Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea 3110217597, 9783110217599

Die Konzeption des Denkens bei Parmenides zu klären und ihre Bedeutung für seine gesamte Philosophie herauszuarbeiten, i

185 59 1MB

German Pages 286 [284] Year 2015

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea
 3110217597, 9783110217599

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
1. Einleitung
2. Die Diskussion um die Begriffe „noos, noein, noema“ bei Parmenides
3. Aletheia: Denken und Sein
4. Das Denken in der Welt der ‚Doxa‘
5. Zur Erlösung
6. PARMENIDOU PERI NOHSEWS. Zusammenfassung
Backmatter

Citation preview

Maria Marcinkowska-Roso´ł Die Konzeption des ,noein‘ bei Parmenides von Elea

Studia Praesocratica Herausgegeben von / Edited by

M. Laura Gemelli Marciano · Richard McKirahan Denis O’Brien · Oliver Primavesi · Christoph Riedweg David Sider · Gotthard Strohmaier · Georg Wöhrle Band 2

De Gruyter

Die Konzeption des ,noein‘ bei Parmenides von Elea von

Maria Marcinkowska-Roso´ł

De Gruyter

ISBN 978-3-11-021759-9 e-ISBN 978-3-11-021760-5 ISSN 1869-7143 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Satz: Readymade Buchsatz, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Die vorliegende Untersuchung stellt die überarbeitete Fassung meiner ursprünglich auf Polnisch verfassten Dissertation dar, die am 26. Juni 2007 von der Philologischen Fakultät der Uniwersytet Mikołaja Kopernika in ToruĔ angenommen wurde. Ich danke folgenden Personen: Herrn Prof. Dr. Sławomir Wyszomirski für die engagierte Betreuung der Dissertation; den Gutachtern der Dissertation, Frau Prof. Dr. Janina Gajda-Krynicka (Uniwersytet Wrocławski) und Herrn Prof. Dr. Krzysztof Narecki (Katolicki Uniwersytet Lubelski), für wertvolle Hinweise zur Verbesserung der ursprünglichen Fassung; Herrn Prof. Dr. Georg Wöhrle (Universität Trier) für die unermüdliche Unterstützung und das große Interesse, mit denen er den Entstehungsprozess dieses Buchs begleitete; Frau Mechthild Siede und Herrn Dr. Johannes Schwind (Universität Trier) für die Korrektur der Druckfahnen einzelner Kapitel der Arbeit; Herrn Schwind außerdem für fachkundigen Rat; Frau Katrin Beer (Universität Trier) für die Mühe, den Index zu erstellen; schließlich den Herausgebern der Studia Praesocratica für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe. Besonderen Dank schulde ich Frau Cecilie Koch für ihre hingebungsvolle Korrektur der Übersetzung und ihre Hilfe beim Lesen der Druckfahnen. Trier, Dezember 2009

Maria Marcinkowska-Rosół

Inhalt

Vorwort

5

1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

Die Diskussion um die Begriffe ‚noos, noein, noƝma‘ bei Parmenides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

3 3.1

9

Aletheia: Denken und Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Die Parmenideische Einführung in die Wege der Forschung (Fr. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3.2 Denken und „ist nicht“ – der Elenchos . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3.2.1 Fragment 3 und das Problem der Begründung von Fr. 2.7-8 . . 61 3.2.2 Die Argumentation gegen das Nichtseiende in antiken Quellen 74 3.2.3 Die Argumentation gegen den Weg „ist nicht“. . . . . . . . . . . . . 76 3.2.4 Zur Konzeption des Denkens in der Argumentation gegen „ist nicht“ und in der Kritik an den Sterblichen. . . . . . . 81 3.3 Denken und „ist“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3.3.1 Das Seiende als Objekt des Denkens (Fr. 6.1-2) . . . . . . . . . . . . 91 3.3.1.1 Interpretationsprobleme von Fr. 6.1-2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3.3.1.2 Die Argumentation in den antiken Zeugnissen . . . . . . . . . . . . 102 3.3.1.3 Die Paraphrase von Fr. 6.1a bei Simplikios und ihre Bedeutung für die Interpretation des Fragments . . . . . . . . . . . 104 3.3.1.4 Fragment 6.1a im Lichte der Textkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 3.3.1.5 Vorschlag einer neuen Interpretation des Fragments . . . . . . . . 109 3.3.2 Fragment 8.34-41. Die Identität von Denken und Sein . . . . . . 113 3.3.2.1 Probleme der Interpretation in der bisherigen Forschung . . . . . 113 3.3.2.2 Fr. 8.36a-41: Sein und Zeit bei Parmenides . . . . . . . . . . . . . . . 132 3.3.2.2.1 Fr. 8.36b-37a im Lichte der Textkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 3.3.2.2.2 Der Streit um die Zeit in der Parmenides-Forschung . . . . . . . 133 3.3.2.2.3 Vorschlag einer neuen Deutung von Fr. 8.36b-41 . . . . . . . . . . 136 3.3.2.2.3.1 Fr. 8.36b-37a – Text und Syntax. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3.3.2.2.3.2 Die Argumentation in Fr. 8.36b-38a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 3.3.2.2.3.3 Die Bedeutung von Fr. 8.38b-41 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3.3.2.2.4 Konsequenzen für die Parmenideische Konzeption von Zeit und Ewigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

8

Inhalt

3.3.2.2.5 3.3.2.3 3.3.2.4

Konsequenzen für die Interpretation von Fr. 8.34-36a . . . . . . . 145 Fr. 8.34-36a: Sein und Denken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Die Funktion der Lehre vom Denken und von der Ewigkeit in der Deduktion des Seienden . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

4 4.1 4.2 4.3

Das Denken in der Welt der ‚Doxa‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Der Sinn von Fr. 16.1-2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Syntax und Sinn von Fr. 16.2b-4: Das Denken der Formen . . 164 Die Aporien der modernen These von der Erkenntnis KATA TO UPERBALLON . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Vorschlag einer Lösung der dargestellten Aporien. . . . . . . . . . . 176 Der Gegenstand von Fr. 16. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Die Funktion des Prinzips tÕ Øperb£llon nach Theophrast . . 178 „The cryptic tÕ plšon“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Der Mensch als QAUMA QEION. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.5 5 5.1 5.2 5.3 5.4

Zur Erlösung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Was ist im Hause der Göttin geschehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Aufforderung zur Kontemplation (Fr. 4). . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Der Sinn der Kontemplation oder das Ziel der Parmenideischen Protreptik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Tù katanooumšnJ tÕ katanooàn ™xomoiîsai . . . . . . . . . . . . . 225

6

PARMENIDOU PERI NOHSEWS. Zusammenfassung . . . . . . . . . 235

7

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252

8

Stellenindex. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

1 Einleitung Die Begriffe noàj und noe‹n (sowie die mit den verwandten Ausdrücken nÒhsij, noht£, di£noia usw. bezeichneten Konzepte) spielen in der griechischen Reflexion über das Denken und Erkennen eine eminent wichtige Rolle. Eine besondere Bedeutung erlangen sie in der platonisch-aristotelischen Tradition, in der u. a. die Funktionsweise der nÒhsij, ihre Beziehung zur a‡sqhsij, das Verhältnis zwischen noàj und anderen Erkenntnisvermögen, der ontologische Status der noht£ und die kosmische Dimension des noàj thematisiert werden. Die diesen Fragen gewidmeten Untersuchungen bei Platon und Aristoteles weisen, trotz offensichtlichen Differenzen hinsichtlich der einzelnen Lösungen, in ihrem allgemeinen Ansatz eine weitgehende Konvergenz auf. Bei Platon stellt der in Opposition zu den Sinnen aufgefasste noàj das zur Erkenntnis des Realen und Intelligiblen fähige Seelenvermögen dar, das mit seinem unvergänglichen Gegenstand verwandt und ebenso wie dieser unsterblich ist. Seine höchste Aktivität, die dialektische Erkenntnis, wird als nÒhsij bezeichnet und von der sich in der Geometrie und anderen Einzelwissenschaften realisierenden di£noia unterschieden1. Als die über die übrigen Seelenteile herrschende Instanz (yucÁj kubern»thj2) gilt der noàj auch als Prinzip eines glücklichen und wertvollen Lebens. Bei Aristoteles erscheint der allgemeiner verstandene noàj als das höchste, nur dem Menschen zukommende Vermögen, „mit dem die Seele nachdenkt und Vermutungen anstellt“3. In der bekannten Unterscheidung zwischen dem noàj paqhtikÒj und dem in der späteren Tradition als poihtikÒj bezeichneten noàj wird der letztere als vom Körper abtrennbar, unempfindlich (¢paq»j), unvermischt, unsterblich und ewig beschrieben4. Aristoteles nimmt zudem an, dass der unkörperliche noàj von außen (qÚraqen)5 in den Körper gelangt, wenn er auch zugibt, dass ohne die durch den sinnlichen, nicht vom Körper abtrennbaren Seelenteil gelieferten Vorstellungen menschliches Denken nicht möglich ist6. Überdies entwickelt Aristoteles die Platonische Differenzierung in noàj und di£noia weiter. Damit wird der noàj zur ™pist»mhj ¢rc»7, der Fähigkeit zum direkten, unfehlbaren Erfassen der unbeweisbaren Wahrheiten und Prinzipien, die die Grundlage 1 2 3 4 5 6 7

Resp. 509d ff. Phaedr. 247c 7. De an. 429a 23. De an. 430a 17-18, a 23. De gen. anim. 736b 28. De mem. 450a; De an. 431b 1. An. Post. 100b 15.

10

Einleitung

der Wissenschaft ausmachen. Außerdem wird der noàj von beiden Philosophen in kosmischer Perspektive betrachtet: Während nach dem Mythos des „Timaios“ die Welt ein mit Seele und noàj versehenes Lebewesen ist, das von einem vermutlich mit dem noàj zu identifizierenden Demiurgen konstruiert wurde, erscheint der göttliche noàj bei Aristoteles8 als die erste, ewige, unbewegte Substanz und als causa finalis des gesamten Kosmos9. Die fundamentale Bedeutung der Frage nach dem Ursprung des besonderen Status des noàj bei Platon und Aristoteles (d. i. seines Bezugs auf die höchste Wahrheit, seiner Unkörperlichkeit und Unsterblichkeit) wird insbesondere angesichts der Vorgeschichte des Begriffs ersichtlich: In den Homerischen Epen erscheint der menschliche noàj als schwach, veränderlich und vom jeweiligen körperlichen Zustand abhängig; seine Sterblichkeit ist so selbstverständlich, dass sie nicht einmal thematisiert zu werden braucht. Wann, wie und aus welchen Gründen machte das mit noàj bezeichnete Konzept einen so radikalen Wandel durch? Einen wesentlichen Beitrag zu diesem Prozess hat zweifellos Platon selbst geleistet – eine allmähliche Weiterentwicklung der Idee des noàj lässt sich in seinen Dialogen relativ genau verfolgen10. Trotzdem erscheint die Hypothese, dass eine gewisse Grundlage oder zumindest ein Ausgangspunkt für die Platonische Entwicklung des Begriffes in der vorplatonischen Philosophie zu suchen ist, aus historischer Perspektive als sehr plausibel. Was die kosmologische Auffassung des noàj betrifft, liegt der Bezug zu Platons Vorgängern offen zutage11. Schon Xenophanes sprach seiner Gottheit nicht nur vollkommene Erkenntnis12, sondern auch einen als reale Kraft auf die Welt einwirkenden noàj13 zu. Als kosmisches Prinzip fungiert jedoch vor allem der noàj des Anaxagoras, der unabhängig, unvermischt und allwissend über alles andere Macht ausübt. Die auch von anderen Vorsokratikern bejahte Idee eines vernünftigen Weltprinzips tritt schon in der frühgriechischen Epik (vgl. bes. den nÒoj des Zeus14) auf. Hinsichtlich der Vorstellung des noàj als eines (menschlichen) Denk- und Erkenntnisvermögens erweist sich die Frage nach den vorplatonischen Quellen der neuen Auffassung als komplizierter. Aristoteles und bis zu einem gewissen Grade auch Platon distanzieren sich explizit von den früheren Doktrinen und scheinen ihre eigenen Konzeptionen des Denkens für vollkommen innovativ zu halten. So legt z. B. Platon im „Phaidon“ nahe, dass die von ihm eingeführte Seelen- und

8 9

10 11 12 13 14

Met. 1072a ff. Zu einem Überblick über die Geschichte des Begriffs s. Ch. Rapp-Ch. Horn (2001) und F.E. Peters (1967, s. v. noàj, nÒhsij). S. G. Jäger (1967). S. S. Menn (1995, S. 25-33). DK 21 B 24. DK 21 B 25. Dazu s. z. B. J.R. Warden (1971).

Einleitung

11

Erkenntnislehre als eine Überwindung der früher vorherrschenden Auffassung des Denkens als eines rein physischen Phänomens verstanden werden kann: ... und hundertmal wendete ich mich bald hier, bald dorthin, indem ich bei mir selbst dergleichen überlegte, (...) ob es wohl das Blut ist, wodurch wir denken, oder die Luft oder das Feuer? Oder ob wohl keines von diesen, sondern das Gehirn uns alle Wahrnehmungen hervorbringt, die des Sehens und Hörens und Riechens, und aus diesen dann Gedächtnis und Vorstellung entsteht; und ob aus Erinnerung und Vorstellung, wenn sie zur Ruhe kommen, dann auf dieselbe Weise Erkenntnis entsteht?

– gesteht der seine berühmte Hinwendung zu den lÒgoi schildernde Sokrates15. Aristoteles, der den Vorsokratikern vorwirft, sie hätten Denken (noe‹n, frone‹n, frÒnhsij) und Wahrnehmen (a„sq£nesqai, a‡sqhsij)16 sowie Vernunft (noàj) und Seele (yuc»)17 identifiziert, versucht einen inneren Zusammenhang solcher Auffassungen mit der Überzeugung, alle Wahrnehmungen seien notwendigerweise wahr und es gebe keine andere Wirklichkeit als die sinnliche, nachzuweisen18. Schon vor längerer Zeit wurde jedoch festgestellt, dass die Vorsokratiker keine konsequenten Sensualisten gewesen sein konnten19. Bei genauerer Betrachtung der Kritik des Aristoteles zeigt sich, dass die von ihm den älteren Philosophen zugeschriebenen Thesen nicht selten lediglich Konsequenzen darstellen, die er selbst unter Anwendung bestimmter Denkschemata aus den alten Doktrinen zieht20. 15

16 17 18 19

20

Phaed. 96a 10-b 8. Übers. F. Schleiermacher. Zu diesem Passus s. J. Mansfeld (2000, S. 8-10). De an. 427a-b; Met. 1009b. De an. 404a-b, 405a. Met. 1009b – 1010a. In den 30er Jahren wandte sich z. B. H. Cherniss (1971, S. 81ff.) gegen die Einwände des Aristoteles und machte geltend, dass die von dem Stagiriten kritisierten Denker in Wirklichkeit Prinzipien annahmen, die über die sinnliche Erfahrung hinausgingen oder sie gar in Frage stellten (wie z. B. die Doktrin des reinen, abgetrennten noàj des Anaxagoras oder die Lehre des Demokrit, nach der die Atome der sinnlichen Perzeption nicht zugänglich sind). Ein besonders deutliches Beispiel für diese Vorgehensweise bietet Theophrast, der in Bezug auf Empedokles’ Erkenntnislehre konstatiert: „... und dasselbe werden Mischung, Wahrnehmung und Zunahme sein (denn er behauptet, all diese kommen durch die Symmetrie mit den Poren zustande), wenn er nicht einen Unterschied hinzufügt“ (... kaˆ taÙtÕ œstai m‹xij kaˆ a‡sqhsij kaˆ aÜxhsij: p£nta g¦r poie‹ tÍ summetr…v tîn pÒrwn, ™¦n m¾ prosqÍ tina diafor£n, De sens. 12). Offensichtlich braucht also auch die Zuschreibung der Identifizierung von Denken und Wahrnehmen keine positive Doktrin eines Vorsokratikers widerzuspiegeln; sie resultiert lediglich daraus, dass Theophrast die erwünschte, explizite Klarstellung des Unterschieds zwischen Denken und Wahrnehmen (gesucht wird dabei v. a. nach den beiden in den Augen der Peripatetiker wichtigsten Unterschieden: erstens der Feststellung, dass das Denken, im Gegensatz zur Wahrnehmung, keine ¢llo…wsij, also keine physische Veränderung, sei, und zweitens der These, dass sie nur den Menschen zukomme, während die Wahrnehmung und die yuc» auch den Tieren zuzusprechen seien) im Werk des Empedokles nicht vorfand. Aristoteles verweist übrigens ganz offen auf diese Genese seiner Einwände gegen die vorsokratischen Auffassungen des Denkens (s. De an. 427a-b, vgl. auch 404a-b); Theophrast seinerseits gibt sogar zu, dass das Denken bei Empedokles nicht unbedingt mit der Wahrnehmung identisch, sondern vielleicht auch nur etwas ihr „Ähnliches“ ist (À taÙtÕn À parapl»sion, De sens. 10).

12

Einleitung

Bei dem Versuch, die vorsokratischen Doktrinen des Denkens aus den Zeugnissen der Peripatetiker zu erschließen, stellt sich jedoch auch unabhängig von möglichen Verzerrungen durch deren Interpretationsweise die grundlegende Frage, wie vollständig das Bild der vorsokratischen Lehren ist, die diese Zeugnisse vermitteln; mit anderen Worten: Hat sich die vorsokratische Reflexion über das Denken tatsächlich in der Spekulation über das physische organum des Denkens erschöpft? Es besteht kein Zweifel, dass die moderne Forschung diese Frage einstimmig verneinen würde. Das entscheidende Argument, auf das sie sich dabei berufen könnte, ist der Nachweis einer über das Physiologische weit hinausgehenden, von den Peripatetikern jedoch bemerkenswerterweise nie näher erörterten Reflexion über das noe‹n, die in den Fragmenten eines der größten und einflussreichsten der vorsokratischen Philosophen bezeugt ist: des Parmenides von Elea. Für die Frage nach einer möglichen vorsokratischen Basis des radikalen, zwischen Homer und Platon eingetretenen Wandels in der Vorstellung des noàj bietet somit die Parmenideische Konzeption des noe‹n den vielversprechendsten Anhaltspunkt. Über das Leben des Parmenides ist sehr wenig bekannt21. Selbst seine Lebensdaten sind kontrovers: Mit der bei Diogenes Laertios angegebenen, wahrscheinlich von Apollodoros stammenden Datierung, nach der der Philosoph gegen 540 v. Chr. geboren sein soll22, steht die Platonische, in ihrem historischen Wert schwer einschätzbare Erzählung23 von einer Begegnung zwischen dem alten (ca. 65 Jahre) Parmenides und dem sehr jungen Sokrates (geb. 470/469 v. Chr.) im Widerspruch24. Von den spärlichen Informationen, die in unserem Besitz sind, scheinen vor allem drei im Kontext der in dieser Arbeit durchzuführenden Untersuchung erwähnenswert: dass er in Elea an der Westküste der Magna Graecia lebte und wirkte, für diese Stadt ein Gesetzeskorpus verfasste25 und mit den Pythagoreern 21 22 23

24

25

S. v. a. DL 9.21-23. Akme in der 69. Olympiade, d. i. 504-501 v. Chr. Platon, Parm. 127a-c; vgl. die Erwähnung des Treffens in Theaet. 183e, Soph. 217c (= DK 28 A 5). Da ein solches Treffen nicht vor 450 v. Chr. stattgefunden haben kann, müsste Parmenides gegen 515 geboren sein. Für diese Datierung optieren u.a. A.H. Coxon (1986, S. 38), D. Gallop (1984, S. 4), L. Tarán (1965, S. 4), K. Narecki (1999, S. 122f., Anm. 1), KRS (1983, S. 240), M. Conche (1996, S. 6f.); gegen sie sprechen sich u. a. H. Diels (1897, S. 71), E. Zeller (1919-20, S. 681f., Anm. 1), P. Thanassas (1997, S. 194, Anm. 75) und kürzlich (besonders überzeugend) N.-L. Cordero (2004b, S. 5-8) aus. Mit dem Problem der Datierung ist u. a. die Frage nach dem Verhältnis zwischen Parmenides und Heraklit verbunden; falls, wie häufig angenommen, das Werk des Heraklit nach 478 v. Chr. entstanden ist, erweist sich die Hypothese, dass der gegen 540 geborene Parmenides Heraklits Lehre in seinem Gedicht kritisierte, als wenig wahrscheinlich (so argumentieren u. a. U. Hölscher 1969, S. 63 und N.-L. Cordero 2004b, S. 8; dagegen s. z. B. H. Diels 1897, S. 71f., L. Tarán 1965, S. 4f.). Die gesetzgeberische Tätigkeit des Parmenides wird gelegentlich mit der deduktiven Methode seiner Philosophie sowie mit seinen Kontakten zu den Pythagoreern in Verbindung gebracht, s. A. Hermann (2004, S. 7f., 127ff.), E.L. Minar (1979, S. 40) und P. Kingsley (2001, S. 204ff.), der überdies enge Zusammenhänge zwischen Gesetzgebung und Prophetie (Inkubation, Katabasis etc.) in pythagoreischen Kreisen (zu denen er auch Parmenides zählt) nachzuweisen versucht.

Einleitung

13

in Kontakt stand. Nach Diogenes Laertios, der sich auf Sotion beruft, war Parmenides mit einem sonst unbekannten Pythagoreer namens Ameinias befreundet, der ihn e„j ¹suc…an26 brachte und dem er nach seinem Tod ein Heroon baute27. Parmenides selbst wird gelegentlich als Pythagoreer bzw. als ein die pythagoreische Lebensweise pflegender Denker bezeichnet28; in einer späteren Quelle lesen wir sogar von einem „pythagoreischen und parmenideischen Leben“29. Ob jedoch in den erhaltenen Fragmenten seines Gedichtes Anknüpfungen an pythagoreische Lehren feststellbar sind, bleibt unsicher; postuliert wird hier sowohl das Vorkommen pythagoreischer Motive als auch einer Kritik an den pythagoreischen Lehren30. In der 1962 in Elea entdeckten Herme, die die Inschrift Parmene…dhj PÚrhtoj OÙli£dhj fusikÒj trägt und auf das erste Jahrhundert n. Chr. datiert wird, sehen manche Forscher ein starkes Indiz für den Pythagoreismus des Parmenides. Die Bezeichnung OÙli£dhj, die in der verkürzten Form Oâlij auf drei in demselben Gebäude entdeckten Inschriften später lebender Ärzte wiederkehrt, löste eine bis heute nicht abgeschlossene Diskussion über die Beziehungen des Parmenides zum Kult des Apollon OÜlioj (vermutl. „Heiler“) und zur Medizin (vgl. Fr. 17-18 des Gedichts) aus31. Die in der Antike vorherrschende Meinung, nach der Parmenides Schüler des Xenophanes war, wird in der modernen Forschung dagegen zumeist abgelehnt32. 26

27

28

29 30

31

32

Der Ausdruck ¹suc…a bezieht sich hier nach manchen Forschern (z. B. W. Burkert 1969, S. 28; D. Gallop 1984, S. 105; Ch. Göbel 2002, S. 95 mit Anm. 334, S. 125) auf die pythagoreische Lebensweise. Nach W. Burkert (1969, S. 28) weist dies auf „eine über gewöhnliches Maß hinausgehende Totenehrung“ hin. Procl., In Plat. Parm. 619; Phot., Bibl. 429a (= DK 28 A 4); Strabon 6.1.1 (= DK 28 A 12) (an allen drei Stellen gemeinsam mit Zenon); Iambl., Vit. Pyth. 29.166. Cebes, Tab. 2 (lÒgJ d{ kaˆ œrgJ PuqagÒreiÒn tina kaˆ Parmen…deion ™zhlwkëj b…on). Kritik an den pythagoreischen Lehren sieht im Gedicht u. a. J.E. Raven (1966), der Parmenides für einen „dissident Pythagorean“ hält; s. auch KR (1957, S. 263-285, bes. 265-277; vgl. jedoch KRS 1983, S. 240) und K. Reich (1954). W. Burkert (1962, S. 259, Anm. 17) macht geltend, dass die antiken Zeugnisse die Hypothese von einer Kontroverse zwischen Eleaten und Pythagoreern nicht bestätigen; vielmehr weise das Parmenideische Gedicht sogar positive Anknüpfungen an die mythischen und religiösen Ideen der Pythagoreer auf (S. 260-264; s. auch idem 1969, S. 28). Pythagoreische Einflüsse sieht in den Fragmenten auch A.H. Coxon (1986, S. 13-19), der gleichzeitig eine Kritik an einzelnen Elementen der pythagoreischen Doktrin bei Parmenides für möglich hält. Vgl. auch I.G. Kalogerakos (1996, S. 260f.). Enge Beziehungen dieser Art wurden besonders direkt nach der Entdeckung der Inschriften angenommen (s. z. B. P. Merlan 1966); von den neueren Forschern ist P. Kingsley (2001) zu nennen. Zu diesem Problem s. v. a. J. Benedum – M. Michler (1971). Vgl. auch A.H. Coxon (1986, S. 39f.), M. Conche (1996, S. 5f. mit Anm. 1), E. Heitsch (1991, S. 61). Zu den Zusammenhängen zwischen dem frühen Pythagoreismus und der Medizin s. z. B. C.J. de Vogel (1966, S. 232-244). Die Ansicht, dass Xenophanes der Lehrer des Parmenides war, findet sich schon bei Aristoteles (Met. 986b = DK 28 A 5): Ð g¦r Parmen…dhj toÚtou [sc. Xenof£nouj] lšgetai genšsqai maqht»j; sie wird von Theophrast (DK 28 A 7) und zahlreichen späteren antiken Autoren geteilt. Nach H. Thesleff (1957, S. 8) stammt diese Überlieferung aus der peripatetischen Schule,

14

Einleitung

Von dem Parmenideischen Gedicht Perˆ fÚsewj sind 18 Fragmente erhalten (dazu eins in lateinischer Übersetzung), die insgesamt 145 vollständige und 9 Hexameterbruchstücke des Textes umfassen33 und damit die grundlegende Struktur des Werkes erkennen lassen: Einem Prolog (Fr. 1) folgen zwei Hauptteile des Gedichts, die sog. „Aletheia“ (Fr. 2 – Fr. 8.51) und die sog. „Doxa“ (Fr. 8.51 – Fr. 19)34; die jeweilige Zugehörigkeit der erhaltenen Fragmente zu diesen Teilen ist jedoch nicht immer ganz sicher35. Aus den Parmenideischen Fragmenten geht klar hervor, dass die Problematik des Denkens und Erkennens zu den Fragen gehörte, die den Philosophen lebhaft interessierten (davon zeugt schon die Tatsache, dass die Wörter nÒoj, noe‹n bzw. nohtÒj, ¢nÒhtoj und nÒhma in den erhaltenen Versen nicht weniger als 15 mal begegnen)36. Tatsächlich erweist sich eine Auslegung der Parmenideischen

33

34

35

36

die sich jedoch nicht für die Chronologie, sondern lediglich für die Sukzession der Doktrinen (diadoc») interessierte. Eben die angebliche Ähnlichkeit der Doktrinen der beiden Philosophen wird dagegen von anderen Forschern in Frage gestellt (z. B. L. Tarán 1965, S. 3). Die heute am weitesten verbreitete Auffassung besagt, dass „the connection between Xenophanes and Parmenides obviously depends on the superficial similarity between the motionless one deity of the former and the motionless sphere of Being in the latter (...)“ (KRS 1983, S. 165); nach KRS stützte sich Aristoteles in Met. 986b ausschließlich auf die Notiz Platons, der im „Sophistes“ Xenophanes zur Schule der Eleaten zählt (tÕ d{ par' ¹m‹n 'EleatikÕn œqnoj, ¢pÕ Xenof£nouj te kaˆ œti prÒsqen ¢rx£menon ..., Soph. 242d 5); dieser Notiz wird anschließend – aufgrund der Formulierung kaˆ œti prÒsqen – der Charakter eines „serious historical judgement“ (S. 165) abgesprochen; ähnlich L. Tarán (1965, S. 3), U. Hölscher (1969, S. 61), A.H. Coxon (1986, S. 17f.), N.-L. Cordero (2004b, S. 10f.) und viele andere. Für die antike Tradition sprach sich entschieden u. a. E. Zeller (1919-20, S. 680, Anm. 1) aus. Zur Überlieferung der Fragmente s. A.H. Coxon (1986, S. 1-7). Zur Wahl der poetischen Form und deren Beurteilung in Antike und Moderne s. G. Wöhrle (1993b). Nummerierung und Text der Fragmente werden, wenn nicht anders vermerkt, nach H. Diels – W. Kranz (1961) angegeben. Umstritten sind Fr. 4 und 5 (meist zur „Aletheia“ gerechnet); Fr. 10 gehört wahrscheinlich zum Prolog, s. P.J. Bicknell (1968, S. 629-631), D. Gallop (1984, S. 79) und H. White (2005, S. 26-28). Es ist jedoch auffällig, dass, obwohl 12 oder 13 (abhängig von der Zuordnung von Fr. 4) dieser Stellen zur „Aletheia“ gehören, Aristoteles und Theophrast nur das aus der „Doxa“ stammende Fragment 16 anführen und als Beispiel für die „typisch vorsokratische“, rein physische Auffassung des Denkens behandeln (Platon zitiert auch Fr. 7.1-2 (nÒhma), das jedoch keine bestimmte Konzeption des noe‹n impliziert). Die Kenntnis der heute als Schlüsselaussagen des Parmenides zum Thema des Denkens geltenden Fragmente der „Aletheia“ (Fr. 3, 6 und 8, bes. 8.34-41) verdanken wir dagegen erst den neuplatonischen Philosophen Plotin, Proklos und Simplikios. Der Umgang der Peripatetiker mit der Parmenideischen Konzeption des Denkens ist umso überraschender, als Aristoteles selbst die Frage der Möglichkeit des wahren Wissens (gnîsij À frÒnhsij) als zentrales Problem der eleatischen Reflexion anerkennt (De caelo 298b 21-24) und in der „Physik“ die Seinsphilosophie der Eleaten aus dem Bereich der Naturphilosophie ausschließt (Phys. 184b 25ff.). Außerdem erklärt er, die Wahrnehmung (a‡sqhsij) sei von den Eleaten zugunsten des Logos (tù lÒgJ dšon ¢kolouqe‹n) abgelehnt worden (Gen. corr. 325a 13ff.), und dementsprechend sei die Doktrin der „Aletheia“ nicht kat¦ t¾n a‡sqhsin, sondern kat¦ tÕn lÒgon entwickelt worden (Met. 986b 31ff.).

Einleitung

15

Konzeption des Denkens als unerlässliche Voraussetzung für jede Untersuchung seiner Philosophie: Nicht nur für die Doktrin der „Aletheia“ stellt die Frage der Beziehung zwischen Denken und Sein einen fundamentalen Aspekt dar, sondern auch bei einer Untersuchung der kosmologischen Theorien der „Doxa“ kann die Konzeption des Denkens in Fr. 16 schwerlich außer Acht gelassen werden; in der Tat impliziert schon die Entscheidung über die Übersetzung des Verbs noe‹n im Gedicht eine bestimmte Interpretation des Parmenideischen Konzepts. Dementsprechend widmen manche Autoren, wie z. B. K. Bormann (1971) oder J. Wiesner (1996), dem Problem des noe‹n relativ große Aufmerksamkeit. Die Entscheidung, in der vorliegenden Arbeit die Parmenideische Konzeption des Denkens dennoch einer detaillierten Untersuchung zu unterziehen, stützt sich im wesentlichen auf drei Gründe, die im Folgenden kurz dargelegt werden sollen. Auch wenn die in den letzten Jahrzehnten durchgeführten Forschungen zweifellos zu einem im Vergleich mit dem früheren Wissensstand deutlich besseren Verständnis der Philosophie des Parmenides geführt haben, sind die schwierigen Fragmente, die die Frage des Denkens betreffen, noch immer nicht genügend expliziert (so wird z. B. bei A.P.D. Mourelatos (1970), trotz seines großen Interesses am Parmenideischen Konzept des Denkens, auf eine Interpretation der für dieses Konzept zweifellos relevanten, aber sehr problematischen Fragmente 3, 4 und 6.1-2 völlig verzichtet). Auch die grundlegende Frage der richtigen Übersetzung des Verbs noe‹n ist noch nicht beantwortet, obwohl die Wahl zwischen den voneinander stark abweichenden Bedeutungen „denken“ und „erkennen“ für das Verständnis der gesamten Parmenideischen Reflexion entscheidend ist37. Ein weiterer Grund für eine speziell dem Konzept des Denkens gewidmete Untersuchung ist der Umstand, dass der Zusammenhang zwischen dem in der „Aletheia“ thematisierten noe‹n und der in der „Doxa“ enthaltenen Doktrin des physisch bedingten nÒoj (Fr. 16) bis heute nicht geklärt ist; nicht einmal in Bezug auf die fundamentale Frage, ob die beiden Doktrinen zwei voneinander völlig unabhängige bzw. sogar inkompatible oder aber vereinbare, sich gegenseitig ergänzende Theorien darstellen, wurde ein Konsensus erreicht. Drittens ist zu betonen, dass das Problem des noe‹n zwar bereits in zahlreichen Parmenides-Interpretationen und in einigen speziell dieser Frage gewidmeten Abhandlungen (v. a. Aufsätzen)38 behandelt wurde, bisher jedoch offenbar niemals der Versuch unternommen worden ist, diese Frage zum Ausgangspunkt einer Betrachtung der Parmenideischen Philosophie zu machen.

37 38

In der vorliegenden Arbeit wird für die Bedeutung „denken“ argumentiert, s. unten, Kap. 1. Dazu s. unten, Kap. 2.

2 Die Diskussion um die Begriffe „noos, noein, noƝma“ bei Parmenides In der Geschichte der Forschung zu den Parmenideischen Begriffen nÒoj, noe‹n und nÒhma nimmt die in den Jahren 1945 und 1946 von K. v. Fritz in zwei Teilen in „Classical Philology“1 veröffentlichte Studie „Nous, noein and their Derivatives in Pre-socratic Philosophy (excluding Anaxagoras)“2, der im Jahre 1943 der Aufsatz „Noos and Noein in Homeric Poems“3 voranging, eine herausragende Stellung ein. Die Bedeutung dieser Arbeit besteht vor allem in dem außerordentlichen Einfluss, den sie auf die Vorsokratikerforschung – besonders jedoch auf die Parmenidesforschung, obwohl dem Eleaten nicht einmal 10 Seiten Text gewidmet wurden – ausgeübt hat. K. v. Fritz wandte sich in seiner Interpretation des Wortes noe‹n gegen die älteren, vor allem im 19. Jahrhundert vorherrschenden Auffassungen, die das noe‹n in deutlichen Kontrast zur sinnlichen Wahrnehmung setzten und damit die Platonische Opposition noàj – a‡sqhsij auf die Philosophie des Parmenides übertrugen (Parmenides wurde hier als ein die kritische Philosophie antizipierender Entdecker des „reinen“, das „reine“ Sein konstituierenden Denkens betrachtet4). Kritik an den älteren Auffassungen wurde jedoch schon vor K. v. Fritz geäußert. Einer der bis heute zitierten Autoren ist H. Langerbeck (1935), der in einer kurzen Übersicht der Wörter a„sq£nesqai, noe‹n und ihrer Synonyme bei den Vorsokratikern die These aufstellte, die vorsokratischen Begriffe seien nicht als Gegensätze zu verstehen. Vor der Arbeit von K. v. Fritz ist auch die erste Version der „Parmenidesstudien“ von H. Fränkel (1930) erschienen, der zwar die Deutung des Parmenideischen noe‹n als „Denken“ ablehnte (allerdings aus anderen Gründen als H. Langerbeck), zugleich jedoch bestrebt war, auch das andere Extrem, seine Identifizierung mit der Sinneswahrnehmung, zu vermeiden. Bei seiner Untersuchung wandte H. Fränkel eine Methode an, die später K. v. Fritz und zahlreiche andere Parmenidesinterpreten übernommen haben: Er verfolgte die Bedeutungsentwicklung des Verbs von Homer bis hin zu Parmenides. H. Fränkel konstatiert, das homerische noe‹n gehe über die sinnliche Wahrnehmung hinaus, da es eine Interpretation des Wahrgenommenen oder eine Reaktion darauf einschließe; dementsprechend sei 1 2 3 4

Zitate im Folgenden aus dem Nachdruck, K. v. Fritz (1974). Anaxagoras wurde später separat behandelt: K. v. Fritz (1964). K. v. Fritz, Classical Philology 38, 1943, S. 79-93. S. z. B. L. Stein (1888, S. 8f.). Vgl. G.W.F. Hegel (1940, S. 312f.) und G. Prauss (1966, bes. S. 282-284).

18

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

es als „begreifen, erkennen, durchschauen“ zu übersetzen5. Bei Parmenides sei noe‹n schon ausschließlich auf die theoretische Sphäre beschränkt und bezeichne ein theoretisches „Durchschauen“. Wie die Wörter „erkennen“ oder „verstehen“ impliziere noe‹n, dass dieses Durchschauen wahrheitsgemäß, also frei von Irrtum, sei; darum könne Parmenides das noe‹n mit dem Sein identifizieren. Analog bezeichne das Substantiv nÒoj eine korrekte Einsicht und nicht ein Denken, das sowohl wahr als auch falsch sein kann (S. 170)6. Der Ausdruck plaktÕj nÒoj in Fr. 6.6 widerspreche dieser Auffassung nicht, da er absichtlich „in sich widerspruchsvoll“, „ironisch“ und „paradox“ (S. 171) sei7. Die genannte Studie von K. v. Fritz (1974) wird durch eine Zusammenfassung seiner früheren Analyse der Wörter nÒoj, noe‹n, nÒhma bei Homer und Hesiod eingeleitet. Die ursprüngliche und grundlegende Bedeutung von noe‹n sei „to realize or to understand a situation“; es bezeichne eine „mentale Perzeption“ (bzw. die Aktivität eines „sechsten Sinns“8), eine sowohl das „de‹n als auch das gignèskein übersteigende Erkenntnis. Das so verstandene noe‹n sei ein rein mentaler Vorgang, aber trotzdem „closely related to the sense of vision“ (S. 23)9, obwohl etymolo-

5

6

7

8 9

Als „Erkenntnis“ wurde noe‹n in dieser Zeit auch von Kurt Riezler (1934; Zitate im Folgenden aus der zweiten Auflage 1970) gedeutet. Es sei kein „Setzen“, sondern eine Art der Wahrnehmung („Ergreifen, Erschauen, Erlauschen, Vernehmen“), zu dem noch „das innere Erfassen des Wahrgenommenen“ komme; daher die besondere, innere Verbindung des noe‹n mit dem Seienden (S. 64). Dies soll auch für das Wort nÒhma in Fr. 16 (V. 4) gelten, das vom Autor als „reine und volle Erkenntnis der Wirklichkeit“ gedeutet wird (S. 171-174). Gegen Fränkels Interpretation des noe‹n hat sich im Jahre 1942 (Zitate im Folgenden aus dem Nachdruck 1964) W.J. Verdenius ausgesprochen, der die These von H. Langerbeck weiterentwickelt hat. Die Übersetzung von noe‹n mit „Einsicht“ (bzw. „insight“) erklärte er für verfehlt: Das Wort impliziere eine nicht-sinnliche Erkenntnis, während noe‹n ursprünglich keine Unterscheidung zwischen Denken und Wahrnehmung voraussetze. Die Übersetzung „thinking“ sei ebenfalls zu eng; das Parmenideische noe‹n soll im breiten und neutralen Sinne des Wortes „knowing“ verstanden werden (S. 10), also nicht als „richtige“ Erkenntnis, sondern vielmehr „having ideas about things“ (S. 5, Anm. 1). Parmenides habe das Denken als psychologisches Phänomen noch nicht erfasst, aber seine methodische Funktion (d. i. „reasoning“) schon verstanden und der Wahrnehmung gegenüberstellt (S. 65). Die Entwicklung des Substantivs nÒoj gehe der des Verbs voran und erscheine bei Parmenides schon „im engeren, nicht-empirischen Sinne“ (vgl. Fr. 4.1 – aber auch hier wäre die Übersetzung „thinking“ noch nicht adäquat) (S. 66). K. v. Fritz (1943, S. 90). Die Relation des noe‹n zur sinnlichen Wahrnehmung wird bei v. Fritz nicht vollständig deutlich. Einerseits werde das „purely mental“ noe‹n schon bei Homer von der Wahrnehmung unterschieden (1943, S. 88), andererseits bleibe der Homerische Noos nicht nur „closely related to sensual perception“ (1974, S. 33), sondern auch „perceives by means of and through the organs of senses“ (ibid.). Die Intention des Autors scheint am besten folgende Auffassung wiederzugeben: Der ursprünglich die sinnliche Erkenntnis bezeichnende nÒoj sei allmählich zu einem „von den Sinnen unterschiedlichen, aber zu ihnen analogen“ Erkenntnisvermögen geworden (1943, S. 93).

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

19

gisch mit dem Geruchssinn verwandt10. Aus dieser Grundbedeutung hätten sich die übrigen Homerischen Bedeutungen entwickelt: „planen“ (neu sei hier das volitive Element), „sich vorstellen“ und die vom Autor als die wichtigste erachtete Bedeutung der tieferen, rein intellektuellen Einsicht in die wahre Natur der Dinge, die den äußeren Schein durchdringe (S. 25). Der Forscher glaubt also, dass sich bei Homer eine naive Antizipation der vorsokratischen Dichotomie zwischen der phänomenalen, sinnlich wahrnehmbaren und der realen, hinter den Erscheinungen verborgenen Welt feststellen lässt (S. 25). K. v. Fritz betont, dass das Element der Überlegung in dem Homerischen noe‹n vollständig fehle (nÒoj bedeute nie reason oder reasoning): Die Erkenntnis der Wahrheit ereigne sich immer als eine blitzartige Intuition, die Wahrheit werde plötzlich „gesehen“. Die von K. v. Fritz durchgeführte Analyse des Parmenideischen noe‹n, das einerseits das Resultat einer Bedeutungserweiterung des Homerischen Wortes (S. 80ff.), andererseits einen Wendepunkt eben dieser Entwicklung (S. 43, 52) darstellt, konzentriert sich auf drei Themen: Wahrheit vs. Irrtum, Intuitivität vs. Diskursivität und die Relation des noe‹n zur sinnlichen Wahrnehmung. In Bezug auf den ersten Punkt entdeckt K. v. Fritz im Parmenideischen noe‹n eine ernsthafte Aporie („a very real difficulty, which has never been solved and perhaps does not admit a perfect solution“): Während manche Fragmente des Gedichts (bes. Fr. 3, 8.34ff.) eine unlösbare Bindung von nÒoj und noe‹n an das ™Òn (also auch an die Wahrheit) postulieren, die sogar als eine Identität aufgefasst werden könne („there can be no noein without the eon and (…) both are inextricably connected, even identical“), legen andere Fragmente (Fr. 6, 7) nahe, dass der Noos auch irregehen kann. Dieses Problem, auf das, wie oben erwähnt, schon H. Fränkel stieß, versucht der Autor historisch zu erklären. Bei Homer erkenne der Noos immer die Wahrheit und irre sich nie (er könne abgestumpft, nicht aber getäuscht werden11), da aber Homer jedem Menschen einen individuell differenzierten Noos zuschreibe12, müsse er annehmen, dass auch die Wahrheit für verschiedene Menschen unterschiedlich sei (S. 44)13. Parmenides übernehme die Bindung des Noos an die Wahrheit und die individuelle Differenzierung des 10

11

12

13

Nach K. v. Fritz ist das Wort mit den germanischen Wörtern „schnuppern“ und „schnüffeln“ verwandt (s. K. v. Fritz 1943, S. 92f.); so auch L. Meyer (1856) und E. Schwyzer (1926). Das Täuschen des Noos soll nach K. v. Fritz eine Neuerung Hesiods sein. Doch vgl. Il. 14.217 und LSJ s.v. klšptw II. S. auch unten. Auf die Tatsache, dass der Noos verschiedener Menschen z. B. als „fromm“ oder „grausam“ bezeichnet wird (qeoud»j Od. 6.121, 8.576, 9.176, 13.202; ¢t£rbhtoj Il. 3.60-63; ™na…simoj Od. 5.187-191), legt K. v. Fritz großen Wert (1943, S. 81f.; die von ihm verwendete Formulierung „verschiedene nÒoi“ wird hier vermieden, da es semantisch nicht gleichgültig zu sein scheint, dass das Wort in der archaischen Literatur nie im Plural auftritt). In manchen Kontexten bei Homer nimmt das Substantiv eine sehr allgemeine Bedeutung an (vgl. z. B. Od. 1.3), was jedoch nicht bedeutet, dass es den „Charakter“ bezeichnet – dazu vgl. W. Marg (1938, S. 46f.), nach dem keines der Homerischen Wörter diese Bedeutung aufweist, da es sich bei der Vorstellung des „Charakters“ um eine spätere Entwicklung handelt. Vgl. auch die Bemerkungen des Autors zu nÒoj bei Heraklit (1974, S. 35-43).

20

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

Noos bei den Menschen, bestehe aber darauf, dass die Wahrheit nur eine einzige sei. Daher führe er eine Innovation ein: die Idee, dass der Noos irren kann. Der irrende Noos – z. B. der plagktÕj nÒoj (6.6.) der Menschen, die die Wahrheit nicht erkennen – verliere jedoch nicht seinen ursprünglichen Bezug zum Seienden: „… even the planktos noos of the mortals cannot fail to be linked up inextricably with the eon. It could no more exist without the eon than the noos which sees the full truth“; er irre dadurch, dass er das Seiende in eine Vielheit gegensätzlicher Eigenschaften aufspalte (S. 48f.). Auch bei der zweiten Frage, der Intuitivität bzw. Diskursivität des Parmenideischen noe‹n, stellt K. v. Fritz einen Widerspruch fest (S. 50-52). Einerseits sei das noe‹n (wie bei Homer und Heraklit) intuitiv (es bleibe ja in direktem Kontakt zum ™Òn, Fr. 8.35-36), andererseits jedoch scheinen die „Wege der Forschung“ diskursive Modi des Denkens, wie Urteilen, Argumentieren und Schlussfolgern, darzustellen. Daher sei anzunehmen, dass das Parmenideische noe‹n beide Aspekte aufweise. Während jedoch das intuitive Element nach wie vor die führende Rolle einnehme, bestehe die Funktion des logischen Denkens, das von Parmenides zum ersten Mal in die Funktionen des nÒoj eingeschlossen werde, in „clarifying and confirming what, in a way, has been in the noos from the very beginning“ (S. 51f.). Schließlich protestiert der Autor gegen eine Identifizierung des Parmenideischen noe‹n mit der sinnlichen Wahrnehmung (S. 50), betont jedoch zugleich, dass Parmenides noch keinen direkten Gegensatz zwischen der Perzeption und dem noe‹n postuliere. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die von K. v. Fritz durchgeführte Untersuchung, die zahlreichen Parmenidesforschern in Hinsicht auf die Termini nÒoj, noe‹n, nÒhma bis heute als Ausgangspunkt ihrer Analysen dient, weder das Problem der Intuitivität bzw. Diskursivität des noe‹n noch die Frage seiner Beziehung zum Seienden eindeutig entscheidet: In beiden Fragen versucht der Autor, die früher als Gegensätze aufgefassten Aspekte zu vereinbaren, indem er rein hypothetische, durch den Parmenideischen Text nicht bestätigte Lösungen vorschlägt. Auch die Frage der richtigen Übersetzung der genannten Begriffe bei Parmenides wird in seinem Aufsatz nicht explizit beantwortet14. Diese Punkte der Studie von K. v. Fritz sowie die von ihm vorgeschlagenen Lösungen wurden gelegentlich kritisiert; die weitaus meisten Parmenidesforscher stützen ihre Interpretationen jedoch auf seine Untersuchung. Dabei haben die letzteren, von denen einige ausgewählte Vertreter im Folgenden vorgestellt werden sollen, oft übersehen, dass K. v. Fritz die erwähnten Fragen eher aufwirft und bespricht als definitiv löst; andere haben sich vorwiegend auf seine Studie der Begriffe bei Homer berufen, deren Ergebnisse eindeutig formuliert sind.

14

Vgl. K. v. Fritz (1974, S. 45; S. 50, Anm. 93; S. 52). In einer früheren Arbeit (K. v. Fritz 1938, S. 99) hat der Autor eine eindeutigere Position vertreten: Das Parmenideische noe‹n sei kein „Denken“, sondern „Erkennen“, und dies heiße immer „etwas Wirkliches erkennen“.

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

21

Zu den bekanntesten Anhängern von K. v. Fritz gehört W.K.C. Guthrie (1965, S. 17-20). Aufgrund der von K. v. Fritz durchgeführten Analyse der Homerischen Texte (noe‹n als eine plötzliche Intuition, die weder irren noch getäuscht werden könne), einiger Zitate aus Euripides und der Doktrin des Aristoteles (Untrüglichkeit, Intuitivität, Göttlichkeit des nÒoj) stellt der Autor die These von der Existenz einer allgemeingriechischen Überzeugung auf, nach der der nÒoj ein über die Sinneswahrnehmung hinausgehendes, die wahre Natur der Sache direkt erfassendes Erkenntnisvermögen sei15. Die Annahme dieses Vermögens, das nicht fähig ist, sich etwas nicht Existierendes vorzustellen16, soll die Parmenideische These verständlich machen, die besagt, nur das Seiende könne gedacht werden, und die bei einer modernen Auffassung des Denkens einfach falsch ist. Dass Parmenides zugleich vom plaktÕj nÒoj spricht (Fr. 6.6), sei eine von ihm eingeführte Neuerung: „That someone should do this some time was inevitable, but the expression must have carried a flavour of paradox or oxymoron“ (S. 19, Anm. 3). W.K.C. Guthrie stützt also die Parmenideische Doktrin auf die Bedeutung des Verbs noe‹n; da aber der Eleate in denselben Kontexten auch andere Termini, wie lšgein oder f£nai, verwendet, behauptet er, dass „this word [sc. lšgein] had a history (perhaps connected with magical identification of name and object) which made it difficult for a Greek to see how one could logically speak of what was not“ (S. 20). Außerdem schreibt er Parmenides (Fr. 7) die erste Gegenüberstellung von Sinnen und Vernunft („reason“) in der Geschichte der griechischen Philosophie sowie eine Unterscheidung zwischen dem a„sqhtÒn („the data of eyes and ears“) und dem nohtÒn („the data of logos“)17 (S. 25f.) zu. Während W.K.C. Guthrie, trotz seiner Exegese des noe‹n als eines speziellen kognitiven Prozesses, die übliche Übersetzung des Verbs („to think of “) beibehält, sprechen sich zahlreiche Forscher, die sich auf die Studie von K. v. Fritz berufen, entschieden gegen eine Übersetzung von noe‹n durch „denken“ aus. So erklärt z. B. H.-G. Gadamer (1991), die Übersetzung „denken“ verdecke die Intentionen des Parmenides, und argumentiert für „erkennen“: „darin liegt wenigstens immer das Sein des Erkannten, sein Wirklich- und Wahrsein“ (S. 17). Aus den semantischen Untersuchungen von K. v. Fritz und der von ihm bevorzugten Hypothese zur Etymologie des nÒoj gehe hervor, dass das Verb ursprünglich „so etwas (...) wie das Wittern des Rehes, das etwas ‚ausmacht‘, im Sinne von ‚da ist etwas‘“ bedeutete (S. 17). Diese ursprüngliche Bedeutung des Verbs bilde die Grundlage für die Intuitivität des Platonischen und Aristotelischen noe‹n und sogar für die 15

16 17

Daher hätten die archaischen Dichter und Denker (z. B. Heraklit, Alkmaion, Xenophanes) nach Guthrie die Termini noàj, noe‹n nie im Kontext einer Gegenüberstellung der menschlichen Unwissenheit und der göttlichen Allwissenheit verwendet. Doch gibt der Forscher zu, dass Xen. 21 B 23 DK (Gott ist den Menschen weder an Gestalt noch an nÒhma ähnlich) „the nearest to it“ ist. Trotzdem wird von Guthrie die Übersetzung „to think of “ beibehalten. In der neueren Literatur wird die These von der letzteren Unterscheidung auch von T. Young (2006, S. 38f.) angenommen.

22

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

alles durchdringende Stofflichkeit des Nous des Anaxagoras („Er wittert sozusagen alles“). In mancher Hinsicht ähnlich ist der Ausgangspunkt der Analyse von Ch. H. Kahn, der das noe‹n unter Berufung auf die von K. v. Fritz durchgeführten Untersuchungen der Homerischen Epen als „a kind of mental perception“18 bezeichnet (1969, S. 703, Anm. 4) und argumentiert, die Parmenideische These von der Unmöglichkeit des noe‹n des Nichtseienden müsste evident falsch sein, wenn noe‹n „to think, to conceive“, und nicht „to know, recognize, grasp, apprehend“ (= gignèskein) bedeutete (1968, S. 126). Was Parmenides interessiere, sei das Problem des Wissens; seine These laute: „something must be the case in the world for there to be any knowledge or any truth“ und „what we know and truly say must be, in reality, as we know and say it to be in thought and in language“ (1969, S. 714) (wenn „m weiß, dass p“ dann „p“, S. 711). Damit ist Kahn zu der Behauptung gezwungen, dass auch lšgein bei Parmenides ein „wahres Sagen“ (true statement, true speech) bezeichne (S. 722, Anm. 26)19. Auch A.P.D. Mourelatos (1970, S. 68-70) stützt seine Interpretation des Parmenideischen noe‹n auf die dem Homerischen (und nicht die dem vorsokratischen) Wortgebrauch gewidmete Untersuchung von K. v. Fritz. Die Abhandlung über noe‹n bei Parmenides, in der K. v. Fritz den neuen, diskursiven Aspekt des früher nur intuitiven noe‹n anerkennt, betrachtet Mourelatos kritisch: Einerseits betont er, dass K. v. Fritz dennoch die Dominanz der intuitiven Seite des noe‹n postulierte, andererseits hält er es für nötig, in seiner eigenen Abhandlung den epistemisch-intuitiven Aspekt des Parmenideischen noe‹n noch stärker zu betonen, um die Kontinuität mit dem vorparmenideischen Gebrauch des Wortes besser herauszuarbeiten. Das archaische noe‹n bedeute mit Sicherheit kein „Denken“ im psychologischen Sinne, sondern „the incisive and sure apprehension of what-is, or truth“, „cognitive awareness directed to ultimate reality“ (S. 70, 164); ähnliches gelte für die Verben des Sprechens wie lšgein, f£nai, Ñnom£zein, die für Parmenides kognitive Prozesse bezeichnen (S. 164). Das so verstandene noe‹n, das der Autor, an G. Ryle20 anknüpfend, als „achievement word“ und „success word“ bezeichnet (S. 175) und mit „to know, to comprehend, to come to understand“ übersetzen möchte21, liefert die Grundlage für seine Auffassung der Parmenideischen These vom Verhältnis zwischen noe‹n und Sein: noe‹n stehe in einer unauflöslichen Beziehung zum Seienden, es sei „gebunden“ an das ™Òn, sein einziges und not18 19

20 21

Das Zitat stammt von K. v. Fritz (1943, S. 90). S. auch Ch. H. Kahn (1969/70), wo der Autor sich jedoch gegen M. Furth (1968) wendet und behauptet, dass sich Parmenides für die Probleme der Denotation und der sinnvollen Rede nicht speziell interessiert habe; die Sprache sei bei Parmenides gegenüber der Erkenntnis sekundär (s. bes. S. 339f.). „The Concept of Mind“ (1949). Trotzdem wird in seinen Übersetzungen der Fragmente das traditionelle „to think“ beibehalten, was der Autor mit dem Fehlen einer analogen, die Verwandtschaft mit dem Verb veranschaulichenden Übersetzung für die Substantive nÒoj und nÒhma erklärt.

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

23

wendiges Objekt („the actual and implicit object of all thought“ S. 174f.). Mit dieser Auffassung entwickelt Mourelatos die von K. v. Fritz aufgestellte These von der unlöslichen Verbindung zwischen Sein und noe‹n weiter. Er ist allerdings der Meinung, dass K. v. Fritz die Diskrepanz zwischen dieser Verbindung und der Tatsache, dass der Parmenideische Noos auch irren kann, übertrieben darstelle (S. 175f., Anm. 30): Auch wenn der Noos als solcher bei Parmenides immer mit dem Seienden verbunden sei, gelte dies nicht zwangsläufig auch für den konkreten Noos einzelner Sterblicher. Die Verbindung gehöre demnach nicht zur faktischen, sondern zur ideellen und normativen Sphäre; im Falle der Sterblichen handele es sich, entgegen der Hypothese von K. v. Fritz, um eine „unrealized obligation“ (S. 175-177 mit Anm. 31)22. Einerseits nimmt also Mourelatos eine im Vergleich zu K. v. Fritz radikalere und eindeutigere Position ein (indem er dem Verb eine ausschließlich intuitive Bedeutung zuspricht), andererseits jedoch distanziert er sich wieder davon, indem er erklärt, die Verbindung zwischen dem noe‹n und dem Seienden stelle lediglich ein Postulat dar. Seine Position wird damit jedoch etwas inkonsequent: Wenn nämlich noe‹n im Einzelfall nicht immer Erkenntnis des Seienden ist (z. B. im Falle der Sterblichen), welchen Sinn hat es, darauf zu beharren, dass noe‹n seiner Definition und Bedeutung nach eine „unfehlbare Erfassung des Seienden“ ist? Eine interessante Modifikation dieser Interpretationsrichtung hat K. Bormann (1971) vorgeschlagen. Parmenides unterscheide zwischen dem das Seiende erkennenden und dem rein menschlichen noe‹n: Während ersteres eine Einheit mit dem Seienden bilde, bleibe das menschliche mit der „scheinbaren Realität“ verbunden. Inspiriert wurde der Autor durch die Auffassung von H. Schwabl (1956, S. 137f.), der die These von K. v. Fritz von der festen Bindung an das Seiende auch im Falle des irrenden noe‹n inakzeptabel fand und sie durch die Hypothese ersetzte, der nÒoj „als solcher“ sei nicht einfach mit dem Seienden, sondern jeweils mit einer der „Realitätsformen“ verbunden. Der Vorteil von Schwabls Interpretation, der darin besteht, dass sie keine spezielle Bedeutung des Verbs noe‹n vorauszusetzen braucht, geht leider bei K. Bormanns Auffassung verloren. Der Autor besteht auf der (wieder unter Berufung auf die Homer gewidmete Studie von K. v. Fritz formulierten) These, dass noe‹n „das Gewahrsein, das Kennen23 der Wirklichkeit, d. h. etwas als das kennen, was es ist“ bezeichne (S. 70f.)24, und behauptet, diese Bedeutung von noe‹n biete eine hinreichende Erklärung der Parmenideischen Konzeption (Fr. 2.7-8, Fr. 3): „noe‹n ist Kennen der Realität; das Nichts ist nicht wirklich,

22

23 24

Der Ausdruck plaktÕj nÒoj (Fr. 6.6) sei zwar ein Oxymoron, aber nicht logisch widersprüchlich (S. 175). Auch K. Bormann interpretiert noe‹n zwar als „kennen“, übersetzt es jedoch mit „denken“. Vgl. jedoch die von Bormann vorgeschlagene Interpretation der „Doxa“: „Nicht die scheinbare Realität ist Grund des rein menschlichen noe‹n, sondern rein menschliches noe‹n ist Grund für die scheinbare Realität“ (S. 125).

24

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

also kann es nicht erkannt werden“ (S. 72; ähnlich S. 94)25. Die Parallelität in der Verwendung der Termini noe‹n und lšgein (bzw. anderer verba dicendi ) führt K. Bormann auf eine Abhängigkeit des Sprechens vom noe‹n zurück26. Die Auffassung H. Schwabls wurde auch von J. Wiesner (1996) weiterentwickelt, für den auch die von E. Heitsch (1970; 1991) vorgeschlagene Interpretation des Parmenideischen noe‹n von Bedeutung ist. Dieser erklärt, K. v. Fritz habe in seinen drei Studien bewiesen, dass noe‹n ursprünglich nicht „denken“, sondern „erkennen, wahrnehmen, auffassen“27 sowie „vernehmen“28 bedeute29 und mit gignèskein synonym sei. Aufgrund der Untersuchungen von K. v. Fritz lasse sich der Charakter des noe‹n noch präziser bestimmen, als dieser selbst es getan habe. Die Übersetzung „denken“ sei darum inadäquat, weil sie eine Aktivität impliziere (am deutlichsten komme dies in dem Satz von I. Kant „Denken kann ich mir, was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst widerspreche“ zum Ausdruck30), die jedoch in dem archaischen noe‹n völlig fehle: Als geistige Wahrnehmung sei noe‹n genauso rezeptiv wie Ðr©n (1970, S. 18), es sei ein „Hinnehmen“ (1991, S. 99), „eine Art des Sehens“ (1991, S. 146). Dieser Charakter des noe‹n erkläre auch die Parmenideische These von seiner Beziehung mit dem Seienden: Weil der rezeptive Akt jeweils einen Gegenstand voraussetze, stünden die Begriffe e"nai (= „gegenwärtig sein“) und noe‹n in einer Korrelation, was Parmenides als Identität ausdrücke (Fr. 3) (1979, S. 24; 1991, S. 104, 119f.). Die Verbindung von noe‹n mit den verba dicendi sei auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Erkenntnis sich nur in der Rede manifestieren könne (1991, S. 121). Dass noe‹n kein „Denken“ und kein Instrument darstelle, das der Mensch nach Belieben anwenden könnte, betont u. a. auch Hermann Schmitz (1988): Der Noos „stehe“ dem Menschen vielmehr von sich aus „zur Seite“31. J. Wiesner (1996), der sich in seiner ausführlichen Untersuchung des Parmenideischen noe‹n auf E. Heitsch, H. Schwabl und K. v. Fritz stützt, bestätigt 25

26 27 28 29

30 31

In der angenommenen Bedeutung des Verbs sieht K. Bormann (1971, S. 79) auch einen hinreichenden Grund, die Interpretation von Fr. 8.34 als einer Identität zwischen dem Denken und seinem Ziel auszuschließen: „‚Kennen des Wirklichen und Ziel der Kenntnis des Wirklichen sind eines‘ wäre eine sinnlose Aussage; in noe‹n sind Kennen und Wirklichkeit nicht voneinander zu trennen“. S. K. Bormann (1971, S. 72, 75). E. Heitsch (1970, S. 17f.). E. Heitsch (1991, S. 144). Zum homerischen noe‹n s. auch E. Heitsch (1991, S. 100f.). E. Heitsch betont jedoch, dass der nÒoj – sowohl bei Parmenides als auch bei Homer – irren kann (1991, S. 102f.). E. Heitsch (1991, S. 99). H. Schmitz (1988, S. 19). Für Homer und Parmenides (sowie Empedokles und zum Teil noch für Aristoteles) bezeichnet noe‹n nach H. Schmitz kein „Denken“, sondern „Bemerken von Sachverhalten und Situationen“, in dem Perzeption und gedankliche Bearbeitung noch nicht getrennt sind (es sei also kein passives, sondern mit „Beachten“ verbundenes Bemerken, S. 64f.). Analog übersetzt der Autor die Wörter nÒoj und nÒhma mit „Bemerk“ und „Bemerkung“, die in einem speziellen, genau definierten Sinn verstanden werden sollen (S. 65f.).

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

25

zunächst die These von E. Heitsch von der Synonymie des noe‹n mit gignèskein (S. 25-33), will sie jedoch nur auf die die Erkenntnis des Seienden thematisierenden Stellen der „Aletheia“ beschränken, weil der schwankende nÒoj von Fr. 6 oder 16 keine echte Erkenntnis erlange. Demnach habe das Verb, das trotzdem als „Erfolgsverb“ zu klassifizieren sei, die noch grundlegendere Bedeutung „geistig erfassen“32 (S. 43), die abhängig vom jeweiligen Kontext unterschiedliche „Stufen“ der kognitiven Aktivität abdecke33. Das „Erfassen“ habe, in Übereinstimmung mit der These von Heitsch, einen der sinnlichen Wahrnehmung analogen, rezeptiven Charakter (S. 27, S. 43-46)34. Es richte sich nicht auf einen Inhalt, der mit einem „daß-Satz“ ausgedrückt werden müsste, sondern notwendigerweise auf ein unmittelbares Objekt, was Parmenides als Identität mit dem Seienden auffasse (Fr. 3: „Erkennen und Sein ist dasselbe“). Gleichzeitig stimmt J. Wiesner jedoch der These von K. v. Fritz von dem sowohl intuitiven als auch diskursiven Charakter des Parmendeischen noe‹n zu: Die Diskursivität komme in der aktiven Betätigung des Noos bei der logischen Argumentation der „Aletheia“ zum Ausdruck35 (S. 249f.). Diese These wird jedoch vom Autor nicht ausreichend mit der vorausgehenden Definition des noe‹n verbunden. Es entsteht vielmehr der Eindruck, dass der Autor dem Vorhandensein einer logischen Argumentation im Gedicht nachträglich Rechnung tragen wollte, nachdem er diesen Punkt bei der Auslegung der das noe‹n behandelnden Aussagen des Parmenides in keiner Weise berücksichtigt hatte: Diese wird ausschließlich auf die „passiv-rezeptive“ Bedeutung des Verbs gestützt36. Die Auffassung von K. v. Fritz, nach der im Parmenideischen noe‹n sowohl Intuition als auch Argumentation (bei Überwiegen der ersteren) enthalten sind, erklärt auch H. von Steuben (1995, S. 176) für richtig: noe‹n sei „Erkenntnis“, die auch das diskursive Denken umfassen könne. Im Verlauf seiner Analyse kommt der Autor jedoch zu der Überzeugung, dass noe‹n prinzipiell im ganzen Gedicht nicht Denken, sondern „Anschauung“ bezeichne (S. 176, 197). NÒoj sei mehr als „Denkkraft“: Er sei „Organ einer im transzendentalen Sinne eidetischen Wahrneh32

33

34

35

36

Diese Formulierung soll nach der Intention des Autors sowohl „geistiges Schauen oder Bemerken“ als auch „denkendes Erfassen oder Begreifen“ bezeichnen (S. 43). Folgende Stufen werden vom Autor unterschieden: 1) die Erkenntnis des Seienden als der „ideale Grenzfall“; 2) die Aufsplitterung des Seienden in eine Vielheit von Seienden durch den menschlichen nÒoj in der „Doxa“ (die Idee stammt von K. v. Fritz, vgl. oben); 3) die zusätzliche Einführung der Idee des Nichtseins (Fr. 6.4-9); 4) beim Fehlen eines Erkenntnisgegenstands findet keine Erkenntnis statt (S. 42f.). Es sei kein „Ausdenken und Vorstellen“ oder logisches „Operieren“, sondern „geistiges Gewahrwerden und Erfassen“ oder „erkennendes oder verstehendes Denken“ (S. 149f.). Darum sei der nÒoj doch nicht ganz passiv und rezeptiv (diese These schreibt J. Wiesner H. Schmitz zu; vgl. jedoch oben sowie H. Schmitz 2001, S. 463: Schmitz hält die Zuschreibung für einen Irrtum). Eine ähnliche Situation lässt sich bei K. v. Fritz beobachten. Vgl. die Analyse von Fr. 8.8a bei J. Wiesner (1996, S. 44f.: schließlich nimmt der Autor an, dass noe‹n auch hier passiv-rezeptiv ist).

26

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

mung“, dem sich das Seiende in toto in der Gestalt des „transzendenten Lichtes“ offenbare (S. 182)37. Die bisher präsentierten Interpretationen wurden (in unterschiedlichem Grad) auf der Basis der Untersuchungen von K. v. Fritz entwickelt38. In allen wird die Bedeutung „denken“ für das Verb noe‹n bei Parmenides in Frage gestellt (gelegentlich wird sie trotzdem in der Übersetzung beibehalten); anschließend wird behauptet, dass bei der Annahme einer bestimmten, vom jeweiligen Autor postulierten anderen Bedeutung die Parmenideischen Thesen von der Unmöglichkeit des noe‹n des Nichtseienden und von der Relation zwischen noe‹n und Sein verständlich oder gar evident werden. Obwohl keiner der erwähnten Forscher sich dabei explizit auf M. Heidegger beruft, lässt sich zwischen dieser Interpretationsrichtung und einer schon in „Sein und Zeit“39 dargelegten Meinung des deutschen Philosophen eine weitgehende Konvergenz beobachten. Das Verb noe‹n wurde dort von Heidegger konsequent als „vernehmen“ übersetzt, was mit der These begründet wurde, noe‹n bedeute für die Griechen kein „Denken“, sondern „das schlichte Vernehmen von etwas Vorhandenem in seiner puren Vorhandenheit“; diese Auffassung von noe‹n bilde auch die Grundlage des Seinsverständnisses bei Parmenides (S. 25f.): „Sein ist, was im reinen anschauenden Vernehmen sich zeigt“ (S. 171). Die wichtigsten und am häufigsten wiederkehrenden Punkte dieser Interpretationsrichtung lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1) Die ursprüngliche Bedeutung des Verbs noe‹n ist „to realize or to understand a situation“; daraus habe sich schon bei Homer u. a. die Bedeutung der „geistigen Wahrnehmung“ bzw. des „geistigen Erfassens“ (das durch die Oberfläche zur wahren Natur der Sache vordringt) entwickelt; 2) für Parmenides gilt die homerische Bedeutung: „geistig erfassen“ oder gar „erkennen“; 3) da die Bedeutung „erkennen“ impliziert, dass die Wahrheit tatsächlich erkannt wurde, ist noe‹n ein unfehlbares Erfassen der Wahrheit, und zwar entweder nur in der „Aletheia“ (in diesem Falle wird die Fehlbarkeit des Parmenideischen nÒoj in der „Doxa“ meist für sekundär erklärt, da der Homerische nÒoj niemals irre) oder überhaupt; 4) analog zu noe‹n seien die Verben des Sprechens aufzufassen: entweder als „wahrhaftig sprechen“ (beim noe‹n im Sinne von „erkennen“) oder als „aufzeigen, vermitteln“ (beim noe‹n im Sinne von „geistig erfassen“);

37

38 39

Das Denken hätte Parmenides nie zur Erkenntnis des Seienden geführt (S. 179); die Erkenntnis beruhe auf der göttlichen Offenbarung, die einen übersinnlichen, aber nicht gedanklichen Charakter habe (S. 182). Der logische Teil des Gedichts stelle nur eine nachträgliche Beschreibung des „Gesehenen“ dar (S. 197). S. auch M. Kraus (1987, S. 74-77 und 2005, S. 254). Zur Interpretation des Parmenideischen noe‹n bei Heidegger s. v.a. J. Schlüter (1979).

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

27

5) das „sinnvolle“ bzw. „erfolgreiche“ Sprechen hänge vom noe‹n, dessen Charakter die Grundlage der Parmenideischen Argumentation ausmache, ab; das Vorhandensein eines verbum dicendi sei für die Argumentation nicht unentbehrlich; 6) noe‹n sei passiv und rezeptiv40, es sei kein „aktives Denken“, „Sich-Vorstellen“ oder gar „Ausdenken“ von etwas nicht Gegebenem oder nicht Existierendem; es sei in Analogie zur sinnlichen Wahrnehmung aufzufassen; 7) noe‹n bei Parmenides sei grundsätzlich „intuitiv“, es sei eine Art der Schau; 8) im noe‹n sei in irgendeiner Weise auch die Idee des diskursiven Denkens enthalten, die jedoch nur von geringer Bedeutung sei, weil Parmenides selbst in seiner Konzeption des noe‹n (v. a. Fr. 3, 6.1-2, 8.34-41, 8.8-9, 8.15-18) vor allem das „intuitive“ noe‹n im Sinne habe41. Auch wenn die genannten Thesen in der Parmenides-Forschung weitgehend Zustimmung gefunden haben, sind manche von ihnen auch auf Kritik gestoßen. Diese Kritik wurde von Vertretern ganz unterschiedlicher Auffassungen der Parmenideischen Philosophie geäußert, so dass man hier noch weniger als bei den Anhängern der oben dargestellten Sichtweise von einer bestimmten Interpretation sprechen kann. Einer der Autoren, die nicht zu den Anhängern von K. v. Fritz gezählt werden können, ist Tomás Calvo (1977), der zwar die Bedeutung „erkennen“ für das Verb noe‹n annimmt42, zugleich aber betont, dass noe‹n nicht rein intellektuell ist und dass es keineswegs unfehlbar ist: Für die verbreitete Hypothese der Unfehlbarkeit lassen sich seiner Meinung nach keine überzeugenden Argumente vorbringen; im Gegenteil sei einer der dem nÒoj traditionell zugeschriebenen Züge seine Heteronomie, d. i. seine Abhängigkeit von fremden, vom Subjekt nicht kontrollierbaren Faktoren (S. 251). Diese Idee komme auch im Gedicht des Parmenides zum Ausdruck43. T. Calvo lehnt auch die These ab, Parmenides habe in die Konzeption des nÒoj eine Innovation in Form der Diskursivität eingeführt: Das argumentative Denken komme auch bei Parmenides nur dem lÒgoj zu, die Aufgabe des Noos bestehe in „visualizing“ (S. 252). In seiner Analyse des Begriffs nÒoj unterscheidet der Forscher überdies verschiedene semantische Ebenen des Wortes und weist u. a. auf die Tatsache hin, dass in der epischen Sprache das Wort auch die breite, von K. v. Fritz kaum thematisierte Bedeutung „mind“ annehmen konnte, bei der der nÒoj dem Körper (sîma, dšmaj) gegenübergestellt werde (S. 246f.). 40

41

42 43

Die Betonung der Rezeptivität des Denkens bei Parmenides ist zum Teil eine Reaktion auf die Interpretation Hegels, der das Parmenideische Denken als spontan und sich selbst produzierend auffasste (s. G.W.F. Hegel 1940, S. 312 und G. Prauss 1966, S. 282-284). Diese These ist in keiner der dargestellten Interpretationen explizit formuliert worden, wird jedoch faktisch in allen vorausgesetzt, weil keiner der erwähnten Forscher auf eine konkrete Stelle im Gedicht verwiesen hat, an der das Verb das diskursive Denken bezeichnen würde. Zur Rechtfertigung dieser Annahme s. T. Calvo (1977, S. 249f.). S. auch K. Narecki (1999, S. 131-134).

28

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Untersuchungen von K. v. Fritz stammt von L. Tarán („El significado de NOEIN en Parménides“ 1959/60). Die von ihm vorgeschlagene Lösung der beiden Hauptfragen, d. i. der der Relation des als „Denken“ (pensar) verstandenen noe‹n zu Wahrheit bzw. Irrtum und zur sinnlichen Wahrnehmung, konzentriert sich auf die sprachliche Ebene. Parmenides unterscheide zwischen intellektueller und sinnlicher Erkenntnis (S. 136-139)44, aber beide Erkenntnisformen seien Funktionen des Noos (es fehle eine terminologische Unterscheidung), der sowohl das „Denken“ (pensamiento), auch im Sinne von razonamiento, als auch eine der sinnlichen verwandte bzw. sie „verlängernde“ (prolongación S. 135, una función que prolongaba los sentidos S. 134) Erkenntnis bezeichnen könne45. Diese Vielfalt der Funktionen des Noos (die von K. v. Fritz übersehen worden sei, da er den untersuchten Termini fälschlich einen einheitlichen Sinn zugeschrieben habe, S. 124) und vor allem seine sinnliche Funktion bewirke, dass der Noos irregehen könne46. Ähnlich wie das Substantiv weise auch das Verb noe‹n sowohl eine engere (korrektes Denken) als auch eine allgemeine Bedeutung (die Funktion des Noos überhaupt) auf, so dass es auch das fehlerhafte, auf dem Weg des Nichtseienden umherirrende Denken bezeichnen könne (S. 134f.)47. Von einer tieferen, philosophisch orientierten Kritik der oben dargestellten Interpretationsrichtung kann jedoch erst in Bezug auf eine Aussage von E. Tugendhat im Aufsatz „Das Sein und das Nichts“ (1970, S. 137, Anm. 6) gesprochen werden. Der deutsche Philosoph widerspricht allen Interpretationen, nach denen Parmenides die These von der Unmöglichkeit der Erkenntnis und des Denkens des Nichtseienden einfach aus einem bestimmten Bedeutungsaspekt des Verbs noe‹n abgeleitet habe. Auch wenn die Anhänger der These, das Verb bedeute „erkennen“ und insofern könne nur die Wahrheit sein Gegenstand sein, sich auf die Studie von K. v. Fritz zu berufen pflegen, habe dieser keineswegs diese Bedeutung des Verbs bei Parmenides nachgewiesen, sondern nur gezeigt, dass bei Homer das Verb so viel wie „bemerken“ oder „erfassen“ bedeute. Aufgrund dieser Bedeutung sei es zwar selten, aber nicht ausgeschlossen, dass das noe‹n als irrig charakterisiert werde: Beispiele dafür fänden sich sowohl bei Hesiod als auch bei Parmenides (Fr. 6.6, 16.4). Die Parmenideische Theorie könne auch deshalb nicht auf der 44 45

46

47

So auch L. Tarán (1965, S. 77-81: „rejection of all sense-perception“). Die letztere soll in Fr. 4 (leàsse nÒwi) sowie in den Fragmenten von Xenophanes (B 24: oâloj Ðr©i … etc.), Epicharmos (B 12: noàj ÐrÁi ... etc.) und Empedokles (B 17.21:… nÒwi dšrkeu) vorliegen. Die Hypothese von K. v. Fritz, nach der auch der irrende Noos der Menschen mit dem Seienden verbunden bleibt, wird von L. Tarán (1965, S. 80f.) entschieden abgelehnt. Dass die Begriffe noe‹n, nÒoj, nÒhma sowohl das wahre als auch das irrige Denken (pensar) bezeichnen, betont auch F. Montero (1958), der vorschlägt, das „metaphysische“ Denken des Seienden (la desnuda presencia del Ser, S. 353) vom Denken der Sterblichen und vom Denken der Göttin, das den Vortrag der „Doxa“ konstituiert (dieses wird vom Autor als gnèmh bezeichnet; vgl. Fr. 8.53 und 8.61) strikt zu unterscheiden.

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

29

Bedeutung des noe‹n beruhen, weil sie auch mit den Verben gnînai, fr£sai, lšgein und f£nai operiere; demnach müsste man behaupten, f£nai bedeute ¢lhqÁ f£nai, was nach Tugendhat nicht akzeptabel wäre. Wichtiger als die Bedeutung des noe‹n sei bei Parmenides die Syntax des Verbs, d. i. die Tatsache, dass das Verb in der Regel mit dem einfachen Akkusativobjekt (und nicht mit einem „dassSatz“) konstruiert werde: Dies zeige, dass das Verb ein einfaches „Vorstellen“ oder „Erfassen“ bezeichne. Gegen die Übersetzung des Verbs noe‹n als „erkennen“ bzw. „kennen“ (to know) spricht sich J. Barnes (1979, S. 158f.) aus. Dass die Anhänger dieser Übersetzung sich auf die Abhandlung von K. v. Fritz berufen, hält er für unbegründet („I do not know what v. Fritz thinks he has shown“, S. 329, Anm. 6): Ursprünglich könne das Verb eine Einsicht oder intuitives Wissen bezeichnet haben, doch auch bei Homer und Hesiod sei nÒoj nicht immer veridical (man könne ‚noe‹n, dass p‘, obwohl p falsch sei). Abgesehen von einigen, eher als Ausnahmen zu betrachtenden Stellen bei Platon und Aristoteles, wo noàj als Bezeichnung für das höchste Erkenntnisvermögen fungiere, bezeichne das Substantiv im 5. Jh. v. Ch. das Denken und die Vernunft überhaupt, während das Verb noe‹n, das auch „erkennen“ oder „erfassen“ bedeuten könne, meist einfach „denken an etwas“ (think of ) bedeute48. Für diese Bedeutung des Verbs bei Parmenides spreche eindeutig der Kontext, in dem es begegne: Es erscheine dreimal in einer direkten Verbindung mit einem verbum dicendi (Fr. 6.1; zweimal in 8.8; vgl. 8.17)49; lšgein und f£sqai bedeuteten aber nur „sprechen“, und sicherlich nicht „wahr oder ‚erfolgreich‘ sprechen“. Daraus folge, dass Sprechen und noe‹n in derselben Beziehung zum Seienden stünden und dass dieses Verb als „denken“ zu übersetzen sei. In demselben Jahr wie J. Barnes hat sich auch D. Gallop (1979) gegenüber den Interpretationen, die die Parmenideische These auf die angeblich die Wahrheit garantierende Bedeutung des Verbs noe‹n stützen, kritisch geäußert50. Interessante Argumente gegen die Übersetzung noe‹n als „Erkennen“ sowie gegen manche Thesen von K. v. Fritz hat auch J.H. Lesher (1994) vorgebracht. Der Forscher macht geltend, dass die von K. v. Fritz für ursprünglich und grundlegend 48

49 50

Den Argumenten von J. Barnes stimmt u. a. A. Finkelberg (1988, S. 55, Anm. 48) zu, nach dem zur Zeit des Parmenides das Verb beide Bedeutungen („kennen“ und „denken“) aufwies und seine Bedeutung in einem konkreten Satz nur durch den Kontext determiniert wurde (die Bedeutung „kennen“ nimmt der Autor u. a. für Fr. 3 an). So auch KRS (1983, S. 247, Anm. 2). Gallops Kritik ist v. a. gegen die Interpretation von Ch. H. Kahn gerichtet. Nach Gallop ist es unwahrscheinlich, dass ein Bedeutungsaspekt des Verbs für die Parmenideische Argumentation eine so entscheidende Rolle spielt, wie sie Ch. H. Kahn annimmt. Auch wenn das Verb noe‹n wahrscheinlich kein „Denken“ „im einfachen Sinne“ bezeichne, werde es von Parmenides nicht immer als „achievement notion“ verwendet. In der Interpretation der Parmenideischen Philosophie sollten Begriffe wie „kennen“ und „wissen“, die die objektive Wahrheit des noe‹n zu einem Bestandteil der Übersetzung des Verbs machen würden, vermieden werden; daher sei die traditionelle Übersetzung des Verbs als „Denken“ besser geeignet (D. Gallop 1979, S. 66, 70f., 78, Anm. 41).

30

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

erklärte Bedeutung von noe‹n, „to realize the meaning of a situation“, lediglich eine der möglichen Bedeutungen des Verbs darstelle51. Das Verb könne zwar, wenn es die Bedeutung „(etwas von der Umgebung) bemerken“ oder „erkennen“ annehme und vor allem wenn es im Aorist verwendet werde, ein Wissen implizieren, doch scheine es angesichts des hoch abstrakten Charakters des Parmenideischen Textes sehr unwahrscheinlich, dass das Verb von Parmenides in dieser Bedeutung verwendet werde; daher sei es als „denken“ zu übersetzen (S. 27, Anm. 54). Überdies stellt J.H. Lesher die Grundlagen der Rekonstruktion der semantischen Evolution der Begriffe nÒoj, noe‹n etc. von der rein „sinnlichen“ (bei Homer) bis zur „intellektuellen“ Bedeutung52 sowie die These, dass sich die „Unmittelbarkeit“ und „Intuitivität“ des Homerischen, „sinnlichen“ Noos bei den frühen Vorsokratikern in Form einer direkten Beziehung zwischen dem „intuitiven“ Noos und der Wirklichkeit manifestiere (S. 3-10), in Frage. Nach Lesher wird in solchen Interpretationen sowohl in Bezug auf Homer als auch auf die Vorsokratiker der sinnlichen Wahrnehmung eine übermäßig große Rolle in der Erkenntnis zugeschrieben. Der Zusammenhang zwischen Noos und Wirklichkeit bei Parmenides müsse keineswegs implizieren, dass der Noos eine intuitive Einsicht in die wahre Natur der Wirklichkeit sei (noch dass noe‹n einfach „know by direct acquaintance“ bedeute) – eine solche Auffassung sei auch angesichts der dem Noos der Sterblichen zugeschriebenen Befangenheit im Irrtum (Fr. 6.6-9) höchst befremdlich. Wichtig und berechtigt scheint Leshers Kritik an einer impliziten Voraussetzung der oben erwähnten Entwicklungstheorie, nämlich der Annahme, dass alle Fortschritte des philosophischen Denkens sowie des gesunden Menschenverstands sich in den semantischen Wandlungen der Wörter unmittelbar widerspiegeln. Die Überzeugung, dass „everything commonly regarded as true about x (or philosophically theorized about x) must also represent an essential element in the meaning of the term ‚x‘“ (S. 10, Anm. 18), sei falsch. Ein entscheidender Beitrag zu der dem Begriff noe‹n gewidmeten Diskussion stammt schließlich von P. Thanassas (1997). Der Forscher hat entschieden gegen die einfache Übertragung der von K. v. Fritz aufgrund der Homerischen Texte postulierten Bedeutung des Verbs noe‹n auf die Sprache des Parmenides protestiert: Selbst K. v. Fritz (von dessen Forschungsergebnissen er sich distanziert)53 habe ausdrücklich betont, dass das Parmenideische Gedicht einen Wendepunkt in der Entwicklungsgeschichte des Begriffs ausmache. Die kritisierte Vorgehensweise und die daraus resultierende Ablehnung der Übersetzung von noe‹n als „denken“ (die P. Thanassas vor allem bei E. Heitsch gegeben sieht) verfolgen seiner Ansicht nach das Ziel, die Bedeutung des Verbs der sinnlichen Wahrnehmung anzunähern. Solche Versuche entbehrten jedoch einer ausreichenden Grundlage: Bei Parmenides bezeichne der Begriff noe‹n – zum ersten Mal – gerade nicht mehr „eine Art vom sech51 52 53

Dazu s. auch unten. Diese Theorie spricht J.H. Lesher K. v. Fritz, H. Fränkel und B. Snell zu. S. P. Thanassas (1997, S. 71, Anm. 105).

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

31

sten Sinn“ (S. 71, Anm. 105). Davon, dass das noe‹n bei Parmenides keinen Bezug zur sinnlichen Erkenntnis habe, zeuge vor allem das explizit geäußerte Misstrauen gegenüber der Perzeption in der „Aletheia“: „Nicht dem ziellosen Auge und dem widerhallenden Gehör und der Zunge (VII.4-5), sondern dem Nous [sic!]54 muß gefolgt werden“ (P. Thanassas 1997, S. 68). Der Noos werde bei Parmenides zum ersten Mal zu der „Fähigkeit, über das unmittelbar Gegebene hinauszugehen und den Wahrheitsanspruch der Sinne in Frage zu stellen“ (ibidem). Das Parmenideische noe‹n, dessen unterschiedliche Funktionen und Nuancen nach Thanassas mit nur geringen Einschränkungen55 mit denen des Verbs „denken“ übereinstimmen (die Übersetzung „erkennen“ oder „kennen“ führe in die Irre)56, könne dementsprechend keineswegs als „passiv“ oder „rezeptiv“ bezeichnet werden: Zwar wäre es falsch, das noe‹n als spontan aufzufassen, seine Einschätzung als „rezeptiv“ sei jedoch noch irriger. Entgegen der These von E. Tugendhat sei es kein „schlichtes Vorsichhaben“. Gleichzeitig lehnt Thanassas auch das von K. v. Fritz dem noe‹n zugeschriebene Moment der Diskursivität ab57. Die oben präsentierten, der früher dargestellten Interpretationsrichtung kritisch gegenüberstehenden Auffassungen greifen eine Vielzahl von Fragen auf, deren Klärung eine detaillierte Untersuchung der Parmenideischen Konzeption des noe‹n erfordert (s. u.). Sie beinhalten jedoch auch einige Argumente, die in der Diskussion über die eigentliche Bedeutung und die richtige Übersetzung des Verbs noe‹n bei Parmenides entscheidend zu sein scheinen: 1) Die von K. v. Fritz postulierte Homerische Bedeutung des Verbs kann nicht ungeprüft auf das Gedicht des Parmenides übertragen werden; 2) das Argument, dass noe‹n „erkennen“ heißen muss, weil sonst die Parmenideische These von der Unmöglichkeit des noe‹n des Nichtseienden nicht nachvollziehbar wäre, ist nicht schlüssig; es ist unwahrscheinlich, dass Parmenides seine gesamte Lehre auf die Bedeutung eines Verbs stützt; 3) letzteres wird auch dadurch widerlegt, dass in seiner Argumentation auch andere Begriffe (gignèskein, fr£zein, lšgein, f£nai) vorkommen; 4) im Parmenideischen Gedicht wird noe‹n mit verba dicendi verbunden, was die Bedeutung „denken“ nahe legt;

54

55

56

57

Auch wenn der angeführte Satz nicht als Zitat aus Parmenides gemeint ist, erweckt er den Eindruck, dass der nÒoj bei Parmenides an die Stelle des Logos gesetzt wird. Der Autor lehnt zwar die Möglichkeit einer solchen Ersetzung ab (S. 251), die zitierte Formulierung stimmt jedoch mit der Überzeugung des Autors von der führenden Rolle des Noos und seiner Vorrangstellung gegenüber lÒgoj und lšgein bei Parmenides (S. 249ff.) überein. Das „Denken“ sei nicht mit „Ausdenken“ und das aktive Moment des Denkens nicht mit „einer subjektivistischen, Willkür implizierenden ‚Spontaneität‘“ zu verwechseln (S. 72). Diese Verben entsprechen nach Thanassas dem griechischen Verb gignèskein und bezeichnen, wie B. Snell (1924, S. 21) feststellte, den Akt des Erkennens eines bestimmten Gegenstandes „als dieses oder jenes“, was bei noe‹n nicht der Fall sei. S. ibidem, S. 71.

32

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

5) die Verbindungen mit verba dicendi, die keine Aussage über den Wahrheitsgehalt des Gesagten beinhalten, zeigen, dass auch noe‹n keine Garantie der Wahrhaftigkeit impliziert; 6) dasselbe legen die Stellen des Gedichts nahe, in denen noe‹n, nÒhma und nÒoj als irrend bzw. potenziell irrend dargestellt werden (Fr. 6.6, 7.2, 8.7-9, vgl. Fr. 16). Die aufgezählten Argumente sind von unbestreitbarer Plausibilität. Sogar bei einer flüchtigen Betrachtung des Texts des Gedichts zeigt sich, dass es an manchen Stellen unmöglich wäre, das Verb mit „erkennen“, „verstehen“ oder „wissen“ zu übersetzen. So lesen wir beispielsweise in Fr. 8.7-9: pÁi pÒqen aÙxhqšn; oÙd' ™k m¾ ™Òntoj ™£ssw f£sqai s' oÙd{ noe‹n: oÙ g¦r fatÕn oÙd{ nohtÒn œstin Ópwj oÙk œsti.

„Wohin, woher gewachsen? Weder ‚aus dem Nichtseienden‘ werde ich dich sagen oder noe‹n lassen; denn es ist nicht sagbar noch nohtÒn, dass nicht ist“58. Die Versuche, den ersten Teil des Satzes als „Weder ‚aus Nichtseiendem‘ werde ich dich sagen und (erkennend) denken lassen“59 oder als „Ich werde nicht gutheißen, daß du sagst oder gar verstehst ‚aus Nichtseiendem‘“60 zu übersetzen, scheinen nicht akzeptabel; auch die ungenaue Übersetzung „Ich werde dich ein Herkommen von Seiendem aus Nichtseiendem nicht aussprechen und nicht denken (begreifen) lassen“ mit der Erklärung, das erste noe‹n (V. 8a) bedeute „geistig erfassen“ (und das zweite, V. 8b, „erkennen“)61, überzeugt nicht. Es muss dabei betont werden, dass es sich bei dieser Frage nicht ausschließlich um eine sprachliche Entscheidung handelt. Das Problem betrifft auch den Begriff selbst: An der genannten Stelle lässt sich noe‹n unmöglich als ein kognitiver, unmittelbar auf den Gegenstand gerichteter Akt verstehen. Ähnlich verhält es sich in Bezug auf das Substantiv nÒhma. Während in Fr. 8.50 (™n tîi soi paÚw pistÕn lÒgon ºd{ nÒhma / ¢mfˆj ¢lhqe…hj) die Deutung als „Erkenntnis“ akzeptabel wäre (so z. B. E. Heitsch 1991, S. 33; vgl. J. Mansfeld 1995, S. 13: „Begriff “), scheint sie z. B. in Fr. 7.2 völlig ausgeschlossen: ¢ll¦ sÝ tÁsd' ¢f' Ðdoà diz»sioj e"rge nÒhma

– hier übersetzt sogar E. Heitsch „Gedanke“ (vgl. J. Mansfeld 1995, S. 9: „Du sollst das Verstehen von diesem Weg der Untersuchung zurückhalten“). Die Übersetzung „denken“ bzw. „Gedanke“ passt dagegen, wie sich leicht feststellen lässt, an allen Stellen des Gedichts problemlos. Die Schwierigkeiten, auf die wir bei der Rekonstruktion der nur teilweise erhaltenen Parmenideischen 58 59 60 61

Übers. nach U. Hölscher (1969, S. 21). E. Heitsch (1991, S. 27); Hervorhebung M.M.-R. J. Mansfeld (1995, S. 11); Hervorhebung M.M.-R. J. Wiesner (1996, S. 44).

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

33

Argumentation stoßen, sind mit Sicherheit kein hinreichendes Argument für die Ablehnung dieser Bedeutung. Bei einem Vergleich der für die Bedeutung „erkennen“ mit den für „denken“ angeführten Argumenten zeigt sich, dass letztere auf dem Parmenideischen Text selbst, erstere dagegen vorwiegend auf einer begriffsgeschichtlichen Untersuchung basieren. Akzeptiert man also die Argumentation für die Bedeutung „denken“, stellt sich noch die Frage nach der Bewertung der begriffsgeschichtlichen Argumente. Zweifellos kann die Homerische Bedeutung nicht ohne weiteres auf das Gedicht des Parmenides übertragen werden; die Annahme, sie sei für eine Untersuchung des Parmenideischen noe‹n völlig irrelevant, wäre jedoch nicht weniger verfehlt. Auch wenn Parmenides einige sprachliche Innovationen einführt62, bleibt seine Sprache grundsätzlich die traditionelle Sprache des Epos63. Es wäre daher einerseits für die Begriffsgeschichte und für die Geschichte der Philosophie von höchstem Belang, wenn er die in der Epik übliche Bedeutung des Verbs noe‹n durch eine ganz neue, für seine philosophische Konzeption geeignetere ersetzt hätte; andererseits wäre zu fragen, ob eine solche Ersetzung überhaupt durchführbar und für zeitgenössische, mit den epischen Konventionen vertraute Leser bzw. Hörer verständlich gewesen wäre. Angesichts dieser weitreichenden Konsequenzen des angesprochenen begriffsgeschichtlichen Problems scheint es unerlässlich, auch nach der Grundlage zu fragen, auf der den Homerischen Wörtern die postulierte Bedeutung zugeschrieben wird. Eine erschöpfende Analyse der Homerischen Verwendung der Wörter nÒoj, noe‹n und nÒhma ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich; für die Zwecke unserer Untersuchung genügt es jedoch, an die wichtigsten Bedeutungsgruppen des Verbs zu erinnern und diejenigen Auffassungen des Homerischen noe‹n, die sich für die Parmenides-Forschung des 20. Jahrhunderts als entscheidend erwiesen haben, näher zu betrachten. Die Verwendungen des Homerischen noe‹n können auf vier Hauptbedeutungen zurückgeführt werden: 1) „bemerken, erkennen“ – bes. im Aorist bezeichnet noe‹n bzw. noÁsai ein plötzliches „Erfassen“, „Innewerden“ (to realize) der wahren Bedeutung einer Situation64, „Erkennen“ (im Unterschied zum „Wiedererkennen“ von etw. als einer

62

63

64

Zu den möglicherweise von Parmenides neu gebildeten Adjektiven s. H. Pfeiffer (1975, S. 2951); zu den Verbformen plÁntai (Fr. 1.13), ¢napt£menai (Fr. 1.18) und ÑnÒmastai (Fr. 9.1; wahrscheinlich auch 8.38) s. A.H. Coxon (1986, S. 163, 165, 232f.). Dazu s. H. Pfeiffer (1975, S. 16-51), vgl. A.H. Coxon (1986, S. 7-11). Zu den Rückgriffen auf die ältere Epik auf der Ebene der Vorstellung und des Bilds s. bes. H. Pfeiffer (1975, S. 52121). Zu den typischen Wendungen gehören: 1) Negation + ™nÒhse (+ æj) – wenn jemand etwas nicht geahnt oder nicht bedacht hat (z. B. Il. 22.445; 20.264; Od. 9.442; 22.32; Th. 488; vgl. Op. 89); 2) die Formel der „Ilias“ e„ m¾ ¥r' ÑxÝ nÒhse – ein Gott bzw. Held wird sich über eine Gefährdung seines Schützlings bzw. Gefährten klar und reagiert blitzschnell (z. B. Il. 3.374, 5.312, 5.680, 8.91, 8.132, 20.291; vgl. Il. 11.343, 15.649).

34

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

bestimmten Sache). Der Gegenstand des Erfassens kann abstrakt65 sein, häufiger aber ist es ein konkretes Ding oder eine im ACI ausgedrückte Situation66, daher die Hypothese, noe‹n (bzw. noÁsai) wäre ursprünglich synonym mit „de‹n gewesen67, die jedoch – trotz der Stellen, an denen es tatsächlich nicht mehr als „de‹n bedeutet68 – abzulehnen ist69. Zahlreiche Forscher – unter ihnen auch K. v. Fritz70 – argumentieren, noe‹n bezeichne nicht reine Perzeption, sondern einen mentalen bzw. geistigen Akt71: ein „Bewusstwerden“ auf potenziell unterschiedliche Weise wahrgenommener Gegenstände72. Typisch ist die Beschreibung des Erspähens (papta…nein), das zu einem noÁsai führt73. Dass hierfür eine Aktivität des Noos erforderlich ist, zeigt die bekannte Stelle der „Odyssee“ (19.478f.): Penelope kann den vielsagenden Blick Eurykleias weder ¢qrÁsai noch noÁsai, weil ihr nÒoj von Athene abgewendet worden ist. Die häufige Verwendung des Verbs in solchen Kontexten resultiert aus der Neigung des Dichters, die Rolle des Intellekts im menschlichen Verhalten zu betonen74 und nicht nur äußerliche Tatsachen, sondern auch die innerlichen, in qumÒj, fršnej etc. der Protagonisten verlaufenden Prozesse zu schildern.

65

66

67 68

69

70

71

72

73 74

Z. B. Op. 484; Il. 19.112: dolofrosÚnhn (vgl. Il. 18.526 : dÒlon d' oÜ ti pronÒhsan; Th. 551: gnî _' oÙd' ºgno…hse dÒlon) – gemeint ist damit nur, dass man sich über die listige Intention klar wird, nicht dass man die List ganz durchschaut, wie Th. 551 zeigt (Zeus gnî die List, hat sich aber dennoch täuschen lassen). Typisch: ein Held bemerkt auf dem Schlachtfeld einen anderen und dessen Handlung z. B. Il. 3.21, 3.30, 11.284 etc. So R. Bertolín Cebrián (1996); früher schon V. Larock (1930). So bes. in der „Odyssee“, wo als Objekte des noe‹n eine schöne Palme (Od. 6.163), Rauch (Od. 1.58), ein Chiton (Od. 19.233) oder die Gänse (Od. 19.553) vorkommen (ein Federbusch in Il. 6.469f.). Dies geben auch J. Böhme (1929, S. 25) sowie A. Schmitt (1990, S. 131) zu, der jedoch kurz davor schreibt, dass „es sich dabei nie um ein Wahrnehmen im strengen Sinne handelt“ (S. 130). Die Hauptschwierigkeit konstatiert R. Bertolín Cebrián (1996, S. 255) selbst: „Die Beziehung zu nÒoj bleibt unklar. Denn nÒoj zeigt nur eine abstrakte Bedeutung (...)“. Demnach müsste man eine unwahrscheinliche und nicht bezeugte Entwicklung der Semantik der Wörter voraussetzen. Sein Argument, dass auf das noe‹n oft eine Emotion folgt, ist jedoch nicht stichhaltig, da das Gleiche für „de‹n gilt, s. z. B. Il. 4.148f., 5.596, Od. 3.373 etc. J. Böhme (1929), K. v. Fritz (1943), G. Plamböck (1959), Th. Schmitt (1990), B. Snell (1955, S. 31). Vgl. G. Rappe (1995), J. Russo – B. Simon (1968), E.J. Harrison (1960), J.R. Warden (1971), D.J. Furley (1956, S. 6). So sind Formulierungen wie tÕn d{ „dën ™nÒhse (Il. 11.599; vgl. gnî ... „dèn Il. 7.189), (™n) Ñfqalmo‹si noÁsai (Il. 15.422; 24.294 = 24.312) oder oÙd' ... ‡den ... oÙd' ™nÒhsen (Od. 16.160; s. auch Il. 5.475; 10.550; 24.337) zu deuten. Z. B. Il. 4.200, 17.116, 22.463, 17.673-682. Vgl. Il. 12.333-335 und 17.83. Vgl. auch A. Schmitt (1990, S. 130ff.) und seine These, dass Denken und Wahrnehmung bei Homer nicht nur nicht verwechselt, sondern sogar strenger unterschieden werden als im modernen Denken.

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

35

2) „planen, im Sinn haben, gedenken, denken“ – hier zeigt sich die semantische Verwandtschaft des Verbs mit dem Substantiv nÒoj; noe‹n bedeutet hier soviel wie „einen nÒoj – im Sinne von ‚Plan, Vorhaben‘ oder ‚Gedanke, Denken‘ – haben“75. Für die Parmenides-Forschung ist bes. Il. 15.80-8476 bedeutsam. Der Akt des noe‹n wird hier unter zwei Aspekten zugleich charakterisiert: als ein direkter Kontakt des Gedankens (nÒoj) mit dem Gegenstand des Denkens und als ein verbaler Prozess, in dem der Inhalt des Denkens, das ausnahmsweise keine unmittelbare Reaktion auf die Situation ist77, in Form eines inneren Monologes direkt ausgedrückt wird (œnq' e‡hn À œnqa). Das noe‹n beschränkt sich demnach nicht auf eine „geistige Schau“. Dass seine verbale Seite78 an anderen Stellen der Homerischen Epen in der Regel nicht erwähnt wird, muss nicht bedeuten, dass sie dort fehlt; es kann sich z. B. um ästhetische Gründe handeln. 3) „verstehen, wissen“ – hier entspricht das Verb ebenfalls einer Bedeutung des Substantivs („Verstand, Intelligenz“)79. Ein so verstandenes Wissen hat auch eine ethische Dimension80, denn derjenige, der „alles versteht“ (Op. 293), ist ™sqlÒj und hat ¢ret»; ™sqlÒj ist aber auch derjenige, der auf den Rat des „gut Sprechenden“ (Op. 295) hört81. 4) „ersinnen“ – hier bezeichnet noe‹n den der Handlung direkt vorausgehenden, meistens plötzlichen, geistigen Akt, der sich auf das Praktische und Nützliche konzentriert und in dem ein Ausweg aus einer Situation, der nächste Schritt, ein

75

76

77

78

79 80 81

Z. B. Il. 24.560; Od. 5.188f.; Il. 9.600 (wichtig im Kontext der Parmenides-Forschung wegen des Imperativs nÒei; Imper. auch in Il. 20.310: nÒhson). æj d' Ót' ¨n ¢$xV nÒoj ¢nšroj, Ój t' ™pˆ poll¾n / ga‹an ™lhlouqëj fresˆ peukal…mVsi nÒhsV / œnq' e‡hn À œnqa, menoin»Vs… te poll£, / ìj kraipnîj memau‹a dišptato pÒtnia “ Hrh („Wie wenn eilt der Gedanke des Mannes, welcher in vieles / Land schon kam und nun in klugen Gedanken sich ausdenkt: / ‚Hier- oder dorthin möchte ich gehen‘, und vieles erwägt er: / So flog eilig und eifrig dahin die Herrscherin Hera“. Übers. R. Hampe). Das ist bei Homer der häufigste Fall; das Denken, vorgestellt als Sprechen der Person zu ihrem qumÒj, betrifft in der Regel die verschiedenen Möglichkeiten des Handelns (so z. B. Il. 21.552ff.; 22.98ff.; 11.403ff.; 17.90ff.; Od. 5.355; 5.464; 5.407; vgl. sonstiges Sprechen zum eigenen qumÒj z. B. Il. 17.200ff.; 17.442ff.; 18.5ff.; 20.343ff.; 21.53ff.; Od. 5. 285ff.; 5.376ff.; 5.298ff.), viel seltener Überlegungen über die Bedeutung der aktuellen Ereignisse (z. B. Il. 18.5ff.). Die Tätigkeit des Überlegens bezeichnen v. a.: Ðrma…nein (z. B. Il. 11.411; 17.106; 18.15; 17.106; 14.20; 21.137; 24.680; Od. 4.120; 5.365; 5.424; 6.118), mermhr…zein (z. B. Il. 2.3; 5. 671; 8.169; 16.646; Od. 16.73; 20.38; 4.117; 10.50; 10.151; 16.237; 20.10; 24.235) und dialšgesqai (z. B. Il. 11.407; 17.97; 21.562; 22.122; 22.385). Das Verb noe‹n wird in solchen Kontexten nicht verwendet (zu erwägen wäre Il. 20.310, doch vgl. R. Führer 1997, Sp. 412). Auch wenn die These von A. Schmitt, noe‹n sei das Resultat eines unbewussten Vorgangs, zutrifft, kann es verbalen Charakter haben, weil das noe‹n selbst nicht im Unbewussten abläuft, sondern das Moment des „Bewusstwerdens“ bezeichnet. Beispiele: Il. 1.577, 23.305; Od. 6.67, 16.136, 17.193, 17.281, 21.257. Od. 18.228f. S. auch Od. 18.230 und 20.309f. S. Op. 293-97.

36

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

Plan etc. erdacht wird82. Die Fähigkeit zum so verstandenen noe‹n kommt manchen Menschen bzw. Göttern in größerem Ausmaß zu als anderen83. Im Folgenden seien die drei für die Parmenides-Forschung bedeutendsten Hypothesen zum epischen noe‹n näher betrachtet. Es handelt sich um die Definitionen des Homerischen noe‹n als: 1) eines Synonyms von gignèskein; 2) einer das gignèskein übersteigenden Erkenntnisweise; 3) eines „sechsten Sinns“, d. i. einer die Oberfläche der Dinge durchdringenden Intuition. Die unter den Parmenides-Forschern verbreitete Annahme, das Homerische noe‹n bedeute vor allem „erkennen“ und sei mit gignèskein gleichzusetzen, geht auf J. Böhmes Abhandlung zur Homerischen Psychologie (1929) zurück, der noe‹n mit gignèskein vergleicht und erklärt, dass das Verb noe‹n „oft (...) das Erkennen eines Gottes als Gottes oder das (Wieder-)Erkennen eines Menschen“ (S. 25, Anm. 2) bezeichne. Dass noe‹n an nicht wenigen Stellen der Epen als „erkennen“ übersetzt werden kann, unterliegt keinem Zweifel. Die Behauptung jedoch, dass es vor allem „Wiedererkennen“ bzw. „Identifizieren“ bedeute, erscheint problematisch. Das Motiv der Identifizierung eines Gottes als Gottes kommt bei Homer sehr oft vor; so wird z. B. Athene von Achilles (Il. 1.199) und von Diomedes (Il. 5.816), Poseidon von Aias (Il. 13.66), Apollon von Diomedes (Il. 5.433) erkannt bzw. Apollo von Achilles (Il. 22.10) und Athene von Odysseus (Od. 13.299) nicht erkannt; die Götter werden einmal als „leicht erkennbar“ (Il. 13.72) bezeichnet, ein anderes Mal beschwert sich Odysseus, dass es für einen Menschen schwierig ist, Athene zu erkennen (Od. 13.312). An allen diesen und ähnlichen Stellen wird jedoch konsequent das Verb gignèskein (in Il. 13.72 das Adjektiv ¢r…gnwtoj) verwendet84.

82

83 84

Z. B. Il. 10.224-26; 10.247; mit dem Objekt màqoj Il. 7.358; 12.232; œpoj Il. 1.543; nÒoj Il. 9.104 (vgl. Od. 3.26f., 5.188f.). Hierher gehört die Phrase œnq' aât' ¥ll' ™nÒhse, die zu einer neuen Handlung überleitet (Il. 23.140; 23.193; Od. 2.382; 2.393; 4.795; 5.382; 6.112; 18.187; 23.344; 4.219; 6.251; 16.409; 23.242) und das negierte noÁsai mit Infinitiv, das fast soviel wie „hat vergessen“ bedeutet (Od. 11.62; Il. 10.501; 5.665; vgl. Il. 9.537 (À l£qet' À oÙk ™nÒhsen); vgl. Il. 23.415f.). Il. 10.247 (vgl. Op. 293ff.), Od. 5.170. In den Parmenides gewidmeten Arbeiten wird immer wieder die Szene aus dem dritten Buch der „Ilias“ angeführt, in der sich Aphrodite Helena in Gestalt einer alten Spartanerin zeigt (ka… _' æj oân ™nÒhse qe©j perikallša deir¾n / st»qe£ q' ƒmerÒenta kaˆ Ômmata marma… ronta, / q£mbhsšn t' ¥r' œpeita œpoj t' œfat' œk t' ÑnÒmaze: / daimon…h, t… me taàta lila…eai ºperopeÚein; Il. 3.396-399). Es ist jedoch höchst zweifelhaft, ob das Verb noe‹n, wie J. Böhme meint, hier im Sinne von gignèskein verwendet wird; gegen diese Interpretation hat auch G. Plamböck (1959, S. 30f.) überzeugend argumentiert: Im Text steht nicht „sie hat die Göttin an ihrem Hals erkannt“, sondern „sie hat den Hals der Göttin bemerkt“; das Erkennen resultiert aus dem Bemerken, ist aber nicht selbst in dem Verb enthalten. Dies lässt sich an einer anderen Stelle, an der Athene ebenfalls eine andere Gestalt angenommen hat und schließlich erkannt wird (Od. 1.322), gut beobachten; dass in dem Satz Ð d{ fresˆn Îsi nÒhsaj / q£mbhsen kat¦ qumÒn das Verb noe‹n noch nicht das Erkennen bezeichnet, bestätigt die Fortsetzung: o$sato g¦r qeÕn e"nai.

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

37

Die Zitate, die J. Böhme als Beispiele für ein durch noe‹n ausgedrücktes (Wieder-) Erkennen eines Menschen anführt, überzeugen ebenfalls nicht uneingeschränkt85. In der von den Parmenides-Forschern oft behandelten, anrührenden Szene aus dem 17. Buch der „Odyssee“, wo der Hund Argos den nach Hause zurückkehrenden Odysseus sieht (æj ™nÒhsen 'Odussša ™ggÝj ™Ònta, Od. 17.301) muss das Verb nicht mehr als „bemerken“ bedeuten. In Bezug auf das Erkennen des Odysseus – ein Thema, das in vielen Büchern der „Odyssee“ wiederkehrt – verwendet der Dichter regelmäßig das Verb gignèskein: Athene verändert das Aussehen des Odysseus, damit er für die Sterblichen ¥gnwstoj ist (Od. 13.397); Eurykleia erkennt seine Narbe86 (œgnw Od. 19.392; gnî Od. 19.468) und erkennt ihn dadurch als ihren Herrn wieder (œgnwn Od. 19.474f.); schließlich versichert Penelope ihrem Sohn, wenn der Ankömmling tatsächlich ihr Gatte sei, würden sie sich ohne Mühe wieder erkennen (gnwsÒmeq' ¢ll»lw, Od. 23.108f.). Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Bedeutung „(wieder)erkennen“ in erster Linie nicht dem Verb noe‹n, sondern dem gignèskein zukommt87. Während gignèskein den objektiven Akt der (Wieder-)Erkennung bzw. Identifizierung einer Person oder eines Dinges bezeichnet, bezieht sich noe‹n auf den innerlichen Prozess, durch den jemand sich einer Sache bewusst wird – dies könnte vermutlich auch die wahre Identität einer Person sein, wenn es auch, wie erwähnt, strittig ist, ob sich solche Beispiele in den Homerischen Epen finden lassen. Nach einer anderen, aber verwandten Auffassung von K. v. Fritz ist noe‹n zwar mit gignèskein nicht synonym, seine Bedeutung lässt sich jedoch mit Hilfe dieses Verbs bestimmen: Während „de‹n jede durch die Sehkraft erfolgende Kenntniserwerbung bezeichnet, auch wenn das Objekt des Sehens nicht identifiziert wurde (z. B. ein brauner Fleck), gignèskein dagegen ein Erkennen des Objekts als etwas Bestimmtes ausdrückt (z. B. des braunen Flecks als eines Menschen), beschreibt noe‹n eine weitere Stufe der Identifizierung: die Erkenntnis, dass der braune Fleck, der sich als Mensch erwiesen hat, ein im Hinterhalt lauernder Feind ist. Wie J.H. Lesher gezeigt hat, ist diese Konzeption nicht akzeptabel: Für die Gradation gignèskein – noe‹n gibt es im Text der Epen keine Belege; darum bedient sich auch K. v. Fritz des erfundenen Beispiels des braunen Flecks. Interessanterweise gibt es in der „Ilias“ (10.349ff.), wie J.H. Lesher (1981, S. 10) bemerkt, eine ähnliche Szene: Der von Diomedes und Odysseus verfolgte Dolon hört ihre Schritte (¢koÚsaj – was dem „de‹n im Beispiel von K. v. Fritz entsprechen 85

86

87

So unterscheidet sich z. B. Il. 21.49 in keiner Hinsicht von ähnlichen Stellen, an denen ein Held auf dem Schlachtfeld von einem anderen einfach bemerkt wird (Il. 3.21; 3.30; 5.95; 11.284; 11.581; 11.248; 11.575 u. a.). Diskutabel, aber schwierig zu bewerten ist Il. 11.599. Das Verb gignèskein bezeichnet auch ein Wiedererkennen bekannter Gegenstände wie z. B. Kleider (Od. 7.234f.; 19.249). Es fällt auf, dass in den meisten Beispielen, die in den Arbeiten von J. Böhme (1929), K. v. Fritz (1943) und A. Schmitt (1990) diskutiert werden, nicht das Verb noe‹n, sondern gignèskein verwendet wird. Zur Kritik an der Interpretation von J. Böhme s. auch G. Plamböck (1959, S. 27-33).

38

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

würde), erkennt, dass dies Menschen sind, und denkt, dass sie von Hektor zu ihm gesandt worden sind (die Stufe des gignèskein); schließlich erkennt er jedoch, dass sie Feinde sind. Diese Erkenntnisstufe sollte nach der Theorie von K. v. Fritz mit noe‹n beschrieben werden, im Text erscheint jedoch: gnî _' ¥ndraj dh$ouj (10.358). Die Hypothese von K. v. Fritz findet also in den Epen nicht nur keine Bestätigung, sondern sogar eine unmittelbare Widerlegung88. Die dritte Auffassung von noe‹n stammt ebenfalls aus der oben erwähnten Arbeit von J. Böhme; aufgrund ihrer Unterstützung durch K. v. Fritz hat sie unter den Parmenides-Interpreten zahlreiche Anhänger gefunden. Nach J. Böhme geht die von ihm dem Verb noe‹n zugeschriebene Bedeutung auf eine noch ursprünglichere Bedeutung „das Durchdringen durch die Oberfläche in die Tiefe der Erscheinung“ zurück (1929, S. 24, 61). Im Anschluss daran vertritt K. v. Fritz (1943, S. 89) die Auffassung, noe‹n bezeichne schon bei Homer „a truer recognition, which, so to speak, penetrates below the visible surface to the real essence of the contemplated object“ („truer“, weil der scheinbar freundliche Mensch sich erst durch den Akt des noe‹n als Feind erweise). Diese für die moderne Parmenides-Forschung zweifellos sehr attraktiven Definitionen sollen es offensichtlich ermöglichen, zwischen der epischen Verwendung des Verbs noe‹n und seinen späteren, philosophischen Auffassungen als der höchsten, intuitiven Art der Erkenntnis eine direkte Entwicklungslinie zu konstruieren. Ihre Anwendung auf die Homerischen Epen erscheint jedoch nicht unproblematisch. Die Hauptfrage ist, ob das in ihnen vorausgesetzte Bild der Wirklichkeit, in dem das sinnlich wahrnehmbare Äußere von dem unsichtbaren, wahren „Wesen“ der Dinge unterschieden wird, mit der Homerischen Weltauffassung übereinstimmt. Reicht das Wissen, dass ein äußerlich schöner Mann feige und träge (Paris), ein unscheinbarer dagegen intelligent und mutig (Odysseus) sein kann und dass der Mensch seine Gedanken und Absichten in seinem Inneren verbergen kann, dazu, in Bezug auf das Homerische Weltbild von „Oberfläche“ und „Tiefe der Erscheinung“ oder von „the visible surface“ und „the real essence“ zu sprechen89? Der einzige Bereich, in dem das auf den ersten Blick Sichtbare sich als trügerisch erweisen kann, ist das Annehmen menschlicher Gestalt durch Götter bzw. die durch eine göttliche Intervention verursachte Veränderung des Aussehens eines Menschen (z. B. Odysseus). Hier besteht jedoch der „Durchbruch zur Wahrheit“ einfach im Erkennen der wahren Identität der Person, was konsequent mit dem Verb gignèskein bezeichnet wird. Das durch noe‹n ausgedrückte „Innewerden“ bezeichnet dagegen den Akt, durch den man sich einer Sache bewusst wird, unabhängig davon, ob diese Sache unter die sinnliche Wahrnehmung fällt (daher die Nähe zu „de‹n) oder nicht – das Wesentliche ist nicht der epistemische oder 88 89

Zur Kritik an der Auffassung von K. v. Fritz s. auch G. Plamböck (1959, S. 32). Diese Auffassung vertritt A. Schmitt (1990, S. 156f.). S. auch die Kritik an seiner These bei G. Plamböck (1959, S. 32).

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

39

gar ontologische Status des Erkannten, sondern das psychische bzw. mentale, für das weitere Handeln des Helden entscheidende Ereignis90. Ähnliches gilt auch für das noe‹n, das als eine „zur wahren Natur der Sache vordringende Intuition“ definiert und somit als ein Erkenntnisvermögen bzw. als die Fähigkeit zur Erkenntnis der Wahrheit aufgefasst wird. Eine solche Auffassung scheint jedoch eher die Sichtweise eines nach der verborgenen Wahrheit suchenden Philosophen als die eines handlungsorientierten, homerischen Helden vorauszusetzen (so kritisiert z. B. Aristoteles die Vorsokratiker, sie hätten den noàj nicht für dÚnam…j tij perˆ t¾n ¢l»qeian gehalten, De an. 404a 30f.). Zwischen dem Homerischen noe‹n und der Erkenntnis der Wahrheit besteht zwar ein enger Zusammenhang, aber keine Identität: Die Wahrhaftigkeit der Erkenntnis ist nicht durch die Bedeutung des Verbs garantiert. Der Akzent liegt beim noe‹n nicht auf der Adäquatheit der Erkenntnis, sondern auf dem subjektiven Erlebnis, das dem objektiven Zustandekommen der Erkenntnis entspricht. Die Homerischen Helden sind keine Wahrheitssucher; der Dichter interessiert sich dafür, was sie in der ihnen vertrauten Welt erleben, wie sie es aufnehmen und darauf reagieren. Die dargestellten Definitionen des Homerischen noe‹n sind auch deshalb nicht akzeptabel, weil sie jeweils nur einen Aspekt des mit noe‹n bezeichneten Akts bzw. Erlebnisses hervorheben, was zur Hintansetzung anderer Bedeutungsnuancen des Verbs, auf die oben verwiesen wurde, führt. Die Erklärung einer ausgewählten Bedeutung zur „Kernbedeutung“ des Wortes bedeutet eine Verabsolutierung, die den inneren Zusammenhang zwischen den verschiedenen Bedeutungen verdunkelt. So stößt z. B. K. v. Fritz auf erhebliche Schwierigkeiten, wenn es zu einer Konfrontation zwischen der von ihm als zentral angesehenen, rein kognitiven Bedeutung des noe‹n und der sehr häufigen Bedeutung „planen, beabsichtigen“ kommt (S. 85ff.)91. Vielversprechender als eine Suche nach der Ursprungs-, Grund- oder Kernbedeutung des Verbs scheint der Versuch, abgesehen von seiner schwer rekonstruier90

91

Als Beleg für die Richtigkeit der von K. v. Fritz vorgeschlagenen Auffassung des Homerischen noe‹n als „a kind of mental perception“ und „sixth sense“ führt A. Schmitt, der vom noe‹n als von der „Fähigkeit, die Oberfläche des Wahrnehmbaren zu durchdringen“ (1990, S. 142) spricht, die Szene der Verabschiedung Hektors von Andromache (Il. 6.483f.) an: (...) ¿ d' ¥ra min khède# dšxato kÒlpJ / dakruÒen gel£sasa: pÒsij d' ™lšhse no»saj. Nach Schmitt wird Hektor „des wahren Charakters von Andromaches Lächeln inne, (...) wird der inneren Verfassung Andromaches inne, trotz eines gegenteiligen Anscheins“ (S. 142); er kritisiert auch die Übersetzer, die es versäumt hätten, dem Verb noe‹n „eine prägnante, von der Sinneswahrnehmung verschiedene Bedeutung“ zu verleihen. Wieso soll jedoch Hektor das „scheinbare“, sinnlich wahrnehmbare Lächeln von Andromache durchdringen, wenn sie unter Tränen lächelte (dakruÒen gel£sasa)? Das Lächeln und die Tränen sind gleichermaßen wahrnehmbar; die inneren Gefühle müssen aus beidem erst erschlossen werden. Die These von K. v. Fritz, die Bedeutung „planen“ stamme aus der Bedeutung „to realize the situation“, weil „wherever nÒoj and noe‹n in Homer are used in the sense of plan or planning it is almost always in consequence of the realization of a dangerous situation“ (1943, S. 86), kann kaum überzeugen.

40

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

baren historischen Entwicklung nach einem möglichen Zusammenhang zwischen allen seinen Bedeutungen zu fragen. Ein für diese gemeinsames Moment lässt sich tatsächlich auffinden: Es besteht in einem Bezug auf das menschliche Bewusstsein und Denken im weitesten Sinne92. So aufgefasst, bezeichnet noe‹n entweder den Moment, in dem etwas zum Bewusstsein gelangt, oder einen dauerhafteren Zustand des menschlichen (bzw. göttlichen) Bewusstseins. Der zum Bewusstsein gelangende Inhalt kann entweder das Bild des wahrgenommenen Objekts sein (dann bedeutet das Verb soviel wie „bemerken“) oder aber die Bedeutung einer Tatsache oder Situation (dann bedeutet es „innewerden“ und „erkennen“); schließlich kann es sich um einen Plan bzw. einen Ausweg aus einer Situation handeln (in diesem Falle haben wir es mit der Bedeutung „ersinnen“ zu tun). Ein länger andauerndes Hegen eines solchen Plans rückt das Verb in die Nähe der Bedeutung „planen“, „beabsichtigen“, „gedenken“, ein anhaltendes Bewusstsein der wahren Bedeutung einer Sache in die Nähe von „verstehen“ und „wissen“. Die oben angeführten, unzutreffenden Definitionen des Homerischen noe‹n erweisen sich als besonders irreführend, wenn sie auf die Substantive nÒoj und nÒhma erweitert und anschließend – mit der expliziten oder impliziten Begründung, sie drückten „den wahren Kern“ der Begriffe aus – auf die Parmenideischen Begriffe projiziert werden (dieses Verfahren steht z. B. hinter den oben erwähnten Versuchen, das Parmenideische nÒhma als „Erkenntnis“ oder „Erfassen“ zu übersetzen): Die Bedeutung „erkennen“ oder „des wahren Sinnes einer Situation innewerden“, die übrigens, wie wir sahen, nur eine der Bedeutungen des Verbs bildet, ist für die beiden Substantive in den Homerischen Epen überhaupt nicht belegt93. Semantische Zusammenhänge zwischen dem Verb und den Substantiven bestehen jedoch, wie schon oben (bei der kurzen Darstellung der Bedeutungen des Verbs) festgestellt wurde, ohne Zweifel und lassen sich auf dieselbe Idee zurückführen, die sich auch als gemeinsame Grundlage der verschiedenen Bedeutungen des Verbs erwiesen hat: den allgemein aufgefassten Begriff des Denkens. So bezeichnet das Homerische Substantiv nÒoj das „Denken“ als Prozess oder Aktivität (Il. 14.62) und als Resultat94 dieser Aktivität einen „Handlungsplan“ (Il. 15.509), einen „Rat“ (Il. 15.509), eine „Absicht“ (Il. 7.447), einen „Wunsch“ (Il. 23.149); ferner einen „Gedanken“ als Denkinhalt (Il. 15.699) sowie als „Träger“ des Denkens (Il. 92 93

94

Vgl. J. Böhme (1929, S. 58-60). Die gegensätzlichen Ergebnisse der Untersuchung von K. v. Fritz (1943) resultieren aus seinem methodologisch zweifelhaften Verfahren: Der Forscher setzt voraus, dass die von ihm gesuchte „grundlegende“ bzw. „ursprüngliche“ Bedeutung aus dem Verb erschließbar ist, obwohl das Verb vom Substantiv abgeleitet ist und das Substantiv diese Bedeutung nicht direkt aufweist (1943, S. 83 mit Anm. 37). Dementsprechend widmet er den Großteil seiner Studie dem Verb (S. 83-90); anschließend wird die für das Verb erschlossene „Kernbedeutung“ auf das Substantiv einfach übertragen (S. 90f.). Das tatsächlich vom Verb abgeleitete Substantiv nÒhma wird dabei überhaupt nicht berücksichtigt. Zur Kritik an diesem Verfahren s. auch T. Krischer (1984, S. 141f.). Eine strikte Unterscheidung zwischen der Aktivität und dem Resultat des Denkens ist bei Homer oft nicht möglich (s. z. B. Il. 24.354).

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

41

15.80); „Bewusstsein“ im Gegensatz zur Bewusstlosigkeit (Il. 11.813, Od. 10.239f., 10.494f.) sowie ein Denken, dass langfristig die Handlung bestimmt; in diesem Fall ist es beinahe synonym mit „Entschluss“ oder „Wille“ (Od. 13.305, 2.124). Er bezeichnet zudem die Fähigkeit zum Denken (Il. 18.419f.) und wird so zum Synonym für Vernunft bzw. Verstand95. Schließlich kann es auch eine für einen Menschen typische, einer ethischen Beurteilung unterliegende96 Denkweise, beinahe im Sinne von „Charakter“ (Od. 1.3), bezeichnen. Manchmal bedeutet nÒoj fast soviel wie mind97; er ist etwas, das in jedem Menschen vorhanden ist (gelegentlich könnte von einer festen Einheit gesprochen werden98) und das – meist in negativer Weise – beeinflusst (überzeugt99, betrogen100, gelähmt101, „ausgegossen“102 etc.) werden kann; dadurch wird das Wort teilweise an die Bezeichnungen der psychischen „Instanzen“ (bes. an fršnej, qumÒj; in geringerem Ausmaß auch an krad…h, kÁr, Ãtor, prap…dej) angenähert103. Trotzdem blieb der Bezug des Wortes auf das aktuelle Denken so deutlich, dass der nÒoj in der vorparmenideischen Epik grundsätzlich nicht als Sitz der psychischen Prozesse fungiert104: Diese spielen sich 95

96

97 98 99

100 101 102 103 104

Z. B. Il. 24.377, Od. 8.177, 1.66, Il. 15.643, Od. 8.177, 6.320, vgl. Il. 10.391, 20.133. Diese Bedeutung des Substantivs nÒoj bei Homer wird in den Arbeiten von K. v. Fritz nicht berücksichtigt; demzufolge sieht er z. B. in einer gewöhnlichen epischen Formulierung in Scutum 1.5 (keine der sterblichen Frauen konnte sich mit Alkmene in Hinsicht auf ihren nÒoj messen) ein Novum und behauptet, diese Verwendung gehe auf die ursprüngliche Bedeutung der „durch die Oberfläche der Erscheinung durchdringenden“, „immer wahren“ Erkenntnis (1974, S. 28) zurück. Dies führt ihn auch zu der These (1974, S. 85), das Zeugnis bei Diogenes Laertios 8.30, nach dem die Pythagoreer drei Teile der Seele, fršnej, noàj, qumÒj, unterschieden und fršnej nur den Menschen, noàj und qumÒj auch den Tieren zuschrieben, sei „in perfect agreement with Homeric terminology“ (S. 85), weil die Tiere sicherlich (certainly) den nÒoj im Sinne von „ability to realize, for instance, the danger of a situation“ haben könnten, während sie von Homer als unfähig zu einer rationalen Handlung, für die die fršnej zuständig seien, angesehen würden. Doch schreibt Homer den nÒoj kein einziges Mal Tieren zu, was nicht verwunderlich ist: Das Erkennen einer Gefahr usw. in Form einer der sinnlichen analogen Wahrnehmung ist keine Grundbedeutung von nÒoj – das Wort weist ein breites Spektrum von Bedeutungen auf, die um „Denken“ und „Bewusstsein“ konzentriert sind und oft der „Vernunft“ nahe kommen. Vgl. die Epitheta ¢phn»j (Il. 16.35, 23.484, Od. 18.381), qeoud»j (Od. 6.121, 8.576, 9.176, 13.202), ¢t£rbhtoj (Il. 3.63), ™na…simoj (Od. 5.190). Vgl. Il. 1.636, 16.19, 24.474. Vgl. die Formulierung nÒoj dš oƒ ¥lla menoin´ (Od. 2.93, 13.381, 18.283). Il. 9.514. Vgl. Il. 1.569 (kÁr); vgl. auch z. B. Il. 9.587, 22.91 (qumÒj); Il. 15.203 (fršnej), Il. 9.497 (Ãtor). Il. 14.217, Op. 373, Th. 537. Vgl. Od. 13.327 (fršnej), Th 889 (fršnej). Il. 12.255. Vgl. Il. 15.321, 15.594, Od. 18.282 (qumÒj). Il. 24.358-60. Vgl. Il. 9.612, 13.808 (qumÒj). S. Th. Jahn (1987, S. 46). In den viel diskutierten Ausdrücken ca…rein nÒJ (Od. 8.78), klšptein nÒJ (Il. 1.132) und keÚqein nÒJ (Il. 1.363, 16.19) ist nÒJ zwar als Lokativ aufzufassen (anders Th. Jahn 1987, S. 96ff.), aber mit nÒoj muss hier nichts mehr als die momentanen Gedanken des Menschen gemeint sein. Den Charakter eines Sitzes psychischer Prozesse hat das Substantiv erst in den „Homerischen Hymnen“; vgl. H. In Pan. 19.41 (ca…rein nÒJ) mit dem Homerischen ca…rein qumù (z. B. Il. 7.192) oder fres…n (z. B. Il. 13.609).

42

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

ausschließlich (™n) qumù105, (met¦) fres…n106, (™n) krad…V107, perˆ kÁri108, Ãtor109, ¢pÕ prap…dwn110 ab111. Da das Substantiv nÒhma bei Homer sehr ähnliche Bedeutungen aufweist112, lässt sich generell konstatieren, dass die Wörter nÒoj, noe‹n und nÒhma in einem semantischen Zusammenhang stehen, insofern sie sich alle in unterschiedlicher Weise auf das Denken und das Bewusstsein beziehen. Die sinnliche Bedeutung ist für keines der Substantive belegt und daher wahrscheinlich sekundär; auch die Bedeutung „Erkenntnis“ ist auf das Verb beschränkt. Für eine Untersuchung des Parmenideischen Gedichts ergibt sich aus dem oben Gesagten in erster Linie, dass die Argumentation mancher Parmenides-Forscher, der epische nÒoj bezeichne eine die Oberfläche der Erscheinung durchdringende Intuition, einen „sechsten Sinn“ oder eine (immer wahre) Erkenntnis, und darum sei auch für Parmenides die Bedeutung „denken“ auszuschließen, nicht akzeptabel ist. Die in der Parmenides-Forschung verbreitete Auffassung des nÒoj als eines „sechsten Sinnes“ wäre möglicherweise für das Wort qumÒj akzeptabel, nicht jedoch für nÒoj113, das weder in einschlägigen Kontexten vorkommt noch grundsätzlich 105 106 107 108 109

110 111

112

113

Mit ™n z. B. Il. 7.2f., 15.566, 24.523. Mit met£ z. B. Il. 4.245, 9.434, 14.264, 18.463, 19.29. Mit ™n z. B. Il. 2.452, 21.547, Od. 17.489, 20.169. Z. B. Il. 4.46, 4.53, 13.119, 13.206, 13.460. ’ Htor wird nicht mit Präpositionen verbunden, bezeichnet aber im Akk. oft den Ort psychischer Vorgänge, z. B. Il. 5.364, 8.437, 9.9, 11.556, 14.367, 17.535. Il. 22.43, 24.514. Eine andere, beim Vergleich zwischen nÒoj und den übrigen psychologischen Bezeichnungen häufig auftauchende Frage ist das Problem des Verhältnisses zwischen dem nÒoj und den Emotionen. Während alle anderen Begriffe als Sitz der Gefühle fungieren können, scheint der nÒoj diesen eher fern zu stehen. Oft wird behauptet, der nÒoj sei „intellektuell“ oder „rational“, s. z. B. E. Buchholz (1885, S. 114), J. Böhme (1929, S. 52f.), E.J. Harrison (1960, S. 73), H. Fränkel (1962, S. 86), J. Bremmer (1983, S. 56-57), Th. Jahn (1987, S. 111-117); andere Forscher haben sich gegen diese Opposition ausgesprochen, s. z. B. R.B. Onians (1951, S. 83), W.J. Verdenius (1972, S. 242), S.D. Sullivan (1989, S. 53), G. Rappe (1995, S. 76). Von einer einfachen Opposition kann hier tatsächlich nicht gesprochen werden: Der nÒoj koexisiert mit sanften, vor allem positiven Gefühlen (ca…rein nÒJ Od. 8.78; vgl. Th. 37, 51), während heftige und negative Gefühle wie Angst oder Zorn ihn hemmen bzw. lähmen (Il. 9.553f., 24.358). Zu einer eingehenden Analyse des Problems s. A. Schmitt (1990, S. 183ff.). Das Substantiv no»ma kann das Wort nÒoj in fast allen Kontexten ersetzen. Von diesem unterscheidet es sich jedoch dadurch, dass es loser mit dem Subjekt verbunden (vgl. z. B. Il. 15.80 u. Od. 7.36) und dadurch leichter objektivierbar ist (im Gegensatz zu nÒoj kommt es auch im Plural vor, vgl. z. B. Il. 23.149 mit Il. 18.328, oder Il. 1.363 mit Od. 8.548). Zu diesem Unterschied s. auch J. Böhme (1929, S.60f.) und T. Krischer (1984, S. 146f.). So erkennt z. B. Aias nach einem Schlag des Hektor sofort „mit bzw. in seinem qumÒj“ (gnî qumù), dass Zeus auf der Seite der Trojaner steht (Il. 16.119); Agamemnon und Hektor wissen (eâ o"da) kat¦ fršna kaˆ kat¦ qumÒn, dass Troia untergehen wird (Il. 4.163, 6.447); Menelaos kommt unaufgefordert zu Agamemnon, weil er kat¦ qumÒn weiß (Édee), dass sein Bruder leidet (Il. 2.409); die Pferde kehren um, weil sie qumù das Unglück „sehen“ (Ôssonto) (Il. 18.224); auf den Weg ins Innere der unbekannten Insel nimmt Odysseus Wein mit, weil sein qumÒj ahnt (Ñ…sato), dass er einen grausamen Wilden treffen wird (Od. 9.213).

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

43

als Erkenntnisvermögen fungiert114. Die durch nÒoj bezeichnete Qualität ist nicht in erster Linie die Fähigkeit zur Erkenntnis der Wahrheit, sondern vor allem die Fähigkeit, einen für die gegebene Situation optimalen Handlungsplan auszudenken und diesen in überzeugender Weise den anderen zu übermitteln115. Die Hypothese von der Passivität des (als eine Art der Erkenntnis aufgefassten) Noos kann daher aufgrund des Textes der Epen keineswegs bestätigt werden, auch wenn das Verb noe‹n an manchen Stellen „bemerken“ oder gar „sehen“ bedeutet. Im Gegenteil ist für die von allen drei Begriffen benannten Prozesse eine Aktivität charakteristisch. Im Falle des Verbs kommt sie sowohl in der Bedeutung „ersinnen“ (wobei allerdings auch in dem von ihm bezeichneten Bemerken eine innerliche Spannung, Konzentration und Aufmerksamkeit eine wesentliche Rolle spielen) als auch in der Tatsache zum Ausdruck, dass noÁsai als eine in unterschiedlichem Ausmaß vorhandene, vom Subjekt kontrollierbare (die Imperative nÒei Il. 9.600 und nÒhson Il. 20.310; vgl. die Phrase kat¦ sÕn nÒon ‡scane, Od. 19.42) Fähigkeit dargestellt wird. Bei den Substantiven nÒoj und nÒhma ist die Aktivität noch deutlicher: Der nÒoj kann (manchmal langfristig) das Handeln der Person bestimmen (gelegentlich repräsentiert er gar das wahre „Ich“ des handelnden Subjekts)116; bei jungen Menschen wird er als „allzu hastig, heftig“ (Il. 23.590) charakterisiert; als ein auf ein Objekt gerichteter Gedanke bewegt er sich sogar blitzschnell zu seinem Gegenstand (Il. 15.80)117. Die These von der Untrüglichkeit des nÒoj, im Besonderen die Auffassung von W.K.C. Guthrie, der bei Homer eine direkte Antizipation des späteren, unfehlbaren nÒoj der Philosophie (Aristoteles) sieht, ist ebenfalls abzulehnen. Entgegen der Behauptung von Guthrie wird bei Homer der menschliche nÒoj in Kontrast zum göttlichen gesetzt118 und als schwach, unbeständig und beeinflussbar119 charakterisiert120. Schon jetzt lässt sich feststellen, dass der Parmenideische Ausdruck 114

115

116 117

118 119 120

S. auch R. Schottländer (1929, S. 234-242). Eine der wenigen Stellen bei Homer, an denen der nÒoj kognitive Funktionen erfüllt, ist Il. 15.461 (oÙ lÁqe DiÕj pukinÕn nÒon; vgl. In Merc. 535); sie bezieht sich jedoch auf den nÒoj des Zeus, dem ganz unterschiedliche Aktivitäten und Funktionen, sogar kausale (s. z. B. Il. 15.242, 16.103), zugeschrieben werden (zum nÒoj des Zeus s. J.M. Warden 1971, S. 7-9). Weder hier noch anderswo sagt jedoch der Dichter, dass der nÒoj des Zeus etwas „sieht“ oder „erkennt“. Dies bestätigt auch Hesiod, der an der Stelle, wo er Zeus Allwissen zuschreibt, nicht die traditionelle Wendung nÒoj DiÒj, sondern DiÕj ÑfqalmÒj verwendet (Op. 267). Auch die Stellen, die eine Hinbewegung des Gedankens zu seinem Gegenstand beschreiben (wie Il. 15.81), stellen kein Bild der Erkenntnis im Sinne der Erwerbung neuen Wissens, sondern eine Metapher für die auf der Erinnerung basierende Vorstellung dar. Vgl. Od. 2.93, 13.381, 18.283. Zur Aktivität des nÒoj s. vor allem A. Schmitt (1990, S. 160ff.). Vgl. die Ergebnisse einer formalen Analyse bei S.M. Darcus (1980). Die Passivität des menschlichen nÒoj besteht dagegen darin, dass er einerseits vom Willen der Götter, andererseits von unterschiedlichen, vom Subjekt nicht kontrollierbaren Faktoren sehr leicht beeinflusst wird. S. auch unten. S. z. B. Il. 16.688, 17.176; vgl. Il. 8.143, Th 613, Op. 105. S. z. B. Il. 12.255, 14.217, 23.604, 24.358; Od. 18.136f., 19.479. Dies betont, wie oben erwähnt, auch Th. Calvo.

44

Die Diskussion um die Begriffe „nous, noein, noƝma“ bei Parmenides

plaktÕj nÒoj (Fr. 6.6), trotz der weitgehend akzeptierten Interpretation von H. Fränkel, kein Paradox oder Oxymoron darstellt. Bei Homer tritt nÒoj sowohl in positivem („Klugkeit“) als auch in neutralem Sinne auf, so dass auch Formulierungen wie „Dummheit des nÒoj“121 möglich sind. Zusammenfassend sei festgestellt, dass die Begriffe nÒoj, noe‹n, nÒhma bei Homer mit „Denken“ und „Bewusstsein“ in engem Zusammenhang stehen, auch wenn das Verb an relativ wenigen Stellen mit „denken“ übersetzt werden kann. Parmenides, der – wie eine Analyse seines Texts nahe legt – sich für die Bedeutung „denken“ entscheidet und das Verb mit verba dicendi verbindet (wofür es bei Homer keine Parallele gibt), legt dem Verb damit keine völlig neue Bedeutung bei; er entwickelt lediglich die bereits in ihm angelegten, z. T. jedoch noch nicht verwirklichten Möglichkeiten. Das Vorhaben, die für die Parmenideische Philosophie zentrale These von der Unmöglichkeit des Denkens des Nichtseienden aufgrund der Bedeutung des Verbs noe‹n zu erklären, muss demnach als undurchführbar zurückgewiesen werden. Dass das Homerische noe‹n, im Gegensatz zu Verben wie Ðrma…nein, mermhr… zein oder dialšgesqai, grundsätzlich kein schrittweise erfolgendes Erwägen oder Nachdenken, sondern ein plötzliches Innewerden (bzw. ein anhaltendes, aber nicht weniger unmittelbares Bewusstsein von etwas) bezeichnet (was sich auch in seiner häufigen Verwendung mit direktem Akkusativobjekt widerspiegelt), kann für die Argumentation des Parmenides eine Rolle spielen (indem es ihre Paradoxität mildert), sie jedoch sicherlich nicht ersetzen122. 121 122

Vgl. Od. 11.272, Il. 10.122. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist es nicht möglich, die Homerische Vorstellung des Denkens genau zu untersuchen; dazu s. vor allem G. Plamböck (1959), J.H. Lesher (1981), Th. Jahn (1987) und A. Schmitt (1990). Ebensowenig ist es möglich, die Termini noe‹n, nÒhma und nÒoj bei den Vorgängern des Parmenides zu analysieren. Bei Heraklit (B 40, 104, 114; in B 67 liegt vermutlich eine Interpolation vor, s. H. Fränkel 1938, S. 231 u. Anm. 4) wird nÒoj überall im positiven Sinne der Vernünftigkeit verwendet. Semantisch hat es also Homerische Parallelen, obwohl die bei Heraklit mit nÒoj gebrauchten Konstruktionen bei Homer nicht belegt sind (zu Fr. 40 „nÒon œcein“ vgl. Il. 4.309, 12.328, Od. 2.124, 14.490, Th. 262, wo die Verbindung nÒoj mit œcein vorliegt, nÒoj aber eine andere Bedeutung hat; mit xÝn nÒwi Fr. 114 könnte man höchstens Od. 6.320: nÒJ d' ™pšballen ƒm£sqlhn vergleichen; auch die Verbindung nÒoj À fr»n Fr. 104 findet sich in der Epik nicht, obwohl auch dort zwischen diesen Wörtern eine enge semantische Verwandtschaft besteht). Zur Interpretation der Begriffe bei Heraklit s. J.H. Lesher (1983), M.C. Nussbaum (1972), J. Wilcox (1994, bes. S. 122-124), P. Schmitt (1945, S. 163-165) und A. Montano (1982) sowie die Kommentare von Ch.H. Kahn (1979) und M. Conche (1986). Bei Xenophanes kommen alle drei Termini nÒoj (B 25), noe‹n (B 24) und nÒhma (B 23) vor, und zwar alle in den „theologischen“ Fragmenten. Die Verwendung von nÒhma (B 23) stimmt mit der Homerischen vollständig überein; auch die Zusammenstellung von noe‹n mit Ðr©n und ¢koÚein lässt sich aufgrund der Homerischen Texte erklären. Ganz neuartig ist dagegen die Phrase nÒou fren…, die offensichtlich einen neuen, in der Homerischen Tradition nicht vorgegebenen Inhalt ausdrücken soll (der manchmal als Parallele angeführte Ausdruck noe‹n fres… Il. 9.600, 22.235 liefert nur eine sehr schwache Analogie). Zur Interpretation der Begriffe bei Xenophanes s. Ch. Schäfer (1996, bes. S. 172ff.) und S. Darcus (1978) sowie die Kommentare zu den Fragmenten von J.H. Lesher (1992) und E. Heitsch (1983). Zur Bedeutung von nÒoj in der frühgriechischen Lyrik s. S. D. Sullivan (1989b, 1990 und 1988) sowie S. Darcus (1977).

3 Aletheia: Denken und Sein 3.1 Die Parmenideische Einführung in die Wege der Forschung (Fr. 2) Mit dem Fragment 2 beginnt der eigentliche Vortrag der Göttin (e„ d' ¥g' ™gën ™ršw, Fr. 2.1), der Deduktion des Seienden (Fr. 8) geht aber noch eine Untersuchung voran, die gelegentlich als methodologisch klassifiziert wird. Diskutiert wird hier die Frage des richtigen „Weges der Forschung“: e„ d' ¥g' ™gën ™ršw, kÒmisai d{ sÝ màqon ¢koÚsaj, a†per Ðdoˆ moànai diz»siÒj e„si noÁsai: ¹ m{n Ópwj œstin te kaˆ æj oÙk œsti m¾ e"nai, Peiqoàj ™sti kšleuqoj, 'Alhqe…hi g¦r Ñphde‹, ¹ d' æj oÙk œstin te kaˆ æj creèn ™sti m¾ e"nai, t¾n d» toi fr£zw panapeuqša œmmen ¢tarpÒn: oÜte g¦r ¨n gno…hj tÒ ge m¾ ™Òn, oÙ g¦r ¢nustÒn, oÜte fr£saij1.

Die modernen Diskussionen über dieses Fragment konzentrieren sich vor allem auf das Problem der Interpretation der beiden die Ðdoˆ diz»sioj beschreibenden Verse (V. 3: „dass ist und nicht zu sein unmöglich ist“; V. 5: „dass nicht ist und nicht zu sein notwendig ist“), besonders auf die nahe liegende Frage, warum in den Formulierungen Ópwj œstin und æj oÙk œstin das Subjekt fehlt. Die am häufigsten angenommene Hypothese besagt, dass die Ausdrücke ein aus dem Text des Fragments bzw. dem weiteren (nicht erhaltenen, aber rekonstruierbaren) Kontext zu ergänzendes Subjekt implizieren. Nach der traditionellen, heutzutage jedoch immer seltener akzeptierten Interpretation ist das fehlende Subjekt „das Sein“ bzw. „das Seiende“2 (dabei wird der Ausdruck m¾ e"nai in einem oder in 1

2

Text nach Diels-Kranz (1961, S. 231) mit Auslassung der Klammern in V. 4 und 7. Das Fragment ist bei Proklos (In Tim. 1.345) überliefert; V. 3-8 werden auch von Simplikios (Phys. 116-117 Diels) zitiert. So u. a. K. Reinhardt (1985, S. 35ff.), W. Kranz (1967, S. 140), H. Diels (1897, S. 33), K. Deichgräber (1958, S. 44), W.K.C. Guthrie (1965, S. 14-16), Ch. Göbel (2002, S. 88); vgl. DK (1961, S. 231: „der eine Weg, daß IST ist und daß Nichtsein nicht ist, (...) der andere aber, daß NICHT IST ist und daß Nichtsein erforderlich ist“; zur Kritik vgl. K. Heinrich 1966, S. 183f.). F.M. Cornford (1933, S. 30f., Anm. 2) schlägt sogar vor, durch eine Konjektur ™Òn als Subjekt in V. 3 einzuführen (¹ m{n Ópwj ™Õn œsti kaˆ æj etc.). J. Mansfeld (1964, S. 45, 55) glaubt, das implizite Subjekt in V. 5 sei tÕ m¾ ™Òn aus V. 2.7. A. Finkelberg (1988, S. 47) nimmt dagegen an, dass œstin und oÙk œstin elliptische Ausdrücke seien, deren Subjekt das aufgrund von V. 3b bzw. V. 5b ergänzbare e"nai sei. Die Ansicht, dass der Satz „das Sein bzw. Seiende ist“ den Ausgangspunkt oder gar die Hauptthese des Parmenides bilde, war in

46

Aletheia: Denken und Sein

beiden Versen oft als „Nichtsein“ übersetzt3). Die Wege der Forschung wären dementsprechend identisch mit den Thesen „das, was ist, ist“ und „das, was ist, ist nicht“. Diese Auffassung wurde in der neueren Forschung vor allem mit Hilfe zweier Argumente gründlich und überzeugend widerlegt. Erstens wäre es, wenn Parmenides einfach von den Thesen tÕ ™Õn œstin (V. 3) und tÕ ™Õn oÙk œstin (V. 5) ausginge, unverständlich, warum er für die Annahme des ersten und die Ablehnung des zweiten Weges überhaupt eine Argumentation entwickelt: Der erste Satz stellt eine Tautologie, der zweite einen Widerspruch dar. Auch wenn gezweifelt werden kann, ob œstin von Parmenides im strengen Sinne begründet wird4, lässt sich kaum bestreiten, dass oÙk œstin erst auf Grund der These, dass das Nichtseiende weder erkannt noch aufgezeigt werden kann (Fr. 2.7-8), abgelehnt wird und dass diese Ablehnung zugleich eine Grundlage für die Affirmation des œstin liefert. Es gibt hier also durchaus eine Argumentation für die Annahme des ersten Forschungsweges5 (zumindest in Form des begründeten Ausschlusses des zweiten); diese Argumentation scheint übrigens den ersten Teil der „Aletheia“ zu bilden, der mit den Worten endet: „es bleibt nur noch der eine màqoj Ðdo‹o: æj œstin“ (Fr. 8.1-2). Zweitens bestünde auch und gerade dann, wenn Parmenides bewusst eine Tautologie, also etwas Unbestreitbares und Unbezweifelbares, zum Ausgangspunkt seiner Ausführungen gewählt haben sollte, um diese dadurch abzusichern6, die Notwendigkeit, den Satz nicht ohne Subjekt zu formulieren, sondern ihn vollständig mit seiner ganzen tautologischen Überzeugungskraft auszudrükken7. Wie die Konjektur von Cornford (Ópwj ™Õn œsti) zeigt, lässt sich das ™Òn in V. 3 problemlos einführen; dass Parmenides es nicht getan hat, muss auf einer

3

4

5

6 7

der Forschungsgeschichte sehr verbreitet und wurde auch von den Forschern angenommen, die die Verse 3 und 5 nicht auf die oben genannte Weise ergänzen (vgl. z. B. O. Gigon 1968, S. 250). Als „Nichtsein“ wird m¾ e"nai z. B. von H. Diels (1897, S. 33), DK (1961, S. 231) und O. Gigon (1968, S. 251) übersetzt; vgl. E. Heitsch (1991, S. 15: 2.3: „(...) und Sein ist notwendig“; 2.5: „(...) und Nicht-Sein ist notwendig“), A. Finkelberg (1988, S. 47: „that to be is and not to be is not“, „that to be is and that of necessity not to be is“). Zur Kritik an dieser (v. a. in V. 5 schwierigen) Konstruktion s. A.P.D. Mourelatos (1970, S. 47, Anm. 1), U. Hölscher (1969, S. 77f.). Vgl. unten. Wie im Folgenden gezeigt werden wird, erhält œstin keine Begründung im strengen Sinne, denn es stellt kein Urteil dar, das argumentativ begründet werden könnte; in analoger Weise spielt sich die Ablehnung des oÙk œstin auf einer anderen Ebene ab als auf der einer Polemik gegen eine bestimmte These. S. G.E.L. Owen (1960, S. 90), U. Hölscher (1969, S. 80), M.C. Stokes (1971, S. 121f.). W.K.C. Guthrie (1965, S. 16) behauptet, der Weg „ist“ werde nicht bewiesen („it is stated and said to be true“), während der zweite Weg nur „for the sake of completeness“ (niemand „begehe“ ihn) eingeführt und fast beiläufig abgelehnt werde („briefly dismisses it as inconceivable“). Allerdings sieht Guthrie selbst (S. 17) in Fr. 3 und Fr. 6 Elemente eines Beweises, dass das Nichtsein undenkbar ist – also eine Argumentation gegen den zweiten Weg. Vgl. auch M.C. Stokes (1971, S. 307, Anm. 51). So z. B. W.K.C. Guthrie (1965, S. 16), D. O’Brien (1987, S. 229f.). U. Hölscher (1969, S. 78).

Die Parmenideische Einführung in die Wege der Forschung

47

bewussten Absicht beruhen8. Überhaupt erscheint die traditionelle Auffassung, nach der die Thesen „das Seiende ist / das Nichtseiende ist nicht“ eine zentrale Rolle in der Argumentation des Parmenides gespielt haben9, zweifelhaft; in den erhaltenen Fragmenten des Epos gibt es jedenfalls keine Stelle, die sie sicher bestätigen könnte10. Es wurden zahlreiche weitere Versuche unternommen, das vermisste Subjekt von V. 3 und 5 zu finden. Als Ergänzungen, die jedoch eher beliebig scheinen, wurden u. a. solche Begriffe wie „Weg“11, „reality“12, „Truth“13 vorgeschlagen. Breitere Zustimmung fand G.E.L. Owens Annahme eines weniger bestimmten, „logischen“ Subjekts: „what can be talked or thought about“14. In ähnlicher Weise plädiert Ch. H. Kahn (1969, S. 710) für „the object of knowing, what is or can be known“ (aus dem Kontext, v. a. aus dem Prooimion, zu ergänzen) und für eine veritative (bzw. ontologisch-veritative) Bedeutung des œstin, die in der Formel „it is the case“ (S. 711) wiedergegeben sein soll. Der erste Weg wäre demnach eine 8

9

10

11

12 13 14

So z. B. J. Klowski (1977, S. 108) und J. Mansfeld (1964, S. 51). Nach diesen Forschern wird das Seiende als Subjekt erst in einem speziellen Beweisgang konstituiert. So noch N.-L. Cordero (2004b, S. 69f.: „... this is his fundamental idea, his thesis, the statement that of itself justifies Parmenides’ eminent place in the history of philosophy“). Als Belege für die angeblichen Parmenideischen Thesen „das Seiende (bzw. das Sein) ist“ und „das Nichtseiende (bzw. das Nichtsein) ist nicht“ werden drei Stellen angeführt: 8.36-37, 6.1-2a und 8.46. Der Text von Fr. 8.36-37 ist jedoch, wie später (s. u., Kap. 3.3.2.2.1) gezeigt werden wird, problematisch; zu Fr. 6.1b-6.2a s.u., Kap. 3.3.1. Der Text in Fr. 8.46 (oÜte g¦r oÙk ™Õn œsti) ist Resultat einer Konjektur; der überlieferte Text lautet: oÜte Ôn. M. Untersteiner (1958, S. 150), K. Bormann (1971, S. 44): oÜ teon; H. Diels (1897, S. 38): oÜteon; H. Diels, VS 1912: oÜ teon (= oÜ ti). Dagegen DK 1961: oÙk ™Òn (mit dem Kommentar: „doch bleibt der Text unsicher“) (so auch u. a. L. Tarán 1965, S. 84, 146f.; U. Hölscher 1969, S. 24; D. Gallop 1984, S. 72; A.H. Coxon 1986, S. 75); vgl. jedoch H. Diels (1897, S. 90: „Aber man fragt, wie soll der Abschreiber des Archetypus bei dieser klaren Form auf Abwege geraten sein?“). Zur Form teon s. H. Diels (1897, S. 90); F. Bechtel (1924, S. 169); E. Schwyzer (1939, S. 616). E. Heitsch (1991, S. 32: †oÜte ™Òn†) kommentiert die Stelle folgendermaßen (S. 158): „Doch bleibt daneben oÜteon oder oÜ teon immerhin erwägenswert, das Diels als Parallelform zu oÜti (=oÙdšn) vermutet hat; allerdings ist der Nominativ tšoj tšon (= tij ti) nicht belegt, wohl aber der Genetiv teo teu, der Dativ teJ und die entsprechenden Pluralformen tewn tšoisi; und immerhin findet sich im alten Epos auch oÜ teu (S 192, d 264, f 210)“. Das Erscheinen der seltenen (oder, wie F. Bechtel meint, von Parmenides selbst geschaffenen) Form tšon statt ti ist mit M. Untersteiner als Paronomasie oÜ teon œsti (V. 46) ~ oÜt' ™Õn œstin (V. 47 an derselben Stelle des Hexameters) zu deuten. Zur Bedeutung von oÜte ... oÜ teon œstin Ópwj („es gibt nichts, d. i. kein solches Ding, das ... könnte“; gegen Diels’ Deutung von oÜteon als Nichtsein) s. M. Untersteiner (1958, S. CLXIV: „in oÜte ... oÙ si devono vedere due negazioni che si rinforzano“). M. Untersteiner (1958, S. 129 u. LXXXVI); J.H.M.M. Loenen (1959, S. 96, Anm. 196; alternativ zu ti); K. Deichgräber (1983, S. 13). Zur Kritik vgl. K. Bormann (1971, S. 91), L. Tarán (1965, S. 35). W.J. Verdenius (1964, S. 32); E. Tugendhat (1970, S. 136f.: fÚsij). W.J. Verdenius (1962, S. 237). G.E.L. Owen (1960, S. 95), ähnlich M.C. Stokes (1971, S. 122), W.K.C. Guthrie (1965, S. 15; er lässt aber auch „das Sein“ – als damit identisch – als Subjekt zu).

48

Aletheia: Denken und Sein

Art methodologischer Voraussetzung, die These „that whatever we know, whatever can be known, is – and must be – determinately so, that it must be actually the case in reality or in the world“ (1969, S. 711), mit anderen Worten, das Postulat der Realität des Wissensgegenstandes (1988, S. 242)15. Als eine Modifikation der These von G.E.L. Owen kann die Auffassung von J. Barnes (1979, S. 163) angesehen werden: Das zu ergänzende Subjekt sei „etwas“ („something“)16, das ein beliebiges Forschungsobjekt bezeichne, und zugleich ein zu ergänzendes Objekt von diz»sioj (2.2): „Of the ways of inquiring [about any given object], the first assumes that [the object, whatever it may be] exists“. Es wurde jedoch mit Recht angemerkt, dass die Voraussetzung, die in Fr. 2 dargestellten Alternativen thematisierten die Existenz eines beliebigen Objekts des Denkens und Sprechens und der zweite, das Nichtexistieren dieses Objekts besagende Weg werde zurückgewiesen, notwendigerweise zur Folge hätte, dass das Ziel der Parmenideischen Lehre der Existenzbeweis aller Objekte des Denkens und Sprechens, einschließlich der Kentauren oder Einhorne, gewesen sein müsste – und diese Konsequenz kann nicht akzeptiert werden17. Plausibler erscheint die immer häufiger vertretene Auffassung, nach der die Abwesenheit der Subjekte beabsichtigt, also nicht durch eine Ergänzung aufzuheben ist. Sie wird vor allem durch andere Stellen bestätigt, an denen der Ausdruck œstin bzw. oÙk œstin in derselben subjektlosen Form wiederkehrt: 8.2 (æj œstin), 8.9 (Ópwj oÙk œsti), 8.16 (œstin À oÙk œstin). Als schwierig erweist sich jedoch die Frage nach dem eigentlichen Ziel dieser Formulierung. Die These von H. Fränkel18, dass œstin bei Parmenides nach dem Muster der unpersönlichen Verben vom Typ „(it) rains“ verwendet werde, fand wenig Anerkennung19. Mehr Beachtung verdient 15

16

17

18 19

Kahn unterzog seine Auffassung später bekanntlich zahlreichen Modifikationen (allgemein kann gesagt werden, dass er sich in den 80er Jahren der Interpretation von Mourelatos wesentlich annäherte), die u. a. auf die von seinen Thesen hervorgerufene Kritik zurückgingen; s. A.P.D. Mourelatos (1969 und 1970, S. 59f.), D. Gallop (1979, S. 66f.). Einen kurzen, kritischen Überblick verschiedener Versionen von Kahns Auffassung liefert P. Thanassas (1997, S. 56-58, Anm. 78). Vgl. auch U. Hölscher (1969, S. 15). Ähnlich auch D. Gallop (1979, S. 68): das Subjekt sei „a thing“, gleichzusetzen mit „what is there to speak and think of “. P. Thanassas (1997, S. 55). Wie der Autor (S. 55, Anm. 74) bemerkt, haben manche Interpreten Parmenides dieses Ziel trotzdem unterstellt, um dann dessen Falschheit zu konstatieren. H. Fränkel (1946, S. 169) und (1962, S. 403 mit Anm. 13). Zur Kritik s. L. Tarán (1965, S. 36), U. Hölscher (1969, S. 78, Anm. 30), A.P.D. Mourelatos (1970, S. 47 mit Anm. 2), N.-L. Cordero (2004b, S. 52f.). L. Tarán vertritt seinerseits die Ansicht, dass das œstin einfach „concept of existence“ ausdrückt und dass Parmenides genauso gut „one way asserts Being“ sagen könnte (S. 37). Mit dieser Auffassung nähert er sich der alten These an, nach der der erste Weg „sagt, dass das Seiende ist“ (vgl. „there is existence“, L. Tarán 1965, S. 38), und der zweite, „dass das Nichtseiende ist“ (vgl. „non-Being exists“, ibidem, S. 39). K. Bormann (1971) übersetzt V. 3 als „der eine, daß «es ist» und daß Nichtsein nicht möglich ist“, V. 5 als „der andere aber, daß «es nicht ist» und daß Nichtsein notwendig ist“ (S. 33), erklärt jedoch nicht, warum die beiden Glieder der „daß“-Sätze nicht die gleiche Stellung haben (was in den Anführungszeichen zum Ausdruck kommt). oÙk œstin wird von ihm so aufgefasst: „oÙk

Die Parmenideische Einführung in die Wege der Forschung

49

eine Gruppe von Interpretationen, die davon ausgehen, dass œstin und oÙk œstin weder methodologische oder metaphysische Thesen noch logische Prämissen wie „das Seiende ist“, also keine Urteile sind, die (nach der Ergänzung bzw. näheren Bestimmung des Subjekts) im Hinblick auf ihre Richtigkeit oder Falschheit bewertet werden könnten20, sondern einer metasprachlichen Ebene angehören und zwei verschiedene Modi der Aussage bezeichnen: Die Zurückweisung des zweiten Weges bedeutet die Ablehnung einer bestimmten Aussageform21. Diese Auffassung wurde u. a. von G.S. Kirk und J.E. Raven in der ersten Ausgabe von „The Presocratic Philosophers“ (1957) vertreten: Die von Parmenides bestrittene Aussageform sei die negative Prädikation. Parmenides lasse in Fr. 2 nur die Sätze der Form „it is ….“ („it is so-and-so, e.g. white“) zu und lehne diejenigen der Form „it is not ...“ („it is not something else, e.g. black“) ab. Da die Begründung dafür in dem Argument bestehe, dass das Nichtseiende sich nicht denken lässt, habe Parmenides die prädikative Funktion des e"nai mit dessen existentieller Bedeutung verwechselt (S. 269f.)22. Diese Interpretation wurde jedoch

20

21 22

œstin ist die Verneinung des œstin: Nicht es ist. Wie oÙc Ûei (= es regnet nicht) bedeutet, daß das Gegenteil des Regnens wirklich ist, besagt oÙk œstin: das Gegenteil von œstin ist wirklich, d.h. das Nichts ist“ (S. 94). œstin À oÙk œstin bedeuten für Bormann „Es ist oder das Nichts ist“ (S. 94); der erste Weg beinhaltet also die Aussage „Seiendes ist“ bzw. „Nichts ist nicht“, der zweite Weg gleicht einer „Annahme, das Nichts existiere“ (S. 95). Diese Interpretation überzeugt nicht. Vgl. auch die Auffassung von N.-L. Cordero (2004b, S. 51-54), nach dem das Subjekt zu „ist“ in Fr. 2.3 (aber auch zu „ist nicht“ in Fr. 2.5!), nämlich ™Òn, e"nai verstanden als „the fact of being, of existence“, „must be analytically extracted from the meaning of éstin“ (S. 53): „... just as ‚it rains‘ means ‚the fact of raining is happening now‘, ‚raining is present now‘, ‚it is‘ means ‚the fact of being is happening now‘, ‚the fact of being is present now‘“ (S. 53). Diese Deutung einschließlich der Erklärung, Parmenides gebe das Subjekt von „ist“ nicht an, „because he wants to stress the fact of being“ (S. 61f.), scheint jedoch anachronistisch. Vgl. z. B. den Titel des Aufsatzes von Kahn aus dem Jahre 1969: „The Thesis of Parmenides“. Wie A.P.D. Mourelatos (1969, S. 741) bemerkt, verzichtet Kahn sehr schnell auf die Parmenideische Wegmetaphorik und spricht von „thesis“, „assertion“, „claim“ oder „premise“. Dass es sich beim Parmenideischen „ist“ um eine „These“ handle, betont sehr entschieden auch N.-L. Cordero (2004b). Vgl. auch die schon angeführte These von K. Bormann, dass der zweite Weg einer „Annahme, das Nichts existiere“ (S. 95) gleichkomme (der Verfasser stellt explizit die Frage, warum eine solche Annahme als „Weg“ bezeichnet wird). Auch von A. Finkelberg (1988) werden die beiden Wege einfach als Thesen („existentielle Prädikationen über ein existentielles Subjekt“) interpretiert: Der erste Weg besteht demnach aus zwei tautologischen Sätzen „Sein ist“ und „Nichtsein ist nicht“, der zweite aus zwei widersprüchlichen Sätzen „Sein ist nicht“ und „Nichtsein ist“; „the reader learns that he must combine ‚to be‘ with ‚to be‘ and ‚not to be‘ with ‚not to be‘“ S. 49). Vgl. schon G. Calogero (1970, bes. S. 19f.). Eine Modifikation dieser Auffassung schlägt U. Hölscher (1969, S. 78-80) vor. Die beiden Wege stellen nach ihm „reine Möglichkeiten der Aussage“ dar (Beispiele solcher Aussagen sind z. B. „es ist Tag, das Meer ist grau, es ist nicht warm“). Das „ist“ des Parmenides ist weder auf die Kopula noch auf die Existenzaussage zu reduzieren, denn es heißt „ist seiend“ – auch das Prädikat („das Grau des Meeres, die Wärme der Luft“ etc.) wird als ein Seiendes aufgefasst: „Das ‚ist‘, welches man ein substantiales nennen kann, bezeichnet ein ursprüngliches Wahrsein“ (S. 79).

50

Aletheia: Denken und Sein

zu Recht kritisiert: Es ist kaum zu übersehen, dass Parmenides selbst in Fr. 8 durchaus negative Prädikate verwendet. Außerdem schließen sich die beiden Wege in dieser Interpretation nicht aus, sondern können beide zugleich wahr sein (wie in dem oben angeführten Beispiel „ist weiß“ und „ist nicht schwarz“23), während Parmenides die Wege zweifellos als kontradiktorisch aufgefasst hat24. Am konsequentesten verfolgt diesen Interpretationsansatz A.P.D. Mourelatos (1970). Die Ausdrücke für die beiden Wege gehören seiner Auffassung nach zur Metasprache: „Ist“ repräsentiert die Form des Urteils, es ist die Kopula, die absichtlich ohne Subjekt und Prädikat verwendet wird („ ____ ist ____“) (S. 54f.). Sie drückt eine spezielle, „spekulative“ Prädikation aus, die in den Antworten auf die philosophische Frage „Was ist das?“ enthalten ist und die die „Natur“ bzw. das „Wesen“ des Dinges bezeichnet („ist essentiell, in Wahrheit, in seinem Wesen“ das und das) (S. 56-59). Durch die Zurückweisung des zweiten Weges werden also negative Prädikate nicht generell zurückgewiesen, sondern nur in den Antworten auf spekulative und kosmologische Fragen abgelehnt25, und zwar nicht als ganz bedeutungslos, sondern als uninformativ (S. 74-78). Eine Untersuchung, die zum Gegenstand Nichtsein hat („the so-and-so that really is not such-and-such“), kann nicht einmal begonnen werden, denn selbst das Ziel einer solchen „journey“ ist nicht erkennbar (S. 78: „Where do I go if I am told to go to ‚not-Ithaca‘?“). Die interessante Konzeption von Mourelatos ist jedoch nicht frei von ernsthaften Problemen. Wie schon D. Gallop (1979, S. 64) bemerkte, stellt sie die beiden Wege, ebenso wie die Auffassung von G.S. Kirk und J.E. Raven, nicht als kontradiktorisch dar, sondern als einander potenziell ergänzend. Zudem gibt es keine ausreichende Grundlage, um œstin in Fr. 2 als Kopula zu interpretieren (dasselbe gilt für œstin in Fr. 8.2 und 8.16)26. P. Thanassas verweist auf eine weitere Schwierigkeit dieser Interpretation: Durch die Zurückweisung der „spekulativen“ Negation würde sich Parmenides als ein gegenüber Wissensinhalten desinteressierter Methodologe – und sogar als ein schlechter Methodologe – erweisen, denn die Sätze vom Typ „x ist nicht-F“ spielen eine bedeutende, wissensproduktive Rolle27. Die dargelegten Schwierigkeiten scheinen die allgemeine These von P. Thanassas (1997, S. 56, 61-65) zu stützen: Das œstin von Fr. 2 überschreite die gewöhnlich zur Beschreibung von e"nai verwendeten syntaktischen und semantischen Kategorien. 23 24

25

26

27

D. Gallop (1979, S. 62), P. Thanassas (1997, S. 53). Für die Kontradiktion auch bei den modalen Formulierungen in V. 3b und 5b argumentiert überzeugend P. Thanassas (1997, S. 72-74). Nach A.P.D. Mourelatos bedient sich Parmenides zwar negativer Prädikationen, diese sind jedoch keine „negations made de re“, sondern nur „rejections de dicto of negations made de re“ (1970, S. 53). Zur Kritik an dieser These s. D. Gallop (1979, S. 76, Anm. 11) und P. Thanassas (1997, S. 30f. mit Anm. 9). D. Gallop (1979, S. 63f. mit Anm. 12), J. Klowski (1977, S. 119f.). „… eine „nackte“, nicht von einer bestimmten (obzwar vielleicht unausgesprochenen) prädikativen Ergänzung gefolgte Kopula ist gar keine!“ (P. Thanassas 1997, S. 58). Ähnlich B. MiłuĔska (1988, S. 8). S. P. Thanassas (1997, S. 59f. u. Anm. 85). Vgl. auch die Kritik von D.J. Furley (1973, S. 12f.).

Die Parmenideische Einführung in die Wege der Forschung

51

Die Frage ist jedoch, in welcher Weise dies erfolgt28. Bei der Suche nach der Antwort sei zunächst auf eine grundlegende, aber über den eingehenden Forschungsdiskussionen über die Semantik und Syntax von œstin in den Hintergrund geratenen und selten auf ihre Konsequenzen hin untersuchten Tatsache hingewiesen: Parmenides führt œstin und oÙk œstin als Gedanken ein29, sie werden als „die einzigen Wege der Forschung“, die noÁsai sind, dargestellt. Der Ausdruck e„si noÁsai wird auf zweierlei Weise übersetzt; beide Möglichkeiten sind grammatisch möglich30 und ergeben einen guten Sinn: Die Wege sind sowohl „möglich zu denken“ (sie können gedacht werden)31 als auch „für das Denken“ (sind Wege, auf denen das Denken voranschreiten kann; vgl. B 7.2)32; während jedoch die erstere Option gelegentlich 28

29 30

31

32

P. Thanassas versteht das œstin in Fr. 2 folgendermaßen: „Die Göttin spricht hier keinen ‚normalen‘ Satz aus, und ebensowenig hat sie die Form aller bejahenden Aussagen oder eine leere Variable im Blick. Sie lenkt vielmehr unsere Aufmerksamkeit auf die Bedingungen der Möglichkeit aller Sätze und jeglichen Redens, sie thematisiert die Voraussetzungen der Struktur der Verständlichkeit überhaupt. Besser gesagt, sie thematisiert die in ihren Augen einzige Voraussetzung dieser Struktur, welche darin liegt, daß alles Angesprochene, Gemeinte oder Verstandene ist“ (1997, S. 64). S. auch E. Heitsch (1970, S. 15), J. Wiesner (1996, S. 181). Rein sprachlich lässt sich deswegen die Frage nach der besseren Übersetzung der Phrase nicht entscheiden. Von den sprachlichen Parallelen, die von den Anhängern beider Interpretationen angeführt werden (s. z. B. A.H. Coxon 1986, S. 174 für die passive Übersetzung der Phrase; A.P.D. Mourelatos 1970, S. 56, Anm. 26, für die aktive), hat zweifellos das Fragment von Empedokles m»te ti tîn ¥llwn, ÐpÒshi pÒroj ™stˆ noÁsai, / gu…wn p…stin œruke, nÒei d' Âi dÁlon ›kaston (DK 31 B 3.17f.), in dem pÒroj kein Objekt von noÁsai darstellt (s. N.-L. Cordero 1984, S. 49f.; A.P.D. Mourelatos 1970, S. 56, Anm. 26), die größte Bedeutung. Trotzdem erlauben die Empedokleischen Verse, auch wenn sie wahrscheinlich vom Parmenideischen Text inspiriert sind, keine endgültige Beantwortung dieser Frage. Diese traditionelle Übersetzung bevorzugen u. a.: DK (1961, S. 231: „zu denken sind“), E. Heitsch (1991, S. 15: „zu erkennen sind“), U. Hölscher (1969, S. 15: „zu denken sind“), A.H. Coxon (1986, S. 52: „are alone conceivable“, S. 191: „are possible logically“), M. Untersteiner (1958, S. 129: „siano logicamente pensabili“), L. Tarán (1965, S. 32: „can be conceived“), J. Barnes (1979, S. 159: „are for thinking of “ im Sinne von „can be thought of “), K. Bormann (1971, S. 33: „zu denken möglich sind“). Für A.P.D. Mourelatos (1970, S. 55) ist der Inf. noÁsai zwar von e„si abhängig, trägt aber einen finalen Sinn („what routes of quest alone there are for thinking [knowing]“); das logische Subjekt zum Infinitiv sei „du“, „Mensch“, oder „die Sterblichen“, das Objekt z. B. ti, crÁma oder ™Òn; der Infinitiv habe also eine aktive Bedeutung: „is for there to be thinking“. Mourelatos unterscheidet seine eigene Position von der Interpretation des Inf. noÁsai als eines von e"nai abhängigen Dativs. Diese Interpretation führt zu J. Jantzens Übersetzung des Verses als „welche Wege der Untersuchung allein für das Denken sind“ (1976, S. 116), bei der der Infinitiv ebenfalls aktiv aufgefasst wird (doch sprechen auch Anhänger der traditionellen, passiven Übersetzung von noÁsai, z. B. KR 1957, S. 269 und J.A. Palmer 1999, S. 41, von einem Dativ des Infinitivs). Gegen die Auffassung der Wege als Objekte des noÁsai spricht sich auch N.-L. Cordero (1984, S. 48f.) aus, der übersetzt „quel sont les seuls chemins de la recherche qu’il y a pour penser“ (S. 36) (ähnlich idem, 2004, S. 40-42: „ways ‚to think‘“). Insofern kommt dieser Auslegung die Position von Ch.H. Kahn (1969, S. 703 u. Anm. 4) nahe, nach der noÁsai jedoch „loosely epexegetical, or final, with Ðdo…“ benutzt wird: „what ways of search there are for knowing“; diese Interpretation scheint allerdings nicht eindeutig. J. Barnes (1979, S. 329, Anm. 7) gibt

52

Aletheia: Denken und Sein

auf eine Präsentation der logisch möglichen33 oder vorstellbaren34 Wege reduziert wird, scheint die letztere Übersetzung den Kern der Parmenideischen Intention präziser auszudrücken: „Parmenides’ goddess (...) is not telling him simply what ways of inquiry are conceivable but what ways of inquiry he can actively engage in thinking“ (A.A. Long 1996, S. 139, Anm. 24)35. Die Worte e„si noÁsai machen klar, dass die Untersuchung, die auf den beiden Wegen stattfinden soll, zur Sphäre des Denkens gehört: Wie auch an anderen Stellen des Gedichts, wo die mit der Konjunktion æj bzw. Ópwj eingeführten Ausdrücke œstin und oÙk œstin von einem Ausdruck des Denkens bzw. Sprechens abhängig sind (oÙ g¦r fatÕn oÙd{ nohtÒn / œstin Ópwj oÙk œsti 8.8-9; mÒnoj d' œti màqoj Ðdo‹o / le…petai æj œstin 8.1-2)36, werden die beiden Wege auch in B 2.3 und 2.5 mit Ópwj œstin und æj oÙk œstin vorgestellt, weil sie von Anfang an als Wege für das Denken bezeichnet werden. Zwischen æj bzw. Ópwj und noÁsai besteht zwar keine direkte grammatische Abhängigkeit, aber ein unverkennbarer logischer Zusammenhang, was sowohl gegen eine Ergänzung der Verse ¹ m{n Ópwj ... (2.3), ¹ d' æj ... (2.5) durch Ausdrücke wie der lautet (der besagt etc.) [dass ...]“37 als auch gegen die

33

34 35 36

37

die Version von Kahn mit dem Satz „what ways of enquiring there are that lead to thought“ wieder (vgl. Kahn 1969, S. 704: „The problem which Parmenides raises (…) is the problem of the search for knowledge, the choice between alternative ways for thought or cognition to travel on in pursuit of Truth“). Von Kahn beeinflusst ist J.A. Palmer (1999, S. 39, 41), der noÁsai direkt mit diz»sioj verbindet („which are the only paths in the search for knowing“); die Göttin weise dem Jüngling den Weg der Suche nach „nÒoj or true understanding“. Schließlich schlägt D. O’Brien (1987, S. 153f.) vor, das noÁsai als einen konsekutiven, von moànai (bzw. von dem als eine syntaktische Einheit verstandenen Ausdruck moànai + e„si) abhängigen Infinitiv aufzufassen, wobei der aktive Infinitiv einen passiven Sinn haben soll („quelles sont les voies de recherche, les seules à concevoir“ / „les seules à être conçues“ d. i. „les seules concevable“; vgl. die von O’Brien, S. 154 mit Anm. 9 angeführten Belege aus Homer). Vgl. die schon erwähnten Übersetzungen von A.H. Coxon (1986, S. 191: „are possible logically“), M. Untersteiner (1958, S. 129: „siano logicamente pensabili“) oder F.M. Cornford (1933, S. 99: „logically conceivable“). S. z. B. W.J. Verdenius (1964, S. 34). Ähnlich J. Jantzen (1976, S. 117, Anm. 20). Vgl. dagegen B 8.15-18 (¹ d{ kr…sij perˆ toÚtwn ™n tîid' œstin: / œstin À oÙk œstin: kškritai d' oân, ésper ¢n£gkh, / t¾n m{n ... t¾n d' ...), wo „ist“ und „ist nicht“ ohne Konjunktionen vorkommen, weil sie durch kein verbum cogitandi oder dicendi eingeführt werden. So z. B. E. Heitsch 1991, S. 15: „Der eine, (der da lautet) ‚es ist, und Sein ist notwendig‘ …“. Vgl. auch D. O’Brien (1987, S. 16f.: „Le première voie : «est», et aussi: il n’est pas possible de ne pas être“; „the one that ‚is‘, and that it is not possible not to be“), L. Tarán (1965, S. 32: „the one [says]: „exists“ and „it is not possible not to exist“) u. a.; zur Kritik an solchen Konstruktionen s. auch N.-L. Cordero (2004b, S. 42), der konstatiert: „The way does not speak“. Sollen die Verse ergänzt werden, dann ist vielmehr das Verb „denken“ zu wiederholen. Auch Übersetzungen wie „der eine, daß «es ist» und daß Nichtsein nicht möglich ist“ (K. Bormann 1971, S. 33 u.a.) scheinen nicht ganz richtig, da die Ausdrücke Ópwj und æj in gewisser Weise die Anführungszeichen ersetzen (so auch A. Finkelberg 1988, S. 48): Wird das „es ist“ in Anführungszeichen gesetzt, erscheint das „daß“ als funktionslos.

Die Parmenideische Einführung in die Wege der Forschung

53

dadurch ermöglichten Übersetzungen von noÁsai in V. 2 als „kennen, verstehen usw.“38 spricht. Bei dem Versuch, den Status von œstin und oÙk œstin als Gedanken genauer zu deuten, muss berücksichtigt werden, dass sich Parmenides bei dieser Klassifikation noch nicht auf eine präzise, philosophisch ausgearbeitete Auffassung des Denkens berufen kann, weil es sich erst um den Anfang seiner Erörterungen handelt. Der grundlegende, in Fr. 2 vorausgesetzte Sinn des Begriffs „Gedanke“ bzw. „Denken“ muss für die Leser bzw. Hörer zumindest in groben Zügen sofort verständlich sein, auch wenn Parmenides später seine Auffassung des Denkens weiterentwickelt und modifiziert. Von einer Dichotomie zwischen dem Geistigen und dem Materiellen oder von einer konsequent materialistischen Interpretation des Denkens kann hier natürlich keine Rede sein, und nichts deutet darauf hin, dass hier das Denken überhaupt als etwas Substantielles verstanden werden soll. Überzeugender scheint die einfache, zwar auch philosophisch interessante39, aber schon auf der präphilosophischen Stufe verständliche und die Frage nach seiner Substanz noch nicht implizierende Auffassung des Denkens als eines Analogons des Sprechens bzw. als eines anderen Aspekts desselben Phänomens wie Sprache. Dass diese Interpretation des Denkens von Parmenides tatsächlich vertreten wurde, bezeugen die zahlreichen Stellen des Gedichts, an denen Ausdrücke des Denkens mit Ausdrücken des Sprechens zusammengestellt werden: lšgein + noe‹n 6.1, f£sqai + noe‹n 8.8, fatÒn + nohtÒn 8.8, ¢nÒhton + ¢nènumon 8.17, lÒgoj + nÒhma 8.50. Die genauere Bedeutung dieser Zusammenstellungen ist noch zu untersuchen40; vorerst sei nur auf den allgemeinen Sinn der genannten Interpretation des Denkens hingewiesen. Als ein Analogon des Wortes wird in ihr der Gedanke in aller Konkretheit aufgefasst; auch das Denken im Allgemeinen wird nicht abstrakt verstanden, sondern als identisch mit der Sprache, die ihrerseits als eine begrenzte Anzahl von Wörtern, genauer gesagt: von Namen41, begriffen wird. Die Kategorie des Namens wird dabei in dieser frühen Phase weder in nomina apellativa und nomina propria unterteilt noch nur auf die Substantive beschränkt42. Die in der Parmenides-Forschung verbreitete Ansicht vom pejorativen Sinn von Ônoma und Ñnom£zein bei Parmenides43 kann natürlich nicht gegen diese Interpretation der Parmenideischen Auffassung des Denkens sprechen, da es sich bei 38

39 40 41 42

43

Vgl. z. B. E. Heitsch (1991, S. 15): „… welche Wege des Untersuchens allein zu erkennen sind. / Der eine, (der da lautet) ‚es ist, und Sein ist notwendig‘ …“. S. z. B. Platon, Theaet. 189 e 3 ff. Dazu s. unten, Kap. 3.2.4. S. A. Graeser (1977, S. 147; 1977b, S. 363; 1975, S. 21-23). ” Onoma bezeichnet noch bei Plato verschiedene Wortarten, auch Verben (s. K. Oehler 1962, S. 57 u. Anm. 2). Nach A. Graeser können für Parmenides auch längere Ausdrücke oder gar Sätze als Namen fungieren (doch zu Fr. 8.38-41, das als Grundlage für Graesers These dient, s. unten Kap. 3.3.2.2.3.3). S. z. B. J.H.M.M. Loenen (1959, S. 39-41; S. 80, Anm. 174), A. Patin (1899, S. 633f.), E. Loew (1925), W.J. Verdenius (1964, S. 55), R. Falus (1960, S. 287f.), J. Mansfeld (1964, S. 43), L. Tarán (1959/60, S. 133). Gegen diese Auffassung von Ônoma sprechen sich u. a.

54

Aletheia: Denken und Sein

letzterer nicht um die Terminologie, sondern um eine wesensmäßige Deutung des Phänomens des Denkens handelt. Die genannte Ansicht fußt im Übrigen auf einer sehr schwachen Grundlage, nämlich auf der Tatsache, dass die Worte Ônoma und Ñnom£zein hauptsächlich in den „Doxa“-Fragmenten belegt sind, wo sie sich auf eine typisch menschliche Aktivität beziehen (B 8.53-54 und B 9: die fehlerhafte Benennung der beiden Formen; B 19: die konventionelle Benennung der Elemente der phänomenalen Welt). Als wichtigster Beleg für die angeblich negative, dem lÒgoj und dem nÒhma entgegengesetzte Bedeutung von Ônoma gilt B 8.38, das allerdings weder textkritisch sicher noch leicht zu deuten ist44. Die Auffassung des Benennens als einer geringerwertigen, unphilosophischen und nur auf die phänomenale Welt bezogenen Form der kognitiven Aktivität scheint eine zu weit gehende Vereinfachung zu sein; gegen diese Vorstellung spricht außerdem B 8.17, wo bei ¢nÒhton das Wort ¢nènumon erscheint45. Werden die Gedanken œstin und oÙk œstin zu Beginn der Parmenideischen Untersuchung als Namen aufgefasst, erscheint die Frage nach dem fehlenden Subjekt in B 2.3 und 2.5 in einem neuen Licht: Für einen Namen ist nicht das Verhältnis zu einem anderen Satzteil, nicht also die syntaktische Relation „Subjekt – Prädikat“, sondern die Beziehung zu dem benannten Objekt grundlegend. Will also Parmenides von so verstandenen Gedanken sprechen, dann ist das Fehlen des Subjekts bei œstin und oÙk œstin durchaus verständlich und zweckmäßig. Das Benannte wird von Anfang an vorausgesetzt und ist auf der Grundlage seines Namens teilweise schon bekannt, wenn auch nur formal: Es ist eben das, was ist bzw. das, was nicht ist. Das Benannte aber in den Satz einzubeziehen, würde nur eine nichts sagende Tautologie ergeben („Das, was ist, ist“, „Das, was nicht ist, ist nicht“). Durch die Auslassung des Subjekts fokussiert Parmenides dagegen seine Aussage auf œstin und oÙk œstin selbst, die, von den sprachlichen Verhältnissen getrennt betrachtet, sich als isolierte Elemente der Sprache und des Denkens darstellen, die ihren Sinn erst in einer Relation zu der Wirklichkeit selbst erhalten. In dem Satz ist demnach nichts zu ergänzen, denn das Pendant zu „ist“, sc. das, was ist, ist schon in der Aussage anwesend – eben durch seinen Namen bzw. durch den es benennenden Gedanken. Durch die Betonung des Status von „ist“ als Namen nähert sich Parmenides paradoxerweise dem Ding selbst, nicht indem er die Sprache zu übergehen versucht, sondern indem er sie als das wichtigste zur Wirklichkeit führende Mittel – ÐdÒj – anerkennt. Wenn das Parmenideische „ist“ als „linguistic impertinence“ (P. Thanassas 2007, S. 35) zu bezeichnen ist, dann eben darum, weil es die konventionelle Durchsichtigkeit der Sprache als eines

44 45

A.P.D. Mourelatos (1970, S. 182f., Anm. 41) und L. Woodbury (1971, S. 146f., 153ff.) aus; s. auch D. Gallop (1984, S. 26-28). S. unten, Kap. 3.3.2.2.3.3. Die Erklärungsversuche, dass Parmenides zweifellos „no longer felt the meaning of Ônoma in this word [sc. ¢nènumon]“ (J.H.M.M. Loenen 1959, S. 40, Anm. 68), überzeugen nicht, vor allem angesichts der zahlreichen Zusammensetzungen mit -wnumoj, deren Bezug auf Ônoma sehr deutlich ist (s. z. B. P. Kretschmer – E. Locker 1944, S. 441).

Die Parmenideische Einführung in die Wege der Forschung

55

Kommunikationsmittels ablehnt und ihre eigentliche Stellung gegenüber dem Menschen sowie gegenüber dem Sein auszudrücken versucht. Eine Anknüpfung an die Parmenideische Konzeption, nach der „ist“ als Name der Wirklichkeit fungiert, könnte in dem kontroversen Zitat aus dem „Theaetet“ (180d), oŒon ¢k…nhton telšqei tîi pantˆ Ônom' e"nai46, vorliegen, auch wenn es sich um eine Parodie der Verse des Parmenides handelt47. Der semantisch-syntaktische Wert von œstin, der jeweils von seinem direkten Kontext und seiner Funktion im Satz festgelegt wird, lässt sich in B 2.3 und 2.5, wo œstin absichtlich von solchen Bezügen isoliert wurde, nicht näher bestimmen. Auch wenn die Argumentation in V. 4 und 6-8 manche Nuancen des Verbs nahe liegender erscheinen lässt als andere48, will Parmenides offensichtlich keine Unterscheidung zwischen Kopula, Identitätszeichen, Verb der Existenz usw. treffen: In jedem konkreten Gebrauch von œstin sieht er wahrscheinlich nur eine der möglichen „Erscheinungsformen“ des Verbs, die seiner in B 2.3 und 2.5 thematisierten Hauptfunktion als Gedanke bzw. Name untergeordnet sind. Es besteht darum keine Grundlage für die Behauptung, dass in Fr. 2 oÙk œstin speziell in seiner Funktion als Kopula abgelehnt wird. Auch in Fr. 8 vermeidet Parmenides die negative Prädikation nicht: Er formuliert lediglich die „ist nicht F“-Sätze in die Form „ist nicht-F “ um, indem er Adjektive mit a privativum verwendet (z. B. ¢gšnhton, ¢nèleqron, ¢tremšj, ¢k…nhton, ¥narcon, ¥pauston) oder die Negation direkt vor das Prädikatsnomen verschiebt (oÙk ¢teleÚthton tÕ ™Õn qšmij e"nai, œsti g¦r oÙk ™pideušj, oÙd{ diairetÒn ™stin, oÜte ti me‹zon oÜte ti baiÒteron pelšnai ...). Dadurch erreicht er, dass die Prädikate des Seienden an keiner Stelle direkt mit dem Ausdruck oÙk œstin, der in B 8 nur als Bezeichnung für den falschen Weg der Forschung fungiert49, verbunden werden50. Dies zeigt, dass Parmenides nicht negative Prädikationen im Blick hatte, sondern den Ausdruck oÙk œstin selbst, den er am Ausgangspunkt seiner Untersuchung als einen potentiellen Namen betrachtet und anschließend als solchen zurückweist. Die Funktion von œstin (bzw. ™st…n) als Kopula scheint für Parmenides nur eine der in dem Verb enthaltenen Möglichkeiten zu sein, wenn auch eine besonders wichtige: Das konsequent aufgefasste „ist“ „entwickelt“ sich nach Parmenides zu „ist F1, F2, F3…“; es nimmt die dem Seienden zugehörigen Prädikate zu sich. Auf 46

47 48

49 50

Zu diesem Zitat, das auch bei Simplikios Phys. 29 und 143, Eusebius, Praep. ev. 14.4, und Theodoret, Gr. aff. cur. 2.15 angeführt wird, s. vor allem F.M. Cornford (1935), A.P.D. Mourelatos (1970, S. 185-188), B.M. Perry (1989) und M. Dixsaut (1987, S. 246-253). Auf den möglichen Zusammenhang zwischen dem Zitat und der Parmenideischen Namenskonzeption verweist auch L. Woodbury (1971, S. 148f., 153-155). Vgl. Plut., De E ap. Delph. 392a, 293a-b. So kommt in V. 3-4, wo œstin in Verbindung mit der 'Alhqe…h auftritt, möglicherweise vor allem die veritative Bedeutungsnuance zum Ausdruck. Vgl. Fr. 8. 9, 8.11, 8.16, 8.20. Die Tatsache, dass die Lesart oÙd{n g¦r [À] œstin À œstai in Fr. 8.36 eine vereinzelte Ausnahme von dieser Regel darzustellen scheint, bestätigt nur die auch sonst gut begründete Ansicht, dass sie nicht korrekt sein kann. Dazu s. unten, Kap. 3.3.2.2.1.

56

Aletheia: Denken und Sein

diese Weise erhält œstin als der Name des Seienden den Charakter eines Weges, der zur Erkenntnis des von ihm Benannten führt. Die Bedeutung von Fr. 2 erschöpft sich nicht in einer bloßen Präsentation der Wege der Forschung: Die Wege werden kommentiert, und zwar jeweils positiv oder negativ, worauf sie sofort anerkannt oder abgelehnt werden. Die Aussagen weisen eine deutlich erkennbare Struktur auf51. Zunächst werden die beiden Wege der Forschung vorgestellt: 1a) œstin te kaˆ ... oÙk œsti m¾ e"nai (2.3) 1b) oÙk œstin te kaˆ ... creèn ™sti m¾ e"nai (2.5);

danach wird jeder von ihnen bewertet: 2a) Peiqoàj ™sti kšleuqoj (2.4a) 2b) t¾n d» toi fr£zw panapeuqša œmmen ¢tarpÒn (2.6);

schließlich wird die Bewertung begründet (g£r): 3a) 'Alhqe…hi g¦r Ñphde‹ (2.4b) 3b) oÜte g¦r ¨n gno…hj tÒ ge m¾ ™Òn, oÙ g¦r ¢nustÒn, / oÜte fr£saij (2.7-8)52.

Der Status der symmetrisch geordneten Aussagen53 bleibt jedoch unklar: Es ist umstritten, ob wir es hier mit einer echten Argumentation zu tun haben oder mit einer „dogmatischen“ Verkündigung gewisser Urteile, die lediglich durch emphatische Bekräftigungen unterstützt werden54. Dieses Problem entspringt einer grundlegenden Schwierigkeit: Die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Aussagen des Fragments sind nicht klar genug55. 51 52

53

54

55

E. Heitsch (1970, S. 15). Gegen diese Auffassung der Struktur von Fr. 2 argumentiert J. Klowski (1977, S. 106), der eine Parallelität zwischen den traditionell als emphatische Versicherungen verstandenen und in Klammern gesetzten Sätzen 'Alhqe…hi g¦r Ñphde‹ (2.4b) und oÙ g¦r ¢nustÒn (2.7) annimmt. Es muss betont werden, dass die formale Symmetrie der Aussagen keine genaue inhaltliche Entsprechung der Thesen nach sich ziehen muss; im Gegenteil ist schon in Fr. 2 sichtbar, dass die beiden Wege nicht ausschließlich kontrastiv gegenüberstellt werden (vgl. auch 8.17-18, wo die Parallelität nicht vollständig durchgeführt ist). Die zweite Auffassung drückt sich im Einschließen der Aussage 3a in Klammern (so z. B. DK u. a.) aus. Sie wird als traditionell u.a. von J. Klowski (1977, S. 106) verteidigt; s. auch A. Finkelberg (1988, S. 53). Die erste Ansicht wird u. a. von J. Wiesner (1996, S. 163-180), W.J. Verdenius (1964, S. 31-44, bes. 41) und U. Hölscher (1969, S. 80ff., bes. 83) vertreten. P. Thanassas (1997, S. 76) glaubt dagegen, dass wir es hier mit einer Argumentation im „schwachen“ Sinn zu tun haben, die „auf einer im voraus vollzogenen festen Einsicht beruht und aus dieser, sich auf Evidenz berufend, gewisse Konsequenzen zu ziehen vermag“. Umstritten bleibt sogar, welche der Aussagen dem eventuellen Beweis unmittelbar unterliegen: die als Urteile interpretierten „Inhalte“ der Wege (1a = B 2.3, 1b = B 2.5) (so z. B. W.J. Verdenius und U. Hölscher, nach denen die These „All reality is“ bzw. „es ist“ nachgewiesen werden), und erst dadurch indirekt die Wahl des ersten Wegs (2a, 2b) oder direkt die Bewertung der beiden

Die Parmenideische Einführung in die Wege der Forschung

57

Die wichtigste und am intensivsten diskutierte Frage ist die nach der Beziehung zwischen der Ablehnung des Weges oÙk œstin (2.6) und der Aussage in 2.7-8. Wird der Status von V. 2.7-8 als der Begründung dieser Ablehnung anerkannt, erweist sich die oben kritisierte Meinung, nach der der zweite Weg „das Seiende ist nicht“ „besagt“, als unrichtig: Wie E. Tugendhat (1970, S. 136) bemerkt hat, kann der Satz 2.7-8 keine Begründung für die Zurückweisung der These „das Seiende ist nicht“ darstellen, selbst wenn bei der inneren Widersprüchlichkeit der These eine solche Begründung noch erforderlich wäre56. Wie oben erwähnt, wurden auch Versuche unternommen, den zweiten Weg als die umgekehrte These, „das Nichtseiende ist“, zu deuten. In diesem Fall wäre das Argument, dass das Nichtseiende unerkennbar ist, als Begründung eher akzeptabel57; oÙk œstin lässt sich jedoch nicht in dieser Weise interpretieren. Wird „ist nicht“ aufgrund der These von der Unerkennbarkeit des Nichtseienden zurückgewiesen, muss angenommen werden, dass das „ist nicht“ in einer wesentlichen Beziehung zu etwas steht, das als „Nichtseiendes“ bezeichnet wird. Wenn diese Annahme richtig ist, scheint es jedoch verfehlt, dieses „etwas“ für eine Variable, ein beliebiges Objekt der Untersuchung oder „das Sagbare und Denkbare“ zu halten58. Das, worauf sich die Formel „ist nicht“ bezieht, erscheint in Fr. 2 als im Voraus festgelegt, wenn auch, wie oben erwähnt, nur formal: Es ist tÕ m¾ ™Òn. Die Ablehnung des Weges „ist nicht“, begründet mit der Unerkennbarkeit des Nichtseienden (2.7-8: oÜte g¦r ¨n gno…hj tÒ ge m¾ ™Òn ... / oÜte fr£saij), wird

56

57

58

Wege (2a = B 2.4a, 2b = B 2.6) (so z. B. J. Wiesner). Die erste Auffassung überzeugt jedoch nicht, weil sie auf einem oben abgelehnten Verständnis der Wege beruht. A. Finkelberg (1988, S. 53f.) (für den die beiden Wege, wie schon erwähnt, eben die „Thesen“ „Sein ist“ und „Sein ist nicht“ darstellen) akzeptiert diese Konsequenz und bestreitet, dass Fr. 2.6-8 ein Argument gegen den zweiten Weg enthält; die Verse 2.6-8 beinhalten seiner Ansicht nach „a new development: the notion of non-Being is introduced as a corollary of the hypothetical acceptance of the second ‚way‘ and is asserted to be such that it is not possible to gign ǀskein and phradzein it“ (S. 54). „The other way is impossible, for it asserts the existence of non-existence (æj oÙk œstin te kaˆ æj creèn ™sti m¾ e"nai), for non-Being cannot be conceived or expressed“ (L. Tarán 1965, S. 37). Für K. Bormann (1971, S. 94), nach dem oÙk œstin soviel wie „das Nichts ist“ bedeutet, ist „der zweite Weg (...) panapeuq»j, gänzlich unerforschbar, weil das Nichts weder erkannt noch sinnvoll ausgesprochen werden kann“. Die Auffassung, nach der das Subjekt zu „ist nicht“ eine Art von Variable ist („whatever Parmenides is saying will apply equally well to ascertaining whether there is animal life on Mars, or a rational root to a certain equation, or an amount of tribute that will satisfy the Persians, or whether Socrates is flying, or any broad-leaved plants are deciduous“, M. Furth 1968, S. 117), ist unwahrscheinlich, weil Parmenides schon am Anfang als Thema des ersten Teils des Gedichts die Aletheia bezeichnet (vgl. Fr. 1.29) und sich von allen Sachen, die „zu sein scheinen“ (vgl. 1.31-32) zumindest vorläufig trennt. „Tag, Meer, grau, warm, Licht, Nacht – wie es in Bezug auf die der Auslegung von Furth teilweise ähnliche Interpretation von U. Hölscher festgestellt wurde – das alles hat im Aletheiateil nichts zu suchen“ (H. Schwabl – J. Wiesner 1972, S. 21).

58

Aletheia: Denken und Sein

durch die Bezeichnung des Weges als panapeuq»j (2.6) ausgedrückt. E. Heitsch (1970) fand die Beziehung zwischen den beiden Aussagen, der Ablehnung des zweiten Weges als panapeuq»j (2.6) und ihrer Begründung (2.7-8), „auf den ersten Blick unlogisch“ (S. 16): Der Weg wird als „unerforscht, unbekannt“ zurückgewiesen, was in der Begründung 2.7-8 dem Nichtseienden selbst zugesprochen wird. Das genaue Verhältnis zwischen den Thesen von der „Unerforschbarkeit“ des Weges „ist nicht“ und der Unerkennbarkeit des Nichtseienden lässt sich nur aufgrund einer zutreffenden Bestimmung der Beziehung zwischen dem Weg und dem Nichtseienden erfassen. Diese Beziehung wurde jedoch in Fr. 2 nicht näher bestimmt. Zu sagen, dass das Nichtseiende das auf dem Wege der Forschung „ist nicht“ zu untersuchende Objekt ist, ist zwar sicherlich richtig (so spricht schon Simplikios von ¹ ÐdÕj ¹ tÕ m¾ ×n zhtoàsa, Phys. 78), aber wenig präzise und aufgrund der Beibehaltung der Parmenideischen Metapher nicht sehr aussagekräftig. Die Parmenides-Interpreten bedienen sich bei dieser Frage auch anderer Metaphern. Oft wird vom Nichtseienden als dem vermeintlichen Ziel des Weges „ist nicht“ (vgl. B 2.4b) gesprochen; P. Thanassas (1997) spricht dagegen von dem „vom Nichts regierte(n) Weg“ (S. 76) oder von dem „ihn [sc. den Weg] beherrschende(n) Nichts“ (S. 77, 79); nach ihm bildet das Nichtseiende „das Herz“ des zweiten Wegs (S. 79). E. Heitsch (1991, S. 141-143), der auf die Metaphorik zu verzichten versucht, erklärt das Verhältnis der beiden Aussagen (2.6, 2.7-8) und die Bezeichnung panapeuq»j (2.6) mit der These, die Wege hätten „keinerlei Eigenwert“: „ist nicht“ und „Nichtseiendes“ seien für Parmenides synonyme, äquivalente Formulierungen, die daher dieselben Prädikate erhalten könnten59. Diese Lösung scheint jedoch nicht überzeugend, weil es in Fr. 2 keine Hinweise auf eine solche Synonymie gibt – die dort angewendete Metaphorik dient im Gegenteil dazu, beide Elemente separat zu charakterisieren. Manche Forscher versuchen die Schwierigkeit dadurch zu lösen, dass sie das Adjektiv panapeuq»j aktiv übersetzen, so dass der Weg als „keine Kunde bringend“ abgelehnt wird60, was sicherlich mit der Unerkennbarkeit seines „Gegenstandes“ begründet werden könnte. Den aktiven Sinn hätte Parmenides jedoch viel deutlicher zum Ausdruck bringen können; gegen ihn spricht auch die spätere Bezeichnung des Weges als ¢nÒhtoj und ¢nènumoj (8.17). Um dem Verständnis der Beziehung zwischen dem Weg und dem Nichtseienden und damit auch der Bezeichnung des Weges als panapeuq»j näher zu kommen, sei auf die schon oben vorgeschlagene Auffassung der Wege verwiesen: Das Ver59 60

Vgl. auch E. Heitsch (1970, S. 15f.). Z. B. „from which no tidings ever come“ (A.P.D. Mourelatos 1970, S. 76); „nichts erkundend“ (U. Hölscher 1969, S. 82); „von dem keinerlei Kunde kommt“ (J. Jantzen 1976, S. 116). Passive Übersetzungen sind z. B. „gänzlich unerkundbar“ (DK 1962, S. 231); „völlig unerfahrbar“ (E. Heitsch 1991, S. 15); „dont rien ne se peut apprendre“ / „of which we can learn nothing“ (D. O’Brien 1987, S. 17). Beide Bedeutungen zugleich versucht P. Thanassas (1997, S. 76, Anm. 119) mit „kunde-los“ auszudrücken.

Die Parmenideische Einführung in die Wege der Forschung

59

hältnis zwischen „ist nicht“ und dem, was nicht ist, ist im Grunde genommen das zwischen Namen und Benanntem. Der als Name verstandene Gedanke hat seinen Gegenstand zur Voraussetzung und wird per definitionem als in einem Verhältnis zu ihm stehend aufgefasst. Als Name eröffnet er auch einen Weg zur Erkenntnis des Benannten. Wie sich dies Parmenides konkret vorgestellt hat, zeigt sich in Fr. 8 und der dort durchgeführten Untersuchung von „ist“: als eine methodische Analyse des Namens in Form einer Deduktion aus ihm. Aufgrund dieser Voraussetzungen kritisiert Parmenides in B 2.6-8 „ist nicht“ als „unerforschbar“: Da sein Designat, das Nichtseiende, dem Forscher in keiner Weise zugänglich ist, kann „ist nicht“ keinen wahren Weg der Forschung ausmachen. Auch wenn sich aus „ist nicht“ Prädikate deduzieren ließen, würde dieser Vorgang keine wahre Forschung darstellen, weil der Gegenstand, dem sie zugeordnet werden sollen, sich weder erkennen noch aufzeigen61 lässt. Die vorgeschlagene Auffassung der in B 2.6-8 ausgesprochenen Ablehnung des Weges „ist nicht“ findet eine gewisse Bestätigung in der symmetrischen Struktur von Fr. 2, insofern sie sich per analogiam auch auf die Anerkennung des Weges „ist“ anwenden lässt. Die Begründung dieser Anerkennung lautet 'Alhqe…hi g¦r Ñphde‹ (2.4b). Oft wird der Satz auf eine emphatische Bekräftigung der ihm vorangehenden These (Peiqoàj ™sti kšleuqoj, 2.4a) oder eine Randbemerkung zu dieser reduziert. Bei Berücksichtigung der Symmetrie von Fr. 2 erscheint diese Ansicht jedoch zweifelhaft: 'Alhqe…hi g¦r Ñphde‹ nimmt in Bezug auf die Bewertung des ersten Weges dieselbe Position ein wie der Satz oÜte g¦r ¨n gno…hj tÒ ge m¾ ™Òn ... / oÜte fr£saij (2.7-8), der nach der communis opinio eine der Hauptthesen des Parmenides darstellt, in Bezug auf die Beurteilung des zweiten Weges. Zwischen den beiden Aussagen (2.4b und 2.7-8) lässt sich in der Tat eine weitgehende Parallelität feststellen. Ebenso wie in B 2.7-8 auf den Gegenstand der auf dem Wege „ist nicht“ geführten Untersuchung, d. i. auf das Designat des Namens „ist nicht“, verwiesen wird, wird in B 2.4b der Gegenstand der auf dem Wege „ist“ durchgeführten Forschung thematisiert. Es ist auch hier das von „ist“ Benannte, aber „ist“ erweist sich als wirklicher Name, denn es nennt „das, was ist“ – mit den poetischen Worten des Parmenides: Der Weg „ist“ folgt der

61

Zur Bedeutung von fr£zw, das bei Homer u. a. das Zeigen des Weges oder der Stelle, wo sich etwas Gesuchtes befindet, bezeichnet, s. auch A.P.D. Mourelatos (1970, S. 76 u. S. 20, Anm. 28), der schreibt: „the point made by means of fr£zw is that a traveler who seeks whatis-not cannot even mark, descry, or set his bearing on the goal; and no guide could ever show him the way“ (S. 76). Die am häufigsten akzeptierte Übersetzung von fr£zein in Fr. 2 als „aussprechen“ scheint dem Wunsch zu entspringen, in Fr. 2.7-8 ein dem späteren „sagen und denken“ analoges Paar von Verben zu finden. In Fr. 2 selbst legt jedoch nichts diese Bedeutung nahe (auch nicht fr£zw in V. 6, wie P. Thanassas 1997, S. 77, Anm. 120 behauptet, da dort das Verb wiederum eine andere Bedeutung annimmt). Der Kontext der Wege spricht für die Bedeutung „aufzeigen“ (so u. a. Ch. Kahn 1969, S. 713 mit Anm. 18; A. Finkelberg 1988, S. 54).

60

Aletheia: Denken und Sein

'Alhqe…h62. Diese Auslegung des Verses 2.4 wird in B 8.50-51 bestätigt: ™n tîi soi paÚw pistÕn lÒgon ºd{ nÒhma / ¢mfˆj ¢lhqe…hj63. In Fr. 2 präsentiert also Parmenides zwei Wege der Forschung und ordnet ihnen ihre jeweiligen Gegenstände zu: das, was ist, und das, was nicht ist. Aufgrund dieser Zuteilung erhalten die Wege ihre Bewertung: Während der zweite Weg als panapeuq»j zurückgewiesen wird, erweist sich der erste als Peiqoàj kšleuqoj (2.4a)64; die in B 8 durchgeführte Untersuchung des „ist“ wird, im Gegensatz zur Erforschung des „ist nicht“, eine sichere Erkenntnis der Wahrheit bringen. Wie sich aus dem bisher Gesagten ergibt, beinhaltet Fr. 2 eine zusammenhängende Gedankenführung, die jedoch weder als vollständige Argumentation noch als bloße Darlegung dogmatischer Urteile anzusehen ist. Die einzelnen Sätze des Fragments scheinen eher den Umriss einer vermutlich in anderen Teilen des Gedichts entwickelten Beweisführung darzustellen. Ein näherer Vergleich mit den Thesen der weiteren Fragmente wird zeigen, dass in Fr. 2 nur die wichtigsten Punkte der späteren Erörterung antizipiert werden. Das Fragment hat offensichtlich eine propädeutische Funktion, indem es den Leser (bzw. Hörer) in die Thematik der „Aletheia“ einführt und ihn auf ihre Thesen vorbereitet. Die Frage ist, in welcher Weise die im Fragment enthaltenen Behauptungen später entwickelt und begründet werden und in welchem Verhältnis sie zu den übrigen, erhaltenen oder rekonstruierbaren Argumenten des Parmenides stehen.

3.2 Denken und „ist nicht“ – der Elenchos Der Versuch, eine Antwort auf die am Ende des vorigen Kapitels gestellte Frage zu erteilen, d. i. in den erhaltenen Fragmenten eine eingehendere Erörterung der in B 2 geäußerten Thesen und Argumente zu erkennen, soll für die beiden symmetrisch geordneten Teile von B 2 separat durchgeführt werden (Kap. 3.2. und 3.3). Zunächst sei die negative, gegen den Weg „ist nicht“ gerichtete Argumentation des Parmenides behandelt. Hierbei wird in erster Linie die verbreitete Meinung untersucht werden, nach der die in B 2.7-8 enthaltene These durch Fr. 3 ergänzt

62

63

64

'Alhqe…h und ¢lhq»j beziehen sich bei Parmenides nicht auf die Richtigkeit des Urteils, sondern auf die Realität und Wirklichkeit (vgl. Fr. 1.29, 2.4, 8.17, 8.38, 8.51; in Fr. 1.30 u. 8.28 ist von p…stij ¢lhq»j die Rede), daher die Equivalenz zwischen ¢l»qeia und tÕ ™Òn; dazu s. J. Wiesner (1996, S. 170-174), A.H. Coxon (1986, S. 168), A.P.D. Mourelatos (1970, S. 63-67). Zu ¢lhq»j bei Homer s. T. Krischer (1965). Ähnlich werden Fr. 2 und die Wege bei J. Wiesner (1996) interpretiert. Der Versuch des Autors, zu beweisen, dass ¢l»qeia „die dem Erkennen und Mitteilen zugängliche Wirklichkeit“ (S. 176) bedeute, erscheint jedoch als unnötig. Der Zusammenhang zwischen Realität und Wissen wird nicht schon in dem Wort ¢l»qeia, sondern erst durch die Verbindung von peiqè und ¢l»qeia ausgedrückt. Zur Metaphorik von B 2.4a (Peiqè) s. A.P.D. Mourelatos (1970, S. 67).

Denken und „ist nicht“ – der Elenchos

61

oder begründet wird. Anschließend sei versucht, die Parmenideische Beweisführung gegen den Weg „ist nicht“ zu rekonstruieren. 3.2.1 Fragment 3 und das Problem der Begründung von Fr. 2.7-8 „Auf diesem einen Satz beruht seine ganze Philosophie“ – diese Worte von Karl Reinhardt (1985, S. 77) stellen nur einen der vielen umstrittenen Kommentare zu dem von Clemens von Alexandria und Plotin überlieferten Fragment 3 dar, das nicht einmal einen Vers lang ist und dessen ursprünglicher Kontext unbekannt bleibt: tÕ g¦r aÙtÕ noe‹n ™st…n te kaˆ e"nai65. Trotz seiner breiten Rezeption bei neuzeitlichen Kommentatoren wurde es nie ausreichend und überzeugend interpretiert. Der Text von Fr. 3 wird auf zweierlei Weise konstruiert. Nach der sog. traditionellen Interpretation ist tÕ g¦r aÙtÕ noe‹n ™st…n te kaˆ e"nai zu verstehen als „denn dasselbe ist Denken und Sein“66. Etwas problematisch scheint hier die 65

66

Bei Clemens (Strom. 6.23) soll Fr. 3 die These von der Neigung der Griechen zum intellektuellen Diebstahl illustrieren: Als ähnliche Aussagen werden die Worte der Pythia bei Herodot (6.86): tÕ peirhqÁnai toà qeoà kaˆ tÕ poiÁsai ‡son genšsqai (so bei Clemens; bei Herodot dÚnasqai) sowie die Aussage von Aristophanes (Fr. 691 Kock): dÚnatai g¦r ‡son tù dr©n tÕ noe‹n zitiert; Clemens scheint also Fr. 3 als eine Gleichsetzung zweier Elemente, noe‹n und e"nai, zu verstehen. Plotin (5.1.8) verweist auf seine Vorgänger in seiner Lehre vom Geist und zitiert, gleich nach Platon, Parmenides, der das Seiende und den Geist auf dasselbe zurückführe (e„j taÙtÕ sunÁgon ×n kaˆ noàn) und das Seiende nicht zum Sinnlichen rechne (kaˆ tÕ ×n oÙk ™n to‹j a„sqhto‹j ™t…qeto). Obwohl das Seiende unbewegt sein sollte, habe ihm Parmenides das Denken zugeschrieben (prostiqeˆj tÕ noe‹n); der Vergleich mit der Kugel solle bedeuten, dass das Seiende alles umfasse und dass das Denken nicht außerhalb, sondern in seinem Inneren stattfinde (tÕ noe‹n oÙk œxw, ¢ll' ™n ˜autù) (vgl. auch 5.9.5, wo Plotin das Zitat als mit seiner eigenen Lehre von der Identität des Geistes und seiner Gegenstände übereinstimmend lobt, ohne jedoch Parmenides namentlich zu erwähnen). Bei Proklos (Theol. Plat. 1.66.4) ist das angebliche Zitat in Wirklichkeit nur eine Paraphrase (… taÙtÒn ™sti tÕ noe‹n kaˆ tÕ e"nai, fhsˆn Ð Parmen…dhj); eine metrische Version des Textes führt er in In Parm. (1152) an, wo die Parmenideische Doktrin im Hinblick auf die Bewegung und Ruhe des Seienden untersucht wird: Einerseits habe der Eleate das Seiende für unbewegt gehalten (hier werden einige Verse aus Fr. 8 zitiert), andererseits jedoch habe er dem Seienden das Denken zugesprochen ( noe‹n ™n tù Ônti qšmenoj) und damit eine Art der Bewegung, was mit dem Satz TaÙtÕn d' ™stˆn ™ke‹ nošein te kaˆ e"nai, gefolgt von Fr. 8.35-36 und Fr. 4.1, illustriert wird. Diese Version wird allgemein abgelehnt; wie H. Diels (1897, S. 67) bemerkte, gehört ™ke‹ zur neuplatonischen Terminologie; außerdem erinnert sie stark an Fr. 8.34 (taÙtÕn