Tübingen 2019, S. 101–107.

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Stein,81 1976 das Lehrbuch von Karl Doehring82 und 1973/1979 das auf zwei Bände angelegte Lehrbuch von Erhard Denninger83. 1985 erschien dann das nicht mehr dem gesamten Verfassungsrecht, sondern nur noch den Grundrechten gewidmete Lehrbuch von Bodo Pieroth und Bernhard Schlink, das zu einem echten juristischen Beststeller avancieren sollte. Die Geschichte der bundesrepublikanischen Verfassungsrechtswissenschaft lässt sich auch im Spiegel dieser Lehrbücher erzählen.84 Das Lehrbuch von Maunz – »der staatsrechtliche VW-Käfer der frühen Bundesrepublik«85 – atmet den betont nüchternen Geist der 1950er Jahre, verzichtet auf jede theoretische Fundierung, erschöpft sich stattdessen in Deskription und trägt insgesamt eher volkshochschulhafte Züge.86 Der Kontrast zu Hesses Grundzügen, die einem spezifischen, nämlich pluralistisch-integrativen Verfassungsverständnis verpflichtet sind, könnte kaum größer sein. Herzstück der »Grundzüge« sind die beiden ersten, konzeptionell angelegten Kapitel, in denen Hesse sein nicht nur an Rudolf Smend und Hermann Heller, sondern auch an den Schweizer Staatsrechtslehrern Richard Bäumlin und Werner Kägi geschultes Verfassungsverständnis expliziert und eine an Hans-Georg Gadamers Philosophischer Hermeneutik orientierte Interpretationslehre entwirft, die den rechtsschöpferischen Vorgang der »Konkretisierung« zum Zentralbegriff hat.87 Auch die weiteren in den 1960er und 1970er Jahren erschienenen Lehrbücher zeichnen sich durch konzeptionelle Originalität aus. So begnügt sich Steins Lehrbuch gerade »nicht mit der Darstellung des Inhalts des Grundgesetzes und der hierzu ergangenen Gerichtsentscheidungen«, sondern will vor allem – ganz im Geiste seines Lehrers Helmut Ridder – zur »Klärung der Wechselwirkungen

81 Ekkehart Stein, Staatsrecht, Tübingen 1968 (in der mittlerweile 21. Aufl. 2010 fortgeführt von Götz Frank). 82 Karl Doehring, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsvergleichung und des Völkerrechts, Frankfurt am Main 1976 (3. Aufl. 1984). 83 Erhard Denninger, Staatsrecht – Einführung in die Grundprobleme des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1: Die Leitbilder: Leerformeln? Lügen? Legitimationen?, Reinbek bei Hamburg 1973; Bd. 2: Funktionen und Institutionen, Reinbek bei Hamburg 1979. 84 Für die Zeit bis 1980: Hans Peter Ipsen, Deutsche Staatsrechtswissenschaft im Spiegel der Lehrbücher, AöR 106 (1981), 161ff. 85 So Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Vierter Band: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in West und Ost 1945–1990, S. 488. 86 Ähnliche Charakterisierung bei Christoph Möllers/Hannah Birkenkötter, Towards a new conceptualism in comparative constitutional law, or reviving the German tradition of the Lehrbuch, I•CON 12 (2014), 603, 613f., die den Erfolg des Maunz’schen Lehrbuchs gerade auf dessen Theorieaversion zurückführen. 87 Zur Adaption der Philosophischen Hermeneutik durch die (verfassungs-)juristische Methodenlehre Jestaedt, Grundrechtsentfaltung (o. Fn. 43), S. 141ff.

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von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit« beitragen.88 Doehrings Lehrbuch besticht und beeindruckt durch eine fast 40-seitige Offenlegung und Explikation seines verfassungsrechtlichen Vorverständnisses. Denninger schließlich will dadurch »Verständnis und Interesse für die Eigenart der rechtlichen Grundordnung unseres staatlichen Lebens«89 wecken, dass er statt einer vollständigen Darstellung des Stoffs einen problemorientieren Zugriff wählt und zum Beispiel das normative Potential des Pluralismusbegriffs erörtert. So unterschiedlich diese Lehrbücher im Einzelnen sind, haben sie doch eines gemeinsam: Sie erschöpfen sich nicht in Bundesverfassungsgerichtspositivismus, sondern wahren auf ihre je eigene Weise konzeptionelle Distanz. Konnte Hesse die Darstellung der einzelnen Grundrechte 1967 noch auf knapp 30 Seiten beschränken, nahm deren Erörterung 18 Jahre später im Lehrbuch von Pieroth/Schlink bereits 200 Seiten ein. Im Mittelpunkt des Lehrbuchs steht, wie es in der Einführung heißt, »eine an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts orientierte Herleitung und Begründung der wichtigen Begriffe und dogmatischen Figuren«90. Das Lehrbuch von Pieroth/Schlink ist in vierfacher Hinsicht charakteristisch für die Lehrbuchliteratur der (zweiten Hälfte der) 1980er Jahre: erstens in der Orientierung an der Falllösungstechnik, zweitens in der Beschränkung der Darstellung entweder auf den grundrechtlichen oder auf den staatsorganisationsrechtlichen Teil des Grundgesetzes, drittens in der expliziten Trennung von allgemeinen Grundrechtslehren und einzelgrundrechtlichen Erörterungen sowie viertens in der Beendigung der Methodendiskussion der 1960er und 1970er Jahre durch die Rückkehr zu den klassischen Auslegungsmethoden.91 Programmatisch heißt es dazu: »Nun wird aber gerade über das Methodenproblem im Verfassungsrecht wie im Recht insgesamt viel gestritten. Eine Übereinstimmung, welche festen Regeln die Auslegung leiten sollen, ist nur ansatzweise erkennbar […] Das verschafft den sog. klassischen Auslegungsmethoden ihre fortdauernde Berechtigung«92.

b) Die 1980er Jahre waren indes nicht nur ein Lehrbuch-, sondern auch ein Handbuchjahrzehnt.93 1983 erschien das vom »Dreiparteiengestirn«94 Ernst 88 89 90 91 92 93

Stein, Staatsrecht (o. Fn. 81), Vorwort zur 3. Aufl. 1973. Denninger, Staatsrecht 1 (o. Fn. 83), Vorwort. Pieroth/Schlink, Grundrechte (o. Fn. 78), Rn. 1. Zum Wandel der Lehrbuchliteratur auch Stolleis, Geschichte IV (o. Fn. 85), S. 535f. Pieroth/Schlink, Grundrechte (o. Fn. 78), Rn. 9. Ausgeklammert bleibt hier das irgendwo zwischen Lehr- und Handbuch angesiedelte »Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland« des Kölner Staatsrechtslehrers Klaus Stern, dessen fünf Bände zwischen 1977 und 2000 erschienen sind. Vermerkt werden soll allerdings, dass Stern den allgemeinen Grundrechtslehren – und damit einem genuin dogmatischen Thema – allein zwei Halbbände im Umfang von beinahe 4000 Seiten (!) gewidmet hat. 94 So Stolleis, Geschichte IV (o. Fn. 85), S. 531.

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Benda, Werner Maihofer und Hans-Jochen Vogel herausgegebene »Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland«95. Schon die ungewöhnliche Zusammensetzung des Herausgeberkreises deutet darauf hin, dass, wie es im Vorwort heißt, nicht etwa eine »fachwissenschaftlich-systematische Darstellung des geltenden Verfassungsrechts« angestrebt wird, sondern dass das »Hauptgewicht auf den Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes und auf Problemkreisen [liegt], von denen zu erwarten ist, daß sie in naher Zukunft die verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Diskussion beherrschen werden«. Das Handbuch verstand sich in erster Linie als ein Beitrag zur Vergewisserung des brüchig gewordenen Verfassungskonsenses (s. u.). Der Eigenart dieser Aufgabe entsprach ein heterogener Autorenkreis, der sich nicht nur durch politisch-weltanschauliche Pluralität auszeichnete, sondern auch durch die Mitwirkung eines Politologen (Thomas Ellwein), eines Kommunikationswissenschaftler (Peter Glotz) sowie vieler politische Praktiker. Vier Jahre später, 1987, erschien der erste des auf sieben Bände angelegten »Handbuchs des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland«96, an dem weit über hundert Staatsrechtslehrer mitwirkten. Es ist oft – und mit Recht – betont worden, dass es sich beim »Isensee/Kirchhof« um ein konservativ-katholisches Gegenprojekt zum Handbuch des Verfassungsrechts handelte.97 Viele Beiträge kennzeichnet in der Tat ein gemäßigt-etatistischer Grundzug, der vor allem darin besteht, im Staat eine Verfassungsvoraussetzung zu erblicken.98 Dabei sollte jedoch nicht übersehen werden, dass das Handbuch des Staatsrechts auch in konzeptioneller Hinsicht als Gegenprojekt zum Handbuch des Verfassungsrechts anzusehen ist. Denn an die Stelle eines interdisziplinär-problemorientierten Zugriffs trat der Anspruch auf »methodische Homogenität und enzyklopädische Vollständigkeit«99. Dass die allermeisten Beiträge im Isensee/ Kirchhof auf die Heranziehung nachbarwissenschaftlicher Erkenntnisse und die Berücksichtigung verfassungsvergleichender Perspektiven verzichteten, lag auch daran, dass sich der Autorenkreis ausschließlich aus Staatsrechtslehrern an deutschen Universitäten rekrutierte. Autoren- und Adressatenkreis waren weitgehend identisch. Die nationale und disziplinäre Introvertiertheit der Verfas-

95 Ernst Benda/Werner Maihofer/Hans-Jochen Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Berlin/New York 1984 (2. Aufl. 1994). 96 Isensee/Kirchhof, HdStR I (o. Fn. 42). Für eine umfassende Würdigung siehe Helmuth Schulze-Fielitz, Grundsatzkontroversen in der deutschen Staatsrechtslehre nach 50 Jahren Grundgesetz in der Beleuchtung des Handbuchs des Staatsrechts, in: ders., Staatsrechtslehre (o. Fn. 20), S. 255ff. 97 Etwa bei Stolleis, Geschichte IV (o. Fn. 85), S. 531. 98 Dazu kritisch Christoph Möllers, Staat als Argument, 2. Aufl., Tübingen 2011, S. 260–271. 99 Möllers, Leviathan (o. Fn. 24), S. 64.

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sungsrechtswissenschaft der 1980er Jahre – nirgendwo wurde sie so deutlich wie im Handbuch des Staatsrechts. c) Ein Kommentar-Jahrzehnt waren die 1980er Jahre nicht. Anders als an Lehrbuch- und Handbuchliteratur herrschte an Kommentarliteratur zum Grundgesetz freilich auch kein Mangel.100 Soweit ersichtlich, sind in den 1980er Jahre nur zwei Grundgesetz-Kommentare erstaufgelegt worden: 1984 der »Alternativkommentar« zum Grundgesetz101 und 1989 der Kurzkommentar von Hans Jarass und Bodo Pieroth102. In beiden manifestiert sich die Denkstilumwandung im Laufe der 1980er Jahre auf charakteristische Weise. Stellte der durch eine ganze Reihe prominenter linker Verfassungsrechtler (u. a. Erhard Denninger, Ulrich K. Preuß, Helmut Ridder) bearbeitete Alternativkommentar ausweichlich seines Vorworts noch den »neuartigen Versuch« dar, im »Kampf um das Recht« durch die Verschmelzung von Rechts- und Sozialwissenschaften sowie durch die Aufdeckung der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Implikationen der Verfassungsinterpretation auch andere Stimmen als bisher zu Gehör kommen zu lassen, heißt es im Vorwort zum Jarass/Pieroth ebenso lapidar wie bezeichnend: »Er [der vorliegende Kommentar; J.P.] präsentiert in komprimierter Form die (vollständig ausgewertete) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der anderen obersten Bundesgerichte zum Grundgesetz. Das Schrifttum ist demgegenüber nur begrenzt berücksichtigt […] Die Stoffauswahl orientiert sich an den beiden Zielgruppen des Kommentars: Er wendet sich zunächst an alle, die in der Praxis mit Problemen des Grundgesetzes beschäftigt sind. Daher bleiben rein theoretische Streitfragen grundsätzlich unberücksichtigt. […] Inhaltlich hat die Kommentierung nicht den Zweck, neue Antworten auf die Streitfragen des Grundgesetzes zu liefern; in der Regel folgt sie der Linie des Bundesverfassungsgerichts«.

4.2

Kanonisierung der Grundrechtsprüfung

Die große dogmatische Leistung des Lehrbuchs von Pieroth/Schlink lag in der Konzeptualisierung eines für alle Freiheitsgrundrechte identischen Prüfprogramms. Noch in den 1970er Jahren war die Grundrechtsprüfung weder in struktureller noch in terminologischer Hinsicht gefestigt.103 Das änderte sich

100 Zur frühen Blüte der grundgesetzlichen Kommentarliteratur Stolleis, Geschichte IV (o. Fn. 85), S. 136–142. 101 Richard Bäumlin/Axel Azzola (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 2 Bände, Neuwied 1984 (seit der 3. Aufl. als Loseblattsammlung herausgegeben von Erhard Denninger u. a.). 102 Hans Jarass/Bodo Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, München 1989 (16. Aufl. 2020). 103 Vgl. Dreier, Rechtswissenschaft (o. Fn. 52), S. 1, 42.

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(endgültig)104 mit dem Lehrbuch von Pieroth/Schlink und der dort konsequent etablierten Drei-Schritt-Prüfung der Verletzung eines Freiheitsgrundrechts (Schutzbereich – Eingriff – verfassungsrechtliche Rechtfertigung).105 Darüber hinaus gebührt dem Lehrbuch das Verdienst, die bis dahin überlappenden Kriterien der Verhältnismäßigkeitsprüfung in ein konsistentes Prüfungsraster überführt zu haben, das ebenfalls rasch Eingang in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fand und auf diese Weise kanonisiert wurde (legitimes Ziel – Geeignetheit – Erforderlichkeit – Angemessenheit).106

4.3

Bedeutungsschwund der konstitutionellen Grundlagendisziplinen

Schließlich lässt sich in den 1980er Jahren ein Bedeutungsschwund der konstitutionellen »Grundlagendisziplinen«107 beobachten, allen voran der Verfassungstheorie und der Allgemeinen Staatslehre.108 Die Verfassungstheorie, also die systematische Reflektion über die Funktionen, Eigenschaften, Formen und Inhalte sowie die Entstehung und die Legitimation einer Verfassung,109 war vor den 1980er Jahren keine eigenständige, von der Verfassungsrechtsdogmatik als eigentlichem Kern des Fachs unterscheidbare Disziplin, sondern vielmehr integraler Bestandteil einer thematisch wie methodisch pluraleren Verfassungsrechtswissenschaft. Noch 1978 konnte Manfred 104 Wichtige Vorarbeiten, die allerdings keinen vergleichbaren kanonisierenden Effekt hatten: Jürgen Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, Darmstadt 1977, 1. Kap.; Albert Bleckmann, Allgemeine Grundrechtslehren, Köln u. a. 1979, S. 227ff. 105 Bumke, Entwicklung (o. Fn. 7), 1, 47. Vgl. zur Strukturierung der Grundrechtsprüfung als einer genuin dogmatisch-konstruktiven Leistung Lennartz, Dogmatik (Fn. 6), S. 157–170. 106 Oliver Lepsius, Die Chancen und Grenzen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, in: Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit – Zur Tragfähigkeit eines verfassungsrechtlichen Schlüsselkonzepts, Tübingen 2015, S. 1, 16f.; Volkmann, Dogmatisierung (Fn. 37), 965, 969. 107 Es ist gleichermaßen als Indikator wie als Faktor für die Rechts(wissenschafts)kultur der 1980er Jahre anzusehen, dass der DRiG-Gesetzgeber seit 1984 zwischen »Kernfächern« und deren (philosophischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen) »Grundlagen« unterscheidet: § 5a Abs. 2 S. 2 DRiG i. d. F. des Änderungsgesetzes vom 25. 07. 1984, BGBl. 1984 I S. 995. Zu der dadurch institutionalisierten Trennung theoretischer und dogmatischer Diskurse Lepsius, Themen (o. Fn. 8), S. 6. Vgl. allgemein zum Wandel der curricularen Stellung von Grundlagenfächern Susanne Lepsius, Stellung und Bedeutung der Grundlagenfächer im juristischen Studium in Deutschland – unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsgeschichte, ZDRW 3 (2016), 206ff. 108 1996 konstatiert Michael Stolleis, Staatsrechtslehre und Politik (1996), in: ders., Aufsätze (o. Fn. 14), S. 973, 984: »Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre sind Fächer am Rande.« 109 Zu diesen Erkenntnishorizonten der Verfassungstheorie übersichtlich Christoph Grabenwarter, Verfassungstheorie, in: Hanno Kube u. a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts zu Staat und Verfassung – Studienausgabe, Heidelberg 2015, § 13 Rn. 9–23.

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Friedrich in der Einleitung zu einem der Verfassungstheorie gewidmeten Sammelband konstatieren: »Die Ergänzungsbedürftigkeit des Verfassungsrechts durch Verfassungstheorie ist jetzt in weitem Maße unbestritten […] Es kann also ohne weiteres davon gesprochen werden, daß die Verfassungsrechtswissenschaft der Bundesrepublik mindestens von Tendenzen gekennzeichnet wird, die auf ihre Erweiterung zur Theorie zielen.«110

Mit dieser Prognose sollte Friedrich nicht recht behalten. Im Gegenteil: In den 1980er Jahren verebbte die verfassungstheoretische Welle der 1960er und 1970er Jahre. Symptomatisch dafür ist, dass Martin Morlok 1988 die Notwendigkeit sah, die Verfassungstheorie als ein »eigenes Arbeitsgebiet innerhalb der Wissenschaft vom Verfassungsrecht«111 zu begründen. Morloks Profilierungsversuch stieß jedoch ebenso wenig auf größere Resonanz wie vier Jahre später die verfassungstheoretische Monografie von Görg Haverkate112. Ein ganz ähnliches Schicksal erlitt die »eigenwillige deutsche«113 Disziplin der Allgemeinen Staatslehre, die noch in den 1960er und 1970er Jahren eine (kleine) Renaissance erfahren hatte.114 Bei allen epistemologischen Problemen, die man sich mit dem Erkenntnisgegenstand »Staat« einhandelt, war die Allgemeine Staatslehre doch immer der Ort, »um Fragestellungen jenseits des positiven Recht und jenseits des praktisch-dogmatischen Problemzugriffs zu thematisieren«115. Zugleich ist der Staatsbegriff ein interdisziplinär Brückenbegriff par excellence, befassen sich mit dem Staat doch nicht nur Juristen, sondern auch Historiker, Philosophen und Politologen.116 In den 1980er Jahren erschienen 110 Manfred Friedrich, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Verfassung – Beiträge zur Verfassungstheorie, Darmstadt 1978, S. 1, 3. (Der Band enthält u. a. Beiträge von Dieter Grimm, Horst Ehmke, Ernst Forsthoff, Peter Häberle, Konrad Hesse, Alexander Hollerbach, Peter Lerche, Ulrich Scheuner, Roman Schnur und Rudolf Smend). 111 Martin Morlok, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie, Berlin 1988, Vorwort. 112 Görg Haverkate, Verfassungslehre – Verfassung als Gegenseitigkeitsordnung, München 1992. 113 Christoph Schönberger, Der »Staat« der Allgemeinen Staatslehre: Anmerkungen zu einer eigenwilligen deutschen Disziplin im Vergleich mit Frankreich, in: Olivier Beaud/Erk Volkmar Heyen (Hrsg.), Eine deutsch-französische Rechtswissenschaft? – Kritische Bilanz und Perspektiven eines kulturellen Dialogs, Baden-Baden 1999, S. 111. 114 Siehe etwa Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1964 (2. Aufl. 1966); Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, München 1969 (17. Aufl. 2017); Roman Herzog, Allgemeine Staatslehre, Frankfurt am Main 1971; Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre – Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, Reinbek bei Hamburg 1975 (6. Aufl., Stuttgart u. a., 2003). Zusammenfassend Stolleis, Geschichte IV (o. Fn. 85), S. 370–379. 115 Oliver Lepsius, Funktion und Wandel von Staatsverständnissen, in: Andreas Voßkuhle/ Christian Bumke/Florian Meinel (Hrsg.), Verabschiedung und Wiederentdeckung des Staates im Spannungsfeld der Disziplinen, Berlin 2013, S. 37. 116 Lepsius, Funktion (o. Fn. 115), S. 37, 49.

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dann nicht nur keine eigenständigen juristischen Staatslehren mehr; die systematische Befassung mit dem Staat wanderte auch in die Politikwissenschaft ab, wo sie zur »Staatswissenschaft« wurde. Dem Herausgeberkreis des seit 1987 verlegten »Jahrbuchs zur Staats- und Verwaltungswissenschaft« gehörte beispielsweise kein einziger Staatsrechtslehrer an.117 Weder ein Auf- noch ein Abschwung lässt sich für die Verfassungsvergleichung als dritter konstitutioneller Grundlagendisziplin verzeichnen. In der insgesamt als introvertiert zu charakterisierenden Bonner Verfassungsrechtswissenschaft hatte es die Verfassungsvergleichung schon immer schwer.118 Es gab zwar stets auch Verfassungsrechtler, die vergleichend gearbeitet haben,119 denkstilprägend wurden sie in der Bonner Republik jedoch nie. Die einzige konstitutionelle Grundlagendisziplin, die in den 1980er Jahren einen Bedeutungszuwachs erfuhr, ist die Verfassungsgeschichte, wohl nicht zuletzt als Folge der Gründung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte (1977), deren bewusst interdisziplinäre Ausrichtung der verfassungshistorischen Forschung neue Impulse verliehen hat.120 Gerade Anfang der 1980er Jahre wurden methodologische Fragen der Verfassungsgeschichte auf einem Niveau verhandelt, an dem sich die heutige Verfassungshistoriografie erst einmal zu orientieren hat.121 Aus den 1980er Jahren stammen auch die bis heute führenden Lehrbücher der Verfassungsgeschichte.122 Nicht von ungefähr fällt der Aufschwung der 117 Herausgeber waren Thomas Ellwein, Joachim Jens Hesse, Renate Mayntz, Fritz W. Scharpf. Siehe ferner die sozialwissenschaftliche Dominanz in zeitgenössischen staatswissenschaftlichen Sammelbänden: Thomas Ellwein/Joachim Jens Hesse (Hrsg.), Staatswissenschaften – Vergessene Disziplin oder neue Herausforderung?, Baden-Baden 1990; Rüdiger Voigt (Hrsg.), Abschied vom Staat – Rückkehr zum Staat, Baden-Baden 1993. 118 Zum »ptolemäischen« Weltbild der deutschen Staatsrechtswissenschaft und ihren Ursachen erhellend Christoph Schönberger, Verfassungsvergleichung heute: Der schwierige Abschied vom ptolemäischen Weltbild, VRÜ 43 (2010), 6, 7–18. 119 Für die frühe Bundesrepublik sind allen voran Horst Ehmke und Martin Kriele zu nennen, später etwa Winfried Brugger und Werner Heun. 120 Zur Disziplingeschichte der Verfassungsgeschichte nach 1945 Ewald Grothe, Zwischen Norm und Symbol – Tradition und Innovation in der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung nach 1945, ZNR 32 (2010), 19, 25ff. 121 Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung, in: Helmut Quaritsch (Bearb.), Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung – Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30./ 31. März 1981, Berlin 1983, S. 7ff.; Hans Boldt, Einführung in die Verfassungsgeschichte – Zwei Abhandlungen zu ihrer Methodik und Geschichte, Düsseldorf 1984. 122 Hans Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des älteren deutschen Reiches 1806, München 1984 (3. Aufl. 1994), Bd. 2: Von 1806 bis zur Gegenwart, München 1990; Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776–1866 – Vom Beginn des modernen Verfassungsstaates bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Frankfurt am Main 1988 (4. Aufl. 2015); Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte – Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, München 1990 (8. Aufl. 2019).

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Verfassungsgeschichte in das Jahrzehnt, in dem auch der öffentliche Diskurs in hohem Maße von geschichtspolitischen Debatten bestimmt wurde (Preußenausstellung; Bitburg-Kontroverse; Weizsäcker-Rede; Historikerstreit; Gründung des Deutschen Historischen Museums etc.).123

5

Ursachen der Dogmatisierung

Wie lässt sich nun erklären, dass die Verfassungsrechtswissenschaft gerade in den 1980er Jahren einen Dogmatisierungsprozess durchgemacht hat? Die Ursachen, die hier zur Diskussion gestellt werden sollen, sind weder gleichwertig noch lässt sich ihr Anteil zahlenmäßig bestimmen; entscheidend dürfte ihr zeitliches Zusammentreffen sein. Was die Ursachen eint, ist, dass sie alle außerhalb der Disziplin selbst liegen. Rechtswissenschaft im Allgemeinen und Verfassungsrechtswissenschaft im Besonderen finden eben nicht im sprichwörtlichen Elfenbeinturm statt, sondern sind immer in einen politisch-sozialen Kontext eingebunden.124 Veränderungen dieses Kontextes wirken deshalb auf die Disziplin und ihre Arbeitsweise zurück. Dass wissenschaftliches Räsonnement und gesellschaftlicher Wandel in einer Wechselwirkung stehen, ist keine wirklich neue Erkenntnis,125 wird in der juristischen Wissenschaftsgeschichte aber zu selten explizit ausgesprochen und noch seltener zum darstellerischen Prinzip erhoben.126 Welche für den Denkstil der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft relevanten Kontextänderungen ereigneten sich nun in den 1980er Jahren? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir gleich mehrfach in die 1970er Jahre zurückblicken, die uns in vielerlei Hinsicht als Kontrastjahrzehnt der 1980er Jahre begegnen werden.

123 Zu den geschichtspolitischen Debatten der 1980er Jahre Andreas Rödder, Die Bundesrepublik Deutschland 1969–1990, München 2004, S. 90–92; Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, 2. Aufl., München 2017, S. 1010–1022. 124 Lehrreich zum (historisch kontingenten) Verhältnis von Staatsrechtslehre und Politik Stolleis, Staatsrechtslehre (o. Fn. 108), S. 973ff.; stärker gegenwartsbezogene Betrachtung bei Andreas Voßkuhle, Die politische Dimension der Staatsrechtslehre, in: Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre (o. Fn. 37), S. 135ff. 125 Für die Historiografiegeschichte siehe etwa die Studie von Gabriele Metzler, Der Staat der Historiker. Staatsvorstellungen deutscher Historiker seit 1945, Berlin 2018. 126 Die wichtigste Ausnahme bildet die vierbändige »Geschichte des öffentlichen Rechts« von Michael Stolleis.

310 5.1

Jonas Plebuch

Vergewisserung des brüchig gewordenen Verfassungskonsenses

In den 1970er Jahren war die Verfassung unter mehrfachen Druck geraten. Nachdem politische Forderungen nach einer »Totalrevision« des als »antiquiert« desavouierten Grundgesetzes aufgekommen waren,127 setzte der Bundestag eine Enquete-Kommission »Verfassungsreform« ein, deren Auftrag darin bestand, zu untersuchen, »ob und inwieweit es erforderlich ist, das Grundgesetz den gegenwärtigen und voraussehbaren zukünftigen Ereignissen – unter Wahrung seiner Grundprinzipien – anzupassen«.128 In die 1970er Jahre fällt ferner der Konflikt zwischen dem sozialliberalen Reformgesetzgeber und dem von vielen als »aktivistisch« empfundenen Bundesverfassungsgericht, von dem später noch die Rede sein soll. Schließlich häuften sich in der auch durch den RAF-Terrorismus »verunsicherten Republik«129 der 1970er Jahre sowohl in der linken wie in der rechten politischen Publizistik Krisendiagnosen, die gerade auch die normativen Grundlagen der Bundesrepublik zum Gegenstand hatten: »Legitimationskrise« und »Regierbarkeitskrise« lauteten die Schlagwörter eines aus heutiger Sicht befremdlich anmutenden Krisendiskurses, an dem mit Martin Kriele auch ein Staatsrechtslehrer prominent beteiligt war.130 Die 1970er Jahre waren insgesamt (noch) keine Dekade des »Verfassungspatriotismus«.131 Auch die parteipolitische Polarisierung verschärfte sich Ende der 1970er/ Anfang der 1980er Jahre zunehmend. War schon der Bundestagswahlkampf 1980 ungewöhnlich scharf geführt worden, erreichte die Polarisierung mit dem Ende der sozialliberalen Koalition, dem Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt durch die gleichzeitige Wahl Helmut Kohls sowie der anschließenden Auflösung des Bundestags nach einer getürkten, aber vom Bundesverfassungsgericht in 127 Näher Christian Waldhoff, Das andere Grundgesetz – Gedanken über Verfassungskultur, München 2019, S. 29ff. 128 Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform v. 09. 12. 1976, BT-Drs. 7/5924, S. 4. Die eher bescheidenen Änderungsvorschläge der Kommission resümierend Hasso Hofmann, Die Entwicklung des Grundgesetzes von 1949 bis 1990, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I: Historische Grundlagen, 3. Aufl., Heidelberg 2003, § 9 Rn. 58. 129 Kurt Sontheimer, Die verunsicherte Republik – Die Bundesrepublik nach 30 Jahren, München 1979. 130 Martin Kriele, Legitimitätsprobleme der Bundesrepublik, München 1977. Überblick über die Krisenrhetorik der 1970er Jahre bei Jens Hacke, Der Staat in Gefahr – Die Bundesrepublik zwischen Legitimationskrise und Unregierbarkeit, in: Dominik Geppert/Jens Hacke (Hrsg.), Streit um den Staat – Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2008, S. 188ff. 131 Auch wenn der Begriff am Ende der 1970er Jahre geprägt werden sollte: Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus, FAZ v. 23. 05. 1979, S. 1. Vgl. zur Ideen- und Begriffsgeschichte Jan-Werner Müller, Verfassungspatriotismus, Berlin 2010.

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kluger institutioneller Zurückhaltung gebilligten132 Vertrauensfrage eine neue Qualität. Vor allem die von Kohl im Bundestagswahlkampf 1983 eingeforderte »geistig-moralische Wende« rief eine ungewöhnlich scharfe Gegenreaktion des sozialdemokratischen Herausforderers Hans-Jochen Vogel hervor: »Begriffe wie ›Kurskorrektur‹ oder meinetwegen auch ›geistig-moralische Erneuerung‹ […] verdeutlichen den Methodenkonflikt der Parteien, ohne ihren Konsens in den umfassenden Zielen – Beschäftigung, Frieden, Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen, Sozialstaatlichkeit und innere Liberalität – prinzipiell in Zweifel zu ziehen; vor allem lassen sie den Verfassungskonsens der Parteien unberührt. Wer dafür nun aber den Begriff der ›geistigen Wende‹ einführt, der will darüber hinaus. Wenn Norbert Blüm vor kurzem sagte, nur seine Partei könne die Republik vor dem Untergang retten, dann wird im Kontext mit dem Wort von der ›geistigen Wende‹ die gemeinsame Basis in Frage gestellt. Von den ›Wegen nach Moskau‹ (1953) über den früheren ›Untergang Deutschlands‹ (1957), ›Freiheit statt Sozialismus‹ (1980) und ›Moskau-Fraktion‹ (1980) wird da die ›geistige Wende‹ leicht zu einer weiteren Etappe in dem nicht enden wollenden Bemühen Konservativer, die Sozialdemokratie über den Rand des Konsenses hinabzustoßen. Es wird dies zwar nie gelingen. Den Schaden aber, den dabei die politische Kultur des Landes […] nimmt, ist beträchtlich.«133 [Hervorhebung durch mich; J.P.]

Wenn der Parteienstreit nicht mehr um politische Inhalte, sondern um die gemeinsame Verfassungsbasis geführt wird, steht es ernst um ein Gemeinwesen. Es kann deshalb nicht verwundern, dass der brüchig gewordene Verfassungskonsens auch zu einem zentralen Thema der Verfassungsrechtswissenschaft wurde.134 Im Vorwort zum Handbuch des Verfassungsrechts heißt es dazu: »Ihm [der Konzeption des Handbuchs; J.P.] liegt der Gedanke zugrunde, daß es notwendig ist, sich des Bestands und des Ausmaßes des verfassungsrechtlichen Konsenses zu versichern, wie er zwischen den in der Bundesrepublik wesentlichen politischen Richtungen besteht.«135

In einer Situation, in der sich die parteipolitische Spaltung in eine Spaltung der Verfassungsrechtswissenschaft fortzusetzen drohte, lag es nahe, zu einer dog132 BVerfGE 62, 1. Dazu die Einschätzung bei Möllers, Grundgesetz (o. Fn. 37), S. 81: »Es erwies sich als schwierig, in einer juristisch überzeugenden Weise zwischen ›echtem‹ und ›unechtem‹ Misstrauen zu unterscheiden […] Besser sollte man die Frage, ob politisches Vertrauen besteht, den immerhin drei Verfassungsorganen überlassen, die an dem Verfahren beteiligt werden müssen, um den Bundestag aufzulösen: dem Bundestag, dem Bundeskanzler und dem Bundespräsidenten.« 133 Hans-Jochen Vogel, Die geistige Wende – ein semantischer Kampfbegriff, Die Neue Ordnung 37 (1983), 14, 15f. 134 Dieter Grimm, Verfassungsrechtlicher Konsens und politische Polarisierung in der Bundesrepublik Deutschland (1984), in: ders., Zukunft (o. Fn. 39), S. 298ff.; Gertrude LübbeWolff, Auf der Suche nach dem Grundkonsens, Der Staat 23 (1984), 577ff. 135 Ernst Benda/Werner Maihofer/Hans-Jochen Vogel, Vorwort, in: dies., Handbuch (o. Fn. 95), S. V.

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matischen Arbeitsweise zurückzukehren. Warum? Weil Dogmatik einen entpolitisierenden und systemstabilisierenden Effekt hat. Der entpolitisierende Effekt besteht darin, dass durch Dogmatik politische Präferenzen zwar nicht einfach wie von Zauberhand verschwinden, aber durch dogmatische Figuren so erfolgreich getarnt werden, dass sich eine wissenschaftliche Verständigung trotz politischer Differenzen erreichen lässt.136 Wissenschaftssoziologisch erfüllt Dogmatik also eine einheitsstiftende Funktion, da sie »im Vergleich zu zahlreichen geistes- und sozialwissenschaftlichen Nachbarwissenschaften für eine außerordentlich hohe Verständigungsfähigkeit unter [Verfassungs-] Juristen« sorgt.137 Rainer Wahl hat die Verfassungsrechtswissenschaft im Jahr 1984 als die Disziplin charakterisiert, »in der Gesetzgebungspolitik im Gewand der (Verfassungs-)Rechtsdogmatik betrieben werden kann«, und den Verfassungsjuristen als den Juristen, »der die Sache Rechtspolitik in die Form der Dogmatik einkleiden kann – eine für das Selbstverständnis des deutschen Juristen und Rechtswissenschaftlers mit seiner traditionellen Abneigung gegen (offene) rechtspolitische Argumentation sehr attraktive Position und Verführung«138. Das vielleicht eindrücklichste Beispiel für den entpolitisierenden Effekt eines genuin dogmatisch geführten verfassungsrechtlichen Diskurses bietet die Auseinandersetzung mit den objektiv-rechtlichen Grundrechtslehren,139 deren dogmatische Aufarbeitung ein wesentliches Anliegen gerade der Verfassungsrechtswissenschaft der 1980er Jahre war. Die Entdeckung und Entfaltung objektiv-rechtlicher Grundrechtslehren durch das Bundesverfassungsgericht stieß, so steht zu vermuten, auch deshalb auf breite Zustimmung in der Wissenschaft, weil sich mit ihrer Hilfe staats- und verfassungstheoretische Vorverständnisse sowie politische Präferenzen in verfassungsrechtliche Gebote reformulieren ließen. Bewusst zugespitzt: Etatistische Staatsrechtslehrer leiten aus der grundrechtlichen Schutzpflichtendimension ein »Grundrecht auf Sicherheit«140 her

136 Näher Lepsius, Kontextualisierung (o. Fn. 66), 793, 795f. 137 Waldhoff, Kritik (o. Fn. 47), S. 17, 27. 138 Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung und die Selbstständigkeit des Gesetzesrechts (1984), in: ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, Frankfurt am Main 2003, S. 161, 181; siehe auch ders., Rechtsdogmatik und Rechtspolitik im öffentlichen Recht, in: Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung – Ein japanischdeutsches Symposium, Tübingen 2010, S. 121, 131f.; ferner Lepsius, Problemzugänge (o. Fn. 37), S. 53, 80: »Dogmatik ist insofern nicht nur eine Kunstform entpolitisierter Argumentation, sondern auch eine Verschleierungstaktik, die Ross und Reiter nicht nennen mag.« 139 Umfassend zur Entwicklung der objektiv-rechtlichen Grundrechtslehren Dreier, Dimensionen (o. Fn. 33), S. 185ff. 140 Josef Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit – Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, Berlin/New York 1983.

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oder postulieren gleich einen ganzen Katalog an Staatsaufgaben,141 neoliberale Staatsrechtslehrer betonen die Institutsgarantie des Eigentums und wertkonservative Staatsrechtslehrer die der Ehe, während sich ökonomisch links orientierte Staatsrechtslehrer nicht nur für ein möglichst weites Verständnis der grundrechtlichen Ausstrahlungswirkung aussprechen, sondern auch die (originär) leistungsrechtliche Dimension der Grundrechte akzentuieren. Der systemstabilisierende Effekt besteht darin, dass durch das »strukturell affirmative«142 dogmatische Arbeiten die positivrechtliche Grundlage, auf die sich diese Arbeit bezieht, legitimiert und dadurch stabilisiert wird; das galt für das Verfassungsrecht der konstitutionellen Monarchie ebenso wie es heute für das Verfassungsrecht des demokratischen Rechtsstaats gilt.143 Die auf die grundgesetzliche Verfassungsordnung bezogene und ihr zugleich verpflichtete Dogmatik hat also einen (häufig unterschätzten) demokratischen und rechtsstaatlichen Eigenwert. Demgegenüber ist Verfassungstheorie eine potenziell gefährliche Disziplin, mit der eine Verfassungsordnung auch aus den Angeln gehoben werden kann. Das zeigt nicht zuletzt der Weimarer Methoden- und Richtungsstreit,144 wie man bei Horst Dreier nachlesen kann: »Denn wenn nun [nach Revolution und Republikgründung; J.P.] einerseits das positive Staats- und Verfassungsrecht nicht mehr die unverrückbare und unhinterfragbare Basis für die Staatsrechtslehre bildete, sondern dem positiven Recht vorausliegenden Wesensmerkmale, Existenzvoraussetzungen oder womöglich naturrechtliche Rechtskriterien eruiert wurden, so brachte dies zwar eine bedeutende Weiterung des wissenschaftlichen Themenspektrums und der Fragestellungen mit sich, erlaubte freilich auch wissenschaftliche Relativierungen und Infragestellungen des positiven Normenbestandes.«145

141 Fundamental kritisch zur Schutzpflichtendogmatik als »reine[r] Selbstermächtigung der Wissenschaft«: Lepsius, Kritik (o. Fn. 5), S. 39, 59; zum etatistischen Potential der Schutzpflichtenlehre auch Möllers, Staat (o. Fn. 98), S. 207–210; Matthias Ruffert, Grundrechtliche Schutzpflichten: Einfallstor für ein etatistisches Grundrechtsverständnis?, in: Thomas Vesting/Stefan Korioth/Ino Augsberg (Hrsg.), Grundrechte als Phänomene kollektiver Ordnung – Zur Wiedergewinnung des Gesellschaftlichen in der Grundrechtstheorie und der Grundrechtsdogmatik, Tübingen 2014, S. 109ff. 142 Jestaedt, Verfassung (Fn. 5), S. 37. 143 Zu dem das Bismarckreich durch die Abschirmung vor politisch-legitimatorischen Infragestellungen stabilisierenden Effekt der Laband’schen Verfassungsrechtsdogmatik siehe bereits o. Fn. 18. 144 Den besten Überblick über den Weimarer Methoden- und Richtungsstreit vermittelt Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1915, München 1999, S. 153–202. 145 Horst Dreier, Verfassungs- und Verwaltungsrecht 1914–1945, in: ders., Staatsrecht in Demokratie und Diktatur – Studien zur Weimarer Republik und zum Nationalsozialismus. Herausgegeben von Matthias Jestaedt und Stanley L. Paulson, Tübingen 2016, S. 397, 400.

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Es ist deshalb kein Zufall (und als Lehre ins kollektive Gedächtnis der Disziplin eingegangen), dass es in Weimar gerade die Dogmatiker unter den Verfassungsrechtlern waren, die der Republik und ihrer Verfassung bis zuletzt die Treue gehalten haben.146 Dass die Verfassungsrechtswissenschaft in den 1980er Jahren zu einer dogmatischen Arbeitsweise zurückkehrte, lässt sich vor diesem Hintergrund als eine (freilich eher unwillkürlich-intuitive als planmäßig-gesteuerte) Antwort des Fachs auf den brüchig gewordenen Verfassungskonsens deuten, dessen Vergewisserung und Stabilisierung der dogmatic approach versprach. Freilich ist damit nur dargetan, weshalb ein Bedürfnis nach Konsolidierung des verfassungsrechtlichen status quo bestand. Erfolg konnte das Konsolidierungsprojekt nur haben, weil es auf günstige Realisierungsbedingungen traf, zu denen namentlich gehörten: die Beruhigung des innenpolitischen Klimas in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre;147 das Abflachen der Debatte um die Reformbedürftigkeit des Grundgesetzes;148 die Konsolidierung der institutionellen Stellung des Bundesverfassungsgerichts (dazu mehr unten); das Umsichgreifen von Verfassungspatriotismus bis in das linke Lager hinein.149 So wie das prinzipielle Einverständnis des Bürgertums mit der Reichsgründung die soziale Voraussetzung für ein streng juristisch betriebenes Staatsrecht im Spätkonstitutionalismus war,150 bildeten diese Umstände die soziale Voraussetzung für die Dogmatisierung der bundesrepublikanischen Verfassungsrechtswissenschaft in den 1980er Jahren.

146 Zu denken ist etwa an Gerhard Anschütz, Friedrich Giese, Fritz Stier-Somlo, Richard Thoma sowie an Hans Kelsen, der zwar kein Dogmatiker, aber ebenfalls Positivist war. Zur charakteristischen Republiktreue der Positivisten unter den Weimarer Staatsrechtslehrern aufschlussreich Grimm, Methode (o. Fn. 18), S. 347, 366–370. 147 Herbert, Geschichte (o. Fn. 123), S. 987. 148 In den 1980er Jahren wurde das GG so selten geändert wie in keinem Jahrzehnt davor und danach, nämlich nur ein einziges Mal, und zwar durch das Fünfunddreißigste Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 21 Abs. 1) v. 21. 12. 1983, BGBl. I 1983 S. 1481. Überblick über sämtliche Grundgesetzänderungen bis einschließlich 2009 bei Matthias Jestaedt, Herr und Hüter der Verfassung als Akteure des Verfassungswandels – Betrachtungen aus Anlass von 60 Jahren Grundgesetz, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.), 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland – Atzelsberger Gespräche 2009, S. 35, 86ff. 149 Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung – Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung, Die Zeit v. 11. 07. 1986, S. 1: »Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus.« 150 Grimm, Methode (o. Fn. 18), S. 347, 364.

Das dogmatisierende Jahrzehnt

5.2

315

Hochschulexpansion und -ökonomisierung

Spätestens nachdem Georg Picht 1964 »[d]ie deutsche Bildungskatastrophe«151 ausgerufen hatte, setzte ein regelrechter universitärer Gründungsboom ein. Im Zuge der Hochschulexpansion entstanden neue juristische Fakultäten in Bochum, Mannheim, Gießen, Konstanz, Regensburg, Bielefeld, Trier, Augsburg, Bremen, Hannover, Hamburg, Bayreuth und Passau.152 Auch wenn diese Neugründungen in die 1960er und 1970er Jahre fallen, stiegen die Absolventenzahlen erst in den 1980er Jahren stark an. Allein zwischen 1979 und 1989 wuchs die Zahl der Absolventen des ersten Staatsexamens von 5000 auf 8000 an.153 Für unser Thema relevant ist, dass die Hochschulexpansion vor allem den Bedarf an anwendungsorientierter und das heißt: dogmatischer Literatur erhöhte. In den 1980er Jahren veränderte sich die Hochschullandschaft aber nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht. Denn in die 1980er Jahre fällt auch der Beginn des universitären Ökonomisierungsprozesses, der sich im juristischen Studium vor allem durch eine curriculare Schwächung der (erst seitdem sogenannten)154 Grundlagendisziplinen und eine damit korrespondierende stärkere Orientierung an der Falllösungsmethode bemerkbar machte.155 Mit Hesses eher theoretisch als dogmatisch angelegten »Grundzügen« ließen sich jedoch keine Verfassungsrechtsfälle lösen. In diese, durch die Gleichzeitigkeit von Hochschulexpansion und -ökonomisierung entstandene Lücke im verfassungsrechtlichen Lehrbuchmarkt stießen dann stärker auf die Falllösung ausgerichtete Lehrbücher wie allen voran das von Pieroth/Schlink, die dann den bereits beschriebenen dogmatisierenden Effekt auf die Verfassungsrechtsprechung hatten.

151 Georg Picht, Die deutsche Bildungskatastrophe – Analyse und Dokumentation, Olten 1964. 152 Stolleis, Geschichte IV (o. Fn. 85), S. 408. 153 Ausbildungsstatistik des Bundesamtes für Justiz 2018, S. 8, abrufbar unter https://www.bun desjustizamt.de/DE/Themen/Buergerdienste/Justizstatistik/Juristen/Ausbildung_node.ht ml (zuletzt abgerufen am 08. 01. 2021). 154 Siehe o. Fn. 107. 155 Befund der curricularen Schwächung der Grundlagendisziplinen in den 1980er Jahren bei Andreas Funke, Konjunkturen in der Bedeutung von Grundlagenfächern, in: ders./Julian Krüper/Jörn Lüdemann (Hrsg.), Konjunkturen in der öffentlich-rechtlichen Grundlagenforschung, Tübingen 2015, S. 37 (43). Vgl. zum Zusammenhang zwischen Grundlagenforschung und (gewandelter) Hochschul- und Wissenschaftspolitik Helmuth Schulze-Fielitz, Konjunkturen der öffentlich-rechtlichen Grundlagenforschung – wissenschaftssoziologisch betrachtet, in: ebd., S. 157, 176–184.

316 5.3

Jonas Plebuch

Abschaffung der einstufigen Juristenausbildung

Als dritte Ursache ist die Abschaffung der einstufigen Juristenausbildung zu nennen, die erst wenige Jahre zuvor, nämlich ab 1971, an immerhin acht der damals knapp 30 juristischen Fakultäten eingeführt worden war.156 Ein wesentliches Ziel der einstufigen Juristenausbildung bestand darin, die Sozialwissenschaften stärker in die Rechtswissenschaften zu integrieren.157 Gerade das an den Universitäten Bremen, Hamburg und Hannover praktizierte sog. Nordmodell hatte zum Ziel, »innovatorische, emanzipatorisch-kritische und politische Elemente juristischer Tätigkeit«158 weit mehr in den Vordergrund treten zu lassen als im Rahmen herkömmlicher Ausbildungsmodelle. Ein solches Ziel galt nach der konservativen Wende von 1982 indes als politisch verdächtig, weshalb der Bundesgesetzgeber 1984 – ohne vorherige wissenschaftliche Evaluation – das Auslaufen der einstufigen Juristenausbildung beschloss und dadurch gerade eine für das interdisziplinäre Forschen strukturell günstige Bedingung beseitigte. Es spricht viel dafür, dass der Wissenschaftsrat der deutschen Rechtswissenschaft 2012 nicht eine »Öffnung in die Universität wie in das Wissenschaftssystem«159 hätte empfehlen müssen, wenn das interdisziplinäre Grundanliegen der einstufigen Juristenausbildung weiter beherzigt worden wäre.

5.4

Disziplinäre Emanzipation der Politikwissenschaft

Die vierte Ursache für den Dogmatisierungsprozess der Verfassungsrechtswissenschaft ist in der disziplinären Emanzipation der Politikwissenschaft zu erblicken. Im Vergleich zu Weimar ist der Staatsrechtslehre in der Bundesrepublik nämlich nicht nur in Gestalt des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch in Gestalt der sich mehr und mehr an deutschen Universitäten etablierenden Politikwissenschaft ein neuer Konkurrent um die Deutung von Staat und Verfassung erwachsen.

156 Bündiger Überblick bei Nicolas Lührig, Die Diskussion um die Reform der Juristenausbildung von 1945 bis 1995, Frankfurt am Main 1997, S. 49–58. 157 Dazu rückblickend Wolfgang Hoffmann-Riem, Zur Verwendungstauglichkeit der Sozialwissenschaften für die Juristenausbildung, in: Heinz Giehring u. a. (Hrsg.), Juristenausbildung – erneut überdacht: Erfahrungen aus der einstufigen Juristenausbildung als Grundlage für eine weiterhin anstehende Reform, Baden-Baden 1990, S. 75ff. 158 So Manfred Baum, Juristenausbildung in Deutschland, Berlin/New York 1980, S. 18. 159 Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland – Situation, Analysen, Empfehlungen, Drs. 2558–12, 2012, S. 7.

Das dogmatisierende Jahrzehnt

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»Die deutsche Politikwissenschaft ist ein Kind des Wiederauflebens der deutschen Demokratie nach 1945.«160 Neben Historikern gehörten zu den Gründungsvätern der deutschen Politikwissenschaft vor allem Juristen, darunter linke Staatsrechtslehrer wie Wolfgang Abendroth und Carlo Schmid sowie jüdische Remigranten wie Ernst Fraenkel und Gerhard Leibholz.161 Aber auch viele Politikwissenschaftler der zweiten und dritten Generation162 waren noch juristisch sozialisiert (z. B. Wilhelm Hennis, Thomas Ellwein, Fritz W. Scharpf, Rüdiger Voigt)163. Die Institutionalisierung der Politikwissenschaft verlief anfänglich schleppend. Nach der im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft von M. Rainer Lepsius verfassten »Denkschrift zur Lage der Soziologie und der Politischen Wissenschaft« war das Fach im Jahr 1960 mit insgesamt 24 ordentlichen und außerordentlichen Lehrstühlen an gerade einmal der Hälfte der deutschen Hochschulen vertreten.164 Erst im Zuge der sozialdemokratischen Bildungsreformen der späten 1960er/frühen 1970er Jahre wurde die Politikwissenschaft zu einem Massenfach.165 Die Reaktionen der Staatsrechtslehre auf die disziplinäre Verselbstständigung der Politikwissenschaft reichten anfangs von distanzierender Skepsis über den Versuch hegemonialer Vereinnahmung bis hin zu offener Kooperationsbereitschaft. Während distanzierende Skepsis vor allem auf Seiten der Schmitt-Schule anzutreffen war,166 setzten sich die Angehörigen der Smend-Schule für die Institutionalisierung der Politikwissenschaft ein und waren auch gegenüber Kooperationen durchaus aufgeschlossen.167 Der verfassungsrechtliche Mainstream in Gestalt der Staatsrechtslehrervereinigung reagierte dagegen mit einer »Kom-

160 Jürgen Hartmann, Geschichte der Politikwissenschaft –Grundzüge der Fachentwicklung in den USA und in Europa, Opladen 2003, S. 134. 161 Ausführlich zum Gründungsprozess der deutschen Politikwissenschaft Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 265ff. 162 Zu den unterschiedlichen Generationen der deutschen Politikwissenschaft Thomas Noetzel/Hans Karl Rupp, Zur Generationenfolge in der westdeutschen Politikwissenschaft, in: Hans J. Lietzmann/Wilhelm Bleek (Hrsg.), Politikwissenschaft – Geschichte und Entwicklung in Deutschland, München 1996, S. 77, 83ff. 163 Andreas Anter/Wilhelm Bleek, Staatskonzepte – Die Theorien der bundesdeutschen Politikwissenschaft, Frankfurt am Main 2013, S. 30f. 164 M. Rainer Lepsius, Denkschrift zur Lage der Soziologie und der Politischen Wissenschaften, Wiesbaden 1961, S. 87, 91. 165 Hartmann, Geschichte (o. Fn. 160), S. 152–154. 166 Frieder Günther berichtet von einem insoweit charakteristischen Brief Ernst-Wolfgang Böckenfördes an Roman Schnur vom 11. 11. 1957: »Gott sei Dank, daß bei uns das Staatsrecht noch nicht den ›Politologen‹ ausgeliefert ist; hoffen wir, daß unsere Staatsrechtler genug juristische Substanz besitzen, auch künftig einen derartigen Einbruch abzuwehren.«: Günther, Denken vom Staat her (o. Fn. 28), S. 133 mit Fn. 283. 167 Günther, Denken vom Staat her (o. Fn. 28), S. 162f.

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bination aus Ausgrenzung und Usurpation«168. Die Vereinigung beschloss 1964 nämlich einerseits, keine Politologen aufzunehmen,169 empfahl aber anderseits, dass juristische Fakultäten bei der Besetzung politologischer Lehrstühle zu beteiligen sind und das Recht erhalten sollten, die Venia für die Wissenschaft von der Politik zu erteilen.170 Freilich konnten auch diese Empfehlungen der »Kontinentaldrift zwischen Politik- und Rechtswissenschaft«171 nichts entgegensetzen. Mit der Regierungssystemanalyse, der Vergleichenden Regierungslehre sowie der politischen Theorie eroberten Politikwissenschaftler vielmehr nach und nach Forschungsgebiete, die noch in der frühen Bundesrepublik zu den Domänen der Staatsrechtslehre gehört hatten.172 So stammten etwa noch bis weit in die 1970er Jahre hinein die grundlegenden Analysen zu den Wandlungen der bundesstaatlichen Struktur von Juristen,173 bis das Thema dann durch Politologen wie Fritz W. Scharpf besetzt wurde.174 Spätestens in den 1980er Jahren trat die Staatsrechtslehre dann den Rückzug in die Dogmatik an. Sowohl Ernst-Wolfgang Böckenförde als auch Klaus Stern qualifizierten in diesen Jahren die Staatsrechtswissenschaft gerade in Abgrenzung zur Politikwissenschaft als dogmatische Disziplin und steckten damit disziplinäre Claims ab.175 Hinzu kam, dass die ab den 1980er Jahren nach und nach auf öffentlich-rechtliche Lehrstühle gelangende Generation der zwischen circa 1945 und 1960 geborenen Staatsrechtslehrer – im Unterschied zu den Angehörigen ihrer Vorgängergeneration – unter den Bedingungen der disziplinären Ausdifferenzierung von Rechts- und Politikwissenschaften wissenschaftlich sozialisiert wurde. Für sie wurde dogmatisches Arbeiten – und das heißt, wie wir

168 Anter/Bleek, Staatskonzepte (o. Fn. 163), S. 36. 169 Günther, Denken vom Staat her (o. Fn. 28), S. 232f. 170 Empfehlungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer zu der Frage, in welcher Form sich die Juristischen Fakultäten in Forschung und Lehre an der Pflege der Wissenschaft von der Politik beteiligen sollte, JZ 1964, 694f. 171 Michael Koß, Rezension zu: Florian Meinel, Vertrauensfrage – Zur Krise des heutigen Parlamentarismus, München 2019, PVS 61 (2020), 161. 172 Zu den Arbeitsgebieten der Politikwissenschaft in den 1970er Jahren: Kurt Sontheimer, Politische Wissenschaft und Staatsrechtslehre, in: Dieter Grimm (Hrsg.), Rechtswissenschaften und Nachbarwissenschaften, Erster Band: Soziologie, Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Psychologie, Kriminologie 2. Aufl. 1976, S. 68, 76ff. 173 Nachgewiesen bei Dieter Grimm, Die Gegenwartsprobleme der Verfassungspolitik und der Beitrag der Politikwissenschaft (1978), in: ders., Zukunft (o. Fn. 39), 336, 347 mit Fn. 10. 174 Siehe nur Fritz W. Scharpf/Bernd Reissert/Fritz Schnabel, Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, Kronberg 1976. 175 Böckenförde, Eigenart (o. Fn. 9), S. 317, 323ff.; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I: Grundbegriffe und Grundlagen des Staatsrechts, Strukturprinzipien der Verfassung, 2. Aufl., München 1984, S. 35ff.

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gesehen haben: disziplinär konkurrenzloses Arbeiten –176 zu einer kaum hinterfragten Selbstverständlichkeit. Natürlich betreiben nicht alle Staatsrechtslehrer dieser »dogmatischen Generation« ausschließlich Dogmatik. Aber es fällt doch auf, dass in dieser Generation auch solche Staatsrechtslehrer zur vehementen Verteidigung des dogmatic approach schreiten, von denen man es angesichts ihres Forschungsprofils eigentlich am wenigsten erwarten würde.177

6

Verfassungsgerichtsbarkeit als beeinflussender und beeinflusster Faktor

Welche Rolle spielte schließlich die Verfassungsgerichtsbarkeit der 1980er Jahre für den Dogmatisierungsprozess der Verfassungsrechtswissenschaft? Vier Aspekte, die die Dogmatisierung der Verfassungsrechtswissenschaft zwar nicht für sich genommen erklären können, einen dogmatischen Zugriff auf die Verfassungsrechtsprechung aber strukturell plausibel machen, scheinen mir bedeutsam: die Konsolidierung der institutionellen Stellung des Bundesverfassungsgerichts (1.), die gerichtliche Fortsetzung der Grundrechtsexpansion (2.), die Zunahme an Rechtsprechungsmasse (3.) sowie die Professoralisierung der Richterschaft (4.).

6.1

Konsolidierung der institutionellen Stellung

Im Laufe der 1980er Jahren gelang es dem Bundesverfassungsgericht, seine institutionelle Stellung, die durch die in den 1970er Jahren verbreitete Wahrnehmung als politisiertes Gericht gefährdet worden war, nachhaltig zu konsolidieren. Nach einem Jahrzehnt der »Konfrontation«178 mit dem sozialliberalen Reformgesetzgeber hatte das Bundesverfassungsgericht Ende der 1970er Jahre im

176 Vgl. auch Sontheimer, Wissenschaft (o. Fn. 172), S. 68, 72: »Solange es sich um die Erörterung rein rechtlicher Fragen, also um die Anwendung der juristischen Methode handelt, braucht die Staatsrechtslehre solche Konkurrenz freilich wenig zu fürchten. Schwieriger wird es für sie im Bereich der Verfassungslehre und Allgemeinen Staatslehre.« 177 Heun, Begriff (o. Fn. 9), S. 35, 38ff.; Dreier, Rechtswissenschaft (o. Fn. 52), S. 25ff. Es ist deshalb wohl kein Zufall, dass keiner der Protagonisten des von Verena Frick eingehend rekonstruierten neuen Richtungsstreits in der Staatsrechtslehre dieser Generation angehört: Frick, Staatsrechtslehre (o. Fn. 29), S. 205. 178 So die (ins Deutsche übersetzte) Überschrift des Kapitels über die Rechtsprechung der Jahre 1971–1982 in der vorzüglichen Gerichtsbiografie von Justin Collings, Democracy’s Guardians – A History of the German Federal Constitutional Court 1951–2001, Oxford 2015,

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linksliberalen Milieu erheblich an Zustimmung verloren. In der Vorbemerkung zu einem zeitgenössischen Sammelband, der bundesverfassungsgerichtskritische Beiträge linksliberaler Juristen enthält (einschließlich eines fundamentalkritischen Beitrags des ehemaligen Bundesverfassungsrichters (!) Konrad Zweigert)179, wird der verbreiteten Wahrnehmung des Bundesverfassungsgerichts als ein politisiertes Gericht wie folgt Ausdruck verliehen: »[E]s [ist] heute eigentlich unbestritten […], daß das Verfassungsgericht zu einer Bastion harter konservativer Politik geworden ist und mit seiner Rechtspolitik Reformvorhaben auf lange Sicht verhindert«180.

Der eskalierende Konflikt zwischen dem Gericht und der sozialliberalen Koalition, der in einer lateinisch formulierten, aber deshalb nicht weniger deutlichen Warnung des damaligen Bundesjustizministers Hans-Jochen Vogel gipfelte (»Videant judices«),181 ist in der verfassungs(gerichts)historischen Literatur gut aufgearbeitet worden.182 Hier mag es deshalb genügen, die konfliktauslösenden Entscheidungen schlagwortartig in Erinnerung zu rufen: Hochschulurteil,183 Grundlagenvertrag,184 Schwangerschaftsabbruch I,185 Abgeordnetendiäten,186 Öffentlichkeitsarbeit,187 Alimentationsprinzip,188 Haushaltsüberschreitung,189 Wehrpflichtnovelle I190.

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S. 109ff. Die Kapitelüberschrift für die Jahre 1982–1990 lautet, der hiesigen Deutung entsprechend: »Continuity« (S. 183ff.). Konrad Zweigert/Hartmut Dietrich, Bundesverfassungsgericht – Institution mit Zukunft?, in: Wolfgang Däubler/Gudrun Küsel (Hrsg.), Verfassungsgericht und Politik – Kritische Beiträge zu problematischen Urteilen, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 11ff. Gudrun Küsel, Vorbemerkung, in: Däubler/Küsel, Verfassungsgericht (o. Fn. 179), S. 7. Hans-Jochen Vogel, Videant judices! Zur aktuellen Kritik am Bundesverfassungsgericht, DÖV 1978, 665ff. Ausdruck der späteren Konsolidierung des Gerichts sind die versöhnlichen Töne, die Hans-Jochen Vogel in seinen 1996 veröffentlichten Memoiren anschlägt, siehe ders., Nachsichten – Meine Bonner und Berliner Jahre, München 1996, S. 98: »Insgesamt aber ist das Gericht der ihm vom Grundgesetz gestellten Aufgabe in eindrucksvoller Weise gerecht geworden. Und ich stimme denen zu, die diese Institution als die wichtigste Neuschöpfung des Parlamentarischen Rates erachten und ihr ein wesentliches Verdienst an der Bewährung und der Fortentwicklung des Grundgesetzes und seiner Verwurzelung im Bewußtsein unseres Volkes zuschreiben.« Neben Collings, Guardians (o. Fn. 178), S. 109ff. vor allem Richard Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung – Ein Beitrag zu Geschichte und Rechtsstellung des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 1994, S. 52ff.; Uwe Wesel, Der Gang nach Karlsruhe – Das Bundesverfassungsgericht in der Geschichte der Bundesrepublik, München 2004, S. 226ff. BVerfGE 35, 79. BVerfGE 36, 1. BVerfGE 39, 1. BVerfGE 40, 296. BVerfGE 44, 125. BVerfGE 44, 249. BVerfGE 45, 1.

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Die durch diese Entscheidungen ausgelöste Diskussion über die »demokratieangemessene«191 Stellung des Gerichts im freiheitlichen Verfassungsstaat wurde nicht nur in Sammelbänden linker Juristen geführt,192 sondern erreichte mit einiger zeitlicher Verzögerung auch die (akademische) Verfassungsrechtswissenschaft, die sich vor allem um die Aufweisung »funktionell-rechtlicher Grenzen« der Verfassungsgerichtsbarkeit bemühte.193 Freilich verebbte diese Diskussion in dem Maße, in dem es dem Bundesverfassungsgericht im Laufe der 1980er Jahre gelang, seine institutionelle Stellung zu rekonsolidieren.194 Eine wesentliche Voraussetzung dafür war das bereits 1979 ergangene Mitbestimmungsurteil195, mit dem das Bundesverfassungsgericht das Mitbestimmungsgesetz aus 1976 und damit ein Herzstück der sozialliberalen Reformagenda aufrechterhielt und den Konflikt mit dem Gesetzgeber dadurch wesentlich entschärfte.196 In den 1980er Jahren erreichte das Gericht dann nicht nur einen neuen Höchstwert an Zustimmung, sondern es gelang ihm vor allem, das hohe Niveau

190 BVerfGE 48, 127. 191 Werner Holtfort, Praktische Vorschläge, das Bundesverfassungsgericht in eine demokratieangemessene Rolle zurückzuführen, in: Däubler/Küsel, Verfassungsgericht (o. Fn. 179), S. 191ff. 192 Neben Däubler/Küsel, Verfassungsgericht (o. Fn. 179) auch Peter Roemer (Hrsg.), Der Kampf um das Grundgesetz – Über die politische Bedeutung der Verfassungsinterpretation, Frankfurt am Main 1977; siehe auch Rolf Lamprecht/Wolfgang Malanowski, Richter machen Politik – Auftrag und Anspruch des Bundesverfassungsgerichts, Frankfurt am Main 1979. 193 Siehe aus der damaligen Diskussion etwa Hans-Peter Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, NJW 1980, 2103ff.; Gunnar Folke Schuppert, Funktionellrechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, Königstein im Taunus 1980; Konrad Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Festschrift für Hans Huber, Bern 1981, S. 261ff.; Klaus Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, in: VVDStRL 39 (1981), 99, 106ff.; Brun-Otto Bryde, Verfassungsentwicklung – Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik, Baden-Baden 1982, S. 325 ff; Christoph Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, Berlin 1985. Aus der politikwissenschaftlichen Literatur vor allem Hans Vorländer, Verfassung und Konsens – Der Streit um die Verfassung in der Grundlagen- und Grundgesetz-Diskussion der Bundesrepublik Deutschland. Untersuchungen zu Konsensfunktion und Konsenschance der Verfassung in der pluralistischen und sozialstaatlichen Demokratie, Berlin 1981; Christine Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber – Wirkungen der Verfassungsrechtsprechung auf parlamentarische Willensbildung und soziale Realität, Baden-Baden 1984. 194 Insoweit ein zeitlicher Ausreißer: Werner Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit – Reichweite und Grenzen einer dogmatischen Argumentationsfigur, Baden-Baden 1992. 195 BVerfGE 50, 290. 196 Diese Einschätzung bei Hans Vorländer, Die Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts, in: van Ooyen/Möllers, Handbuch Bundesverfassungsgericht (o. Fn. 34), S. 299, 301.

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an Akzeptanz, seiner wichtigsten Machtressource,197 während der gesamten 1980er Jahre aufrechtzuerhalten.198 Erst die »unheilvolle Trinität«199 der innerhalb weniger Monate des Jahres 1995 ergangenen Entscheidungen in den Sachen »Sitzblockade II«200, »Kruzifix«201 und »Soldaten sind Mörder«202 ließ die Zustimmungswerte (kurzzeitig) wieder einbrechen. Das hohe Zustimmungsniveau der 1980er Jahre ist auf zwei Umstände zurückzuführen. Zum Ersten profitierte das Bundesverfassungsgericht von der in den 1980er wachsenden Parteienverdrossenheit.203 Es gehört zu den Ambivalenzen der Erfolgsgeschichte des Bundesverfassungsgerichts, dass dessen Ansehen gerade dann besonders hoch ist, wenn das Ansehen der politischen Parteien – wie in den 1980er Jahren infolge der Parteispendenskandale –204 besonders niedrig ist.205 Zum Zweiten lässt sich das hohe Zustimmungsniveau der 1980er Jahre dadurch erklären, dass das Bundesverfassungsgericht selbst als weniger politisiert wahrgenommen wurde als noch in den 1970er Jahren. Als Ausdruck der hierarchisch-legalistischen politischen Kultur in der Bundesrepublik beruht(e) die Autorität des Bundesverfassungsgerichts gerade auf dessen Wahrnehmung als über dem Parteienstreit stehende, nur dem (scheinbar) unpolitischen Schutz subjektiver Rechte verpflichtete Institution.206 Dass das Gericht in den 1980er Jahren als weniger politisiert wahrgenommen wurde, dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass die Kohl-Regierung – anders als die Regierungen Brandt und Schmidt – keine Reformagenda verfolgt hat, die sie in einen ernsthaften Konflikt mit dem Bundesverfassungsgericht hätte bringen können. Dabei gab Kohls Wende-Rhetorik, als deren inhaltlichen Kern Peter Hoeres die Aufwertung der Familie, die Revitalisierung des Nationsbegriffs und den Rekurs auf klassische 197 Zur besonderen Angewiesenheit auf Akzeptanz als Strukturproblem der Verfassungsgerichtsbarkeit Möllers, Legalität (Fn. 13), S. 281, 303–305. 198 Nachgewiesen bei Vorländer, Deutungsmacht (o. Fn. 196), S. 299, 310. 199 So Justin Collings, Phasen der öffentlichen Kritik am Bundesverfassungsgericht, in: Florian Meinel (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bonner Republik – Aspekte einer Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, Tübingen 2019, S. 63, 74. 200 BVerfGE 92, 1. 201 BVerfGE 93, 1. 202 BVerfGE 93, 266. 203 Collings, Guardians (o. Fn. 178), S. 181: »Confidence in the Court surged as trust in parties plummeted.« 204 Zu Flick-Affäre und Parteispenden-Skandal statt vieler Herbert, Geschichte (o. Fn. 123), S. 987–989. 205 Vgl. Christoph Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, in: Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht – Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, Berlin 2011, S. 9, 43f. 206 Vgl. Michaela Hailbronner, Rethinking the rise of the German Constitutional Court: From anti-Nazism to value formalism, I•CON 12 (2014), 626, 642ff.

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bürgerliche Tugenden identifiziert hat,207 durchaus Anlass zu der (freilich unterschiedlich konnotierten) Erwartung eines konservativen Rollbacks. Tatsächlich nahm die christlich-liberale Koalition die sozialliberalen Reformen aber nicht zurück, sondern wahrte im Gegenteil auch innenpolitisch Kontinuität bei allenfalls leichten Akzentverschiebungen auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik.208 Die »geistig-moralische Wende« mag also ein semantischer Kampfbegriff gewesen; gesetzgeberisch und verfassungsgerichtlich hinterließ sie kaum Spuren. Die Konsolidierung der institutionellen Stellung des Bundesverfassungsgerichts schuf eine strukturell günstige Bedingung für die Dogmatisierung der Verfassungsrechtswissenschaft. Denn je stärker die öffentliche Wahrnehmung eines Gerichts polarisiert, desto weniger liegt es nahe, dessen Entscheidungen dogmatisch und das heißt: durch entkontextualisierende Systematisierung (s. o.) zu verarbeiten und sie dadurch in gewisser Weise zu perpetuieren. Schon weil die Zustimmung zum U.S. Supreme Court nicht nur extrem volatil, sondern auch extrem polarisiert ist,209 konnte (Verfassungsrechts-)Dogmatik in den USA nie heimisch werden. Nur Entscheidungen, die sich – wie die bundesverfassungsgerichtliche Judikatur der 1980er Jahre – einigermaßen plausibel als reine Rechtserkenntnis darstellen lassen, eignen sich für einen dogmatischen Zugriff.

6.2

Fortsetzung der Grundrechtsexpansion

Auch weil das Bundesverfassungsgericht in den genuin politischen Streitfällen der 1980er Jahre eher zurückhaltend agierte,210 ist die Verfassungsrechtsprechung dieses Jahrzehnts – sieht man einmal von den weniger grundrechts-

207 Peter Hoeres, Von der Tendenzwende zur geistig-moralischen Wende – Konstruktionen und Kritik konservativer Signaturen in den 1970er und 1980er Jahren, VfZ 61 (2013), 93, 117f. 208 Übereinstimmende Einschätzung in der historischen Literatur, statt vieler Rödder, Bundesrepublik (o. Fn. 123), S. 93f. 209 Lag die Zustimmungsrate unter Anhängern der Republikanischen Partei 2015 bei historisch niedrigen 18 Prozent, ist sie nur drei Jahre später auf 72 Prozent angestiegen. Im gleichen Zeitraum hat sich die Zustimmungsrate unter demokratischen Wählern von 76 auf 38 Prozent regelrecht halbiert, siehe M. Brenan, Supreme Court Approval Highest Since 2009, Gallup v. 18. 06. 2018, URL = https://news.gallup.com/poll/237269/supreme-court-ap proval-highest-2009.aspx, zuletzt abgerufen am 08. 01. 2021. 210 Diese Einschätzung bei Collings, Phasen (o. Fn. 199), S. 73, der neben der Entscheidung zur Bundestagsauflösung (o. Fn. 132) auf das von der Grünen-Bundestagsfraktion erfolglos angestrengte Organstreitverfahren in Sachen Pershing II-Stationierung verweist (BVerfGE 68, 1). Weniger als Ausdruck von Zurückhaltung, sondern vielmehr als Dokumentation politischer Unabhängigkeit ist dagegen die Flick-Entscheidung anzusehen (BVerfGE 67, 100). Zu ihr näher Collings, Guardians (o. Fn. 178), S. 199–202.

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freundlichen Entscheidungen in den Sachen »Kriegsdienstverweigerung II«211 sowie »Sitzblockade I«212 ab – durch eine Fortsetzung der bereits in den 1950er Jahren begonnenen Grundrechtsexpansion charakterisiert.213 In der ersten Hälfte der 80er Jahre ergingen bedeutende Leitentscheidungen zu einzelnen Grundrechten, namentlich das 3. Rundfunkurteil, in dem das Bundesverfassungsgericht die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die (bis heute bestehende) duale Rundfunkordnung legte,214 die Pflichtexemplar- und die Nassauskiesungsentscheidung, in denen es den grundrechtlichen Eigentumsschutz völlig neu konzipierte,215 das Volkszählungsurteil, in dem es – nach tatkräftiger Vorarbeit der Wissenschaft –216 das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung entwickelte und dadurch den Schutz personenbezogener Daten grundrechtlich nobilitierte217 und schließlich der Brokdorf-Beschluss, in dem das Bundesverfassungsgericht die Versammlungsfreiheit zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens erklärte und dadurch einen wesentlichen Beitrag zur Integration der neuen (und anfangs durchaus

211 BVerfGE 69, 1; näher zur Entscheidung und der durch sie ausgelösten publizistischen Empörung Collings, Guardians (o. Fn. 178), S. 211f. 212 BVerfGE 73, 206; näher zur Entscheidung und ihrer späteren Revision durch die Verwerfung des »vergeistigten Gewaltbegriffs« Carl-Friedrich Stuckenberg, BVerfGE 92, 1/73, 206 – Sitzblockade und Mutlangen, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung – Ausgewählte Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Retrospektive, 3. Aufl., Tübingen 2017, S. 568ff. 213 Zu der bereits in der frühen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angelegten Extensivierung (Elfes), Intensivierung (Apotheke) und Pluralisierung (Lüth) des Grundrechtsschutzes Horst Dreier, Deutschland, in: Armin von Bogdandy/Pedro Cruz Villalón/ Peter M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. I: Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts, Heidelberg 2007, § 1 Rn. 133ff. 214 BVerfGE 57, 295. Weitere bedeutende Rundfunkentscheidungen aus den 1980er Jahren: BVerfGE 73, 118 (»4. Rundfunkurteil«); BVerfGE 74, 297 (»5. Rundfunkurteil«). Zur rundfunkrechtlichen Judikatur der 1980er Jahre zusammenfassend Christoph Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, München, Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 GG Rn. 542– 544 (Stand: 85. EL November 2018). 215 BVerfGE 58, 137 (»Pflichtexemplar«); BVerfGE 58, 300 (»Nassauskiesung«). Zur Bedeutung dieser Entscheidungen Matthias Cornils, BVerfGE 58, 137 – Pflichtexemplar – Verhältnismäßigkeits- und Sonderopferausgleich bei enteignend wirkenden Inhaltsbestimmungen, in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung (o. Fn. 212), S. 334ff.; ders., BVerfGE 58, 300 – Nassauskiesung – Grundwasserschutz vs. Kiesbaggerei: Die Rückeroberung der Interpretationshoheit über die Eigentumsgarantie, in: ebd., S. 343ff. 216 Näher Tim Wihl, Die Entwicklung »neuer« Grundrechte: Das Volkszählungs-Urteil und das Urteil zur Online-Durchsuchung, in: Grimm, Vorbereiter (o. Fn. 1), S. 307, 311–318. 217 BVerfGE 65, 1; für eine zeitgeschichtliche Einordnung siehe Andreas Peilert, BVerfGE 65, 1 – Volkszählung – Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Konkretisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung (o. Fn. 212), S. 371ff.

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systemoppositionellen) Protestbewegungen in die demokratische Verfassungsordnung leistete.218 Mit diesen Entscheidungen tilgte das Bundesverfassungsgericht die letzten weißen Flecken auf der einzelgrundrechtlichen Landkarte, nachdem es die allgemeine Grundrechtsdogmatik bereits mit dem 1979 ergangenen MühlheimKärlich-Beschluss219 und dem darin entwickelten Gedanken eines Grundrechtsschutzes durch Verfahren zu einem (vorläufigen) Abschluss gebracht hatte.220 Die Richterinnen und Richter, die ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in das Gericht eintraten, fanden deshalb kaum noch rechtsprechungsfreie Räume vor. Im Unterschied noch zur Richtergeneration vor ihnen bestand ihre Aufgabe im Wesentlichen nur noch darin, neue Entwicklungen in das Vorgefundene einzubauen,221 zum Beispiel durch die Anerkennung weiterer Teilgehalte des in der Rechtsprechung bereits etablierten allgemeinen Persönlichkeitsrechts222 oder später durch die Amalgamierung von Abwehrrecht, Ausstrahlungswirkung und Schutzpflichtendimension in der Rechtsprechung zu asymmetrischen Privatrechtsbeziehungen223. Überhaupt lassen sich die 1980er Jahre nicht nur in der Verfassungsrechtsprechung,224 sondern vor allem auch in der Verfassungsrechtswissenschaft als ein Schutzpflichten-Jahrzehnt kennzeichnen.225 Der Verfassungsrechtswissenschaft bot die Ausarbeitung der grundrechtlichen Schutzpflichtendimension die Möglichkeit, sich an der von Ulrich Beck angestoßenen

218 BVerfGE 69, 315; ausführlich zur Integrationsleistung des Brokdorf-Beschlusses Oliver Lepsius, Versammlungsrecht und gesellschaftliche Integration, in: Anselm Doering-Manteuffel/Bernd Greiner/Oliver Lepsius (Hrsg.), Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 1985 – Eine Veröffentlichung aus dem Arbeitskreis für Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte an der Akademie der Wissenschaften und Literatur, Mainz, Tübingen 2015, S. 113ff. 219 BVerfGE 53, 30. 220 Diese Einschätzung bei Dieter Grimm, »Ich bin ein Freund der Verfassung – Wissenschaftsbiographisches Interview von Oliver Lepsius, Christian Waldhoff und Matthias Roßbach mit Dieter Grimm, Tübingen 2017, S. 135. Zum Mühlheim-Kärlich-Beschluss und der durch ihn ausgelösten »Blütezeit des Grundrechtsschutzes durch Verfahren in Rechtsprechung und Literatur« der 1980er Jahre jetzt näher Sebastian Hartwig, Grundrechtsschutz durch Verfahren: Der Mühlheim-Kärlich-Beschluss, in: Grimm, Vorbereiter (o. Fn. 1), S. 261ff. 221 Diese Einschätzung bei Oliver Lepsius, in: Grimm, Freund (o. Fn. 220), S. 133f. 222 BVerfGE 79, 256 (zum Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung); siehe auch BVerfGE 80, 367 (zur Verwertbarkeit tagebuchartiger Aufzeichnungen des Beschuldigten im Strafverfahren). 223 BVerfGE 81, 242 (Handelsvertreter); BVerfGE 89, 214 (Bürgschaft). 224 BVerfGE 56, 54 (Fluglärm); BVerfGE 77, 170 (Lagerung chemischer Waffen); BVerfGE 79, 174 (Straßenverkehrslärm). 225 Zur eifrigen Arbeit an der Schutzpflicht als grundrechtsdogmatischer Figur in den 1980er Jahren m. w. N. Bumke, Entwicklung (o. Fn. 7), 1, 57–61.

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Debatte um die »Risikogesellschaft«226 mit spezifisch verfassungsrechtlichen Mitteln zu beteiligen. Für eine echte Neuerung, die die Verfassungsrechtswissenschaft in den folgenden Jahren stark beschäftigen sollte, sorgte das Bundesverfassungsgericht bereits 1980, als es die Anforderungen an die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen dadurch verschärfte, dass es die hergebrachte »Willkürformel« jedenfalls bei Ungleichbehandlungen größerer Intensität durch die strengere, weil an der Verhältnismäßigkeitsprüfung orientierte »Neue Formel« ersetzte.227 Nicht zuletzt infolge der erstmals in den 1980er Jahren aufgekommenen Diskussion um Frauenquoten nahm in der Literatur auch die Beschäftigung mit den bis dahin gerichtlich wie dogmatisch verschatteten besonderen Gleichheitsrechten zu.228 Die gleichheitsrechtliche Relativierung des jahrzehntelang vorherrschenden freiheitsrechtlichen Paradigmas war auch eine Folge der (sehr) allmählichen Feminisierung der Verfassungsrechtswissenschaft, die ebenfalls in den 1980er Jahren einsetzte.229 In den 1990er Jahren erschienen dann die den gleichheitsrechtlichen Diskurs bis heute prägenden Dissertationen von Ute Sacksofsky230 und Susanne Baer231.

6.3

Zunahme an Rechtsprechungsmasse

Ein dritter Faktor, der einen Einfluss auf die Dogmatisierung der Verfassungsrechtswissenschaft hatte, ist die Zunahme an von ihr zu verarbeitender Rechtsprechungsmasse, für die sich ihrerseits zwei Gründe ausmachen lassen. Zum Ersten ist das Aufkommen der Kammerrechtsprechung zu nennen. Mit der 226 Ulrich Beck, Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986. 227 BVerfGE 55, 72, 88f. Zur Entwicklung der Gleichheitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Gabriele Britz, Der allgemeine Gleichheitssatz in der Rechtsprechung des BVerfG – Anforderungen an die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen durch Gesetz, NJW 2014, 346ff. 228 Näher Bumke, Entwicklung (o. Fn. 7), 1, 74f. 229 Aus einem Abgleich der Mitgliederverzeichnisse der Staatsrechtslehrervereinigung ergibt sich, dass zum 31. 12. 1979 mit Ilse Staff nur eine Frau der Staatsrechtslehrervereinigung angehörte, zum 15. 8. 1990 waren es fünf Frauen (neben Ilse Staff noch Gertrude LübbeWolff, Diemut Majer, Lerke Osterloh und Beatrice Weber-Dürler) und zum 11. 4. 2000 dann immerhin schon 20. Zur »Perspektivenerweiterung durch Genderforschung in der Rechtswissenschaft« siehe auch die Debatte in JöR n. F. 67 (2019), 361ff. 230 Ute Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung – Eine rechtsdogmatische Untersuchung zu Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes, Baden-Baden 1991 (2. Aufl. 1996). 231 Susanne Baer, Würde oder Gleichheit – Zur angemessenen grundrechtlichen Konzeption von Recht gegen Diskriminierung am Beispiel sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, Baden-Baden 1995.

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Organisationsreform aus 1985 richtete der Gesetzgeber Kammern als neue Spruchkörper des Bundesverfassungsgerichts ein, die im Unterschied zu den vorher bestehenden sog. Dreier-Ausschüssen offensichtlich begründeten Verfassungsbeschwerden auch stattgeben durften.232 Weil die Kammern in der Folgezeit immer häufiger und immer selbstbewusster von der ihnen eingeräumten Stattgabekompetenz Gebrauch machten und dabei die gesetzlichen Grenzen ihrer eigentlich auf die fallweise Konkretisierung bereits bestehender Maßstäbe beschränkten Entscheidungszuständigkeit eher großzügig interpretierten,233 musste die Verfassungsrechtswissenschaft – wollte sie mit dem Bundesverfassungsgericht Schritt halten – fortan nicht mehr nur die Senatsrechtsprechung, sondern auch die Kammerrechtsprechung zur Kenntnis zu nehmen.234 Zum Zweiten musste die Verfassungsrechtswissenschaft der 1980er Jahre auch immer mehr Senatsrechtsprechung verarbeiten. Allein zwischen 1980 und 1990 erschienen 28 Bände der amtlichen Entscheidungssammlung und damit so viele wie in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten zusammen. Mehr noch als die bloße Anzahl an Senatsentscheidungen nahm deren jeweiliger Umfang zu.235 Das dürfte zu einem nicht unerheblichen Teil damit zusammenhängen, dass sich das Verfassungsgericht spätestens seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre immer häufiger mit eigenen, zum Teil schon Jahrzehnte alten, durch ihre abstraktgenerelle Formulierung aber gewissermaßen entzeitlichten Auslegungsmaßstäben konfrontiert sah, zu denen es sich in der Entscheidungsbegründung dann irgendwie verhalten musste.236 232 Zur Ablösung der Dreier-Ausschüsse durch die kompetenziell aufgewerteten Kammern statt aller Gerhard Ulsamer, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, München, § 15a BVerfGG Rn. 1 (Stand: 19. EL Oktober 2000). 233 Kritische Analyse der Kammerrechtsprechung bei Christian Hillgruber, Ohne rechtes Maß? Eine Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach 60 Jahren, JZ 2011, 861, 867–869; aufschlussreicher Insider-Bericht zu den unterschiedlichen Funktionen der Kammern bei Johannes Masing, Entscheidung in unterschiedlichen Spruchkörpern – Einblick in die innere Verfassung des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt/ Hidemi Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung II – Verfassungsentwicklung durch Verfassungsgerichte, Tübingen 2019, S. 177, 188–192. 234 Zu einem Ausdruck des Bedeutungszuwachses der Kammerrechtsprechung wurde die 2004 begonnene (allerdings 2014 wieder eingestellte) amtliche Veröffentlichung solcher Kammerentscheidungen, die aus der gerichtlichen Binnensicht bedeutend und deshalb von der Verfassungsrechtswissenschaft wahrzunehmen waren (»BVerfGK«). 235 Nachgewiesen bei Michaela Hailbronner/Stefan Martini, The German Federal Constitutional Court, in: András Jakab/Arthur Dyevre/Giulio Itzcovich (Hrsg.), Comparative Constitutional Reasoning, Cambridge 2017, S. 356, 381. Danach betrug die durchschnittliche Länge einer in der amtlichen Entscheidungssammlung abgedruckten Senatsentscheidung in den 1950er Jahren noch 11,77 Seiten und in den 1980er Jahren schon 16,99 Seiten (und ist seitdem weiter angewachsen). 236 Zum Maßstabsproblem Lepsius, Gewalt (o. Fn. 65), S. 159ff.

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Professoralisierung der Richterschaft

Der letzte, für die Dogmatisierung der Verfassungsrechtswissenschaft wichtige Aspekt besteht in der zunehmenden Professoralisierung des Gerichts. Gehörten dem Gericht 1980 nur zwei Professoren an (Konrad Hesse im Ersten Senat; Helmut Steinberger im Zweiten Senat), waren es 1990 schon fünf (Roman Herzog und Dieter Grimm im Ersten Senat; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Paul Kirchhof und Hans Hugo Klein im Zweiten Senat). Das Gericht, dem in seiner Frühphase kaum Staatsrechtslehrer angehört hatten,237 wurde ab den 1980er Jahren immer mehr zu einem Professoren-Gericht, wodurch es noch stärker als zuvor zum Gravitationszentrum der Verfassungsrechtswissenschaft wurde. Einen (vorläufigen) Höhepunkt erreichte der Professoralisierungs-Trend in den Jahren zwischen 2011 und 2018, als neun der sechzehn Verfassungsrichter(innen) zugleich Mitglieder der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer waren.238 In ihrem Vor- und Parallelleben als Wissenschaftler waren die in den 1980er Jahren an das Bundesverfassungsgericht berufenen Professoren-Richter zwar keine eisernen Dogmatiker. Als Richter waren sie aber gegenüber dogmatischen Argumenten schon deshalb besonders aufgeschlossen, weil nur die Dogmatik ein gemeinsames Kommunikationsformat mit der Wissenschaft bereitstellt.239 Verfassungsrechtsdogmatik ist, anders gewendet, »beider gemeinsame Sprache«240. Aus legitimatorischen Gründen ist das Bundesverfassungsgericht darauf angewiesen, dass politische Interessen sowie staats- und rechtsphilosophische Überzeugungen in dogmatische Argumente übersetzt werden. In dem Maße, in dem sich die Verfassungsrechtswissenschaft dieser Übersetzungsaufgabe (zumal in Gutachten und Prozessvertretungen) angenommen hat, hat sie zwar einen enormen praktischen Bedeutungsgewinn erfahren. Der Preis für diesen praktischen Erfolg war jedoch, wie Christoph Möllers konstatiert, »ein Verlust an eigenständiger und origineller Wissenschaftlichkeit«241. In den USA, wo Rechts237 Der aus 24 Richtern bestehenden Erstbesetzung des Bundesverfassungsgerichts gehörten mit Gerhard Leibholz, Ernst Friesenhahn und Martin Drath drei Staatsrechtslehrer an. Nach Leibholz’ Ausscheiden aus dem Gericht (1971) gehörte dem Gericht bis zum Amtsantritt Konrad Hesses (1975) kein Staatsrechtslehrer mehr an (sondern mit Hans Brox nur ein Zivilrechtsprofessor). Der Erste Senat war sogar zwölf Jahre lang »staatsrechtslehrerlos« (1963–1975). Dazu im Detail Oppermann, Bundesverfassungsgericht (o. Fn. 20), S. 421, 428ff. 238 Derzeit (Stand: Januar 2021) gehören dem Bundesverfassungsgericht acht Staatsrechtslehrer(innen) an. 239 Dazu grundlegend Jestaedt, Recht (o. Fn. 48), S. 117, 127f. 240 Matthias Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht – Was das Gericht zu dem macht, was es ist, in: ders. u. a., Das entgrenzte Gericht – Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, Berlin 2011, S. 77, 130. 241 Möllers, Grundgesetz (o. Fn. 37), S. 99; gleichsinnig Jestaedt, Staatsrechtslehre (o. Fn. 5), S. 7.

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praxis und Rechtswissenschaft nicht über ein vergleichbares gemeinsames Kommunikationsformat verfügen, ist das Verhältnis von Theorie und Praxis gewissermaßen umgekehrt: die weltweit beachtete Theoriebildung der US-amerikanischen Verfassungsrechtswissenschaft korrespondiert mit ihrer praktischen Bedeutungslosigkeit.242

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Die Verfassungsrechtswissenschaft nach ihrer Dogmatisierung

Dem dogmatisierenden Jahrzehnt der 1980er Jahre folgte das dogmatische Jahrzehnt der 1990er Jahre. Die Wiedervereinigung bedeutete disziplingeschichtlich auch deshalb keine Zäsur, weil die etatistisch orientierten Staatsrechtslehrer ihr staatstheoretisches Argumentationsreservoir im Wiedervereinigungsprozess gerade nicht ausschöpften, sondern im Gegenteil aus (verfassungs-)politisch durchsichtigen Gründen auf eine strikt verfassungsformalistische Argumentation umstellten.243 Die durch die Wiedervereinigung aufgeworfenen Verfassungsfragen (u. a. Bodenreform; Treuhandanstalt; Schwangerschaftsabbruch; Mauerschützen) wurden vielmehr sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Wissenschaft erfolgreich dogmatisch kleingearbeitet und dadurch weitgehend entpolitisiert. Ein Effekt der Hegemonialstellung der Verfassungsrechtsdogmatik bestand freilich darin, dass die Innovations- und Reformimpulse, die in den 1960er und 1970er Jahren noch im Verfassungsrecht beheimatet waren, in den 1990er Jahren allmählich in das Verwaltungsrecht abwanderten (»Neue Verwaltungsrechtswissenschaft«).244 Wie stellt sich nun die heutige Lage des Fachs dar? Ist ihr kollektiver Denkstil immer noch zutreffend als Verfassungsrechtsdogmatik zu kennzeichnen? Zur Beantwortung dieser Fragen bietet es sich an, die heutige Verfassungsrechtswissenschaft mit der Verfassungsrechtswissenschaft der 1980er Jahre zu vergleichen. Vier signifikante Unterschiede lassen sich dabei ausmachen, die ich hier nur skizzenhaft umreißen kann. Erstens ist die heutige Verfassungsrechts-

242 Vgl. Reinhard Zimmermann, England und Deutschland: Unterschiedliche Rechtskulturen?, Göttingen 2019, S. 51f. 243 Näher Möllers, Leviathan (o. Fn. 24), S. 70f.; Schönberger, »German Approach« (o. Fn. 54), S. 42f. 244 Gärditz, Staatsrechtslehre (o. Fn. 21), 633, 647: »[S]eit den 1990er Jahren [hat sich] der grundlagenorientierte Diskurs und damit das intellektuelle Zentrum der Staatsrechtslehre stärker in das Verwaltungsrecht verschoben«.

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wissenschaft selbstreflexiver,245 grundlagenorientierter und methodenbewusster. Die Grundlagenorientierung kommt vor allem in einer Re-Orientierung an rechtswissenschaftlichen Grundkategorien wie Staat,246 Verfassung,247 Demokratie,248 Souveränität249 und Föderalismus250 zum Ausdruck. Die neue Methodendiskussion ist vor allem eine Dogmatikdiskussion. In den 1980er Jahren wurde Dogmatik betrieben, nicht reflektiert.251 Heute reicht das Meinungsspektrum von prinzipieller Ablehnung252 bis hin zu entschiedener Verteidigung des dogmatic approach.253 Zweitens – aber eng mit dem ersten Aspekt verbunden – lässt sich gegenwärtig eine Renaissance der konstitutionellen Grundlagendisziplinen beobachten, also vor allem der Verfassungstheorie254 und der Allgemeinen Staatslehre255. Bei der Verfassungsvergleichung muss man wohl eher von einer Naissance sprechen, zumal wenn sie in Gestalt der Wissenschaftsvergleichung auftritt.256 Drittens ist die heutige Verfassungsrechtswissenschaft methodisch und thematisch pluraler als die Verfassungsrechtswissenschaft der 1980er Jahre. Die methodische Pluralisierung äußert sich zum Beispiel in verstärkten Kontaktaufnahmen mit den Sozialwissenschaften,257 aber auch mit den Kulturwissenschaften258 und der 245 Zur Konjunktur der Selbstvergewisserungs-Literatur m. w. N. Julian Krüper, Die Verfassung der Berliner Republik – Verfassungsrecht und Verfassungsrechtswissenschaft in zeitgeschichtlicher Perspektive, Rg 23 (2015), 16, 37f. 246 Pars pro toto: Udo di Fabio, Staat im Recht, Tübingen 2020. 247 Pars pro toto: Uwe Volkmann, Verfassungsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit, VVDStRL 67 (2008), 57ff. 248 Pars pro toto: Oliver Lepsius, Rechtswissenschaft in der Demokratie, Der Staat 52 (2013), 157ff. 249 Pars pro toto: Ulrich Haltern, Was bedeutet Souveränität?, Tübingen 2007. 250 Pars pro toto: Stefan Oeter, Föderalismus und Demokratie, in: Armin von Bogdandy/ Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., Wiesbaden 2009, S. 73ff. 251 Zu den wenigen Ausnahmen gehören: Alexy, Theorie (o. Fn. 43), S. 22–27; Morlok, Verfassungstheorie (o. Fn. 111), S. 39–43 (beide indes charakteristischerweise dogmatikaffirmativ). 252 Siehe bereits o. Fn. 5. Zur neopositivistischen Provenienz der neueren Dogmatikkritik Frick, Staatsrechtslehre (o. Fn. 29), S. 186ff. 253 Jens Kersten, Warum Dogmatik?, rescriptum 2012, 67ff.; Dreier, Rechtswissenschaft (o. Fn. 52), S. 25 ff; Kahl, Wissenschaft (o. Fn. 47), S. 65ff. 254 Jestaedt, Verfassung (o. Fn. 5); Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, Tübingen 2010; Uwe Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 2013. 255 Thomas Vesting, Staatstheorie, München 2018; Alexander Thiele, Allgemeine Staatslehre – Begriff, Möglichkeit, Fragen im 21. Jahrhundert, Tübingen 2020. 256 Beispielgebend: Armin von Bogdandy/Pedro Cruz Villalón/Peter M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. II: Offene Staatlichkeit – Wissenschaft vom Verfassungsrecht, Heidelberg 2008. 257 Pars pro toto: Andreas von Arnauld, Die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht nach einer Öffnung für sozialwissenschaftliche Theorie, in: Andreas Funke/Jörn Lüdemann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Wissenschaftstheorie, Tübingen 2009, S. 65ff.

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politischen Theorie259. Die thematische Pluralisierung zeigt sich insbesondere in einem wiedergewonnenen Interesse an organisationsverfassungsrechtlichen Fragen.260 Viertens und letztens ist das Verhältnis zwischen Verfassungsgericht und Verfassungsrechtswissenschaft – gerade als Folge der Ent-Dogmatisierung –261 heute längst nicht mehr als symbiotisch zu kennzeichnen. Die heutige Kritik am Bundesverfassungsgericht ist nicht unbedingt schärfer als zum Beispiel während der Zeitgeistkrise der 1990er Jahre;262 sie ist aber aus gerichtlicher Sicht deutlich bedrohlicher, weil sie die Legitimations- und damit die Existenzfrage stellt.263 Freilich bedeuten diese Unterschiede nicht, dass Dogmatik als verfassungsrechtswissenschaftliche Arbeitsweise heute marginalisiert wäre. Davon kann schon deshalb keine Rede sein, weil es noch nie so viele Grundgesetzkommentare und (dogmatisch ausgerichtete) Verfassungsrechtslehrbücher wie heute gab.264 Dogmatik ist aber nicht mehr der Denkstil der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft, sondern nur noch ein wissenschaftlicher Problemzugriff unter vielen. Wie erklärt sich dieser Rangverlust der Dogmatik? Dazu abschließend drei Antwortversuche, die ebenfalls skizzenhaft bleiben müssen, aus denen sich aber implizit auf die Lage des Fachs in den 1980er Jahren rückschließen lässt. Die erste, zugleich wichtigste und offensichtlichste Ursache für den Rangverlust der Verfassungsrechtsdogmatik ist die zunehmende Konstitutionalisierung der Europäischen Union, die sich in ähnlich fundamentaler Weise auf staats- und verfassungsrechtliche Grundkategorien auswirkt wie ehedem die Umstellung der Legitimationsgrundlage vom monarchischen Prinzip auf das Prinzip der Volkssouveränität, weshalb deren theoretische Verarbeitung eine Wiederanknüpfung an den Weimarer Theoriefundus nahegelegt hat.265 Schon der Maas-

258 Pars pro toto: Julian Krüper, Konjunktur kulturwissenschaftlicher Forschung in der Wissenschaft vom öffentlichen Recht, in: Funke/Krüper/Lüdemann, Konjunkturen (o. Fn. 155), S. 125ff. 259 Pars pro toto: Christoph Möllers, Die drei Gewalten – Legitimation der Gewaltengliederung in Verfassungsstaat, Europäischer Integration und Internationalisierung, 2. Aufl., Göttingen 2015. 260 Pars pro toto: Julian Krüper/Arne Pilniok (Hrsg.), Organisationsverfassungsrecht – Wissenschaft – Theorie – Praxis, Tübingen 2019. 261 Zur dogmatikvermittelten Nähebeziehung zwischen Bundesverfassungsgericht und Staatsrechtslehre Jestaedt, Phänomen (o. Fn. 240), S. 77, 124ff. 262 Dazu näher Helmuth Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeists – Zur Metadogmatik der Verfassungsinterpretation, AöR 122 (1997), 1ff. 263 Schönberger, Anmerkungen (o. Fn. 205), S. 9, 57ff. 264 Josef Franz Lindner, Desiderate an die deutsche Staatsrechtslehre, JZ 2015, 589, 590f. 265 Heiko Sauer, Von Weimar nach Lissabon? Zur Aktualität des Methoden- und Richtungsstreits der Weimarer Staatsrechtslehre bei der Bewältigung von Europäisierung und

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tricht-Vertrag, aber spätestens die Anfang der 2000er Jahre geführten Diskussionen über den geplanten »Vertrag über eine Verfassung für Europa« ließen die deutsche Staatsrechtslehre aus ihrem »nationalen Dornröschenschlaf«266 erwachen und das öffentliche Recht insgesamt in eine zweite, nicht mehr durch Binnen-, sondern durch Außenorientierung gekennzeichnete Phase eintreten.267 Die der Verfassungsrechtswissenschaft durch die Integrationsvertiefung gestellte Aufgabe kommt im Untertitel der Habilitationsschrift von Utz Schliesky paradigmatisch zum Ausdruck: »Die Weiterentwicklung von Begriffen der Staatslehre und des Staatsrechts im europäischen Mehrebenensystem«268. Zweitens sind dem Bundesverfassungsgericht mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der erst seit Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls zur EMRK (1998) ein ständiger, kompetenzstarker Menschenrechtsgerichtshof ist, sowie dem Europäischen Gerichtshof, der sich seit Verabschiedung der Grundrechtecharta (2000) immer mehr als Grundrechtsgericht versteht, neue institutionelle Konkurrenzen erwachsen. Das spannungsreiche, durch institutionenpolitische Kalküle geprägte Verhältnis dieser Gerichte lässt sich nicht mit dogmatischen Bordmitteln verarbeiten.269 Die Verlagerung der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit von den Grundrechten zum Organisationsverfassungsrecht erklärt sich schließlich drittens aus den strukturellen Veränderungen des bundesdeutschen Parteiensystems, die in Politologie und Soziologie schon seit längerem unter Chiffren wie »Pluralisierung«270, »Polarisierung«271 oder »Niedergang der Volksparteien«272 diskutiert werden. Vor allem hat sich mit der AfD zum ersten Mal in der bundesdeutschen

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Internationalisierung des öffentlichen Rechts, in: Ulrich Jan Schröder/Antje von UngernSternberg (Hrsg.), Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre, Tübingen 2011, S. 237ff. Wendung bei Ulrich Haltern, Europarecht – Dogmatik im Kontext, Bd. I: Entwicklung, Institutionen, Prozesse, 3. Aufl., Tübingen 2017, Rn. 49. Zur Entwicklung des öffentlichen Rechts nach 1949 als Abfolge zweier Phasen Rainer Wahl, Zwei Phasen des Öffentlichen Rechts nach 1949, in: ders., Verfassungsstaat (o. Fn. 138), S. 411ff. Utz Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt – Die Weiterentwicklung von Begriffen der Staatslehre und des Staatsrechts im europäischen Mehrebenensystem, Tübingen 2004. Lembcke/Frick, Staatsrechtslehre (o. Fn. 3), S. 123, 130f. Oskar Niedermayer, Von der Zweiparteiendominanz zum Pluralismus: Die Entwicklung des deutschen Parteiensystems im westeuropäischen Vergleich, PVS 51 (2010), 1ff. Manfred G. Schmidt, Das politische System Deutschlands – Institutionen, Willensbildung und Politikfelder, 3. Aufl., München 2016, S. 100–103; Aiko Wagner, Typwechsel 2017? – Vom moderaten zum polarisierten Pluralismus, ZParl 50 (2019), 114ff. Klaus von Beyme, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, 12. Aufl. 2017, S. 205–210; Lothar Probst, Geschichte der Parteienlandschaft der Bundesrepublik, APuZ 46–47/2018, 14, 18–20; Oliver Nachtwey, System ohne Stabilität. Der Niedergang der Volksparteien, Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2019, 95ff.

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Geschichte eine Partei etabliert, die sich – anders als die Grünen in den 1980er Jahren –273 nicht in die verfassungsrechtliche Ordnung integrieren lässt, sondern die stattdessen immer offener die verfassungsrechtliche Systemfrage stellt274 und auch die institutionalisierte Konsenskultur des deutschen Parlamentarismus vor verfassungsrechtlich bedeutsame Herausforderungen stellt.275 Fassen wir abschließend zusammen: Seit dem Siegeszug der »juristischen Methode« im Spätkonstitutionalismus wechselten sich in der Geschichte der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft stärker dogmatisch und stärker theoretisch geprägte Phasen ab. Diese Denkstilveränderungen hatten jeweils wissenschaftsexogene Gründe, die vor Gründung der Bundesrepublik durch staatsrechtliche Zäsuren markiert sind (Zusammenbruch der Monarchie und Gründung der Weimarer Republik; Untergang des Nationalsozialismus und Entstehung des Grundgesetzes). Nach Gründung der Bundesrepublik fehlt es an solchen eindeutigen Zäsuren. Die Denkstilveränderungen der letzten 70 Jahre beruhten jeweils auf dem zeitlichen Zusammentreffen mehrerer Faktoren. Aus dieser kurzen Methodengeschichte der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft lässt sich freilich kein Entwicklungsgesetz ableiten. Es ist nicht gleichsam naturgesetzlich vorgegeben, dass die Verfassungsrechtswissenschaft in wenigen Jahren zu einer stärker dogmatisch geprägten Arbeitsweise zurückkehren wird. Umgekehrt lässt sich aber auch nicht sagen, dass durch Europäisierung und Internationalisierung die Bedingungen für dogmatisches Arbeiten dauerhaft weggefallen sind. Die Zukunft ist, wie immer, offen.

273 Zur Integration der Grünen zu Verfassungspatrioten durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung der 1980er Jahre Lepsius, Versammlungsrecht (o. Fn. 218), S. 113, 124–129. 274 Zur daraus erwachsenden Verantwortung für die Staatsrechtslehre Christoph Möllers, Editorial, Der Staat 56 (2017), 485ff. 275 Christoph Schönberger/Sophie Schönberger, Die AfD im Bundestag – Zum rechtlichen Umgang mit einem parlamentarischen Neuling, JZ 2018, 105ff.