Die Konstitution der Dinge: Phänomene der Abstraktion bei Andreas Gursky [1. Aufl.] 9783839418277

Mit seinen monumentalen Fotografien gilt Andreas Gursky wie kaum ein anderer zeitgenössischer Künstler als Diagnostiker

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Die Konstitution der Dinge: Phänomene der Abstraktion bei Andreas Gursky [1. Aufl.]
 9783839418277

Table of contents :
Inhalt
I. Einleitung
1. Thema
2. Fragestellung und Methodik
3. Literaturbericht
4. Zur Person Gursky
II. Theoretischer Diskurs zur Abstraktion
1. Der Begriff der Abstraktion – Eine philosophische, kunsthistorische und fototheoretische Annäherung
2. Das Ornament als Vermittlungsprinzip
3. ‚Allegorische Potenz‘
4. Prinzipien für Gursky – potenzielle ‚fotografische Prägnanz‘
III. Zum Abstraktionsverständnis bei Andreas Gursky: Abbild versus Abstraktion?
1. Strukturkategorie: Das Abstrahierende und das Ornamentale
1.1 Das Abbild erhöht das Abgebildete
1.1.1 Zufallsblick
1.1.2 Horizontale Perspektive
1.1.3 Architektonische Perspektivfluchten
1.1.4 Turmperspektive
1.1.5 Panorama
1.1.6 Vogelperspektive
1.1.7 Surreale Welten
1.1.8 Resümee
Vergleichendes Intermezzo A
1.2 Das Abstrahierende und das Ornamentale in der Tradition der Landschaftsmalerei
1.2.1 Albrecht Altdorfer
1.2.2 Pieter Bruegel d.Ä
1.2.3 Jan Vermeer
1.2.4 Caspar David Friedrich
1.3 Wahrnehmung von „Weltgegenden“
2. Strukturkategorie: Das Konstruktive und das Ornament
2.1 ‚Ordnungsprinzipien‘
2.1.1 Konstruktion im Innenraum
2.1.2 Konstruktion Außenarchitektur
2.1.3 All-over im Innenraum
2.1.4 Over-all
2.1.5 Geometrisierung
2.1.6 Hyperordnung
2.1.7 Konstellation
2.1.8 Resümee
Vergleichendes Intermezzo B
2.2 Das Konstruktive und das Ornament in der Tradition der abstrakten Malerei
2.2.1 Piet Mondrian
2.2.2 Andy Warhol
2.2.3 Jackson Pollock
2.3 Wahrnehmung von Weltbildern der Masse
3. Strukturkategorie: Abstraktion durch Anschauung
3.1 Strategien fotografischer Abstraktionen
3.1.1 Monochrome Anschauungen
3.1.2 Strukturfelder
3.1.3 Zitate der Malerei
3.1.4 Resümee
Vergleichendes Intermezzo C
3.2 Abstrakte Malerei im Vergleich
3.2.1 Gerhard Richter
3.2.2 Mark Rothko
3.3 Bildliche Raum-Zeit-Phänomene
IV. Reflexionen
1. Gurskys Position in der Fotografiegeschichte – Rückblick, Ausweg, Etablierung, Ausblick
2. Intermedialität: Malerei, Fotografie und Digitalisierung im Dialog
3. Schluss: Die Strukturmomente im Gesamtwerk
V. Literaturverzeichnis

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Eva Witzel Die Konstitution der Dinge

Image | Band 27

Eva Witzel (Dr. phil.) hat Kunstgeschichte in Bamberg, Marburg und Venedig studiert, war Volontärin am Saarlandmuseum und Kuratorin an der Kunsthalle Emden. Sie lebt in Hamburg.

Eva Witzel

Die Konstitution der Dinge Phänomene der Abstraktion bei Andreas Gursky

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Andreas Gursky, Shanghai, 2000, C-Print, 280 x 200 x 6,2 cm. © Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2011. Courtesy Sprüth Magers Berlin London Lektorat & Satz: Eva Witzel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1827-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

I.

Einleitung | 13

1. 2. 3. 4.

Thema | 13 Fragestellung und Methodik | 18 Literaturbericht | 22 Zur Person Gursky | 29

II.

Theoretischer Diskurs zur Abstraktion | 37

1.

Der Begriff der Abstraktion – Eine philosophische, kunsthistorische und fototheoretische Annäherung | 37 Das Ornament als Vermittlungsprinzip | 51 ‚Allegorische Potenz‘ | 60 Prinzipien für Gursky – potenzielle ‚fotografische Prägnanz‘ | 69

2. 3. 4.

III. Zum Abstraktionsverständnis bei Andreas Gursky: Abbild versus Abstraktion? | 73

1.

Strukturkategorie: Das Abstrahierende und das Ornamentale | 73 1.1 Das Abbild erhöht das Abgebildete | 73 1.1.1 Zufallsblick | 74 1.1.2 Horizontale Perspektive | 86 1.1.3 Architektonische Perspektivfluchten | 97 1.1.4 Turmperspektive | 107 1.1.5 Panorama | 113 1.1.6 Vogelperspektive | 118 1.1.7 Surreale Welten | 126 1.1.8 Resümee | 128 Vergleichendes Intermezzo A 1.2 Das Abstrahierende und das Ornamentale in der Tradition der Landschaftsmalerei | 133 1.2.1 Albrecht Altdorfer | 133

1.2.2 Pieter Bruegel d.Ä. | 136 1.2.3 Jan Vermeer | 141 1.2.4 Caspar David Friedrich | 150 1.3 Wahrnehmung von „Weltgegenden“ | 160 2.

Strukturkategorie: Das Konstruktive und das Ornament | 163 2.1 ‚Ordnungsprinzipien‘ | 163 2.1.1 Konstruktion im Innenraum | 164 2.1.2 Konstruktion Außenarchitektur | 172 2.1.3 All-over im Innenraum | 188 2.1.4 Over-all | 201 2.1.5 Geometrisierung | 212 2.1.6 Hyperordnung | 220 2.1.7 Konstellation | 225 2.1.8 Resümee | 228 Vergleichendes Intermezzo B 2.2 Das Konstruktive und das Ornament in der Tradition der abstrakten Malerei | 232 2.2.1 Piet Mondrian | 233 2.2.2 Andy Warhol | 240 2.2.3 Jackson Pollock | 246 2.3 Wahrnehmung von Weltbildern der Masse | 255

3.

Strukturkategorie: Abstraktion durch Anschauung | 265 3.1 Strategien fotografischer Abstraktionen | 265 3.1.1 Monochrome Anschauungen | 266 3.1.2 Strukturfelder | 274 3.1.3 Zitate der Malerei | 285 3.1.4 Resümee | 290 Vergleichendes Intermezzo C 3.2 Abstrakte Malerei im Vergleich | 292 3.2.1 Gerhard Richter | 292 3.2.2 Mark Rothko | 296 3.3 Bildliche Raum-Zeit-Phänomene | 301

IV. Reflexionen | 307

1.

3.

Gurskys Position in der Fotografiegeschichte – Rückblick, Ausweg, Etablierung, Ausblick | 307 Intermedialität: Malerei, Fotografie und Digitalisierung im Dialog | 322 Schluss: Die Strukturmomente im Gesamtwerk | 340

V.

Literaturverzeichnis | 347

2.

Reinhild Witzel (1939 - 1982)

D ANK Die vorliegende Publikation wurde 2009 unter dem Titel Abstraktion bei Andreas Gursky vom Fachbereich Germanistik und Kunstwissenschaften der Philipps-Universität Marburg als Dissertation angenommen. Mein erster und besonderer Dank gilt den Betreuern dieser Arbeit, Prof. Dr. Katharina Krause und Prof. Dr. Karl Prümm. Sie begleiteten ihr Entstehen höchst engagiert, setzten stets Vertrauen in ihr Gelingen und standen mir jederzeit mit hilfreichem Rat zur Seite. Mein weiterer Dank gilt Andreas Gursky, dem Atelier Gursky und der Galerie Sprüth Magers in Köln, die mich durch die Bereitstellung von Literatur und Bildmaterial und durch wertvolle Hinweise unterstützt haben. Gedankt sei auch Hans-Christian Schink und, vom Fotomuseum Winterthur, Urs Stahel – beide waren zu intensiven Arbeitsgesprächen bereit und haben mit mir ausführlich über meine Fragen diskutiert. Für ihre Langmut und ihren bedingungslosen Rückhalt danke ich meiner Familie, besonders meinem Vater Ulrich Witzel, und meinen Freunden von ganzem Herzen. Hauke Nagel zu danken wäre zu wenig. Er war mir ein unermüdlicher Gesprächspartner und kritischer Begleiter. Ohne ihn wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen.

I. Einleitung „Meine Vorliebe für klare Strukturen ist das Ergebnis meines Bedürfnisses – was vielleicht eine Illusion ist – die Dinge nicht aus den Augen zu verlieren und die Welt im Griff zu behalten.“ ANDREAS GURSKY

1. T HEMA Nicht die Welt, aber die im Zeitraum von 1984 bis 2001 entstandenen Fotografien von Andreas Gursky „im Griff zu behalten“, ist Anliegen dieser Arbeit. Den Ansatz dazu bieten die formalästhetischen Abstrahierungsphänomene und Abstraktionsstrukturen, die sich mittelbar und unmittelbar im Werk manifestieren und die sich zu einem übergreifenden Interpretament innerhalb der Werkgenese Gurskys entwickelt haben. „In der Tat werden meine Bilder zunehmend formaler und abstrakter. Eine bildnerische Struktur scheint die abgebildeten, realen Begebenheiten zu überlagern. Ich unterwerfe die reale Situation meinem künstlerischen Konzept der Bildfindung.“1

1

Gursky, Andreas, in einem Briefwechsel mit Veit Görner: ‚... im Allgemeinen gehe ich die Dinge langsam an‘. In: Andreas Gursky. Fotografien 1994-1998. Ausst.-Kat. Kunstmuseum Wolfsburg; Fotomuseum Winterthur; Serpentine Gallery, London; Scottish National Gallery of Modern

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So beschreibt der Künstler selbst jenes bildnerische Konzept, das es ihm offenbar erlaubt, von der visuellen Erscheinung, d.h. von der abbildenden Eigenschaft der Fotografie, zu abstrahieren. Es steht also eine durch Formalisierungsprozesse und Strukturbildung hervorgerufene ‚Abstraktion‘ zur Debatte, die es nun vor dem Hintergrund der Fotografie- und Kunstgeschichte werkimmanent zu analysieren gilt. Der Gedanke, fotografische Subbereiche mit der Abstraktion in Verbindung zu bringen, ist nicht neu, innerhalb ganzheitlich wissenschaftlicher und historischer Untersuchungen aber noch von jungem Erkenntnisinteresse. Die eigentliche Geburtsstunde der fotografischen Abstraktion wird in New York und in London mit den Jahren 1916 und 1917 in Verbindung gebracht. So ist Paul Strand (1890-1976) aus Amerika der erste Lichtbildner gewesen, der 1916 den Titeln seiner Stillleben – Tassen und Schalen als ein Konstrukt aus Kreisen in Schwarz, Grau und Weiß – die Bezeichnung ‚Abstraktion‘ beigibt.2 Strands Landsmann Alvin Langdon Coburn (1882-1966) sprach sich im selben Jahr in London in seinem Aufsatz zur ‚Zukunft der bildmäßigen Fotografie‘ für eine Ausstellung mit dem Titel ‚Abstrakte Fotografie‘3 aus, zu der es zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht kam, deren Sachverhalt jedoch ausdrücklich und richtungweisend ins Leben gerufen wurde.4 So fordert Coburn: „In den Zulassungsbestimmungen soll deutlich festgelegt werden, daß keine Arbeit angenommen wird, in der das Interesse am Bildgegenstand das Gefühl für außergewöhnliche Aspekte übersteigt. Ein Gefühl für Form und Struktur ist

Art, Edinburgh; Castello di Rivoli, Museo d’Arte Contemporanea, Torino; Centro Cultural de Belém, Lisboa. Ostfildern 1998, S. 3-10, hier S. 5. 2

Vgl. Kellein, Thomas: Die Erfindung abstrakter Fotografie 1916 in New York. In: Kellein, Thomas; Lampe, Angela (Hrsg.): Abstrakte Fotografie. Ostfildern-Ruit 2000, S. 33-56, hier S. 33, S. 40.

3

Coburn, Alvin Langdon: „Die Zukunft der bildmäßigen Fotografie (1916).“ In: Kemp, Wolfgang: Theorie der Fotografie II. 1912-1945. München 1999, S. 55-57, hier S. 57. Neudruck der Ausgabe München 1979.

4

Vgl. Kellein 2000a, S. 39. Vgl. auch Jäger, Gottfried: Die Kunst der Abstrakten Fotografie. In: ders. (Hrsg.): Die Kunst der Abstrakten Fotografie. Stuttgart 2002, S. 11-72, hier S. 16f.

E INLEITUNG | 15

vor allem von Bedeutung, und man sollte die Gelegenheit nutzen, um unterdrückter und unerwarteter Originalität zum Ausdruck zu verhelfen.“5

„Form und Struktur“ sind – wenn auch unter differenten Voraussetzungen – sowohl für Coburn damals als auch für Gursky heute notwendige Instrumente, den Gegenstand in den Hintergrund treten zu lassen, um so zu einem neuen Verständnis von fotografischer Realität zu gelangen. Mit den so genannten Vortographs von 1917, durch Spiegelkonstruktionen entstandenen kaleidoskopischen Bildern, suchte Coburn schließlich zielgerichtet nach abstrakten Bildern, die keine Beziehung mehr zu realen Gegenständen aufwiesen.6 Neben den Pionieren Strand und Coburn gelten die New Yorker Photo-Secession und ihre Zeitschrift ‚Camera Work‘ als maßgebliche Protagonisten der abstrakten Fotografie in Europa und Amerika.7 Die Photo-Secession wurde, in Anlehnung an die deutschen Sezessionsbewegungen, von Alfred Stieglitz 1902 als „Fotografengruppe“ bzw. später als „Ausstellungsorgan“ gegründet.8 Es folgte 1903 ‚Camera Work‘, ebenfalls von Stieglitz herausgegeben, die nicht nur die Werke und Biographien bedeutender europäischer und amerikanischer Fotografen publizierte, sondern auch sachliche Hilfe bei der Wahl von fotografischen Arbeitsmaterialien anbot. In der Zeit von 1902 bis zur Einstellung der Fotozeitschrift bzw. bis zum Abriss der ‚Little Galleries of the Photo-Secession‘ in der New Yorker Fifth Avenue Nr. 291 im Jahr 1917 findet bei Stieglitz und Mitbegründern der PhotoSecession wie Eduard J. Steichen (Newark in Ohio) und Clarence H. White (Milwaukee) sowie beim Photo-Secessionisten Coburn ein Wandel in der Auffassung des fotografischen Ausdrucks statt. Sie wenden sich ab von der durch Retusche, Gummidruck und Glycerinverfahren impressionistisch anmutenden Kunstfotografie bzw. ‚Pictorial Photography‘ und befürworten die ‚Reine Photographie‘, die zu Beginn der 20er-Jahre in die ‚Straight Photography‘ mündet. Der Umgang mit neuen Materialien und die Erprobung ausgefallener Kompositionen bringen abstrakt-linear erscheinende Fotografien her-

5

Coburn (1916) 1999, S. 57.

6

Vgl. Kellein 2000a, S. 39. Vgl. auch Jäger 2002a, S. 17.

7

Thomas Kellein belegt den Sachverhalt der Beeinflussung in seinen Studien. Vgl. Kellein 2000a, S. 33ff.

8

Ebd., S. 34.

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vor, die wesentlich dazu beitragen, der Fotografie einen von der Malerei unabhängigen spezifischen Ausdruck zu verleihen. Die Ausstellungen in der New Yorker Sezessionsgalerie ‚291‘ sind seit 1908 nicht nur durch unkonventionelle und sachliche Bildpräsentationen gekennzeichnet, sondern den Fotografien werden überdies avantgardistische Arbeiten aus der Malerei und Bildhauerei gegenübergestellt, um einerseits die Eigenständigkeit beider Kunstformen zu betonen und andererseits die Fotografie an sich als legitime Kategorie der ‚hohen Kunst‘ zu etablieren. Vom Kubismus beeinflusste Formen lösen 1911 den Piktoralismus in der Zeitschrift ‚Camera Work‘ ab; Fotografien werden gezeigt, die klaren, spitzwinkligen Bildstrukturen folgen und mit Schatten, Luftperspektiven sowie leeren Flächen spielen. In den Jahren 1916/17 wird der jüngere Paul Strand von Stieglitz in den letzten Ausgaben von ‚Camera Work‘ als Debütant vorgestellt. Seine avantgardistischen Aufnahmen weisen bereits eine dem neuen Realismus zugewandte, direkte und objektiv wirkende Bildsprache auf.9 Den 1916 von Coburn definierten Kriterien wird erst im Jahr 2000 mit der Ausstellung ‚Abstrakte Fotografie‘ in der Kunsthalle Bielefeld entsprochen.10 In der ausstellungsbegleitenden Publikation ‚Abstrakte Fotografie‘11 wird die abstrakte Fotografie erstmals ausführlich in ihrer Entwicklungsgeschichte aufgearbeitet und als der abstrakten Malerei gleichwertig dargestellt. Das Spektrum der Fotografien, die von Thomas Kellein und Angela Lampe der ‚Abstraktion‘ subsumiert werden,

9

Vgl. ebd., S. 34-36, S. 39f. Vgl. auch Newhall, Beaumont: Geschichte der Photographie. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser. München 1998, S. 166-170, S. 173-176.

10 Vgl. Jäger, Gottfried: Vorwort. In: Jäger 2002, S. 7-9, hier S. 7. 11 Kellein, Thomas; Lampe, Angela (Hrsg.): Abstrakte Fotografie. Ostfildern-Ruit 2000. Aus Anlass der Ausst. ‚Abstrakte Fotografie‘ vom 3. Dezember 2000 bis 18. Februar 2001 in der Kunsthalle Bielefeld. Mit Teilbereichen der Kunstform der abstrakten Fotografie setzte sich 1998 die von Barbara Auer im Kunstverein Ludwigshafen kuratierte Ausstellung ‚Fotografie der 50er Jahre – Zwischen Abstraktion und Wirklichkeit‘ auseinander. Thematisiert wurde die von Otto Steinert geprägte ‚subjektive Fotografie‘ mit ihren unterschiedlichen Ausformungen und Entwicklungen. Vgl. Auer, Barbara (Hrsg.): Fotografie der 50er Jahre. Zwischen Abstraktion und Wirklichkeit. Ausst.-Kat. Kunstverein Ludwigshafen am Rhein e.V. Ludwigshafen am Rhein 1998.

E INLEITUNG | 17

umfasst divergente Erscheinungsformen: Sie reichen von der ‚Wissenschaftsfotografie‘ zur ‚Straight Photography‘ über ‚Fotogramme‘ und Arbeiten der ‚Subjektiven Fotografie‘ bis hin zur ‚Digitalen Fotografie‘. Bemerkenswert ist der Umstand, dass unter den exemplarisch aufgeführten Künstlern Andreas Gursky nicht genannt und damit nicht zu den wesentlichen Vertretern der fotografischen Abstraktion gezählt wird. Trotz der großen Vielfalt an fotografischen Erscheinungsformen und Techniken, die Kellein und Lampe für die Kategorie der Abstraktion gelten lassen, scheinen die abstrakter werdenden Arbeiten Gurskys nicht ihren Auswahlkriterien entsprochen zu haben. Parallel zur Ausstellung wird die abstrakte Fotografie auf dem 21. Bielefelder Symposium über Fotografie und Medien an der Fachhochschule Bielefeld im Dezember 2000 zum Gegenstand der Untersuchung. Die Ergebnisse des Leitthemas ‚Abstrakte Fotografie: Die Sichtbarkeit des Bildes’ werden in der 2002 herausgegebenen Publikation ‚Die Kunst der Abstrakten Fotografie‘12 zusammengefasst. Beschäftigen sich die Autoren einerseits mit der Entwicklung der Abstraktion von den Pionieren bis hin zu zeitgenössischen Künstlern, diskutieren sie andererseits auch die theoretische Leitfrage „Was ist Abstrakte Fotografie? Was könnte Abstrakte Fotografie sein? Gibt es Abstrakte Fotografie überhaupt?“13 Auf die Debatte wird zu einem späteren Zeitpunkt in dieser Arbeit ausführlich eingegangen, um den Definitionsrahmen für das Werk Gurskys festzulegen. Es sei jedoch an dieser Stelle bereits betont, dass es keinen Konsens darüber zu geben scheint, welcher Eingrenzungen es innerhalb der Fotografiegeschichte bedarf, um tatsächlich von einem klar definierten Subbereich der Fotografie sprechen zu können – eine Erklärung womöglich auch dafür, warum Gursky keine explizite Würdigung in den Besprechungen von Kellein und Lampe erfahren hat. Die Diskussion um die abstrakte Fotografie verweist auf das stets aktuelle Thema der Bildeinteilung. In den vergangenen Jahrzehnten ist bereits eine Vielzahl theoretischer Ansätze aufzufinden, mit denen versucht wird, die diversen Bildarten innerhalb der Fotografie zu charakterisieren und zu unterscheiden. Als beispielhafte Vertreter seien

12 Jäger, Gottfried (Hrsg.): Die Kunst der Abstrakten Fotografie. Stuttgart 2002. 13 Jäger, Gottfried: Vorwort. In: Jäger 2002, S. 7.

18 | DIE K ONSTITUTION DER D INGE

hier J.A. Schmoll gen. Eisenwerth und Gottfried Jäger genannt. Schmoll gen. Eisenwerth teilt in seinem Vortrag ‚Zum Spektrum der Fotografie‘ von 1979 die Fotografie in die Bereiche „Abbild, SinnBild und Bildstruktur“14 ein. Gottfried Jäger modifiziert diese Kategorien 1988 in seiner Typologie zu „Abbilder, Sinnbilder und Strukturbilder“15. Verbunden sind damit die jeweiligen Ziele der fotografischen „Aneignung, Vermittlung und Schaffung von ›Wirklichkeit‹“, die sich u.a. in den Bereichen der „abbildende[n]“/„dokumentierende[n]“, „subjektive[n]“/„kommentierende[n]“ und „schöpferischen“/ „abstrakten“ Fotografie widerspiegeln.16 Das steigende Interesse der Künstler und Historiker des 20. Jahrhunderts, die Fotografie mit der Abstraktion zu verbinden bzw. phänomenologische Klassifizierungen von ‚Abstraktion‘ in der Fotografie zu finden, und die damit verbundenen definitorischen Schwierigkeiten unterstreichen das Motiv dieser Arbeit, der Frage nach der Abstraktion an einem konkreten Beispiel der Fotografie – dem Werk von Andreas Gursky – nachzugehen. Für diese Untersuchung sind ein differenzierter Fragenkatalog und eine polymorphe Methode vorgesehen, die im folgenden Kapitel vorgestellt werden.

2. F RAGESTELLUNG UND M ETHODIK Zur Erhellung der Abstraktionsparadigmen im Werk von Andreas Gursky sind konstante Leitfragen erforderlich, welche die Werkanalyse methodisch fundieren:

14 Schmoll gen. Eisenwerth, J.A.: Zum Spektrum der Fotografie: Abbild, Sinn-Bild und Bildstruktur. Festvortrag beim Festakt ‚75 Jahre Verband der Deutschen Photographischen Industrie‘ in Verbindung mit dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Photographie (‚Berlin und die Photographie‘) im Internationalen Congress Center Berlin am 18. Mai 1979. Abgedruckt in: ders.: Vom Sinn der Photographie. Texte aus den Jahren 1952-1980. München 1980, S. 236-244. 15 Jäger, Gottfried: Fotografik - Lichtgrafik - Lichtmalerei. Bildgebende Fotografie. Ursprünge, Konzepte und Spezifika einer Kunstform. Köln 1988, S. 111-114. 16 Ebd., S. 111-114. Vgl. ausführlicher Kap. II.1, S. 43.

E INLEITUNG | 19

Um die Abstraktionsphänomene im Werk Gurskys zu entschlüsseln, bedarf es im Vorfeld einer Erschließung der Bedeutung und Entwicklung des Abstraktionsbegriffs in der Fotografiegeschichte bis hin zur Fotografiedebatte der Gegenwart. Zudem werden die Bedeutungsschichten und Implikationen unter philosophischen und kunsttheoretischen Aspekten beleuchtet. Geklärt werden muss, welche Definition von ‚Abstraktion‘ geltend gemacht und am Werk Gurskys erarbeitet werden kann. Dabei wird auch die Möglichkeit einer instrumentellen Erweiterung überdacht: Dafür bieten sich die strukturellen Ausdrucksvarianten des Ornamentalen und des Ornaments an, da mit diesem Formvokabular ein größeres Spektrum der auf die Abstraktion bezogenen Erscheinungsweisen sprachlich erfasst werden kann. Die Anwendungen sollen zeigen, auf welche Weise sich innerhalb der Werkgenese abstrakte Formalisierungsprozesse darstellen, zudem ob sie partiell in Erscheinung treten oder ob eine kontinuierliche Abstraktionssteigerung in den Arbeiten Gurskys stattfindet. Gurskys Fotografien bewegen sich zwischen den Polen Abbild und Abstraktion. Zur genaueren Bestimmung dieser Relation bedarf es nach der Definitionsklärung einer Einteilung der für die Untersuchung exemplarisch ausgewählten Werke, die zwischen 1984 und 2001 entstanden sind. Dabei wird das Ende des Untersuchungszeitraums durch die Retrospektive im Museum of Modern Art New York – den ersten Höhepunkt in der öffentlichen Rezeption von Gurskys Œuvre – markiert. In der vorliegenden Arbeit werden drei Strukturkategorien entwickelt, die unterschiedliche und eventuell aufeinander aufbauende Formalisierungsgrade veranschaulichen sollen. Es handelt sich dabei jedoch nicht um ein starres Gerüst, sondern um ein orientierendes Gefüge, das gleichwohl bildnerische Ausnahmen zulässt. Die Untersuchung der Abstraktion im Œuvre Gurskys ermöglicht zugleich dessen neue Strukturierung, die sich nicht nur von den in der Forschungsliteratur aufgeführten Motivkomplexen Natur, Mensch, Freizeit oder Industrie abgrenzt, sondern auch einen kritischen Standpunkt zur epochen- und genrespezifischen Zuordnung in die Kunstgeschichte einnimmt. Innerhalb sogenannter Intermezzi – Zwischenkapitel, die sich in den einzelnen Strukturkategorien der formalen und inhaltlichen Analyse der Bilder Gurskys anschließen – wird festzustellen sein, welche Kriterien im Bildaufbau, in der Bildstruktur und im Bildthema einen Vergleich mit der Kunstgeschichte tatsächlich fruchtbar machen. Von Interesse ist überdies der Vergleich mit Pionieren und

20 | DIE K ONSTITUTION DER D INGE

Zeitgenossen der Fotografie, deren Arbeiten gleichartige Kompositionen oder Abstraktionsphänomene aufweisen. Die Geschichte der Fotografie als bedeutender Einflussgröße, die immer schon im Dialog zur Malerei stand, darf nicht außer Acht gelassen werden. Mit der Frage nach der formalen Abstraktion kristallisiert sich die Frage heraus, ob und – wenn ja – inwieweit Gurskys Werk einer historisch gewachsenen und angereicherten Bildwahrnehmung unterliegt. Zugleich werden dadurch Gegensätze und Parallelen im Verständnis von Abstraktion in der Geschichte der Fotografie und in jener der Malerei aufgezeigt. Neben der formalen Erschließung eröffnet sich zugleich der zweite Fragenkomplex, ob nämlich hinsichtlich eines ‚formaler und abstrakter‘ werdenden Œuvres auch den Inhalten der Bilder eine aufeinander aufbauende Entwicklung zukommt und sich davon womöglich ein konsistenter Bedeutungsfaden ableiten lässt. Es wird zu analysieren sein, inwieweit – auf die einzelne Fotografie und auf das gesamte Werk bezogen – die Formalisierungsprozesse mit den inhaltlichen Bildaussagen korrespondieren und welche Rolle dabei der Rezipient einnimmt. Letzteres wird unter verschiedenen Prämissen beleuchtet: So wird die Perspektive des Rezipienten untersucht, auf den die Abstraktionsstrukturen einwirken. Dabei wird zu erläutern sein, welche Bildfindungs- und Bildproduktionstechniken Gursky im Dienst seiner Wirkungsabsicht einsetzt und ob die Abstraktion überdies von den Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung, die Gursky seit 1992 neben dem analogen Aufnahmeverfahren in Anspruch nimmt, beeinflusst wird und sich dadurch Besonderheiten in der Rezeption eröffnen. Es ist somit dem Spannungsverhältnis und der Interaktion zwischen ‚Bildschaffung‘ und ‚Betrachterwirkung‘ nachzugehen. Der Werkanalyse folgen, mit Blick auf die Ergebnisse dieser Arbeit, im Kapitel IV die Reflexionen über Gurskys Position in der Fotografiegeschichte, über das Verhältnis zwischen Fotografie, Malerei und Digitalisierung sowie über die analytische Gesamtbilanz. Als übergeordnetes Interpretationsverfahren bietet sich die kunstgeschichtliche Hermeneutik an, da sie gleichermaßen auf die formalen und inhaltlichen Aspekte des Kunstgegenstandes eingeht sowie auch kontextuelle und historische Bedingungen erörtert. Dem Vier-Stufen-

E INLEITUNG | 21

Modell Oskar Bätschmanns17 folgend, werden die Arbeiten Gurskys innerhalb der Abstraktionskategorien im ‚Einstieg‘ auf ihre formale und inhaltliche Sichtbarkeit hin untersucht sowie auf Unklarheiten und Widersprüche befragt. Innerhalb der ‚Analytik‘ findet zunächst ein Vergleich mit der vorliegenden Forschungsliteratur und persönlichen Äußerungen des Künstlers statt. Wo es sich als angemessen und sinnvoll erweist, werden bildliche Traditionen und Motivänderungen innerhalb der Fotografie- und Kunstgeschichte eruiert und Stil-Charakterisierungen vorgenommen. Außerdem werden im Hinblick auf die künstlerische Produktion die zeitspezifischen Einflüsse bzw. die kulturellen Referenzen erörtert. Es schließen sich dann die ‚Kreative Abduktion‘ und die ‚Validierung‘ mit einer Erschließung der Bedeutungszusammenhänge und einer interpretatorischen Absicherung an. Das interpretierende Vorgehen im Sinne der kunstwissenschaftlichen Hermeneutik trägt erstens dazu bei, den einzelnen Kunstwerken Gurskys gerecht zu werden. Zweitens kann sie innerhalb der Werkeinteilungen Veränderungen und Entwicklungen im Gesamtwerk aufzeigen. Um den spezifischen Untersuchungsmerkmalen besonderes Gewicht zu verleihen, werden weitere Analyse-Methoden berücksichtigt, welche das hermeneutische Vorgehen ergänzen. Grundlage für die Erschließung der komplexen Bildzusammenhänge ist demnach ein formalistischer Ansatz, der es ermöglicht, im Bereich der Formanalyse eine etwaige Entwicklung abstrakter Bildformen zu konstruieren und daraus Strukturgesetze abzuleiten. Im Bereich der Stilanalyse lassen sich charakteristische und zeitgemäße Ausdrucksweisen Gurskys definieren. Die Ergebnisse werden in rezeptionsgeschichtlichen Vergleich gestellt, um die Wiederaufnahme von und das Interesse an bestimmten Motiven und Bildstrukturen zu erörtern sowie die Gemeinsamkeiten und Differenzen aufzuzeigen. Ein rezeptionsästhetischer Ansatz erweist sich schließlich als sinnvoll, um die Funktion des Betrachters in den Arbeiten Gurskys zu hinterfragen. Gemeint sind die gestalterischen Vorgaben wie Personen, Perspektiven und Erscheinungen des Werkes an sich, die den Betrachter zum Bild situieren und zur Rezep-

17 Bätschmann, Oskar: Anleitung zur Interpretation: Kunstgeschichtliche Hermeneutik. In: Kunstgeschichte – Eine Einführung. Hrsg. von Hans Belting, Heinrich Dilly, Wolfgang Kemp, Willibald Sauerländer und Martin Warnke. 3. durchges. u. erw. Aufl. Berlin 1988, S. 191-221.

22 | DIE K ONSTITUTION DER D INGE

tion animieren. Der Grad der „innerbildlichen Kommunikation“18 wird unter Berücksichtigung der Anteilnahme des Betrachters und sozialgeschichtlicher wie auch ästhetischer Aspekte zu analysieren sein.

3. L ITERATURBERICHT Die zahlreichen Besprechungen zum Werk von Andreas Gursky finden sich im Wesentlichen in den Ausstellungskatalogen. Eine genuin wissenschaftliche Veröffentlichung, die speziell Gursky gewidmet ist, existiert bislang noch nicht. In den Katalogtexten liegen also wissenschaftliche Besprechungen vor, denen durch den Rahmen der jeweiligen Ausstellung enge Grenzen gesetzt sind, so dass wichtige Aspekte nur angesprochen, aber nicht grundlegend analysiert werden können. Eine erste umfangreiche Zusammenschau über die Werkgenese Gurskys hat Peter Galassi19 geleistet. Anlass ist die von Galassi kuratierte Ausstellung ‚Andreas Gursky‘ im New Yorker Museum of Modern Art im Jahr 2001 gewesen, eine große Retrospektive, dem Künstler bereits im Alter von 46 Jahren gewidmet. Ausführlich beschreibt Galassi das Hineinwachsen Gurskys in die Fotografieszene der 70er- und 80er-Jahre, erarbeitet die anfängliche Beeinflussung und spätere Befreiung des Fotografen von der typologischen Methode seiner Lehrer Bernd und Hilla Becher an der Düsseldorfer Akademie und analysiert die Motiv- und Stilentwicklung sowie die Arbeitsmethode des Künstlers. Galassi möchte seine Untersuchung als Beginn und Anregung zu weitergehenden Untersuchungen von „künstlerischen Kontexten und Ursprüngen“20 verstanden wissen. In diesem Zusammenhang kritisiert er in seinem mit einer umfassenden Bibliographie schließenden Beitrag den damaligen Forschungsstand: Die bis dato erschienene Literatur bringe die mit der Malerei vergleichbaren Momente in Gurskys Fotografie nur im Ansatz zur Sprache, ohne sie einer dezidierten Analyse zu unterziehen. Vergleichsbeispiele würden lediglich aufgrund formaler Ähnlichkeiten herangezogen, die jeweiligen In-

18 Kemp, Wolfgang: Kunstwerk und Betrachter: Der rezeptionsästhetische Ansatz. In: Belting et al. 1988, S. 240-257, hier S. 246. 19 Galassi, Peter: Andreas Gursky. Ausst.-Kat. The Museum of Modern Art, New York. Ostfildern-Ruit 2001. 20 Ebd., S. 7.

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halte, ihr kontextueller und historischer Zusammenhang sowie ihre Auswirkungen auf die Rezeption würden jedoch nicht weiter verfolgt.21 Dieser Umstand dürfte die Ursache dafür sein, dass die Autoren der Katalogtexte kaum voneinander abweichende Positionen vertreten und sich auf wenige stereotype Selbstkommentierungen Gurskys berufen.22 Dennoch bieten die zahlreichen Beiträge der Ausstellungen (z.B. Kunstmuseum Wolfsburg 1998, Kunsthalle Düsseldorf 1998, Tate Gallery Liverpool 1995, Portikus Frankfurt am Main 1995, Deichtorhallen Hamburg 1994, Museum Haus Lange 1989) und Kunstzeitschriften (z.B. Art. Das Kunstmagazin 2001, Parkett 1995, Artis 1995) einen wertvollen Fundus von Einzelanalysen, Interpretationen und Werkeinteilungen. In Anbetracht der von mir anvisierten Untersuchung sind folgende Katalogbeiträge hervorzuheben: Rudolf Schmitz (Deichtorhallen Hamburg 1994) spricht am Beispiel ausgewählter Arbeiten typische Stilmerkmale Gurskys an und leitet allgemeine Tendenzen für das bis dahin vorhandene Gesamtwerk ab. Neben einer von Gursky neu bewerteten ‚Totalen‘, der Prägung seiner Fotografien durch das kollektive Bildgedächtnis und seinem Hang zu ‚scheinbaren Widersprüchen‘ erwähnt Schmitz das Oszillieren der Werke zwischen einer abbildenden Realitätsnähe und einer formalen Fülle, die durch Strukturen bzw. serielle Bildelemente definiert wird und den Betrachter auf einer Ebene der Abstraktion vom

21 Vgl. ebd., S. 31. 22 „Die Wohnmaschine vom Bahnhof Montparnasse erweckt Assoziationen an die Farbtafelbilder von Gerhard Richter, [...]. [...] Der neutrale Himmel auf manchen von Gurskys Fotografien erinnert mich an die leicht oder gar nicht grundierte Leinwand, wie sie der amerikanische Maler Robert Ryman zur Erdung seiner Bilder gebraucht. [...] Andreas Gurskys Fotografie eines grauen Teppichbodens hat nichts mit Hoffnungslosigkeit zu tun. Auch handelt es sich nicht um das Verlangen nach Tabula rasa. Aber ähnlich wie bei dem Maler [Grauvermalungen Gerhard Richters] könnte davon eine Kur der Vorstellungskraft ausgehen, die zur Auffächerung bildnerischen Ausdrucks und andersartiger Spannkraft des Werks führen dürfte.“ Schmitz (Deichtorhallen Hamburg 1994, S. 14). „Das Resultat dieses Bildes, ein monochromes graues Farbfeld, das nicht von ungefähr an die grauen Farbtafeln von Gerhard Richter erinnert, [...].“ Syring (Kunsthalle Düsseldorf 1998, S. 5).

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Gegenstand wegleitet. Bedeutsam ist, dass Schmitz für die Ausdrucksfülle im Werk Gurskys den Begriff des Ornaments heranzieht, diesen jedoch nicht zum Ausgangspunkt einer umfassenden Analyse macht. Wie zu Beginn erwähnt, soll in der vorliegenden Untersuchung die Verbindung von Ornament und Abstraktion als stilbildende Erscheinungsform in Betracht gezogen werden. Greg Hilty (Tate Gallery Liverpool 1995) teilt die Fotografien des Künstlers erstmals in thematische Gruppen wie ‚Menschen‘, ‚Schauplätze‘, ‚Fassaden‘, ‚Innenräume‘ etc. ein. Der Aufsatz besticht durch eine konsequente Beschreibung und Kategorisierung der einzelnen Werke – formaler Bildeigenschaften und inhaltlicher Korrespondenzen – sowie ihrer Intentionen. Marie Luise Syring (Kunsthalle Düsseldorf 1998) verfolgt in ihrem Beitrag die das Werk prägenden Abstraktionsphänomene wie Allover-Strukturen und horizontale Bildkompositionen. Zudem deutet sie nicht nur das Verhältnis der Fotografien zur Malerei bzw. zur Kunst des 20. Jahrhunderts an, sondern auch zur Alltagsästhetik einer konsumorientierten Gesellschaft. Im selben Katalog äußert sich Rupert Pfab zur digitalen Bearbeitung einiger Fotografien und der damit verbundenen Irritation des Betrachters, der das Abgebildete nicht mehr mit der ihm bekannten Realität in Einklang bringen könne. Pfab erläutert dabei die Möglichkeiten der Fotografie, die an die Wirklichkeit und zugleich an ein künstliches Konstrukt gebunden sei. Dabei erwähnt er erstens den aus der Malerei gewohnten aktiven Gestaltungsvorgang, der Eingang in die neuen Medien gefunden habe, zweitens die Nähe zu kompositorischen Strategien der Malerei und drittens die unmittelbare Auseinandersetzung mit der Malerei, wenn diese selbst zum Bildgegenstand wird. Lynne Cooke greift diesen Aspekt ebenfalls auf und bespricht die beiden Fotografien Gurskys, in denen Werke von Pollock und Turner zum Thema wurden. In Erweiterung von Syring konkretisiert sie die fotografischen Techniken der Vogelperspektive und des horizontalen Bildaufbaus, die zur „Formalisierung und Abstraktion“23 bei Gursky führen.

23 Cooke, Lynne: Andreas Gursky: Visionäre (Per)Versionen. In: Syring, Marie Luise (Hrsg.): Andreas Gursky. Fotografien 1984 bis heute. Ausst.Kat. Kunsthalle Düsseldorf. München, Paris, London 1998, S. 13-17, hier S. 14.

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Annelie Lütgens (Kunstmuseum Wolfsburg 1998) beschäftigt sich im Rahmen ihres Beitrags ebenfalls mit der Abstraktion in den Werken Gurskys: erstens in der Auseinandersetzung mit den seriellen, horizontalen Bildelementen am Beispiel der Architekturaufnahmen und der Aufnahmen von Warenregalen, zweitens im Hinblick auf das Ornament in jenen Fotografien, die All-over-Strukturen – z.B. Menschenmassen – zum Thema haben. Entsprechend lautet ihre Textüberschrift: „Der Blick in die Vitrine oder: Schrein und Ornament“. Mit Schrein und Ornament sind einerseits übergeordnete Kompositionsmerkmale, andererseits Formen der erhabenen Präsentation gemeint. Lütgens unternimmt damit einen durchaus bedeutsamen Versuch, den Abstraktionsphänomenen bei Gursky auf die Spur zu kommen; allerdings zeigt sich – wie auch bei den anderen Autoren –, dass es sich lediglich um Analyseansätze handelt, denen kein wissenschaftliches Fundament beigegeben wurde. Aufgrund der selektiven Bildbesprechung können zudem weder Rückschlüsse auf das Gesamtwerk gezogen noch konsistente Entwicklungslinien dargelegt werden. Bildet das Jahr 2001 im öffentlichen Diskurs über Gurskys Œuvre einen ersten Höhepunkt, so werden dem Fotografen sechs Jahre später erneut umfangreiche Werkschauen in München (Haus der Kunst) und Basel (Kunstmuseum) zuteil, denen 2008 zwei weitere Ausstellungen in Darmstadt (Institut Mathildenhöhe) und Krefeld (Kunstmuseum, Haus Lange und Haus Esters) folgen. Während sich der Münchner Kurator Thomas Weski weitgehend auf das Abbilden der von Andreas Gursky selbst ausgewählten Werke beschränkt und Martin Hentschel für das Krefelder Kunstmuseums ebenfalls gemeinsam mit dem Künstler die zwischen 1980 und 2008 entstandenen Werke enzyklopädisch zusammenstellt, richten die Beiträge des Kunstmuseums Basel das Augenmerk erstmals ausführlich auf zwei ausgewählte Bildserien – ‚F1 Boxenstopp‘, 2007 und ‚Pyongyang‘, 2007. Die Autoren Beate Söntgen und Nina Zimmer beziehen in ihre Analysen sinnstiftend fotound kunsthistorische Vorbilder ein und legen die Bedeutung früherer Bildstrategien für die gegenwärtige Rezeption dar. Zudem diskutiert Zimmer den Begriff ‚Ornament der Masse‘ von Siegfried Kracauer zum ersten Mal im ursprünglichen Sinne, sieht das Ornament jedoch nicht als strukturbildendes Paradigma für die formal-ästhetische Analyse des Gesamtwerks Gurskys. 2008 begibt sich Ralf Beil (Mathildenhöhe, Darmstadt) in seinem Beitrag auf eine umfangreiche Suche nach den fotografischen Standorten Gurskys, um die Architektur-

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Fotografien als komponierte und digital manipulierte Bilder zu entlarven. Für denselben Katalog beschreibt Francesca Ferguson anhand einiger Bildbeispiele schließlich Gurskys Anliegen, den Betrachter mit den visuellen Codes einer Gesellschaft im urbanen Zeitalter zu konfrontieren. Die Katalogbeiträge unterscheiden sich von jenen aus den Jahren vor der ersten Retrospektive darin, dass einzelne Werke nicht nur formal, sondern inhaltlich im gegenwärtigen und historischen Kontext sowie rezeptionsästhetisch untersucht werden. Ausführliche Interviews von Tim Ackermann (Welt am Sonntag 2010), Nancy Tousley (Canadianart 2009), Guy Lane (Art World Magazine 2009), Susanne Beyer und Ulrike Knöfel (Der Spiegel 2007), Florian Illies (Monopol 2007), Michael Krajewski (Kunst-Bulletin 1999), Heinz-Norbert Jocks (Kunstforum International 1999), Andreas Reiter Raabe (Eikon 1997) und Bernhard Bürgi (Katalog Kunsthalle Zürich 1992) sowie der Briefwechsel zwischen Gursky und Veit Görner (Kunstmuseum Wolfsburg 1998) enthalten zahlreiche Anhaltspunkte zur fotografischen Ausbildung, zum Arbeitsverfahren und fotografischen Konzept Gurskys. Das Gespräch zwischen Gursky und Bürgi liefert im Jahr 1992 erste kurze Bildbesprechungen und umfangreiche Kommentierungen zur fotografischen Methode und Motivwahl, zum Umgang mit dem Verhältnis von Fotografie und Wirklichkeit, zu den Prozessen der Formalisierung und Strukturierung des Motivs sowie zur thematischen Bedeutung von Natur und Mensch und deren Korrespondenz mit Motiven aus der Kunstgeschichte. Im Briefwechsel mit Veit Görner äußert sich Gursky selbst zur fotografischen Technik und Bildfindung, deren Möglichkeiten durch die digitale Bildbearbeitung erweitert worden seien. Vor allem spricht Gursky die zunehmenden Abstrahierungen in seinen Bildern an, die eine veränderte Rezeptionshaltung des Publikums erzeugen könnten – Anmerkungen, welche die Beiträge zum Düsseldorfer Katalog maßgeblich beeinflusst haben dürften. Die umfangreiche Befragung durch Heinz-Norbert Jocks ist zunächst auf die Biographie Gurskys gerichtet: wie er zur Fotografie gekommen sei und unter welchen gesellschaftlichen und fotografischen Einflüssen er das Studium absolviert habe. Überdies werden seine ersten Landschaftsaufnahmen thematisiert, die Entstehung seiner Bilder und die Themenwahl hinterfragt, der Umgang mit dem Computer erläutert und der Bezug zur abstrakten Malerei hergestellt. Die jüngsten Interviews von Guy Lane, Nancy Tousley und Tim Ackermann geben schließlich Auskunft über Gurskys digitale Montage- und

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Bearbeitungstechniken sowie über die Zitierung uneigener oder computergenerierter Motive, die seinen komplexen Bildkonstruktionen zugrunde liegen. Neben den Einzelkatalogen gibt es eine Vielzahl an Gruppenkatalogen24, die sich mit Einzelanalysen und ästhetischen Entwicklungen Gurskys auseinandersetzen. Perspektivenreiche Ansätze liefert der Beitrag von Stefan Gronert (Große Illusionen, Kunstmuseum Bonn 1999), der seinen Aufsatz zu Gursky mit ‚Verführung der Wirklichkeit. Abstraktion bei Andreas Gursky‘ betitelt. Er spricht sowohl den ästhetischen Reiz, die Schönheit und Verführungskraft der Fotografien an als auch das Phänomen der Formalisierung als Geometrisierung. Neben der formalen Abstrahierung versucht er überdies in ausgewählten Bildbeispielen eine allgemeine Bildaussage zu identifizieren – dadurch dass spezifische Themen und Motive Gurskys als universale Paradigmen aufgefasst werden. Gronerts Ansatz, erprobt an exemplari-

24 U.a.: Click Doubleclick. Das dokumentarische Moment. Hrsg. v. Thomas Weski. Ausst.-Kat. Haus der Kunst, München. Köln 2006; Zwischen Wirklichkeit und Bild. Positionen deutscher Fotografie der Gegenwart. Hrsg. v. Rei Masuda. Ausst.-Kat. National Museum of Modern Art, Tokyo 2005; Cruel and Tender. The Real in the Twentieth-Century Photograph. Hrsg. v. Emma Dexter und Thomas Weski. Ausst.-Kat. Tate Modern, London 2003; Zwischen Schönheit und Sachlichkeit. Boris Becker, Andreas Gursky, Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Ruff, Thomas Struth. Hrsg. v. Achim Sommer. Ausst.-Kat. Kunsthalle Emden 2002; Ansicht Aussicht Einsicht. Andreas Gursky, Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Ruff, Thomas Struth. Architekturphotographie. Hrsg. v. Monika Steinhauser. Ausst.-Kat. Museum Bochum; Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig. Düsseldorf 2000; Große Illusionen. Thomas Demand, Andreas Gursky, Edward Ruscha. Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bonn; Museum of Contemporary Art North Miami. Köln 1999; Räume: Lucinda Devlin, Andreas Gursky, Candida Höfer. Ausst.-Kat. Kunsthaus Bregenz. Köln 1999; Landschaften. Michael Bach, Andreas Gursky, Axel Hütte, Michael van Ofen, Andreas Schön. Hrsg. v. Raimund Stecker. Ausst.-Kat. Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf 1997; Distanz und Nähe. Fotografische Arbeiten von Bernd und Hilla Becher, Andreas Gursky, Candida Höfer, Axel Hütte, Simone Nieweg, Thomas Ruff, Jörg Sasse, Thomas Struth, Petra Wunderlich. Hrsg. v. Wulf Herzogenrath. Ausst.Kat. Institut für Auslandsbeziehungen, Berlin 1992.

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schen Bildern, wird in dieser Arbeit auf das Gesamtwerk Gurskys übertragen: So werden die formalen Abstrahierungen kritisch geprüft und kategorisiert; darüber hinaus wird untersucht, inwiefern eine über das konkrete Bildmotiv hinausweisende zweite Sinnebene, eine metamotivliche Bildidee, für Gurskys Fotografien charakteristisch ist. Kai-Uwe Hemken (Ansicht Aussicht Einsicht, Museum Bochum, Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig 2000) äußert sich hinsichtlich der Problemstellung analoge vs. digitale Fotografie zu einigen Werken von Andreas Gursky und Thomas Ruff. Das digitale ‚Bildermachen‘ sieht er als Instrument, um Wirklichkeit im Bild zu manipulieren und durch diese Manipulation zu einer kraftvolleren – konzentrierten – Bildaussage zu gelangen. Eine formale Abstraktion führe dazu, dass Gurskys Fotografien zwischen Dokument und Bild changieren. Zudem könnten Bildthemen wie das der Börse oder des Schwimmbades aus der Perspektive der Formalisierung und der visuellen Verdichtung als „Spurensicherung“ der modernen Massen- und Mediengesellschaft betrachtet werden. Die Filme ‚Andreas Gursky. Das globale Foto‘ (Pars Media, 2009), ‚Gursky World‘ (Channel 4, GB, 2002) und ‚Andreas Gursky und Thomas Ruff‘ (arte, D/F, 1999) sowie der Radiobeitrag25 auf WDR 5 von 2003 zur Entstehung eines Großfotos im Fotolabor Grieger, Düsseldorf, geben schließlich wichtige Informationen zur künstlerischen Produktion. Rupert Pfab gehört zu den ausgewiesenen Kennern der Fotografen, die bei Bernd und Hilla Becher an der Düsseldorfer Akademie in den 70er- und 80er-Jahren gelernt haben. In seiner Dissertation ‚Studien zur Düsseldorfer Photographie. Die frühen Akademieschüler von Bernd Becher‘, die 1999 abgeschlossen und 2001 veröffentlicht wurde, arbeitet Pfab die fotografischen Positionen von Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Struth, Thomas Ruff und Andreas Gursky heraus. Leitfrage dabei ist erstmals ausführlich, inwieweit „die Studenten das Konzept ihrer Lehrer rezipiert und in welcher Weise sie sich davon

25 „Scala, das Kulturmagazin von WDR 5, stellt die Entstehung eines Großfotos und die Weiterverarbeitung im Diasec®-Verfahren anhand eines Motivs von Fotokünstler Andreas Gursky vor.“ In: Grieger GmbH & Co KG Fotolaboratorien/Grieger News. Siehe http://www.grieger-online.de vom 18.06.2004. Die Sendung von Claudia Dichter wurde am 17. September 2003 ausgestrahlt.

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abgegrenzt haben.“26 In der Einzelanalyse zu Andreas Gursky entspricht Pfabs analytisches Vorgehen jedoch weitgehend der Methode der vorangegangenen Literatur: Er geht über eine thematische Ordnung des Werkes nicht hinaus, erweitert in Beschreibung und Interpretation das vorhandene wissenschaftliche Material nur geringfügig und führt typische Stilmerkmale sowie Vergleiche aus der Fotografie- und Kunstgeschichte an, ohne sie differenzierter zu untersuchen. Die Aspekte der Formalisierung und Abstraktion stehen in den Katalogtexten und Interviews sowie in den Beiträgen der Kunstzeitschriften bisher nur in Ansätzen zur Diskussion. Eine grundsätzliche Untersuchung und stringente Überprüfung dieser bildsprachlichen Muster steht noch aus. Die vorliegende Arbeit soll dieser Forderung nachgehen und damit als Versuch und Beitrag verstanden werden, das gesamte Werk Gurskys einer einheitlichen, möglichst konsequenten Deutungshypothese auf formaler und inhaltlicher Ebene zu unterwerfen. Bevor es nun zu einer Annäherung an das Phänomen der Abstraktion in der Fotografie am Beispiel der Werke von Andreas Gursky kommt, werden zum besseren Verständnis im folgenden Kapitel die Phasen seiner fotografischen Ausbildung dargelegt.

4. Z UR P ERSON G URSKY Andreas Gurskys Weg zur künstlerischen Fotografie ist von drei Ausbildungssequenzen geprägt. Die erste Phase ist bereits in seiner Kindheit zu finden, da er sich häufig im Düsseldorfer Werbestudio seiner Eltern aufhielt.27 Gursky wächst somit in einem unmittelbar durch die

26 Pfab, Rupert: Studien zur Düsseldorfer Photographie. Die frühen Akademieschüler von Bernd Becher. Weimar 2001, S. 15. Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1999. 27 Andreas Gursky wird 1955 in Leipzig geboren. Seine Eltern Rosemarie und Willy Gursky ziehen noch im selben Jahr mit ihm nach Essen und zwei Jahre darauf in das nahe gelegene Düsseldorf. Der Berufsfotograf Willy Gursky – sein Vater Hans ging bereits derselben Tätigkeit nach, jedoch als Industrie- und Strandfotograf – trifft im wirtschaftlichen Aufschwung des Westens auf einen guten Nährboden für sein Fotoatelier. Gursky stand als Kind seinem Vater für diverse Werbeaufnahmen mehr-

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Fotografie geprägten Umfeld auf; er lernt sowohl das fotografische Handwerk als auch die Methoden der kommerziellen Fotografie kennen. Als junger Mann verweigert er sich der aus seiner Sicht allzu materialistisch orientierten Konsumgesellschaft, boykottiert damit auch sein Elternhaus und fühlt sich zunächst zum Beruf des Sozialpädagogen oder Psychologen hingezogen.28 Die zweite Ausbildungssequenz beginnt 1977/78 mit Eintritt in den Fachbereich Fotografie der von Otto Steinert gegründeten Essener Folkwangschule. Steinert vertrat die ‚subjektive fotografie‘, die er 1951 selbst begründet hatte und die – unter demselben Namen – in drei Ausstellungen zwischen 1951 und 1958 namhaft wurde. Die ‚subjektive fotografie‘ ging aus der Gruppe ‚fotoform‘29 hervor, welche – wie der Name ausdrückt – die Form im Bildmotiv betonte. Sie kann als eine „Art Sezession“ verstanden werden, im Gegensatz zur Nachkriegsfotografie, die noch sentimentale Mutter-Kind-Szenen und Landschaften sowie ein „heroisierendes Menschenbild“ ablichtete.30 Im Gegensatz zu

fach Modell. Vgl. Jocks, Heinz-Norbert: „Andreas Gursky: ‚Das Eigene steckt in den visuellen Erfahrungen‘. Ein Gespräch von Heinz-Norbert Jocks.“ In: Kunstforum International, Bd. 145, Mai-Juni 1999, S. 248-265, hier S. 249. Vgl. auch Galassi 2001, S. 12. 28 Gurskys Kindheit bzw. Jugend fällt in die Studentenproteste Ende der 1960er Jahre. Die vom RAF-Terrorismus geprägte BRD erlebt er im Alter von Anfang zwanzig. Vgl. Galassi 2001, S. 12. Vgl. auch Jocks 1999, S. 249-251. 29 Die Gruppe ‚fotoform‘ wurde als Gegenprojekt zur Ausstellung in Neustadt 1949 von Wolfgang Reisewitz gegründet. Der Fotograf Reisewitz organisierte im Auftrag der französischen Besatzer anlässlich einer Wirtschaftsmesse eine Fotografieausstellung. Die beteiligte Jury lehnte jedoch einen Teil seiner Vorschläge ab. Daher organisierte Reisewitz für die abgelehnten sechs Fotografen (Peter Keetman, Siegfried Lauterwasser, Toni Schneiders, Ludwig Windstoßer und Otto Steinert) eine zusätzliche Ausstellung, die schließlich zusammen die Gruppe ‚fotoform‘ bildeten. Vgl. Auer, Barbara: „Die Fotografie ist ein äußerst spannendes Medium, ungeheuer vielseitig, flexibel und sicherlich noch lange nicht ausgelotet.“ Ein Gespräch zwischen Prof. Dr. J.A. Schmoll gen. Eisenwerth und Barbara Auer am 29. Juli 1998 in München. In: Auer 1998, S. 7-18, hier S. 11. 30 Schmoll, gen. Eisenwerth, im Gespräch mit Barbara Auer: ebd., S. 11, S. 12.

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‚fotoform‘ avancierten die ‚subjektive fotografie‘ und die damit verbundenen Ausstellungen zu internationaler Bedeutung. Otto Steinert präsentierte 1951 in Saarbrücken avantgardistische Arbeiten von Fotografen wie László Moholy-Nagy, Herbert Bayer und Man Ray der 20er-Jahre, um die Tradition der experimentellen Fotografie aufzuzeigen. Überdies vertrat er Fotografen, die sich den Zielen von ‚fotoform‘ anschlossen und im Gegensatz zur vermeintlich objektiven Fotografie, im Sinne der Dokumentations- und Sachfotografie, eine experimentelle, surreale oder abstrahierende Fotografie anstrebten − ihren Arbeiten also bewusst einen subjektiven, persönlichen Ausdruck verliehen. Die ‚neue Fotografie‘ der 20er-Jahre zeichnet sich dadurch aus, dass mit dem Medium der Fotografie erstmals experimentiert wurde und verschiedene Techniken, wie das Fotogramm, die Montage, die Doppelbelichtung etc., erprobt wurden. Die Fotografen der 50er-Jahre erweiterten diese Techniken um die ‚Sandwichtechnik‘, erschlossen systematisch die Strukturfotografie, vergrößerten das Bildformat, experimentierten mit Bildausschnitt und Blickwinkel und erhöhten die bildnerische Qualität. Zwar traten Strukturfotografien auch bereits in den 20er-Jahren auf, doch die bewusste und fokussierte Abbildung von grafischen Spuren in Architektur, Technik und Natur bleibt im Wesentlichen eine Erscheinungsform der ‚subjektiven fotografie‘.31 Neben den experimentellen Lösungen war das „formal und inhaltlich gestaltete Foto“32 von hohem Interesse. Die von Steinert für die Ausstellungen ausgewählten Arbeiten reichten „von Reportageaufnahmen [...] über Bilder, bei denen die Komposition wichtiger als das Motiv wurde, und nachträglich veränderte Fotografien bis zu Experimenten mit Licht und Fotopapier“33.

31 Vgl. ebd., S. 13ff. 32 Steinert, Otto: Vorwort. In: ders.: subjektive fotografie. Internationale Ausstellung moderner Fotografie. Ausst.-Kat. Fotografische Abteilung der Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk. Saarbrücken 1951, S. 5. 33 Koenig, Thilo: „Subjektive Fotografie“ in den fünfziger Jahren. Berlin 1988, S. 9. Dass auch einige Reportageaufnahmen zur ‚subjektiven fotografie‘ gezählt wurden, verweist auf die damalige Diskussion, dass im Grunde jede Fotografie als ‚subjektiv‘ bezeichnet werden müsse. Eine Dokumentarfotografie könne nicht als absolut objektiv gelten, da sie immer vom subjektiv auswählenden Fotografen bestimmt werde. Dieser subjekti-

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Die Fotomontage und die gleichzeitige Verwendung anderer Medien wie noch in den 20er-Jahren gab es nicht, da sich dies zu sehr von der Fotografie als abbildendem Medium entfernte.34 Gurskys zweijähriges Studium war nur zu Beginn von der prominenten Lehrerpersönlichkeit geprägt, denn Otto Steinert starb ein halbes Jahr nach Gurskys Immatrikulation.35 Neben der ‚subjektiven fotografie‘ standen die Werbung, die Illustration und der Fotojournalismus im Zentrum der künstlerischen Lehrjahre. Von den diversen Gastdozenten, die auf Steinert folgten, hinterließ Michael Schmidt mit seinen Stadtlandschaften nachhaltigen Eindruck bei dem jungen Studenten. Obwohl Gurskys Aufnahmen aufgrund ihrer Nähe zur Werbefotografie von Schmidts Stilvorstellungen weit entfernt waren, verinnerlichte er neben den Einflüssen Steinerts und André Gelpkes – der ebenfalls zu den Vertretern der ‚subjektiven‘ Richtung gehörte – den poetischen Reiz der auf den ersten Blick nüchtern wirkenden Aufnahmen. Nach seinem Abschluss 1979/80 wollte Gursky schließlich in Hamburg Fotojournalist werden, dies gelang jedoch nicht.36 Die entscheidende und letzte Phase der fotografischen Ausbildung beginnt im Herbst 1980, als er sich – dem Vorschlag seines Freundes Thomas Struth folgend – an der Düsseldorfer Kunstakademie bewirbt und auch immatrikulieren kann. Nach dem einjährigen Grundstudium entscheidet sich Gursky für die Vertiefung ‚Freie Kunst‘, die neben der Kunsterziehung an der Kunstakademie angeboten wird. Er bewirbt sich bei Bernd Becher, der 1976 an die Akademie berufen worden war, und wird in den Kreis seiner Schüler aufgenommen. Eine besonders

ve Einfluss rechtfertige somit die Stellung der Fotografie als eine Form künstlerischen Ausdrucks, gleich der Malerei, Graphik etc., die ihr zur Zeit ihrer Erfindung nicht zugestanden wurde. Die ausdrückliche Benennung von Werken als ‚subjektive fotografie‘ sollte nun den Aspekt der Gestaltung durch den Fotografen ausdrücklich hervorheben. Vgl. ebd., S. 8. Vgl. dazu ausführlicher die Beiträge von J.A. Schmoll gen. Eisenwerth: Objektive und subjektive Fotografie und Franz Roh: Über die innere Reichweite der Fotografie. Beide in: Steinert, Otto (Hrsg.): Subjektive Fotografie. Ein Bildband moderner europäischer Fotografie. Bonn 1952, S. 8-12, hier S. 9 und S. 13-15, hier S. 13f. 34 Vgl. Koenig 1988b, S. 9. 35 Hinweis von Andreas Gursky an die Verfasserin am 10.04.2011. 36 Vgl. Jocks 1999, S. 252f. Vgl. Galassi 2001, S. 12f.

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konstruktive Arbeitsatmosphäre lag damals in der nur kleinen Studentengruppe und in der intensiven – zum Teil im Privatbereich des Fotografenehepaars Bernd und Hilla Becher stattfindenden – Betreuung begründet. Zu den Studenten der Klasse zählten auch Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Struth, Volker Döhne und Tata Ronkholz. Hütte und Struth hatten ihre Ausbildung bereits beendet, als die Studenten Andreas Gursky, Thomas Ruff und Petra Wunderlich dem Kreis beitraten. Später kamen u.a. Simone Nieweg und Jörg Sasse hinzu. 1987, nach sechsjährigem Studium, verlieh Bernd Becher Andreas Gursky den Titel des Meisterschülers.37 Das Werk des Lehrerehepaars Becher steht maßgeblich für eine gleichermaßen dokumentarische wie künstlerische Fotografie, die in ihrer unpersönlichen Objektivität konträr zur Fotografie Steinerts stand. Ihre typologische Arbeitsweise und die serielle Präsentation der Werke ermöglichen eine vergleichende Bildbetrachtung, die das Prinzip ihrer künstlerischen Haltung ausmacht. Die aus den Bereichen Schwerindustrie und Funktionsbau gewählten Motive legen zudem Zeugnis ab von einer funktional und kapitalistisch geprägten Architekturgeschichte. Bernd und Hilla Becher begannen in den 60er-Jahren damit, eine vollständige Dokumentation alter Industriegebäude anzustreben. Dabei wurden sie nicht von denkmalpflegerischen Ambitionen geleitet, sondern von dem Streben nach einer objektiven Bestandsaufnahme von Gebäuden, deren ursprüngliche Funktion bereits obsolet geworden war. Ihre fotografische Haltung leitet sich von der frühen Industriefotografie der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ab, die einen umfassenden, erhöhten und auf die funktionalen Eigenschaften der Architektur ausgerichteten detailgenauen Blick sowie eine neutrale Himmel- und Lichtsituation bevorzugten.38 Die Bechers entwickelten daraus ihre Strategie der „fotografischen Aufnahme aus der Distanz, um die Dinge nah zu sehen“39. Nach ersten Ausstellungen in Deutsch-

37 Vgl. Jocks 1999, S. 255. Vgl. Galassi 2001, S. 12, S. 15f. 38 Vgl. Herzogenrath, Wulf: Becher und Becher-Schule. In: ders.: Mehr als Malerei. Vom Bauhaus zur Video-Skulptur. Regensburg 1994, S. 202-229, hier S. 202ff. Die Bechers fanden die Aufnahmen der Stahlindustriearchitektur – wie z.B. von Peter Weller – u.a. in den Archiven der Firmen des Siegerlandes. Vgl. Galassi 2001, S. 10f. 39 Herzogenrath 1994, S. 203.

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land, den Niederlanden und den USA40 sowie nach ersten Veröffentlichungen in Zeitschriften41 in den 60er-Jahren gaben Bernd und Hilla Becher 1970 ihr erstes Buch mit dem Titel ‚Anonyme Skulpturen – Eine Typologie technischer Bauten‘ im Art-Press Verlag Düsseldorf heraus. Darin ordnen sie erstmals die fotografierten Architekturen nach Formverwandtschaft und definieren spezifische Serien. Der von den Bechers bereits 1969 geprägte Begriff ‚Anonyme Skulpturen‘ erzeugte ein neues Verständnis von industrieller Architektur. Der Direktor der Kunsthalle Düsseldorf – Karl Ruhrberg – erklärt 1969 anlässlich der Ausstellung ‚Anonyme Skulpturen‘:

40 Es handelt sich dabei um folgende Ausstellungen: 1963, ‚Fachwerk‘, (Häuser und Industriegebäude des Siegerlandes), Buchhandlung und Galerie Ruth Nohl in Siegen; 1965, (Serien von Kalköfen, Hochöfen, Förder-, Wasser- und Kühltürmen, Häuser etc.), Galerie Pro in Bad Godesberg bei Bonn; 1967, ‚Industriebauten 1830-1930. Eine fotografische Dokumentation von Bernd und Hilla Becher‘, mit einem Vorwort von Wend Fischer, Die Neue Sammlung, Staatliches Museum für angewandte Kunst, München; 1968, ‚Bouwen voor de Industrie in de negentiende en twintgste eeuw. En fotografische dokumentatie door Hilla en Bernd Becher‘, Stedelijk Van Abbemuseum Eindhoven; 1968, University of Southern California in Los Angeles und 1969, ‚Anonyme Skulpturen. Formvergleiche industrieller Bauten‘, Photos von Bernhard und Hilla Becher, mit Texten von Bernhard und Hilla Becher, Karl Ruhrberg und Thomas Grochowiak, Städtische Kunsthalle, Düsseldorf. Vgl. Lange, Susanne: Von der Entdeckung der Formen. Zur Entwicklung des Werkes von Bernd und Hilla Becher. In: dies. (Hrsg.): Bernd und Hilla Becher. Festschrift Erasmuspreis 2002. München 2002, S. 11-31, hier S. 16-21. Vgl. auch Lange 2002, S. 159-162. 41 Es handelt sich dabei u.a. um folgende Veröffentlichungen: Kahmen, Volker: Möglichkeiten einer Dokumentation der Industriearchitektur. In: Werk und Zeit. 14. Jg., Juli/August 1965, Heft 7/8 und Kahmen, Volker: Industriefachwerk – Beitrag zur Morphologie des Siegerlandes. In: Bauwelt. 57. Jg. 1/2, 10. Januar 1966, S. 21-31. Vgl. Lange 2002a, S. 20.

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„Es sind Gebilde, die wie anonyme Skulpturen oder anonyme Strukturen in der Landschaft stehen, die deren Bild bestimmen und eine Art zweiter Natur geworden sind: Organe und Zeugen der frühen technischen Existenz.“42

Festzuhalten ist, dass das fotografische Prinzip der Bechers durch eine präzise, sachlich-nüchterne und konstante Arbeitsweise, durch das formatfüllend und in frontaler Darstellung im Zentrum der Fotografie stehende Objekt, durch ein systematisch-archivarisches Vorgehen und durch die typologische Reihung geprägt ist. Das Subjekt tritt insofern zurück, als auf eine originäre Gestaltung verzichtet wird. Bis 1984 verinnerlicht Gursky die streng typologische Arbeitsweise der Bechers. Für die in dieser Zeit entstandene Serie über Foyers von Industrieunternehmen und Konzernen, in denen Gursky stets zwei stereotyp gekleidete Empfangspersonen vorfand, erhielt er 1984 bereits den 1. Kodak-Nachwuchs-Förderpreis.43 Nach 1984 ebnet sich Gursky den Weg zu eigenständigem künstlerischen Schaffen, indem er sich bewusst von den Vorgaben seiner Lehrer löst und mit landschaftlichen Motiven seinen eigenen Stil sucht.44 Zu diesem Zeitpunkt arbeitet er bereits intensiv mit der Farbfotografie. Ein Graduiertenstipendium der Kunstakademie im Jahr 1987, das er mit Hilfe von Kaspar König erhält, erlaubt es ihm, sich nach Beendigung der Akademie 1987/88 allein auf seine fotografische Profession zu konzentrieren.45

42 Ruhrberg, Karl: Anonymität als Stilprinzip. Fotos industrieller Bauten von Bernhard und Hilla Becher. In: Anonyme Skulpturen. Formvergleiche industrieller Bauten. Städtische Kunsthalle Düsseldorf, 1969, o.S. Hier nach Ruhrberg, Karl: Avantgarde – klassisch geworden. Zu den Arbeiten von Bernd und Hilla Becher. In: Lange 2002, S. 39-40, hier S. 40. Siehe auch Lange 2002a, S. 23. 43 Vgl. Meister, Helga: Andreas Gursky. Sonntagsbilder. In: dies.: Fotografie in Düsseldorf. Die Szene im Profil. 1. Aufl. Düsseldorf 1991, S. 176-179, hier S. 177. Vgl. auch Jocks 1999, S. 255. 44 Vgl. Jocks 1999, S. 256. 45 1989 erhält er den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen für junge Künstler und den 1. Deutschen Photopreis Stuttgart sowie 1990 ein Stipendium für Zeitgenössische Fotografie der Alfred Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung; es folgt 1991 der RENATA Preis der Kunsthalle Nürnberg. 1998 wird ihm der Citibank Photography-Prize, London, und 2003 der Wilhelm-Loth-Preis der Stadt Darmstadt verliehen. Zuletzt hat er 2008

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den Kaiserring Kunstpreis der Stadt Goslar und den LeadAward, LeadAcademy für Mediendesign und Medienmarketing e.V., Hamburg, erhalten. Die erste große Einzelausstellung erhält Gursky 1994 in den Hamburger Deichtorhallen, der bis zur Retrospektive durch Peter Galassi im Jahr 2001 Einzelausstellungen u.a. in Liverpool, Wolfsburg und Houston folgen. Im Jahr 2007 wird ihm erneut eine Retrospektive im Haus der Kunst, München, gewidmet; Ausstellungen in Basel und 2008 in Darmstadt und Krefeld folgen. In der Aufnahme ‚Charles de Gaulle‘ von 1992 bezieht Gursky zum ersten Mal die digitale Bildbearbeitung – die zu einem wesentlichen Merkmal seiner Arbeiten wird – ein. Seit 1993 wird er von der Galerie Sprüth Magers in Köln betreut. 2002 bezieht Gursky mit seinem Freund und Kollegen Thomas Ruff das von den Architekten Herzog & de Meuron zum Atelier umgebaute Umspannwerk im Düsseldorfer Stadtteil Oberkassel, wo er seitdem lebt und arbeitet. 2010 nimmt er die Professur für das Fach ‚Freie Kunst‘ an der Düsseldorfer Kunstakademie an.

II. Theoretischer Diskurs zur Abstraktion „T. Hess sagt ... a) Alle Kunst ist abstrakt. P. Picasso sagt ... b) Es gibt keine abstrakte Kunst. Deshalb ... c) Es gibt keine Kunst.“ (AD REINHARDT, 1958)

1. D ER B EGRIFF DER ABSTRAKTION – EINE PHILOSOPHISCHE , KUNSTHISTORISCHE UND FOTOTHEORETISCHE ANNÄHERUNG Gibt es eine abstrakte Fotografie? Diese Frage u.a. bildete – wie bereits erwähnt – den Ausgangspunkt der Diskussion auf dem 21. Bielefelder Symposium über Fotografie und Medien. Um die Thesen der Diskussionsteilnehmer zu prüfen, werde ich im Vorfeld den Versuch unternehmen, unter Berücksichtigung philosophischer, kunsthistorischer und fototheoretischer Aspekte eine geeignete Definition für den Begriff ‚Abstraktion‘ zu finden. In Kap. II.4. folgt dann die Bestimmung des Begriffs für das Werk von Andreas Gursky, um ein adäquates Handwerkszeug zu erhalten, mit dessen Hilfe sich die spezifischen Ausprägungen der Abstraktionsphänomene bei Gursky exemplarisch erschließen lassen. In der Philosophiegeschichte gilt die Abstraktion als ein Denkvorgang der Reduktion oder als deren Resultat: der Reduktion eines Gegenstandes oder eines konkreten Ausgangspunktes auf seine wesentli-

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chen – konstitutiven – Merkmale unter „Abziehung“ (lat. abstrahere: abziehen, entfernen, trennen) des Unwesentlichen: des Kontingenten. Bei der Begriffsbildung wird das Notwendige, Allgemeine hervorgehoben und vom Individuellen, Zufälligen getrennt, um einen spezifischen Erkenntnisinhalt zu exponieren.1 Entscheidend für diese Definition ist, dass der Gegenstand in seinen Eigenschaften so weit reduziert ist, dass er gerade noch als genau dieser Gegenstand zu identifizieren ist. Als minimale Summe seiner Konstitutiva oder als reine Form gewinnt er allgemeine Geltung. Für einen in diesem Sinne abstrakten Gegenstand lässt sich demnach kein analoges Pendant „in der Dingwelt“ finden – er kann nicht in analoger Beziehung zur Welt stehen, da diese aus konkreten, also nicht-reduzierten, Gegenständen besteht. Das Abstraktum muss jedoch – um als solches erkannt zu werden – mit den konstitutiven Eigenschaften seines Konkretums korrespondieren.2 Diese Korrespondenz und die Allgemeinheit der Aussage sind die notwendigen Merkmale einer im ursprünglichen Sinne des Begriffs gedachten Abstraktion. In der bildenden Kunst hingegen müsse unter Abstraktion – wie K. Fassmann3 erläutert – zweierlei verstanden werden: Die StandardDefinition in einschlägigen Kunstlexika benenne mit Abstraktion die Darstellung von Farb- und Formkompositionen, die den Gegenstand

1

Vgl. Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 1899. 2. Aufl. 1904, S. 5ff. Hier nach: Digitale Bibliothek Band 3: Geschichte der Philosophie. Darstellungen, Handbücher, Lexika. Ausgew. v. Mathias Bertram. Berlin 1998, S. 12263-16727, hier S. 12285-12292.

2

„So ergibt die Vergleichung von Bäumen, Sträuchern, Blumen, Moosen usw. den abstrakten Begriff einer Pflanze, während wir durch Betrachtung des einzelnen Baumes nach allen seinen Merkmalen den konkreten Begriff einer Pflanze finden.“ Kirchner, Friedrich: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe, 1886. Neubearbeitung von Carl Michaëlis 1907, S. 7f. Hier nach: Digitale Bibliothek Band 3: Geschichte der Philosophie. Darstellungen, Handbücher, Lexika. Ausgew. v. Mathias Bertram. Berlin 1998, S. 10933-12262, hier S. 10952ff.

3

Fassmann, Kurt: Abstrakte Malerei. In: ders. (Hrsg.): Sachwörterbuch der Weltmalerei. Bearbeitet v. Wilhelm Rüdiger. Band 6 von Kindlers Malereilexikon. Hrsg. v. Germain Bazin, Horst Gerson, Lawrence Gowing u.a., Band 1-6. Zürich 1964-1971, S. 10-25. Hier nach: Digitale Bibliothek Band 22: Kindlers Malerei-Lexikon. Berlin 1999, S. 10234-10281.

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gänzlich ausschließen. In einem weniger strengen Sinn enthalte der Abstraktionsbegriff jedoch auch den Vorgang des Abstrahierens, der den Gegenstand nicht vollständig eliminiert, sondern in diversen Verhältnisgraden von diesem ausgeht und sich auf ihn bezieht. Vor diesem Hintergrund seien auch jene Werke der Kunst als abstrakt zu bezeichnen, die – wie z.B. im Kubismus – von einer bestimmten Naturerfahrung abstrahieren, ohne dabei ganz auf den konkreten Gegenstand zu verzichten. Das Farb- und Formprinzip überlagere in diesem Fall die Gegenständlichkeit, es seien die Farben und Formen, die – wenn auch noch immer durch den Gegenstand vermittelt – zum Werkthema werden.4 Fassmann beruft sich dabei u.a. auf Marcel Brion: „Wir müssen deshalb jedes Mal, wenn von ‚abstrakter‘ Kunst die Rede ist, unterscheiden, ob es sich um ‚reine‘ abstrakte Kunst handelt oder um eine ‚abstrahierende‘ Kunst, welche die Gegenstandsform aus Gründen einer psycholo5

gischen oder bildnerischen Ordnung stilisiert und schematisiert.“

Andererseits könne von einer Annäherung zwischen ‚abstrakt‘ und ‚abstrahierend‘ gesprochen werden, die im Gebrauch und im Kommunikationswert des Dargestellten begründet liege. Im Falle eines kubistischen Gemäldes besäßen die rudimentären Gegenstandsbezüge nur geringfügigen Informationswert, während hingegen das Formprinzip den eigentlichen Bildgehalt ausmache. Die den Gegenstand umschreibende Farbe oder Linie entspreche im Grunde der Farbspur eines rein abstrakten Gemäldes.6 Letztlich führt Fassmann die Begriffe ‚abstrakt‘ und ‚abstrahierend‘ zusammen und stellt fest: „Nach wie vor geht es um die Bestätigung der Bildwelt an objektiven Erfahrungen, die sie zugänglich machen. Eine visuelle Kunst, die diese objektive Bestätigung nicht sucht oder einzig aus ihrer Bildwelt selbst geben will, ist ungeachtet ihrer Methoden und sonstigen Ziele abstrakt.“

7

4

Vgl. Fassmann (1964-1971) 1999, S. (11) 10236-10238.

5

Brion, Marcel: Geschichte der abstrakten Malerei. Köln 1960. Zitiert nach

6

Vgl. Fassmann (1964-1971) 1999, S. (12) 10239f.

7

Ebd., S. (12) 10241.

Fassmann (1964-1971) 1999, S. (11f.) 10238f.

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Diese Gleichsetzung von Abstraktion und Abstrahierung ist insofern problematisch, als der Übergang zwischen gegenständlich, rudimentär gegenständlich und ungegenständlich nicht präzise zu bestimmen ist. Die Ansicht darüber hängt immer von der Anschauung durch eine Person ab oder vom besagten ‚Kommunikationswert‘ der Darstellung. Zudem ist die isolierte Betrachtung einer einzelnen Farbspur innerhalb eines gegenständlichen Motivs stets abstrakt, so dass jede Malerei im Grunde als abstrakt bezeichnet werden könnte. Fassmann vermeidet eine genaue Begriffsbestimmung und folgt den unscharfen Gebrauchskonventionen. Diese Ungenauigkeit ist in der Kunstgeschichte bzw. in der kunsthistorischen Verwendung des Abstraktionsbegriffs nachweisbar. Der in der griechischen Philosophie geprägte Terminus hat vermutlich erst im 18. Jahrhundert Eingang in den Kunstdiskurs gefunden. Zunächst bezeichnete er einerseits die künstlerische Darstellung von idealer Schönheit, andererseits jede allegorische Darstellung überhaupt, meist Personifikationen. In beiden Fällen war die Abstraktion gleichbedeutend mit der Hervorhebung des Besonderen. Begriffliche Abstrakta erhielten durch die Kunst eine dingliche Visualisierung. Um 1900 veränderte sich der Begriff der Abstraktion dahingehend, dass er bildnerische Formen bezeichnete, die sich von der visuellen Erscheinung lösten. In den 20er-Jahren schließlich steht die Abstraktion synonym für die Ungegenständlichkeit und kennzeichnet nicht-abbildende Verfahren.8 Der Abstraktionsbegriff hat somit in der Kunstgeschichte mehrfach Bedeutungsverschiebungen erfahren – bis hin zur konventionellen Umkehrung seines ursprünglichen Sinns, denn der eigentliche Begriffsgrund erforderte – wie oben erwähnt – stets die sichtbare Korrespondenz mit dem Gegenstand. In den kunsthistorischen Diskursen sind diese unterschiedlichen Ansätze bis heute erhalten geblieben, so dass der Abstraktionsbegriff weiterhin indifferent und inkonsistent verstanden und gebraucht wird. Es schließt sich nun die Frage nach der Abstraktion in der Fotografie an. Die Überlegung, ob es überhaupt eine abstrakte Fotografie geben kann, resultiert daraus, dass die Fotografie seit ihrer Erfindung lange Zeit als Analogon der Wirklichkeit betrachtet wurde und die Merkmale der Abstraktion – wie Ungegenständlichkeit oder Reduktion

8

Vgl. Wagner, Monika: Abstraktion. In: Pfisterer, Ulrich (Hrsg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe. Stuttgart 2003, S. 1-3, hier S. 1f.

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– damit nicht zu vereinbaren sind. In der Diskussion um die empirisch exakte Wiedergabe sichtbarer Objekte haben sich inzwischen zwei konträre Positionen herausgebildet: die „Realisten“ und die „Kulturrelativisten“.9 Der realistische Standpunkt beruft sich darauf, dass die Fotografie das Produkt eines mechanischen Verfahrens ist, das den Bedingungen von Optik, Chemie und Licht unterworfen ist. Optik, Technik und das sich wie von selbst einschreibende Objekt wurden als Garanten für die getreue und objektive Wiedergabe der Wirklichkeit angesehen. Das fotografische Abbild wurde schließlich mit Realität und Wahrheit gleichgesetzt.10 Die kulturrelativistische Position hingegen hält aus zwei entscheidenden Gründen an der ‚Arbitrarität‘ von Fotografien fest: Erstens hänge die Wahrnehmung der Fotografie von der personalen Verfassung des betrachtenden Individuums ab, z.B. von seiner spezifischen kulturellen und biographischen Situation. Die Erfahrungen, die der Betrachter mitbringe und in sich trage, würden eine bereits subjektive und voreingenommene Sicht auf das fotografische Abbild bewirken. Zweitens könne aufgrund diverser Eingriffsmöglichkeiten und Manipulationen während des fotografischen Prozesses nicht mehr von einer Ikonizität der Fotografie gesprochen werden.11 Dörfler diskutiert beide Positionen und erläutert dazu: „Eine Fotografie wird keineswegs als Analogon der Wirklichkeit betrachtet. Stattdessen wird die Betonung auf die Varianten im Produktionsprozess und die Bezugnahme im Signifikationsprozess auf eine kulturelle Einheit gelegt. Insgesamt wird so die Fotografie als Denotation auf eine historische Realität als komplexes kulturelles System betrachtet. Ihre Bedeutung hängt von den Bedingungen ihrer Fertigung und den der Signifikation zugrunde gelegten Codes ab, ihr Sinn liegt in den verschieden [sic!] Umständen der Rezeption.“

9

12

Nöth, Winfried: Handbook of Semiotics. Bloomington and Indianapolis 1990, S. 460. Zitiert nach Dörfler, Hans-Diether: Das fotografische Zeichen. In: Schmitt, Julia et al.: Fotografie und Realität. Fallstudien zu einem ungeklärten Verhältnis. Opladen 2000, S. 11-52, hier S. 12.

10 Vgl. Dörfler 2000, S. 13-18. 11 Vgl. ausführlich ebd., S. 18-20. 12 Ebd., S. 50. Zur Frage nach der Wahrheit der Fotografie vgl. auch Stahel, Urs: Ja, was ist sie denn, die Fotografie? Eine Rede über Fotografie zum 10-Jahres-Jubiläum des Fotomuseums Winterthur. Zürich, Berlin, New York 2003, S. 12f.

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Aus dieser Definition lässt sich ableiten, dass jedes fotografische Bild bereits eine Abstrahierung der Wirklichkeit darstellt, da aus den oben genannten Gründen kein objektiver Beleg möglich ist. Roland Barthes erläutert in seiner ‚Bemerkung zur Fotografie‘ (Die helle Kammer, 1980), dass die „Referenz“ das „Grundprinzip der Photographie“ darstelle: Für ein fotografisches Bild sei es von einer absoluten Notwendigkeit, dass die „Sache [vor dem Objektiv] dagewesen ist“. 13 Das von Barthes bezeichnete „Es-ist-so-gewesen“14 darf jedoch nicht mit „Sogewesen“ – wie es Urs Stahel formuliert – verwechselt, sondern muss eben als „Da-gewesen“ verstanden werden.15 Bestimmte Fotografiearten (z.B. die Dokumentarfotografie), denen ein besonders hoher Realitätsgrad attestiert wird, können daher im Grunde als ‚trompe-l’oeils’ bezeichnet werden: als trügerischer Schein, der noch täuschender sei als in der Malerei.16 Wie in der Malerei stellt sich in der Fotografie die Frage nach der Abstrahierung – bzw. wann diese formanalytisch oder inhaltsbezogen offensichtlich in Erscheinung tritt – und einer möglichen reinen Abstraktion. Die Komplexität dieses Problems – das Fehlen einer allgemein akzeptierten Begriffsbestimmung – zeigt sich deutlich in den Beiträgen von Gottfried Jäger und Lambert Wiesing und in der Podiumsdiskussion zwischen Gottfried Jäger, Thomas Kellein, Reinhold Mißelbeck (†) und Herbert Molderings zum Thema der ‚Abstrakten Fotografie‘ auf dem 21. Bielefelder Symposium.17 Die Debatte wird im Folgenden in ihren Grundzügen dargestellt: Gottfried Jäger sieht die abstrakte Fotografie als eine Kunstform an, „bei der die gegenständliche fotografische Abbildung zu Gunsten nichtgegenständlicher fotografischer Bildstrukturen in den Hintergrund tritt. Im

13 Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Übers. v. Dietrich Leube. Frankfurt am Main 1985, S. 86f. Originalausgabe: La chambre claire. Note sur la photographie. Paris 1980. 14 Ebd., S. 87. 15 Stahel 2003, S. 13. 16 Vgl. ebd., S. 18. 17 Vgl. Jäger 2002a, S. 11-35 und vgl. Wiesing, Lambert: Abstrakte Fotografie: Denkmöglichkeiten. In: Jäger 2002, S. 73-97. Die Podiumsdiskussion vom 3.12.2000 ist in Teilen abgedruckt in: Jäger 2002, S. 259-283.

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Vordergrund steht die Veranschaulichung einer (abstrakten) Idee, die unter bewusster Vernachlässigung von Aspekten der Gegenständlichkeit und Wie18

dererkennbarkeit fotografisch realisiert wird.“

Jäger stellt also der gängigen Definition von Fotografie als abbildendem Medium, das einen vermeintlich klaren Referenzpunkt besitzt, eine Definition entgegen, die der Fotografie hybride Eigenschaften zuspricht: Die Fotografie solle gegenständlich-abbildende und ungegenständlich-abstrakte Merkmale vereinigen. Sie müsse folglich so angelegt sein, dass der Betrachter einerseits abstrakte Strukturen wahrnimmt, andererseits das Bild weiterhin auf einen Referenten in der Wirklichkeit zurückführen kann. Jäger bezeichnet diese Fotografien als „Strukturbilder“19, die Bereiche abstrahierter Wirklichkeiten und konkretisierter Möglichkeiten

18 Jäger 2002a, S. 11. Vgl. auch Jäger, Gottfried: Versuch einer Typologie. In: Kellein, Lampe 2000, S. 201-206, hier S. 203. 19 Jäger unterscheidet – wie schon erwähnt – in seiner Typologie zu den Bildarten der Fotografie „Abbilder“, „Sinnbilder“ und „Strukturbilder“. Damit kennzeichnet er die diversen fotografischen Möglichkeiten sich mit Realität auseinanderzusetzen. Ein Abbild sei das Ergebnis der „Feststellung objektiv bestehender Tatsachen – mit dem Ziel, Realität zu erkennen“. Gemeint sind die Aufnahmen von Journalisten und Dokumentarfotografen, die den Gegenstand neutral zeigen sollen. Auch die Festlegung des Kamerastandpunktes, des Ausschnittes und des fotografischen Materials solle das fotografierte Objekt möglichst nicht verändern. Zu berücksichtigen sei, dass die Wahl der fotografischen Situation und die Überführung des Gegenstandes in die Zweidimensionalität immer konditionierend auf das Abbild einwirken. Das Sinnbild sei „die Darstellung subjektiver Überzeugungen – mit dem Ziel, Realität zu interpretieren“. Es handele sich um Fotografien, die die äußere Wirklichkeit inszeniert und bewertet festhalten. Die fotografische Sicht auf die Dinge sei somit subjektiv geprägt und rücke oftmals verborgene Merkmale der Realität in den Vordergrund. Das Gestaltungsspektrum des Strukturbildes sei schließlich „die Erzeugung neuer Bildstrukturen – mit dem Ziel, Realität zu schaffen“. Es beinhalte die Möglichkeit, eine neue fotografische Bildwelt zu erschaffen, die unter Umständen den ursprünglichen Referenten gänzlich negiert. Jäger 1988, S. 111-114.

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erfahrbar machen können.20 Festzustellen ist, dass Jäger von ‚nichtgegenständlichen Strukturen‘ und von ‚abstrahierten Wirklichkeiten‘ spricht. Folgt man den Argumenten Fassmanns, so wären beide Formulierungen richtig: Im Bild finden sich Strukturen, die das Bildthema dominieren und für sich genommen bzw. isoliert vom Gegenstand keinen Gegenstand zeigen und damit als abstrakt eingestuft werden können. Im Sinne von Brion müsste jedoch von einer Abstrahierung gesprochen werden, da das Gesamtbild in diesem Fall zwar einen vernachlässigten, aber dennoch konkreten Gegenstand zeigt. Darüber hinaus spricht Jäger von der Darstellung einer ‚abstrakten Idee‘. Im Falle eines spezifischen Erkenntnisinhaltes würde hier der im 18. Jahrhundert aus der Philosophie in die Kunst übertragene Begriff der Abstraktion an Bedeutung gewinnen, da sich in diesem Fall die Abstraktion auf einen gedanklich übertragenen Inhalt bezieht, der eine Verbildlichung erfährt. Jäger differenziert innerhalb der Kategorie der Strukturbilder drei Stufen mit jeweils unterschiedlichen Abstraktionsgraden: Zur ersten Stufe werden die fotografischen Arbeiten gezählt, die noch abbildende und damit realitätsnahe Momente besitzen, aber aufgrund bestimmter Techniken wie „Nahaufnahme“, „Tontrennung“, „Mehrfachbelichtung“ etc. gestaltend verändert wurden. Auf diese Weise sind dem Abbild Strukturen auferlegt, die abstrahierende Wirkung erzielen. Den zweiten Grad bilden vor allem die Wissenschaftsfotografien, die „Mikro-, Röntgen-, Kurzzeitfotografien etc., die für das menschliche Auge unsichtbare Phänomene visualisieren. Zur dritten Stufen gehören schließlich „Fotogramm“, „Luminogramm“, „Chemigramm“ etc., die aus einem experimentellen Umgang mit Licht, Trägermaterial, Chemikalien und Objekten entstehen und eigenständige Bildstrukturen aufweisen.21 Zusammengefasst bedeutet dies, dass Jäger der abstrakten Fotografie folgende Erscheinungsformen zuschreibt: „die Abstraktion des Sichtbaren, die Visualisierung des Unsichtbaren und die Konkretisierung reiner Sichtbarkeit“22. Nach Brion müsste Jäger von einer Abstrahierung des Sichtbaren sprechen, da der Gegenstandsbezug erhalten bleibt. Überdies erweist sich die letzte Kategorisierung im Hinblick auf die Definition von Jäger nicht schlüssig, da die Eigenschaft der ge-

20 Vgl. Jäger 2000, S. 203. 21 Vgl. ebd., S. 203f. 22 Jäger 2002a, S. 34.

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genständlichen Referenz völlig aufgehoben werden kann und demnach keine sekundäre oder vernachlässigte Bedeutung mehr besitzt. An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass Schmoll gen. Eisenwerth den Begriff der ‚Bildstruktur‘ teilweise anders definiert und darunter zweierlei versteht: Eine Dokumentarfotografie könne sich zu einer Strukturaufnahme wandeln, wenn das abgelichtete Ereignis optisch hinter einer übergeordneten graphischen Struktur zurücktritt. Schmoll gen. Eisenwerth führt das Bild einer Massenversammlung als Beispiel an, auf dem die Vielzahl von Köpfen strukturbildend sei. Andererseits könnten auch kameralosen Aufnahmen Strukturen zugeschrieben werden, die auf der zweiten Ebene jedoch keinen eindeutigen Gegenstandsbezug besitzen.23 Der erste Punkt veranschaulicht, dass es Schmoll gen. Eisenwerth nicht um die Visualisierung neuer Bildwelten geht, sondern dass die Wahrnehmung des Betrachters zwischen dem Dargestellten und der übergeordneten Struktur oszillieren kann. In der ersten Beitragsposition zeigt sich bereits, dass das Problem der Abstraktion in der Fotografie weitgehend aus wissenschaftlichtechnischer Sicht beschrieben wird. Die künstlerische Praxis, in der das abstrakte Bild als Produkt des Verhältnisses zwischen Betrachter und Motiv oder als Folge einer bestimmten Bildstrategie des Fotografen entsteht, bleibt von untergeordneter Bedeutung. Entsprechend äußert sich Herbert Molderings kritisch zur Wissenschaftsfotografie: Er erachtet das Gebiet – der in der Ausstellung als abstrakt bezeichneten Fotografien – als zu weit gefasst, da sich Unstimmigkeiten in der Begriffsdefinition ergäben. Moldering zufolge zählen die naturwissenschaftlichen Fotografien wie Röntgen-, Astro- oder Mikrofotografie nicht zur obigen Klassifizierung, da diese den Zweck hatten, das

23 Mit ‚Abbild‘ bezeichnet Schmoll gen. Eisenwerth ebenfalls die mit der Fotografie verbundene gesellschaftliche Vorstellung, dass das fotografische Bild den Menschen und seine Umgebung objektiv abbilde. Mit dem fotografischen Abbild wäre der Wunsch (scheinbar) erfüllt, Realität festgehalten zu haben und im Besitz eines Wirklichkeitsdokuments zu sein. Die Bezeichnung ‚Sinn-Bild‘ stehe für genau den Aspekt der Fotografie, dass die Person hinter der Kamera, neben dem Wunsch möglichst objektiv zu fotografieren, auch bewusst subjektivierende Verfahren anwenden kann. Der Blick des Betrachters könne also gelenkt oder getäuscht werden. Vgl. Schmoll gen. Eisenwerth 1980, S. 238, S. 241, S. 242f.

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menschliche Sehvermögen zu erweitern und nicht auf veränderte Formen der Natur in abstrakter und autarker Manier hinzuweisen.24 Lambert Wiesing nähert sich der abstrakten Fotografie auf dem Weg einer ontologischen und phänomenologischen Bestimmung des Mediums. Wiesing will zeigen, dass die Verbindung von Abstraktion und Fotografie im Ausschluss der Ding-Abbildung in fotografischen Bildern denkbar ist. Zunächst bestätigt er, „daß die Begriffskombination Abstrakte Fotografie für eine contradictio in adjecto gehalten werden kann“25, wenn die Fotografie als gegenständlich abbildend angesehen wird. Abstrakte Fotografie sei aber dann möglich, wenn der Fotografie kontingente Merkmale zugeschrieben und sie somit auf ihre wesentlichen Eigenschaften reduziert werden könne. Entsprechend sei die Abstrakte Fotografie durch fotografisch-wesentliche Aspekte auszuzeichnen, damit sie als solche anerkannt bleibe. Der abbildende Bezug der Fotografie müsse somit zu einem kontingenten Merkmal zählen, damit weiterhin von einer Fotografie gesprochen werden könne.26 Die Rede ist von der Fotografie selbst, nicht vom Prozess27, der zum

24 Vgl. Molderings, Herbert in: Diskussion: Was ist Abstrakte Fotografie? In: Jäger 2002, S. 268. 25 Wiesing 2002, S. 76 und vgl. S. 77f. 26 Vgl. ebd., S. 77. 27 Reinhold Mißelbeck erweitert die Diskussion um die Abstraktion im Hinblick auf den Produktionsprozess. Er unterteilt die Abstrakte Fotografie zunächst in drei Bereiche: Für die erste Kategorie – übereinstimmend mit Schmolls Begriff der ‚Bildstruktur‘ – führt er Arbeiten an, in denen vom Gegenstand abstrahiert wird, das Abbild also zugunsten geometrisch anmutender Strukturen in den Hintergrund tritt. Eine weitere Kategorie bilden wie bei Jäger (und Schmoll) Chemiegramme, Fotogramme etc., welche das technische Spektrum der Fotografie wie z.B. das Produkt fotochemischer Prozesse oder das kameralos erzeugte Bildresultat aufzeigen - wodurch das Medium selbst zum Thema wird. Der dritte Bereich beschreibt die Abstraktion vom Medium, die im Zusammenhang mit der Digitalisierung vollzogen wird. Dabei werden Bilder virtuell erzeugt, die im Ergebnis klassischen Fotografien gleichen, aber in ihrer Herstellung keinen fotochemischen Prozess in Verbindung mit Licht durchlaufen haben, sondern durch computergestützte Rechenschritte entstanden sind. Vgl. Mißelbeck, Reinhold in: Diskussion: Was ist Abstrakte Fotografie? In: Jäger 2002, S. 265f. Der Frage nach den kontingenten Merkmalen des Produktionspro-

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fotografischen Ergebnis führt. Nach Wiesings These sind drei Vorstellungen möglich, was die abstrakte Fotografie sein bzw. warum der abbildende Aspekt zurücktreten könne: „Auf das Zeigen einer Sache durch Fotografie kann man erstens um der bildimmanenten Strukturen willen, zweitens um der bloßen Sichtbarkeit willen und drittens um der Objektkunst willen verzichten.“

28

Die erste Position beschreibt eine Fotografie, die auf die ihr innewohnenden formalen Strukturen verweist; es werden jene Strukturen sichtbar gemacht, die jeder gegenstandsabbildenden Fotografie inhärent sind und oftmals nicht bewusst in Erscheinung treten. Mit diesen Strukturen werden Farben und Formen gebildet, die ein Objekt so skizzieren, dass es als solches wahrgenommen werden kann. Für den Betrachter ist nicht die bloße Struktur, sondern in der Regel der abgebildete Gegenstand von Interesse. Für Wiesing ist demnach eine abstrakte Fotografie möglich, wenn diese Strukturen abbildet, die nichts Gegenständliches zeigen, aber in einem anderen Kontext etwas zeigen könnten, sofern eine Sichtweise über die Infrastruktur hinaus vollzogen wird29: „Das abstrakte Foto tritt wie ein potentielles gegenständliches Fotos [sic!] auf, denn es verhält sich zum gegenständlichen Bild wie ein unvollständiger Teil zum Ganzen.“30 Die zweite Position Wiesings beschreibt die Möglichkeit der reinen Sichtbarkeit eines fotografischen Bildes, wobei dessen Zeichencharakter in den Hintergrund trete. Die Abkehr vom Gegenstand in der abstrakten Fotografie zeige aus phänomenologischer Perspektive, dass ein Bild generiert werden kann, das keine Zeichenfunktion besitzt. Auf diese Weise

zesses geht auch Wiesing nach, um sich der Abstrakten Fotografie phänomenologisch zu nähern. Sind demnach jene Fotografien als abstrakt zu bezeichnen, die mit einem reduzierten Produktionsvorgang, d.h. ohne Kamera (Cliché verre), ohne Negativ (Fotogramm) oder ohne Objekt (Luminogramm) arbeiten? Dabei müsse dann berücksichtigt werden, inwieweit die Grenze zu dem, was eine Fotografie ausmacht, überschritten werden dürfe. Vgl. ausführlicher Wiesing 2002, S. 78-82. 28 Wiesing 2002, S. 97. 29 Vgl. ebd., S. 84f. 30 Ebd., S. 85. Wiesing vermerkt ferner richtig, dass dies aus phänomenologischer Perspektive für alle abstrakten Bilder gilt. Vgl. ebd., S. 88.

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könnten neue Gebilde geschaffen werden, die keinen Bezug zu gegebenen Gegenständen aufweisen und nur rein sichtbar sind.31 Wiesing erklärt weiter: „Wenn man die Abstrakte Fotografie in diesem Sinne versteht, dann wird das Medium Fotografie nicht dazu verwendet, um etwas abzubilden oder sichtbar zu reproduzieren, sondern um etwas zu bilden und sichtbar zu produzieren.“

32

Drittens könne nach Wiesing die gegenstandslose Fotografie ein Verweis darauf sein, dass die Fotografie nicht ausschließlich für die Herstellung von Bildern einsetzbar ist, sondern ebenso für die abstrakte Kunst oder Objektkunst – vorausgesetzt, dass die Eigenschaft der Fotografie, ein Bild von etwas zu sein, als unwesentlicher Bestandteil angesehen werde. Vielmehr trete das Fotomaterial an sich in den Vordergrund, das, im Gegensatz zur Sichtbarkeit des fotografischen Bildes, haptisch erlebbar sei.33 Der Autor selbst verweist darauf, dass es sich bei seinen Ausführungen zum Thema „Was könnte Abstrakte Fotografie sein?“ um grundlegende sachlogische Überlegungen handelt, die auf den pragmatischen Diskurs über abstrakte Fotografie nicht unbedingt anwendbar seien.34 So liefert dieser wissenschaftstheoretische Ansatz zum Wesen der Fotografie auch tatsächlich kein adäquates Instrument für die Deutung und Kategorisierung von Bildern. Hinzu kommt, dass sich die in der Theorie eindeutig voneinander zu trennenden Bildarten in der Praxis häufig zu hybriden Formen vermischen. Die Ausstellung „Abstrakte Fotografie“ in der Kunsthalle Bielefeld und die Typologie Jägers zeigen, dass zu dieser Kunstform oftmals Künstler gezählt werden, deren Arbeiten eine gewisse Abbildungstreue und kaum reine Gegenstandslosigkeit aufweisen. Es handelt sich um fotografische Mischformen, die einerseits Gegenstände abbilden, andererseits jedoch inhärente Bildstrukturen offenlegen und damit neue Bildwelten sowie ungewöhnliche Ausdrucksmöglichkeiten hervorbringen. Die Bielefelder Podiumsdiskussion verweist grundlegend auf die Notwendigkeit einer differenzierten Herangehensweise an die Fotogra-

31 Vgl. ebd., S. 89-94. 32 Ebd., S. 91. 33 Vgl. ebd., S. 94-97. 34 Vgl. ebd., S. 73ff.

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fien, die im Allgemeinen der ‚abstrakten‘ Fotografie zugeordnet werden. So konstatiert auch Thomas Kellein, dass sich die Inhalte in der abstrakten Fotografie über die Jahrzehnte verändert hätten und für die zeitgenössische Fotografie neu definiert werden müssten. Die Erscheinungsformen und das Verständnis von abstrakten Bildparametern würden von der jeweiligen Wahrnehmung der Wirklichkeit und von ihrer Umsetzung in der Fotografie bzw. von der historisch bedingten Wahrnehmungsschulung abhängen.35 Herbert Molderings erklärt überdies, dass die gesamte Zuordnung spezieller Fotografien zur Abstraktion genauso differenziert vorgenommen werden müsse, wie es die Geschichte der abstrakten Kunst zeige. Eine simplifizierende Einordnung der Werke beispielsweise von Mondrian oder Malewitsch in die Kategorie der Abstraktion – hier gedacht als reine Darstellung von Farben, Formen und Linien im Gegensatz zur figurativen Malerei – werde der strengen Semantik des Begriffs ebenfalls nicht gerecht.36 Ebenso verweist Molderings darauf, dass z.B. die Fotogramme von Moholy-Nagy in erster Linie sowohl Raum als auch Licht und schließlich die Materie im Grenzbereich zur Auflösung thematisieren. Moholy-Nagy habe in seinen Schriften ausführlich über die abstrakte Kunst geschrieben, jedoch die abstrakten Prozesse hinsichtlich der Form- und Farbgebung nie auf seine Fotogramme bezogen. In der derzeitigen Geschichte der abstrakten Fotografie wird Moholy-Nagy aber geradezu als Vater dieser Gattung zitiert.37 Worin mag also der wesentliche Unterschied zwischen den Phänomenen der Abstraktion in der bildenden Kunst und jenen in der Fotografie liegen? Eine Antwort wäre, dass der Betrachter die Ungegenständlichkeit in der Fotografie nicht so wahrnehmen kann wie in der Malerei. Die Fotografie wird zunächst gegenständlich erzeugt, die Licht- und Schattenspuren eines Objektes werden in Verbindung von Optik und Chemie in die Fläche überführt und fixiert. Die Wirkung des fotografischen Ergebnisses kann dann wiederum ungegenständlich sein. Da eine Fotografie in der Regel immer eine Gegenstandsbeziehung voraussetzt − unabhängig davon, ob dieser Gegenstand im Bild später wahrgenommen wird oder nicht −, bleibt ihre Abstraktion stets

35 Vgl. Kellein, Thomas in: Diskussion: Was ist Abstrakte Fotografie? In: Jäger 2002, S. 261ff. 36 Vgl. Molderings 2002, S. 276. 37 Vgl. ebd., S. 268-271.

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eine relative. In der Malerei hingegen kann eine ‚reine‘ oder absolute Abstraktion realisiert sein, wenn sie aus sich selbst heraus, ohne gegenständliche Referenz, entwickelt wird. In der Fotografie bilden u.a. die am Computer generierten Bilder eine Ausnahme, die allein auf Rechenprozesse zurückzuführen sind, ohne dass überhaupt ein Gegenstand vorlag; dasselbe gilt für reine Lichtgestaltungen wie die Luminogramme und die fotochemische Gestaltung, das Chemiegramm. Das Luminogramm erzeugt sein bildnerisches Ergebnis durch das Auftreffen von Licht auf ein lichtempfindliches Material. Das Licht stellt sich selbst dar, geht nicht von einem Gegenstand aus und wird von diesem auch nicht reflektiert. Als kameralose Form der Fotografie unterscheidet sich das Luminogramm jedoch insofern vom Fotogramm, als letzteres den Schatten von Gegenständen abbildet und somit nicht ungegenständlich sein kann. Im reinen Chemiegramm entsteht das Bild hingegen nur aus chemischen Reaktionen. In diesen Fällen kann durchaus von einer absolut-abstrakten Fotografie gesprochen werden. Die Diskussion um die abstrakte Fotografie zeigt diverse Positionen, die vor allem durch eine immer noch indifferente Sicht auf das Medium hervorgerufen werden. Als eigentliches Problem erweisen sich die historische Wandlung und die sprachgebräuchliche Unschärfe des Begriffs ‚Abstraktion‘. So werden Fotografien als abstrakt angesehen, die keine Gegenstandsreferenz aufweisen; aber ebenso werden Arbeiten als abstrakt bezeichnet, deren gegenständliches Abbild von Strukturbildungsphänomenen überlagert wird. Von Abstraktion ist auch die Rede, wenn sich das technische Medium oder der fotografische Prozess verändert. Es bleibt also festzustellen, dass bis heute kein Konsens darüber erzielt werden konnte, welches Spektrum fotografischer Arbeiten zur Abstraktion zu zählen ist. Um den Begriff der Abstraktion für diese Arbeit sinnstiftend verwendbar zu machen, muss für die vorliegende Untersuchung zunächst eine konsequente Differenzierung der Bedeutungen erfolgen: Nach Brion wird zwischen Abstraktion und Abstrahierung unterschieden. Solange die Fotografie noch einen Gegenstandsbezug aufweist, wird sie in dieser Arbeit nicht als abstrakt eingestuft, sondern als abstrahiert, auch wenn ungegenständliche Strukturen wahrnehmungsprioritär sind. Die Frage, ob eine Fotografie eine Fotografie bleibt, wenn sie keinen Gegenstand zeigt, stellt sich hier nicht. Vielmehr müssen die formalen Ausformungen der vermeintlich abstrakten Fotografien und

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jene der rein abstrakten Bilder sowie deren Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Betrachters differenziert geklärt werden. Für die inhaltliche Ebene von Fotografien – für das, was ein Bild aussagt – bietet sich hingegen die Bezeichnung ‚Abstraktion‘ auch dann an, wenn ein konkreter Gegenstand erkennbar ist: Dies wäre z.B. der Fall, wenn eine Fotografie durch das Absehen vom Spezifischen des singulären Motivs auf etwas Allgemeines verweisen würde. Von einer inhaltlichen Abstraktion könnte weiterhin die Rede sein, wenn sich in der Fotografie ein allegorischer Bezug fände. Der Bedeutung des Allegorischen wird daher in Kapitel II.3. ausführlich nachgegangen.

2. D AS O RNAMENT

ALS

V ERMITTLUNGSPRINZIP

Auf der formalen Ebene stellt sich nun die Frage, ob neben dem Begriff der Abstrahierung zusätzliche Determinanten für die Fotografie geltend gemacht werden können, welche die Formalisierungs- und Strukturprozesse differenzierter beschreiben. Als ein mögliches Instrument werden in dieser Arbeit die Eigenschaften des Ornaments und des Ornamentalen angesehen, die im Folgenden erläutert werden. Für die Diskussion werden die Schriften von Theodor Hetzer38 und Otto Pächt39 berücksichtigt, die sich mit dem Prinzip des Ornamentalen als Flächengestaltung in der Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts auseinandersetzen. Überdies werden die Thesen von Klaus Hoffmann40 und Markus Brüderlin41 diskutiert, die den Rang des Ornaments für die Kunst des 20. Jahrhunderts umfassend herausstellen.42

38 Hetzer, Theodor: Das deutsche Element in der italienischen Malerei des 16. Jahrhunderts (1929). In: ders.: Das Ornamentale und die Gestalt. Hrsg. von Gertrude Berthold. Stuttgart 1987, S. 17-286. Schriften Theodor Hetzers; Bd. 3. 39 Pächt, Otto: Gestaltungsprinzipien der westlichen Malerei des 15. Jahrhunderts. In: ders.: Methodisches zur kunsthistorischen Praxis. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Jörg Oberhaidacher, Artur Rosenauer, Gertraut Schikola. 2. Aufl. München 1986, S. 17-58. Erstveröffentlichung: Gestaltungsprinzipien der westlichen Malerei. In: Kunstwissenschaftliche Forschungen, 2, Berlin 1933, S. 75-100. 40 Hoffmann, Klaus: Neue Ornamentik. Die ornamentale Kunst im 20. Jahrhundert. Köln 1970.

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Zunächst sei eine allgemeine Begriffsbestimmung vorgenommen: Der lateinische Begriff ‚ornamentum‘ verweist auf das Verbum ‚ornare‘: schmücken. Das Suffix ‚mentum‘ kennzeichnet die instrumentale und zweckgebundene Funktion des Ornaments.43 In diesem Sinne steht das Ornament für das „einzelne motivische Schmuckwerk“, während die Ornamentik die „Summe der Schmuckmotive eines Kultur- oder Kunstkreises“ bezeichnet.44 Die Deutung des Ornaments als eine eigenständige Formkategorie entfernt sich jedoch von der bloß schmückenden Funktion: Alois Riegl z.B. charakterisiert das Ornament als ein Bezugssystem zwischen Muster und Grund.45 Dieses Verhältnis zwischen Form und Grundfläche beschreibt das Wesen des Ornaments und zugleich dessen ideengeschichtliche Wandlung. Zwei Grundformen lassen sich definieren: einerseits die ungegenständliche bzw. abstrakte Gestaltform, andererseits jene, die Korrespondenz zur

41 Brüderlin, Markus: Die Einheit in der Differenz. Die Bedeutung des Ornaments für die abstrakte Kunst des 20. Jahrhunderts. Von Philipp Otto Runge bis Frank Stella. Wuppertal, Univ., Diss., 1995, MikroficheAusgabe. Und: Brüderlin, Markus (Hrsg.): Ornament und Abstraktion. Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog. Ausst.-Kat. Fondation Beyeler, Riehen, Basel. Köln 2001. 42 Zudem werden folgende Dissertationen berücksichtigt: Vogt, Marion: Zwischen Ornament und Natur: Edgar Degas als Maler und Photograph. Hildesheim, Zürich, New York 2000. Zugl.: Saarbrücken, Univ., Diss., 1996. Und: Glaser, Katja: Die Funktion des Ornamentalen: kommunikationstheoretische Überlegungen zum Ornament als Zeitform. Schliengen 2002. Zugl.: Essen, Univ., Diss., 2001. 43 Vgl. Irmscher, Günter: Kleine Kunstgeschichte des europäischen Ornaments seit der frühen Neuzeit (1400-1900). Darmstadt 1984, S. 2. 44 Lucie-Smith, Edward: Ornament. In: DuMont’s Lexikon der Bildenden Kunst. 2. Aufl. Köln 1997, S. 208. Verwirrend bei dieser Definition erscheint mir, dass nicht nur die einzelne Form mit Ornament betitelt wird, sondern auch der Verband der Formen im Sinne von Rapport, Flechtband usw. 45 Vgl. Riegl, Alois: Stilfragen. Grundlegung zu einer Geschichte der Ornamentik. Mit einem Nachwort von Otto Pächt. München 1985. Nachdruck der Ausgabe Berlin, 1893. (Kunstwissenschaftliche Studientexte. Hrsg. v. Friedrich Piel. Bd. 1).

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sichtbaren Welt der Gegenstände aufweist.46 Wie sich das ungegenständliche und gegenständliche Ornament zur Grundfläche verhält, besagt das ‚Nordenfalksche Gesetz‘: Je stärker der Gegenstandsbezug des Ornaments ist, desto deutlicher tritt der Grund in die Hintergrundebene und löst sich von der figurativen Erscheinung. Andererseits vereinen sich Ornament und Grundfläche umso deutlicher zu einer einheitlichen Musterebene, je abstrakter die Form des Ornaments ausgebildet ist.47 Mit dem Ornament korrespondieren zugleich die Gesetzmäßigkeiten der Symmetrie und die des Rapports, nach denen die einzelnen Ornamente ordnend ausgerichtet sind. Im Gegensatz dazu ist nach Brüderlin der Begriff des Ornamentalen auf den Inhalt der Form bezogen: Die innere Struktur erfährt durch symmetrische, flächige, rahmende etc. Elemente ein hierarchisch aufgebautes und damit vielschichtigeres Gefüge.48 In seiner Schrift ‚Das deutsche Element in der italienischen Malerei des 16. Jahrhunderts’ attestiert Hetzer der Kunst nördlich der Alpen ornamentale Eigenschaften im Sinne „einer Kräfte veranschaulichenden, in Bewegung bleibenden abstrakten Form, die alles gegenständlich Getrennte zusammenbindet“49. Als charakteristisch stellt sich ein „kompliziertes System ineinandergreifender Lineamente“ dar, wodurch sich „Formen und Bewegungen“ herausbilden, die – z.B. in der Darstellung von Menschen – der natürlichen Körperphysiognomie zuwiderlaufen.50 Im übertragenen Sinne bezieht sich dieses System auf die gesamte Bildanlage: Diverse Bildeinheiten fügen sich in eine bewegte Motivgruppe oder in ein von Marion Vogt abgeleitetes „überfigurales Ornament“51, dessen ganzheitliche Kontur zur ausschlaggebenden Formgröße wird.52 Ein weiterer entscheidender Aspekt im We-

46 Vgl. Brüderlin 1995, S. 35. Vgl. auch Glaser 2002. S. 18f. 47 Vgl. Nordenfalk, Carl: „Bemerkungen zur Entstehung des Akanthusornaments“ 1935. Hier nach Irmscher 1984, S. 6. 48 Vgl. Brüderlin 1995, S. 36. 49 Berthold, Gertrude: Editorische Notiz zu „Das Ornamentale und die Gestalt“. In: Hetzer 1987, S. 7-13, hier S. 10. 50 Hetzer, Theodor: Das Deutsche und das Italienische in ihrer Verschiedenheit. In: Hetzer 1987, S. 23-28, hier S. 24f. 51 Vogt 2000, S. 24. 52 „Auch die Zusammenfassung mehrerer Figuren zu einem, über die Isoliertheit des einzelnen greifenden Ganzen ist durchaus in der deutschen

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sen des Ornamentalen liegt nach Hetzer in der Überführung des Gegenständlichen in eine Wahrnehmung des Ungegenständlichen: „Auch da, wo gegenständliche Formen gemeint sind, [...], empfinden wir das Übergegenständliche und Ungegenständliche, die dunklen und gestreiften Flächen, die mannigfach gezackten, ausgreifenden Silhouetten.“

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Die Bildfiguren werden demnach zueinander in vereinfachte Einheiten überführt, deren Zusammenhalt durch Bewegungsverspannungen definiert ist. Pächt wiederum wendet sich in seinem Beitrag über die ‚Gestaltungsprinzipien der westlichen Malerei des 15. Jahrhunderts‘ den Bildordnungen und den Bildmustern der Raumdarstellung der altniederländischen und altfranzösischen Malerei zu, die sich bei der Übertragung des dreidimensionalen Raumes auf die zweidimensionale Fläche ergeben. In der Flächenprojektion attestiert er den französischen Malern eine ornamentale Gestaltung: „Die französische Bildgestaltung mit ihrer durchgreifenden Tendenz nach einem rational strenggeregelten Bildgefüge findet ihre reinste Erfüllung dann, wenn das Zueinander der Dinge im Raum selbst schon durch das Wirken einer ordnenden Macht bestimmt ist. Wenn schon in der Daseins-, und nicht erst in der Erscheinungsform der Einfluß menschlicher Ratio zu spüren ist. [...] Darstellungsobjekt wird den Franzosen nie die chaotische, immer nur die gezähmte, in rational erfassbaren Formen eingefangene Natur.“

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Und weiter heißt es: „Dadurch, dass in der französischen Malerei das Bildmuster prägnant herausgearbeitet wird, wird die Konstante hier wie nirgends sonst greifbar, denn sie ist an einer konkreten Form, einem überall durchschauenden Formgerüst, ablesbar. [...] Bei den Franzosen [...] ist das Grundschema um einen Grad weniger latent, besitzt eine konkrete, ornamentale Ausprägung [...].“

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Malerei die Regel [...].“ Hetzer, Theodor: Das deutsche Element. In: Hetzer 1987, S. 71-97, hier S. 78. 53 Ebd., S. 76. 54 Pächt 1986 (1933), S. 52. 55 Ebd., S. 56f.

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Das Ornamentale spiegelt sich nach Pächt in einer Art Makrostruktur wider, die dem Bildgrund z.B. durch einzelne oder mehrere Rauten, gebildet durch Mauern, Flüsse, Spaliere etc., auferlegt werden. In dieses Liniennetz fügt sich schließlich die Szenerie ein.56 Andererseits verweist er darauf, dass bei der Sicht auf die bildnerische Ordnung keinesfalls die räumliche Komponente außer Acht gelassen werden darf, da Bildfläche und Bildraum sich gegenseitig durchdringen und eine „Doppelgesetzlichkeit“ bilden.57 Der wesentliche Unterschied zwischen dem Ornament und dem Ornamentalen liegt in der Divergenz von Rapport bzw. Symmetrie und Gestalt in überfiguraler Funktion sowie im Unterschied zwischen Rapport und ordnenden Formkompositionen. Während das Ornament von einer sich wiederholenden Struktur, also von Unendlichkeit gekennzeichnet ist, bauen sich die Elemente im Ornamentalen zu einer vereinheitlichten bewegten Form auf, oder die Elemente werden in konkrete Formen zusammengefasst, zu denen es keine fortlaufenden Entsprechungen gibt. Das Abstraktionsphänomen des Ornamentalen liegt in der Stilisierung des Natürlichen begründet: Bildelemente erfahren eine Verflächigung oder Reduzierung und besitzen zugleich eine verstärkte Konturierung oder Linearisierung. Das Ornament weist ebenfalls Stilisierungen auf, doch rhythmisiert es zugleich die Wahrnehmung des Betrachters. Klaus Hoffmann erläutert das Ornament in Zusammenhang mit der Moderne und bezeichnet dessen Verhältnis zum Ornamentalen als assoziativ: „Die Ornamentalformen lassen sich zum Ornament hin assoziieren, aber sie sind im Regelfall keineswegs Ornamente. Tatsächlich wird jemand die Bilder missverstehen, der darin nach (alten) Ornamenten sucht. Die Neue Ornamentik hat gemeinsam mit dem alten Ornament (dem Zierornament) das Additive, den Linearismus, Symmetrie-Phänomene und die vergleichbare innere Struktur (das Strukturgerüst). Doch von dieser Gemeinsamkeit her kann keine Abhängigkeit gefolgert werden; denn Addition, Strukturgerüst, Symmetrie usf. lassen sich durchweg auf Bildern finden, die keine Ornamente enthalten und bei denen das Ornamentale nur mitläuft bzw. vollständig fehlt.“

56 Vgl. ebd., S. 53f. 57 Vgl. ebd., S. 19. 58 Hoffmann 1970, S. 151.

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Die Überführung von Gesetzmäßigkeiten des Ornaments in die Kunst der Moderne berücksichtige auch, dass sich Ornament und Grundfläche angenähert haben: Die Fläche sei nicht mehr Träger einer schmückenden und aufgesetzten Ornamentform, sondern es finde eine Verschmelzung beider statt. Zum Ausdruck gelange schließlich eine strukturierende und ordnende Kategorie mit Eigenwert, welche die visuelle Wahrnehmung des Menschen beeinflusst und unterstützt.59 Die Gefahr bei der Bestimmung ornamentaler Strukturen liegt – wie auch Hoffmann andeutet – in ihrer Verwechslung mit strukturierenden Kompositionen, die in jedem Bild zu finden sind. Überdies sei unter der Neuen Ornamentik nicht das Aufleben alter Ornamente und Ornamentmuster zu verstehen, vielmehr werde das Ornamentale mit der Assoziation hin zum Ornament in die Kunst zurückgeholt. In den Ausführungen Hoffmanns zur ornamentalen Kunst des 20. Jahrhunderts werden die Begriffe Neue Ornamentik und das Ornamentale synonym in Abgrenzung zur Alten Ornamentik verwendet. Die Neue Ornamentik in der Kunst seit den 60er-Jahren wird nach Hoffmann definiert „als autonomisierter Bild- und Dingwert innerhalb eines Bildraumes, der die Erfahrungen der Abstraktion, der konkreten Kunst, der formellen und der informellen Richtungen verwendet. Dieser Bildraum ist unperspektivisch, antiillusionistisch und mehrdimensional; er ist ein fluktuierendes, elastisches RaumZeit-Kontinuum, ein Raum-Feld, das sich aus ornamentaler Struktur, ornamentalen Zeichen oder ornamentaler Figuration bildet und die Phänomene zwischen der Verflächigung und der Entflächung behandelt.“

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Es wird deutlich, dass Figur und Grund nicht mehr zu unterscheiden sind und bildnerisch keine perspektivische Wahrnehmung der Welt konstruiert wird. Die zweite Definition zielt auf die Momente des Strukturellen: „Das neuornamentale Bild enthält als Farbformgerüst in einem punktuellen, geometrisch-linearen oder/und organisch-linearen Flächenraum oder Raumfeld eine entwickelte An-Ordnung […] variabel oder invariabel gereihter, permu-

59 Vgl. Claus, Jürgen: Die Expansion der Kunst, 1970. Hier nach Hoffmann 1970, S. 101. 60 Hoffmann 1970, S. 159.

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tierter oder affizierter wiederkehrender Linien, Formfarbzeichen oder Strukturen.“

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Die Überlegungen Hoffmanns beziehen sich dabei auf eine weitestgehend ungegenständliche Malerei. Künstler wie Klimt, Klee, Matisse oder Picasso mit gegenständlichem Bezug werden vielmehr als wegweisend für die Neue Ornamentik eingestuft. Im Folgenden soll die Relation von Ornament und Abstraktion genauer erläutert und der Eintritt des Ornaments in die abstrakte Malerei des 20. Jahrhunderts nachvollzogen werden. Letzteres machte sich die Fondation Beyeler mit dem Ausstellungsprojekt ‚Ornament und Abstraktion‘62 im Jahr 2001 zur Aufgabe. Markus Brüderlin beschreibt darin die Erscheinungsformen des Ornaments und dessen Einfluss auf die Begründung und Entwicklungsgeschichte der ungegenständlichen Kunst: „Es ist die ‚Geschichte‘ der Arabeske, dem neben der Rocaille letzten genuinen Ornament der Ornamentgeschichte, das sich am Anfang des 19. Jahrhunderts als ‚blinder Passagier‘ in der neuartigen Konzeption des romantischen Bildes (Runge) einnistet und das beginnt, über den Symbolismus (Gauguin) und den Jugendstil (van de Velde, J. Hoffmann) die Strukturgeschichte der abstrakt werdenden Kunst zu beeinflussen. Wie sich das arabische Ornament in pflanzliche Arabeske und geometrischen Flechtbandstern aufteilt, so gabelt sich die lineare Abstraktion in einen geometrischen (Rodtschenko, Mondrian, Albers) 63

und einen organischen Zweig (Kandinsky, Matisse, Pollock, [...]).“

Zwei Gedankenstränge lassen sich an dieser Stelle aufzeigen: Brüderlin geht von einer geradlinigen Entwicklung aus, in der sich die Arabeske über Runge von ihrer eigentlichen Form löst und aus der sich zwei neue abstrakte Strukturtendenzen entwickeln konnten. Brüderlin parallelisiert zudem die Aufspaltung der linearen Abstraktion mit der Gabelung des arabischen Ornaments.

61 Ebd., S. 161. 62 Ausstellung: „Ornament und Abstraktion – Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog“ in der Fondation Beyeler, Riehen, Basel, 10. Juni – 7. Oktober 2001. 63 Brüderlin, Markus: Einführung: Ornament und Abstraktion. In: Brüderlin 2001, S. 16-27, hier S. 21.

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Durch die Verwendung der Arabeske als gestalterische Bildform durch Runge wird der Weg zur Annäherung von Figur und Grund und schließlich zur Abstraktion in der bildenden Kunst geebnet. Das Wesen des Ornamentes, rahmend, aber vor allem als flächige Konstruktion in Erscheinung tretend, wird im ‚Zyklus der vier Tageszeiten‘64 zukunftsweisend umgesetzt. Während die ornamentale Rahmengestaltung den Inhalt des Bildes symbolisch wiederholt, wird das tatsächliche Bildfeld ornamental schematisiert und in eine sich ausdehnende Fläche überführt. Die Nachfolger Runges beginnen schließlich die Arabeske in Linien zu überführen (Van de Velde), sie zu zerlegen (Kandinsky), sie zu geometrisieren (Mondrian) oder sich dieser in Kurven und Geraden erneut anzunähern (Kupka). Der perspektivische Raum wird zugunsten der Fläche aufgelöst, die sich in ornamentalen Strukturen und Figurationen konkretisiert.65 Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Ornament im Allgemeinen als schmückendes, inhaltsleeres oder unnötiges Beiwerk galt, lagen auch vereinzelte Schriften vor, die das Ornament eben von der Funktion des Schmückenden befreiten und ihm eine originäre Formensprache attestierten. Neben Alois Riegl, der in seinem Buch ‚Stilfragen‘ von 1893 die Entwicklungsgeschichte und die künstlerischen Eigenschaften der Arabeske bzw. des Ornaments nachvollzog, legte Wilhelm Worringer 1907/08 in seiner Dissertation ‚Abstraktion und Einfühlung‘ u.a. den abstrakten Charakter des Ornaments dar. Obwohl die Texte nicht im Zusammenhang mit der Abstraktion des 20. Jahrhunderts stehen, seien formale Kongruenzen – so Brüderlin – nicht von der Hand zu weisen.66 Riegl erläutert u.a. die unterschiedlichen Merkmale des Pflanzenrankenornaments: Während sich in der griechischen Ornamentik die Palmettenranke verlebendige, trete in der sarazenischen Ornamentik die Arabeske geometrisiert und schematisiert in Erscheinung. Die Entwicklungslinie verlaufe dabei folgendermaßen:

64 Philipp Otto Runge, ‚Vier Zeiten‘ oder ‚Zyklus der vier Tageszeiten‘, 1802/03, Federzeichnung, Hamburger Kunsthalle. Später auch als Kupferstich ausgeführt. 65 Vgl. Brüderlin 2001a, S. 23. 66 Vgl. ebd., S. 17f.

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„Der Ausgangspunkt der Pflanzenornamentik im Orient (Egypten) war die geometrische Spirale, an welche sich die Blüt[h]enmotive als blosse accessorische Zwickelfüllungen anschlossen. Die Griechen gestalteten daraus die lebendige Ranke, an deren Schösslinge und Enden sie schön gegliederte Blüt[h]enmotive ansetzten. Im saracenischen Mittelalter kommt der [...] orientalische Geist der Abstraktion abermals zur Geltung, indem er die Ranke wiederum geometrisi[e]rt.“

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Worringer leitet davon einen Ausgleich zwischen Abstraktion und Naturalismus in der Ornamentik ab. So besitze in der sarazenischen Ornamentik die Abstraktion, in der griechischen Ornamentik hingegen der Naturalismus das gewichtigere Maß.68 In der (Alten) Ornamentik wird demnach zwischen den abstrakten und den gegenständlichen Komponenten vermittelt. Zudem zeigt die Entwicklungsgeschichte des (Alten) Ornaments, dass einerseits der „Prozess der Abstrahierung“ möglich ist, andererseits „eine abstrakte Linienkonstruktion auch gegenständlich ‚figurieren‘ kann“.69 Die Ausführungen Hoffmanns und Brüderlins verweisen zudem auf die Verwendung der ornamentalen Gesetzmäßigkeiten – unter Berücksichtigung der Annäherung von Figur und Grund sowie der Verdrängung des Zierrats – sowohl in der gegenständlichen als auch ungegenständlichen Kunst des 20. Jahrhunderts. Welches Medium könnte die Zustände abstrakt/gegenständlich oder kristallin/organisch besser in sich vereinigen als die Fotografie: Es trägt den Moment des Abbildes wesensgemäß in sich, kann sich jedoch unter bestimmten Bedingungen der Bildkomposition zu einer abstrahierend-ornamentalen reinen Ästhetik transformieren. Brüderlin fordert für die bildende Kunst, „[e]s wäre also Zeit, neben ‚abstrakt‘, ‚konstruktiv‘ und ‚konkret‘ das Adjektiv ‚ornamental‘ gleichsam als vierte Kategorie in das System der ungegenständlichen Kunst einzuführen. ‚Ornamental‘ würde aber nicht einfach den gegenläufigen Vorgang zu ‚abstrakt‘ meinen, sondern eine Art Vermittlungsprinzip

67 Riegl 1985 (1893), S. 267. 68 Vgl. Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie. Mit einem Nachwort von Sebastian Weber. Amsterdam, Dresden 1996, S. 116f. 69 Brüderlin 2001a, S. 25.

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zwischen ‚gegenständlich‘ und ‚ungegenständlich‘, das der bisher einseitig ausgerichteten Abstraktionsgeschichte einen reversiblen Modus einbaut. Vieles ließe sich dadurch besser verstehen, gerade auch im Hinblick auf die neuen 70

Medien [...] und die Ästhetik der virtuellen Realitäten [...].“

Das Vermittlungsprinzip des Ornamentalen kann innerhalb der Fotografie den Sachverhalt beschreiben, dass sich der Betrachter vom gegenständlichen Abbild zu lösen vermag, weil die fotografische Oberfläche als Assoziationsfeld für Strukturen und Konstruktionen fungiert. Während die absolute Abstraktion das Gegenständliche eliminiert, können die formalen Ausprägungen des Ornamentalen und des Ornamentes auch auf gegenständliche Darstellungen bezogen werden. Die im Ornament bzw. im Rapport noch stärker ausgeprägten Gesetzmäßigkeiten führen darüber hinaus dazu, dass sie alles „in ein visuelles Vergnügen“ 71 verwandeln. Im Kontext der vorliegenden Untersuchung werden neben Abstraktion und Abstrahierung die Begriffe des Ornamentalen und des Ornaments konkret in die Betrachtung und Deutung von Fotografie eingeführt. Das Ornamentale soll einerseits im Sinne von Pächt und Hetzer verstanden werden: als überfigurale, auf die Inhalte der Form bezogene Ordnungsprinzipien in Verbindung mit naturalistischer Darstellung von Figur und Landschaft. Andererseits soll der Begriff auch Verwendung finden, wenn es um eine assoziative Annäherung an Gesetzmäßigkeiten des Ornaments geht. Das Ornament wird dabei – unter Berücksichtigung des Vermittlungsprinzips – als Element der Neuen Ornamentik verstanden.

3. ‚ALLEGORISCHE P OTENZ ‘ Im Zusammenhang mit der Einführung der Abstraktion in die bildende Kunst in Form allegorischer Darstellungsweisen und mit den abstrakten Bezügen des Ornaments wird im Folgenden zunächst die Beziehung zwischen Ornament und Allegorie dargestellt. In einem weiteren

70 Ebd., S. 25. 71 Grabar, Oleg: Islamische Ornamentik und westliche Abstraktion – Kritische Anmerkungen zu einer Wahlverwandtschaft. In: Brüderlin 2001, S. 70-73, hier S. 71.

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Schritt lassen sich die historischen Bezüge und Inhalte des AllegorieBegriffs in der Literatur und der Kunst klären, um eine mögliche Anwendung im Medium der Fotografie zu begründen. Werner Busch hat die Kunst des 19. Jahrhunderts in Deutschland unter den Prämissen der „Wirklichkeitsaneignung“ und „Stilisierung“ untersucht.72 Dabei führt er als struktur- und formgebendes Merkmal die Arabeske an, mit deren Hilfe den Kunstwerken jener Zeit neue Bedeutungszusammenhänge zugeschrieben werden können. Die „romantische[n] Allegorie“ bewerte mittels der neuen Strukturfunktion die Arabeske neu und befreie sie von ihrem Dasein einer „bloße[n] Ornamentform“, denn das „Niedrigste kann romantisiert zum Höchsten nobilitiert werden“.73 Für Philipp Otto Runge zum Beispiel beschreibt Busch die doppelte Bedeutung der Arabeske: Sie könne als reine Ornamentform gelten, aber auch in der Funktion einer Hieroglyphe auf etwas Mystisches verweisen. Die Arabeske ermögliche es, die Prozesse der Natur und höheren Lebensformen auf abstrakte Weise darzustellen. Von den Erscheinungsformen der Arabeske seien für Runge jene der „Regularität und Symmetrie“ von besonderer Bedeutung, da sie das „Moment der Abstraktion“ unterstreichen. Als „Form der Stilisierung“ generiere diese wiederum „allegorische Potenz“.74 Bei Eugen

72 Busch, Werner: Die notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts. Berlin 1985. Zugl.: Bonn, Univ., Habil., 1979. 73 Ebd., S. 13. Vgl. zur Verdrängung der traditionellen Ikonographie durch die romantische Allegorie ebd., S. 13-43. 74 Ebd., S. 51. Und vgl. ebd., S. 49ff. Busch bezieht sich hinsichtlich des Bedeutungswechsels der Arabeske bei Runge auf Traeger, Jörg: Philipp Otto Runge und sein Werk. Monographie und kritischer Katalog. München 1975, S. 115. Die Formprinzipien der Arabeske bei Runge leitet Busch von Runges Schriften ab: vgl. Philipp Otto Runge. Hinterlassene Schriften. Hrsg. v. dessen ältestem Bruder. Erster Theil. Hamburg 1840, S. 35 und ebd. Zweyter Theil. Hamburg 1841, S. 195. Busch erläutert, dass die Arabeske bereits in der frühromantischen Literatur als Prinzip der Strukturierung zur Anwendung gelangt. Das Strukturprinzip hat – wie z.B. in den Werken von Friedrich Schlegel um 1800 – folgende Erscheinung: „kreisenden, gestaltlosen Rhythmus, künstlich geordnete Verwirrung, Häufung von Bildern, reizende Symmetrie, universale Korrespondenzen, musikalischen Aufbau, Fülle und Leichtigkeit“. Busch 1985, S. 51. Busch führt u.a.

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Napoleon Neureuther hingegen wandle sich die Bedeutung der Arabeske im 19. Jahrhundert vom Träger mystischer Sehnsuchtsgedanken zu einer kritischen Darstellungsform für historische Themen. Unter Beibehaltung der arabesken Prinzipien würden beispielsweise der industrielle Fortschritt unter ästhetischen Gesichtspunkten ins Bild gesetzt. Neureuthers Arbeit ‚Maschinenfabrik und Gießerei Klett & Co‘75 von 1858 sei durch Symmetrie, horizontale und vertikale Gliederung, arabeske Motivik und allegorische Verweise gekennzeichnet. Industrie und Natur fänden in stilisierter und abstrahierender Form zur Einheit. Das Werk „stellte ein faszinierendes System der Verschleierung zur Verfügung, ein beliebig verwendbares Ordnungsgerüst. Seine Fülle und Vielfältigkeit, sein ornamentaler Reiz, sein spielerischer Charakter, konnten alles Unanschauliche, Hässliche, Widersprüchliche, Unorganische, Irritierende, Furchteinflößende, allzu Prosaische und vor allem Machtverkörpernde übertünchen, ihm einen scheinbaren Sinn geben.“76

Beide Formen der Verwendung arabesker Strukturprinzipien sind von der Allegorie bestimmt, mittels derer die Bildebene und die Bedeutungsebene in Einklang gebracht werden konnten.77 Wie ist ein solcher Einklang nun zu verstehen? Die altgriechische Herkunft – ‚allegorein‘ = ‚anders sagen‘ – verweist zunächst auf eine weit ausgreifende Bedeutung des Wortes. Es bezeichnet im Grunde alle Zeichen, deren eigentlicher Sinn, „das ‚Sagen‘ an sich“, mit einem anderen Sinn, dem „‚Sagen‘ als ‚Anders-Sagen‘“, verbunden ist.78 Die

folgende Schriften von Schlegel an: Friedrich Schlegel. Gespräch über die Poesie (1800). In: ders.: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Hrsg. und eingel. von Hans Eichner (= Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe, Bd. 2). München, Paderborn, Wien 1967, S. 329-339. Und: Friedrich Schlegel. Literary Notebooks 1797-1801. Ed. Hans Eichner. London 1957, Nr. 407. 75 Eugen Napoleon Neureuther, Maschinenfabrik und Gießerei Klett & Co., 1858. Nürnberg, MAN-Archiv. Abb. in: Busch 1985, S. 127. 76 Busch 1985, S. 126. Vgl. auch ebd., S. 125f. 77 Vgl. ebd., S. 132. 78 Tragatschnig, Ulrich: Sinnbild und Bildsinn. Allegorien in der Kunst um 1900. Berlin 2004, S. 21. Vgl. auch die Bedeutung der Allegorie in: Der

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Allegorie enthält demnach zwei Sinnebenen, von denen die eine von außen erkennbar ist, während die andere zunächst verborgen bleibt. Das altgriechische Wort ‚agorenein‘ impliziert zudem die Bedeutungen ‚öffentlich reden, sprechen, verkünden‘ und verweist auf die lange Tradition des Gebrauchs der Allegorie in der Rede – speziell in der Rhetorik.79 Dabei gilt für die Allegorie: „Sie meint, was sie sagt (verbis) und sie meint damit und dadurch noch etwas anderes (sensu), auf das es vor allem ankommen kann. Der Autor einer Allegorie will das Gesagte so verstanden wissen, daß es verstanden wird und noch etwas anderes mitverstanden wird.“80

Das wörtliche Verständnis des Allegoriebegriffs hat in der Rhetorik eine Erweiterung insofern erfahren, als die Allegorie auch „etwas sagt und zugleich etwas Anderes, mitunter sogar dessen Gegenteil sagt“81.

Brockhaus Kunst. Künstler, Epochen, Sachbegriffe. 2., völlig neu bearb. Aufl. Leipzig, Mannheim 2001, S. 32. 79 Vgl. Tragatschnig 2004, S. 21. 80 Kurz, Gerhard: Metapher, Allegorie, Symbol. 3., bibliogr. erg. Aufl. Göttingen 1993, S. 35. 81 Reijen, Willem van [Hrsg.]: Allegorie und Melancholie. Frankfurt am Main 1992, S. 9. Reijen bezieht sich auf Kurz, Gerhard: Metapher, Allegorie, Symbol. 2., verb. Aufl. Göttingen 1988, S. 32ff. „Die Allegorie, die man im Lateinischen als inversio [Umkehrung] bezeichnet, stellt einen Wortlaut dar, der entweder einen anderen oder gar zuweilen den entgegengesetzten Sinn hat.“ Kurz 1993, S. 34f. Kurz verweist dabei auf Quintilianus, der in Entsprechung zum gegenteiligen Sagen auch die Ironie zur Allegorie zählt. Vgl. Quintilianus, M.F.: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. und übers. v. H. Rahn. Darmstadt 1975. Hier: VIII, 6, 54. Der Allegorie als Literaturform ging die Allegorese – Methode der Hermeneutik – voraus, mit der seit der Antike die Auslegung von Texten verbunden war, d.h. die Suche nach dem Bedeutungssinn von Worten. Angewandt wurde sie zunächst auf die homerischen Epen, im Mittelalter dann auf biblische sowie virgilische Texte. Mit dem Motiv der Apologie erhielten die Schriften eine Rechtfertigung und entgingen durch das Hinzufügen eines anderen Bedeutungssinns dem Vorwurf, von skandalösem oder absurdem Inhalt zu sein. Vgl. Kurz 1993, S. 45.

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Erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts wird die allegorische Auslegung von der Literatur allmählich auf die bildende Kunst übertragen. Dort bedeutet das Allegorische „eine sinnliche Darstellung von etwas Abstraktem – eine Verknüpfung zwischen zwei semantischen Niveaus, von denen das erste konkret abgebildet (bzw. im jeweiligen Zeichen konkretisiert), das zweite aber abstrakt, rein begrifflich realisierbar ist“82.

Rückwirkend auf die Kunstgeschichte projiziert, wird unter Allegorie in der Regel die Darstellung eines abstrakten Begriffs oder eines abstrakten Vorgangs in Form einer Personifikation verstanden, die jedoch nicht allein, sondern im Zusammenschluss mit weiteren Personifikationen oder auch Figuren das abstrakte Moment illustriert.83 Neben der

82 Tragatschnig 2004, S. 22. Damit waren z.B. Bilder gemeint, wie in der Iconologia von Cesare Ripa selbst formuliert, deren Bedeutung vom eigentlich Gezeigten abwich: „Imagini fatte per significare una diversa cosa da quella, che si vede con l’occhio“. Ripa, Cesare [Giovanni Campani]: Iconologia overo descrittione dell’imagini universali cavate dall’antichita et da altri luoghi (etc.). Roma 1593, Proemio. Zitiert nach Tragatschnig 2004, S. 22. 83 Vgl. Straten, Roelof van: Einführung in die Ikonographie. Berlin 1989, S. 49. In Italien nutzte z.B. Giovanni Pietro Bellori (* 1636, † 1700, ital. Kunsttheoretiker und -historiker) zur Deutung der mythologischen Darstellungen von Annibale Carracci (* 1560 Bologna, †1609 Rom, u.a. Fresko im Palazzo Farnese in Rom) den Allegorie-Begriff. Vgl. Warncke, Carsten-Peter: Symbol, Emblem, Allegorie. Die zweite Sprache der Bilder. Köln 2005, S. 13. Vgl. dazu: Giovan Pietro Bellori. Le Vite de’ Pittori. Scultori e Architetti moderni. A cura di Evelina Borea. Introduzione di Giovanni Previtali. Torino 1976. Die Deutschen und Niederländer hingegen bevorzugten den Ausdruck des ‚Sinnbildes‘: „Wat is een zinnebeeld? Wat het schone word zegt: Een zin met een beeld, innig verenigd; een diepe zin, die in een schoon beeld gaat wonen, een schoon beeld, waarbij een diepe zin te denken is“ / „(Was ist ein Sinnbild? Wie es das schöne Wort sagt: ein Sinn, der mit einem Bild eng verbunden ist, ein tiefer Sinn, der in einem schönen Bild enthalten ist, ein schönes Bild, bei dem ein tiefer Sinn mitzudenken ist).“ Zitiert nach Warncke 2005, S. 14. Vgl. auch Warncke, Carsten-Peter: Sprechende Bilder – sichtbare Worte. Das Bild-

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Allegorie wird das Symbol als Zeichen zur Verbildlichung von abstrakten Begriffen und Vorstellungen aufgefasst, welches im Gegensatz zur Allegorie nur als Verweis auf etwas gilt und nicht das Gemeinte selbst verkörpert. Der Begriff des Symbols – der in der Kunsttheorie schon vor der Allegorie Bedeutung erlangte – war jedoch ebenfalls einem historischen Sinnwandel unterworfen, so dass in der frühen Neuzeit weitere Begriffe wie Hieroglyphen, Devisen oder Embleme darunter subsumiert wurden.84 Im 19. Jahrhundert kam die Allegorie durch Kunsttheoretiker wie Gotthold Ephraim Lessing oder Moses Mendelssohn, die sie als sterile Gedankenkonstellation empfanden, in Misskredit. Johann Joachim Winckelmann oder Johann Wolfgang Goethe hingegen bewerteten die Allegorie konstruktiver. Goethe z.B. differenziert folgendermaßen zwischen Symbol und Allegorie: „Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht oder im Besonderen das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie, sie spricht ein Besonderes aus, ohne an’s Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig fasst, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.“85

Für den Dichter der Allegorie bedeutet dies, dass er nach einer „sinnlich-individuelle[n] Erscheinung“ sucht, um das ihr innewohnende „Allgemeine oder die Idee“ beispielhaft zu veranschaulichen.86

verständnis in der frühen Neuzeit. Wiesbaden 1987, S. 178 Anm. 368 und S. 179 Anm. 370. 84 Vgl. Warncke 2005, S. 11ff. 85 Goethe, Johann Wolfgang: Maximen und Reflexionen. In: Werke, Hamburger Ausgabe, Band 12, S. 471. Zitiert nach Reijen 1992, S. 11. 86 Sørensen, Bengt Algot: Die „zarte Differenz“. Symbol und Allegorie in der ästhetischen Diskussion zwischen Schiller und Goethe. In: Haug, Walter (Hrsg.): Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978. Stuttgart 1979, S. 632-641, hier S. 633. Der symbolisierende Dichter hingegen „schaut im Besonderen das Allgemeine, in der realen Erscheinung die Idee. Er sucht nicht, sondern er schaut, d.h. sein Wille und Bewußtsein spielen im Moment der Perzeption keine aktive Rolle; er verhält

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Das Aufleben der Allegorie in der Literaturtheorie der Postmoderne ist mit der seit den 1960er-Jahren einsetzenden Rezeption des Buches ‚Ursprung des deutschen Trauerspiels‘87 von Walter Benjamin verbunden, das schon 1928 erschienen war. Benjamin expliziert seine Thesen zum Allegorischen am Beispiel der barocken Trauerspiele und findet darin – verkürzt dargestellt – „Vergänglichkeitsbewusstsein[s]“88 ausgedrückt. Die kulturellen und gesellschaftlichen Phänomene des 17. Jahrhunderts, die sich im barocken Trauerspiel allegorisch widerspiegeln, sieht Benjamin im 19. Jahrhundert fortgeführt. Für ihn gelte zunächst – nach Ausführungen von Reijen – die Nähe zwischen dem absolutistischen Staat und der totalitären Tendenz der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit. Im Absolutismus finden sich Gegensätze wie „Konstruktion und Zerstörung“, „Hoffnung und Trauer“ oder „Wirklichkeit und Fiktion“, die durch das Allegorische vermittelt werden können und ihre Bestimmung im Nebeneinander haben.89 Der barocke Mensch habe seine kulturelle und gesellschaftliche Situation aufgrund der Unversöhnlichkeit der Gegensätze als eine „an-

sich intuitiv im ursprünglichen Sinne dieses Wortes. Dies setzt aber voraus, daß das Allgemeine in dem Besonderen noch vor dem Schauen schon enthalten ist, daß also die Idee den sinnlichen Erscheinungen der Gegenstandswelt innewohnt. Dies entspricht durchaus dem Realitätsbegriff Goethes.“ Ebd., S. 633. 87 Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: ders.: Gesammelte Schriften I. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1974, S. 203-430. Zu den Theoretikern, die sich in der Nachfolge Benjamins mit dem Begriff der Allegorie auseinandergesetzt haben, gehört vor allem Paul de Man mit folgenden Titeln: The Rhetoric of Temporality, 1969. In: ders.: Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism. Second Edition, Revised. Introduction by Wlad Godzich. (Theory and History of Literature, Vol. 7). Minneapolis 1983, S. 187-228. Und: Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust. New Haven, London 1979. 88 Kahl, Michael: Der Begriff der Allegorie in Benjamins Trauerspielbuch und im Werk Paul de Mans. In: Reijen 1992, S. 292-317, hier S. 297. 89 Reijen, Willem van: Einleitung. In: Reijen 1992, S. 7-16, hier S. 12.

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tithetische[n]“ Daseinsform aufgefasst.90 Benjamin habe nun die allegorische Sichtweise mit der Melancholie in Verbindung gebracht. Reijen erläutert: „Das Bewusstsein der Vergänglichkeit irdischer Güter und Werte stimmt melancholisch – auf jeden Fall dann, wenn das himmlische Glück unsicher ist. Das heißt aber keineswegs, daß Melancholie und Allegorie nur Destruktion und Zerfall zum Ausdruck bringen können. Auch die schöpferische, genialische Perspektive auf die Welt findet die ihr angemessene Form in der Allegorie.“91

Zum Ausdruck gelangt im sog. „Anders-sein“ die Zweipoligkeit von „Ekstase“ und „Todessehnsucht (‚La petite mort‘)“.92 Reijen transferiert schließlich die von Benjamin erkannte Entwicklung der Allegorie bis in die Postmoderne, in der es – wie in der Romantik und dem Barock – auch um das „Anders-sein“ gehe.93 Bryan S. Turner führt in diesem Zusammenhang die Barockkultur an, vor deren Hintergrund die kulturellen Entwicklungen und Krisen der modernen Gesellschaften Europas erörtert werden können.94 So sei die gesellschaftliche und urbane Krise des 17. Jahrhunderts mit jener des 20. Jahrhunderts vergleichbar. Auch für die Postmoderne seien Probleme wie die Umwelt- und Wirtschaftskrise oder globale Epidemien einerseits und die Welt des 24-Stunden-Spektakels und der Hy-

90 Reijen, Willem van: Innerlichkeit oder Begriffsarbeit? – Die Barockrezeption W. Benjamins und Th.W. Adornos. In: Reijen 1992, S. 17-31, hier S. 19. Reijen erläutert, dass Benjamin hinsichtlich des Antithetischen vermutlich von Arthur Hübschers Aufsatz ‚Barock als Gestaltung des antithetischen Lebensgefühls‘ (in: Euphorion 24, 1922, S. 517f. u. S. 759f.) inspiriert wurde. 91 Reijen 1992a, S. 13. 92 Reijen, Willem van: Die authentische Kritik der Moderne. München 1994, S. 63. 93 Vgl. ebd. 94 Turner bezieht sich hier auf Christine Buci-Glucksmanns Schrift: La Raison Baroque. Baudelaire. Benjamin. Paris 1984. Vgl. Turner, Bryan S.: Ruine und Fragment. Anmerkungen zum Barockstil. In: Reijen 1992, S. 202-223, hier S. 217.

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perrealitäten andererseits zu nennen.95 Die destruktiven Kräfte der Gesellschaft des 17. Jahrhunderts gelangten aber bereits im 19. Jahrhundert zu ihrem ersten Höhepunkt in Form des durch die Warengesellschaft irregeführten Menschen.96 Die seit dem Barock in der Gesellschaft platzgreifenden Ambiguitäten haben in der Kunst durch das allegorische Prinzip ihren Ausdruck gefunden. Für die postmoderne Architektur verwendet W. Jencks den Begriff „double coding“97, da etwas gesagt und zugleich etwas anderes gesagt wird. Um sich den Fotografien Gurskys mit dem Interpretament des Allegorischen zu nähern, ist es sinnvoll, den Begriff im weitesten Sinne zu verwenden. Eine verwertbare Arbeitsdefinition bietet u.a. Ulrich Tragatschnig an: „Die Allegorie schafft eine Verknüpfung zwischen dem Präsenten, im Bild als solchem Manifesten und einem im Bild selbst eigentlich Absenten, worauf das Bild verweist. Jedes darstellende Bild stellt so eine Verbindung her, insoweit es als Darstellung präsent ist und damit etwas anderes bezeichnet, was selbst absent, außerhalb des Bildes ist. Die Allegorie jedoch, könnte man sagen, stellt insoweit den Prototyp des Zeichens dar, als sie die Verbindung zwischen Präsenz und Absenz in besonderer Weise fühlbar macht, ist doch das mit ihr bezeichnete Absente selbst abstrakt und damit uneinholbar absent.“98

Susanne Knaller definiert das Allegorische überdies als Vorgang einer „Übersetzung“: Eine visuell erkennbare Erzählung leitet als semiotisches Zeichen zu einer weiteren Erzählung über, die gleichwertig neben der ersten steht.99 Im künstlerischen Werk kann daher durch die Allegorie das visuell Wahrnehmbare und das auf abstrakter Ebene zu Erschließende gleichzeitig und in einem auch antithetischen Verhältnis zueinander dargestellt werden.

95 Vgl. Turner 1992, S. 217f. 96 Vgl. Reijen, Willem van: Labyrinth und Ruine. Die Wiederkehr des Barock in der Postmoderne. In: Reijen 1992, S. 261-291, hier S. 261. 97 Jencks, W.: The language of postmodern Architecture. New York 1977. Hier nach Reijen 1992a, S. 9. 98 Tragatschnig 2004, S. 338. 99 Knaller, Susanne: Zeitgenössische Allegorien – Literatur, Kunst, Theorie. München 2003, S. 11.

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4. P RINZIPIEN FÜR G URSKY – POTENZIELLE ‚ FOTOGRAFISCHE P RÄGNANZ ‘ Der Begriff der Abstraktion wurde im theoretischen Diskurs facettiert und in seinen unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen dargestellt. Die komplexe und zum Teil konträre Fotografiedebatte hat deutlich gezeigt, dass die Theorie häufig nicht auf die Praxis anwendbar ist und das Ansinnen von Kellein und Lampe, Teilbereiche der Fotografie einem generellen und ganzheitlichen Begriff zu subsumieren, in Frage gestellt werden muss. Eine Dekonstruktion des unscharfen Abstraktionsbegriffs und seine Neubestimmung sind daher vonnöten: mit der Abwendung von einer allzu technizistisch orientierten Bildbestimmung und der Hinwendung zu einer formalen und inhaltlichen Bilderschließung. Diese mündet in eine polydimensionale Annäherung an das Werk von Andreas Gursky, in deren Verlauf die Frage nach der Abstraktion beantwortet werden soll. Die aus dem Diskurs gewonnenen Ergebnisse werden im Folgenden zusammengefasst und auf ihre Relevanz als Parameter für eine Kategorisierung des Gursky-Gesamtwerks untersucht. Die Definitionen der Fotografiedebatte sind aufgrund der diversen Bildarten nur zu gewissen Teilen übertragbar. In Anbetracht der Überlegungen Jägers zeigt sich, dass nur die Erklärungsmuster für die Strukturbilder erster Ordnung sinnvoll sind, da es sich bei Gurskys Arbeiten weder um Wissenschaftsfotografien, noch um kameralos entstandene Lichtbilder handelt. Im Sinne von Jäger wären Gurskys Arbeiten auf eine „Abstraktion des Sichtbaren“100 bzw. – gemäß meiner begrifflichen und funktionalen Trennung von Abstraktion und Abstrahierung – auf eine Abstrahierung des Sichtbaren hin zu überprüfen. Es stellt sich also erstens die Frage, ob in Gurskys Fotografien ungegenständliche Strukturen dominieren, die das gegenständliche Abbild – wie es auch Schmoll gen. Eisenwerth formuliert – sekundär werden lassen. Zweitens sind dabei die Strategien und Verfahren zu benennen, die Gursky in der Bildherstellung und Bildgewinnung entwickelt, um zu einer Abstrahierung oder Abstraktion zu gelangen. Auch bei Wiesing ist lediglich die erste Vorstellung sinnvoll, da es sich bei Gursky weder um Objektkunst, noch um Bilder ohne Zeichenfunktion handelt. Es müsste ent-

100 Jäger 2002a, S. 33.

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sprechend festgestellt werden, ob „bildimmanente[n] Strukturen“101 sichtbar sind, die nichts Gegenständliches zeigen, aber in einem anderen Kontext einen Gegenstand umschreiben könnten. Die Frage nach der Abstraktion bei Gursky verweist auf fotografische Ebenen, die zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion zu verorten sind. Um der Bildsprache Gurskys näherzukommen, werden die Begriffe ‚Abstraktion‘ und ‚Abstrahierung‘ sowie die Begriffe des ‚Ornaments‘ und des ‚Ornamentalen‘ als differenzierende Operatoren für die Betrachtung von Fotografie auf formaler Ebene eingeführt. Die Bedeutung und Verwendung dieser Begriffe wird für die Werkbetrachtung konkret festgelegt: Unter Abstraktion wird die ‚absolute‘ Abstraktion verstanden, die keinen gegenständlichen Bezug aufweist. Der Begriff der Abstraktion bezieht sich dabei ausdrücklich auf die gesamte Bildanlage und wird nicht wie bei Jäger und Wiesing für extrahierte Bildstrukturen verwendet, die gesondert vom Gesamtmotiv als abstrakte Größen betrachtet werden. Steht das Abbild der Fotografie in einem noch erkennbaren Analogieverhältnis zum Gegenstand, so ist von Abstrahierung zu sprechen. Da der Begriff ‚Abstrahierung‘ ein weites Bedeutungsspektrum für sich beansprucht, werden zu seiner Differenzierung die Begriffe ‚Stilisierung‘, ‚Formalisierung‘ und ‚Schematisierung‘ in die Untersuchung einbezogen. Die Kategorien ‚Ornament‘ und ‚ornamental‘ lassen sich sowohl auf ungegenständliche als auch auf gegenständliche Bildphänomene anwenden. Zudem können sie in Werken als vermittelndes Prinzip fungieren. Von einem Ornament soll dann die Rede sein, wenn sich im fotografischen Bild Gesetzmäßigkeiten wie Symmetrie, Rapport, Rhythmus und Addition nachweisen lassen. Das Ornamentale ist schließlich im Sinne eines überfiguralen Elements zu verstehen, in das mehrere untergeordnete Bildeinheiten eingefügt sind. Mittels dieser Form und ihrer Binnenstruktur ist der Betrachter in der Lage, aus der Distanz im Gegenständlichen das Ungegenständliche wahrzunehmen, wenn z.B. in der Makrostruktur ein ordnendes Bildgefüge oder ein Formgerüst erkannt wird. In diesem Punkt zeigt sich eine inhaltliche Nähe zum Begriff des Abstrakten, sofern man diesen für ungegenständliche Bildstrukturen anwendet. Während durch die oben aufgeführten Begriffe die Fotografie formal erschlossen werden kann, eröffnen die Definition von Abstraktion

101 Wiesing 2002, S. 97.

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aus der Philosophiegeschichte und das Allegorische auch einen Weg zur inhaltlichen Interpretation bestimmter Bildkategorien. Auf diese Weise ließe sich eine bedeutsame Korrespondenz von Form und inhaltlicher Aussage herstellen: So kann erstens ein Bild, das aus formaler Perspektive über einen bestimmten Abstrahierungsgrad verfügt, inhaltlich als abstrakt bezeichnet werden, wenn seine Aussage durch die Exposition des Wesentlichen unter Ablösung vom Individuellen auf etwas Universales verweist, das über den konkreten Motivinhalt hinausführt. Zweitens wäre die Abstraktion inhaltlich im Bild mitzudenken, wenn ein allegorischer Bezug und damit die Visualisierung eines abstrakten Begriffs, Vorgangs oder einer abstrakten Idee auszumachen wären. Die allegorische Darstellung ist dabei jedoch durch die Hervorhebung des Besonderen als untergeordnetes Paradigma eines Allgemeinen charakterisiert. Zudem könnte mit Hilfe der Allegorie etwas geäußert werden, um zugleich etwas Anderes, mitunter Gegenteiliges, auszudrücken. Es bietet sich an, die vielfältigen Untersuchungsstränge mit dem Begriff der ‚Prägnanz‘ zu überschreiben. Das Adjektiv geht ursprünglich auf lat. praegnans, -antis, zurück und bedeutet „schwanger, trächtig, voll, strotzend“. Im heutigen Sprachgebrauch bezieht es sich einerseits auf „gehaltvoll, eindrucksvoll, bedeutsam“, andererseits aber auch auf „präzise, treffend, genau, komprimiert“. Das Substantiv wird im Sinne von „Bedeutsamkeit, Bedeutungsgehalt, Gedrängtheit, inhaltsschwere Knappheit, Schärfe, Genauigkeit“ gebraucht.102 In Anlehnung an diese Definitionen würde das neu gebildete Begriffspaar ‚prägnante Fotografie‘ formale und inhaltliche Bedeutungen transportieren können: Die Fotografie würde auf der formalen Ebene abstrahierende Eigenschaften der Stilisierung, Verdichtung, Reduzierung oder Konzentration aufweisen. Als Ausdrucksformen solcher Strukturen kämen das Abstrakte, das Abstrahierende, das Ornamentale oder das Ornament in Betracht. Auf der inhaltlichen Ebene wären die Zeichen in ihrer abbildenden Bedeutung und in ihrem Gebrauch als bedeutungsschwangere Zeichen, als Sinnbilder oder Signen lesbar. Im Sinne des Allegorischen käme zum eigentlichen Sagen das uneigentliche Sagen, das Anders-Sagen oder auch das Gegenteilig-Sagen hinzu.

102 Duden. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. 3., völlig neu bearb. und erw. Aufl., Bd. 7. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 2001, S. 623.

III. Zum Abstraktionsverständnis bei Andreas Gursky: Abbild versus Abstraktion?

1. S TRUKTURKATEGORIE : D AS ABSTRAHIERENDE UND DAS O RNAMENTALE „Alle sichtbaren Dinge sind gleichsam nur Masken aus Pappe.“ (HERMAN MELVILLE, MOBY DICK, 1851)

1.1 Das Abbild erhöht das Abgebildete Zur ersten Strukturkategorie werden diejenigen Fotografien Gurskys gezählt, die sich konkret mit Landschaft bzw. Kulturlandschaft und dem darin lebenden Menschen auseinandersetzen. Diese Bilder sind weitestgehend im ersten Jahrzehnt seiner Schaffenszeit entstanden. Für die Analyse wird eine Bildauswahl getroffen, welche die formalen und thematischen Charakteristika dieser Phase exemplarisch vermittelt; die folgende Betrachtung erhebt somit keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Analyse richtet sich auf mögliche Erscheinungsformen des Abstrahierenden und des Ornamentalen, da – dies kann bereits vorweggenommen werden – Gurskys Sprache der ‚Landschaftsfotografie‘ weder mit der ungegenständlichen Abstraktion noch dem Wiederholungsmoment des Ornaments in Zusammenhang gebracht werden kann. Es stellt sich die Frage, ob bereits in den frühen Arbeiten bildwirksame Strukturen und Ordnungskriterien in Erscheinung treten, aus denen sich Besonderheiten in der Wahl des Formats, in der Behand-

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lung des Bildraums und der Bildfläche sowie in der Anordnung der Bildelemente erschließen lassen: Kriterien der Bildherstellung, die womöglich für abstrahierende Momente in späteren Arbeiten richtungweisend sind und dort erweitert werden. Zudem richtet sich die Untersuchung auf die Inhalte der Bilder, um Beziehungen zwischen der Motivwahl bzw. der Präferenz bestimmter Landschaftsräume und der Wahrnehmung der ins Bild gesetzten elementaren Kräfte und einer über die inhaltliche Sichtbarkeit hinausweisende Bedeutung herauszufiltern.

1.1.1 Zufallsblick Gursky beginnt im Jahr 1984 sich von der typologischen Vorgabe seiner Lehrer Bernd und Hilla Becher zu lösen. Auf der Suche nach einem eigenen Verständnis von Fotografie bezieht Gursky in den ersten Arbeiten, die den Menschen in seiner landschaftlichen Umgebung zeigen, den Zufall als Gestaltungsprinzip ein. Diese Bilder entstanden, wann immer sich die Möglichkeit des Fotografierens bot, spontan und nahezu beiläufig. Aufnahmen, die den Vorstellungen des Künstlers entsprachen, wurden später aus dem Fundus selektiert.1 Die Aufnahme ‚Ratingen, Sonntagsspaziergänger‘ von 1984 (18,5 x 36 cm) zeigt einen solche spontane Schau auf eine alltägliche Szene. Der Blick des Betrachters wird in Augenhöhe über einen von Fahrzeugen gesäumten Asphaltplatz zu einem Waldweg im Hintergrund gelenkt. Der Platz ist vom Waldabschnitt durch eine Pflocksperrung getrennt, die kurz vor der Aufnahme für die Durchfahrt eines Autos aufgehoben worden ist. Zum Zeitpunkt des fotografischen Aktes beobachten verschiedene am Wegesrand zum Stillstand gekommene Fahrradfahrer die Wiederherstellung der Sperrung. Das Besondere dieser Situation ist ihre Banalität. Man kann annehmen, dass selbst ein Amateurfotograf oder Tourist diese Szene nicht als bildwürdig empfunden hätte. Die zum Teil in Rückenansicht abgebildeten Personen und der perspektivische Fluchtpunkt im Zentrum der Aufnahme erzeugen hingegen Spannung. Der Betrachter ist unterschwellig aufgefordert, sich mit der neugierigen und abwartenden Haltung zu identifizieren, da es sonst nichts zu sehen gibt. Trotz der spontanen Einfachheit der Aufnahme 1

Vgl. Gursky, Andreas in: Jocks 1999, S. 254.

S TRUKTURKATEGORIE: D AS A BSTRAHIERENDE UND

DAS

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wird das Geschehen so fokussiert, dass es durch die kompositorische Eingrenzung zu einer bildwirksamen Situation aufgewertet wird. Die Waldlandschaft im Hintergrund wird nur vermeintlich zum Beiwerk suspendiert: Denn die dunkle, verschattete Waldzone verstellt die Sicht auf den Himmel und die Ferne und bildet so den entscheidenden Kontrast zur hell von der Sonne erleuchteten Straßenpflasterung. Die Pflasterung selbst kann als Keilform gelesen werden, die räumlich gesehen in das Bildzentrum bzw. in den Wald und flächig gesehen in die dunkle Bildzone hineinstößt. Der Hell-Dunkel-Kontrast, die Formendynamik und die ostentative motivische Belanglosigkeit begründen die Wirkung dieser Aufnahme. Ähnlich wirkt die Fotografie ‚Düsseldorf Flughafen, Sonntagsspaziergänger‘, ebenfalls von 1984 (18,5 x 36 cm), obwohl hier eine parallelperspektivische Fernsicht und ein hoch angesetzter Horizont bildwirksam werden. Der Blick wird durch die schräge Flucht einer Straße in das Bild geleitet und fällt auf eine Anzahl von Personen in Rückenansicht, die ihren Spaziergang bzw. ihre Fahrradtour unterbrochen haben, um durch ein Gatter hindurch den Flugbetrieb des Düsseldorfer Flughafens zu beobachten. Das Aufmerksamkeit stiftende Moment sind die Menschen im Vordergrund, während sich der Hintergrund im Dunst, im Diffusen, verliert. Die spektakuläre Atmosphäre eines Flughafengeländes mit startenden und landenden Maschinen wird durch die Unschärfe und durch die im Ansatz vorhandene horizontale Formalisierung der Himmel- und Wiesenzone konterkariert. Dass es dennoch etwas zu sehen gibt, belegt die aufmerksame Haltung der Spaziergänger. „Das Betrachten selbst wird zum bildwürdigen Gegenstand.“2 Der durch das Kameraobjektiv erweiterte Naturausschnitt erhöht die Bildaussage nicht im Sinne eines konkreten Abbildes, sondern um das in die Ferne gerichtete, fast sehnsüchtig anmutende Interesse der Personen. Der Aufbau des fotografischen Bildes erfolgt über klassische Kompositionsstrukturen: die schräge Raumflucht als Bildeinleitung und Charakterisierung des Perspektivraumes sowie eine horizontale Anlage der Land- und Himmelszone, deren Parallelität an den Bildseiten einen vertikalen Abschluss findet. So rahmen ein Baum und ein Busch die Situation ein und verbinden die Ebenen. Pfab bezeichnet den Bildaufbau als dynamischen Kontrast zum einfachen Motiv, obgleich auf inhaltlicher Ebene sich die Absperrung auch mit einer

2

Pfab 2001, S. 80.

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technischen ‚Erhabenheit‘ in Verbindung bringen ließe und somit das Fremde und das Gefühl des Verbotenen sinnfällig veranschaulicht werden.3 Als kompositorisch vergleichbar erweist sich eine 1978 entstandene Aufnahme von Stephen Shore4 mit dem Titel ‚Fort Lauderdale Yankee Stadium, Florida‘5 (March 5, 1978). Ein distanzierter und leicht erhöhter Blick wird auf eine horizontal strukturierte Landschaft geleitet: Zu sehen ist eine Wiese im Vordergrund, an die ein provisorisch hergerichtetes Spielfeld grenzt, auf dem vier Baseballspieler bereitstehen. In einiger Entfernung ist im Hintergrund nur ein schmaler Streifen eines Flughafengeländes mit zwei Maschinen erkennbar. Eine breite blass-blaue Himmelszone überspannt die Szenerie. Die Sportler führen die Aufmerksamkeit des Betrachters über die Wiese ins Zentrum des Bildes. Im Gegensatz zu ‚Düsseldorf Flughafen, Sonntagsspaziergänger‘ fehlt eine diagonale Bildeinleitung, und die Spieler bewirken keine explizite Sichtführung in den Hintergrund, da der Flughafenbetrieb nicht in ihrem Aufmerksamkeitsbereich liegt. Was bei Gursky als Zufallsprodukt erscheint, wird bei Shore – so erläutert Heinz Liesbrock – zum kalkulierten bildnerischen Prinzip: der zunächst beiläufig anmutende Blick auf die Szenerie. Die bildauslösenden und für die Bildkomposition konstitutiven Elemente wie Personen, Häuser oder Flugzeuge erscheinen bei Shore erst im Bildmittelbzw. Bildhintergrund. Der Vordergrund bietet lediglich die Öde einer

3 4

Vgl. ebd. Stephen Shore, 1947 in New York City geboren, hatte in den 70er-Jahren mit seinen Aufnahmen nicht nur die Farbfotografie im Bereich der künstlerischen Fotografie maßgeblich etabliert, sondern zugleich neben der Pop Art in der bildenden Kunst spezifische Motive der amerikanischen Kultur, wie die Architektur der Vorstädte, Straßen und Parkplätze, festgehalten. In den 80er-Jahren setzt sich Shore zunehmend mit der Landschaftsfotografie auseinander.

5

Anlässlich der Ausstellung ‚Stephen Shore. Fotografien 1973-1993‘, Westfälischer Kunstverein Münster, 1994, wurden unter Aufsicht von Stephen Shore neue Abzüge (C-prints und Silbergelatine-Abzüge) mit den Maßen von 8 x 10 inches (ca. 19,5 x 24,5 cm) angefertigt. Abbildungen zu Shore in: Liesbrock, Heinz (Hrsg.): Stephen Shore. Fotografien 1973 bis 1993. Ausst.-Kat. Westfälischer Kunstverein Münster u.a. München, Paris, London 1994.

S TRUKTURKATEGORIE: D AS A BSTRAHIERENDE UND

DAS

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Grünfläche. Doch ist es gerade die leere Fläche, die den Betrachter in die Aufnahme hineinzieht, ihn umfängt und en passant seine Aufmerksamkeit auf die eigentliche Bedeutung der Komposition lenkt – einer Komposition, die eine Gesamtsituation ins Auge fasst und neben Personen und Dingen auch das Licht und den alles umgreifenden Raum integriert. Die Bildelemente bauen sich zu einer Einheit auf und bilden die Struktur einer autarken Konstellation, so dass nicht mehr vom Ausschnitt einer Landschaft die Rede sein kann.6 Zudem ist der Blick nicht auf ein Bildzentrum konzentriert, sondern das gesamte Bild lädt zum Entdecken ein: „Für den Betrachter entsteht ein Gefühl der Gleichwertigkeit aller Bildelemente, eines all over, das als Leere empfunden werden kann und ihn jedenfalls auf die Suche schickt. Er ist nicht mehr positioniert, sondern eher einer diffuseren Wirklichkeitserfahrung ausgesetzt.“

7

Pfab stellt auch bei Gurskys Bildern einen überraschenden Effekt fest, „da sie nicht sofort erkennen lassen, wieso die gezeigte Situation abbildungswert ist“8. Bei beiden Künstlern zeigt sich das Aufmerksamkeit auslösende Moment im Detail: ein bestimmtes Bildelement, das seit Roland Barthes Schrift ‚Die helle Kammer‘ als das sogenannte ‚punctum‘9 einer Aufnahme bezeichnet wird.10 Das ‚punctum‘ animiert

6

Vgl. Liesbrock, Heinz: „That you o’erstep not the modesty of nature“. Stephen Shores Bildkonzept. In: ders. (Hrsg.): Stephen Shore. Fotografien 1973 bis 1993. Ausst.-Kat. Westfälischer Kunstverein Münster u.a. München, Paris, London 1994, S. 8-14, hier S. 11.

7

Schmidt-Wulffen, Stephan: Stephen Shores Uncommon Places. In: Stephen Shore. Uncommon Places Amerika. Das Gesamtwerk. Mit einem Text von Stephan Schmidt-Wulffen und einem Gespräch mit Lynne Tillman. München 2004, S. 7-15, hier S. 13.

8 9

Pfab 2001, S. 80. Das ‚punctum‘ taucht nach Roland Barthes plötzlich auf und verändert schlagartig das der Fotografie entgegen gebrachte ‚studium‘ (vgl. Anm. 11). „Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).“ Barthes (1980) 1985, S. 36. Vgl. ausführlich ebd., S. 35ff.

10 Vgl. auf Shore bezogen Weski, Thomas: Expeditionen in erforschte Gebiete. In: Liesbrock 1994, S. 22-26, hier S. 23.

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den Betrachter und irritiert das eigentliche, neutrale ‚studium‘11 des Bildes: Die Fotografie wird über das Gesehene hinaus analysiert und interpretiert – sie berührt emotional. Bei Shore zeigt sich zusätzlich zu diesem Einstieg in das fotografische Bild eine Harmonie im Bildgefüge, „weil der Künstler es geschafft hat die real existierenden Objekte in eine fruchtbare Beziehung zu setzen“12. Eine solche – gleichsam unbewusst erzeugte – Harmonie findet sich in der frühen Aufnahme Gurskys noch nicht. Überdies erscheinen die Aufhebung des Ausschnittcharakters durch die rahmenden Bäume und die Rückenansicht der Personen weniger subtil als bei Shore. Auch die horizontale Bildeinteilung ist bei Gursky – aufgrund der diagonalen Struktur im Vordergrund – weniger stark ausgebildet. Während sich in unseren Breitengraden ein blass-grauer bzw. hell-blauer Himmel leicht finden lässt, ist dies für einen Fotografen in Amerika als Herausforderung zu bewerten. Hilla Becher erklärt diesbezüglich, dass der stark blaue Himmel in Amerika immer wie eine „Steinplatte“ wirke und in fotografischen Aufnahmen stets bekämpft werden müsse. Shore sei dies gelungen, indem er in der Regel zusätzlich ein „Seitenlicht“ eingesetzt habe.13 Shore richtet den Blick auf das Alltägliche und lässt die Dinge vorbehaltlos für sich selbst sprechen. Die Wahrnehmung dieser Strukturen ist immer von einer individuellen Funktionalisierung und Interpretation von Farbe und Licht gekennzeichnet. Das Motiv wird umhüllt von einer nostalgisch-malerischen Stimmung. Mit seiner Sicht auf die kulturellen und landschaftlichen Eigenheiten des amerikanischen Westens steht Shore in der Traditionslinie von Timothy O’Sullivan. Auch O’Sullivan richtete wie beiläufig seinen Blick auf das Unmittelbare und Gegenwärtige. Im fotografischen Detail liege schließlich das Wesen einer jeden Epoche, das später aus der Sicht der Geschichtsschreibung als spezifisch interpretiert werde. Shore vermittelt in seinen Aufnahmen – wie auch in ‚Fort Landerdale Yankee Sta-

11 Roland Barthes versteht unter dem lateinischen Begriff ‚studium‘ nicht nur das ‚Studium‘, sondern vor allem das einfache Interesse, die Begegnung und Teilnahme an einer Sache (einer Fotografie), ohne dabei enthusiastisch zu werden. Vgl. ausführlich Barthes (1980) 1985, S. 35ff. 12 Weski 1994, S. 23. 13 Becher, Hilla in: Liesbrock, Heinz: „Seine Bilder haben etwas von einer ersten Begegnung.“ Hilla und Bernd Becher im Gespräch mit Heinz Liesbrock. In: Liesbrock 1994, S. 27-33, hier S. 27.

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dium, Florida‘ – die Erkenntnis außergewöhnlicher Strukturen im alltäglichen Umfeld und wird des vermeintlich Flüchtigen durch ein festes fotografisches Bildgefüge habhaft. Prinzipien der Bildkomposition werden zum weiteren Thema seiner Arbeit, ohne dabei jedoch aufdringlich zu werden.14 Der Betrachter muss seinen Blick schulen und die unspektakuläre Sichtweise des Fotografen hinterfragen. Der Einfluss der amerikanischen Fotografie auf die Bildsprache Gurskys wird sich in späteren Arbeiten noch verstärkt zeigen. Die Rückenansicht in Gurskys ‚Düsseldorf Flughafen, Sonntagsspaziergänger‘ und die durch sie provozierte Blickrichtung verkehren sich in der ein Jahr später geschaffenen Aufnahme ‚Düsseldorf, Flughafen I‘ (40 x 40 cm) ins Gegenteilige. Eine Menschenmenge beobachtet eine offensichtlich außerhalb des Bildgeschehens ablaufende Situation, so dass der Betrachter die Personen zum Teil frontal, zum Teil im linken Profil wahrnimmt. Auch hier liegen im Ansatz die Aufteilung in Vorder-, Mittel- und Hintergrund sowie in eine Himmelszone vor. Zugleich zeigen sich spontane, gleichsam ‚ausbrechende‘ Bewegungsabläufe innerhalb der Zuschauer, die den zufälligen Charakter der Aufnahme belegen. Der Betrachter rückt in dieser Aufnahme etwas näher an die Beteiligten heran. Von Interesse ist hier nicht unmittelbar, was gesehen wird, sondern wie es gesehen wird. Der bewegte Ausdruck und die zu beiden Seiten der Aufnahme angeschnittene und somit fortsetzbare Dynamik der Personengruppe innerhalb der konkreten landschaftlichen Struktur des Flughafens konstituieren das Bildgefüge. Im Bild ‚Mühlheim an der Ruhr, Sonntagsspaziergänger‘ von 1985 (27,2 x 33,8 cm) wurden einige wenige Spaziergänger wiederum von hinten anvisiert. Sie benutzen einen Pfad, der zwischen der Ruhr und den Wiesen bzw. Feldern verläuft. Der Ausschnitt der Landschaft ist so gewählt, dass sich der Fluss in einer leichten Diagonale von links unten in die Aufnahme schiebt. Wir haben es also nicht mit einer horizontalen Staffelung zu tun, sondern mit einer tendenziell vertikalen. Erst im Hintergrund schließen eine bewaldete Hügelkette und ein tiefer gezogener blass-grauer Himmel die Landschaft horizontal ab. Die vertikal gestaffelte Landschaft findet sich 1990 auch bei Shore in ‚Yucatan, Mexiko‘. Ein Trampelpfad führt vom Vordergrund in die Tiefe des Bildes. Flankiert wird der Weg rechts und links von Gestein,

14 Vgl. Liesbrock 1994a, S. 8f.

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Gestrüpp und emporragenden Grünpflanzen. Wolkenformationen am hellblauen Himmel ziehen in den Hintergrund. Drei Spaziergänger und zwei Hunde sind klein, aber deutlich am Weg zu erkennen. Im Vergleich zu Gursky geht Shore auf große Distanz zu den Personen, fast so als seien sie ungewollt ins Bild geraten. Die Aufmerksamkeit scheint eher der üppigen und grünen Vegetation zu gelten, die sich bei Gursky im Dunst verliert. Shore arbeitet seit den 70er-Jahren mit einer Großbildkamera, die aufgrund ihrer enormen Ausmaße nur mit einem Stativ genutzt werden kann. Zudem erlauben die in Kassetten eingelegten Planfilme nur eine geringe Anzahl von Aufnahmen. Diese besonderen technischen Bedingungen und Shores Anspruch, seine Motive nicht zu inszenieren, erfordern vom Fotografen einen bewussten und integrierenden sowie intuitiven Umgang mit der bildlichen Situation.15 Gurskys Aufnahme wirkt stärker aus dem Moment heraus fotografiert und von einer alltäglicheren Situation bestimmt, während Shores Aufnahme eine geheimnisvolle Aura umgibt. Die bereitstehenden Baseballspieler oder in dieser Fotografie das nach rechts ins Gestrüpp blickende Kind scheinen auf etwas zu verweisen, was in einer nächsten ‚Bildszene‘ dramaturgisch passieren könnte, aber letztlich nur in der Vorstellung des Betrachters passiert. Shore kann aufgrund der langen Belichtungszeit keine Bewegungsabläufe fotografieren und muss somit den Augenblick des Stillstands abwarten: „Wenn er den Auslöser drücken kann, verweist der statische Moment auf das Geschehen vorher und nachher. Das Bild wird zur Kompression von Zeit.“16 Zudem konnte sich Shore darauf verlassen, dass mit der Großbildkamera selbst aus der Distanz jedes Detail festgehalten und im späteren Abzug ersichtlich wurde. Auf diese Weise enthalten die Aufnahmen eine Fülle von Informationen, von denen sich der Betrachter ganz individuell durch das Bildgeschehen leiten lassen kann.17 Spontan von Gursky aufgenommen ist auch das Bild ‚Liège, Fußballspieler‘ von 1984 mit den Maßen 18,5 x 36 cm. Zu sehen ist ein Fußballplatz mit einer kleinen Zuschauertribüne. Ein Spiel läuft, und die Mannschaften jagen dem außerhalb des Aufnahmeausschnitts befindlichen Ball hinterher. Die Bewegungsunschärfen und der ausgetre-

15 Vgl. zum Aufnahmeverfahren Weski 1994, S. 24. 16 Schmidt-Wulffen 2004, S. 14. 17 Vgl. Shore, Stephen im Gespräch mit Lynne Tillman. In: Shore 2004, S. 173-183, hier S. 182.

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tene Rasen, der helle Himmel sowie die kahlen Bäume vermitteln winterliche Atmosphäre. Laut Bildtitel ist eigentlich klar definiert, wem die Aufmerksamkeit im Bild gelten soll, doch erscheint der Blick eher flüchtig auf die Szene gerichtet. Stadion und Hintergrund erzeugen gleichviel oder gleichwenig Aufmerksamkeit, so alltäglich ist die Wirkung der Situation. Neben der Tribüne vermitteln Bäume zwischen Spielfeld und Himmel, doch besitzen sie keine bildrahmende Eigenschaft. Eine ganz andere Situation zeigt sich schließlich in der Aufnahme ‚Essen‘ (1984, 80 x 90 cm), die eine Dorfbaustelle in ländlicher Umgebung dokumentiert. Ein kleiner Junge, aus dem Bildzentrum nach rechts herausgerückt, beobachtet einen roten Bagger im rechten Bildmittelgrund. Einzelne Häuser rahmen rechts und links das Bildgeschehen, während sich im Hintergrund Feld und Wald anschließen. Überwölbt wird die Szenerie von einem wolkig-grauen Himmel. Die fotografische Szene wird entscheidend von der im Bau befindlichen Straßenkurve bestimmt, die das nahezu quadratische Bildformat spannungsstiftend konterkariert. Die Straßenkrümmung als architektonisches Zeichen verweist bereits auf eine Formsprache Gurskys, die für spätere Bildgruppen kategoriebildend ist. Für die ersten Landschaftsaufnahmen um 1984 wählte Gursky die leicht zu transportierende und ohne Stativ einsetzbare Mittelformatkamera, mit der ein spontanes und flexibles Arbeiten möglich war. Es entstanden dabei kleine, aber aufgrund des Negativs von 6 x 7 cm detailgenaue Aufnahmen, für deren Kompositionen Gursky das Querformat oder annähernd quadratische Formate wählte. Abgebildet sind Personen und Personengruppen in unterschiedlichen freizeitlichen Betätigungen. In einigen Bildern sind diese Gruppen im Moment des Innehaltens abgelichtet worden und kehren dem Fotografen den Rücken zu. Der Betrachter nimmt die fotografierte Landschaft durch den Blick der abgebildeten Personen wahr.18 Die Aufnahmen ‚Düsseldorf, Flughafen I‘ und ‚Liège, Fußballspieler‘ hingegen betonen die Situa-

18 Vgl. Gursky, Andreas in: Krajewski, Michael: Kollektive Sehnsuchtsbilder: Andreas Gursky im Gespräch mit Michael Krajewski. In: Das KunstBulletin 5, Mai 1999, S. 8-15, hier S. 11. Vgl. auch Gursky, Andreas in: Jocks 1999, S. 256.

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tion des Augenblicks, den spontanen Moment innerhalb eines gegenwärtig ablaufenden Geschehens.19 Gursky erläutert, dass es bei diesen Fotografien um die Erfassung von Figurenkonstellationen gehe und nicht um eine Verhaltensdokumentation der Gesellschaft in ihrer Freizeit, so wie es häufig in der Literatur angemerkt werde.20 Folglich handelt es sich um eine Reduzierung des vom Menschen genutzten landschaftlichen Umfelds auf bildwirksame Strukturen. Dabei rücken weder die Landschaft, noch eine prägnante Figurensituation in den thematischen Bildvordergrund. Gurskys Standpunkt während der Aufnahmen wechselt zwischen Augenhöhe und einer leicht erhöhten Position, die – mit Ausnahme von ‚Ratingen, Sonntagsspaziergänger‘ – eine deutlich ausgeprägte Himmelszone zulassen. Damit kristallisieren sich bereits für Gurskys späteres Schaffen charakteristische bildgestalterische Elemente heraus: Erstens überspannt ein blass-grauer, kaum wolkendurchsetzter Himmelstreifen die diversen Szenerien. Der Dunst scheint alle Bildelemente zu überziehen; die Farbigkeit der Bilder ist reduziert. Zweitens setzt sich ein distanzierter, das Gefüge von Mensch und Landschaft beobachtender Blick durch. Bereits diese relativ geringe Anzahl der bisher besprochenen Bilder ermöglicht die Herstellung einer – tendenziellen – Bildordnung bzw. -typologie, die vier unterschiedliche Kategorien eröffnet: die den Horizont und die Fernsicht versperrende landschaftliche Situation, die sich im Ansatz horizontal aufbauende Landschaft, die annähernd vertikal gestaffelte Landschaft und das Landschaftsgefüge, das durch ein geometrisch anmutendes Architekturzeichen geprägt ist. Den Ausschnitt einiger Aufnahmen hat Gursky so gewählt, dass sich das Motiv

19 Auch Rupert Pfab erklärt: „Die ‚Sonntagsbilder‘ sind ausdrücklich als Momente geschildert. Keine narrativen Sequenzen werden gezeigt, vielmehr geht es um die Fokussierung auf den Augenblick.“ Pfab 2001, S. 79. 20 Vgl. Gursky, Andreas in: Jocks 1999, S. 259. Siehe auch Heynen 1992, o.S. Pfab ist ebenfalls der Ansicht, dass es sich bei Gursky um das Thema „Freizeitbeschäftigung“ und nicht „Freizeitverhalten“ handelt, obgleich er die Frage nach dem sozialen Gehalt der Aufnahmen aufwirft, wenn die Personen als erholungssuchende Arbeitnehmer betrachtet werden. Eine solche Sehweise sei möglich, da es entsprechende Anhaltspunkte im Werk Gurskys gebe. Pfab führt diesen Gedanken jedoch nicht weiter aus. Vgl. Pfab 2001, S. 79.

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über die Seitenränder hinaus gedanklich fortsetzen lässt. In diesen Fällen findet keine Bildrahmung, sondern eine horizontale Ausdehnung statt. Beim horizontalen und vertikalen Bildaufbau handelt es sich um klassische Landschaftskompositionen, denen sich Gursky noch probierend widmet. Es kann daher keine betont abstrahierende Bildsprache konstatiert werden, zumal nur eine geringe Bindung an die Fläche vorliegt. Ein ornamentales Gefüge lässt sich ebenfalls nicht feststellen, da in den Bildkompositionen kein überfigurales Ornament in Erscheinung tritt. Die motivische Besonderheit der Bilder wurde damit begründet, dass eine banale oder belanglose Situation als bildwürdig eingestuft wurde. Daraus folgt, „dass das Bild, weil es Bild ist, das Besondere zeigt. Das Abbild erhöht das Abgebildete.“21 Durch die Selektierung der Bilder aus dem Fundus unterläuft Gursky das Prinzip des Zufalls und hebt ein zweites Mal – das erste Mal erfolgte zum Zeitpunkt der Aufnahme – das Motiv von anderen Motiven ab. Dementsprechend wird nicht nur – auf die Schnappschussfotografie bezogen – „das Banale in seiner Momenthaftigkeit aufgeladen“22, sondern es werden neben den angesprochenen formalen Kriterien auch inhaltliche Kriterien relevant, welche die Bilder mit Bedeutung aufladen und als bildwürdig legitimieren. Aus den ersten Bildbetrachtungen dieser Strukturkategorie wird ersichtlich, dass es Gursky bereits in den frühen Aufnahmen um ein Unterwegssein des Menschen – um seine Konstellation – im landschaftlichen Raum geht: Fahrradfahrer und Spaziergänger auf Landschaftspfaden oder auf Flugplätzen, Fußballspieler oder ein Kind erschließen sich agierend ihre jeweils spezifischen Handlungsräume. Die Dokumentation konkreter menschlicher Freizeitaktivitäten wird von einer universaleren Sinnebene überlagert: von dem Verweis auf das

21 Lockemann, Bettina: Objects in this mirror may be closer than they appear. In: Sachs-Hombach, Klaus; Rehkämper, Klaus (Hrsg.): Vom Realismus der Bilder. Interdisziplinäre Forschungen zur Semantik bildhafter Darstellungsformen. Magdeburg 2000. Reihe Bildwissenschaft Bd. 2, S. 185-192, hier S. 188. 22 Ebd., S. 189.

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menschliche ‚Existenzial von Raum‘23 als der über das Abbild hinausdeutenden Bildidee. Denn durch die Identifizierung mit den abgebildeten Figuren in Rückenansicht oder mit den vorgegebenen Blickrichtungen wird dem Betrachter sein eigenes existenzielles ‚Im-RaumSein‘ vor Augen geführt. Diese Lenkung des Blickes durch eine Rückenfigur bezeichnet Gursky – auf sein Gesamtwerk bezogen – als einen „erste[n] Schritt zur Abstraktion“24. Der Begriff des Raums lässt sich auf vielfältige Weise definieren – so heißt es bei Otto Friedrich Bollnow unter anderem: „1. Raum ist das Umgreifende, in dem alles seinen Platz, seinen Ort oder seine Stelle hat. 2. Raum ist der Spielraum, den der Mensch braucht, um sich frei zu bewegen. [...] 4. Raum ist weiterhin der nicht beengende, aber doch grundsätzlich geschlossene Raum; er ist keineswegs von Natur aus unendlich. 5. Selbst beim sog. freien Raum handelt es sich nicht um eine abstrakte Unendlichkeit, sondern um die Möglichkeit eines ungehinderten Vorstoßens. So die Lerche in 25

der Luft, so die Weite der ausbreitenden Ebene. [...]“

Konträr zur „bewohnten Nähe“ wird die „Ausdehnung des Raums“ hier auch als „die Weite, die Fremde und die Ferne“ bezeichnet.26 In den Aufnahmen ‚Ratingen, Sonntagsspaziergänger‘ und ‚Mühlheim an der Ruhr, Sonntagsspaziergänger‘ sind es die Wege, die den Raum erobern. Raum öffnet sich durch die Bestimmung eines jeden Weges, Bewegung zu ermöglichen: Räume zu durchmessen und zu überwinden. Von der Straße unterscheidet sich der Weg hinsichtlich seiner oft zufälligen Entstehung, wenn ein erstmals ‚pionierhaft‘ ausgetretener Pfad zur Spurvorgabe weiterer Passanten wird. Die Straße hingegen entspringt einer kalkulierten und planvollen Gestaltung,

23 Im Sinne der Daseinsanalyse Martin Heideggers, der mit diesem Begriff einen „Seinscharakter“ des menschlichen Daseins identifizierte: die Raumstruktur alles menschlichen Seins. Vgl. Heidegger, Martin: Das Umhafte der Umwelt und die Räumlichkeit des Daseins. In: ders.: Sein und Zeit. 17. Aufl. Tübingen 1993, 101-113. 24 Gursky, Andreas in: Krajewski 1999, S. 11. 25 Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum. 10. Aufl. Stuttgart 2004, S. 37. 26 Ebd., S. 88.

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durch die Landschaft verkehrstechnisch erschlossen wird.27 Ihre Funktion ist es, Orte zu verbinden, damit diese möglichst schnell und bequem erreicht werden können. Der Zweck des Wanderpfads wiederum ist das Hineinleiten des Wanderers in eine bewusste Erfahrung von Raum − von Naturraum −, von möglichst ursprünglichen und nichtkultivierten Orten, an denen der Wanderer existenzielle Erholung findet.28 Pfade führen in den Raum, Straßen leiten durch den Raum, in die landschaftliche Weite oder in die ‚weite Welt‘: Der Mensch ist in der Lage aktiv in die Weite vorzudringen, sei sie ihm bekannt oder auch fremd. Die Ferne hingegen bleibt ihm als Raum unerreichbar; in ihrer Verlockung erfüllt sie den zur Passivität Verurteilten mit Sehnsucht.29 Um Ferne erfahren zu können, bedarf es einer besonderen Situation: eines „Ferneeinbruchs“30. Die direkt bzw. indirekt wahrnehmbaren Flugzeuge in den Aufnahmen ‚Düsseldorf Flughafen, Sonntagsspaziergänger‘ und ‚Düsseldorf, Flughafen I‘ können als ein solcher Sehnsucht stiftender ‚Ferneeinbruch‘ gedeutet werden. In der Fotografie ‚Essen‘ greifen der nahe Wohnraum und der Außenraum ineinander. Der Bewegungsspielraum außerhalb der häuslichen Geborgenheit ist für ein Kind begrenzt und immer mit dem Entfernen von seinem Weltmittelpunkt verbunden. Aus der Sicherheit seines Umfeldes heraus betrachtet es das Geschehen auf der Baustelle – gebaut wird eine Straße, die den Erwachsenen – auch dem Kind selbst als zukünftigem Erwachsenen – den Weg in die Weite ebnet. In allen Aufnahmesituationen ist es die ostentative Banalität des Bildinhalts, die – im Zusammenwirken von Figurenkonstellation und Landschaftsraum – eine Idee existenzialer Notwendigkeit veranschaulicht. Während in formaler Hinsicht noch keine Momente der Abstrahierung festzustellen sind – dies beginnt erst mit den Bildern der ‚Horizontalen Perspektive‘ –, muss beim ‚Zufallsblick‘ jedoch inhaltlich bereits von einer abstrakten, über den Bildinhalt hinausweisenden Idee – von der des menschlichen ‚Im-Raum-Seins‘ − gesprochen werden.

27 Vgl. ebd., S. 96-99. 28 Vgl. ebd., S. 110-113. 29 Vgl. ebd., S. 89, S. 93. 30 Kunz, H.: Die anthropologische Bedeutung der Phantasie. 2 Bände. Basel 1946, S. 297. Zitiert nach Bollnow 2004, S. 95.

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1.1.2 Horizontale Perspektive Zwischen 1989 und 1991 setzt sich Gursky verstärkt mit der Horizontalität im Landschaftsbild auseinander und greift dieses Kompositionsgefüge in späteren Jahren wieder auf. So wird im Vergleich zur Fotografie ‚Liège, Fußballspieler‘ die horizontale Struktur in ‚Düsseldorf ,Volksgarten‘ (18,5 x 36 cm), noch im Jahr 1985 entstanden, bereits deutlich exponiert. Die dreifache Aufteilung in eine Wiesen-, eine Wald- und eine Himmelszone wird durch einen Bildbereich mit Sportlern ergänzt. Diese bilden eine Reihe – jedoch nicht bis an die Seitenränder heran – und vermitteln optisch zwischen Wald und Wiese. Im Gegensatz zu den vorherigen Bildern versperrt die Waldzone den Blick in die Ferne, so dass die tiefenräumliche Wirkung eingeschränkt ist. Die intensivere Farbgebung der Bildzonen trägt zu Flächigkeitswerten in der Landschaft bei. Die bunt gekleideten Personen unterbrechen die Strenge des Bildaufbaus, fordern aber aufgrund der Distanz zum Bildbetrachter weniger Aufmerksamkeit als in den Aufnahmen mit den Sonntagsspaziergängern. Die Personenkonstellation nähert sich der Landschaftsformation an, und es scheint, als habe der Fotograf die sich integrierende Situation, die horizontale Reihung der Sportler, minutiös abgepasst. Obwohl die Landschaft seitlich weitergeführt werden könnte, ist dies nicht das Anliegen der Aufnahme, da die Sportler die Grenzen der Szenerie festlegen. Dass es sich hier um eine klassische Bildgestaltung handelt, zeigt eine Schwarz-Weiß-Aufnahme von 1855. Roger Fenton rückt in ‚Das 57. Regiment‘31 die aufgestellten Soldaten auf der Krim als eine dunkle Menschenreihe aus einer Fernsicht in das untere Drittel der Aufnahme. Der damalige fotografisch-technische Standard erforderte lange Belichtungszeiten und folglich die unbewegte Inszenierung des Motivs. Wie bei Gursky ist auch hier der Ausschnitt so gewählt, dass die Personen die Bildseiten nicht berühren. Im Vordergrund fällt der Blick auf kargen Boden, während sich im Hintergrund das Land mit Zelten und Häusern im Dunst verliert. Ein heller Himmel erstreckt sich über die horizontal gegliederte Szenerie. In beiden Aufnahmen wird eine Gruppe abgebildet, deren Konstellation durch übergeordnete Ziele be31 Roger Fenton, Das 57. Regiment, 1855. Salzpapierkopie. Slg. Gernsheim, Humanities Research Center, University of Texas, Austin. Abb. in: Newhall 1998, S. 90.

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dingt ist, die sportliche Betätigung einerseits, die Kriegsführung andererseits. Fenton gehört Mitte des 19. Jahrhunderts zu jenen Fotografen, die ihre Arbeiten nicht als Konkurrenz zur Malerei verstanden wissen wollten, sondern sie als eine neue Möglichkeit der Kommunikation und dokumentarischen Berichterstattung sowie als eine Form der Erforschung von Weltgegenden ansahen.32 Der Mensch in seinem spezifischen Umfeld war von Interesse, ein Aspekt, der sich auch in Gurskys Werkentwicklung deutlich bemerkbar machen wird. Zum damaligen Zeitpunkt galt das fotografische Bild als Zeugnis von Wahrheit; speziell auf Fenton bezogen schreibt Newhall: „Einem an die herkömmlichen Phantasien romantischer Schlachtenmalerei gewöhnten Publikum erschienen diese Photographien langweilig und doch erkannte man in ihnen die Vorzüge der Kamera als einer wahrheitsgetreuen Berichterstatterin.“33

Nichtsdestoweniger zeigen die Aufnahmen Fentons ein geschultes Auge für Kompositionen, das er sich bereits zuvor durch Architekturund Stilllebenaufnahmen erworben hatte.34 ‚Düsseldorf, Flugzeug‘, 1989 von Gursky (160 x 200 cm) gehört zu der ersten Aufnahme Gurskys, in der eine horizontale Teilung das Bildgeschehen dominiert. Zudem arbeitet der Fotograf seit 1987 mit größeren Bildformaten, welche die Wahrnehmung des Bildgefüges wesentlich beeinflussen: Der beiläufige und augenblickhafte Charakter schwindet mit der zunehmenden Formatgröße. Die Komposition in ‚Düsseldorf, Flugzeug‘ wird durch eine untere hügelige Wiesenzone und eine hell-blaue, von Schleierwolken leicht durchzogene Himmelszone gebildet. Unterbrochen wird der Farbaufbau durch ein aufsteigendes Flugzeug im Blau und durch eine kleine Wasserfläche im Grün, in der sich teilweise der blaue Himmel spiegelt. Eine optische Verbindung der Zonen wird durch das Geäst vereinzelter Bäume er-

32 Vgl. Newhall 1998, S. 87. 33 Ebd., S. 88. 34 Vgl. ebd., S. 87. Seine fotografische Stärke, die er auch als offizieller Fotograf des Britischen Museums unter Beweis stellte, brachte ihm den Auftrag von der Graphiksammlung Thomas Agnew and Son ein, die Aufnahmen vom Kriegsschauplatz auf der Krim anzufertigen. Vgl. ebd.

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leichtert. Die Farbflächen dominieren die Komposition und bewirken eine bislang für Gurskys Arbeiten ungewohnte Zweiteilung. Die planen Bildbereiche lassen das Flugzeug zu einer unwirklichen Erscheinung – zu einem bloß graphischen Zeichen – werden: zu einem Zeichen für etwas, das sich hinter dem Hügel verbirgt. Der Horizont steht hier nicht für Weite, sondern für visuelle Begrenzung. Der Raum kippt in die Fläche, deren Wertigkeit durch die breite Bildanlage noch betont wird. Ein suggestives ‚Dahinter‘ mischt narrative Spannung in die vermeintlich leere Szenerie. Pfab identifiziert das aufsteigende Flugzeug als das „punctum“ der Aufnahme: „Der Blick ist auf eine wohl künstlich angelegte Landschaft gerichtet. Erst das Flugzeug steuert einen kompositionellen Akzent bei, denn fehlte es, dann bliebe dieses Photo höchst unspektakulär, [...]. Das Flugzeug hingegen verleiht der Aufnahme Dynamik. Die Präsenz des Menschen wird durch die Technik und die durch sie hervorgebrachten Fortbewegungsmittel veranschaulicht. Somit erhält auch die von Menschenhand geschaffene Grünanlage eine sinnfällige Bedeutung, da die Gestaltung der Umwelt heute Berechnung und Planung von Landschaftsarchitekten unterliegt.“35

Das Motiv eines vom Himmel überwölbten grünen Hügels hat Fotografen schon immer animiert. Auch Stephen Shore fertigte bereits 1982 eine solche Aufnahme an. ‚Gallatin County, Montana‘ zeigt eine grüne ansteigende Grasfläche, die zwei weitere zum Teil bewaldete Hügel links und rechts im Hintergrund überschneidet. Man kann vermuten, dass es sich hier um eine natürliche Hügelbildung handelt. Ein blauer, wolkendurchsetzter Himmel überspannt die Landschaft. Vereinzelte Bäume vermitteln zwischen der grünen und der blauen Bildzone. In dieser Aufnahme ist nicht sicher, auf was der Wiesenhang die Sicht versperrt, da Häuser, wie noch bei Gursky, nicht zu erkennen sind. Doch deutet bei Shore ein weißer Kondensstreifen, der sich schräg vom oberen Bildrand in das Blau hineinschiebt, auf das Vorhandensein des Menschen. Pfab verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass Gursky vermutlich die Werke von Shore kannte, da Bernd und Hilla Becher an der Düsseldorfer Akademie ihren Schülern die Werke der amerikani-

35 Pfab 2001, S. 67f.

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schen Fotografen wie Shore, Sheeler, Evans usw. nahebrachten.36 Doch Gursky erklärte im Gespräch mit Pfab, dass er das Motiv nicht bewusst aufgegriffen habe.37 Als Unterschied zu Shore erweist sich zudem das größere Format bei Gursky. Die Bildzonen in Grün und Blau erhalten dadurch eine stärkere formale Wertigkeit. Shore setzt sich im Gegensatz zu Gursky mehrfach mit der zweigeteilten Landschaftskomposition von Himmel und Erde auseinander. Dazu bringt der Fotograf den Betrachter bewusst in Position, er rückt ihn immer näher an die Erdzone heran, so dass der Blick in die Weite der Landschaft versperrt wird. Hat der Betrachter in ‚Gallatin County, Montana‘ von 1982 noch das leichte Gefühl eines Überblicks, so wächst ihm in ‚Gallatin County, Montana‘ von 1983 das Gras über den Kopf, drängt ihn gleichsam in die Froschperspektive. Wiederum ist es Fenton, der 1855 im Krimkrieg ähnlich komponiert, jedoch mit einer weitaus tragischeren indirekten Anwesenheit des Menschen. ‚Das Tal des Todesschattens‘38 gibt aus einer tiefen Betrachterposition den Blick über ein ausgemergeltes Land frei. Ein Pfad zieht sich bis zum hoch angesetzten Horizont, der von einem hellgrauen Himmel überwölbt wird. Der Blick kehrt jedoch zum Vordergrund zurück, denn dieser beeindruckt „mit seinen grauenerregenden Suggestionen – nicht nur mit denen, die in unserem Gedächtnis geweckt werden, sondern auch mit jenen, die uns materiell vor Augen geführt werden durch die photographische Wiedergabe der Kanonenkugeln, die wie die Moräne eines abgeschmolzenen Gletschers an der Talsohle verstreut liegen.“39

36 Vgl. Pfab 2001, S. 68. Vgl. auch Becher, Hilla und Bernd in: Liesbrock 1994b, S. 32. 37 „Persönliche Mitteilung von Andreas Gursky in seinem Düsseldorfer Atelier am 21. August 1997.“ Pfab 2001, Anmerkung 245, S. 157. 38 Roger Fenton, Das Tal des Todesschattens, 1855. Salzpapierkopie. Slg. Gernsheim, Humanities Research Center, University of Texas, Austin. Abb. in: Newhall 1998, S. 91. 39 Redakteur des ‚Photographic Journal‘, Bd. 2 (1855), S. 221. Anlässlich einer Ausstellung zur Roger Fentons Photographien aus dem Krimkrieg 1855 in der Galerie der Water Colour Society in London. Zitiert nach Newhall 1998, S. 91.

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Dass Fenton seine fotografischen Ausschnitte nicht willkürlich gewählt hat, bezeugt ein Brief aus der Krim-Schlucht an seine Familie. Er beschreibt darin die Wahl eines Platzes, der sich jedoch als eine gefährliche Schusslinie offenbarte, so dass sich Fenton „widerstrebend mit einer anderen Ansicht des Tals, etwa 100 Meter von der besten Stelle“40 begnügen musste. Wie in ‚Düsseldorf, Flugzeug‘ reduziert Gursky auch die Personen in der Arbeit ‚Breitscheider Kreuz‘ von 1990 (157 x 203 cm). Der Blick fällt aus einer leicht schrägen Position heraus auf die Pflasterung einer Autobahnzufahrt, die vom Bereich des hellen Wolkenhimmels durch einen Erdwall getrennt ist. Auf diesem Wall sind vier Arbeiter tätig, um einen rautenförmigen Erdschutz aufzuschütten. Die Personen wirken in ihrer Gestalt so klein, dass sie figürlich in der Wallzone verbleiben und die horizontale Strenge nicht aufbrechen. Nicht nur die Entfernung zum Geschehen erzeugt Distanz, sondern auch der Ort, der einen ‚toten‘ Grenzbereich kennzeichnet, in dem sich in der Regel ein Mensch nicht aufhält. Der Blick des Betrachters wechselt stetig zwischen den Bauarbeitern und der dominanten horizontalen Bildstruktur bzw. zwischen einer fremden inhaltlichen Situation und einer vermeintlich harmoniegebenden Landschaftsarchitektur. Die optisch nach links ansteigende Fahrbahnmarkierung – einschließlich des richtungsweisenden Pfeils – provoziert eine Bewegungsrichtung, die aus dem Bild hinausführt und der Situation die Atmosphäre von Flüchtigkeit verleiht. Die Leere bzw. die nur kurzzeitige Aufsuchung solcher Grenzbereiche durch den Menschen demonstriert Gursky auch in der Fotografie ‚Bremen, Autobahn‘ von 1991 mit den Maßen von 165 x 196 cm. Wiederum teilt sich das Bild in strenger Horizontalität in eine vom Menschen geformte Landschaftszone und in eine Himmelszone. Zwei unbefahrene Autobahnschleifen, von kargem Grün umgeben, binden die Aufmerksamkeit. Der grau-weiße Himmel erstreckt sich leer und kühl über dem trostlos wirkenden Autobahngebiet. Die Straße verläuft nicht parallel zum Horizont, sondern bildet wie in ‚Essen‘ eine autarke Form, die sich wie ein graphisches Zeichen durch die Landschaft zieht. Vier Jahre später greift Gursky die Straßenschleife erneut auf und setzt sie in ‚Leipzig, Messe‘ (1995, 165 x 215 cm) in den Vordergrund der horizontalen Bildkomposition. Thema der Aufnahme ist die Messe-

40 Zitiert nach Newhall 1998, S. 87.

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baustelle, die mit ihren Kränen über den Bildmittelgrund verläuft und von einem für Gursky ungewöhnlich blauen Himmel überspannt wird. Der tief gezogene Horizont verhindert eine detailgenauere Aufschlüsselung der bildlichen Situation. Von ganz anderer Atmosphäre ist die Aufnahme ‚St. Moritz‘ von 1991 (170 x 200 cm). Es handelt sich hierbei nicht um eine Landschaftsaufnahme, doch wird sie aufgrund der zweigeteilten Bildfläche an dieser Stelle mit aufgenommen. Abgebildet ist der Innenraum einer Kantine für alpine Wintersportler. Der nur leicht erhöhte Blick gleitet über die besetzten Tische in die Bildtiefe, die durch eine vertikal gegliederte Fensterfront begrenzt ist. Die Sicht nach draußen bleibt durch eine weiß-graue ‚Wand‘ versperrt, die sich weder als Himmel noch als alpines Gelände identifizieren lässt. Das Interesse soll sich offensichtlich mehr auf die ‚eingefrorene‘ Situation der sich ausruhenden Sportler beziehen als auf die Umgebung: auf einen Moment des Innehaltens, dessen Sinn der Betrachter nicht genau entschlüsseln kann. Die Gäste scheinen sich vom Fotografen unbeobachtet zu fühlen, lediglich der Blick eines Mannes im Vordergrund durchbricht die Situation und könnte als eine mögliche Entdeckung des Beobachters gedeutet werden. Gursky erklärt selbst, dass er den direkten Blickkontakt zu einer Person in der Regel vermeidet, da diese sich sonst zu stark als Individuum von der Masse abheben würde. Sein eigentliches Interesse liege wesentlich auf dem Phänomen der Gruppe.41 Im Gegensatz zu den vorherigen horizontal gegliederten Aufnahmen ist in ‚St. Moritz‘ die Distanz zum Bildmotiv erheblich verringert. Der Betrachter steht nahezu zentral im Geschehen, auch wenn ihm keine direkte Aufmerksamkeit zuteil wird. Der in die Szenerie hineingeführte Blick lässt eine Oberfläche entstehen, die aufgrund der Nähe und Unmittelbarkeit eine stärkere Auseinandersetzung mit den Personen forciert. Die zum Stillstand gebrachte Bildsituation der Gäste wird abgetastet, um mögliche Durchbrechungen des Schwebezustandes ausfindig zu machen. Rudolf Schmitz spricht von ‚Suspense‘, einem

41 Vgl. Gursky, Andreas: Kommentar im Film: Contacts. Thomas Ruff. Andreas Gursky. La Sept Arte, KS Visions, Le Centre National, De La Photographie, Présentent Sur Une Idée De William Klein. Andreas Gursky: Réalisation Sylvain Roumette. France 1997/1999. Ausgestrahlt am 23.11.2002 auf arte. Minutenstand ca. 17:08-17:24.

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Spannungszustand, der bei Gursky jedoch nicht in einer Katastrophe42 mündet, sondern nach seiner Auflösung die Szenerie positiv oder neutral weiterführt. Wird die innerräumliche Situation außer Acht gelassen und der Blick auf die Fensterfront gelenkt, so fühlt sich der Betrachter an das sogenannte ‚Panoramafenster‘ erinnert, das auch in der Wohnungsarchitektur von Le Corbusier in den 1930er- und 1940er-Jahren Anwendung gefunden hat. Die Zimmer waren mit einer virtuellen Aussicht versehen, eine Leinwand wurde ähnlich wie ein Fenster angebracht. Streben sorgten für ein Gitternetz, das an die Optik der Zentralperspektive erinnerte. Die unterschiedlichsten Landschaften konnten so in die häusliche Umgebung geholt werden, und die Bewohner wurden zu Zuschauern innerhalb ihrer eigenen vier Wände.43 Der wechselnde Einsatz von tatsächlichem ‚Panorama‘ und ‚Leinwandpanorama‘ wird am Beispiel der Wohnstätten Adolf Hitlers deutlich, der damit die ideale deutsche Heimat propagieren wollte. Auf Postkarten war zwischen 1939 und 1945 die Innenansicht des Berghofs mit Panoramafenster und Blick auf die Berge für die Bevölkerung visuell zugänglich. In der Alten Reichskanzlei in Berlin jedoch befand sich in der Halle der Wohnung Hitlers anstelle des Fensters eine Leinwand, während auf einer Fotografie seines Arbeitszimmers das Fenster wiederum mit einer weißen Leinwand verwechselt werden konnte. Hentschel erläutert: „Der gerahmte Ausblick auf eine reale Stadt/Landschaft und der Anblick eines gerahmten, virtuellen Raumes scheinen gleichwertige Partner des politischen Ordnungsapparates zu sein.“44

42 Rudolf Schmitz vergleicht diese Aufnahme mit einer Szene aus Alfred Hitchcocks Film ‚Der unsichtbare Dritte‘. Cary Grant steht in einem mit großen Fenstern versehenen Ausflugslokal der Rocky Mountains und wird plötzlich von einer Frau erschossen. Der Schuss stellt sich nachträglich als Attrappe heraus. ‚Suspense‘ bedeutet hier kriminelle Unterhaltung. Vgl. Schmitz, Rudolf: Weder Mordfall noch Taufe. Andreas Gurskys angstfreier Blick aufs Ganze. In: Felix, Zdenek (Hrsg.): Andreas Gursky. Fotografien 1984-1993. Ausst.-Kat. Deichtorhallen Hamburg; De Appel Foundation, Amsterdam. München, Paris, London 1994, S. 7-14, hier S. 9. 43 Vgl. Hentschel, Linda: Wohnsucht und Bildersucht: Visuelle Einrichtungen in der Moderne. Siehe http://www.gendernet.udk-berlin.de/downl/ gzine3_hentschel.pdf vom 30.07.2004, S. 4. 44 Ebd., S. 2f.

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Für die Betrachtung des Werkes ‚St. Moritz‘ ist bedeutsam, dass ein ‚Panoramafenster‘ gezeigt wird, hinter dem jedoch aufgrund der Lichtverhältnisse nichts zu sehen ist. Die weiß-graue Fläche bildet somit ein Tableau für die Möglichkeit einer Vorstellung von Landschaft. Wird einerseits der Blick in die Ferne verhindert, kann andererseits auf der Ebene der gedanklichen Illusion ein Bild entstehen. Eine ähnliche Zweiteilung und Nahsicht wie in ‚St. Moritz‘ zeigt sich in ‚Genua‘ (1991, 170 x 200 cm), nur dass sich der Fotograf hier in einer Menge parkender Autos aufhält. Soweit es ersichtlich ist, halten sich in den abgebildeten Fahrzeugen keine Personen auf. Es bleibt unklar, ob die Autos für den Weitertransport auf einer Fähre bereitgestellt wurden oder ob Gursky bereits das Fährendeck als Standort gewählt hat. Ganz offensichtlich ist, dass eine Fähre und ein Passagierdampfer den Horizont versperren, über dem sich wieder ein weißgrauer Himmel ausbreitet. Noch deutlicher setzt Gursky die horizontale Bildstruktur 1994 in ‚Sha Tin‘, (186 x 241 cm) um. Der distanzierte Blick ist überdies mit einer von narrativen Elementen erfüllten Fernsicht verbunden, die in den bisherigen Bildern nicht vorkam. So war der Horizont entweder vorzeitig verstellt, oder der heruntergezogene Himmel nahm einen breiten Raum im Bild ein. Streifenförmig baut sich das Bildmotiv von vorne nach hinten bzw. von unten nach oben auf. Durch diese Schichtung erzeugt Gursky eine besonders auffällige Raumweite. Über die gestaffelte Zuschauergalerie hinweg schaut der Betrachter auf eine Pferderennbahn, von der nur die beiden Längsgeraden und Zwischenzonen zu erkennen sind. Das Rennen selbst ist nicht direkt ersichtlich, sondern lediglich mittelbar auf dem Übertragungsbild einer großen Videowand und aus einer Zeitanzeige im Mittelgrund des Bildausschnitts. Hinter der Rennbahn ragen die Hochhäuser der Satellitenstadt und die Hong Kong umgebende Berglandschaft auf. Eine kräftige Farbigkeit verleiht dem indirekt vermittelten Schauspiel eine positive Stimmung, die von der abstoßenden Verbauung der Landschaft ablenkt. Der erhöhte Blick aus der Distanz erzeugt im Vergleich zu den bislang besprochenen Bildern einen ‚wissenden‘ Überblick. Der Betrachter wird zum Beobachter, der die Szenerie im Griff zu haben scheint. Die Landschaftsstruktur bestimmt nun auffällig das Bildmotiv. Der von Gursky gewählte Ausschnitt, das Weglassen der Kurven oder etwaigen Tiefenführungen durch Straßen, verstärkt den horizontalen

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Aufbau, der durch die Bahnanlage an sich bereits vorgegeben ist. Obwohl sich die Gegenbahn im Hintergrund verkürzt und somit Perspektivraum suggeriert und zuvor auch von einem narrativen Raumweite gesprochen wurde, bewirken die horizontalen Streifen zugleich eine übergeordnete, dem Motiv auferlegte Bildordnung – eine annähernde Verschmelzung zur Bildfläche. Andreas Berndt erklärt: „Alle weiteren Bildelemente ordnen sich der horizontalen Schichtung unter, wobei die Linien imaginäre Demarkationen sind, innerhalb derer die Objekte verschiedene Ornamente bilden. Selbst die ameisengleichen Zuschauer im Bildvordergrund bilden dabei keine Ausnahme. Als kleine, leuchtende Farbflecke geben sie dieser Zone das charakteristische Aussehen.“

45

Der von Berndt angedeutete Ornamentgedanke kann für einzelne Streifenpartien geltend gemacht werden: Die Zuschauer auf der Tribüne, die durch Geländerabsperrungen gegliederte Rennbahn oder die mit Bäumen bepflanzte Grünanlage weisen entsprechend Merkmale der Addition, des Linearismus oder des Strukturgerüsts auf. Auf die gesamte Bildanlage ist das Prinzip jedoch nicht anwendbar, zumal der durch die horizontalen Streifen hervorgerufene Formalisierungsprozess übergeordnet ist. Die von Gursky in den frühen Arbeiten erprobte horizontale Bildkomposition wird in den vorgestellten Werken zwischen 1989 und 1991 bzw. 1994 weiterentwickelt. Gursky befasst sich konkret mit der zweifach, dreifach und schließlich mehrfach horizontalen Bildeinteilung, wobei in den späteren Landschaftsaufnahmen der Natur mehr Raum zukommt und der Mensch reduziert oder nur indirekt durch technische Spuren in Erscheinung tritt. ‚St. Moritz‘ bildet hier eine motivische Einzelposition, da der Bildraum von einer Personengruppe und nicht von der Natur eingenommen wird. In der Aufnahme ‚Sha Tin‘ hingegen werden Naturraum, Kulturraum und Personenraum miteinander verschränkt. Die ausgeprägte thematische Auseinandersetzung mit

45 Berndt, Andreas: Die Entdeckung des Gleichen im Ungleichen. Andreas Gurskys Blick auf die Welt. In: Breuer, Gerda; Henry van de VeldeGesellschaft e.V., Hagen (Hrsg.): Außenhaut und Innenraum. Mutmaßungen zu einem gestörten Verhältnis zwischen Photographie und Architektur. Frankfurt am Main 1997, S. 125-134, hier S. 126.

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Himmel- und Landzone gleichermaßen entspricht dem Streben Gurskys nach horizontaler Raumgliederung. Zudem werden die Motive möglichst parallel zur Bildebene gesetzt und teilweise so angeschnitten, dass sie der Bildsicht Gurskys entsprechen. Die nun gewählte Durchschnittsgröße der Bildabzüge von 160 x 200 cm ließ sich ausschließlich mit Hilfe größerer Negative realisieren, da sonst die Bildschärfe nicht mehr gewährleistet werden konnte. Gursky wechselte 1987 von der Mittelformatkamera auf die Großbildkamera mit Formaten von 4 x 5-Inch und 5 x 7-Inch, die zugleich die Benutzung eines Stativs erforderte.46 Das neue Format verstärkt in den Aufnahmen die Betonung von Flächenstücken. Außerdem reduziert Gursky die Motive auf wenige konkrete Bildelemente und konzentriert damit die Sichtweise auf Vorhandenes. Ausbrechende oder übergreifende Formen werden vermieden. Das charakteristische Moment des Augenblicks und des zufälligen Gefüges der kleinformatigen Aufnahmen weicht dem beobachtenden Blick und der strengeren Bildkomposition. Der in den meisten Bildern nur leicht erhöhte Betrachterstandpunkt gewinnt dadurch mehr Prägnanz und erhöht den Eindruck der Distanz. Zu einem nahen Blick verkehren sich die bildlichen Situationen in ‚St. Moritz‘ und ‚Genua‘, in denen sich der Betrachter mitten im Geschehen glaubt. Trotz der Nähe zum Bild vermittelt die Motivoberfläche eine Gleichmäßigkeit, die vom Betrachter sowohl formal als auch inhaltlich nach Unregelmäßigkeiten abgetastet wird. Eine von Personen oder Dingen hervorgerufene Oberflächenstruktur kündigt sich hier an, die in späteren Werken der zweiten Strukturkategorie fortgesetzt wird (vgl. Kap. III.2.1.1. bis 2.1.4.). Ebenso verhält es sich mit der Fotografie ‚Sha Tin‘, die in ihrer Bildanlage bereits auf bildparallele Flächenstrukturen verweist. Diese werden anhand späterer Arbeiten noch eingehender analysiert (vgl. Kap. III.2.1.5.). Im Hinblick auf die dargelegten formalen Bildeigenschaften kann von einem Prozess der Abstrahierung gesprochen werden, da die horizontal geprägte Komposition in Konkurrenz zum Motiv tritt. Die vom Menschen bereits geometrisch strukturierte und geplante Landschaft wird durch Gurskys frontale, angeschnittene und die Flächen betonende Bildsicht nochmals verstärkt und in ein ästhetisches Formgefüge überführt. In den Aufnahmen ‚Bremen, Autobahn‘ und ‚Leipzig, Messe‘ fügt Gursky der Horizontalität durch Straßenschleifen ein Archi-

46 Vgl. zur Kamerawahl: Galassi 2001, S. 27.

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tekturzeichen hinzu, das bereits in der Kategorie ‚Zufallsblick‘, im Bild ‚Essen‘ (1984), Anwendung gefunden hatte. Der Gedanke an einen ornamentalen Formbezug liegt durchaus nahe; die ornamentale Anmutung allerdings ist als graphisches Element dem Bildinhalt parataktisch zugefügt und fungiert noch nicht als formale und inhaltliche Klammer untergeordneter Bildeinheiten. Alle zuletzt beschriebenen Arbeiten erzeugen ein intensives Spannungsfeld zwischen unberührter Natur und Naturformung durch den Menschen, der jedoch nur reduziert oder mittelbar, durch seine technischen Produkte, anwesend ist. Gursky übt jedoch keine unmittelbare Kritik, sondern bleibt in wertfrei beobachtender Haltung. Zuweilen drängt auch die Ästhetik der Aufnahmen, wie der Dualismus von Himmel und geformter Grünzone, in den Bildvordergrund. In der Kategorie ‚Zufallsblick‘ wurden Arbeiten vorgestellt, die das Moment des Unterwegsseins des Menschen im landschaftlichen Raum visualisieren. Raum wird von den abgebildeten Personen aktiv erschlossen oder ‚bespielt‘. Die horizontal gegliederten Aufnahmen hingegen lenken den Blick auf Begrenzungen – wie Wald, Hügel, Erdwall, Berge oder Wasser –, die eine direkte Fernsicht oder Wegerschließung verhindern. Diese Grenzen trennen landschaftliche Bereiche voneinander und geben dem Areal auf natürliche oder künstliche Art und Weise seine spezifische Struktur. Es sind Bereiche, die ganz bestimmte Möglichkeiten des Zugangs für sich beanspruchen bzw. durch die oder um die herum ein System von Verkehrs- und Wegeslinien führt, deren Verbindungen nicht immer dem kürzesten Weg – jenem der Luftlinie – entsprechen müssen.47 In der Regel werden die Grenzen als solche nicht wahrgenommen, da ihre Überwindung, wenn beabsichtigt, möglich wäre. Das Wissen um die Landschaft besagt, dass sich diese zu allen Seiten kontinuierlich in die Weite erstreckt. Dies ist nicht der Fall, wenn es sich zum Beispiel um eine Kriegslandschaft – wie in der Aufnahme von Fenton – handelt. In diesem Fall ist die Landschaft zur

47 Dies bezeichnet Bollnow als „hodologisch“ gegliederte Landschaft und bezieht sich dabei auf Lewin, K.: Der Richtungsbegriff in der Psychologie. Der spezielle und allgemeine hodologische Raum. Psychologische Forschung. Bd. 19, 1934. Vgl. Bollnow 2004, S. 195-202.

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Front hin einseitig ausgerichtet und findet dort zugleich auch ihr Ende.48 Das Panoramafenster oder das Fenster im Allgemeinen trennt den Innenraum vom Außenraum und definiert das Verhältnis des Menschen zur umgebenden Natur. Es dient – abgesehen von seiner Funktion der Beleuchtung – als Öffnung, um die Außenwelt zu betrachten, oder als ‚Augentor‘, das den sichernden, kontrollierenden Blick auf die Außenwelt erlaubt. In seiner erweiterten Funktion eröffnet das Fenster dem Bewohner die Möglichkeit sich zu orientieren: Es liefert ihm ein Bild der Umwelt. Zugleich rückt dieses durch das Fenster gesehene Bild das Umfeld in die Ferne, da es durch Rahmen und Fensterkreuz nur als Ausschnitt erfasst wird. Ferne und bildhafter Ausschnitt führen zu einer Idealisierung des Gesehenen – und überführen es in gleichsam entrückte Zeitlosigkeit.49

1.1.3 Architektonische Perspektivfluchten Ende der 80er-Jahre sind einige Aufnahmen Gurskys durch steile Architekturperspektiven gekennzeichnet, die in Ausschnitten die landschaftlich geprägte Bildsituation durchlaufen. Während die horizontale Zwei- bzw. Dreiteilung noch eine Formalisierung des gesamten Bildinhalts zur Folge hatte, sorgen diese perspektivischen Fluchten nun für eine komplexere Differenzierung und Gewichtung verschiedener Bildeinheiten. Die Fotografie ‚Ruhrtal‘, 1989 (217,5 x 169 cm) zeigt aus einer tiefen Blickposition die Ruhrtalbrücke, auf zwei Pfeilern ruhend, in einer Schrägen das obere Bilddrittel durchziehend. Die Pfeiler überbrücken in ihrer Senkrechten die breite, grau-weiße Himmelszone und finden ihren Stand auf einem schmalen Streifen Erdboden. Gegen die Brückenperspektive führt ein Weg, kenntlich gemacht durch eine Zaunbegrenzung, vom rechten Bildrand in den Hintergrund. Auf diesem Weg steht unterhalb der Brücke in Miniatur eine männliche Gestalt allein in der kargen Landschaft. Das breite Bildformat und die blasse, fast diffuse Farbigkeit der Aufnahme rufen eine Atmosphäre

48 Vgl. ebd., S. 199f. 49 Vgl. ebd., S. 160-163.

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von Einsamkeit hervor. Fast bedrohlich wirkt die Brücke, die zu einem schwarzen Balken stilisiert ist. Gursky war mit der Ruhrtalbrücke sehr vertraut, da er sie auf dem Weg zur Universität nach Essen häufig benutzte. Den Standpunkt unterhalb der Brücke nahm er mehrfach ein, ohne jedoch eine Aufnahme zu tätigen. Erst als plötzlich die Gestalt in das Motiv trat, war Gursky von der Bedeutung und Wirkung des Bildes überzeugt und betätigte den Auslöser.50 Galassi verweist im Zusammenhang mit Gurskys Motiven, in denen der Mensch unterhalb von architektonischen Konstruktionen klein in Erscheinung tritt, auf den von der Kritik oft bemühten und fast ritualisierten Vergleich zu Caspar David Friedrich. In einem kleinen Exkurs versucht der Kurator die Verbindung Gurskys zur Landschaftsmalerei der Romantik kritischer zu betrachten. Zunächst verweist er auf die Äußerung des Künstlers selbst, der im Interview mit Veit Görner erklärt: „Es ist nicht meine Absicht kunstimmanente Fragestellungen bewusst aufzugreifen und sie in modernen Ausprägungen neu zu formulieren. Eine solche kontextbezogene Vorgehensweise führt meiner Meinung nach letztendlich zu langweiligen Ergebnissen, weil das Kalkül den irrationalen Gesetzen der Bildfindung den Freiraum entzieht. Trotzdem werden stil-geschichtliche Parallelen bei mir immer wieder augenscheinlich, [...]. Wie ich schon in anderen Interviews gesagt habe, scheint in der Kunstgeschichte ein allgemeingültiger Formenschatz zu existieren, auf den wir immer wieder zurückgreifen.“

51

Die unbewussten Anleihen liegen somit in einem kollektiven kulturvarianten Bildgedächtnis begründet: einem Bildgedächtnis, so Galassi, das sich nicht unbedingt nur aus Erinnerungen an Originale speist, sondern vielmehr durch die Bilderflut von Reproduktionen auf Postkarten, in Büchern und Zeitschriften. Das fotografische Medium selbst ersetzt und transportiert die Werke der Romantik. Unter die traditionsreichen alten Bilder mischen sich schließlich auch zeitgenössische Bilder. Nach der Fertigstellung der Ruhrtalbrücke im Jahr 1966 wurden zahllose Aufnahmen angefertigt, um das Bauwerk, mit dem die Autostrecke zwischen Düsseldorf und Essen deutlich vermindert wurde, zur

50 Vgl. Gursky 1997/1999, Minutenstand ca. 15:52-16:24. 51 Gursky, Andreas in: Görner 1998, S. 6f.

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Schau zu stellen. In späteren Jahren erhielt die Brücke jedoch einen verstörenden Beigeschmack: als Tatort zahlreicher Selbsttötungen. Solche Gedanken überkamen den Fotografen Gursky selbst einige Male, als es ihm nach der Ausbildung an der Folkwangschule in Essen nicht glückte, als Fotojournalist tätig zu werden. Galassi weist mit diesen Ausführungen daraufhin, dass Gurskys Werke nicht auf die vorhandenen Ähnlichkeiten in der Bildstruktur und dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur bei C.D. Friedrich reduziert werden können, sondern dass gleichwohl gegenwärtige Einflüsse zu berücksichtigen sind.52 Auch von einer Ehrfurcht vor der Natur könne nicht gesprochen werden, denn die Neutralisierung des Himmels unterlaufe jede Form entgrenzender Atmosphäre, wie sie in Gemälden der Romantik durch Sonnenuntergänge oder Gewitter zum Ausdruck gebracht wird.53 Wie bei allen Bildern der Kategorie ‚Zufallsblick‘, z.B. ‚Ratingen, Sonntagsspaziergänger‘, ‚Essen‘ u.a., verweist auch die Aufnahme ‚Ruhrtal‘ nicht nur auf Lokalkolorit, sondern auch auf das persönliche Lebensumfeld Gurskys. Es zeigt sich hier noch die Identifizierung des Künstlers mit dem Ort bzw. mit seiner Heimat, angezeigt durch konkret benannte geographische Punkte, während in späteren Strukturkategorien eine Entkonkretisierung bzw. Universalisierung von Bildschauplätzen festzustellen ist. Dass Gurskys Fotografie die Atmosphäre persönlicher Verlassenheit transportiert, zeigt der Vergleich mit einer Fotografie von Alexander Gardner „In der Nähe von Fort Harker, Kansas, 216 Meilen westlich des Missouri River“54 (1867), die – trotz der Motivanalogie – ei-

52 Vgl. Galassi 2001, S. 25f. Bezüglich Gurskys Selbstmordgedanken vgl. auch Jocks 1999, S. 253. Zur Bedeutung der Werke Friedrichs vgl. Koerner, Joseph Leo: Caspar David Friedrich. Landschaft und Subjekt. Aus dem Englischen von Christiane Spelsberg. München 1998. Epochen der deutschen Kunst. Bd. 3, Romantik. Im Speziellen Kap. 6: ‚Friedrich’s System‘, S. 111-136. Vgl. zum Verhältnis Andreas Gursky und C.D. Friedrich ausführlich Kap. III.1.2.4. 53 Vgl. Bürgi, Bernhard: Ein Gespräch zwischen Andreas Gursky und Bernhard Bürgi, 6. Januar – 11. Februar 1992. In: ders. (Hrsg.): Andreas Gursky. Ausst.-Kat. Kunsthalle Zürich. Köln 1992, S. 4-37, hier S. 29f. 54 Alexander Gardner, In der Nähe von Fort Harker, Kansas, 216 Meilen westlich des Missouri River, 1867. Albuminpapierkopie. Slg. Arnold H. Crance, Chicago. Abb. in: Newhall 1998, S. 99.

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nen romantisch-nostalgischen Eindruck vermittelt. Ähnlich wie bei Gursky ist die Aufnahme in eine Himmels- und eine Landschaftszone unterteilt, wenn auch die Landschaft bei Gardner erheblich mehr Raum einnimmt. Am Horizont verläuft – das Tal überwindend – eine Eisenbahnbrücke, auf der sich über die gesamte Länge eine Dampflokomotive mit Anhängern erstreckt. Der Zug ist die Vermittlung zwischen Himmel und Erde und steht für die technische Errungenschaften des 19. Jahrhunderts und den menschlichen Fortschrittsoptimismus, im Bild angedeutet durch die Anwesenheit einer Person im Vordergrund der Landschaft. Verschwindend klein erscheint sie in der kargen Tiefebene, passt jedoch zur miniaturhaft anmutenden Eisenbahn im Hintergrund. Das verbindende Moment zwischen Mensch, Natur und Technik – symbolisiert in der Brücke – wird in dieser Aufnahme ganz offensichtlich. Der Mensch bei Gardner ist sich der bildlichen und inhaltlichen Situation bewusst, während sich die Person bei Gursky unbeobachtet fühlt. Seine indirekte Aufmerksamkeit gilt nicht der Brücke, sondern der Innenschau, dem Ich. Nur der Fotograf bzw. der Betrachter nimmt die ganzheitliche Konstellation wahr und stellt die Beziehung der Bildelemente zueinander her. Beim Fotografen Hans-Christian Schink55 taucht das Motiv der Autobahnbrücke in der Werkreihe ‚Verkehrsprojekte Deutsche Einheit‘56 auf, die zwischen 1995 und 2002 entstanden ist und ungefähr 250 Aufnahmen umfasst. Die Fotografie ‚A 71, Brücke Wilde Gera‘ von 2001leitet den Blick des Betrachters in Untersicht auf die gewaltige Betonarchitektur einer Bogen-Pfeiler-Brücke. Bedingt durch den Ausschnitt durchzieht sie im Vordergrund vertikal das gesamte Bildformat, um dann zum Hintergrund in einer Perspektivflucht steil abzufallen. Darunter liegt das zu überbrückende Tal, umgeben von bewaldeten Hügelketten. Im Gegensatz zur Aufnahme Gurskys ist der Mensch

55 Der 1961 in Erfurt geborene Hans-Christian Schink studierte von 19861991 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. 56 Hans Christian Schink, 1995-2002 Verkehrsprojekt Deutsche Einheit. Originalabzüge vom Negativ in den Größen 178 x 211 und 121 x 143 cm. Abb. in: Hans-Christian Schink. Verkehrsprojekte Deutsche Einheit. Ausst.-Kat. Martin-Gropius-Bau, Berlin; ACE Gallery, New York; ACE Gallery, Los Angeles; Kunsthalle Erfurt. Ostfildern-Ruit 2004.

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nicht unmittelbar existent. Die Anwesenheit eines Menschen oder auch nur seiner Spuren, z.B. ein Graffiti auf dem Beton, hätte Schink von der Aufnahme abgehalten.57 Obwohl sich das Größenverhältnis zwischen Mensch und Brücke bei Gursky innerbildlich zeigt, wirkt die Architektur bei Schink mächtiger. Durch sie werden die räumliche Durchdringung und die technische Unterwerfung von Landschaft besonders deutlich, während Gursky die konkret zu verbindenden Orte ausklammert. Er entfernt sich damit visuell von einem dokumentarischen Charakter seiner Aufnahme. In Gurskys ‚Köln, Zoobrücke‘ (130 x 103 cm) von 1988 liegt der Betrachterstandpunkt direkt unterhalb der Brücke, so dass in der Unteransicht die Architektur nur in einem Ausschnitt zu erkennen ist. Als braune Keilform nimmt sie die rechte Bildzone ein, stabilisiert von einem mehrkantigen Pfeiler, der in einen Sockel übergeht. Dieser Pfeiler markiert die Mittelsenkrechte der Aufnahme und leitet zunächst den Blick in das Bildzentrum. Wiederum gegen die Brückenperspektive verläuft der Rhein mit einer Art Promenade im Vordergrund und einem bewaldeten Ufer im Hintergrund. Die Fotografie baut sich in der Fläche durch fünf mehr oder weniger keilförmige Bildzonen auf, deren strenge Geometrie durch einen Fahrradfahrer und einen Hundebesitzer auf der Promenade unterbrochen wird. Der Blick gleitet vom Pfeiler ab und richtet sich auf die Positionen der Figuren ein, um aus ihrer Perspektive zum gegenüberliegenden Ufer zu schauen. Im Vergleich zur ‚Ruhrtal‘-Aufnahme wirken die Personen in ihrem Handeln und ihrer Beziehung zur Umwelt weniger einsam, weil sich der Bildausschnitt in die Vertikale erstreckt und mehrere Unterbrechungen innerhalb des Bildaufbaus erfährt. Trotz der bildlichen Nähe der Brücke wirkt diese kaum beunruhigend, sondern als dachähnliche Konstruktion vielmehr schützend. Regelrecht bedrohlich wirkt dagegen die Fotografie ‚Duisburg, Brücke‘ von 1989 (104 x 128 cm). Die Autobahnbrücke durchläuft in diesem Fall nicht das Querformat der Aufnahme, sondern stürzt von der oberen linken Bildecke ins Zentrum hinein, um hinter einem Wall im Hintergrund zu verschwinden. Die Untersicht auf den dunkel-braun wirkenden Beton, die menschleere karge Wiesenzone im Vordergrund sowie der dunkel-grau bewölkte Himmel tragen zur verstörenden At-

57 Persönliche Mitteilung von Christian Schink in seinem Leipziger Atelier am 16. April 2004.

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mosphäre bei. Ein weiteres Indiz für den Eingriff des Menschen in die Natur liefert ein kleiner Müllberg in der rechten Bildhälfte, zurückgelassen am Rand der Autobahn. Auch Schink lenkt in einigen Aufnahmen den Blick direkt unter die Autobahn. In ‚A 9/A 38 Autobahnkreuz Rippachtal 1‘ (1998) durchzieht die auf Pfeilern ruhende Bahn von links oben beginnend und in einer großen Kurve herabführend die gesamte Aufnahme. Die dunklen Schattenzonen betonen die Form der Konstruktion, so dass sich diese kontrastreich vom hell-grauen Himmel abhebt. In der Fotografie ‚A 14 Saalebruecke Beesedau 3‘ (2001) wirken die Untersicht und der fast formatfüllende Ausschnitt der Brücke schließlich wie ein skulpturales Gebilde. Für die meisten Brücken- bzw. Autobahnbilder Schinks könne, wie Andreas Krase beschreibt, Folgendes festgehalten werden: „In ihrer Fragmentierung, die sicher nicht zufällig das Lastende und Drückende der Betonkonstruktionen betont, wird die skulpturale Qualität der Formen sichtbar. Ihr stämmiges Stehen unter einem weißlichen, keinerlei Bewölkung zeigenden Himmel. So, wie sie sichtbar werden, geht von ihnen eine Art donnernde Stille, ein demonstrativer Stillstand aus, der sich auch als leerlaufende architektonische Geste bezeichnen ließe.“

58

Schink löst demnach Formen aus der Konstruktion der Brücke heraus, die dann als eigenständige Fragmente unabhängig von der Umgebung gesehen werden. Doch scheint gerade dieses Skulpturale eine Komponente zu enthalten, die Raum assoziiert bzw. Raum verdrängt, so dass im „Stillstand“ eine gewisse Dynamik erzeugt wird. Mit der Abfolge der Pfeiler und der Kurvenform des Brückenfragmentes entsteht Zeitlichkeit, die das Fortschreiten des ‚Verkehrsprojektes‘ und die damit verbundene Raumerschließung veranschaulicht. Bei Gursky gewinnen die architektonischen Elemente ebenfalls an bildnerischer Dominanz, doch wirken sie weniger skulptural, sondern strukturieren das Motiv vielmehr keilförmig in der Bildfläche. Jean-Pierre Criqui erläutert die Wirkung der Brücke in ‚Köln, Zoobrücke‘, „deren einziger sichtbarer Pfeiler, schwarz wie der Teil der Konstruktion, den er stützt – ein abstraktes Gebilde à la Franz Kline –, einem reinen Zeichen gleich, in den

58 Krase, Andreas: Annäherungen. Siehe http://www.rothamel.de/index.php? we_objectID=97 vom 14.04.2004.

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einheitlich weissen [sic!] Hintergrund von Himmel und Fluss einbricht“59. Die Wirkung dieser Abstrahierung wird jedoch durch die Anwesenheit der Personen und ihre Formation im Bildraum irritiert. Wie erwähnt, spart Schink in seinen Aufnahmen Menschen und Autos aus, die aufgrund ihrer Kleidung oder ästhetischen Formen im Vergleich zu Brücken und Straßen einen eindeutigen Zeitbezug herstellen könnten. Schink erklärt: „In dem Moment, in dem in einem Bild irgendwelche menschlichen Aktivitäten auftauchen, bekommt das Bild eine Alltagsbezogenheit. Diesen Alltagsbezug will ich aus dem Bild eliminieren.“60 So kommt es häufig vor, dass Schink zeitig in der Frühe oder am Wochenende arbeitet, um den Menschen aus dem Weg zu gehen. Entspricht ein Motiv nicht seinen Vorstellungen, so verzichtet er lieber auf die Aufnahme, als eine nachträgliche digitale Bearbeitung vorzunehmen. Die dokumentarische Realitätsbeziehung ist das konstitutive Moment seiner Bilder. „Ich möchte keine fiktive Realität erschaffen, sondern mich der wirklichen Welt unterordnen.“61 Schink ist an Strukturen und ihren Veränderungen interessiert, die einen Ort oder eine Gegend prägen. Es geht nicht speziell darum, ein typisch ostdeutsches Thema zu behandeln, auch wenn Schink selbst eine unterschwellige biographische Prägung seiner Bildideen nicht ausschließen kann.62 Flügge hingegen interpretiert dieses Projekt als Dokument des ebenso hoffnungsvollen wie problematischen Anschlusses der ostdeutschen Infrastruktur an die westdeutsche. Die von der Bundesrepublik subventionierte Entwicklungsmaßnahme versprach zwar Mobilität, Landschaftsgestaltung, Arbeitsplätze und die Angleichung divergenter Lebensbereiche, es bedeutete aber zugleich das Diktat des westdeutschen Systems.63 Der Fotograf – so deutet es Flügge – hält

59 Criqui, Jean-Pierre: Von der Melancholie der Standorte. (Beim Durchblättern eines Albums von Andreas Gursky). In: Parkett 44, 1995, S. 59-62, hier S. 60. 60 Schink, Hans-Christian, im Gespräch mit Ulrich Müller. In: Müller, Ulrich (Hrsg.): Architektur, Landschaft, Fotografie. Ausst.-Kat. Architektur Galerie Berlin – Ulrich Müller. Berlin 2000, S. 24. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 25. 63 Vgl. Flügge, Matthias: Verkehrswege. In: Schink 1994, S. 100-109, hier S. 106.

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den Zustand des Übergangs fest: Eine Landschaft im Umbruch, die nicht abgeschlossene bauliche Situationen „vermitteln die innere und äußere Anspannung, unter welcher der Vereinigungsprozess in Deutschland noch immer steht. [...] Die Euphorien der Moderne sind verflogen, in Schinks Bildern ist der so genannte ‚Fortschritt‘ stillgestellt. Darin verbirgt sich der Hinweis auf eine Chance.“64

Schink wurde aufgrund der skulpturalen Brückenelemente und der architektonischen Perspektivfluchten innerhalb der Natur mit Gursky verglichen. Bei näherer Betrachtung kann jedoch eine ganz unterschiedliche Haltung zur fotografischen Arbeit konstatiert werden: Im Gegensatz zu Gursky arbeitet Schink über einen längeren Zeitraum an einem Projekt und erschließt und dokumentiert unter spezifischen Aspekten ein ganz konkretes Areal. Seine subjektive Sicht auf die Strukturen bestimmter Gebäude oder auf die neu angelegte Infrastruktur im Osten Deutschlands führt die Aufnahmen von der reinen Dokumentation weg, ohne jedoch den dokumentarischen Anspruch völlig aufzugeben. Eine zeitlose Dimension vermischt sich mit der persönlichen Verbindung, die der Fotograf zur motivisch gewählten Umgebung bereits aufgebaut hat. Gurskys Architekturaufnahmen erscheinen aufgrund der reduzierten Farbigkeit und der grauen Himmelszonen im ersten Moment zwar auch zeitlos, können aber durch die Anwesenheit von Personen oder durch den Architekturstil zeitlich eingeordnet werden. Der heimatliche Bezug in den Aufnahmen wird überdies in seiner fotografischen Entwicklung relativ früh um fremde Regionen erweitert. Die Existenz des Menschen, mittelbar oder unvermittelt, ist ein essentielles Moment in den Arbeiten Gurskys, das Schink vermeidet. In Gurskys Aufnahme ‚Bochum, Uni‘ (1988, 165 x 200 cm) wird schließlich der geborgenheitsstiftende Charakter von Architektur offensichtlich. Der Fotograf befand sich bei dieser Aufnahme unterhalb einer Dachkonstruktion der Universität. Der Ausschnitt der Kassettendecke – von sechs Pfeilern getragen – ragt in die Tiefe des Bildes. Entsprechend verläuft der geflieste Boden, so dass die Architektur Hallencharakter erlangt. Durch diese Halle hindurch fällt der Blick auf eine zum Gebäude hin tiefer liegende Landschaft, die sich im weiß-grauen

64 Ebd., S. 109.

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Luftdunst verliert. Von der dominanten Architektur fällt der Blick auf Studenten, von denen einige innerhalb des Hallenbereichs Gespräche führen, während andere an den Randzonen sitzend in ihre Lektüre vertieft sind. Die Konstellation der Personen und die Situation der Aufnahme haben zufälligen Charakter. Die Personen fühlen sich nicht beobachtet, glauben sich vielmehr im Schutze der Architektur. In dieser Aufnahme sind die Menschen laut Gursky sowohl „Träger zeitspezifischer Merkmale als auch zeitlos gültiger Dimensionen“65. Einerseits ist die von den Studenten getragene Kleidung wie Jeans und Turnschuhe, die eindeutig der Mode in den 70er- bzw. 80erJahren zugeordnet werden können, spezifisches Signum der modernen freizeitorientierten Gesellschaft. Auf der anderen Seite illustriert das Studium von Texten die fortwährende Auseinandersetzung mit überliefertem Kulturgut. Der Augenblick der Aufnahme lenkt das Interesse auf das Handeln der Personen, auf den Sinn und Zweck ihres Tuns.66 Wie die Studenten auf das Wesen und die Ursprünge der Wissenschaft verweisen, so deutet auch die Architektur über sich selbst hinaus: Das Universitätsgebäude ist nicht nur ein technokratischer Nutzbau der 70er-Jahre, sondern erinnert an Darstellungen von Pfeilerhallen aus dem Quattrocento67 oder an einen durch Architektur gegliederten Landschaftsausblick von Francesco Guardi68 aus dem 18. Jahrhundert.69 Die spezifische Topographie der Universität wird demnach in Gurskys Aufnahme verfremdet bzw. aufgehoben, und die Szenerie wird universalisiert. Auf der formalen Ebene erzeugen die Untersicht und die diagonale Blickrichtung eine bildimmanente Spannung zwi-

65 Gursky, Andreas in: Bürgi 1992b, S. 18. 66 Vgl. ebd., S. 18f. 67 Vgl. Umkreis Piero della Francesca, Architekturperspektive, um 1480. Abb. in: Steinhauser, Monika (Hrsg.): Ansicht, Aussicht, Einsicht. Andreas Gursky, Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Ruff, Thomas Struth. Architekturphotographie. In Zusammenarbeit mit Ludger Derenthal. Ausst.-Kat. Museum Bochum, Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig. Düsseldorf 2000, S. 7. 68 Francesco Guardi, Der Luftballonaufstieg des Grafen Zambeccari, 1789. Abb. in: Steinhauser 2000, S. 8. 69 Vgl. Steinhauser, Monika: Architekturphotographie als Bild. In: Steinhauser 2000, S. 7-18, hier S. 8.

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schen den geometrischen, seriell angeordneten Flächen und der perspektivischen Tiefenillusion, wodurch der Bildraum formalisiert wird. Außen und Innen von Landschaft und Architektur finden sich in der Arbeit ‚Schiphol‘ von 1994 (180 x 216 cm). Der Standpunkt des Fotografen befand sich diesmal in einer Flughafenhalle mit dem Blick auf das Startfeld. Außen und Innen sind lediglich durch eine Glasfassade voneinander getrennt, die rhythmisch streng durch Längsstreben unterteilt ist. Dieser Rhythmus wiederholt sich – kontrastierend, weil organischer – versetzt im Außenfeld der Anlage: Kreisförmige Rasenflächen unterteilen die Zufahrtswege der Start- und Landebahnen in verschiedene Richtungen. Wie in ‚Bremen, Autobahn‘ fügt sich die Form wie ein geometrisches Zeichen ins Bild. Die Geometrisierung in ‚Schiphol‘ tritt jedoch klarer hervor durch die Dominanz des überfiguralen Verlaufs der Bahnen und ihrer hell hervortretenden schleifenförmigen Mittelmarkierungen. Dies ist bereits die Anmutung einer ornamentalen Figur, welche die Bildwirkung von ‚Schiphol‘ konstitutiv mitbestimmt. Die Bildparallelität der Motive wird in der Gruppe der Brücken- bzw. Architekturaufnahmen aufgehoben. Dynamische Perspektivfluchten leiten den Betrachter schräg ins Bildgeschehen. Zur Situation des Menschen in der Natur wird ein technisches Motiv hinzugefügt und durch Unteransichten betont. Es sind bildnerische Elemente, welche die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich ziehen und das Bildgefüge strukturieren. Ihre Dominanz verleiht dem Landschaftsgefüge eine flächige interruptive Komponente. Dennoch reicht Gursky das in seiner Isolation erratisch wirkende Zeichen als Bildwirkung allein nicht aus, da er offensichtlich auf die Existenz des Menschen im Bildgefüge nicht verzichten kann. In ‚Schiphol‘ wird die menschliche Anwesenheit zwar ausgespart; als ausgleichendes Element zur rigiden unbelebten Architektur wird jedoch das Organisch-Ornamentale hinzugefügt. Je nach Kombination und Größenverhältnis von Mensch, Natur und Technik erhalten die Aufnahmen unterschiedliche atmosphärische Bedingungen und Charaktere: Die Skala verläuft z.B. über schutzspendende, bedrohliche oder erhabene Architektur. Als weiterer Aspekt von Raum tritt in dieser Strukturkategorie auch der „gestimmte Raum“ in Erscheinung: Jeder Innen- oder Außenraum erhält in seiner Verbindung mit dem menschlichen Subjekt einen ganz spezifischen

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„Stimmungscharakter“.70 Dabei wird die Stimmung entweder vom Menschen auf die Landschaft/den Innenraum übertragen − oder umgekehrt. Das innere Gestimmtsein oder im anderen Fall die atmosphärische Stimmung und die jeweilige Übertragung führen zu einem situativen Zusammenwirken von Mensch und Umwelt − entweder in harmonischer bzw. neutraler Einheit oder in spannungstiftendem Kontrapunkt.71 Zudem setzt Gursky in den besprochenen Architekturaufnahmen das hell-graue Element des Himmels und die reduzierte Farbigkeit ein, wodurch ein gedämpftes anachronistisches Timbre mitschwingt.

1.1.4 Turmperspektive Der leicht erhöhte Blick aus der Distanz wird Ende der 80er-Jahre und in den Folgejahren neben der horizontalen Perspektive und den Brücken- und Architekturaufnahmen von Gursky zu einem eigenständigen Bildsujet entwickelt. Die zur Kategorie der ‚Turmperspektive‘ gezählten Aufnahmen zeigen einerseits Motive, die aus der Ferne und einer hohen Position aufgenommen wurden und aufgrund des gewählten Bildausschnitts das gesamte fotografische Format ausfüllen. In diesen Fällen kann nur eingeschränkt von einem Panorama72 gesprochen werden. Andererseits finden sich Motive, bei denen der erhöhte Blick entweder mit der vertikal gestaffelten Landschaft oder mit einem ausgeprägten ornamentalen Zeichen kombiniert wird. ‚Klausenpaß‘ von 1984 (92 x 81 cm) nimmt zeitlich und motivisch eine Zwischenstellung ein. Die Aufnahme vertritt sowohl die Kategorie ‚Zufallsblick‘ als auch die Kategorie ‚Turmperspektive‘. Der Blick wird zunächst über einen grün-braunen Wiesenhang geleitet, bis er am Fuß des Bergmassivs angelangt ist und an der grauen Felswand zum höchsten Punkt hinaufführt. Die Sichtweise ist von oben auf die Wiese 70 Bollnow 2004, S. 230f. 71 Vgl. Bollnow 2004, S. 231. 72 Der Begriff ‚Panorama‘ bezeichnet ein vor allem im 19. Jh. angewandtes illusionistisches Schaubild in Form eines perspektivisch-plastisch wirkenden Rundbildes. In der Landschafts-/Architekturmalerei oder -fotografie bezeichnet das Panoramabild jedoch in der Regel nur die Abdeckung eines großen Betrachtungswinkels.

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gerichtet, wechselt aber dann in eine Untersicht. So versperrt sich der Horizont, und der Blick wandert zurück von der Weite des Bergmassivs zum näher gelegenen Hang, der sich jedoch nur in einem kleinen Ausschnitt präsentiert. Vereinzelt durchziehen weiße Schneefelder den Alpenpass, und erst auf den zweiten Blick lassen sich einige Touristen im Wiesenhang ausmachen, die als kleine farbige Punkte im Bild erkennbar sind. Unbemerkt sind sie in die Aufnahme geraten, Gursky hatte die Personen durch die Kamera nicht wahrgenommen. Erst der später angefertigte Abzug brachte die Entdeckung, dass die Kameraoptik ‚aufmerksamer‘ war als die menschliche Wahrnehmung.73 Wie von einer unsichtbaren Schnur geführt, scheinen sich die Wanderer am Ausläufer des Bergs zu formieren. Das Abbild der Landschaft ist geprägt von einem Oszillieren zwischen Nähe und Distanz sowie von einer in den Hintergrund führenden Bildschichtung, die im hellen Blau des Himmels endet. Die Weite des Bergmassivs führt paradoxerweise dazu, dass es detailreicher erscheint als die grüne Fläche im Vordergrund, obwohl sich dort ebenfalls Grasnarben und Grasbüschel zeigen. In einer von O’Sullivan bereits 1873 fotografieren Aufnahme ‚Alte Ruinen im Cañon de Chelle, New Mexico‘74 werden die Menschen auch zum vereinzelten Element in der Natur. Der Ausschnitt der gewaltigen Canyon-Wand nimmt fast das gesamte fotografische Hochformat ein, lediglich im unteren Bildbereich ist ein schmaler Streifen der Canyon-Ebene mit Ruinen zu erkennen. Eine weitere Ruine zeigt sich in einer Nische der Gesteinswand, die ansonsten flächig strukturiert erscheint. Die ehemals aus Stein erbauten bzw. gehauenen Gebäude zeugen nur noch rudimentär von einer Besiedlung, vielmehr hat sich die Natur den ehemals kultivierten Bereich zurückerobert. Winzig klein erscheinen im Massiv die vier Expeditionsteilnehmer, die jeweils zu zweit an den Ruinenstätten verharren. Fast grotesk wirkt in dieser

73 Vgl. Bradley, Fiona: Einführung. In: dies. (Hrsg.): Andreas Gursky. Bilder. Ausst.-Kat. Tate Gallery Liverpool. München, Stuttgart 1995, S. 8-12, hier S. 8. 74 Timothy H. O’Sullivan, Alte Ruinen im Cañon de Chelle, New Mexico, in einer Felsnische, 15 Meter über dem heutigen Bett des Canyons, 1873. Albuminpapierkopie. In: „U.S. Geological Surveys West of the 100th Meridian, Photographs of the Western Territory of the United States“, Washington, D.C. 1874. The Museum of Modern Art, New York. Abb. in: Newhall 1998, S. 105.

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Umgebung das schmale Kletterseil, das die beiden Paare verbindet.75 Der Vergleich zur Aufnahme Gurskys zeigt deutlich die veränderte Beziehung zwischen Mensch und Natur. Ging es 1873 – verbunden mit den Strapazen und Unwägbarkeiten einer Expedition – um Natureroberung, so handelt es sich bei Gursky um ein touristisches Vergnügen. In der einige Jahre später entstandenen Arbeit ‚Albertville‘ (165 x 200 cm) von 1992 hat Gursky ähnlich wie in ‚Klausenpaß‘ den Blick auf die Bergwelt gerichtet. Der Betrachter schaut zunächst in die Senkung eines schneebedeckten Hangs, um dann an einem weißen Gebirge, das sich im Dunst des weiß-grauen Himmels verliert, emporgeleitet zu werden. Im Gegensatz zu ‚Klausenpaß‘ haben hier die Wintersportler und Touristen das Gebiet vollständig in Besitz genommen. Sie bahnen sich ihren Weg, bilden ornamental wirkende schwarze Schlangenlinien, um den Ort als Schauplatz für die Olympischen Winterspiele nutzen zu können. Eine schwarz-gelbe Anzeigentafel, fast im Zentrum der Aufnahme, bestätigt das vermutete Geschehen. Die schneeverhüllte Natur tritt hinter der Tafel, den Abfahrtsmarkierungen und den Menschen zurück: Sie bildet eine optisch reduzierte Kulisse für die graphisch wirkenden Spuren des sportlichen Events. Das Verhältnis zwischen Natur und Mensch hat sich von der erhabenen Qualität des Objektes zum subjektiven Vergnügen des Menschen verschoben. Die Fotografie ‚Dolomiten, Seilbahn‘ (104 x 128 cm) von 1987 zeigt ein zunächst unaufdringliches Wirken des Menschen in der Gebirgswelt. Der Betrachter schaut auf eine zum Teil mit Gras bewachsene Gebirgskette, deren Gipfel von Nebel umhüllt sind. Auch hier ist der Bildausschnitt so gewählt, dass trotz der Reihung der Landschaftserhebung nicht von einem Panorama gesprochen werden kann. Dies rührt vor allem von der sich in den Vordergrund drängenden Struktur des Gesteins und dem flächig wirkenden Grasbewuchs her. Form und Farbe bilden ein Gegengewicht zur opaken, sich gleichsam auf die Berge niederlassenden weiß-grauen Himmelszone. Im Zentrum des zu zwei Dritteln vernebelten Motivs leuchtet ein kleiner roter Punkt heraus, der sich, titelgemäß, als Seilbahn identifizieren lässt. Die Gondel scheint frei zu schweben, denn das schützende Stahlseil wird zum größten Teil vom Nebel verborgen. Das technische Eingreifen des

75 Vgl. zur geographischen Situation Newhall 1998, S. 98.

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Menschen scheint in diesem Fall der Naturlandschaft nichts Destruktives anzuhaben. Auch in dieser Aufnahme spielte der Zufall eine Rolle, da Gursky im Nebel intuitiv den Auslöser betätigte und genau in diesem Moment die Seilbahn für Sekunden aus dem Nichts auftauchte. Dieses Hervorschauen der Seilbahn hatte der Fotograf zufällig vom Auto aus entdeckt, woraufhin er mit schwerem Stativ über eine Wiese lief, um eine geeignete Position einnehmen zu können. Gursky erklärt selber, dass eine solche in diesem Fall geglückte Aufnahme normalerweise sehr viel Zeit benötige.76 Nur punktuell lassen sich auch die Urlauber in der Arbeit ‚Rías Bajas‘, 1988 (102 x 87 cm) identifizieren. Der Betrachter schaut über einen schräg ins Bild gesetzten, von Steinformationen unterbrochenen Strand im Vordergrund hinaus auf die Weite des Meeres. Das Wasser nimmt die Schräge auf, verliert sich jedoch am Horizont in dunstiger Atmosphäre. Nur wenige Personen baden im klaren, blauen Wasser oder bewegen sich am Strand. Der steilere Betrachtungswinkel führt in Verbindung mit der verklärten Himmelszone dazu, dass nur ein begrenzter Naturausschnitt sichtbar ist. Auch Stephen Shore setzte sich in ‚Merced River, Yesemite National Park, California‘ (August 13, 1979) mit Badeurlaubern fotografisch auseinander – ein Landschaftsmotiv, das auch schon Ansel Adams aufgenommen hatte.77 Der Betrachter schaut aus einer erhöhten Position auf eine im Tal gelegene Badestelle. Das Bildgefüge erschließt sich als Staffelung von unten nach oben bzw. von vorne nach hinten. Im Vordergrund ist der Ausschnitt des geschwungenen Merced River sichtbar, dessen Bahn im Hintergrund erneut aufgenommen wird. Die sandige Uferzone verschränkt sich mit den Formen des Wassers und zieht den Blick in den Bildmittelgrund. Eine Waldzone begradigt im Hintergrund die Szenerie, über dessen Wipfel im Dunst der Luft die Felswände emporsteigen. Ein Stück Himmel greift in das gezackte Band der Gebirgskette und schließt die Aufnahme ab. In der gewaltigen Landschaft wirken die vereinzelten Personen am Flussufer

76 Vgl. Gursky, Andreas in: Ben Lewis im Gespräch mit Andreas Gursky. Unveröffentlichtes Rohmaterial zum Film ‚Gursky World‘ 2002, Channel Four, (Rushes Roll 11) – zur wissenschaftlichen Verwendung bereitgestellt von der Galerie Sprüth Magers in Köln. 77 Vgl. Shore, Stephen in: Shore 2004, S. 180.

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sehr klein, fast verloren, und doch ist ihr Tun – eine Frau fotografiert ihren im Wasser stehenden Jungen, eine andere kümmert sich um ihr Kleinkind, eine weitere Frau kleidet ihr Kind am Felsen an, und ein Paar zeigt sich im Hintergrund – detailliert zur erkennen. Ähnlich wie bei Gursky nehmen die Menschen keine Notiz vom Fotografen und sind auch nicht das Motivzentrum der Aufnahme. Alle Bildelemente behaupten sich nebeneinander, bilden imaginäre Linien und wecken die Aufmerksamkeit des Betrachters gleichgewichtig. Anhand der Beschreibung wird die dokumentarisch-narrative und raumgreifende Komponente in der Aufnahme Shores deutlich. Gurskys Motiv hingegen wirkt durch die Verklärung des Horizonts und die Einengung der Landschaft örtlich begrenzt, fast banal und doch zugleich inhaltlich nach allen Seiten hin offen; seine Aussage ist universaler als die von Shore. Der in ‚Rías Bajas‘ distanzierte Blick auf eine fotografisch schräg komponierte Landschaft wechselt in ‚Mülheim an der Ruhr, Angler‘, 1989 (206 x 169 cm) zu einem annähernd vertikalen Landschaftsgefüge. Wir schauen von oben auf einen Fluss, der vom Wald gesäumt in den Bildhintergrund läuft. Der Fluss – abermals unterteilt in eine beleuchtete und eine verschattete Zone –, der Wald und der Himmel streben auf einen innerbildlichen Fluchtpunkt zu. Eine Brücke markiert diesen Punkt und versperrt in Verbindung mit der Flussbiegung die weitere Sicht. Die Perspektive auf die Landschaft ermöglicht dem Betrachter, das Abbild zu keilförmigen Farbzonen in Grün und Grau zu abstrahieren. Dabei verstärkt der Hell-Dunkel-Kontrast zwischen den Licht- und Schattenzonen das Moment der Formalisierung. Diese kompositorische Dominanz führt dazu, dass die Angler am rechten Flussufer erst auf den zweiten Blick wahrgenommen werden. Sie spiegeln ein idyllisches Freizeitvergnügen wider, das zugleich durch die versperrte Sicht konterkariert wird – ähnlich wie durch die naheliegende Vermutung des Betrachters, dass sich hinter der Flussbiegung in Angrenzung an den Wald ein Industriegebiet befindet. Nach dem distanzierten Blick auf keilförmig gestaffelte Landschaften werden nun die Fotografien mit ornamentalen Formeigenschaften untersucht. Die Aufnahme ‚Ratingen, Schwimmbad‘ (1987, 104,5 x 128 cm) eröffnet den Blick auf das polygonale Schwimmbecken selbst, auf eine dahinter von Bäumen begrenzte Wiese sowie auf einen Himmelstreifen als obere Bildbegrenzung. Dadurch ergibt sich zunächst eine

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horizontale Bildanlage, die durch die Aneinandergrenzung von Blau und Grün verstärkt wird. Den unteren Bildrand begrenzen – auf gefliestem Boden stehend – vier Sitzbänke, die in Auf- und Vorderansicht zu betrachten sind. Auch die Badegäste im Vordergrund sind trotz erhöhten Betrachterstandpunkts in ihrer Körperlichkeit gut zu erkennen. Bezeichnend für diese Aufnahme ist eine Verflächigung des Bildraums durch die Verzahnung der geometrischen Formen von Fliesenbereich, Schwimmbecken und Wiese sowie durch deren farbliche Dominanz von Beige, Blau und Grün. Die Formelemente werden an dieser Stelle als ausgeprägte ornamentale Formen bezeichnet, die das Bildgefüge dominieren und in die sich das ameisenhafte Treiben der Menschen eingliedert. Sinnvoll erscheint mir in diesem Zusammenhang der Vergleich mit den Bildbeispielen von Otto Pächt, welche die abstrakt-ornamentalen Gestaltungsprinzipien in der französischen Malerei des 15. Jahrhunderts offenlegen. So zeigt sich in den Kalenderlandschaften März und April der Brüder Limburg78 eine rautenförmige Bildeinteilung, wodurch ein optisch hervorgehobenes geometrisches Netz herausgebildet wird. Die Diagonale wird dabei zum wesentlichen Bildelement, denn sie ermöglicht in ihrer besonderen Beschaffenheit „den Blick zugleich einwärts in die Tiefe des Bildraums und aufwärts in der Bildfläche zu führen. Kann das ganze Bildfeld von einem System solcher Diagonalen durchfurcht werden, so ist zugleich der Bildraum und die Bildfläche organisiert.“79

Pächt beschreibt das Oszillieren zwischen räumlicher und flächiger Bildwahrnehmung. Ähnlich verhält es sich bei Gursky in der Aufnahme ‚Gelsenkirchen, Schwimmbad‘ von 1991 (167 x 200 cm). In diesem Fall hat der Fotograf zwei diagonal ausgerichtete und von Fliesen umsäumte polygonale Schwimmbecken ins Bild gesetzt. Ihre Formen nehmen fast zwei Drittel der Aufnahme ein und wirken aufgrund einer steileren Aufsicht planer als das Becken in ‚Ratingen, Schwimmbad‘. Der Blick wird über eine Begrenzung aus Büschen weiter in den Hin-

78 Brüder Limburg, Très Riches Heures du Duc de Berry: fol. 3 verso, Kalenderlandschaft März; fol. 4 verso, Kalenderlandschaft April, 13,5 x 15,5 cm. Chantilly, Musée Condé. Abb. in: Pächt 1986 (1933), S. 50. 79 Pächt 1986 (1933), S. 50f.

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tergrund zu einer mit einzelnen Bäumen durchsetzten Wiesenanlage geleitet. Obwohl eine die Fläche hervorhebende ausgeprägte Farbigkeit in dieser Aufnahme fehlt, haben die ornamentalen Formen eine dem perspektivischen Raum entgegengesetzte plane Wirkung. Was in dieser Kategorie durch die Wahrnehmungsdistanz – genauer: durch Erhöhung der Blickperspektive – für einen kontrollierenden Zugriff auf ein bestimmtes Geschehen sorgt, wird in der Bildgruppe ‚Panoramablick‘ noch erweitert: Die Kameraperspektive scheint ganze Landstriche und die Begebenheiten darin umgreifend bannen zu wollen – eine Sichtweise, die im Rahmen dieser Arbeit als ‚Feldherrenblick‘ bezeichnet wird. ‚Turmperspektive‘ und ‚Panorama‘ sind damit lediglich graduell und nicht kategorisch verschieden; die formalen und inhaltlichen Merkmale werden daher gemeinsam im Anschluss an das folgende Kapitel erörtert.

1.1.5 Panorama Zum Panorama wird die Schneelandschaft in ‚Engadin‘, 1995 (166 x 256 cm). Im Vordergrund erstreckt sich eine weiße Schnee-Ebene, daran angrenzend das lang gestreckte und aufragende Gebirge, überspannt von einem tiefblauen Himmel. Über die Schneefläche hinweg zieht sich eine scheinbar nicht endende Reihe schwarzer Punkte, die sich als Ski-Langläufer identifizieren lassen. Die optisch geknickte Spur bildet eine Spitze, die formal-kompositorisch ihre Entsprechung im höchsten Gipfel des Bildes findet. Gezügelt und harmonisch zeigt sich hier der Wintersportler, regelrecht in seine Schranken verwiesen. Das Querformat und die Linie der Langläufer tragen dazu bei, dass die weiße Fläche im Vordergrund als weitläufig angesehen wird und nicht wie in ‚Albertville‘ oder ‚Klausenpaß‘ eine optische Begrenzung erfährt. Diese Linie erhält gleichsam kommandierende Funktion für die Erschließung des Bildes: Sie ist „[...] eine Kraft, die ähnlich wie alle elementaren Kräfte tätig ist; [...]. Die Kraft und diese Energie wirken auf den Mechanismus des Auges in der Weise, daß

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sie ihm – dem Auge – Richtungen aufzwingen. Diese Richtungen ergänzen sich, verschmelzen miteinander und bilden schließlich bestimmte Formen.“80

Dass diese Linie aus Punkten zusammengesetzt ist, aus SkiLangläufern, die alle gleichsam ferngesteuert einer Richtung zustreben, lässt die Menschen mehr ameisenhaft als menschlich erscheinen. Die Fotografie ‚Neujahrsschwimmer‘ (130 x 155 cm) von 1988 gibt den Blick frei auf ein Ufer, das in den linken Bildvordergrund hineinragt. Ein Fluss grenzt sich an, über den hinweg die Sicht zum Horizont verläuft. Dort erschließt sich dem Betrachter das Stadtpanorama, doch erzeugt nicht das Bildsujet die Aufmerksamkeit, sondern die Ansammlung von einigen Personen auf der Landzunge und im Fluss selbst. Der weiß-graue Himmel spiegelt sich im Wasser und lässt eine kühle Atmosphäre entstehen. Die Aufnahme zeigt, aufgrund des Titels, zunächst ein vermeintlich leicht zu deutendes Sujet: den Düsseldorfer Brauch des Neujahrsschwimmens. Trotz dieser verifizierbaren Korrespondenz von Titel und Bildinhalt ist Gursky daran gelegen, in den Bildereignissen multiple Auslegungsmöglichkeiten zu bewahren. So kann das auf dem Bild sichtbare Geschehen auch als die Tätigkeit von Polizeikräften bei der Spuren- oder Leichensuche oder bei einer Rettungsaktion gelesen werden, beobachtet von Schaulustigen am Ufer. Gursky selbst hält auch eine Deutung als Taufe im Rhein für denkbar. Wichtig für ihn sei nicht, welches Ereignis, sondern vielmehr, dass ein Ereignis stattgefunden hat.81 Das Panorama einer am Fluss gelegenen Stadt ist nicht nur aus der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts bekannt. Auch in der Fotografie entwickelte sich Mitte des 19. Jahrhunderts neben der Portraitfotografie ein ausgeprägtes Interesse an diesem Bildsujet. Die Schwarz-Weiß-Aufnahme ‚Cincinnati‘82 von Charles Fontayne & William Southgate Porter aus dem Jahr 1848 zeigt eine nahezu rein horizontal gegliederte Bildkomposition. Der Blick gleitet über den Fluss ans Ufer, an dem drei Dampfschiffe vertäut liegen. Das Panorama der Stadt schließt sich an, mit baldachinüberdachten Fensterzonen im Erd-

80 Henry van de Velde. Zit. n. Brüderlin 2001, S. 91 81 Vgl. Gursky, Andreas in: Bürgi 1992a, S. 5. 82 Charles Fontayne & William Southgate Porter, Cincinnati, 1848. Daguerreotypie. Public Library of Cincinnati and Hamilton County, Cincinnati. Abb. in: Newhall 1998, S. 41.

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geschoss. Unscharf im diesigen Licht überragt eine Grünzone die Stadt-Silhouette; ein heller Himmel schließt die Komposition ab. Für die Bildrealisierung benötigten die beiden Fotografen acht „Ganzplatten“, um das Panorama am Fluss über drei Meilen hinweg festzuhalten. Durch das Aneinanderfügen der Daguerreotypien entstand ein detailgenaues Bild von über 1,50 m Länge.83 Ein Panorama eröffnet sich dem Betrachter auch in Gurskys ‚Salerno‘, 1990 (165 x 200 cm). Der Blick wird entlang einer Hafenbucht in den Hintergrund zu einer Gebirgslandschaft geführt. Den Vordergrund dominieren endlose Reihen von unterschiedlichen Autos, die auf einem Lager- oder Umschlagplatz geparkt sind. Das enge Beieinander der Autos lässt diese zu einem formalisierten Muster von Formen und Farben werden. Weiße und rote Farbfelder dominieren das Spektrum. Im Mittelgrund der Fotografie wird die Formalisierung durch zahlreiche abgestellte Container gesteigert. Kuben in Gelb, Rot und Blau lagern zur Verschiffung bereit. Der Blick wandert weiter über den ursprünglichen Hafen und stößt auf ein Meer von Häuserblöcken, das sich tief in die Berge hineinzieht. Die Stadt verschwindet im unscharfen, diffusen Hintergrund, während die Farben des modernen Frachthafens deutlich ins Auge fallen. Kein Mensch ist in dieser Aufnahme zu sehen. Allerdings hat er seine gewaltigen architektonischen und technischen Spuren hinterlassen, welche die Naturlandschaft verdrängen. Gursky dokumentiert nicht nur einen ganz bestimmten Ort, sondern weist über ihn hinaus, indem er – durch die Darstellung des alten und des neuen Hafens in einem Bild – mehrere Zeitschichten verschränkt. Das Ornamentale findet sich in ausgeprägter Form in der Panoramaaufnahme ‚Singapore I‘ von 1997 (186 x 278 cm): Abgebildet ist eine künstlich angelegte mehrkantige Insel, die wuchtig und ausgedehnt im Singapur River liegt. Sowohl im Vordergrund als auch im Hintergrund formieren sich auf dem Wasser zahlreiche Schiffe. Gursky dürfte ein Weitwinkel-Objektiv verwendet haben, da Land und Wasserzone konvex erscheinen. Die leichte Wölbung, der verklärte Horizont und die hell-graue Himmelzone charakterisieren das Panorama. Die Intention Gurskys, eine Weltgegend zu erkunden und den Menschen als klein, fast verschwindend auf dieser Welt zu verorten, kommt in ‚Singapore I‘ prägnant zur Geltung.

83 Vgl. Newhall 1998, S. 36.

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In den Bildgruppen ‚Turmperspektive‘ und ‚Panorama‘ findet ein Wechsel zum erhöhten Standpunkt statt. Der distanzierte Blick fällt entweder auf einen Landschaftsausschnitt oder auf das Panorama eines Gebiets. In den meisten Aufnahmen wirken die abgebildeten Personen oder Dinge sehr klein und bilden lediglich Spurenelemente in der Landschaft. Die zufällig entdeckte Verbindung zwischen Mensch und Natur in der Aufnahme ‚Klausenpaß‘ ist für diese Bildreihe thematische Initiation gewesen. Das Interesse richtet sich auf das Verhalten und Agieren der Menschen in ihrem kultivierten Lebensumfeld. Julian Heynen spricht in diesem Zusammenhang von einer Bühne, auf der eine fast alltägliche Handlung beobachtet wird. Charakteristisch für die fotografierte Freizeitbeschäftigung ist, dass die Darsteller unbewusst auftreten und den Fotografen nicht wahrnehmen. Bei längerer Auseinandersetzung werden einige dieser Szenerien jedoch rätselhaft. Der Betrachter ist versucht, dem Geschehen bzw. dem Verhalten der Personen eine tieferliegende Bedeutung abzugewinnen, um die Aufnahme gleichsam zu rechtfertigen. Doch eine Erklärung bleibt häufig aus.84 Rupert Pfab zieht in diesem Zusammenhang den ‚Suspense-Effekt‘ heran, da das Verhalten der Personen und die Handlung in der Aufnahme im Unklaren bleiben.85 Auch Lewis Biggs konstatiert, dass die Aufnahmen eine Art Geheimnis in sich bergen, die den Betrachter mit der Zusicherung locken, mehr über die bildliche Situation zu erfahren. Das nicht genau zu identifizierende Verhalten der Personen, von Drahtseilen durchzogene Landschaften und von Gras durchwachsener Beton leiten die spannungstiftende Bildsituation ein. Doch werden die verheißenen Geheimnisse nicht gelüftet, der Betrachter erkennt keine unmittelbar klärende Erzählstruktur.86 Der distanzierte und erhöhte Blick trägt laut Bernhard Bürgi dazu bei, einen Überblick zu schaffen, damit die narrative Struktur und die Bedeutung der Aufnahme vom Betrachter frei erschlossen werden können. Die Weite des Standpunktes führt – wie erwähnt – auch dazu, dass sich in einigen Aufnahmen der Mensch in der Ausdehnung der

84 Vgl. Heynen, Julian: Weltgegenden. In: ders.: Andreas Gursky. Ausst.Kat. Museum Haus Lange, Krefeld 1989, o.S. 85 Vgl. Pfab 2001, S. 67. 86 Vgl. Biggs, Lewis: Schöne Neue Welt. In: Bradley 1995, S. 58-64, hier S. 58.

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Landschaft verliert und zu einem bloßen Strukturmoment seines Umfelds wird.87 Gursky erklärt dazu: „Aus der Sicht eines außerplanetarischen Wesens habe ich die Spezie [sic!] Mensch unter freiem Himmel beobachtet. Um zu verdeutlichen, daß mein Interesse der Gattung und nicht dem Individuum Mensch galt, habe ich die Menschen zu winzigen Figuren abstrahiert.“88

Es ist also die erhöhte Fernsicht bzw. die distanzierte Position des Betrachters als Prinzip der Bildherstellung, welche die kontingenten – also individuellen und konkreten – Merkmale des Menschen verschwinden lässt. Lediglich die abstrakten – die konstitutiven gattungsbildenden – Merkmale bleiben erhalten. Verlässt man die ‚außerplanetarische‘ Perspektive, wird in diesen Bildern Gurskys das Prinzip des Feldherrenblicks wirksam. Die Sicht fällt einerseits – wie Rudolf Schmitz beschreibt – immer auf ein Szenarium, das eine Menschenmenge aus Gründen der Faszination, der Anteilnahme oder der Ergriffenheit zusammenbringt. Andererseits leitet der distanzierte Blick vom Geschehen weg, und das Panorama wird in der gesamten Ausdehnung wahrgenommen. Das Gefühl „menschheitsgeschichtlicher Entdeckungsfahrten“ stellt sich ein, die Erfüllung in der Selbstherstellung und im Aufsuchen „heiterer Utopien“.89 Während Gursky zuvor Menschen abbildet, die dieses Bedürfnis auf heimische Regionen beziehen (siehe ‚Düsseldorf Flughafen, Sonntagsspaziergänger‘), sind nun die Sehnsuchtsregionen zunehmend in extreme Landschaften verlagert (‚Klausenpaß‘) und an Orte, die mit ihrem Event-Charakter eigens als ‚heitere Utopien‘ geschaffen sind (‚Albertville‘). Die Ausweitung seiner fotografischen Perspektive zum Feldherrenblick ist gleichbedeutend mit der Ausweitung des fotografischen Wirkungskreises. Gursky verlässt endgültig sein angestammtes Lebensumfeld als Motivquelle. In den Fotografien mit erhöhtem Standpunkt wird ‚Abstraktion‘ im ursprünglichen Sinne des Begriffs realisiert: durch die Trennung von Kontingentem und Konstitutivem im Bildinhalt. Gleichzeitig erzeugt

87 Vgl. Bürgi 1992a, S. 5f, S. 10. 88 Gursky, Andreas in: Bürgi 1992a, S. 10f. 89 Vgl. Schmitz 1994, S. 7f.

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der distanzierende Blick formal-abstrahierende Momente des Visuellen, exponiert übergeordnete Farben und Formen, welche die essentiellen Inhalte zurücktreten lassen. Obwohl Gegenständliches abgebildet ist, wird Ungegenständliches wahrnehmbar: In ‚Mühlheim an der Ruhr, Angler‘ bilden Wald und Wasser die Struktur von keilförmigen Farbflächen; in ‚Klausenpaß‘ werden die Personen, Schneefelder und Erdzonen der Form des Bergmassivs subsumiert. In den Aufnahmen der Schwimmbäder wiederum zeigt sich deutlich die ornamental angelegte Form als überfigurales Element, in die sich das Geschehen einbettet. Der erhöhte Blick transformiert Landschaft und Stadt – letztere wird durch die Panoramasicht vom Betrachter ebenfalls als ‚Landschaft‘ begriffen – zu einem komponierten Ordnungssystem. Es entsteht ein Bewusstsein für diese Struktur, für eine Ästhetik der Oberfläche. Der landschaftlichen Situation wird auf narrativer und formbeschreibender Ebene ein abstraktes bzw. abstrahierendes Konstrukt auferlegt.

1.1.6 Vogelperspektive Zur Vogelperspektive zähle ich jene Arbeiten Gurskys, die einen nahezu vertikalen Blick auf eine Szenerie vermitteln. Diese Sichtweise kündigt sich bereits in einer sehr frühen Arbeit von 1985 an. Im Vergleich zu anderen Fotografien dieser Zeit bedingt der erhöhte Blickpunkt in ‚Düsseldorf, Rhein‘ 1985 (36 x 29 cm) eine neue Form der Bildkomposition, da der Horizont aus der Aufnahme verbannt wurde. Das Motiv kippt in die Fläche. Lediglich ein keilförmiger Ausschnitt des Rheins und die in eine Rasen- und Gesteinsfläche unterteilte Uferzone sind sichtbar. Der Betrachter nimmt drei sich verjüngende Farbbahnen in Grün, Beige und Grau wahr. Auf den Grasflächen liegen gruppiert und vereinzelt einige ‚Sonnenanbeter‘. Dabei konterkariert die trostlose Umgebung das Bedürfnis der Personen nach Genuss und Entspannung: Das Wasser ist trüb und steinig, das Ufer völlig unbelebt. Die Urlauber und Erholungsuchenden wirken isoliert, fast verloren. In der Arbeit ‚Kairo, Diptychon‘ (je 129,5 x 154,5 cm) von 1992 wird der Betrachterstandpunkt noch weiter erhöht, so dass der Blick senkrecht auf die Bildsituation fällt. Die Aufnahmen können als paradigmatische Bilder für den fortschreitenden Abstrahierungsprozess bei

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Gursky gelten. Man blickt auf einen Kreisverkehr in Kairo: Autos, Busse und zahllose Menschen winden sich aus der einen Richtung um eine Verkehrsinsel, um in eine andere Richtung weitergeleitet zu werden. Die beiden zusammengehörigen Bilder zeigen denselben Ort zu unterschiedlichen Zeiten und können als Einzelbilder einer Filmsequenz betrachtet werden. Zugleich bewirkt die Entfernung des Aufnahmestandpunktes zum Bildgeschehen eine Hinführung zu kompositorisch angeordneten Formen und Flächen, wie sie aus der suprematistischen Malerei bekannt sind. Bei genauerer Betrachtung löst sich die Ordnung der Komposition in chaotische Zustände auf: Die Autos behindern sich gegenseitig, und ein Verkehrsfluss ist kaum auszumachen. Irritationen entstehen, weil die beiden Verkehrssituationen in ihrer Abfolge nicht logisch nachvollziehbar sind. Einige Autos finden sich in beiden Aufnahmen am selben Standort wieder, während an unterschiedlichen Stellen ganz neue Konstellationen entstanden sind. Mit ‚Kairo‘ erschließt sich dem Betrachter eine neue Form abstrahierender Momente. Der Horizont wird vom Künstler wie in ‚Düsseldorf, Rhein‘ gänzlich eliminiert, so dass weder die Weite einer Landschaft noch die horizontale Einteilung für die Komposition maßgeblich sind. Der Blick von oben fasziniert, da die gewohnte Sichtweise irritiert und der Formenreichtum erweitert wird. Während die horizontale Bildeinteilung zu einer imaginären Fortführung des Motivs zu den Seiten hin animiert, bewirkt die steile Aufsicht eine Ergänzung des Ausschnittes zusätzlich nach oben und unten. Flächen und Farben arrangieren sich zu einem dehnbaren Muster. Wie sich der erhöhte Betrachterstandpunkt auf den Abstrahierungsgrad eines Bildes auswirkt, zeigt auch die Fotografie ‚Teneriffa, Schwimmbad‘ (1987) im Vergleich zur Aufnahme ‚Ratingen, Schwimmbad‘. Die Badegäste werden nur noch punktuell und überindividuell, als unspezifische Vertreter der Gattung Mensch wie die Skiläufer in ‚Engadin‘, wahrgenommen. Die Vogelperspektive bewirkt wie im Diptychon ‚Kairo‘ eine geometrisierende Anordnung von Farben und Formen. Liegestühle in Gelb, Rot, Grün und Blau formieren sich um das auch hier ornamental wirkende Wasserbecken. Dieses ornamental-abstrahierende Moment wird in der Aufnahme jedoch nicht endgültig realisiert, da die das Schwimmbecken umgebende Steilklippe und das herantosende Meer in der Darstellungsstruktur naturalistischer wirken als die Formelemente der Badeanstalt.

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Ornamentalen Charakter besitzt die Arbeit von 1994, die Gursky in Hongkong fotografiert hat. ‚Hongkong, Grand Hyatt Park‘ (210 x 175 cm) richtet von distanzierter, hoher Position die Sicht auf eine künstlich angelegte Parkanlage. Ein Rundweg führt an organisch geformten Wiesenstücken vorbei, von denen das größte im Zentrum einen von Pflanzen eingefassten Teichlauf besitzt. Weg, Wiese, botanischer Bestand und Teich wirken zueinander wie konzentrisch ineinander liegende, aber deformierte Kreise. Diese ornamentale Form ‚pflanzt‘ sich fort und umgreift die einzelnen Bildelemente. Die Künstlichkeit der Anlage wird durch gruppierte Baumkübel verstärkt, die den Weg beleben sollen. Eine vermeintliche Belebung rufen auch einige Personen hervor, die den Rundweg für Chigong-Übungen nutzen. Ihre bizarr wirkenden Arm- und Beinhaltungen verstärken jedoch den denaturierten Gesamteindruck der Szene. Über den Park hinweg gleitet der Blick schließlich in das von Schiffen besetzte Hafengewässer, das jedoch nur ein Drittel der Aufnahme ausmacht. Das Ansinnen, die Erde fotografisch aus der Luft abzubilden, verfolgte Nadar bereits 1858, als ihm aus einem Fesselballon die erste Luftaufnahme von Paris gelang. Leider blieben nur die Aufnahmen des etwas späteren zweiten Ballonaufstiegs erhalten.90 Das Bild ‚Der Arc de Triomphe und die Grand Boulevards in Paris vom Ballon aus‘91 von 1868 erscheint in Bildausschnitt und Schärfe eher als Zufallsprodukt und zeugt von einem situativen, ganz von der unkontrollierten Fahrtrichtung des Ballons abhängigen Experiment. Im Gegensatz dazu präsentieren z.B. Emile Zolas Ansichten von Paris, um 1900 vom Eiffelturm aus, einen exakten fotografischen Blick mit einem bewusst ausgewählten Bildausschnitt.92

90 Vgl. Newhall 1998, S. 106. 91 Nadar, Der Arc de Triomphe und die Grands Boulevards in Paris vom Ballon aus, 1868. Gelatine-Silberdruck nach dem Originalnegativ in der Caisse Nationale des Monuments Historique, Paris. Abb. in: Newhall 1998, S. 110. 92 Vgl. Newhall 1998, S. 140.

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Zolas Fotografie ‚Der Eiffelturm, Paris‘93 von 1900 zeigt von einem erhöhten Standpunkt – eben vom Eiffelturm – das darunter liegende Trottoir. Zola integriert am oberen Bildrand seiner Aufnahme einen Ausschnitt der Stahlkonstruktion des Turmes und definiert auf diese Weise seinen Standpunkt. Der Blick des Betrachters wird vom Eiffelturm heraus auf das Restaurant, das Gewässer, die Wegzweigung und die Spaziergänger gelenkt. Während die Fassade des Gebäudes gut zu erkennen ist, erscheinen die Tische und Besucher des Cafés nur punktförmig. Das aus der Höhe betrachtete Trottoir bildet Flächen aus, die wohlgeordnete und geometrisch anmutende Spuren hinterlassen. Aufnahmen aus der Luft sind in dieser Anfangszeit eng mit der militärischen Übermittlung von kartographischen Informationen verbunden. Wurde während des amerikanischen Bürgerkriegs noch ein Lufttelegraph mit einem Ballon verbunden, so waren es später Kameras an Ballons, Drachen und schließlich an Militärflugzeugen, wovon zahlreiche Aufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg zeugen.94 „Seit 1914 ist die Luftfahrt eigentlich kein Mittel mehr zum Fliegen, zur Aufstellung von Rekorden [...], sie wird zu einer Sehweise oder vielmehr zum eigentlichen Mittel des Sehens überhaupt. Im Gegensatz zur allgemeinen Annahme steht am Anfang der Militärfliegerei die Luftaufklärung [...].“95

Eine Fotografie von Laszlo Moholy-Nagy um 1928 steigert noch die von Zola eingenommene Perspektive. ‚Funkturm Berlin‘96 führt den Blick von oben herab, an der Senkrechten des Funkturmes entlang, auf die flächig anmutenden Formen des Geländes. Das Stahlgerüst erscheint wie ein Keil, der vom linken Bildrand her in die Komposition auf eine quadratische Fläche stößt. Im oberen Bildbereich dominiert eine aus mehreren Ringen bestehende Kreisform, die sich kaum identi-

93 Emile Zola, Der Eiffelturm, Paris, 1900. Gelatine-Silberdruck. Slg. Dr. Francois Emile Zola, Gif-sur-Yvette, Frankreich. Abb. in: Newhall 1998, S. 140. 94 Vgl. Virilio, Paul: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. Frankfurt am Main 1989, S. 19. Franz. Originalausgabe: Guerre et cinema I. Logistique de la perception. Paris 1984. 95 Ebd., S. 30. 96 Laszlo Moholy-Nagy, Funkturm Berlin, 1928. Gelatine-Silberdruck. Art Institute Chicago, Chicago. Abb. in: Newhall 1998, S. 204.

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fizieren lässt. Die Hauptelemente sind umgeben von kleinen Sternformen und runden Formen, die bei näherer Betrachtung als Tische mit Stühlen und Sonnenschirmen zu erkennen sind. Ein sich auf diese Aufnahme beziehender Kommentar von Moholy-Nagy lässt die Vermutung zu, dass es ihm in seinen Fotogrammen der 20er-Jahre nicht nur um die Erscheinungsformen des Lichts, sondern auch um Abstrahierungsphänomene ging: „Die zurückweichenden und vorstoßenden Tonwerte von Schwarz und Weiß, der Grautöne und der Strukturen erinnern hier an ein Photogramm.“97 Der Titel ‚Funkturm Berlin‘ trägt zur Identifizierung der fotografischen Situation bei, doch tritt die abbildende Funktion zugunsten der Formen und Hell-Dunkel-Kontraste in den Hintergrund. Ein wesentlicher Unterschied zum Fotogramm liegt jedoch darin, dass in ‚Funkturm Berlin‘ abstrakte Formationen in der Lebenswelt vorgefunden wurden. Fotogramme hingegen zeigen einen artifiziellen Zusammenschluss von Formen, die auf einer Vielzahl von Requisiten beruhen. In einem Brief von 1928 an den Literaturkritiker Boris A. Kuschner (1888-1937) äußert sich A.M. Rodtschenko zur Frage der Perspektive in der Fotografie. Für Rodtschenko bedeutet der fotografische Blick „von oben nach unten oder von unten nach oben“98 eine Emanzipierung der Fotografie von der Malerei, da letztere die Ausdrucksmöglichkeiten extremer Blickwinkel und Perspektiven nicht genutzt habe. Das Überlagern der Fotografie mit Zeugnissen der Kunstgeschichte solle ein Ende haben. In der Malerei sei der Horizont lediglich höher angesetzt worden, um die Anzahl der Figuren und Elemente anzuheben, doch sei dabei weiterhin alles auf Augenhöhe dargestellt worden und nicht aus einer Vogelperspektive heraus.99 Nach Rodtschenko haben diejenigen Perspektiven in der Fotografie, die nicht aus Nabelhöhe entstanden sind, dazu beigetragen, die Entwicklung des modernen städtischen Lebens zu veranschaulichen. Die visuelle Wirkung von Hochhäusern, Fabrikgebäuden, Schaufenstern und Reklameflächen aus Autos und Bahnen heraus oder im Blick

97 Moholy-Nagy, Laszlo: Zitiert nach Newhall 1998, S. 204. 98 Rodtschenko, Alexander Michailowitsch: Die Wege der modernen Fotografie, (28. August 1928 – Veröffentlicht in der Zeitschrift „Nowy LEF“, Nr. 9/1928). In: A.M. Rodtschenko. Aufsätze, Autobiographische Notizen, Briefe, Erinnerungen. Dresden 1993, S. 153-159, hier S. 153. 99 Vgl. ebd., S. 153f.

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von oberen Stockwerken herunter konnte in Form eines Bildes reflektiert werden. Ein Bauwerk war nur dann in seiner Konstruktion wahrhaftig zu erkennen, wenn es nicht von einem mittleren Standpunkt aus betrachtet wurde. Rigoros wandte sich Rodtschenko gegen die frontale Sicht. Vielmehr sei die Reflexion wichtig, da der Mensch in der Betrachtung extremer Positionen dazu neige, die Situation zu überführen und somit zu begradigen, um seine gewohnte Sicht aus der Höhe des Nabels zu erhalten.100 Genau dies aber sei zu vermeiden: „Wir sehen nicht, was wir wahrnehmen. Wir sehen nicht die wunderbaren Perspektiven und Stellungen der Objekte. Wir, die wir gewöhnt sind, das Gewöhnliche und Anerzogene zu sehen, müssen die Welt des Sichtbaren enthüllen. Wir müssen unsere visuelle Denkweise revolutionieren. Wir müssen den Schleier von den Augen reißen, der ‚vom Nabel aus‘ genannt wird.“101

Das städtische Leben hatte auch Moholy-Nagy in seiner Filmskizze ‚Dynamik der Groß-Stadt‘ von 1921/22 im Blick: einen aus graphischen Elementen, Buchstaben und fotografischen Ausschnitten collagierten Entwurf, der kartographisch Richtungen und Geschwindigkeiten einer Großstadt sichtbar macht. Ein Verkehrsmittelpunkt wird beschrieben: „Die Fahrzeuge: elektrische Straßenbahnen, Autos, Lastwagen, Fahrräder [...] fahren in raschem Tempo vom Mittelpunkt auswärts, dann plötzlich alle umgekehrt; in der Mitte treffen sie sich. Die Mitte öffnet sich, ALLES sinkt tief, tief, tief – ein Funkturm.“102

In einem Beitrag von Rudolf Arnheim, den Wolfgang Kemp mit ‚Flächenbilder (1932)‘103 betitelt hat, wird u.a. der visuelle Anspruch erläutert, den die Betrachtung von Fotografien mit extremen Auf- oder

100 Vgl. ebd., S. 155. 101 Ebd., S. 158. 102 Moholy-Nagy, László: Dynamik der Groß-Stadt (1921/22). Als Typophoto ausgestaltete Skizze zu einem Film. In: Moholy-Nagy, László: Malerei, Photographie, Film. München 1925, S. 114-129. 103 Arnheim, Rudolf: Flächenbilder (1932). In: Kemp 1999, S. 164-168. Erstdruck des Textes in: Arnheim, Rudolf: Film als Kunst (1932). Berlin 1932. Quelle für Wolfgang Kemp: Ausgabe München 1974, S. 63-69.

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Untersichten erfordert. Arnheim widmet sich damit der Rezeption jener formalen Aufnahmeperspektiven, die sich in den Medien Fotografie und Film bereits etabliert hatten. Gegenüber der alltäglichen Wahrnehmung von Dingen ermöglichten die ungewohnten Perspektiven neuartige Wahrnehmungserkenntnisse und ein neues Verständnis von eigentlich bekannten Gegenständen. Arnheim verweist auf die Eigenschaft der Fotografie, Gegenstände oder Körper aufgrund der Übertragung von der Drei- in die Zweidimensionalität als „Flächenbilder“ darzustellen.104 Der Fotograf nutze diesen Umstand, um Folgendes zu bewirken: „[...] Von der beunruhigenden Ungewohnheit des Augenblicks aufgestachelt, sieht der Zuschauer näher zu und bemerkt: a) wie die neuartige Perspektive die Einzelformen des Gegenstandes zu reizvollen Überschneidungen, die man an ihm noch nicht kannte, übereinanderschiebt, b) wie der in die Fläche projizierte Körper nun als Flächenbild in seinen Umrissen, Linien, Schwarzweißflächen eine gute Rahmenfüllung abgibt – ein gutes, harmonisches Muster sozusagen. Daß er sich zu solch einem Muster verwenden läßt, obwohl er nicht im geringsten stilisiert, verändert, verzerrt, vergewaltigt, sondern einfach er selbst ist, allerdings in klug ausgewählter Einstellung, das führt einen besonderen künstlerischen Effekt herbei. [...]“105

Die hier beschriebenen Momente der Wahrnehmung lassen sich auf das Diptychon ‚Kairo‘ von Gursky übertragen. Die durch die Vogelperspektive forcierte Aufmerksamkeit des Betrachters wird durch das Wechselspiel der beiden Aufnahmen noch verstärkt, „durch die Besonderheit der Einstellung treibt der Fotograf ‚Blickfang‘, wie die Reklameleute sagen“106. Gursky bedient sich also einer bereits erprobten

104 Vgl. Kemp, Wolfgang: Kommentar zu Rudolf Arnheim, Flächenbilder (1932). In: Kemp 1999, S. 162f. 105 Arnheim 1999 (1932), S. 165. 106 Ebd., S. 166. Arnheim erläutert die Wirkung der Vogelperspektive anhand eines Pressefotos, das einen schreitenden Mann von oben zeigt. Die Aufnahme sei „[...] eine geistreiche Variation über das Thema ‚schreitender Mensch‘“, denn sein Körper „[...] ist zu einem Flächenbild geworden, und dies Flächenbild drängt sich, da es so ungewöhnlich ist, stark auf: Wir bemerken die fast seesternförmige Figur, deren Schwärze mit dem Schatten auf dem Boden zusammenfließt; es ist eine Art Kreuz: das linke

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fotografischen Methode, die für den Betrachter auch nach sechzig Jahren noch immer faszinierend ist. Das Motiv des Kreisverkehrs in ‚Kairo, Diptychon‘ hat sich der Bildfläche als ornamenthaftes, da in der Tendenz additives und rhythmisiertes, Muster eingeschrieben. Das Chaos scheint stillgestellt und in eine verborgene Ordnung verwandelt; das städtische Treiben überfordert nicht, sondern kann detailliert von oben beobachtet werden. Gursky nimmt hier die für die Fotografen der 30er-Jahre ungewohnte Perspektive ein und variiert das Distanzmoment durch den Ausschluss einer dreidimensionalen Wahrnehmung: dadurch dass er eine Markierung des Kamerastandpunkts – z.B. durch eine architektonische Beifügung – ausspart. Diese Aufsicht blendet bewusst das Charakteristische und Individuelle der Menschen aus, jene Merkmale, die der Fotograf im Grunde voraussetzt. Das Interesse wird in ‚Kairo, Diptychon‘ vielmehr auf überindividuelle Bedeutungszusammenhänge gerichtet, deren Reflexion gefordert wird. Fehlende Straßenpflasterung, rudimentäre Verkehrsinseln, (dys-)funktionale Verkehrsmittel und zu Umschlagsplätzen hergerichtete Baracken prägen das Bild – ungewohnt und irritierend für den ordnungsorientierten Europäer, der klar geplante Verkehrssysteme gewohnt ist. Gezeigt wird eine chaotische Ansammlung von Menschen, die jede europäische Verkehrssituation zum endgültigen Erliegen brächte. Zugleich wird die Gelassenheit der nordafrikanischen Mentalität deutlich, die sich mit dem Chaos als Normalität offensichtlich arrangiert, spontan in das System eingreift und es so am Leben erhält. Ein solches Bild wäre folglich in Europa nicht möglich gewesen. Gursky exponiert einerseits die formalen Reduktionen und ornamenthaften Strukturen im Motiv, andererseits interessieren ihn gesellschaftliche Parameter: das mentalitätsgeschichtlich kulturvariante Verhalten des Menschen in seiner angestammten Umgebung. Das zentrale Merkmal der ‚Vogelperspektive‘ ist die Eliminierung des Horizonts und damit die Hinwendung zur zweidimensionalen Bildwahrnehmung. Während die raumumgreifende und raumdurchmessen-

Bein und der Stiefel des rechten Beins liegen in einer Linie, die im Bildrahmen etwa eine Diagonale darstellt, denn sie führt etwa von rechts oben nach links unten. Die beiden Arme wiederum geben eine S-Form, deren Hauptausdehnung rechtwinklig zu der Richtung der Beine liegt. Etwa im Mittelpunkt dieses Kreuzes liegt der runde Hut.“ Ebd., S. 167.

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de Perspektive in früheren Bildern dem Betrachter eine horizontal überblickende, verortende und kontrollierende Position zuwies, verengt sich nun der Blickwinkel vertikal ausschnitthaft. Diese Verengung/Vertikalisierung des Blicks bewirkt die Verflächigung und Abstrahierung von Bildelementen, die sich einerseits, wie in ‚Hongkong, Grand Hyatt Park‘, in überfiguralen − also ornamentalen − Strukturen äußert, andererseits in ‚Kairo, Diptychon‘ durch Addition und Rhythmisierung einzelner Motivelemente ornamenthafte Strukturen hervortreten lässt. So geringfügig und verletzlich die Menschen im Naturraum auch wirken, wie in ‚Klausenpaß‘ oder ‚Engadin‘, verfügen sie zumindest über die Potenz, diesen Raum zu überwinden, indem sie ihn, als Bergwanderer oder Skiläufer, durchschreiten. In ‚Kairo‘ und ‚Teneriffa, Schwimmbad‘ sind die abgebildeten Menschen nicht mehr Menschen im Raum, sondern Menschen in der Fläche; sie können keine Räume überwinden, weil ein, im übertragenen Sinne, zu überwindender Raum gar nicht existiert – weder in der überbevölkerten 15-Millionen-Metropole Kairo noch im betonierten, gegen den Naturraum wie eine Bastion abgegrenzten Schwimmbad-Bereich. Diese Raumlosigkeit nimmt den Menschen ihr Existenzial des „Im-Raum-Seins“ und damit die menschliche Eigenart, Raum zu bevölkern, zu gestalten, sich tätig Raum zu schaffen, um darin zu leben.

1.1.7 Surreale Welten Einige wenige – Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre entstandene – Arbeiten Gurskys sind von imaginärem, fast surrealem Bildcharakter. Sie zeigen naturgewaltige Landschaftsszenerien, in die der Mensch problemlos eindringen zu können glaubt: Dies veranschaulicht, zunächst noch harmlos, die Aufnahme ‚Gardasee, Panorama‘ 1986/1993 (80 x 150 cm), die den Blick über den in dunkles Licht getauchten Gardasee führt, der im Bildmittelgrund mit einer geraden Wasserlinie abschließt. Dahinter steigen rechts und links die Berge in gezackter Silhouette auf, die sich trichterförmig in den Hintergrund staffeln. Die Verblauung der Gesteinsmassive leitet in das Grau des Himmels über. Auf der windgekräuselten Oberfläche des Sees sind farbige Punkte erkennbar, die sich erst auf den zweiten Blick als Surfsegel identifizieren lassen. Der horizontale Abschluss des Sees und die symmetrisch im

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Bild angeordneten Berge erzeugen einen unwirklichen und konstruierten Aufnahmecharakter. Die blau-graue Farbigkeit verstärkt in Verbindung mit dem Grauschleier im Hintergrund diesen surrealen Eindruck. Ob die Aufnahme digital manipuliert wurde, kann nicht entschieden werden; immerhin legt die Entstehungszeit – 1986/1993 – eine solche Vermutung nahe, da Gursky seit 1992 die digitale Bildbearbeitung als Gestaltungsinstrument einsetzt. Von übergeordnetem Interesse ist jedoch der Gesamteindruck der Aufnahme, der weniger an ein sonniges und idyllisches Erholungsgebiet zu denken erlaubt, als vielmehr die Empfindung von Kälte und Bedrohung durch Wasser aufkommen lässt. Die an fragiles Spielzeug erinnernden Segler scheinen im weit gedehnten Panorama der dominanten Landschaft höchst gefährdet zu sein. Noch irritierender wirkt ‚Aletschgletscher‘ von 1993 (174,5 x 210 cm). Der Blick gleitet über das schneebedeckte Gletschertal in den Hintergrund. Die aufsteigenden Berge ragen in lichterfüllte und gewittrige Wolkenballungen hinein. Spuren von gefrorenem Wasser durchziehen das Tal, und tektonische Aufwerfungen bilden grafische Strukturen, die kaum noch an eine fotografische Bilderschließung denken lassen, sondern vielmehr an ein gezeichnetes oder gemaltes Bild. Es sind gerade diese Elemente, die, in Verbindung mit dem nicht geläufigen Motiv, die Natur fremdartig erscheinen lassen und damit eine bedrohliche Komponente einfügen. Menschliche Existenz erscheint in diesem Gebiet unmöglich – umso mehr verunsichert der Gedanke an die Anwesenheit des Fotografen bei der Aufnahme dieses Bildes. Bedrohungscharakter hat auch die Arbeit ‚Niagara Falls‘ von 1989 (124 x 101,5 cm). Lichtdurchflutet und einem Aquarell ähnlich präsentieren sich dem Betrachter die Wasserfälle. Unterhalb der Fälle ist ein Passagierdampfer sichtbar, seltsam und fremdartig, dem Naturgeschehen spielzeugartig fragil ausgesetzt. Die aufgeschäumten Wellen von unten und der Nebel von oben geben die Anmutung einer bevorstehenden Katastrophe – zwei schwarze Vögel kreisen symbolträchtig am Himmel –, und auch die zuschauenden Passagiere auf dem Boot in ihrer düsteren Vermummung scheinen Unheilvolles zu erwarten. In dieser Aufnahme zeigt sich, ähnlich wie im Vergleich zwischen den Expeditionsbildern von O’Sullivan und den Aufnahmen Gurskys, der Wandel des menschlichen Handelns in der Natur. So merkt Rolf Sachsse an, dass Gursky mit der Aufnahme an den Niagarafällen ein

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bereits kodiertes Motiv aufnimmt; der Fotograf kenne zweifellos die Daguerreotypien der Brüder William und Frederic Langenheim, die im Jahr 1840 aus derselben Position heraus entstanden. Ihre Belichtungen des Naturschauspiels schickten sie an diverse europäische Herrschaftshäuser, um nicht nur weitere Betrachter an dieser Szene teilhaben zu lassen, sondern auch um Hoffotografentitel und Goldmedaillenauszeichnungen zu erlangen.107 Mit der Aufnahme bekannter touristischer Orte wie des Gardasees oder auch der Niagarafälle macht Gursky das beliebte Motiv vieler Amateurfotografen zum „Code eines gesellschaftlichen Verhaltens“108. Das Bild der Natur wird nicht mehr wie im Fall der Brüder Langenheim als ‚Entdeckung‘ verschickt, sondern der Mensch wird selbst zum Bildgegenstand: als Eindringling, der die Natur zum Event umdeutet. Die Gewalt der Natur über den Menschen und das „Missverhältnis von Mensch und Natur“109 bleiben jedoch in den Aufnahmen Gurskys immer − zumindest unterschwellig, oft auch explizit − vorhanden.

1.1.8 Resümee Die in der ‚Strukturkategorie: Das ‚Abstrahierende und das Ornamentale‘ vorgestellten ‚Landschaftsaufnahmen‘ Gurskys zeugen zunächst davon, dass traditionelle Kompositionsstrategien aus der Fotografie, wie jene der horizontalen Bildgliederung, des erhöhten Betrachterstandpunkts oder der Aufsicht, Verwendung gefunden haben. Gursky bedient sich dieser Strategien, um ein Instrument zu entwickeln, das den Betrachter, von der Bildebene ausgehend, auf die Bedeutungsebene führt, wo Weltsichten und Weltdeutungen zu einer ‚Aneignung von Welt‘ führen. Die Bildfindung zielt darauf, im Sujet der Landschaftsdarstellung den Blick des Betrachters – durch Schärfung und Konzentration − zum Blick eines außenstehenden Beobachters zu transformie107 Vgl. Sachsse, Rolf: Fotografie. Vom technischen Bildmittel zur Krise der Repräsentation. Köln 2003, S. 178. Zur Tätigkeit der Brüder William und Frederic Langenheim verweist Sachsse auf: Taft, Robert: Photography and the American Scene. A Social History 1839-1889. London, Toronto 1938. Nachdruck New York 1964, S. 95-96. 108 Sachsse 2003, S. 178. 109 Ebd.

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ren. Die beschriebenen Erscheinungsformen der Abstrahierung und Ornamentalisierung zeigen eine formal ordnende Kraft an, welche die Bildelemente und -inhalte in vereinfachte Einheiten überführt. In Verbindung mit der Bildidee des ‚Existenzials von Raum‘ registrieren Gurskys Aufnahmen die Verhaltensformen des Menschen in seiner Lebenswelt. Während Gursky seinen ersten Motiven zufällig begegnet und diesen Zufall im Moment der Aufnahme festhält, sucht er in seinem späteren Vorgehen bewusst jene Landschaftsräume auf, die seinen zuvor konzipierten Bildideen in thematischer und kompositioneller Hinsicht entsprechen. Dabei geht es nicht um das bloße Abbilden oder Dokumentieren dieses oder jenes singulären Geschehens, sondern um die Erhöhung des Geschehens auf eine über das Abbild hinausweisende universale Sinnebene. Die horizontale Weite und der erhöhte Blick als kompositorische Kriterien erhalten eine inhaltliche Konnotation: Die untersuchten Arbeiten Gurskys zeichnen sich nämlich vor allem durch einen weißgrauen und somit neutralen Himmel aus, der die Weite der Landschaft überspannt. Gursky sieht ihn als „Garanten außerzeitlicher Gesetzmäßigkeiten [...], vor dessen Hintergrund sich das irdische Geschehen relativiert. Die Eingebundenheit des Menschen in ein kosmologisches Weltganzes wird durch die räumliche Überschaubarkeit unterstützt.“110

Der in zahlreichen Bildern verschwindend klein und überpersönlich abgebildete und damit aller wandelbaren Eigenschaften entbundene Mensch korrespondiert mit der homogenisierten, unspezifisch bleibenden Himmelszone. Jene Arbeiten hingegen, in denen der Horizont und damit der uneingeschränkte Überblick durch „Erdwälle oder urbane Konstruktionen“ versperrt werden, stellen laut Gursky eine Reaktion auf „neuzeitlichere ‚Weltgegenden‘“ dar – neuzeitlich, weil industrielle und kulturelle Spuren des Menschen in dieser Weltgegend hinterlassen sind.111

110 Gursky, Andreas in: Bürgi 1992a, S. 29. 111 Ebd., S. 29. Julian Heynen prägte 1989 den Begriff ‚Weltgegend‘: „Ein Wort wie ‚Weltgegenden‘ fällt mir ein, wenn ich viele dieser RaumBilder und ihre Bewohner sehe. Wie man weiß, kann die Welt schon hin-

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Den Arbeiten ist nicht nur die Klarheit des Himmels gemeinsam, sondern auch die Helligkeit der gesamten Aufnahme. Julian Heynen vergleicht die matte, verhaltene Farbigkeit mit „Leichte und Weite“, wodurch den Bildräumen ein „Schein von Freiheit“ verliehen werde. Den Menschen sei zwar Handlungsfreiheit gewährt, ihre Ziele oder ihr Streben seien im Bild jedoch kaum identifizierbar. So halten sie sich vielmehr in „Zwischenräumen“ auf, die ein Abwarten und Ruhen, wenn auch keine Langeweile suggerieren. Das Verbringen freier Zeit sei dargestellt, die sich in Momenten des Kollektivs oder in einzelnen Gestalten offenbare. Doch führt Heynen an, dass sich diese Zeit diffus verhalte, sich gleichsam in der „Weite der Möglichkeiten“ auflöse.112 Somit ist wiederum Handlungsfreiheit möglich, die sich auch in den beschriebenen Weg- und Raumerschließungen äußert. Die am Geschehen beteiligten Personen bewegen sich in einem oszillierenden Zustand − zwischen einer offenen, stillstehenden Situation und der Möglichkeit, das Geschehen voranzutreiben. In einigen Landschaftsaufnahmen Gurskys wird – trotz Abwesenheit oder Reduzierung alles Menschlichen – die Zivilisation mittelbar durch ihre Signen oder Spuren zum Ausdruck gebracht. Bürgi bezeichnet die Zivilisation als „Moloch“113, da sie in technischer Akribie die Natur vereinnahme: Autobahnbrücken, Autobahnauf- und -abfahrten, verbaute Horizonte und karge Landschaftszonen würden von einer gewaltigen Naturschönheit nur noch wenig erkennen lassen. Darüber könne auch nicht der erhöhte Betrachterstandpunkt hinwegtäuschen, der sonst innerhalb der Bilder Weite suggeriert.114 Etwas anders verhält es sich in der Aufnahme ‚Shatin‘, da sich auf den ersten Blick Landschaft und menschliche Lebensform durch Komposition und Farbe positiv miteinander verbinden. Jedes Bildelement löst unumgängliche Aufmerksamkeit aus, so dass alle Bildbereiche gleichermaßen bedeutsam werden. Eine tiefergehende Betrachtung offenbart jedoch städtische Ausdehnung, Verdrängung von Wohngebieten an die Stadt-

ter der nächsten Ecke, bei jeder leichten Wendung des Blicks (neu) beginnen.“ Heynen 1989a, o.S. 112 Heynen, Julian: Ein Schein von Freiheit. In: Weski, Thomas: Andreas Gursky. Ausst.-Kat. Fotoprojekt 13. Siemens AG, Kulturprogramm. München 1992, o.S. 113 Bürgi 1992a, S. 19. 114 Vgl. ebd.

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grenzen und die zivilisatorische Unterwerfung naturlandschaftlicher Gebiete.115 Die mit diesen Aufnahmen scheinbar beabsichtigte Kritik am Umgang des Menschen mit seinem natürlichen Lebensraum wird in Jacqueline Burckhardts Interpretation nicht geteilt: Sie vermutet vielmehr eine „gewisse Gleichgültigkeit“ Gurskys gegenüber seinen Motivinhalten, da er jedem Bildelement die gleiche Gewichtung zuspricht und anstelle des mahnenden Zeigefingers eine „tragikomische“ Situation herbeiführt. Es spiele keine Rolle, ob sich die Szenerie miniaturhaft in der Ferne oder in der Nähe abspielt − stets bilde sich eine „formale Eigengesetzlichkeit“, indem sich ein Geflecht von Beziehungen ausbreitet. Die Welt in ihrer Erscheinung werde registriert, ihre Stimmungen und Ungewissheiten.116 „Der Raum ereignet sich“117 in den Bildern Gurskys, beschreibt Greg Hilty. Der Mensch und sein Lebensraum stehen in einem ständigen Wechsel- und Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Es ist gerade das Moment der „Gleichgültigkeit“, das die Erhöhung des Bildgeschehens auf eine universale Sinnebene ermöglicht. Die von Burckhardt erwähnte ‚formale Eigengesetzlichkeit‘ animiert den Betrachter dazu, die zunächst banal wirkende und formal abstrahierte Bildsituation abzutasten und zu hinterfragen. Der Fotograf hält die Thematik seiner Bilder in der semantischen Schwebe, so dass unterschiedliche, subjektiv gefärbte Interpretationsansätze möglich werden, die vom romantischen Impetus über die moralische Kritik bis hin zur Gleichgültigkeit verlaufen. Die Distanz zu den Personen, die technischen Komponenten, die Weite der Landschaft und die in der Regel anachronistisch wirkende Farbigkeit der Bilder tragen dazu bei. Das Spannungsverhältnis zwischen Naturraum, Personenraum und Kulturraum, die Verbindung zwischen erhabener und zergliederter Landschaft und die Verknüpfung von zeitspezifischen Merkmalen mit Elementen der Zeitlosigkeit müssen immer wieder neu eruiert werden.

115 Vgl. Irrek, Hans: Fragmente einer Weltsicht. In: Andreas Gursky – Montparnasse. Hrsg. v. Portikus Frankfurt am Main. Ausst.-Kat. Portikus Frankfurt am Main. Stuttgart, Frankfurt am Main 1995, S. 5-19, hier S. 7. 116 Burckhardt, Jacqueline: Andreas Gursky: Maler der neuen Schauplätze. In: Parkett 44, 1995, S. 68-69, hier S. 68f. 117 Hilty, Greg: Der Raum als Ereignis. In: Bradley 1995, S. 14-56, hier S. 14.

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Das persönliche Verhältnis des Fotografen zu seinen Motiven zeigt sich darin, dass die ersten Aufnahmen in seinem Heimatumfeld entstanden sind und zum Teil mit authentischem eigenen Erleben in Verbindung stehen. Die konkreten Titel zeugen von der Wichtigkeit der Ortsbestimmung. In späteren Aufnahmen verlässt Gursky die heimischen ‚Kulissen‘ und zeigt fernere Veranstaltungs- und Event-Orte: Zielstätten menschlicher Pilger- und Entdeckungsfahrten. Dem Betrachter sind die verwendeten Bildmuster vertraut; er vergleicht sie – wie Fiona Bradley anführt − mit einer visuellen Sprache, die sich ins kollektive Bildgedächtnis eingeschrieben hat.118 Strukturen wiederholt gesehener Alltags- und Freizeitbilder können sich u.a. durch filmische und fotografische Dokumentar- und Reiseberichte, durch touristisches Informationsmaterial oder private Fotografien dem Gedächtnis inskribieren und sich dort zu musterhaften Bildtypologien verfestigen. Wie die Bildresultate der klassischen Malerei, die über Jahrhunderte hinweg bestimmte Sichtweisen und Kompositionen transportiert hat, dienen diese internalisierten Typen unbewusst als Widererkennungsmaterial und Vergleichshinsicht. Die öffentliche Zugänglichkeit der Bilder und das gesellschaftliche Interesse an der Kunst haben das kollektive Bildgedächtnis erweitert. Um die formalen und inhaltlichen Bildprinzipien Gurskys noch tiefer zu durchdringen, werden im folgenden Intermezzo Vertreter der Malerei vergleichend herangezogen. Im Kapitel ‚Wahrnehmung von „Weltgegenden“‘, das die erste Strukturkategorie abschließt, findet eine Zusammenführung der für die Arbeiten Gurskys relevanten Ergebnisse statt.

118 Vgl. Bradley 1995a, S. 10. Die Bildstrukturierung in „Geometrien“ und „ornamentalen Muster“ erwähnt auch im Ansatz Syring, Marie Luise: Wo liegt ‚ohne Titel‘? Von Orten und Nicht-Orten in Gurskys Fotografie. In: Syring 1998, S. 5-7, hier S. 6.

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Vergleichendes Intermezzo A 1.2 Das Abstrahierende und das Ornamentale in der Tradition der Landschaftsmalerei Die Analyse von Gurskys Werken berücksichtigte bereits diverse Vergleiche mit der historischen Landschaftsmalerei. Diese Korrespondenz ist in erster Linie durch die Wiedererkennung von Kompositionsschemen bedingt, durch die Verbindung mit dem kollektiven Bildgedächtnis bzw. mit dem universalen kunsthistorischen Gedankengut. Galassi hat in diesem Zusammenhang bereits darauf verwiesen, dass die in der Literatur vorgenommenen Vergleiche – da sie zuweilen eindimensional und undifferenziert gezogen werden – kaum sinnstiftend sind. Die Einflüsse auf einen Künstler seien immer von weitaus komplexerer Natur. Im Folgenden werden diese Vergleiche exemplarisch analysiert, um ihre sachliche Legitimität zu prüfen. Im Vordergrund der vergleichenden Untersuchung stehen die Kompositionen und Bildstrukturen, die bei Gursky zu Phänomenen des Abstrahierens geführt haben und die sich aus der kunstgeschichtlichen Tradition herleiten lassen. Albrecht Altdorfer dient als Vergleichshinsicht für die ‚Feldherren‘Perspektive, Pieter Bruegel d.Ä. für Panoramen und Überblickslandschafen, Jan Vermeer für das Interieur und das kartographische Städtepanorama und Caspar David Friedrich für die Landschaftsdarstellung im Geist der Romantik.

1.2.1 Albrecht Altdorfer Häufig werden die Aufnahmen Gurskys mit den Landschaftsdarstellungen Albrecht Altdorfers (um 1480-1538) verglichen. Im Bild ‚Die Alexanderschlacht‘119 von 1529 schaut der Betrachter von einem erhöhten Standpunkt aus über eine weit sich erstreckende und mit Bergen durchsetzte Landschaft bis zum Horizont. Überwölbt wird die detailreiche Schlachtenszene von einem mächtigen Wolkenhimmel, vor 119 Albrecht Altdorfer, Die Alexanderschlacht, 1529. Lindenholz, 158,4 x 120,3 cm. München, Alte Pinakothek. Abb. in: Schneider, Norbert: Geschichte der Landschaftsmalerei. Vom Spätmittelalter bis zur Romantik. Darmstadt 1999, S. 76.

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dem sich eine Inschrifttafel erhebt. „Landschaft – Raum – Licht“120 sind – wie Gisela Goldberg anführt – die konstitutiven Faktoren der Bildwirksamkeit und der Bildeinheit. Die untergehende Sonne und der heraufziehende Mond generieren die mystische Stimmung und die intensive Farbigkeit des Schlachtengetümmels. Das warme Licht am Horizont durchflutet den Himmel und lässt die voluminösen Wolken hervortreten, bevor sie mit dem nächtlichen Dunkel verschmelzen. Zugleich erhellen die letzten Sonnenstrahlen das Heer und lassen die Ausrüstung farbig hervortreten. Im Zentrum der Schlacht, wo die feindlichen Heere aufeinanderstoßen, sind die Anführer im Begriff, die Entscheidung herbeizuführen. Obwohl – wie Goldberg erläutert – die Ausstattung der Kämpfer und die Architektur für ein historisches Ereignis zu Lebzeiten Altdorfers sprechen, verweisen diverse Beschriftungen auf eine Schlacht zwischen Makedonien und Persien bzw. zwischen König Alexander dem Großen und Großkönig Darius III.121 Eine historische Verortung der Situation gelingt anhand einer Frauengruppe im Umfeld des Großkönigs: Es handelt sich um die Schlacht bei Issus (333 vor Chr.), aus der Alexander der Große als Sieger hervorging und laut Überlieferung den weiblichen Familienmitgliedern des Darius nachträglich Respekt entgegenbrachte.122 Neben der bildlichen Handlung lässt sich auch das landschaftliche Umfeld präziser bestimmen: als kompositorische Umsetzung des östlichen Mittelmeers, der Insel Zypern, des Roten Meers, Ägyptens, des Nils und des Golfs von Persien.123 Neben der Orts- und Handlungskonkretion ist die Detailgenauigkeit der weiträumig angelegten Szenerie bedeutsam. Die Gestirne, die Landschaft auf der Erde und der Mensch in ihr verschmelzen zu einer narrativen Einheit. Die Historie aus antiker Zeit erscheint im Gewand des 16. Jahrhunderts, um das Heldentums vergangener Tage aufleben zu lassen, durch das

120 Goldberg, Gisela: Albrecht Altdorfer. Meister von Landschaft, Raum, Licht. Reihe Schnell & Steiner Künstlerbibl. Hrsg. v. Bruno Bushart, Gabriele Dischinger und Peter Volk. München, Zürich 1988, S. 9. 121 Alexander der Große (356-323 v. Chr.; reg. von 336-323), Großkönig Darius III. (380-330 v. Chr.; reg. von 336-330). 122 Vgl. Goldberg 1988, S. 9. 123 Vgl. ebd., S. 9f. Goldberg folgt hier Meckseper, Cord: Zur Ikonographie von Altdorfers ‚Alexanderschlacht‘. In: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, 22, 1968.

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sich die Auftraggeber zu Werten wie Tapferkeit und Gerechtigkeit bekannten.124 Die Wirkung der Arbeit Altdorfers beruht u.a. darauf, dass er die Lichtquelle in die Bildkomposition einbezieht und von ihr ausgehend das Geschehen und das Stimmungsgefüge modelliert. Die Malerei des späten Mittelalters bevorzugte bis dahin eine außerhalb der Komposition befindliche Lichtquelle.125 Altdorfer zählt darüber hinaus zu jenen Malern, welche die Landschaftsmalerei in Deutschland von der Staffage weg zu einem eigenständigen Genre geführt haben.126 Ein kompositorischer Vergleich von Gurskys ‚Neujahrsschwimmer‘ mit dem Altdorfer-Bild bietet sich insofern an, als beide Künstler einen erhöhten Betrachterstandpunkt wählen und die Landschaft extensiv darstellen. Altdorfer und Gursky lenken den Blick von einer weiten Landschaft auf eine Ansammlung von Menschen, deren Handeln bei Altdorfer in malerischer, bei Gursky in fotografischer Präzision und Detaillierung wiedergegeben wird. Während es sich bei Altdorfer jedoch um eine komprimierte, weitreichende Weltgegend handelt, zeigt Gursky trotz des Überblicks nur einen kleinen Landschaftsausschnitt. Die narrative Komponente entsteht bei Gursky durch die Vielfalt möglicher Assoziationsketten, von denen aber keine einzige letztlich bildklärend ist. Bei Altdorfer hingegen offenbaren sich dem Betrachter die erzählerische Struktur und die traditionelle Bedeutung einer konkreten Historie. Zudem wurde die ausgedehnte Landschaft zu einer neuen Darstellungsmethode erhoben: Die ‚Alexanderschlacht‘ lebt von der durch die Gestirne hervorgerufenen unwirklichen Atmosphäre, die der historisch definierten Handlung eine Aura von Überzeitlichkeit verleihen. Die Weite des Blickes in ‚Neujahrsschwimmer‘

124 Die ‚Alexanderschlacht‘ gehört einem Historienbilderzyklus an, der von Herzog Wilhelm IV. von Bayern und Gemahlin Jacobaea geb. Markgräfin von Baden an verschiedene süddeutsche Maler in Auftrag gegeben wurde. Zwischen 1528 und 1540 entstand der 16-teilige Zyklus mit der Repräsentation heroischer Taten von Männern und Frauen für die Münchner Residenz. Vgl. Goldberg 1988, S. 12. 125 Vgl. ebd., S. 9. 126 Die Interessenverschiebung von der Vedute auf die Darstellung des Landsitzes des Landesfürsten lag u.a. an der politischen Situation des beginnenden 16. Jahrhunderts. Vgl. Schneider, N. 1999, S. 75.

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hingegen endet nicht nur mit dem Stadtpanorama, sondern auch mit der Undurchlässigkeit des grauen Himmels. Trotz der deutlichen Unterschiede ist festzuhalten, dass Gursky den Feldherrenblick in traditioneller Fortsetzung gezielt verwertet hat, um die geschichtlichen Bedingtheiten und die Lebenskonstellationen des Menschen zu thematisieren. Auch wenn das Werk Altdorfers keinen unmittelbaren Einfluss auf Gursky gehabt haben sollte und sich auch andere Beziehungen zur kunsthistorischen Überlieferung nachweisen lassen, so ist ein Vergleich beider Darstellungen von ‚Weltgegend‘ dennoch von Interesse: Gursky richtet seinen Blick in dieser Bildkategorie zwar auf formal und inhaltlich begrenzte Szenerien, dennoch ist der Bezug zu ‚neuzeitlichen Weltgegenden‘ im Unterschied zum kosmologisch geprägten Weltenüberblick bereits angelegt.

1.2.2 Pieter Bruegel d.Ä. Ein exemplarischer Vergleich der Werke Gurskys mit Arbeiten von Pieter Bruegel d.Ä. (um 1525/30-1569) ist insofern sinnvoll, als bei beiden Künstlern die Landschaftsdarstellungen durch mehrere Lesarten bestimmt sind. Für die ‚Große Alpenlandschaft‘ (1558/59, 36,8 x 46,8 cm) – nach einer Zeichnung von Bruegel d.Ä. gestochen – benennt Tanja Michalsky drei Perspektiven: „nämlich seine Wahrnehmung als ‚ästhetisches Erlebnis‘, als ‚realistische‘ Darstellung einer ‚individuellen Reise‘ und als allegorischer ‚gefahrvoller menschlicher Lebensweg‘“127.

Aus erhöhter Perspektive eröffnet sich nicht nur dem Betrachter, sondern auch einem Reiter am rechten Bildrand der Blick über ein durch die Bergzüge keilförmig verschachteltes Alpental. Ein Weg – durch ein Geländer markiert – führt steil von rechts nach links in das Tal hinab. Einerseits kann der Betrachter über den Pfad visuell in die Tiefe 127 Michalsky, Tanja: Imitation und Imagination. Die Landschaft Pieter Bruegels d.Ä. im Blick der Humanisten. In: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Hartmut Laufhütte. Teil I. Wiesbaden 2000, S. 383-405, hier S. 389. Stecher der Radierung: Johannes oder Lucas von Deutecum. Abb. in: Michalsky 2000, S. 400.

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des Bildes vordringen und die in die Natur integrierten Sinnbilder lesen, andererseits lässt sich auch ein distanzierter Standpunkt zur Landschaft einnehmen.128 Die Landschaft wird dann nicht aus den Augen des Reiters gesehen, sondern der Betrachter imaginiert seine eigene Reise durch die Natur und nimmt nur die Symbole wahr, die er zu entschlüsseln vermag. Die Welt wird, gleichsam konstruktivistisch, zum bloßen subjektiven Blick: „Mit dieser Strategie, die im Blick auf einen Blickenden die unendliche Vielfältigkeit der Natur und ihrer Aneignung durch den Menschen zeigt, imitiert Bruegel die Welt als Erscheinung.“129

Auch in der Arbeit ‚Der Sturz des Ikarus‘130 von 1555/1558 werden das Prinzip der Wahrnehmung von Landschaft und das gezielte Hineinführen des Blicks in den Bildraum deutlich. Die Landschaftskompositionen Bruegels d.Ä. zeigen zunächst einen epochalen Wandel in der Darstellung der Natur, da diese nicht mehr bildparallel aufgebaut, sondern in diagonaler Sichtweise abgebildet wird. Flüsse und Täler verlaufen schräg in eine der unteren Bildecken und geben Raum für die Darstellungen im weitläufigeren Bildvordergrund.131 Von einer erhöhten Landschaftsposition im linken unteren Bildbereich fällt der Blick auf die Meerenge vor Sizilien, die sich bis zum Horizont erstreckt. Während die Szene im Vordergrund – der Bauer mit dem Pflug – das höchste Bildgewicht erhält, spielt sich in der Ferne der Sturz des Ikarus in Miniaturdarstellung ab. Der Standpunkt des Betrachters befindet sich ungefähr auf gleicher Höhe mit dem pflügenden Bauern im Vordergrund. Ihm gilt die erste − und irritierte − Aufmerksamkeit: Unbeeindruckt vom Geschehen im Wasser und vom Leichnam einer unbekannten Person, die scheinbar nebensächlich im Gebüsch vor ihm liegt, geht der Bauer seinem Tagwerk nach. Die mytho-

128 Vgl. ebd., S. 388ff. 129 Ebd., S. 391. 130 Pieter Bruegel d.Ä., Der Sturz des Ikarus, 1555/1558. Brüssel, Musées Royaux des Beaux-Arts. Abb. in: Schneider, N. 1999, S. 93. 131 Vgl. Schneider, N. 1999, S. 92. Vgl. auch Stechow, Wolfgang: Dutch Landscape Painting of the Seventeenth Century (Kress Foundation Studies in the History of European Art, I). London 1966.

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logische Erzählung von Dädalus und Ikarus scheint sich in der Weite der Landschaft nur beiläufig abzuspielen.132 Zunächst sind in der Darstellung die literarischen Vorgaben Ovids ablesbar: Erstens das Eherne Zeitalter – dargestellt durch die den Ertrag steigernde Technik des Pfluges und den aus Habgier ermordeten Menschen, zweitens der Ungehorsam des Ikarus, dessen Flügel nahe der Sonne zu schmelzen beginnen, und drittens die Menschen in Gestalt von Fischer, Hirte und Pflüger, die bei Ovid als Zeugen des Sturzes genannt werden.133 Das mythische Ensemble wird jedoch konterkariert: Die Zeugen sind unaufmerksam, sie nehmen von der Katastrophe keine Notiz, sondern widmen sich ganz ungestört ihrem Tagwerk. So wird dem Betrachter vor Augen geführt, „daß er ganz explizit zum Betrachter der Unaufmerksamkeit selbst gemacht wird, um dadurch nur umso deutlicher auf die Differenz von Sehen und Erkennen gestoßen zu werden“134. Zwei Ebenen sind hier verschränkt: die Sicht auf eine Landschaftsdarstellung und die Möglichkeit eines erkennenden Blickes auf das Sujet, das in der Imagination des Betrachters neu zu formieren ist. Indem Bruegel d.Ä. also die Erzählung Ovids nicht getreu abbildet, gibt er dem Betrachter den Freiraum, die mythologische Geschichte aus seiner Zeit heraus wahrzunehmen. Die Bedeutung des Bildes wird durch die neue Verknüpfung von landschaftlichem Raum, Teilen des Mythos und unaufmerksamen Personen erfahrbar. Dem Betrachter bleibt es überlassen, ob er die Erzählung oder den absorbierenden Frei-Raum für sich entdeckt.135 Erfahrung von Natur wird auch in der Arbeit ‚Die Jäger im Schnee‘136 von 1565 deutlich, die mit ihrer Darstellung des Winters

132 Vgl. Schutt-Kehm, Elke: Pieter Bruegel d.Ä. Leben und Werk. Stuttgart, Zürich 1983, S. 25. 133 Vgl. Ovid: Metamorphosen, Buch I, v. 125ff. und Buch VIII, v. 183-240. Vgl. Michalsky 2000a, S. 391. 134 Michalsky 2000a, S. 392. Michalsky bezieht sich dabei u.a. auf Kranz, Gisbert: Meisterwerke in Bildgedichten: Rezeption von Kunst in der Poesie. Frankfurt a.M. 1986 und Caws, Mary Ann: A Double Reading by Design: Brueghel, Auden and Williams. In: Journal of Aesthetics and Art Criticism 41 (1982-83), S. 323-330. 135 Vgl. Michalsky 2000a, S. 393. 136 Pieter Bruegel d.Ä., Die Jäger im Schnee, 1565. Wien, Kunsthistorisches Museum. Abb. in: Schneider, N. 1999, S. 93.

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dem ursprünglich sechsteiligen Zyklus ‚Die Zeiten des Jahrs‘ angehört. Die Gestaltung der Jahreszeiten findet in der Darstellung bäuerlicher bzw. ländlicher Szenen statt.137 Der Gesamtzyklus verweist aber nicht nur auf den Menschen als homo laborans, sondern auf die Abhängigkeit des Menschen vom Zyklus der Jahreszeiten, von der stetigen Wiederkehr des Gleichen in der Natur und in allen menschlichen Verrichtungen.138 Wie der ‚Sturz des Ikarus‘ ist das Werk ‚Die Jäger im Schnee‘ diagonal aufgebaut. Durch den Titel wird der Betrachter zunächst auf die im Vordergrund auf einer Anhöhe dargestellten Jäger aufmerksam, die sinnbildlich für die „Heimkehr“ und „Einkehr in die winterliche Stille und Starre alles Lebens am Ende des Jahres“ gelesen werden können.139 Das Treiben im Tal scheint der Kälte zu trotzen, so dass dem Bild eine Stimmung zwischen kühl-trauriger Stille und Lebensbejahung entspringt. Differenz und Miteinander von Natur und Mensch werden zur Anschauung gebracht.140 Der Berg mit den Jägern bildet für den Betrachter den Ausgangspunkt, von dem aus er den Blick durch das Tal zum hoch angelegten Horizont schweifen lassen kann. Kompositorisch geleitet, ruft zugleich die kleinteilige Struktur des Bildraumes das Interesse hervor, alle Bildgründe zu durchwandern und zu erfahren. Diese Merkmale attestiert Tanja Michalsky auch dem Gemälde ‚Trüber Tag‘ (117 x 162 cm) – ebenfalls zum Jahreszyklus gehörend – und stellt fest: „Der grundlegende Unterschied dieser Darstellung zu früheren Monatsbildern besteht in der Akzentverschiebung von der Beherrschung der Natur auf das Verwobensein in ihr [...]. Bruegels Blick auf die Welt gesteht uns trotz des hochgelegten Blickpunktes keinerlei Macht zu, sondern verstrickt uns in das, was wir sehen.“141

137 Vgl. hinsichtlich der Diskussion um den Titel ‚Die Zeiten des Jahres‘ oder ‚Die Monate‘ und die Sechsteiligkeit des Zyklus’ Seipel, Wilfried (Hrsg.): Pieter Bruegel d.Ä. im Kunsthistorischen Museum Wien. Ostfildern 1997, S. 84f. 138 Vgl. Michalsky 2000a, S. 395. 139 Seipel 1997, S. 88. 140 Vgl. ebd., S. 89. 141 Michalsky 2000a, S. 396f.

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Die Landschaftsdarstellung Bruegels wird vom Betrachter einerseits holistisch als Naturerscheinung wahrgenommen, andererseits wird er animiert, in den Bildraum vorzustoßen, um die Landschaft aus einer subjektiven Sicht heraus mit der Möglichkeit der Identifikation bzw. der Projektion eigener Erlebnisse wahrzunehmen. Bruegel bietet nur auf den ersten Blick eine realistische Wiedergabe von Landschaft, ist sie doch tatsächlich durch Repoussoir- und Rückenfiguren sowie Stimmungskolorit und räumliche Perspektive so komponiert, dass sie sich wie eine aus verschiedenen Erinnerungsschichten gespeiste Landschaftsaufnahme darstellt.142 Svetlana Alpers deutet den bei Bruegel hoch angelegten Horizont als einen Hinweis auf die im 16. Jahrhundert gängige „kartographische Aufsicht“143. Damit „gibt Bruegel dem Jahreszyklus in stärkerem Maße eine weltumspannende denn eine lokal begrenzte Dimension“144: in der Darstellung von alltäglichem oder mythischem Geschehen (bei dem sich der Betrachter in seiner Vorstellung auch noch auf einen Text berufen kann) – in beiden Bereichen tragen sie zur „Erkenntnis von Welt“145 bei. Als zunächst formale Korrespondenz mit den Werken Bruegels d.Ä. erweist sich bei Gursky der erhöhte Betrachterstandpunkt, der eine Distanz zum Bildgeschehen und einen umfassenden Überblick ermöglicht. Auch bei Gursky kann nicht von Machtperspektive gesprochen werden – bei ihm ist es vielmehr die Inszenierung des von außen Beobachtenden, die ebenfalls zu einer ‚Erkenntnis von Welt‘ führt, zur Einsicht in allgemein-menschliche Verhaltensformen. Ähnlich wie Bruegel bedient sich Gursky überdies eines Instrumentariums, das den Blick in den Bildraum leitet und auf eine narrative Ebene überführt,

142 Vgl. Michalsky, Tanja: „L’atelier des songes“ Die Landschaften Pieter Bruegels d. Älteren als Räume subjektiver Erfahrung. In: Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit. Hrsg. v. Klaus Krüger und Alessandro Nova. Mainz 2000, S. 123-137, hier S. 128 und 133. 143 Alpers, Svetlana: Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts. Mit einem Vorwort von Wolfgang Kemp. 2. Aufl. Köln 1998, S. 251. 144 Ebd. 145 Michalsky 2000b, S. 134.

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die erkannt werden, aber auch rätselhaft bleiben kann. Gurskys Strategien verlaufen von detailreichen und kleinteiligen Szenerien über das zur Analyse animierende ‚punctum‘ bis hin zum Spannung erzeugenden ‚Suspense‘-Effekt. Er entfernt sich von der Dokumentarfotografie, indem er das Bild der empirischen Naturtreue mit einer Bildrhetorik versieht. Der Betrachter kann verschiedene Perspektiven einnehmen, zwischen Fern- und Nahsicht oder Landschaftsabbild und intendiertem Bildgeschehen wechseln, um diverse Erscheinungsvarianten von Welt zu erschließen.

1.2.3 Jan Vermeer „Frühere Landschaftsbilder wie z.B. ‚Angler, Mühlheim an der Ruhr‘ erinnern an die klassizistische Epoche Lorrains, ein jüngeres Bild wie z.B. ‚St. Moritz‘ sehe ich in der Nähe der Interieurs Vermeers. Zwar thematisiere ich nicht, wie in der Genremalerei üblich, das Überschaubare, Privatistische der täglichen Handlungen, sondern ich suche meistens öffentliche Orte, die als Forum menschlicher Kommunikation und des Zusammenkommens dienen. Ähnlich sind ihnen aber die profanen und nicht symbolgeladenen Bedeutungen.“146

Dieser von Gursky selbst angeregte Vergleich − dass eines seiner Bilder an Arbeiten Vermeers (1632-1675) erinnert − soll im Folgenden anhand einer Vergleichsanalyse mit den Werken ‚Die unterbrochene Musikstunde‘147, um 1660-61, ‚Junge Frau mit Wasserkanne am Fenster‘148, um 1664-65, und ‚Allegorie der Malerei‘149 von 1666/67 auf seine Plausibilität hin untersucht werden.

146 Gursky, Andreas in: Bürgi 1992a, S. 11. 147 Jan Vermeer, Die unterbrochene Musikstunde, um 1660-61. Öl auf Leinwand, 39,3 x 44,4 cm. New York, The Frick Collection. Abb. in: Arthur K. Wheelock: Jan Vermeer. Aus dem Amerik. v. Dieter Kuhaupt. Köln 1992, S. 99. 148 Jan Vermeer, Junge Frau mit Wasserkanne am Fenster, um 1664-65. Öl auf Leinwand, 45,7 x 40,6 cm. New York, The Metropolitan Museum of Art, Gift of Henry G. Marquand, 1989. Marquand Collection. Abb. in: Wheelock 1992, S. 115.

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Die Interieurbilder Vermeers lassen zunächst eine ganz spezifische Raumordnung erkennen: einen zum Bild parallel angelegten und nahe an den Betrachter herangerückten Raumwinkel, dessen linke Wand zumindest durch ein Fenster aufgebrochen wird bzw. dessen Seitenlicht von einer Fensteröffnung außerhalb des Dargestellten zeugt. Die Rückseite wird durch eine weiße Wand gebildet, an der ein Gemälde oder eine Karte hängt. Ein vor das Fenster gerückter Tisch bildet ein weiteres Bildelement, vor dem sich die unterschiedlichen Szenen abspielen. Das Gemälde ‚Die unterbrochene Musikstunde‘ zeigt eine junge Frau, am Tisch sitzend, bekleidet mit einer roten Jacke und einem weißen Kopftuch. Sie ist im Begriff, einen ihr von einem Herrn gereichten Brief entgegenzunehmen, doch zugleich schaut sie aus der Szenerie heraus den Betrachter fragend an. Das durch das geschlossene Fenster dringende Licht erhellt die Szene, leuchtet den Brief und die rechte Gesichtshälfte der Frau aus. Das Rot der Jacke setzt einen farbintensiven Akzent, während der restliche Raum in die Farblosigkeit des Schattens sanft zurückweicht. Der Fokus ist gesetzt und der Brief als Ursache für die Unterbrechung erkannt: Laute und Noten sind auf dem Tisch neben einer Karaffe und einem Glas Wein abgelegt. Laut Norbert Schneider zeigen die Bildelemente Brief, Laute und Wein die Verbindung zwischen Musik, Liebe und Liebestrank, ein von Vermeer bereits in ‚Herr und Dame beim Wein‘150, um 1658-60, bearbeitetes Thema. Das Gemälde an der rückwärtigen Wand bestätige mit der Darstellung eines Puttos mit Liebesbillet die erotische Komponente der Darstellung.151 Vermeer friert in seinem Bild den Augenblick einer Handlung ein. Das Geschehen ist kurzzeitig zum Stillstand gekommen: durch das Innehalten der Frau, die – in der Erwartung, wenige Sekunden später der Untreue bezichtigt zu werden – den Fortgang der Situation hinauszögert.

149 Jan Vermeer, Die Malkunst (Allegorie der Malerei), 1666/67. Öl auf Leinwand, 120 x 100 cm. Kunsthistorisches Museum, Wien. Abb. in: Wheelock 1992, S. 129. 150 Jan Vermeer, Herr und Dame beim Wein, um 1658-60. Öl auf Leinwand, 66,3 x 76,5 cm. Berlin, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie. Abb. in Schneider, N. 1996, S. 37. 151 Vgl. Schneider, Norbert: Vermeer 1632-1675. Verhüllung der Gefühle. Köln 1996, S. 37.

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Die ihr von der Gesellschaft auferlegte Rolle als treue Gattin wird aus der Emblematik des an der Wand hängenden Vogelbauers deutlich. Er gibt sinnbildlich die „freiwillige Gefangenschaft in der Liebe“152 wieder. Das Werk Vermeers fügt sich damit in die Grundaussage der niederländischen Genremalerei – die Lasterkritik – ein, dargestellt in den fehlerhaften Handlungen von Frauen. Auf diese Weise sollte das pflichtgemäße tugendhafte Leben einer Frau angemahnt werden.153 ‚Junge Frau mit Wasserkanne am Fenster‘ gehört zu jenen Bildern, die durch positives Beispiel zur Tugend erziehen sollten. Eine junge Frau mit weißer Kopfbedeckung ist abgebildet – wieder in einem Moment des Innenhaltens. An einem kleinen Tisch stehend, greift sie mit ihrer linken Hand eine Wasserkanne aus Metall, die in einer Schale steht. Mit verträumten Blick und gesenktem Kopf schaut sie auf das Fenster, dessen Flügel sie mit ihrer Rechten festhält. Neben Kanne und Schale steht ein geöffnetes Kästchen auf dem Tisch, aus dem eine blaue Schleife und eine Perlenkette heraushängen. In diesem Werk gibt das leicht geöffnete Fenster dem Licht mehr Raum. Es erhellt nicht nur die Frau, sondern auch die rückwärtige Wand und die Gegenstände auf dem Tisch, die für die Deutung des Bildes wesentlich sind. Vermeer stellt hier den Widerstreit weiblicher Gefühle dar: Die Frau muss sich zwischen Mäßigung – versinnbildlicht im Attribut der Kanne – und Eitelkeit – verdeutlicht im Schmuckkästchen – entscheiden. Dass sie die Tugend wählt, ist durch den fast instinkthaften Griff zur Kanne entschieden.154 Der Maler entspricht, so Schneider, mit der Darstellung von moralischen Wertvorstellungen und ihren Widersprüchen ganz seiner Zeit. Bereits im 16. Jahrhundert waren Emblembücher in Umlauf, die eine als tugendhaft geltende Lebensführung illustrierten. Motto, Abbild und Text waren für den größten Teil der Bevölkerung jedoch noch schwer zu deuten. Erst im 17. Jahrhundert wurden die Illustrationen allgemein verständlicher, so dass sich verbindliche Moralvorstellungen schließlich in allen Bevölkerungsschichten verbreiteten.155

152 Ebd., S. 38. Nach Daniel Heinsius: Emblemata amatoria, Leiden 1615. 153 Vgl. Schneider, N. 1996, S. 61. 154 Vgl. ebd., S. 62. 155 Vgl. ebd., S. 90.

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Sind die Werke Vermeers einerseits traditionell ikonographisch zu deuten, eröffnen sie andererseits dem Betrachter einen sinnlichvisuellen Zugang: So realisiert Vermeer innerhalb des gleich bleibenden Raumsystems einen neuartigen malerischen Umgang mit dem Licht: „Das Sehen und seine Voraussetzungen werden studiert, die ‚Arbeit‘ des Lichts wird genau beobachtet, der Prozess der Illumination aufgezeichnet. Vermeers Bilder halten Akte des Sichtbarmachens fest, ein fundamentales Erkenntnisinteresse spricht aus ihnen. Das Licht wird als ein Medium des Erscheinens dargestellt und nicht als Hilfsmittel, um die Objektwelt oder die Figuren optimal auszuleuchten.“156

Zugleich verbindet das natürliche und von einer verifizierbaren Quelle herrührende Licht den Raum, die Gegenstände und die Personen darin zu einer den Betrachter vereinnahmenden Gesamterscheinung, welche die Darstellungswürdigkeit alltäglicher Räume und Situationen begründet. Malerei in fotografischer Detailgenauigkeit enthüllt und erhöht das Gewohnte und Geläufige und macht es zum Zentrum der Aufmerksamkeit.157 Beide Werke sind beispielhaft für Vermeers akribische Gestaltung und Funktionalisierung von Licht: In ‚Junge Frau mit Wasserkanne am Fenster‘ leuchtet es die räumliche Situation aus, vermittelt Klarheit und Reinheit. Selbst die Farbe in den Schattenzonen behält ihre Tonqualität. In ‚Die unterbrochene Musikstunde‘ wird hingegen nur die Übergabe des Briefes erhellt – und damit das Laster aufgedeckt. Die Farben werden in diesem Bereich geradezu entschleiert – womit der unmittelbare Zusammenhang von Licht und Farbe offensichtlich wird.158 Gleichzeitig bietet Vermeer durch die Ausleuchtung soge-

156 Prümm, Karl: Jan Vermeers Lichtbilder und das Kino. In: Paech, Joachim; Jens Schröter (Hrsg.): Intermedialität analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen. München 2008, S. 433-447, hier S. 442. Prümm erläutert anhand des Films ‚Das Mädchen mit dem Perlenohrring‘ (2003, Regie: Peter Webber, Kamera: Eduardo Serra) den Einfluss der Lichtkünste Vermeers auf die kinematographische Bildgestaltung. 157 Vgl. ebd., S. 439. 158 Vgl. dazu auch Prümm 2008, S. 437f.

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nannte „Leerstellen“159 als „Projektionsflächen für die Imagination des Verstands“160 an. Die Szene ‚Junge Frau am Fenster‘ spielt sich vor der angestrahlten nackten Zimmerwand im Hintergrund ab; auch der Brief selbst scheint unbeschrieben zu sein. Diese leeren Bildzonen animieren die Aufmerksamkeit des Rezipienten und ermöglichen eine Vorstellung des im Bild nicht Dargestellten.161 Gurskys Arbeit ‚St. Moritz‘ mit Vermeer zu vergleichen erscheint zunächst abwegig – da wir es einerseits mit einer monumentalen Aufnahme, andererseits mit kleinformatigen Gemälden zu tun haben. Motivisch unterscheidet sich Gurskys Arbeit von Vermeers Interieurs grundlegend dadurch, dass keine einzelnen Personen im Zentrum des Geschehens stehen, dass sich der Fotograf nicht für das Individuum, sondern für das Kollektiv interessiert. Überdies bilden Vermeers Figuren mit den sie umgebenden Räumen eine Einheit und befinden sich in privater, intimer Situation, während die Wintersportler in ‚St. Moritz‘ eine öffentliche Umgebung zur kurzfristigen Erholung nutzen.162 Legitimiert wird der Vergleich jedoch insofern, als jeweils Situationen abgebildet sind, die von Ruhe und Spannung zugleich geprägt sind. Bürgi bemerkt, dass sich die Bildfiguren bei Gursky unbeobachtet fühlen. Sie sind Ausdruck eines in sich gekehrten, entrückten Daseins, einer augenblicklichen Situation, die sich unmittelbar verkehren kann.163 Zum zentralen Aspekt des Vergleichs müssen aber die Bedeutung und die Funktion des Lichts, die Leerstellen bzw. Projektionsflächen sowie die bildnerische Detailgenauigkeit werden. Gursky gibt in der Aufnahme ‚St. Moritz‘ der Fensterfront mehr Raum als den pausierenden Wintersportlern. Eine helle, undurchsichtige, weiß-graue ‚Wand‘ trennt den Innenraum von der Außenwelt und animiert den Betrachter, an dieser Stelle ein eigenes Bild zu imaginieren. Die unmittelbar am

159 Vgl. zum Begriff der ‚Leerstellen‘ Kemp, Wolfgang: Verständlichkeit und Spannung. Über Leerstellen in der Malerei des 19. Jahrhunderts. In: ders. (Hrsg.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. Köln 1985, S. 253-278, hier S. 259-262. 160 Rambach, Christiane: Vermeer und die Schärfung der Sinne. Weimar 2007, S. 98. Zugl.: Regensburg, Univ., Diss., 2006. 161 Vgl. dazu auch ebd., S. 99. 162 Vgl. Bürgi 1992a, S. 18. 163 Vgl. ebd., S. 18.

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Fenster sitzenden Personen sind aufgrund der Überstrahlung durch das Licht nur diffus erkennbar, während die Gäste im Mittel- und Vordergrund farblich akzentuiert ausgeleuchtet werden. Die intensive Lichtsituation verhindert einerseits das Sehen, andererseits wird – wie in Vermeers Lichtstudien – der ‚Prozess des Sichtbarmachens‘ verbildlicht. Prümm bezeichnet Vermeers Bilder als „Lichtbilder“, die in ihrer Detailgenauigkeit und Erscheinungsfülle „protofotografisch“ sind, da sie die „Fotogenität des Alltags herausarbeiten“ und „das Übersehene und voraussetzungslos Angenommene explizit sichtbar machen“.164 Gursky stünde damit nicht nur in der Tradition Vermeers, sondern auch in der Tradition jener Fotografen, die im 19. Jahrhundert den aufklärenden und zeigenden Impetus Vermeers in ihrem Medium weiterführten und für das detailgenaue Bild gefeiert wurden.165 Auch das moderne Kino hat das Erbe der Lichtkünste Vermeers angetreten, doch war dies erst möglich „nachdem [der Film] die theatral geprägten Lichtkonventionen des klassischen Erzählkinos abgeschüttelt habe und durch die avancierte Technik, durch ‚bessere Objektive und feinkörniges Farbfilmmaterial‘ überhaupt in die Lage versetzt worden sei, auf dem Differenzierungsniveau der großen Vorbilder zu arbeiten.“166

Und so fühlen sich Kameraleute wie Eduardo Serra oder Robby Müller dem am Ort vorgefundenen Licht, das die gesamte Situation beeinflusste, verpflichtet und lehnen das künstlich herbeigeführte Licht, welches stets nach Erklärung verlangt, ab.167 In Gurskys Werk ‚St. Moritz‘ wiederum ist das natürliche Licht in einer solchen Weise ‚anwesend‘, dass es als Experiment angesehen werden kann. Nicht nur der Zustand der Gäste ist für einen Moment eingefroren, sondern auch die Lichtsituation, die das Fenster einerseits zu einer Grenze zwischen innen und außen werden lässt, andererseits zu einer Schleuse, die wiederum erst die Sichtbarkeit des Innenraums ermöglicht.

164 Prümm 2008, S. 439. 165 Vgl. ebd. 166 Prümm 2008, S. 436. Zitiert wird der Kameramann Eduardo Serra in: Ettedgui, Peter (Hrsg.): Filmkünste: Kamera. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 166-177, hier S. 168. 167 Vgl. Prümm 2008, S. 437.

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Noch ein weiteres Bildbeispiel kann die Relevanz des Vergleichs von Vermeer und Gursky aufzeigen: Im Werk ‚Allegorie der Malerei‘ von 1666/67 verweist Vermeer ganz konkret auf die maßstabsgerechte bzw. dokumentierende Darstellung des Sichtbaren. Die rückwärtige Wand der Atelierszene ist mit einer Landkarte versehen, welche die Niederlande mit den siebzehn Provinzen zeigt, umgeben von 20 topographischen Ansichten der bedeutendsten niederländischen Städte. Die Karte ist so präzise dargestellt, dass sie Claez Jansz. Visscher zugeschrieben werden kann, der sie 1636 anfertigte.168 Vermeer deutet den lateinischen Titel der Karte an, der jedoch weitgehend hinter dem Kronleuchter verschwindet; nur die Begriffe „Nova XVII“ und „Descriptio“ sind für den Betrachter erkennbar. Dadurch dass Vermeer die Karte mit größter Sorgfalt in sein Bild übertrug und ihr überdies seine Signatur hinzufügte, wird die Karte von einem funktionalen Gegenstand zu einem Gemälde umgewidmet. Auf der anderen Seite erhält die Malerei eine kartographische Komponente. Mit dem Zusatz ‚Descriptio‘ am oberen Kartenrand und der Signatur macht sich, laut Alpers, Vermeer selbst zum Hersteller der Karte. Analog zu den als „Weltbeschreiber“ bezeichneten Kartographen war es auch ein Anliegen der holländischen Malerei, möglichst viele der wissenswerten Informationen über die Welt im Bilde darzustellen. Dabei fügten sie ähnlich wie die Kartenzeichner Bilder auf einer Fläche zusammen, die unterschiedliche Blickwinkel vereinigten. Neben dieser Korrespondenz bewirkte der Einfluss der Kartenherstellung auch neue Ausformungen von Bildkategorien. So entwickelte sich z.B. Vermeers Panorama ‚Die Ansicht von Delft‘169 (1660/61) aus den in Karten umgesetzten Stadtansichten.170

168 Zur Identifikation der Vorlage und zur Entstehungsgeschichte der Karte von Claez Jansz. Visscher vgl. Schilder, Günter: Visschers Wandkarte der Siebzehn Provinzen (1636) und ihr Pendant auf Vermeers Malkunst. In: Vermeer. Die Malkunst – Spurensicherung an einem Meisterwerk. Hrsg. v. Sabine Haag, Elke Oberthaler und Sabine Pénot. Ausst.-Kat. Kunsthistorisches Museum, Wien. Salzburg 2010, S. 77-91. 169 Jan Vermeer, Ansicht von Delft, um 1660/61. Öl auf Leinwand, 98,5 x 117,5 cm. Mauritshuis, Den Haag. Abb. in: Wheelock 1992, S. 95. 170 Vgl. Alpers 1998, S. 213-220. Vgl. ausführlich das 4. Kapitel: Kartographie und Malerei in Holland, S. 213-286. Sowohl die von Vermeer umgesetzte Karte als auch das gesamte Werk ‚Die Malkunst‘ haben die For-

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Das kartographische Interesse der holländischen Malerei im 17. Jahrhundert, aber auch die Bedeutung der Malerei für die Kartographie, ist vielschichtig. Landkarten wurden durch entsprechendes Dekorum wie Kartuschen und Stadtansichten oder als dekorative Wandbehänge in den Rang der Kunst erhoben; Maler wie Pieter Saenredam oder Gaspar van Wittel wurden mit der Anfertigung von topographischen Karten beauftragt. Zugleich diente die Kartendarstellung den Künstlern auch als Ausdrucksmittel der persönlichen Erinnerungsbewältigung (Constantijn Huygens d.J.) oder der Betrachtung von Weltgegenden (Pieter Bruegel d.Ä.).171 Das kartographische Element bei Vermeer und in der holländischen Malerei im Allgemeinen begründet den Vergleich mit jenen Arbeiten Gurskys, in denen die Bildanlage im weitesten Sinne an die kartographische Funktion erinnert, Bildausschnitte von Welt zu zeigen. So lässt sich z.B. ‚Neujahrsschwimmer‘ kompositorisch durchaus mit der ‚Ansicht von Delft‘ vergleichen. Auch in Vermeers Werk liegt das vom Himmel überhangene Panorama der Stadt an einem gegenüberliegenden Flussufer. Der Betrachter blickt vom entgegengesetzten Ufer aus, das durch zwei Personengruppen belebt ist. Beide Arbeiten sind präzise örtlich bestimmt, bei Gursky durch das Neujahrsritual auch zeitlich. Die Aufnahme ‚Singapore I‘ lässt sich wiederum mit einem Werk von Pieter Bruegel d.Ä. in Verbindung bringen. ‚Die Bucht von Neapel‘172 ist einerseits als topographische Hafenansicht zu lesen, andererseits zeigt sich die Anschauung einer Weltgegend darin, dass Bruegel d.Ä. die lebhaft befahrene Bucht im Vordergrund und die in das Gewässer greifende Landzunge im Hintergrund in einer leicht gewölbten Dehnung dargestellt hat. Die Assoziation mit der Weltkugel und das ornamentale Ineinandergreifen von Land und Wasser erzeugen die bildnerische Schnittmenge mit Gurskys Aufnahme. Die durch den erhöhten Blick hervorgerufene ornamentale Formgebung bei ‚Singapore I‘ findet eine noch eingängigere Parallele in der ‚Ansicht von Ams-

schung zu vielfältigen Deutungen animiert. Vgl. einleitend dazu Pènot, Sabine: Johannes Vermeer, Die Malkunst. Ein Gemälde im Zeichen des Lichtes. Fragen zur Bilderfindung. In: Haag et al. 2010, S. 41-65. 171 Vgl. Alpers 1998, S. 221-231. 172 Pieter Bruegel d.Ä., Die Bucht von Neapel, 1556. Öl auf Leinwand. Galleria Doria Pamphilj, Rom. Abb. in: Alpers 1998, S. 230.

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terdam‘173 (ca. 1630/nach 1644?) von Jan Christaensz Micker. Es ist nicht zu entscheiden, ob es sich hierbei um eine Kartendarstellung oder um ein Gemälde handelt. Der Blick fällt aus der Vogelperspektive auf den Plan der Stadt Amsterdam, die sich als deformiertes und abgerundetes Rechteck erschließt. Während die Häuserparzellen der Stadt und des Umlandes graphischen Charakter haben, erzeugen die Schatten von Wolken und die Wellen der im unteren Bildbereich angrenzenden See eine malerische Qualität. Im Gegensatz zur Stadt sind die Schiffe im Profil wiedergegeben. Neben den exakt zu bestimmenden Gegenden finden sich in der kartographisch beeinflussten holländischen Malerei auch Arbeiten, deren Orte sich erst bei näherer Betrachtung identifizieren lassen. Die anonyme Arbeit ‚Der Polder „Het Grootslag“ bei Enkhuisen‘174 gibt den stark erhöhten Blick frei auf das Gitternetz der abgebildeten Polder, auf denen weidende Kühe und arbeitende Bauern als kleine Figuren zu erkennen sind. Der Horizont liegt so hoch, dass sich nur ein schmaler Himmelstreifen über die an der Kimm gelegene und aus der Ferne nur unklar zu erkennende Stadt erhebt. Eine solche Formalisierung findet sich bei Gursky nicht nur in den Schwimmbadaufnahmen und der Arbeit ‚Kairo, Diptychon‘, sondern zeigt sich viele Jahre später ganz ähnlich auch in der Aufnahme ‚Greeley‘ (2003). Abgebildet sind hier nicht die holländischen Polder, sondern die Parzellen des Viehmarkts in Greeley. Gurskys Blick auf „neuzeitliche Weltgegenden“175 erschließt sich offenkundig in den kompositorischen Techniken des Panoramablicks und der kartographischen Sichtweise. Gursky steht damit – ob bewusst oder nicht – in der Tradition der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Auch die damaligen Künstler nutzten die Aufsicht als eine weltumfassende Ausdrucksweise, welche die Dimension der lokalen Begrenzung aufbrach. Die Darstellung spezifischer Orte implizierte zugleich die Zugehörigkeit zu einem Weltganzen, vor allem dann, wenn der Horizont mit einer leichten Wölbung versehen wurde. Mit Hilfe der Kartographie bzw. der Landschaftsmalerei fand eine AnEignung von Welt statt. Dieses Verhältnis zwischen Lokalität und

173 Jan Christaensz Micker, Ansicht von Amsterdam, ca. 1630/nach 1644?. Historisches Museum, Amsterdam. Abb. in: Alpers 1998, S. 269. 174 Anonym, Der Polder „Het Grootslag“ bei Enkhuisen. Zuiderseemuseum, Enkhuisen. Abb. in: Alpers 1998, S. 251. 175 Siehe Anmerkung 111.

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Globalität wird in Gurskys Werken der ersten Strukturkategorie als ein phänomenologisches Element abgetastet – dort jedoch noch nicht mit der Gestaltungs- und Aussagekonzentration, die für die zweite Strukturkategorie kennzeichnend ist.

1.2.4 Caspar David Friedrich Der Vergleich ausgewählter Arbeiten Gurskys mit denen von C.D. Friedrich und den künstlerischen Paradigmen der Romantik im Allgemeinen soll ausführlich erörtert werden. In der Forschungsliteratur176 findet sich häufig die Anmerkung, dass bestimmte Kompositionsmerkmale bei Gursky, wie die Weite des Himmels und eine einsam abgebildete Gestalt, an die Kompositionen Friedrichs erinnern. Die bloße Erinnerung reicht jedoch aus kunsthistorischer Sicht keineswegs aus, diese Vergleiche ungeprüft anzuführen. Denn offen bleibt die Frage, ob sich die Erinnerung auf die Naturabbildung, auf das Bildgefüge oder auf die dahinter stehende inhaltliche Dimension und die Bildidee bezieht. Zunächst wird der Blick auf einzelne Merkmale des kompositorischen Systems bei Friedrich gerichtet, um formale Übereinstimmungen mit Gursky, soweit vorhanden, nachweisen zu können. Begonnen wird mit der für Friedrich so charakteristischen Horizontalen, die kontinuierlich in die Tiefe des Hintergrundes drängt und sich in der Landschaftsmalerei als wesentliches kompositorisches Merkmal erweist. Das Bildfeld ist einerseits durch die Linearperspektive, andererseits durch die Schichtung in Vorder-, Mittel- und Hintergrund organisiert. Die einzelnen Aspekte der dargestellten Landschaft finden in diesem Konstrukt zu einer geordneten Einheit. Die kompositorischen Methoden von Friedrich widersetzen sich einerseits dieser klassischen Bildordnung, andererseits finden sich auch Bilder, in denen er gerade dieses System streng verfolgt, aber durch Sichtbarrieren zugleich irritiert.177

176 Vgl. Criqui 1995, S. 60. 177 Vgl. Koerner 1998, S. 111. Vgl. ausführlich zu den Kompositionen Friedrichs das gesamte Kapitel 6: Friedrichs System, S. 111-135.

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Das nur 38 x 35,2 cm große Gemälde ‚Augustusbrücke in Dresden‘178, um 1830, zeigt z.B. eine konsequent horizontal gegliederte Landschaft: Der Betrachter erblickt im Vordergrund das durch eine Brüstung abgegrenzte Pflaster und dahinter den Strom des Flusses. Es folgen im Mittelgrund die markanten Bogenpfeiler der Augustusbrücke, überragt von einer lückenhaften Baumreihe. Den Hintergrund nimmt die Hügelkette ein, überspannt von Licht- und Wolkenstreifen des Himmels. Unterbrochen wird die zu den Seiten hin offene horizontale Bildanlage lediglich durch die Vertikalen zweier Gestalten im Vordergrund. Obwohl Friedrich die Horizontale als klassische Komposition nutzt, unterbricht er immer wieder die mit ihr verbundene Tiefenführung: Weil die Augustinerbrücke die Sicht in die Bildtiefe versperrt, bleibt die Aufmerksamkeit des Betrachters im Bildmittelgrund.179 Versperrt wird die Sicht auch in der horizontalen Bildkomposition der Arbeit ‚Hügel und Bruchacker bei Dresden‘180, um 1824. Der erste Blick nimmt folgende Zweiteilung wahr: Ein grüner Hügel durchzieht die untere Bildhälfte und wird überspannt von einem durch die Sonnenröte illuminierten blau-gelben Himmel. Mehrere Bäume vermitteln mit dem Geäst ihrer Kronen zwischen den beiden Zonen. Der Hügel verhindert, ähnlich wie bei Gurskys Aufnahme ‚Düsseldorf, Flugzeug‘, die Fernsicht. Nur die hinter der Grünfläche emporragenden Kirchturmspitzen zeugen in Friedrichs Bild von der Existenz der Zivilisation. Ein genaueres Hinsehen lässt eine mehrfach strukturierte Landschaftsdarstellung erkennen: Der Hügel ist in eine Acker- und eine Graszone unterteilt, während der Himmel die verblaute Zone der Stadt und das gelb durchflutete Firmament zeigt. Joseph Leo Koerner beschreibt den verstellten Hintergrund bzw. das Fehlen eines Mittelgrundes als Charakteristikum in den Landschaftskonzeptionen Friedrichs. In ‚Hügel und Bruchacker bei Dresden‘ werde dem Betrachter keine „Ansicht“ oder „Aussicht“ dargebo-

178 Caspar David Friedrich, Augustusbrücke in Dresden, um 1830. Öl auf Leinwand, 38 x 35,2 cm. Vernichtet 1931 beim Feuer im Münchener Glaspalast, ehemals Kunsthalle, Hamburg. Abb. in: Koerner 1998, S. 198. 179 Vgl. dazu auch Koerner 1998, S. 128ff. 180 Caspar David Friedrich, Hügel und Bruchacker bei Dresden, um 1824. Öl auf Leinwand, 22,2 x 30,5 cm. Hamburger Kunsthalle. Abb. in: Koerner 1998, S. 231.

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ten, sondern ein „Aussichtshindernis“.181 Die Silhouette Dresdens sei zwar erkennbar, doch werde der Blick immer wieder auf die dominante Erdmasse im Vordergrund zurückgeholt. Der in der Regel freie Blick auf eine Vedute wird negiert, und das Hauptaugenmerk richtet sich auf die aus dem Bild leitenden Pflugspuren des Ackers, auf das Gewirr der Äste und auf eine Vogelschar, deren Flugbahn die Sicht jedoch nicht zum Horizont leitet, sondern von dort ausgehend in einem Halbkreis zur Erde im Vordergrund führt. Friedrich verkehrt damit die Geometrie der traditionellen Landschaftsdarstellung: Der Betrachter schaut nicht von einem erhöhten Standpunkt herab auf die Stadt, sondern er wird genötigt, den Hügel heraufzublicken. Am Scheitelpunkt angelangt, wird er erneut auf die unversehens befremdlich wirkende Materialität der Erde zurückgeworfen.182 Das Fehlen des Mittelgrundes zeigt sich auch in der konsequent zweigeteilten Arbeit ‚Meer mit aufgehender Sonne‘183, um 1826. Zwei sepiafarbende Flächen, die des Meeres und die des Himmels, stoßen aufeinander. Unterbrochen wird diese Strenge durch die Strahlen der zentral im Bild aufgehenden Sonne, zu der eine aufschäumende Woge nur knapp unterhalb des Horizontes formal in Korrespondenz tritt: eine für Friedrichs Verhältnisse äußerst reduzierte Arbeit, da in anderen Bildern dieses Themas vereinzelte Personen und Schiffe mit abgebildet werden und das Spektrum der Farbe zum atmosphärischen Stimmungsträger wird. Besonders auf formaler Ebene lassen sich die horizontalen Kompositionen Friedrichs mit denen Gurskys vergleichen. Die mehrfach horizontale Gliederung findet sich in der Arbeit ‚Sha Tin‘, wenngleich hier der Blick noch tiefer in das Bild gleiten kann und das Sichthindernis mit den Wohnblöcken später wirksam wird. Der die Sicht versperrende Hügel erscheint, wie schon erwähnt, in der Fotografie ‚Düsseldorf, Flugzeug‘, während die strenge horizontale Zweiteilung in Arbeiten wie ‚Bremen, Autobahn‘ oder ‚Genua‘ wiederzufinden ist. Dieser Vergleich kann als Indiz dafür gelten, dass ein spezielles System der

181 Koerner 1998, S. 130. 182 Vgl. ebd., S. 132. 183 Caspar David Friedrich, Meer mit aufgehender Sonne, aus dem Tageszeiten-, Jahreszeiten- und Lebensalterzyklus, um 1826. Sepia über Graphit, 19,1 x 27,3 cm. Hamburger Kunsthalle.

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Sichtweise Friedrichs zu einem visuellen Kulturgut geworden ist und im Medium der Fotografie durch Gursky weiterhin erprobt wird. Die horizontale Bildgliederung wird bei Friedrich aber nicht nur durch „Aussichtshindernisse“ irritiert, sondern in einigen Arbeiten auch durch eine − Unordnung stiftende − Vertikale. Bevor nun das Gemälde ‚Der Mönch am Meer‘184 (1809) auf kompositorische Besonderheiten hin erläutert wird, sei darauf verwiesen, dass sich in der Landschaftsmalerei der Romantik die objektive Darstellung der Natur mit der subjektiven Deutung verbindet. Nicht ihre getreue Wiedergabe steht im Vordergrund, sondern der Ausdruck von Vereinigung und Auseinandersetzung – kurz: das Verhältnis von Mensch und Natur. So studierte z.B. Friedrich Landschaftsausschnitte in der Anfertigung diverser Skizzen, aus denen zu einem späteren Zeitpunkt neue Bildkompositionen entstanden. Die Bildidee transportierte nun künstliche Landschaften und damit das Naturempfinden des Menschen sowie die Faszination von Naturphänomenen.185 Bei Friedrich richtet sich die Landschaftsdarstellung in ihrer Komposition, wie Werner Busch beschreibt, nach einer „mathematischen Abstraktion“186. Die Natur wird in die diversen Ordnungslinien des Bildes eingefügt: „die Naturerscheinungen finden nach dem Willen des Künstlers ihren Ort in ihm“187. Dabei setzt Friedrich einerseits klassische Bildordnungen fort, andererseits unterscheidet er sich dadurch, dass er zwischen der Naturdarstellung und dem Bildgefüge Spannung erzeugt: zwischen einer als richtig erkannten Wiedergabe der Landschaft einerseits und der zu fühlenden kompositionellen Ordnung andererseits.

184 Caspar David Friedrich, Der Mönch am Meer, 1809. Öl auf Leinwand, 110 x 171,5 cm. Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Nationalgalerie. Abb. in Bätschmann 1989, S. 41. 185 Vgl. Howoldt, Jenns E.: Zwischen Empfinden und Erkenntnis. Das Bild der Natur in Deutschland. In: Howoldt, Jenns E.; Schneede, Uwe M. (Hrsg.): Expedition Kunst. Die Entdeckung der Natur von C.D. Friedrich bis Humboldt. Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle. Hamburg, München 2002, S. 85-86, hier S. 85. 186 Busch, Werner: Unmittelbares Naturstudium und mathematische Abstraktion bei Caspar David Friedrich. In: Howoldt, Schneede 2002, S. 17-26. 187 Busch 2002, S. 18.

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„Das Gerüst fesselt uns vor dem Bild, so dass wir uns in das Naturdetail vertiefen können. [...] Durch die Prävalenz der Bildordnung sehen wir in Friedrichs Bildern nicht nur tautologisch, was wir sehen – dieses oder jenes genau wiedergegebene Stück Natur –, sondern Friedrichs Bilder schauen uns nachdrücklich an, so dass wir, ausgelöst durch ihre Wirkung, in uns schauen, ja: in uns gekehrt sind und so in Auseinandersetzung mit dem Geschauten dieses als auch unsere Lebenswahrheit transzendieren.“188

Oskar Bätschmann189 beschreibt nun am Beispiel ‚Der Mönch am Meer‘ Friedrichs Kompositionsstrategien, die ich im Folgenden skizzieren werde. So fertigte der Künstler 1801 auf der Insel Rügen eine Zeichnung190 an, die das in die Landschaft eingebettete Dorf Vilmnitz zeigt. Die Skizze erschließt sich mit einem tief angesetzten Horizont und wenigen Linien im Vorder- und Mittelgrund; letzterer wird durch Bäume, eine Kirche und einige Häuser im linken Bildbereich spärlich ausgefüllt. Die nicht weiter definierte Himmelszone, die ausschnittbedingt fehlende Begrenzung zu den Bildseiten und das Fehlen eines bildnerischen Gegengewichtes zum dargestellten Dorf lassen jede Spannung in der Komposition vermissen. Obwohl es sich hier um eine Skizze handelt, die den traditionellen Merkmalen der harmonischen Landschaftsgliederung nicht entsprechen musste, zeigen spätere Gemälde ebenfalls die offenen – somit nicht vorhandenen – Kompositionsgrenzen. Friedrich ist in diesem Aspekt von der holländischen Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts beeinflusst. Das Gemälde ‚Ansicht von Ootmarsum‘191 von Jacob von Ruisdael präsentiert beispielsweise eine mit tiefem Horizont und waagerechten Streifen angelegte Landschaft. Das Motiv ist zwar zu den Seiten hin durch keinerlei Bildgegenstände abgeschlossen, weist aber eine ordnende Bildzentrierung auf. Eine von Häusern und Feldern umgebene Kirche nimmt den

188 Ebd., S. 19. 189 Bätschmann, Oskar: Entfernung der Natur. Landschaftsmalerei 17501920. Köln 1989. 190 Caspar David Friedrich, Flachlandschaft auf Rügen mit der Kirche von Vilmnitz, 1801. Feder über Bleistift, 23,7 x 36,8 cm. Basel, Kunstmuseum, Kupferstichkabinett. Abb. in: Bätschmann 1989, S. 40. 191 Jacob von Ruisdael, Ansicht von Ootmarsum, um 1670/75. Öl auf Leinwand, 59,1 x 73,2 cm. München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek. Abb. in: Bätschmann 1989, S. 42.

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Mittelpunkt der Bildanlage ein. Der von Ruisdael erhöht gewählte Betrachterstandpunkt nimmt noch Bezug auf die Überschaulandschaften des 16. Jahrhunderts. Das von Friedrich angefertigte Gemälde ‚Der Mönch am Meer‘ lässt schließlich die in der Skizze auf Rügen erprobte und die den Holländern entlehnte Reduzierung der Landschaft auf horizontale Streifen erkennen. Zonen aus Sand, Wasser und Himmel, die der Betrachter zu den Seiten hin imaginär weiterführen kann, bauen die Bildkomposition auf. Eine Zentrierung des Motivs wie bei Ruisdael fehlt, vielmehr rückt Friedrich die Gestalt des Mönchs aus der Mitte des Vordergrundes nach links heraus. Der horizontale Aufbau ist mit der Bildgattung des Panoramas vergleichbar, doch bildet dies immer eine spezifische Stadt oder Landschaft ab, die sich um den im Zentrum befindlichen Betrachter ausbreitet. Friedrichs Landschaft ist hingegen austauschbar. Ein perspektivischer Fluchtpunkt fehlt, die Harmonie des Bildes liegt in der Horizontalen, die in die Tiefe und Unendlichkeit des Bildes führt.192 Die Landschaftsdarstellung in ‚Der Mönch am Meer‘ stellt keine bloße Nachahmung von Natur dar, sondern eine vom Künstler interpretierte und erfundene Landschaft, die beim Betrachter eine bestimmte Stimmung und Rezeptionshaltung hervorruft. Durch den Einsatz von Licht und Farbe bringt der Künstler Dramaturgie ins Spiel und löst so u.a. das Gefühl des Erhabenen aus: „Die Empfindung des Erhabenen stellt sich dann ein, wenn durch den Schrecken der Selbsterhaltungstrieb mobilisiert und durch die Erfahrung der eigenen Sicherheit wieder beruhigt wird.“193 Zu der erhabenen Impression zählen „Erstaunen, Bewunderung und Ehrfurcht", die durch „das Übermäßige, Unendliche, das Wilde, Schroffe und Rauhe“ hervorgerufen werden. Das Gefühl des Schrecklichen provozieren „Dunkelheit, Leere, Ein-

192 Vgl. Bätschmann 1989, S. 41-44. 193 Ebd., S. 47. Nach Burke, Edmund: A Philosophical into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful. London: R. and L. Dodsley, 1757. Dt.: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. Übers. von Friedrich Bassenge, hrsg. von W. Strube. Hamburg, 1980. Mit der Untersuchung Burkes (1729-1797) gelangte der Begriff des Erhabenen in den Mittelpunkt der ästhetischen Diskussion des 18. Jahrhunderts.

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samkeit, Einförmigkeit, große Weite, das Meer also, dann hohe düstere Berge, der Wolkenhimmel und die mysteriöse, wilde Natur“.194 Zur Entstehungsgeschichte des Gemäldes führt Werner Busch zwei weitere Zeichnungen als Zeugnis an, die auf Rügen entstanden sind. ‚Flachlandschaft auf Rügen‘195 und ‚Blick über die Ostküste von Rügen‘196 zeigen ebenfalls in einem weiten Winkel den horizontalen und zu den Seiten offenen Aufbau des Bildes. Die Landschaften wirken – weil ein charakteristisches Bauwerk fehlt – zwar noch karger und einfacher, sind aber in ihrer Struktur subtiler ausgearbeitet. Den Vordergrund der zweiten Zeichnung übertrug Friedrich exakt auf sein Gemälde ‚Der Mönch am Meer‘. Dabei verschob er diesen jedoch, wie Busch anmerkt, etwas nach links, so dass die höchste Erhebung nun nicht mehr bildmittig, sondern ebenfalls weiter links zu finden ist. Friedrich verzichtet damit in seinem Gemälde auf das harmoniebildende Element. Dem leicht erhöhten Landschaftspunkt entspricht die Position des Kapuzinermönchs, die nun gegen die Ordnungskräfte einer Mittelachsenkomposition verstößt. „Ästhetikgeschichtlich ist ein äußerst folgenschwerer Punkt erreicht: Das Ordnungslose wird tendenziell als ein ästhetischer Wert an und für sich erkannt.“197 Das Ordnungslose unterstreicht jedoch die Leere und Trostlosigkeit des Bildes. Entgegen seiner sonst häufig verwendeten Bildordnungen, die den Grundformen der Hyperbel, Parabel und Ellipse entsprechen, wendet sich Friedrich hier gegen die sinnerfüllte geometrische Form.198 Er entscheidet sich für die harmonische Tendenz einer horizontalen Struktur, die durch die Gestalt auf der leichten Erhebung im Vordergrund aufgebrochen wird. Im Grunde ist die Figur zu klein, um als Senkrechte einen Gegenpol zur Horizontalen einzunehmen. Doch verstärkt gerade diese Eigenschaft in Verbindung mit der Dezentralisierung das Spannungsgefüge im Bild. Im Sinne der vorange-

194 Ebd., S. 47. Nach Burke, Edmund: A Philosophical into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful. London: R. and L. Dodsley, 1757. 195 Caspar David Friedrich, Flachlandschaft auf Rügen, 16. August 1801. Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett. Abb. in: Busch 2002, S. 22. 196 Caspar David Friedrich, Blick über die Ostseeküste von Rügen, 17. August 1801. Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett. Abb. in: Busch 2002, S. 22. 197 Busch 2002, S. 22f. 198 Vgl. ebd.

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stellten Ausführungen Buschs ist festzustellen, dass das Kompositionsgefüge in die Naturdarstellung überleitet, ohne dabei in ihr aufzugehen. Jens Christian Jensen verweist auf eine weitere der Horizontalen entgegenlaufende Bildstruktur. Die Erhöhung des Sandes finde nämlich – in gespiegelter Form – ihre Entsprechung im Himmel; die hellere Wolkenformation durchbricht das nächtliche Dunkel. So verzichtet Friedrich also nicht gänzlich auf die Bogenform.199 Die Thematik und die Komposition des Bildes verweisen auf keinen dominanten Bildgegenstand. Die Gestalt des Mönchs bietet dem Betrachter keinen wirklichen Halt in der sich ausdehnenden Dunkelheit des Meeres. Demütig erscheint der glaubende Mensch vor der Natur, die einer göttlichen Ordnung angehört. Im Vergleich zur damals üblichen Landschaftsmalerei war im Grunde nichts dargestellt, wie es Jensen beschreibt. Es erschließt sich die entgrenzte Gewalt des Universums, die Kleinheit des Menschen – und damit die elementare Frage nach der Stellung des Menschen im Universum, nach dem Sinn der menschlichen Existenz an sich.200 Die Ausführungen zu ‚Der Mönch am Meer‘ verweisen bereits auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Friedrich und Gursky. Hinsichtlich des erhöhten Betrachterstandpunkts und des Panoramablicks wurden bei Gursky bereits Traditionslinien zur holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts aufgezeigt. Friedrich fügt sich nun mit seiner horizontalen Komposition als Bindeglied in diese Tradition ein. Seine Werke entsprechen dabei aber keineswegs der vermeintlich fotografischen Genauigkeit eines Vermeer oder der analogen Form Gurskys, sondern sie zeichnen sich durch eine subjektive und im Atelier entstandene Komposition aus. Als gemeinsame bildnerische Mittel Gurskys und Friedrichs erweisen sich wiederum die reduzierte und von der Weite des Himmels überspannte Landschaft sowie die zum Teil vereinzelt auftretenden Personen. In der Aufnahme ‚Ruhrtal‘ von Gursky sind der Himmel und die einzelne Person veranschaulicht. Im Gegensatz zu Friedrich hat Gursky dem Verhältnis von Natur und Mensch das Moment der Technik hinzugefügt. Das für einen visuell routinierten Betrachter wenig beeindruckende Bildsujet wird durch die Diagonalen der Brücke und des Landes sowie durch die Untersicht in

199 Vgl. Jensen, Jens Christian: Caspar David Friedrich. Leben und Werk. Köln, 9. Aufl. 1991, S. 109. 200 Vgl. ebd., S. 108ff.

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ein spannungsreiches Bildgefüge überführt. Die im Vergleich zur männlichen Gestalt erhöhte Architektur hat jedoch nichts mit der Empfindung von Erhabenheit zu tun, die sich bei Friedrich im Menschen angesichts einer gewaltigen und grenzenlosen Natur abspielt. Bei Gursky hat der Mensch die Natur im Griff, er gestaltet und überwindet sie. Doch scheinen die Mittel dafür dem Menschen zum Verhängnis zu werden, wenn dieser im Verhältnis zu seinen Architekturen miniaturhaft abgebildet wird. Oder soll sich darin – gleichsam ex contrario – seine Macht und Größe widerspiegeln? Die einsam wirkende Gestalt richtet sich auch nicht – wie in ‚Der Mönch am Meer‘ – auf eine transzendentale Bestimmung oder göttliche Weltanschauung. Vielmehr scheint der Mensch bei Gursky verloren in seiner selbst gewählten Freizeitbestimmung. Er bildet keine Einheit mit der ihn umgebenden Natur, er scheint verlassen in seiner raum-zeitlichen Dimension. So ist er weder versunken in der Betrachtung der Landschaft noch beeindruckt von seiner selbst geschaffenen Architektur. Die bei Gursky unter den Brücken dargestellten Personen vermitteln das Gefühl jener Verlassenheit, die für Großstadtmenschen des 20. Jh. typisch ist.201 Auch wenn die Personen bei Gursky in Rückenposition zum Betrachter stehen, sind sie nicht in kontemplativer Naturbetrachtung abgebildet, sondern in eine aktive, dynamische Situation wie die des Flughafens oder des Spaziergangs eingebunden. Ebenso verhält es sich mit der Aufnahme ‚Mühlheim an der Ruhr, Angler‘, in der die Personen am Flussufer nur klein zu erkennen sind. Die Natur spielt auch hier keine auf das Erhabene oder die Unendlichkeit bezogene Rolle. Der vereinzelte oder auf kleine Gruppen reduzierte Mensch besitzt bei Gursky ebenfalls keine so kompositorische Prägnanz, wie es bei Friedrich in ‚Der Mönch am Meer‘, in ‚Zwei Männer am Meer bei Mondaufgang‘ (1817, Nationalgalerie, Berlin) oder ‚Der Wanderer über dem Nebelmeer‘ (um 1818, Kunsthalle Hamburg) der Fall ist. Michael Kimmelmann bezeichnet den Vergleich Gurskys mit C.D. Friedrich als sinnvoll, wenn „er hilft, bestimmte Klischees von der ‚erhabenen Natur‘ ironisch zu brechen und in ein Bild zeitgenössischer Industrie umzuformen“202; und auch Gerhard Richter sieht die Roman-

201 Vgl. Criqui 1995, S. 60. 202 Kimmelmann, Michael: Dokumentarfotografie oder digitale Malerei? In: Kulturchronik, Nr. 3, 19. Jhg., 2001, S. 6-9, hier S. 9.

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tik „noch immer [als] Teil unserer Sensibilität“, als Material für eine postmoderne Transformation: „Die Romantik ist weit entfernt davon, liquidiert zu sein. [...] Was mir fehlt, ist die geistige Grundlage, die die romantische Malerei unterstützte. Wir haben das Gefühl der ‚Allgegenwart Gottes in der Natur‘ verloren. Für uns ist alles leer. Und dennoch sind diese Bilder noch immer da, und sie sprechen zu uns. Wir lieben sie, benützen sie und benötigen sie weiterhin.“203

Vor diesem Hintergrund sind bei Gursky die Bilder Friedrichs kompositorisch spürbar, die erste Anmutung romantischer Implikationen verfliegt jedoch bei intensiverer Betrachtung: Die außerzeitliche und außerweltliche Kontemplation der Figuren fehlt, und auch die Landschaftsdarstellung hat säkularen Charakter. Es kann keine Rede sein vom düster grauen Wolkenhimmel oder einem pathetischen Kolorit. Die Atmosphäre der Bilder ist vielmehr durch verborgene Spannung gekennzeichnet. Der Himmel in ‚Ruhrtal‘ ist leer – im Kontrast zu der göttlichen Unendlichkeit des Meeres bei Friedrich. Während Friedrich die Natur studiert, sie aber im Atelier metaphorisch überhöht und in eine abstrakt-mathematische Komposition überführt, sucht Gursky die Elemente der Horizontalen, den weiten Himmel oder den Menschen in der Natur und setzt diese gefundene, zumeist zu den Seiten hin offene Situation fotografisch um. Der subjektive und kreative Schöpfungsakt findet bei Friedrich unter religiösen und transzendenten Prämissen im Atelier statt. Gurskys künstlerischer Akt vollzieht sich in der Welt – in der säkularen Zusammenschau von Natur und Mensch im technischen Zeitalter.

203 Richter, Gerhard in: Lebeer, Irmeline: Gerhard Richter ou la réalité de l’image. In: Chroniques de l’art vivant 36, 1973, S. 16. Zitiert nach Kasper, Astrid: Gerhard Richter. Malerei als Thema der Malerei. Berlin 2003, S. 80.

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1.3 Wahrnehmung von „Weltgegenden“ „Vom Boden aus gesehen“ und „vom Himmel aus gesehen“, so legen sich dem Betrachter die Bilder der ersten Strukturkategorie dar: eine horizontale perspektivische und eine vertikale rundblickende Sichtweise.204 Der in Distanz und Höhe gesteigerte Betrachterstandpunkt ist, wie auch aus Darstellungen der Malerei und der Fotografie ersichtlich, als Panoramablick mit einer Wahrnehmung von Weltgegenden bzw. mit dem erhabenen Überblick eines Feldherren in Verbindung zu bringen. Urbane und rurale Landschaften werden in einer zunehmend komponierten Totalität begriffen, deren tatsächlicher Erfahrungsraum jedoch konterkariert wird. Gurskys Fotografien demonstrieren einen Standpunkt des vermeintlichen Überblicks und Freiseins, da sie auf Einschränkungen, nämlich auf das Nichtverstehen von situativen Bedingungen, verweisen. Unklar bleibt z.B., was die Personen in ‚Neujahrsschwimmer‘ eigentlich zu ihrem Handeln antreibt, wodurch der ‚Suspense‘-Effekt in ‚St. Moritz‘ hervorgerufen wird und welche Kraft das Chaos in ‚Kairo‘ zu bewältigen vermag. Dass der Betrachter auch topographisch nicht immer in die Weite blicken kann, zeigt sich in denjenigen Aufnahmen, deren Horizont verstellt ist oder aufgrund der Höhe außerhalb des Kameraausschnittes liegt. Gursky durchbricht die Definition von Panorama auch dadurch, dass er für seine Aufnahmen keine berühmten Orte, Weltgegenden oder Schauplätze wählt. Die mit Lokalkolorit versehenen Motive wie ‚Ruhrtal‘ oder ‚Düsseldorf, Flughafen‘ sind nur durch den Titel örtlich zu identifizieren; ‚Kairo‘ besitzt zwar den Charakter einer Weltgegend, doch aufgrund des von oben eingegrenzten Blickfeldes wird dieser wieder konterkariert. Gursky schränkt ein, eröffnet aber zugleich die Möglichkeit einer narrativen Ebene, indem die Landschaft durch den Betrachter als eine Bewusstseinsstruktur wahrgenommen wird, als ein inszeniertes System, das es zu lesen gilt. Er verwendet dafür bereits erprobte Bildstrategien der Malerei und der Fotografie und überführt diese in eine eigenständige Bildsprache. Bildausschnitt und Kamerastandpunkt lassen zunächst die von der Natur und vom Menschen geschaffenen Ordnungslinien der Landschaft sichtbar werden. In Verbindung mit einem distanzierten und erhöhten Blick oder einer kartographischen Sichtweise wird das Motiv in ein komponiertes, geometrisch-abstrahiertes

204 Virilio 1989, S. 162.

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oder ornamentales Gefüge – in ein bereits zu benennendes ästhetisches ‚Muster‘ eingefügt. Nach Pächt entsteht eine solche bildliche Prägnanz dadurch, „daß überall dort, wo die Bildnähte sitzen, Gegenstandsformen von linien- oder bandartigem Charakter erscheinen. Bei Landschaftsbildern sind es Flußläufe, Mauern, Alleen; bei figürlichen Erzählungen Spalierbildungen, regelmäßige Sitzordnungen und Ähnliches. Dadurch, daß die Projektionsgrenzen mit faktischen Grenzmarkierungen im Grundriß der Bildbühne zusammenfallen, wird dem Netz der Nähte ein stark substantieller Charakter verliehen. Die Regelmäßigkeit des Bildplans, die Ordnung der Bilderscheinung ist fundiert durch die Regelmäßigkeit der Grundrißverhältnisse im Bildraum.“205

Bei Gursky werden die Regionen auf diese Weise überblickt, registriert und beschrieben. Ein zweiter Blick führt schließlich in die Szenerie hinein: Der Betrachter kann, auf dem Weg zu einer Erkenntnis von Welt, einer möglichen Erzählung, den Menschen in der Natur in Gestalt „ameisenhafte[r] Ansammlungen“206, einzelner Personen und technischer Signaturen, folgen oder wird verwoben in die rätselhaften Schauplätze der nicht sichtbaren ‚Massen‘ und nicht sichtbaren ‚Verbrechen‘. Formal vermitteln Gurskys Bilder zwei Formen der Wahrnehmung von Weltgegenden: So wird zum einen der Blick in die weltumgreifende Weite des Raums gelenkt, als dessen grundlegende Elemente sich „die Formation des natürlichen Geländes und die kultivierte Natur, in die die steinernen, metallenen und menschlichen Figuren eingefügt sind“207, erweisen. Zum anderen richtet sich die Aufmerksamkeit auf technische Vernetzungen wie Flugverkehr, Autobahnen oder künstlich organisierte Landpartien. Es sind Bereiche städtischen Lebens, in denen sich das Gefüge zwischen Raum, Natur und Kultur verändert hat: Denn dort erscheint die Natur – wie es Elisabeth Heidenreich ausführlich erarbeitet hat – zu großen Teilen in Innenbereichen. Energie und Wasser liegen in einer in „fluider Form“ verfügbaren Na-

205 Pächt 1986 (1933), S. 51f. 206 Galassi 2001, S. 25. 207 Heidenreich, Elisabeth: Fließräume. Die Vernetzung von Natur, Raum und Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M., New York 2004, S. 14.

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tur vor, die entsprechend der Nachfrage genutzt oder nicht genutzt werden kann. Heidenreich führt für den städtischen Naturraum der Moderne den Begriff „technische Fließräume“ ein, der sich schließlich um Bereiche wie „Verkehr, Information und Kommunikation“ erweitern lässt.208 In beiden Fällen wird bei Gursky immer der handelnde Mensch in seinen natürlichen und technischen Raumzusammenhängen gezeigt. Während Pächt formal von einem ornamentalen, geometrisch geordneten Raumgefüge spricht, erläutert Heidenreich die sogenannte „abstrakte Raumstruktur“209 am Beispiel der in der Renaissance entwickelten Zentralperspektive, die sowohl zur Darstellung von Raum in der Malerei und Graphik als auch zur Stadtplanung und Errichtung von Schloss- und Parkanlagen verwendet wurde. In Verbindung mit „technischen Fließräumen“ spricht Heidenreich auch von „abstrakten Raumstrukturen“, da Verkehrs-, Wasser- oder Stromnetze von „mathematischen und geometrischen Grundlagen und wissenschaftlichen Vermessungsmethoden“ abhängig sind.210 Mit den Fotografien der ersten Kategorie hat es der Betrachter konkret mit landschaftlichen Struktursystemen zu tun, die, durch den Menschen technisiert und funktionalisiert, an die Bildoberfläche gelangen und in ihrer – gemäß meiner Definition – abstrahierenden Eigenschaft ästhetisch in Konkurrenz zum Motiv treten. Die dargebotene Struktur leitet von der Bildebene zur Bedeutungsebene, lässt das thematisch Präsente (Freizeitgestaltung, Naturerfahrung, spezifische Örtlichkeit etc.) in den Hintergrund treten und verweist im Sinne des Allegorischen auf das Absente, auf die übergreifende abstrakte Bildidee: auf den in neuzeitlichen Weltgegenden agierenden Menschen. Gursky verfolgt damit keine projektbezogenen Serien und dokumentiert auch keine landestypischen Lebensstrukturen oder das Individuum im Einzelnen über einen längeren Zeitraum, sondern verfolgt die Absicht, die Welt und ihre Bewohner für sich zu strukturieren. Er ist im Begriff, unsere Gesellschaft auszumessen, und bedient sich in diesem Stadium seines Schaffens, ganz plausibel, eines weiten Panoramas.

208 Ebd., S. 19 und S. 31. 209 Ebd., S. 104. 210 Ebd.

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2. S TRUKTURKATEGORIE : D AS K ONSTRUKTIVE UND DAS O RNAMENT „Immer wieder neu oder ewig das Gleiche“ (MARIANNE GRONEMEYER)

2.1 ‚Ordnungsprinzipien‘ Innerhalb der ersten Strukturkategorie wurden anhand der urbanen und ruralen Landschaftsmotive Kompositionskriterien festgehalten, die ordnende Formalisierungsprozesse und Elementargebilde eingeleitet haben. Es zeigte sich, dass in Verbindung mit der Distanzierung und Schärfung des Betrachterblicks eine Überleitung von der Bildebene zur sinnbildenden, die diversen Motive vereinenden abstrakten Bildidee stattfindet. Zur zweiten Strukturkategorie werden nun jene Fotografien Gurskys gezählt, in denen Struktursystem und Motiv nicht nur in Konkurrenz zueinander treten, sondern in denen sich das fotografische Abbild, der Motivinhalt, dem kompositionellen Gestaltungsgefüge, dem Zusammenspiel von Form- und Farbzusammenhängen, unterordnet. Es wird zu zeigen sein, inwiefern Gursky die bereits erprobten Möglichkeiten der Bilderzeugung aufgreift und technisch erweitert, um eine Emanzipation des Bildgerüsts zu erzielen, und welche Rolle die Betrachterposition dabei spielt. Für diesen formalen Prozess der Abstrahierung werden die Begriffe ‚Konstruktion‘, ‚Geometrisierung‘ und ‚Ornament‘ eingeführt. Zugleich stellt sich die Frage nach der Bedeutungsebene: ob sich in der zweiten Strukturkategorie womöglich die formalen und inhaltlichen Ebenen gegenseitig bedingen und demnach die abstrahierte Form das inhaltlich Abstrakte unterstreicht. Die Auswahl und Einordnung der Bilder erfolgt einerseits nach den divergierenden ‚Strukturbildungsprozessen‘, andererseits nach den sich prozessual verändernden Abstrahierungsgraden, die sich an wiederkehrenden Motiven beschreiben lassen.

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2.1.1 Konstruktion im Innenraum Anfang der 90er-Jahre bezieht Gursky neben Landschaften auch den Innenraum als Motiv in seine fotografische Arbeit ein. Die den jeweiligen Strukturkategorien subsumierten Arbeiten greifen zwar zeitlich ineinander, sind aber dennoch als divergente Entwicklungsstufen aufzufassen. Während bei den bereits behandelten Fotografien der Blick des Betrachters häufig über die Weite der Landschaft bis zum Horizont schweifen konnte, wird er nun eingeschränkt. Trotz dieser Eingrenzung wendet Gursky auch hier den erhöhten und distanzierten Betrachterstandpunkt konsequent an. Die als Ordnungskriterium verwendete Bezeichnung ‚Konstruktion‘ leitet sich vom lateinischen constructio ab und bedeutet Zusammenfügung, Aufbau und Aufgeschichtetes. Diese Begriffe implizieren nicht nur Vorstellungen von architektonischen Strukturverbänden, sondern bezeichnen auch Kompositionen in der bildenden Kunst, wie zum Beispiel die des Konstruktivismus.1 Der konstruktive Charakter der Innenraumbilder Gurskys soll im Folgenden erörtert werden. Es sind Aufnahmen, in denen der Raum anonym und leer erscheint, wenngleich die Anwesenheit des vereinzelten Menschen erkennbar oder doch wenigstens zu erahnen ist. Die Aufnahme der Fertigungshalle ‚Karlsruhe, Siemens‘, 1991 (170 x 200 cm) wirkt auf den ersten Blick diffus und detailüberladen. Kabelrollen, Trommeln, Handkarren und von der Decke herunterhängende Kabel erwecken den Eindruck eines undurchdringlichen technischen Dschungels. Dabei sind es dieselben Gegenstände, die das Bild ordnen und eine systematisch-professionelle Arbeit in einer solchen Umgebung ermöglichen. Tische und Karren sind in Reihen angeordnet, Kabelrollen sind nach Farbe und Stärke sortiert, und zudem sitzen dort – auf den zweiten Blick sichtbar – arbeitende Personen an ihren 1 Vgl. Spanke, Daniel: Das Museum der Wirklichkeit. Eine Typologie kompositorischer Bildstrukturen der Werke von Bernd und Hilla Becher und der Düsseldorfer Fotografie. In: Sommer, Achim (Hrsg.): Zwischen Schönheit und Sachlichkeit. Boris Becker, Andreas Gursky, Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Ruff, Thomas Struth. Ausst.-Kat. Kunsthalle Emden. Heidelberg 2002, S. 18-31, hier S. 27. Spanke stellt die Konstruktionsstrukturen am Beispiel von Arbeiten der Fotografen Bernd und Hilla Becher und Axel Hütte dar.

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Gerätschaften, die jeweils für einen Teilbereich der zunächst unüberschaubaren Technik verantwortlich sind. Hinzu kommt eine Strukturierung des Bildes durch die Architektur. Der erhöhte Betrachterstandpunkt gibt den Blick frei in eine perspektivisch verkürzte Halle. Die kassettenförmig angeordnete Deckenbeleuchtung und die Tischreihen leiten einerseits in das Rauminnere, verleihen der Fotografie andererseits eine horizontale Ordnung. Dagegen setzen herabhängende Kabel und Betonsäulen vertikale Akzente. Diese netzartige Struktur erzeugt zusammen mit den herausstechenden Farbbetonungen in Rot, Blau und Gelb eine konstruktive oder konstruierte Bildwahrnehmung. Das Auge reduziert die irritierenden Reize zunächst auf formale Strukturen, um in einem zweiten Schritt die Motivgegebenheiten inhaltlich zu analysieren. Eine ähnliche Raumkomposition zeigt ‚Nürnberg, Grundig‘ von 1993 (169 x 204 cm). Hier strukturiert ebenfalls die perspektivische Verkürzung der Architektur die bildnerische Aufnahmesituation. Die parallel angeordneten Arbeitstische und die Kassetten bildende Beleuchtung führen in das Rauminnere an die rückwärtige Wand. Während die horizontale Gliederung klar zu erkennen ist, liegen kaum Akzente auf einer vertikalen Unterbrechung, wodurch der Raum weniger diffus erscheint. Die Arbeitsplätze sind nur im Hintergrund von Menschen besetzt, das technische Arbeitsgerät dominiert, so dass die Anonymität und Verlorenheit der einzelnen Personen noch verstärkt werden. Gurskys Blicke in die Produktionshallen und auf technische Anlagen erinnern an die sogenannten „Standardformen der Architekturphotographie“2, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeführt wurden. Diese fotografischen Techniken wurden als Kanon sachlicher und zweckgebundener Architekturfotografie in Mustermappen, Bildbänden und Zeitschriften veröffentlicht.3 Im Falle betrieblicher Innenräume stand

2 Derenthal, Ludger: Skeptische Architekturphotographie. In: Steinhauser 2000, S. 19-28, hier S. 22. 3 Vgl. ebd. Vgl. dazu Sachsse, Rolf: Bild und Bau. Zur Nutzung technischer Medien beim Entwerfen von Architektur. Braunschweig, Wiesbaden 1997. (Bauwelt Fundamente 113), bes. S. 69-77.

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„die Darstellung konstruktiver Lösungen und fertigungstechnischer Abläufe im Vordergrund. Daraus resultiert eine Konzentration einerseits auf Details wie andererseits auf die großen Abmessungen und Spannweiten der Hallen und Konstruktionen.“4

Tatsächlich entsprechen die gewerblich-funktionalen Aufnahmen dem Bildfindungsprozess Gurskys nicht: Für sein bildnerisches Ziel bedurfte es mehrerer Aufnahmen in diversen Unternehmen, da nur die wenigsten mit seinen Vorstellungen von modernen Produktionsstrukturen übereinstimmten. Die vorgefundene Realität sah stets altmodischer aus, als es die Werbung oder das Produkt selbst suggerierten. Dieses thematische Aufsuchen und Beobachten mehrerer Produktionsstätten folgt einerseits noch der dokumentarischen Arbeitsweise des Lehrerehepaars Becher: einer Herangehensweise, die zu diesem Zeitpunkt notwendig war, um genau dasjenige Bild einer Fabrik zu finden, das nach Gursky alle Bilder dieses Sujets repräsentieren konnte. Andererseits definiert Gursky die Inhalte seiner dokumentarischen Fotografie neu, da sich innerhalb der Aufnahme die Spuren und Charakteristika der modernen Industriegesellschaft komprimieren sollten, so dass sich für den Betrachter die Möglichkeit der Reflexion ergab. Dabei stellte sich heraus, dass den Aufnahmen eine künstliche Struktur auferlegt werden musste, um ein zeitgemäßes und verdichtetes Bild hervorzubringen.5 Gurskys Vorgehen entspricht damit einer Auffassung Bertolt Brechts, der sich 1931 zu den Abbildern industrieller Kultur äußert: „Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache ‹Wiedergabe der Realität› etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr

4 Derenthal 2000, S. 22. 5 Vgl. Gursky, Andreas in Bürgi 1992a, S. 6f. Vgl. auch Gursky, Andreas in Görner 1998, S. V. „Spätestens nach dieser Erfahrung wurde mir klar, daß man Fotografien nicht mehr glauben kann, und es fiel mir um so leichter die digitale Bildverarbeitung als legitim zu erachten.“ Ebd.

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heraus. Es ist also tatsächlich ‹etwas aufzubauen›, etwas ‹Künstliches›, ‹Gestelltes›. Es ist also ebenso tatsächlich Kunst nötig.“6

Diese künstliche Struktur entsteht bei Gursky durch die Wahl des Kamerastandpunktes und dürfte durch den Einsatz einer hohen Brennweite, deren optischer Effekt die Komprimierung der Motivebenen ist, noch verstärkt werden: Bei ‚Siemens‘ und ‚Grundig‘ z.B. führt der Blick von schräg oben in das Bild hinein. Auf diese Weise werden der Raum durch die Kamera neu definiert, der Ausschnitt und die Perspektive des Betrachters auf diesen Raum festgelegt und vorgegeben, wodurch die abgebildeten Objekte eine spezifische Ausrichtung erfahren. Der Raum verändert sich zusätzlich, wenn, wie im Diptychon ‚Schiesser‘ (1991, je 110 x 140 cm), ein Aufnahmestandpunkt frontal zu den Tischen eingenommen wird und so die horizontale Gliederung intensiviert. Die zum Teil mit Stoffbahnen belegten Tische führen streifenförmig in das Bildinnere und scheinen im Hintergrund mit der Bandbeleuchtung zu verschmelzen. Dadurch kippt die horizontale Struktur in die Fläche und erzeugt durch ihre Schichtung eine stärkere Formalisierung der Konstruktion, so dass der Betrachter weitergehend vom Gegenstand abstrahieren kann und ein Gefüge aus Formen und Linien wahrnimmt. ‚Rastatt, Mercedes‘ von 1993 (165 x 200 cm) zeigt eine noch stärkere Verschmelzung der Ebenen: Das Deckengerüst scheint sich mit der Hängevorrichtung der Autofertigung zu verzahnen, während die aufgebockten Autos durch letztere überschnitten werden und damit in den Hintergrund treten. Lediglich das im Vordergrund hervortretende Auto zieht den Blick auf sich und ermöglicht eine Identifizierung des Ortes. Nur vereinzelt und unscheinbar können arbeitende Personen im Geflecht der Technik ausgemacht werden. Die farbliche Raumkongruenz in Gelb, Grün und Weiß unterstreicht die Einheit des Raumes. Gursky entspricht in seinem Bildfindungsprozess insofern einer dokumentarischen Methode, als er sich „[...] auf ein gegenüber der tradierten Bildauffassung modifiziertes Verhältnis zum optisch Vorgefundenen [bezieht]: es handelt sich hier eher um eine auf in-

6 Brecht, Bertolt in: Bertolt Brecht. Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 18, Frankfurt am Main 1967, S. 161f.

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tuitiver Tätigkeit zwischen Rekonstruktion des Vorgefundenen und Andeutung des Gesehenen gründenden als ‚konstruktiv‘ zu bezeichnenden Objektivität“7.

Gurskys inhaltliche Vorgehensweise kann als die bewusste Suche nach einem Bild verstanden werden, das Phänomene unserer sozialen, kulturellen oder technischen Gegenwart als universale und überindividuelle Dimensionen erfahrbar machen soll. Die einzelne Industrieaufnahme „thematisiert das Universale, indem sie sich dem Banalen, dem Unspektakulären und Alltäglichen zuwendet. Sie universalisiert das Ästhetische durch Transkription der vorgefundenen Dinge in ästhetische Zeichen“8. Auf diese Weise wird eine Bedeutungsebene herausgebildet, die nicht allein die Produktionsabläufe in einer konkreten Industrieanlage zeigt, sondern vielmehr in universaler Zeichenfunktion das Wesen einer Gesellschaft im technisch-industriellen Zeitalter, in der ein unmittelbar von Menschen geprägter Fertigungsprozess längst überholt ist. „In der Technik kommt alles darauf an, den Sonderfall systematisch auszuschließen. Ihr störungsfreier Betrieb ist auf Erwartbarkeit und Berechenbarkeit, auf strikte Wiederholung und akkurate Gleichartigkeit aller ihrer Prozesse und Subprozesse angewiesen. Jedes singuläre Ereignis ist in ihrem Funktionszusammenhang ein krisenhafter Störfall, signalisiert technisches Versagen.“9 Diese Entindividualisierung und die Obsoletheit der menschlichen Kommunikation in einer Fabrik hatte bereits Georg Simmel beschrieben: „Hier erst, wo man unzählige sah, ohne sie zu hören, vollzog sich jene hohe Abstraktion dessen, was all diesen gemein ist und was von all dem Individuellen, Konkreten, Variablen, wie das Ohr es uns vermittelt, in seiner Entwicklung oft gehemmt wird.“10 Auch die radikale Diagnose eines

7 Pfingsten, Claus: Zur Geschichte der Dokumentarphotographie. In: Breuer 1997, S. 12-24, hier S. 23f. Pfingsten stellt dies allgemein für die BecherSchüler gegenüber ihren Lehrern und den vorangegangenen Vertretern der Neuen Sachlichkeit fest. 8 Ebd., S. 24. 9 Gronemeyer, Marianne: Immer wieder neu oder ewig das Gleiche. Innovationsfieber und Wiederholungswahn. Darmstadt 2000, S. 99. 10 Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin 1908, 1. Aufl., S. 483-493. Zitiert nach Konau, Elisabeth: Raum und soziales Handeln. Studien zu einer vernachläßigten Dimension soziologischer Theoriebildung. Stuttgart 1977, S. 127.

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Günther Anders, der in der industriellen Produktion die Menschenwelt nur noch als ein von expansionistischen Maschinen unterworfenes „mit-maschinelles“ Kolonialreich ansah11, rückt beim Betrachten von Gurskys Industrieaufnahmen ins Bewusstsein. Das auf der formalen Ebene festgestellte Konstrukt findet also auch auf inhaltlicher Ebene seine Entsprechung. Dem Fotografen bzw. dem Betrachter kommt im Gegensatz zu den arbeitenden Personen in ‚Siemens‘ und ‚Grundig‘ das Privileg des Überblickenden zu. Die Fotografie gibt ihm die Zeit für einen ordnenden ‚zweiten Blick‘. Die „technischen Fließräume“ – wie Heidenreich schreibt – haben sich nun im doppelten Sinne in den Innenraum verlagert, und Bürgi erläutert: „Die Anwesenheit des Menschen ist überlagert von den Strukturen der von ihm geschaffenen Umwelt.“12 Diese metaphorische Feststellung trifft bei Gursky sogar im Wortsinn zu: Der arbeitende Mensch wird von den Gerätschaften der Fabriken überlagert. Die technische Fülle ist Signum eines in sich geschlossenen Produktionssystems, das den Menschen nur noch als ein untergeordnetes, wenn auch kontrollierendes Glied der Maschinerie vorsieht.13 Heynen merkt dazu an, dass sich der Gedanke der Geschlossenheit auf die gesamte Produktionsstätte übertrage, da diese durch weitreichende Sicherheitsbestimmungen von der äußeren Welt abgeschlossen sei. Andererseits trete ein offenes System in Erscheinung, denn die abgebildete motivische Situation lasse sich optisch weiterführen, obwohl Gurskys distanzwahrender und registrierender Aufnahmestandpunkt sowie visuelle Begrenzungen im Vordergrund beschränkend auf die Weite des Raumes wirken.14 In den besprochenen Aufnahmen zeigen sich bereits eine Übertragung und eine Intensivierung der von Gursky in den frühen Fotografien eingesetzten Stilmittel. Der vom Außenraum auf den Innenraum wechselnde Überblick verlagert sich von der topographischen Weite auf eine im Ausschnitt vorhandene komprimierte Weltgegend. Zum Ausdruck gelangt kein spezifischer Industriestandort, sondern das industri-

11 Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. München 1980, S. 62. 12 Bürgi, Bernhard in: Bürgi 1992a, S. 6. 13 Vgl. ebd., S. 10. 14 Vgl. Heynen 1992, o.S.

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elle System, das alle Produktionsstätten umfasst. Auf formaler Ebene verstärkt Gursky in den Fotografien die horizontale Bildgliederung, die er in der horizontalen Landschaftsfotografie bereits erprobt hatte. Räumliche Perspektive ist zwar vorhanden, doch werden durch die architektonischen Raumvorgaben und die farblichen Akzentuierungen Raum und Fläche einander angenähert. Die zum Teil vertikalen Bildelemente tragen zur strukturellen Vernetzung und Aufhebung der Raumtiefe bei. Der Betrachter sieht in diesem Flächengerüst das Wirkprinzip einer ordnenden Kraft, welche die Vielzahl der abgebildeten Gegenstände vereint und diese wiederum optisch in den Hintergrund drängt. Es bildet sich eine – von Gursky später selbst so bezeichnete – „Makrostruktur“15 heraus, die raumillusionistische Kriterien in den Hintergrund treten lässt. Die Makrostruktur ist hier gleichzusetzen mit der Hinführung der Werke „in ein ästhetisch verdichtetes System, welches sich aus der Strukturierung der Bildelemente sowie einer strengen Formalisierung der Farben und Flächen ergibt“16. Dieser Kommentar Gurskys kündigt bereits 1992 eine neue Bildkategorie an, obwohl zu diesem Zeitpunkt erst wenige Arbeiten dieser Richtung existieren. Im Vordergrund der visuellen Wahrnehmung steht das Konstrukt des linearen Bildgerüstes als extrahiertes Erscheinungsbild von Form und Farbe. In der sogenannten „Mikrostruktur“17 hingegen werden Zustände bzw. Erscheinungsformen der uns umgebenden Welt und des darin lebenden Menschen dargelegt.18 Aufgrund der abbildenden Eigenschaft des fotografischen Mediums ist der Schritt zur Wahrnehmung abstrahierender Bildprozesse größer als in der Malerei. Die Fotografie muss komponiert sein bzw. das Konstrukt der Strukturen muss in der Wirklichkeit erst gesucht und gefunden werden, damit der Betrachter vom Menschen oder vom Gegenstand im Bild absehen kann. Das Netz, das

15 „Auf der formalen Ebene erscheint ein Geflecht von unzähligen aufeinander bezogenen Mikro- und Makrostrukturen, welches von einer ganzheitlichen Organisation bestimmt wird. Ein in sich geschlossener Mikrokosmos, der es dem Betrachter aufgrund der distanzierten Betrachtungsweise erlaubt, die Schnitt-stellen, an denen ein System zusammengehalten wird, zu erkennen.“ Gursky, Andreas: in: Görner 1998, S. V. Vgl. auch Irrek 1995a, S. 7. 16 Gursky, Andreas: in: Bürgi 1992a, S. 4. 17 Vgl. Anm. 15. 18 Vgl. Gursky, Andreas: in: Bürgi 1992a, S. 4.

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zwischen Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit vermittelt, beruht bereits in diesen Bildern auf rhythmischen Formwiederholungen, erzeugt durch die Anordnung der Tische, Kassetten oder Kabelrollen. Ihr semantisches Äquivalent liegt in der bereits erwähnten technischindustriellen Wiederholung der Produktionsprozesse. Wurde in den Industrieaufnahmen der Ort der Produkterzeugung dargestellt, so verweisen die Aufnahmen ‚99 Cent‘, 1999 (207 x 337 cm) und ‚99 Cent II‘, 2001 (Diptychon, je 207 x 341 cm) auf den Produktverkauf. Gursky greift erneut die Netz-Konstruktion der vorangegangenen Arbeiten auf: Aus erhöhter Position erschließt sich dem Betrachter die bildparallele und kleinteilige Strukturierung eines Supermarkt-Raumes. In stringenter Horizontalität staffeln sich in allen drei Aufnahmen die Warenregale bis in den Hintergrund und verschmelzen schließlich optisch mit der Deckenkonstruktion, in der sich das Warensortiment blass widerspiegelt. Eine Trennung der Zonen bildet der Wandstreifen im Hintergrund, der in großen Lettern mit Werbeslogan wie ‚99 Thanks..!‘ oder ‚99 C only‘ versehen ist. Die Angabe ‚99‘ wiederholt sich schließlich systematisch in Rot, um die Ware preislich auszuzeichnen und den Kunden zum Kauf zu verführen. Verlockend erscheint ebenfalls die Anordnung des Sortiments, das im ersten Augenblick ein vielfältiges Warenangebot suggeriert. Doch der Schein trügt, da in den Regalreihen dieselben Produkte über mehrere Regalböden angeordnet sind, wodurch die Angebotsvielfalt als Illusion entlarvt wird. Dennoch bleibt der Eindruck einer schillerndbonbonfarbigen Warenwelt, deren Grenzenlosigkeit durch die (von Gursky vermutlich digital hervorgerufene) Deckenspiegelung unterstrichen wird. Der formale Unterschied zu den Industrieaufnahmen liegt in der stärkeren Verschmelzung der Bildelemente, bewirkt durch den kleinteiligeren, gleichmäßigeren und intensivierten Wiederholungsrhythmus der angeordneten Produkte und deren farbliche Akzentuierung. Den Aufnahmen gemeinsam ist das homogene Gesamtbild, ein funktionales und zugleich ästhetisch anmutendes Gefüge. In den Bildformen ‚Herstellung‘ und ‚Konsum‘ kristallisiert sich bereits das „Phänomen der Fülle“19 heraus, das eben nicht nur eine formale Qualität besitzt, sondern nach Gursky auch eine Tendenz unserer

19 Gursky, Andreas in: Bürgi 1992a, S. 7.

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Zivilisation widerspiegelt – nämlich „Fülle mit Wahrheit und Allgemeingültigkeit“20 gleichzusetzen. Die Sehnsucht nach einem Leben in stets sich erneuernder Fülle – z.B. von Produkten und Angeboten – entspringt dem Werte- und Funktionskonzept der kapitalistischen Industriegesellschaft. Das als unendlich wahrgenommene Produktangebot muss Bedürfnisse erzeugen – weil die existenziellen längst befriedigt sind – und einen Konsum bedienen, der im Überfluss der Waren zum Selbstzweck geworden ist. Die Innenräume sind im Gegensatz zum ausgedehnten Außenraum künstlich erzeugte Räume, die durch eine ganz konkrete Zweck- und Funktionsbestimmung charakterisiert werden. Der singuläre Vorgang der Produktion oder des Verkaufs tritt visuell in den Hintergrund bzw. wird ausgespart, damit die allem übergeordnete ökonomische Motorik an Erscheinung gewinnt. Vor diesem Hintergrund – der in den folgenden Kapiteln noch vertieft wird – können die formalen und inhaltlichen Kriterien dieser Aufnahmen die Wahrnehmung und Reflexion gesellschaftlicher Manifestationen in die Wege leiten und bedienen.

2.1.2 Konstruktion Außenarchitektur Das Prinzip der rhythmischen Gliederung und das Moment der Wiederholung wendet Gursky ebenfalls in Aufnahmen an, die außenarchitektonische Konstruktionen in den Blick nehmen. Auch das bildnerische System der Mikro- und Makrostruktur wird weiter verstärkt. In ‚Paris, Montparnasse‘ von 1993 (156 x 300 cm) wird der Blick zunächst frontal auf die Fassade des Wohngebäudes gelenkt. Während das Gebäude in der Breite das gesamte Bildformat einnimmt, wird es nach oben durch eine Himmelszone bzw. nach unten durch einen bepflanzten Grünstreifen abgeschlossen. Dies bewirkt eine horizontale Dreiteilung mit der Dominanzzone des Wohnblocks. Das Gebäude an sich erfährt aufgrund der seriellen Anordnung der Fensterzonen eine Strukturierung in der Horizontalen, die in Korrespondenz zu den vertikalen Fensterläufen steht. Der zunächst auf Distanz gehaltene Betrachter nimmt die Konstruktion einer gitterartigen Struktur wahr, aus der die Fenster als quadratische und zum Teil farbige Felder hervorgehen, so dass eine räumliche Wahrnehmung unterbunden wird. Das Heran20 Ebd.

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treten an die Fotoarbeit macht die extreme Tiefenschärfe deutlich, die allen Bildern Gurskys eigen ist. In diesem Fall überrascht das nahe Herantreten besonders, da ein voyeuristischer Blick durch die Fenster in die dahinter liegenden Wohnräume ermöglicht wird. So zeigt sich zunächst, dass die geschlossenen und geöffneten Gardinen und Rollos den farbigen Rhythmus der Makrostruktur erzeugen. Dem tieferen Blick öffnet sich hingegen die präzise Kleinteiligkeit der Mikrostruktur: Betten und Schränke, am Fenster stehende Personen bis hin zu Staffeleien und diversen Einrichtungsgegenständen in den Wohnräumen. Die hier vom Fotograf gewählte Bildgröße von drei Metern in der Breite bewirkt, dass der Betrachter regelrecht in die Welten der Bewohner eindringt. Die Klarheit der Architektur wird im fotografischen Abbild dadurch verstärkt, dass Gursky einen erhöhten Standpunkt wählt, den Passanten oder Betrachter vor dem Gebäude auf ebener Erde nicht einnehmen können.21 Durch die Begrenztheit des menschlichen Blickfeldes ist es auch unmöglich, die Fassade in ihrer gesamten Ausdehnung zu erfassen; dies kann allein die manipulierte Fotografie leisten: Gursky fertigte zwei Aufnahmen an und fügte sie später digital zusammen.22 Dies bedeutet mithin auch zwei Fluchtpunkte, d.h. zwei frontale Standpunkte, durch die überhaupt der Einblick in alle Räume gleichermaßen ermöglicht wird. Mit der komprimierten Darstellung des Gebäudes in einer Aufnahme, der horizontalen Gliederung der Gesamtbildanlage und der horizontal-vertikalen Struktur der Fensterreihen verfügt die Fotografie in der Makrostruktur über eine minimalistische bzw. geometrisierte Formensprache. Die distanzierte Betrachtung des Bildes verwandelt das gegenständliche Abbild in eine modulare Struktur, in einen Rhythmus aus Form und Farbe. Das für die Innenraumaufnahmen festgestellte Kompositionsmerkmal der Konstruktion wird durch die Annäherung der räumlichen Ebenen zu einer gleichmäßigen Musterebene, zu einem geometrisch-linearen Ornament erwei-

21 Vgl. Irrek 1995a, S. 13. 22 Im übertragenen Sinne erscheint diese Zweiteilung kongruent mit der zweigeteilten Verwaltung des Gebäudes. Während eine Verwaltungsgesellschaft ihre Blockhälfte bereits saniert hat, so dass der Glanz des Metalls wieder in Erscheinung treten kann, zeigt sich die linke Fassadenhälfte in einem verschmutzten und verwahrlosten Zustand. Vgl. ebd., S. 14.

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tert. Dieses wird zum ästhetisch vordergründigen Moment, das alles Reale zweitrangig erscheinen lässt. Gurskys eigene Bildästhetik wird im Vergleich mit der Architekturfotografie von Thomas Struth und Thomas Ruff deutlich. Beide Fotografen gehörten wie Gursky der Fotografieklasse von Bernd und Hilla Becher in Düsseldorf an: Struth der ersten und Ruff der zweiten Akademiegeneration. Struth gelangte über seine ‚Straßenfotografien‘ der 70er-Jahre zu Aufnahmen, in deren Zentrum das architektonische Gebäude steht. 1985 fotografierte er ‚Am Kreuzacker, Duisburg‘ 23 die geschlossene Fassade eines Segmentes von Reihenhäusern in Schwarzweiß. Wie bei Gursky verläuft die Fassade über die gesamte Bildbreite und ist zu den Seiten hin angeschnitten. Die Aufnahme lässt ebenso eine Dreiteilung in Himmel, Gebäude und Grünanlage zu, doch rückt Struth die Fassade aus der Frontalansicht heraus in einen leicht diagonalen Blickwinkel. Die kargen und heruntergekommenen Vorgärten nehmen deutlich mehr Raum ein als der Grünstreifen bei Gursky. Beide Bildfaktoren bewirken in Verbindung mit dem kleineren Bildformat eine Beschreibung der Architektur im städtegeographischen Umfeld. Während Gursky die Architektur monumentalisiert und in der Makrostruktur auf Farben, Flächen und Linienstrukturen reduziert bzw. formalisiert, erhält das Haus bei Struth einen Umgebungszusammenhang. Gursky ästhetisiert vordergründig die Vielzahl der Fenster und die dahinter befindlichen Personen, während Struth mit trostlosen Gärten und graphischen Spuren der Fassadenrisse unmittelbar auf die Atmosphäre der gezeigten Wohnsituation und den Bezug des Menschen dazu verweist.24 Struths Aufnahme ‚Le Lignon, Genf‘25 von 1989 scheint der Ästhetik von ‚Montparnasse‘ zunächst mehr zu entsprechen. Die in Ras-

23 Thomas Struth, Am Kreuzacker, Duisburg, 1985. Schwarz-Weiß-Fotografie, 34 x 48 cm. Besitz des Künstlers. Abb. in: Thomas Struth. Straßen. Fotografie 1976 bis 1995. Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bonn. Köln 1995, S. 79. 24 Vgl. hinsichtlich des soziologischen Ansatzes Struths: Benjamin H.D. Buchloh: Interview between B.H.D.B. and Thomas Struth. Paris, 30 Vieille du Temple 6/30 and 7/1/90. In: Thomas Struth. Portraits. Ausst.-Kat. Marian Goodman Gallery New York 1990, S. 29-40, hier S. 32. 25 Thomas Struth, Le Lignon, Genf, 1989. Schwarz-Weiß-Silbergelatineabzug, 56 x 44 cm. Besitz des Künstlers. Abb. in: Struth 1995, S. 83.

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ter gegliederte Fassade eines Gebäudekomplexes in Genf schiebt sich in einer Diagonalen von rechts in die Tiefe der Aufnahme. Der monumentale Baukörper dominiert die gesamte Bildsituation: Er bestimmt die Blickrichtung des Betrachters und versperrt ihm zugleich die Sicht auf den Horizont. Das Gebäudeumfeld mit Grünanlagen und Treppenläufen wird zur Nebensache. Während die Treppen der Physiognomie des Terrains noch entsprechen, scheint die Architektur in den Hügel einzudringen. Struth reflektiert eine Architektur, die weder den Maßstäben menschenwürdiger Wohnverhältnisse gerecht wird, noch sich in die natürlichen Gegebenheiten des Grundstücks einfügt.26 Im Gegensatz zu ‚Montparnasse‘ stehen in ‚Le Lignon, Genf‘ die Anonymität und die schmucklose Realität der Fassade sowie der auf dem Reißbrett entstandene Wohnungsbau im Vordergrund. Struth wählt dafür nicht die monumentale Wirkung einer Frontalsicht – diese würde auch das kleine Bildformat konterkarieren –, sondern eine Gebäudeflucht, so dass der Blick trotz der Rastergliederung von der eintönigen Fassade abgleitet und dynamisch in die Tiefe gezogen wird.27 Gursky hingegen bannt den Betrachter sowohl mit einer einzigen gewaltigen Gesamtstruktur als auch mit jedem einzelnen Fenster. Erst auf einer zweiten Ebene werden ‚Anonymität und Masse‘ thematisiert. Beide Fotografen agieren auf unterschiedliche Weise mit der Wirklichkeit; beide allerdings verändern den Blick der Dokumentarfotografie bzw. die Referentialität des Mediums, um „Wirklichkeit im Bild zu verdichten“ und „eine durch gestalterische Strategien geschärfte Interpretation der Realität zu liefern“.28 Wie in seinen Straßenfotografien richtet Struth seinen Blick auf das scheinbar Unbedeutende und Nebensächliche, um darin das für ihn Bedeutsame und Wesentliche zu finden. Liegt der Reiz in Aufnahmen von bekannten Gebäuden häufig im Effekt der Wiedererkennung, so ist Struths Ziel die Visualisierung von banalen Objekten im bewussten

26 Vgl. Schreier, Christoph: Veduten des Alltags. In: Struth 1995, S. 9-19, hier S. 14. 27 Vgl. Gronert, Stefan: ‚Die Sprache der Fotos‘ Marginalien zur Gestaltungsweise der Fotografien von Thomas Struth. In: Struth 1995, S. 20-26, hier S. 24. 28 Schreier 1995, S. 18. Die Feststellung Schreiers trifft auf Gursky gleichermaßen zu.

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Sehen.29 Die Ästhetik der Fotografie, hervorgerufen durch Bildschärfe, Wahl des Bildausschnittes etc., bindet die Aufmerksamkeit an das Banale. Thomas Ruff hat 1981 mit der Porträtfotografie begonnen und sich erst seit 1987 mit der Architekturfotografie beschäftigt. Es entsteht die Serie ‚Häuser‘30 (1987-1991): In der Aufnahme ‚Haus Nr. 3 I‘ von 1988 (183 x 239 cm) wählt Ruff, wie Gursky in ‚Montparnasse‘, den frontalen Blick auf die Gebäudefassade und ihren Verlauf über die gesamte Bildbreite. Eine strenge horizontale Gliederung in drei Zonen zeichnet die Fotografie aus. Um stets eine ungestörte Sicht auf das Motiv zu erhalten, greift Ruff auch zur digitalen Retusche31 und entfernt irritierende Motivelemente: Kein Busch oder Baum unterbricht den schmalen Wiesenbereich, kein angelehntes Fahrrad oder geöffnetes Fenster stört die breite Architekturzone, keine Wolke und kein Vogel erscheint am schmalen hell-grauen Himmel. Ruffs bildnerisches Interesse liegt nicht wie bei Struth im atmosphärischen Beziehungsgeflecht ‚Mensch – Architektur – Stadt‘ und auch nicht wie bei Gursky im Wechsel zwischen Mikro- und Makrostruktur. Vielmehr befreit er die großformatigen Fotografien von räumlicher Bildwirkung, so dass es zu einer „Entkörperlichung des Bildgegenstandes“32 kommt und der Blick an der ausgedehnten Oberfläche der Architektur haften bleibt.33 Pfab erläutert, dass es Ruff um eine Art „Architekturkritik“ gehe, denn interessant seien eben „nicht die prominenten Gebäude, sondern einfache, bisweilen einfallslose Fassadengestaltungen, die auf ein schlichtes

29 Vgl. Ronte, Dieter: Vorwort in: Struth 1995, S. 7-8, hier S. 7. 30 Die Serie Häuser ist zwischen 1987 und 1991 entstanden. Für alle Aufnahmen gilt: chromogener Farbabzug mit Diasec Face kaschiert, Holzrahmen. Maßangaben mit Rahmen, Aufl. 4 + 2 AP, mit Bleistift verso signiert, datiert und nummeriert. Fotografiert mit einer Plattenkamera, Negativformat 4 x 5 inch. Vgl. Liebermann, Valeria: Kommentiertes Verzeichnis aller Werke seit 1979. In: Winzen, Matthias (Hrsg.): Thomas Ruff. Fotografien 1979 – heute. Ausst.-Kat. Staatliche Kunsthalle Baden-Baden; Tate Liverpool. Köln 2001, S. 191-192 (Serie Häuser). 31 Filmkommentar zu Thomas Ruff in: Gursky 1997/1999. 32 Claser, Sonja: Photographie parallel zur Architektur. Interieurs und Häuser im Werk von Thomas Ruff. In: Steinhauser 2000, S. 101-105, hier S. 103. 33 Vgl. Pfab 2001, S. 95.

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bürgerliches Milieu ihrer Bewohner schließen lassen“.34 Im Gespräch mit Michael Cosar erklärte der Künstler, dass es sich nicht um bedeutungslose Fassaden handle, sondern dass solche Gebäude die städtebauliche Geschichte der Bundesrepublik Deutschland repräsentierten, z.B. diverse architektonische Moden und das Phänomen des sozialen Wohnungsbaus.35 Nach den Ausführungen von Matthias Winzen zeigt sich bei der Betrachtung der fotografierten Häuser zunächst die „Banalität“36 als grundlegendes Merkmal. ‚Haus Nr. 3 I‘, ‚Haus Nr. 9 I‘ von 1989 (257 x 208 cm) und ‚Haus Nr. 9 II‘ von 1991 (193 x 255 cm) lassen nicht nur durchschnittliche, sondern überdies unansehnliche Gebäude erkennen, die frontal oder diagonal aufgenommen sind. Kein Detail der Fassaden bündelt die Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum, und es gilt auch für diese Aufnahmen, was Winzen für ‚Haus Nr. 7 I‘ von 1988 (237 x 188 cm) feststellt: „Sachlichkeit bedeutet in dieser Fotografie, daß in ihr kompositorisch (d.h. durch Aufnahmewinkel und anschließenden Bildbeschnitt) kein imaginierendes Überschreiten oder, durch andere Bildsignale, kein genreartiges oder anekdotisches Schlupfloch zum assoziativen Abschweifen, gar ins Utopische, angelegt ist.“37

Ruff sucht nicht systematisch nach seinen Motiven, sondern fotografiert lediglich im Umkreis seines Düsseldorfer Ateliers jene Gebäude der fünfziger bis siebziger Jahre, die ihm in der Architekturgestaltung auffallen. Entsprechend handelt es sich nicht wie bei seinen Lehrern Bernd und Hilla Becher um eine typologisch-systematische Dokumentation von Gebäuden, sondern eben um das allgemeine Bild banaler Architektur. Der Entschluss, die Häuser mit einer fortlaufenden Se-

34 Ebd. Eine „[p]ersönliche Mitteilung von Thomas Ruff in seinem Düsseldorfer Atelier am 21. Mai 1997“ an R. Pfab. Ebd., S. 161. 35 Vgl. Ruff, Thomas, im Gespräch mit Cosar, Michael: Freie Sicht auf das Objekt. In: Risz. 2, August 1994, H. 6, S. 14-16, hier S. 16. Hier nach Claser 2000, S. 103. 36 Winzen, Matthias: Glaubwürdige Erfindung von Realität. Zu Thomas Ruffs präzisen Wiedergaben unserer Phantasien von Wirklichkeit. In: Winzen 2001, S. 131-159, hier S. 135. 37 Ebd., S. 136.

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riennummer zu bezeichnen und auf einen Titel zu verzichten, der die Örtlichkeit des fotografierten Objektes spezifizieren würde, unterstreicht die Universalität der Aufnahmen.38 Die Arbeitsweise Ruffs ist dabei durchaus von den Methoden seiner Lehrer geprägt. So tätigte er seine Aufnahmen morgens in der Frühe im Zeitraum von Januar bis März, um eine ungestörte fotografische Situation und einen für diese Jahreszeit typischen gleichmäßig grauen Himmel als Hintergrund zu erhalten.39 Ruffs Häuser-Fotografien sind von Bildern aus Architekturbüchern der 50er- bis 70er-Jahre, von Ansichten auf Postkarten und Zeitungsbildern beeinflusst. Damit sind Bilder umrissen, die häufig keinen Bezug mehr zum ursprünglich fotografierten Ort besitzen und sich in das kollektive Bildgedächtnis eingeschrieben haben. Winzen erläutert dazu: „Und so ist [in Haus Nr. 7 I, Erläuterung d. Verf.] das Bild selbst der eigentliche Ort, an dem sich der Anblick ereignet; der abgebildete Ort verschwindet hinter seiner Abbildung, bzw. er verschwindet ob seiner Konturlosigkeit in der großen Zahl ähnlich abbildbarer Straßenzüge, von denen die Fotografie von Ruff, selbst keineswegs belanglos, das Bild eines durchaus prägenden, allgemeinen Eindrucks von Stadtumgebung in den achtziger Jahren gibt.“40

Ruffs Häuser sind so durch Banalität und Anonymität gekennzeichnet, doch stehen sie als historisches Signum für eine bestimmte Epoche mit einem bestimmten Baustil. Ruff betreibt also keine dokumentarische Fotografie, sondern produziert das „exemplarisch[e]“41 Foto. Bewirken bei Gursky die visuell verdichteten horizontalen und vertikalen Strukturen der Fassaden sowie der technizistisch-intensive farbliche Einsatz ein öffnendes Seherlebnis, so vermitteln die Bilder Ruffs den Eindruck, mit diesem Ausschnitt oder Blickwinkel genug gesehen zu haben. Die dominanten Horizontalen der Balkone in ‚Haus Nr. 9 I‘, der dreigeteilte Bildausschnitt in ‚Haus Nr. 3 I‘ und die rotweiße Fassadengliederung in ‚Haus Nr. 9 II‘ böten sich zwar für die Herausbildung von Konstruktionen und Geometrien an, doch leitet

38 Vgl. Winzen 2001a, S. 136f. 39 Vgl. Liebermann 2001, S. 191. 40 Winzen 2001a, S. 137f. 41 Claser 2000, S. 102.

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Ruff daraus nicht das ästhetisch Besondere ab – so wie es bei Gursky zu finden ist –, sondern exponiert in der Gesamterscheinung und in der trostlosen Farbigkeit das Unbedeutende der Architektur. Während in Ruffs Fotografie der Mensch hinter der Fassade des Zeitgeschmacks zurücktritt – wobei die Oberfläche aber nicht zu einer homogenen abstrakten Form transformiert42 – und bei Struth die situative Atmosphäre eine Rolle spielt, abstrahiert und verdichtet Gursky den Gegenstand in der Makrostruktur und versieht ihn mit einer eigenständigen Aura. In der Mikrostruktur interessiert er sich hingegen für das Individuum43, obwohl zugleich dessen personale Auflösung und Entgrenzung in der Masse impliziert ist. Gursky vermittelt schließlich in der Mikrostruktur eine räumliche Komponente, während er in der Makrostruktur die Architektur zu Oberfläche werden lässt. Zwischen den eigentlichen Ort bzw. den architektonischen Raum und den Betrachter schiebt sich das Bild einer Fassade. Es handelt sich um eine mediale Vermittlung von Architektur, die der Wahrnehmung von Urbanität in der heutigen Gesellschaft entspricht. Nach Ruffs Überzeugung kann eine Fotografie nichts Anderes als Oberflächen abbilden; eine Auffassung, die der Fotograf bereits in der Serie ‚Porträt‘ vermittelt, in der keine abgebildete Figur als spezifische oder interpretierte Persönlichkeit in Erscheinung tritt.44 Auch in der Häuser-Serie täuscht Ruff den Betrachter durch technische Perfektion

42 Vgl. ebd., S. 103. 43 Vgl. Marzona, Daniela: Struktur und Detail. Zu den neueren Architekturphotographien von Andreas Gursky. In: Steinhauser 2000, S. 80-85, hier S. 81. 44 Vgl. Winzen 2001a, S. 138. Winzen zitiert dort Ruff: „Ich glaube nicht, daß ich eine Persönlichkeit in meinen Porträts darstellen kann. Wie würden sie aussehen? Ich habe auch kein Interesse, meine Interpretation einer Person/eines Menschen abzulichten. Es geht vielleicht eher um meine Idee von Fotografie, die in diesen Porträts sichtbar wird. Ich gehe davon aus, daß die Fotografie nur die Oberfläche der Dinge abbilden kann. Ebenso beim Porträt. Deshalb fotografiere ich meine Personen, wie ich eine Gipsbüste fotografieren würde.“ Ruff, Thomas in: Marie Luise Syring, Christiane Vielhaber: Ein Gespräch mit Thomas Ruff. In: BiNationale. Deutsche Kunst der späten 80er Jahre. Ausst.-Kat. Kunstverein, Kunsthalle und Kunstsammlung NRW Düsseldorf, Museum of Fine Arts Boston. Köln 1988, S. 260263, hier S. 261.

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und großes Bildformat mit optisch scheinbar attraktiven Aufnahmen. Der Blick aus der Nähe liefert jedoch keine besondere Sicht- oder Bedeutungstiefe, sondern gleitet an der Gebäude- bzw. Bildoberfläche ab.45 Gurskys Aufnahme ‚Montparnasse‘ hingegen löst die in der Makrostruktur durch Großformat, Formen, Farben und Bildschärfe hervorgerufenen Attraktivität der Aufnahme auch in der Mikrostruktur ein. Ruff führt durch seine Arbeitsweise dem Betrachter unmittelbar vor Augen, dass eine Fotografie grundsätzlich nur eine Oberfläche ist, die optisch eine Fiktion von Räumlichkeit vermittelt. Das Eintauchen in die Tiefe einer Fotografie wird dabei immer von der imaginären Vorstellung des Betrachters begleitet, d.h. die Wahrnehmungserfahrung ist von individuellen Projektionen abhängig. Die Nähe der Fotografie zur Wirklichkeit liege somit nicht hinter der Oberfläche der Fotografie, sondern allein in unserer Fantasie.46 In einer Variation finden sich das homogenisierte Konstruktionsprinzip und der zweifache Betrachterstandpunkt in Gurskys Aufnahme ‚Hong Kong, Hongkong and Shanghai Bank‘ (226 x 176 cm) von 1994. Der erhöhte Betrachter schaut erneut mittig, diesmal in einer leichten Schräge, auf das sich in die Vertikale erstreckende Bankgebäude. Entsprechend verläuft das Gebäude zwischen dem oberen und dem unteren Bildrand und ist seitlich nicht an die Bildgrenzen herangeführt. Das nächtliche Dunkel lässt die hell erleuchteten, lediglich durch eine Glasscheibe von der Außenwelt getrennten Etagen hervorspringen. Der Betrachter erschließt das Gebäude aus drei Perspektiven: So nimmt er neben Frosch- und Vogelperspektive einige Etagen in Augenhöhe wahr, wodurch das Gebäude zunächst eine horizontale Dreiteilung erfährt. Diese intensiviert sich überdies durch trennende Zwischengeschosse, die sich durch wärmere Beleuchtung und eine architektonische Akzentuierung von außen hervorheben. Der distanzierte Blick nimmt in der Makrostruktur das homogene Konstrukt der Architektur von Norman Foster als ein „abstraktes Ordnungssystem“47 wahr.

45 Vgl. Winzen 2001a, S. 138. 46 Vgl. zur „Illusion“ und „Desillusion“ von Fotografien am Beispiel der Werke Ruffs ausführlicher Winzen 2001a, S. 139f. 47 Marzona 2000, S. 82.

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„Indem Gursky das hell erleuchtete Bankgebäude zugleich von der nahezu nachtschwarzen Umgebung abhebt, verstärkt er den Eindruck eines autarken, funktionalen Systems, den die Architektur auf Grund ihrer streng rationalisierten, transparenten Struktur ohnehin anbietet.“48

Dieses System setzt sich in der Ordnung der Mikrostruktur fort49, die einen Einblick in das Tagesgeschäft der Büroetagen gewährt. Noch stärker als in ‚Paris, Montparnasse‘ wird dabei die Sicht nur scheinbar auf das einzelne Individuum gelenkt. Das rigide System des Bankgeschäftes funktionalisiert die Mitarbeiter: „Raster, Stapelung und Reihung bezeichnen als formale Strukturelemente eine Arbeits- und Warenwelt, die den Menschen im Zeichen des Tauschwerts verdinglicht und marginalisiert.“50 Im Bereich der Makrostruktur erzielt Gursky in ‚Montparnasse‘ die Ästhetisierung durch das Additive der Fenster und ihre farblich divergente Akzentuierung. In ‚Hong Kong, Hongkong and Shanghai Bank‘ wird das ästhetisch formalisierte Ereignis gleichsam im Negativ vorgeführt. Wie Marzona erläutert, bewirke die Situation des Lichtes auf der zweidimensionalen Bildfläche eine Verunklärung des ursprünglichen Raumes. Parallel dazu trete das erleuchtete Gebäude skulptural in Erscheinung.51 Die Struktur des Gebäudes wird also durch das Licht von innen heraus visualisiert. In der horizontalen Gliederung und der seitlichen architektonischen Akzentuierung erinnert das Bürohaus an einen monumentalisierten Filmstreifen. Im Vergleich mit einer Aufnahme von Struth zeigt sich erneut der je eigenständige Umgang beider Fotografen mit Architektur. Struths ‚Paris, Beaugrenelle, Tour Totem‘52 von 1980 ist mit den Maßen von 74 x 52,3 cm eine im Vergleich zu ‚Hong Kong, Hongkong and Shanghai Bank‘ eher kleinformatige Arbeit. Um den gesamten Turm ins Blickfeld zu bekommen, musste Struth einen erhöhten Standpunkt wählen und zwischen zwei anderen Hochhäusern hindurch fotografieren. Diese bezog er in die Aufnahme mit ein, jeweils mit einem schmalen Gebäudestreifen zwischen oberer und unterer Bildkante. Wie ein

48 Ebd. 49 Vgl. ebd. 50 Steinhauser 2000, S. 9. 51 Vgl. Marzona 2000, S. 82. 52 Thomas Struth, Paris, Beaugrenelle, Tour Totem, 1980. C-Print, 74 x 52,3 cm. Helge Achenbach, Düsseldorf. Abb. in: Struth 1995, S. 69.

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rahmendes Fenster leiten sie den Blick auf das im Zentrum der Aufnahme stehende Hochhaus. Der Bildraum ist damit jedoch noch nicht abgeschlossen, da die Sicht vom Vordergrund – am zentralen Turm vorbei – weiter in den Hintergrund geführt wird, der städtische Ausschnitte zeigt. Im Gegensatz zu Gursky isoliert Struth das Bauwerk nicht, sondern integriert das urbane Umfeld. Überdies nutzt er den zentralperspektivischen Illusionsraum und unterteilt den Bildraum in Vorder- Mittel- und Hintergrund. Mit dieser Einteilung sind gleichzeitig unterschiedliche Phänomene der Abstrahierung verbunden. Die Betrachternähe zur rahmenden Architektur im Vordergrund schlüsselt diese in rhythmische Farbfelder auf. Das zentrale Gebäude im Mittelgrund setzt sich dagegen aus einer Vielzahl von Kuben zusammen, in welche die Quadrate der Fenster eingeschrieben sind und in denen sich die angrenzenden Gebäude in Form von verzerrten Fensterquadraten spiegeln. Die stark verkleinerten mehrstöckigen Häuser im Hintergrund bilden dabei ein Potpourri geometrischer Formen. Struths Aufnahme lebt von dieser geometrischen Vielfalt, allerdings bewirken die Zusammenschau von zentraler Architektur und Umgebung sowie der Blick in die Bildtiefe eine Realitätsnähe, die keine homogene Abstrahierung vom Abbild zulässt. Gurskys Arbeit gibt zwar Einblick in die Gebäudetiefe, vermeidet jedoch die räumliche Einteilung in Vorder-, Mittel- und Hintergrund, so dass sich das Bild in der Fläche aufbaut. Die Sicht in die Architekturräume spiegelt auf inhaltlicher Ebene die Durchbrechung charakteristischer Merkmale von Architektur wider. So besteht der ursprüngliche Sinn von Architektur u.a. in ihrer schützenden bzw. Privatheit stiftenden Funktion − die allerdings heute zunehmend durch transparente Materialien wie Glas in Verbindung mit Stahl aufgehoben wird. Der Drang, einen Blick in jene Bereiche zu werfen, die der Privatsphäre oder wirtschaftlicher Geheimhaltung unterliegen, dürfte im Naturell des Menschen verankert sein. Während die Unternehmen diesen Blick gewähren, um ökonomische Transparenz zu suggerieren, erhält der Blick in Wohn- und Hotelarchitektur voyeuristische und damit illegitime Qualität. Allerdings wird der Betrachter in den Bildern Gurskys auf Distanz gehalten; gespielt wird mit dem Gewahrwerden der eigenen Neugier und der eigenen Erkenntnis-

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sehnsucht.53 Die Schnittstellen zwischen Anonymität, Privatsphäre und Distanzierung variieren bzw. werden ganz unterschiedlich eingelöst. Diese Bildthematik unterstreicht in besonderem Maße die ‚registrierende‘, oftmals sogar ‚investigative‘ oder ‚penetrierende‘ Eigenschaft der Fotografie. Die Neugier auf die Architektur und ihr menschliches Innenleben wird durch das Medium verstärkt, es fordert wesensgemäß dazu auf, genauer hinzuschauen. Die gleichmäßige Struktur der Gebäudefassaden ist geradezu prädestiniert, aufgebrochen zu werden: Der Betrachter tritt immer näher an die Oberfläche heran, um vielleicht doch die Tiefe bis in den letzten Winkel hinein zu verfolgen.54 Der von Gursky in den beiden Architekturfotografien verwendete Frontalblick bzw. der zum 45°-Winkel tendierende Blick und der erhöhte Standpunkt der Aufnahme entsprechen wieder den bereits erwähnten ‚Standardformen der Architekturphotographie‘, die besonders das Bauvolumen der abgelichteten öffentlichen Gebäude betonen. Sie dienten den staatlichen Auftraggebern im Zuge eines Bauvorhabens als Nachweis.55 Gursky dokumentiert jedoch nicht vordergründig, sondern nutzt diese Mittel, um autonome Bilder zu erstellen, d.h. er konstruiert „unter Zuhilfenahme der vorgefundenen Wirklichkeit bewusst subjektivierte Bildwelten, in denen die Bedeutung des abgebildeten Objektes oder der abgebildeten Szene selbst in den zweiten Rang verwiesen wird“56.

In der Verdichtung der Aufnahmen unterscheidet sich Gursky auch von jenen Fotografen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts neben der dokumentarischen Architekturfotografie den Versuch unternahmen, die Architektur in Flächen aufzulösen. Mit der Entwicklung der Hochhausarchitektur, des Begriffs „form follows function“ und der Ästhetik der ‚Reinen Fotografie‘ war auch das fotografische Interesse an gewal-

53 Vgl. Schorr, Collier: Wie vertraut ist uns das? In: Parkett 44, 1995, S. 8893. Zur voyeuristischen Verhaltensweise schreibt er: „Indem Andreas Gursky aus der Distanz photographiert, legt er uns nahe, dass es erstens etwas zu sehen und zweitens einen Grund dafür gibt, Abstand zu halten.“ Ebd., S. 88. 54 Vgl. zu ‚Montparnasse‘ Irrek 1995a, S. 13. 55 Derenthal 2000, S. 22. 56 Marzona 2000, S. 83.

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tiger Architektur gegeben, deren Strukturierung ohne das schmückende Ornament auskam. Die dadurch erzeugten Abstrahierungen werden in der Aufnahme von Alvin Langdon Coburn „Das Haus der tausend Fenster, New York“57 von 1912 deutlich. Von einem sehr hohen Standpunkt aus schaut der Betrachter frontal fast auf die gesamte Länge einer Hochhausfassade. Das weiße Gebäude, durchbrochen von einer Vielzahl schwarzer Fensteröffnungen, nimmt die gesamte rechte Bildhälfte ein. Die linke Seite der Fotografie gibt den Blick frei in die schräge Perspektive einer Straßenschlucht, die von niedrigeren Hochhäusern gesäumt wird. Deren ebenfalls weiße Fassaden und schwarz wirkende Fenster korrespondieren mit dem rechten Hochhaus. Die Bildwirkung geht von der Geometrie der Fassaden aus: von schwarzen Quadraten und Rechtecken, eingefasst in die weiße Struktur von Horizontalen und Vertikalen. Gespenstisch wirken die skelettartigen ‚Höhlen‘ der Menschen, die keinen tieferen Blick zulassen. Im Vergleich zu Gurskys Fotografie „Paris, Montparnasse“ ist hier – mit dem verwehrten Blick in die Privatheit und der fehlenden Farbigkeit – ohne Zweifel ein gegensätzlicher Eindruck erzielt, doch ist die Idee der abstrahierten Architektur mit einem indirekten Blick auf die Wohnräume ‚tausender‘ von Menschen bereits antizipiert. Ebenfalls sehr früh hat es Ambitionen gegeben, Hochhausarchitektur bei Nacht aufzunehmen. Wie bei ‚Hong Kong, Hongkong and Shanghai Bank‘ ist in der Aufnahme von Alfred Stieglitz „New York – Nacht“58 von 1931 ein Hochhaus abgelichtet, das in seiner Höhe von der oberen und unteren Bildbegrenzung beschnitten wird, seitlich jedoch nicht. Der Betrachter nimmt aufgrund der Nachtaufnahme das fast schwarz wirkende Gebäude sowohl frontal als auch in Frosch- und Luftperspektive wahr. Allerdings wird der Blick in das Gebäude nicht freigegeben, vielmehr leuchten die Fenster aufgrund der Innenbeleuchtung grell heraus und vermitteln in Umkehrung von Coburns Aufnahme den abstrahierenden Schwarz-Weiß-Effekt geometrischer Formen.

57 Alvin Langdon Coburn, Das Haus der tausend Fenster, New York, 1912. Gelatine-Silberdruck. George Eastman House, Rochester, N.Y. Abb. in: Newhall 1998, S. 206. 58 Alfred Stieglitz, New York - Nacht, 1931. Museum of Modern Art, New York. Abb. in: Newhall 1998, S. 178.

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Ein ‚erlaubter‘ Blick von außen in einen Innenraum wird in der Arbeit ‚Bonn, Bundestag‘ von 1998 (285 x 210 cm) deutlich. Diese Fotografie stellt kompositorisch eine Mischform aus den beiden bislang beschriebenen Kategorien dar. So lassen sich ein erhöhter, distanzierter Blick, ein möglicher Wechsel zwischen Mikro- und Makrostruktur und ein konstruktives Flächengerüst ausmachen. Der Betrachter wird – im Gegensatz zu ‚Paris, Montparnasse‘ und ‚Hong Kong, Hongkong and Shanghai Bank‘ – bereits durch den Bildausschnitt nahe an die Glasfassade des Bundestagsgebäudes herangeführt und kann daher die Außenarchitektur in der Gesamterscheinung nicht erfassen. Dennoch richtet sich die erste Wahrnehmung auf die durch horizontale und vertikale Verstrebungen gegliederte Glaswand, so dass der Einblick fensterartig in verschachtelte Quadrate und Rechtecke gelenkt wird. Die unterschiedlichen Architekturmodule strukturieren die Bildanlage, doch bilden sie keine additive Musterebene. Vielmehr ist die Verzahnung des aus der Distanz gesehenen Innenraums mit der Außenarchitektur vergleichbar mit der architektonischen Konstruktion in der Aufnahme ‚Rastatt, Mercedes‘. Der Blick in das Innere des Bundestags zeigt aber keine geordnete Mikrostruktur, sondern eine collagenhaft irritierende Zusammenstellung verschiedener Szenen, die entsprechend der Fassadeneinteilung aneinandergefügt wurden. Die unterschiedlichen Raumsituationen sowie die Spiegelungen im Deckenbereich zeugen von unterschiedlichen Standorten des Fotografen und von unterschiedlichen Aufnahmezeitpunkten. Während der Betrachter bei ‚Paris, Montparnasse‘ nur indirekten Einblick in das Gebäudegeschehen erhält, scheint der Blick in den Bonner Plenarsaal erlaubt zu sein, so wie es auch die Zuschauertribüne anzeigt. Durch den äußeren Standpunkt kann der Betrachter unentdeckt seinen Blick über das Geschehen schweifen lassen und – wie Rupert Pfab beschreibt – mit dem Effekt der „Wiedererkennbarkeit“59 bekannte Politiker identifizieren. Ein durch TV-Übertragung bekannter Ort fördert im kollektiven Bildgedächtnis Erinnerungen zutage60, die sich mit der fotografischen Situation, im Gegensatz zu den flüchtigen Fernsehbildern, in Ruhe vergleichen lassen.

59 Pfab, Rupert: Wahrnehmung und Kommunikation. Überlegungen zu neuen Motiven von Andreas Gursky. In: Syring 1998, S. 9-11, hier S. 9. 60 Vgl. ebd.

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Doch der Schein des Bildes trügt: Einerseits ist nicht zu klären, um welche politische Situation es sich hier handelt, und andererseits, warum ein Ausschnitt des Plenarsaals im Bereich der Besuchertribüne erscheint, zumal gespiegelt und auf dem Kopf stehend. Diese irritierende Wahrnehmungssituation lässt eine digitale Bildbearbeitung vermuten, die, verschlüsselnd, das Interesse an der Fotografie noch verstärkt. Der anfänglich für frei und ungestört gehaltene Blick in das Bild verkehrt sich zu einem Innehalten, zur Suche nach Strukturen, welche die bildliche Situation klären könnten. Das daraus resultierende Spannungsmoment bewirkt einen Schwerpunkt im Bereich der Bildkomposition, welche die inhaltliche Situation sekundär werden lässt.61 Gursky äußert sich zu seiner Bildfindung dahingehend, dass es ihm wichtig war, die bekannte vom Fernseher vermittelte Sichtweise – von der Tribüne aus – aufzubrechen. Hinzu kommt der Blick auf eine Abstimmungsszene, die sich in ihrem chaotischen Zustand konträr zu den geordneten Architekturstrukturen verhält. Um diesen Gegensatz bildlich zu realisieren, entschied sich Gursky für eine Architekturaufnahme sowie für mehrere Aufnahmen mit Blick in den Innenraum, die an unterschiedlichen Tagen und Tageszeiten angefertigt wurden. So sind diejenigen Bildausschnitte zu Nachtzeiten entstanden, die keine Reflexe aufweisen, während tagsüber Spiegelungen im Bild sichtbar wurden. Eine digitale Bildbearbeitung vereinte schließlich die diversen Aufnahmen zu einer Gesamtkomposition.62 Die Aufnahme ‚Charles de Gaulle, Paris‘ (165 x 200 cm) – bereits 1992 entstanden – stellt ebenfalls eine kompositorische Ausnahme dar. Der erhöhte Betrachterstandpunkt liegt sowohl innerhalb als auch außerhalb der Architektur. Zunächst fällt der Blick auf den Innenraum eines Terminals, der von mehreren Rolltreppen-Transportröhren durchkreuzt wird. Darüber hinaus gleitet der Blick weiter durch das Glas der rückwärtigen, mehrfach quadratisch gegliederten Terminalwand. Der Betrachter ist isoliert vom mit Menschen besetzten technischen Fließraum der Röhren und von der Flughafensituation hinter der Glaswand. Der Blick in die Tiefe und die angeschnittenen Rolltreppen bieten keinen Halt für das Auge. ‚Charles de Gaulle, Paris‘ gilt als die erste Aufnahme, die Gursky digital bearbeitet hat.63 Sie gibt jedoch

61 Vgl. ebd. 62 Vgl. Gursky, Andreas in: Krajewski 1999, S. 13f. 63 Vgl. Gursky, Andreas in: Jocks 1999, S. 259.

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nicht eindeutig zu erkennen, ob Röhren hinzugefügt oder eliminiert wurden oder ob störende Lichtbrechungen beseitigt wurden. Derenthal stellt fest, dass die Wirkung der Aufnahme im „Widerstreit zwischen realistischer, präziser Bildsprache und Unglaubwürdigkeit der Perspektive“64 begründet liegt. Ihr Potenzial rühre aus einer scheinbar sachlichen und dokumentarischen Bildtechnik.65 In den Arbeiten der Kategorie ‚Konstruktion Außenarchitektur‘ wird das bereits für den Innenraum festgestellte – motivüberspannende und bildstrukturierende – Flächengerüst ebenfalls erkennbar. Eine Steigerung erfährt das Ordnungssystem in ‚Paris, Montparnasse‘ und ‚Hong Kong, Hongkong and Shanghai Bank‘: In Verbindung mit einer zunehmenden Distanz des Fotografen zum Motiv wird der fotografischen Oberfläche eine ungegenständliche, geometrisch-linear rhythmisierte Ästhetik auferlegt. Mit dem Sichtwechsel in die Mikrostruktur löst sich der Ornamentcharakter auf, wird das Farbformgerüst wieder in die Gegenständlichkeit überführt. Der Mensch im funktionalen Netz des Bankgeschäftes bzw. der Mensch als Teil einer ‚Manövriermasse‘, die ökonomisch ausrangiert ist, wird im Architektonischen vorgeführt. Die Bildidee des ‚Existenzials von Raum‘ der ersten Strukturkategorie wird nun auf die Architektur übertragen, die dem Menschen ebenfalls als notwendiger Lebensraum dient. Ralf Beil erläutert dazu: „Andreas Gurskys Architekturmotive sind nicht nur Orte der Bebauung, sondern Schauplätze zeitgenössischer Urbanität [...]. Es sind Knotenpunkte des Transports, der Kommunikation oder des Konsums, der Arbeit und der Freizeit gleichermaßen – und sie werden ihm zu Symptomen, die zu den Wurzeln unserer heutigen Lebensform führen.“66

64 Derenthal 2000, S. 26. 65 Vgl. ebd. 66 Beil, Ralf: Just what is it that makes Gurksy’s photos so different, so appealing? Zur Bildstrategie und Emblematik der Architekturbilder von Andreas Gursky. In: Beil, Andreas; Feßel, Sonja (Hrsg.): Andreas Gursky. Architektur. Ausst.-Kat. Institut Mathildenhöhe Darmstadt. Ostfildern 2008, S. 8-17, hier S. 9.

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Gurskys Fotografie könne als „Absprungsort für Reflexionen über das ‚In-der-Welt-Sein‘ und die Bedeutung von Architektur als fundamentalem Lebens- und Wirkungsraum“67 verstanden werden.

2.1.3 All-over im Innenraum Neben den Innenraum-Aufnahmen, die gleichermaßen durch architektonische Gegebenheiten wie durch die Anordnung von Gerätschaften oder Maschinen netzartig strukturiert werden, finden sich auch Arbeiten, die aus erhöhter Position eine Vielzahl von Menschen zeigen. Diese Bilder können der Ordnungskategorie des All-over subsumiert werden. Die Bezeichnung All-over steht wörtlich übersetzt für ein Muster, das sich über eine Oberfläche erstreckt oder das dem Rhythmus der Wiederholung unterliegt. In der bildenden Kunst wird der Begriff vor allem mit dem Drip Painting von Jackson Pollock in Verbindung gebracht. So erklärt Michael Fried 1965: „The skeins of paint appear on the canvas as a continuous, all-over line ...“ und „… Pollock’s line, to create … homo-geneous visual fabric …“68 Das All-over bezeichnet hier die Linie innerhalb eines homogenen Kontinuums. Rubin erläutert weiter: „In ‚Shimmering Substance‘ and ‚Eyes in the Heat I‘ Pollock’s line forms series of looped and arabesqued patterns all roughly similar in character and in approximate size and more or less even in density over the whole surface of the picture. This is what is meant by an ‚all-over‘ configuration.“ […] „The term ‚all-over‘ is a relative one. Compared to the hierarchical distribution of accents in Old Master painting, the atomized textures of many Impressionist pictures are essentially ‚all-over[‘].“69

67 Ebd., S. 14. 68 Fried, Michael: Three American Painters. In: Kat. des Fogg. Art Museums, Harvard University, 21.4. – 30.5.1965, S. 14. Zitiert nach Putz, Ekkehard: Jackson Pollock. Theorie und Bild. Studien zur Kunstgeschichte Bd. 4. Hildesheim, New York 1975, S. 261. Zugl.: Bochum, Univ., Diss., 1973. 69 Rubin, William: Jackson Pollock and the Modern Tradition. Teil 1 in: Artforum, Bd. V, Febr. 1967, S. 14-22, hier S. 18 und S. 19. Zitiert nach Putz 1975, S. 261.

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Mit diesen Definitionen des All-over ist die Problematik verbunden, dass sie auf verschiedene Stilrichtungen der Kunst bis hin zum Kunstgewerbe angewandt werden können. Unterschiede innerhalb der Bildkomposition können mit dem allgemeinen Begriff All-over nicht erfasst werden.70 Die Verwendung der Ordnungskategorie All-over für die Bilder Gurskys ist jedoch insofern sinnvoll, als sie in Entsprechung zu den Begriffen ‚Konstruktion‘ oder ‚Horizontale Perspektive‘ gerade einen Oberbegriff darstellen kann, dem gleichartige Fotografien subsumiert werden, die im Verlauf der Analyse ihre spezifische Differenzierung erfahren. Gursky selbst wendet den Begriff des All-over auf einige seiner Bilder an und versteht darunter, dass alle Bildelemente gleichgewichtig seien und es keine Hierarchie der einzelnen Bildelemente gebe.71 Gurskys Fotografie ‚Tokyo, Börse‘ (Tokyo, Stock Exchange) von 1990 (165 x 200 cm) zeigt einen Ausschnitt des Börsengeschehens. Der Betrachterstandpunkt ist so hoch gewählt, dass die Ebene des Parketts bildlich in die Fläche kippt und so die perspektivische Erscheinung des Raums im Vergleich zu ‚Karlsruhe, Siemens‘ deutlich verringert wird. Der Betrachter nimmt aus der Distanz ein Gewirr von schwarzen und weißen Farbflecken wahr, die sich zum Teil durch Bewegungsunschärfen – vermutlich Folge der von Gursky gewählten Belichtungszeit – im Bild vermischen und an den Bildrändern angeschnitten sind. Ein organisches All-over stellt sich ein, das sich motivisch zu allen Seiten hin weiterführen ließe, obwohl kein festliegendes und regelmäßiges Raster vorliegt. Zugleich sind dynamisierte Formengebilde auszumachen, die eine Vielzahl von Bildelementen in sich vereinen. Sobald man den distanzierten Betrachterstandpunkt verlässt, wird ersichtlich, dass sich die Personen innerhalb des Bildgeschehens in unterschiedliche Richtungen orientieren. Der Blick oszilliert zwischen in Gruppen formierten, heftig diskutierenden Börsenhändlern und einzelnen abwartenden und zu anderen Orten strebenden Personen. Als ordnende Elemente wirken die Arbeitsplätze, vor allem ein kreisförmiger Schalter im Zentrum der Aufnahme, an denen sich das

70 Vgl. Putz 1975, S. 262f. 71 Vgl. Gursky, Andreas in: Ben Lewis im Gespräch mit Andreas Gursky. Unveröffentlichtes Rohmaterial zum Film ‚Gursky World‘ 2002, Channel Four, (Rushes Roll 14) – zur wissenschaftlichen Verwendung bereitgestellt von der Galerie Sprüth Magers in Köln.

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bewegte Geschehen formbildend orientiert. Die Indifferenz der schwarz-weißen Struktur verweist inhaltlich auf eine uniformierte Gesamtheit, in der jede menschliche Individualität verloren geht. Der Sinn und Zweck des Einzelnen in der Masse ist nur zu erahnen, aber nicht mehr überprüfbar. Dass ein gemeinsames Ziel – in diesem Fall das Börsengeschäft – das Geschehen dennoch ganz unterschiedlich visuell formieren kann, zeigt die Aufnahme ‚Hong Kong, Stock Exchange‘ von 1994 (Diptychon, je 160 x 200 cm). Die Trader werden hier durch festgelegte Sitzreihen und Nummerierungen in ein ordnendes Schema gefügt. Die flirrende Struktur der Börse in Tokyo wird durch geometrisch exakte Strukturen ersetzt, verstärkt durch die Komposition des Diptychons, das aus zwei fotografierten Wandzonen einen dreiseitigen statt quadratischen Raum bildet.72 Die im Ansatz vorhandene All-over-Struktur in ‚Tokyo, Börse‘ ist vergleichbar mit jener in ‚Paris, Autosalon‘, 1993 (165 x 200 cm): Gursky wählt wiederum einen Ausschnitt, so dass die Personen und der Hallenraum von den Bildrändern beschnitten sind. Der Standpunkt ist etwas flacher und näher gewählt, wodurch die Personen im Vordergrund gut zu erkennen sind. Sie wirken jedoch in das Geschehen hineincollagiert und vermitteln einen unwirklichen Eindruck. Während bei den Börsianern das die Aufmerksamkeit bindende Moment, die Aktienkurs-Anzeige, im Bild nicht vorhanden ist, erscheint es im Autosalon, in Form der ausgestellten Pkw, zentral auf der Bildmittelachse. Wie sich die Broker um die Tische formieren, ordnen sich die Messebesucher in einer Art Helixstruktur um diese Mittelachse herum an. In den Aufnahmen ‚Tokyo, Börse‘ und ‚Paris, Autosalon‘ sind die Personen nicht wie in den Industrieaufnahmen von einem technischen, die Komposition bestimmenden Konstrukt überlagert. Die formale Strukturierung des Geschehens erfolgt vielmehr durch den Veranstaltungscharakter der Börse bzw. der Messe. Die Situationen an sich bewirken eine Formierung in die Fülle, die sich durch die erhöhte Aufnahmeposition annähernd zu einem All-over hin steigert: Die innerhalb der Szenen gebildeten Menschentrauben können im Makrobe-

72 Vgl. Hilty 1995, S. 16, S. 20. Vgl. dazu auch Irrek, Hans: Documents of intense spatial experience. In: Amsellem, Patrick; Nittwe, Lars (Hrsg.): Andreas Gursky. Ausst.-Kat. Rooseum Center for Contemporary Art. Malmö 1995, o.S.

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reich zu einer klecksartigen und punktförmigen Struktur abstrahiert werden. Die Betrachtung der Bildgruppe ‚All-over‘ gibt jenen charakteristischen Blickwinkel zu erkennen, den bereits Lynne Cooke73 für die Arbeiten Gurskys im Ansatz beschrieben hat: als einen durch einen hohen Betrachterstandpunkt bestimmten Bildtyp, bei dem die Horizontlinie hoch angesetzt ist bzw. außerhalb der Bildgrenzen liegt. Auf diese Weise nimmt das beherrschende Motiv das gesamte Bild ein. Die Bedeutung des All-over an dieser Stelle lässt sich mit Eigenschaften des Ornamentalen und des Ornaments vergleichen. Die Personen fügen sich in eine bewegte Motivgruppe, die an bestimmte Formkonstanten – Tische bzw. Autos – gebunden ist. Es kann jedoch nicht von einer überfiguralen, konturierten Form gesprochen werden – die Aufnahme ‚Hong Kong, Stock Exchange‘ bildet eine Ausnahme –, da Gursky dieses in den Landschaftsaufnahmen bereits erprobte ornamentale Prinzip mit den Merkmalen des Ornamentes kombiniert. Der Bezug zum Ornament liegt in den Anleihen zum Rapport und zum Additiven begründet, wobei der Mensch hier als figürliches Moment in der Beziehung von Muster und Grund noch deutlich dominiert. Das in den Industrieaufnahmen und Architekturaufnahmen Gurskys angesprochene geometrische Flächengerüst hat sich durch die Dominanz der horizontalen Bildstrukturen und deren Verschränkung miteinander entwickelt. In den Aufnahmen mit der Tendenz zum All-over wird die formalisierte Makrostruktur durch das Wiederholungsmoment ähnlich gekleideter Personen in Form von Punkten bzw. Flecken hervorgerufen. Der Betrachter bindet auch in diesem Fall die Formen aneinander und löst sich visuell von der eigentlichen Wirklichkeitsvorgabe. Der stärker erhöhte Blick in ‚Tokyo, Börse‘ reduziert den räumlichen Eindruck und intensiviert den Flächencharakter zusätzlich. In der zeitgenössischen Kunst wird das All-over bzw. die Wiederholung von Bildelementen häufig gemeinsam mit dem überfiguralen Ornament (Vogt) als ausschlaggebende Formgröße eingesetzt. Die 1957 in Kaswin, Iran, geborene Künstlerin Shirin Neshat beispielsweise formiert in ihren Fotografien und Videos Menschen zu ornamentalisierten Einheiten. Obwohl sie in New York lebt und arbeitet, bezieht sie ihre Motive aus den Traditionen ihres Heimatlands. So setzt sie

73 Vgl. Cooke 1998, S. 14.

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sich im Speziellen mit der islamischen Gesellschaft im Iran und den dort geltenden kulturellen und religiösen Lebensformen auseinander. Die Video/Sound-Installation ‚Rapture‘74 (1999) besteht aus zwei gegenüberliegenden und aufeinander bezogenen Projektionsflächen. Entsprechend werden zwei Filme abgespielt, die geschlechterspezifisch zugeordnet sind und die „Dynamik des Männlichen und Weiblichen“75 in der iranischen Gesellschaft thematisieren. Wird die Installation als eine Folge von Stills betrachtet, offenbart sich eine schlichte und reduzierte, aber zugleich kraftvoll ornamentalisierte Bildsprache. Zwei Standbilder aus ‚Rapture, 1999‘76 zeigen den Verbund von gleichgekleideten Frauen bzw. Männern. Im ersten Still schaut die Künstlerin aus stehender Position auf Iranerinnen, die sich in der Form eines Rechteckes auf dem Boden niedergelassen haben. Durch die Aufnahmeperspektive verwandelt sich das Rechteck jedoch in die scheinbar übergeordnete Form eines Dreiecks. Mit ernsten Gesichtern schauen sie in die Kamera; ihre Hände sind erhoben, und die zum Betrachter gedrehten Handflächen weisen geschriebene Textzeilen auf. Die Reihungen und die gleichen Gewänder erzeugen die Struktur eines All-over bzw. die des Rapports mit der Bindung an eine konturierte ornamentale Form. Im zweiten Standbild ist der Betrachterstandpunkt höher: Der Blick gleitet über eine Gruppe von Iranern in Rückenansicht. Im Gegensatz zu den Frauen bewegen sie sich auf eine Mauer zu und bilden ein offenes amorphes Gefüge. Diese Tendenz zum All-over ist mit jener in ‚Tokyo, Börse‘ vergleichbar. Der wesentliche formale Unterschied zu Gursky liegt darin, dass Neshat die bildliche Situation vollständig inszeniert. Immer wieder tauchen in beiden Filmen Szenen auf, in denen sich die männlichen und weiblichen Gruppen zu einer ornamentalen bzw. überfiguralen Form oder zu einem Ornament zusammenfinden. Neshat nutzt zur bildlichen Umsetzung des Themas „Feminismus und zeitge-

74 Shirin Neshat, Video/Sound Installation Rapture, 1999, s/w, 13 Minuten. Barbara Gladstone Gallery, New York. 75 Neshat, Shirin, im Gespräch mit Gerald Matt. In: Matt, Gerald; PeytonJones, Julia (Hrsg.): Shirin Neshat. Ausst.-Kat. Kunsthalle Wien; Serpentine Gallery London; Hamburger Kunsthalle. Text dt.-engl. Wien 2000, S. 10-29, hier S. 24. 76 Abb. in: Brüderlin 2001, S. 221.

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nössischer Islam“77 die einfache Gestaltungsweise der losen und repetitiven Formierung von Personengruppen. Die Künstlerin wählte diese reduzierte Darstellungsebene, da sie sich den kulturellen und religiösen Traditionen kritisch, aber nicht respektlos oder aggressiv nähern wollte. Das weibliche Geschlecht wird nicht als alleiniges Opfer angesehen, sondern Frauen und Männer unterliegen gleichermaßen den gesellschaftspolitischen Zwängen.78 Die beiden Filmleinwände und die ornamental zusammengefassten Personen spiegeln im übertragenen Sinne jene Räume wider, die von den jeweiligen Geschlechtern eingenommen bzw. die den Geschlechtern in der islamischen Gesellschaft zugeordnet werden. Während der Mann die Herrschaft über den öffentlichen Raum besitzt, organisiert die Frau den privaten Raum, ohne diesen jedoch zu beherrschen. Hält sich die Frau in der Öffentlichkeit auf, so hat sie die Regeln des männlichen Distrikts zu befolgen. Sie muss sich mit Tschador und Schleier verhüllen, damit ihre öffentliche Existenz neutralisiert wird und ihr weiblicher Körper den Mann nicht von seinen Aufgaben ablenken kann. Paradoxerweise ist es aber gerade das Spiel mit dem versteckten Körper, das die Phantasien anreizt und dem Voyeurismus und der Sittenwidrigkeit Vorschub leistet.79 Neshat scheint in den Filmstills diese Räume zu öffnen bzw. zu verändern, indem sie ihnen Bewegungsrichtungen zuweist. Ihre Bilder berufen sich auf die Realität, doch setzt Neshat diese Realität fiktional um, denn die Wirklichkeit ist inszeniert, übersteigert, abstrahiert und ambivalent dargestellt. Mit filmischen Mitteln erzählt sie eine Geschichte um das Thema herum, das sie interessiert. Neben dieser narrativen Komponente legt sie jedoch immer besonderen Wert auf fotografische und skulpturale Bildwirkungen.80

77 Neshat, Shirin in: Matt, Peyton-Jones 2000, S. 12. 78 Vgl. ebd., S. 12, S. 26. 79 Vgl. Neshat, Shirin: Bounds of Desire, Zones of Contention, a Conservation between Shirin Neshat and Octavio Zaya. Zum Teil abgedruckt in Shirin Neshat, Marco Noire Editore, Turin 1997. Hier nach den Auszügen in Zaya, Octavio: Shirin Neshat. Dazwischen. In: Shirin Neshat. Echolot oder 9 Fragen an die Peripherie. Ausst.-Kat. documenta und Museum Fridericianum Kassel. Kassel 1998, dt. S. 5-9, hier S. 6, engl. S. 32-35, hier S. 33. 80 Vgl. Neshat, Shirin in: Matt, Peyton-Jones 2000, S. 18. Vgl. auch Shirin Neshat interviewt von Mona Jensen. In: Shirin Neshat. Women without men. Ausst.-Kat. AroS Aarhus Kunstmuseum 2008, S. 82-89, hier S. 83.

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Ruth Noack sucht nach einem Zusammenhang zwischen der formalen Ornamentalisierung der Personen im Bild – die auf der Tonebene eine rhythmische Untermalung erfährt – und der von den Motiven ausgehenden metaphorischen Bedeutung. Als offensichtlich erweise sich die Entindividualisierung der Personen, da ihre Präsenz und ihr Handeln durch das Kollektiv bestimmt und letztlich in eine ästhetische Form übertragen werden. Dieses Bildverständnis könne auch „als ein Angriff auf die westliche Kultur gesehen werden, die ohne den Mythos individueller, autonomer Subjektivität undenkbar wäre. Schließlich rechnet Shirin Neshats Kunst ganz explizit mit dem westlichen Publikum, einem Publikum, das nach wie vor in der Tradition des kolonialistischen Blickregimes steht.“81

Womöglich zeige das Netz des Ornamentalen dem ethnozentrischen westlichen Blick auch seine Schranken auf, der aus feministischer Prägung heraus urteilt, ohne den fremden Kulturkontext zu verstehen.82 Ähnlich wie bei Gursky generiert der häufig distanzierte und erhöhte Blick Neshats im Zusammenwirken mit dem ornamentalisierten Abbild eine ‚Sinn-Distanz‘, die der Betrachter benötigt, um sich auf die Inhalte der ihm präsentierten Situation − z.B. einer Szene aus einer fremden Kultur − einzulassen. „Vielleicht ist die Ornamentalisierung der menschlichen Figuren im Film selbst als ein Schleier zu verstehen, der sich über das Bild zieht – in einer Verdichtung der Signifikanz, die anderswo gesucht werden muß.“83 Der Vergleich der in schwarzweißen Still-Fotografien thematisierten Geschlechterproblematik Neshats mit den monumentalen, farbintensiven und konsumkritischen Fotografien Gurskys führen die Kulturvarianz gesellschaftlicher Werte und Zwänge unmittelbar vor Augen. Beide Künstler verwenden jedoch in der Reflexion ihrer gesellschaftlichen Strukturen das formale Konstrukt der Masse. Bei Neshat erweisen sich die ornamentalen Räume einerseits als eine durch politisch-religiöse Herrschaft auferlegte Konstruktion, in der die Körper in ihrer Erscheinung und Handlung kontrolliert sind. Sie haben sich ihrer kollektivistischen und patriarchali-

81 Noack, Ruth: Produktive Dualismen. In: Matt, Peyton-Jones 2000, dt.engl., S. 30-41, hier S. 38. 82 Vgl. ebd., S. 40. 83 Ebd.

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schen Kultur gemäß zu verhalten und der Familie und der Nation keine Schande zu bereiten. Andererseits drücken die einzelnen Frauen in der Gruppe Kraft und Würde aus und verweisen damit auf das komplexe Spannungsfeld zwischen muslimischer Tradition und Moderne. In der Mehrdeutigkeit der filmischen Szenen und in der Bildung und Auflösung von Formen liegt die Spannung: im „Gegensatz von Erstarrung und Entfesselung, ritueller Strenge und ungeregelten Strömen“84. Die Formierung der Masse bei Gursky hingegen illustriert eine Lebensart, die von kurzfristig sich verändernden äußeren Faktoren bestimmt wird. Verhaltenskonventionen und Sehnsüchte – nach Konsum und Zerstreuung – werden immer wieder neu formuliert und von Werbung, Medien und Idolen vorangetrieben. David Riesman beschreibt diese Unterschiedlichkeit im Verhalten von Menschen bzw. Kulturen u.a. wie folgt: „Indem der Mensch auf diese Weise ständig in engem Kontakt mit den anderen verbleibt, entwickelt er eine weitgehende Verhaltenskonformität, aber nicht wie der traditionsgeleitete Mensch durch Zucht und vorgeschriebene Verhaltensregeln, sondern durch die außergewöhnliche Empfangs- und Folgebereitschaft, die er für die Handlungen und Wünsche der anderen aufbringt.“85

In beiden Lebensweisen schwindet die Person, extrinsisch programmiert, in der Assimilation durch die Masse. Der chinesische Künstler Yue Minjun steigert das Phänomen der strengen Eingliederung gleicher Elemente in ein gemeinsames Formgefüge. Es handelt sich um eine skulpturale Installation von 25 zu einem Dreieck angeordneten männlichen Figuren. ‚Gong Yuan 2000, III‘86 zeigt den Künstler selbst lebensgroß in vielfacher Ausführung

84 Müller, Katrin Bettina: Fort über das Meer. In: Artist portrait. Shirin Neshat. In: culturbase.net, The international artist database. Siehe http://www. culturebase.net/artist.php?123 vom 14.12.2008. 85 Riesman, David: [Der außen-geleitete Mensch], 1950. In: Münkler, Herfried (Hrsg.): Lust an der Erkenntnis: Politisches Denken im 20. Jahrhundert. München, Zürich 1990, S. 124-132, hier S. 128. 86 Yue Minjun, geb. 1962 in Daqing, China, lebt und arbeitet in Paris. ‚Gong Yuan 2000, III‘, 2000. Polyester, Acryl, Höhe je 200 cm. Abb. in: Brüderlin 2001, S. 224, S. 225.

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mit weißem T-Shirt, schwarzer Jeans und über der Brust verschränkten Armen. Die Augen scheinen geschlossen, während der Mund geöffnet und fratzenartig in die Breite gezogen ist. Ulrike Münter deutet das vervielfältigte hämische Lachen als die einzige Möglichkeit, auf die politisch und sozial prekäre Gegenwart Chinas zu reagieren und ihr – wenigstens innerlich – zu entrinnen: „So oder ähnlich könnte man die Stimmung der Intellektuellen nach den blutig niedergeschlagenen Protesten auf dem Platz des Himmlischen Friedens beschreiben. [...] Gemeinsam und jeder für sich sucht [...] nach Ausdrucksmöglichkeiten für ein Lebensgefühl, was diskrepanter kaum sein könnte: überbordende Kraft und Aufbruchstimmung bei gleichzeitiger äußerer Erstarrung.“87

In ornamentaler Form und mit der Kraft der Wiederholung hält Minjun der herrschenden Macht einen irritierend-bedrohlichen Abwehrzauber entgegen: Uniformität, Entindividualisierung und verstörendes Gelächter bieten Schutz vor Fremdbestimmung des Einzelnen und erzeugen Mut zur Opposition.88 Dabei wird das menschenverachtende System mit seinen eigenen Waffen attackiert, denn der Vergleich der Skulpturen Minjuns mit den chinesischen Aufmärschen am Tienamenplatz und mit der 7000 Mann starken Terrakotta-Armee des Kaisers Qin Shi Huang Di ist naheliegend. Dass es sich bei Yue Minjun um die Darstellung eines kulturellen Umbruchs in der chinesischen Gegenwart handelt, zeigt der Wechsel von der chinesischen Uniform zur westlichen Freizeituniform Jeans und T-Shirt. Die traditionellen Hierarchien und Werte des alten China werden in Frage gestellt und mit Symbolen der westlichen Kultur konfrontiert.89 Das sich seit einem Jahrzehnt zunehmend marktwirtschaftlich orientierende China gibt zwar dort, wo es ökonomischer Steigerung dient, den kulturellen Konformismus auf. Paradoxerweise kann der amerikanisierte Kleidungsstil jedoch längst nicht mehr als Aus-

87 Münter, Ulrike: Hohn und Spott. Yue Minjun. Malerei, Skulptur. Alexander Ochs Galleries Berlin/Beijing, 2006. In: Chinesische Gegenwartskunst. Siehe http://www.chinesische-gegenwartskunst.de/pages/portraits/yue-min jun.php vom 05.04.2009. 88 Vgl. ebd. 89 Vgl. auch Formanek, Verena: Das (digitale) Ornament der Masse. In: Brüderlin 2001, S. 218-231, hier S. 219f, S. 224f.

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druck von Individualität gelten. Vielmehr scheint die chinesische Gesellschaft den politisch-geistigen Konformismus lediglich zugunsten eines kapitalistisch gesteuerten Konsumkonformismus abzulegen. Der Blick für Strukturen, die durch Ansammlungen von Menschen und durch die Wahl eines bestimmten Ausschnitts hervorgerufen werden, findet sich schon in der bereits erwähnten „Straight Photography“ (vgl. Kap. I.1). Von besonderer Bedeutung ist hier die Aufnahme ‚Zwischendeck‘90 von Stieglitz aus dem Jahre 1907. Sie entstand spontan auf dem Dampfer ‚Kaiser Wilhelm II.‘, als Stieglitz eine konstruktive Komposition von Formen wahrnahm: „Ein runder Strohhut, der nach links zeigende Schornstein, die nach rechts zeigende Treppe, die weiße Hängebrücke mit ihrem Geländer aus runden Kettengliedern, dann weiße Hosenträger, die sich auf dem Rücken eines Mannes auf dem Unterdeck kreuzten, die runden Formen des eisernen Räderwerks, ein Mast, der ein Dreieck aus dem Himmel herausschnitt. ... Ich sah den Zusammenhang der Formen, sah ein Bild, das aus Formen bestand und das mein Lebensgefühl zum Ausdruck brachte.“91

Ähnlich wie in Gurskys Aufnahmen zeigt sich hier eine Gruppe von Personen, die aufgrund spezifisch räumlicher Vorgaben – Deck erster Klasse und Unterdeck – eine bestimmte Formierung einnehmen. Der Blick des Betrachters fällt aus erhöhter Position auf das Unterdeck, zugleich ist er fast vis-à-vis auf das Oberdeck gerichtet. Diese Übertragung der thematischen Szene in eine übergeordnete Makrostruktur lässt sich aufgrund der angeschnittenen Seitenränder noch gedanklich erweitern. Im Gegensatz zu Gurskys Arbeiten erscheint die Makrostruktur jedoch weniger homogen; hier kann noch nicht von einer annähernden All-over-Struktur gesprochen werden, da die strukturbil-

90 Alfred Stieglitz, Zwischendeck, 1907. Photogravüre. Aus: „291“, Nr. 7-8 (1915). Museum of Modern Art, New York. Abb. in: Newhall 1998, S. 175. 91 Stieglitz, Alfred, in einem Gespräch mit Dorothy Norman. In: Twice-AYear, Nr. 8-9, 1942, S. 128. Dt.: Wie es zu ‚The Steerage‘ [Zwischendeck] kam. In: Wiegand, Wilfried (Hrsg.): Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst. Frankfurt a.M. 1981, S. 173177, S. 174f.

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denden Details des Dampfers – wesentlich dominanter als die der Arbeitsplätze in der ‚Börse‘ oder in den ‚Industrieunternehmen‘ – das Formgefüge gliedern. Deutlich homogener in der Struktur und daher für den Vergleich mit Gursky naheliegender ist die Aufnahme ‚Verein Dynamo‘92 (1930) von Rodtschenko. Rodtschenko wandte die ungewohnte Perspektivsicht nicht nur auf Architekturmotive an, sondern auch auf Sportveranstaltungen, in denen sich z.B. die Personen zu rhythmischen Gruppen formierten. In ‚Verein Dynamo‘ fällt der Blick steil von oben auf die in Weiß und Schwarz gekleideten Sportler. Hintereinander in breiten Reihen aufgestellt, marschieren sie in einem Bogen von unten in den von Rodtschenko gewählten Ausschnitt hinein, während die ersten Reihen bereits die obere Bildgrenze erreicht haben. Die sich wiederholenden Reihen und die aus der Vogelperspektive auf weiße und schwarze Flecken reduzierten Personen vermitteln die Struktur eines Rapports. Die Form des Bogens wiederum schließt die bewegte Masse überfigural und damit ornamental ein.93 Bei Stieglitz und Rodtschenko hängen die Strukturen mit der Entdeckung von bildwirksamen Formen, die vom Gegenstand abstrahieren, und mit der Erprobung neuer fotografischer Sichtweisen zusammen. Die Ergebnisse Rodtschenkos dokumentieren visuelle Erkenntnisse im Zeitalter der industriellen und architektonischen Stadtentwicklung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So schulte er nicht nur die Wahrnehmung des Betrachters anhand der konstruktivistisch komponierten Aufnahmen, sondern ordnete für ihn die Reizüberflutung, die von der Großstadt Moskau ausging. Mit der visuellen Bewältigung sollten

92 Alexander Rodtschenko, Verein Dynamo, 1930. Gelatinesilber, 26,5 x 40 cm. ML/F 1978/1107 Sammlung Ludwig. Abb. in: Photographie des 20. Jahrhunderts. Museum Ludwig Köln. Köln 2001, S. 152. 93 Ein All-over wie in ‚Börse Tokyo‘ findet sich auch in der Aufnahme ‚Wahltag / Appenzell bei Schneefall‘ (1951) von Siegfried Lauterwasser. Die Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt im Schneetreiben die an der Kamera vorbei eilenden Personen. Ein weißer Schleier überzieht im Staccato die einzelnen Gesichter und bindet sie zu einer Makrostruktur gleichmäßig aneinander. Abb. Siegfried Lauterwasser, Wahltag / Appenzell bei Schneefall, 1951, Silbergelatine, 38,5 x 30,2 cm. Die Photographische Sammlung / SK Stiftung Kultur, Köln. Abb. in: Auer 1998, S. 51.

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„Aufmerksamkeit, Flexibilität und Reaktionsgeschwindigkeit gesteigert werden; nicht zuletzt, um den solcherart gewappneten Genossen besser in den Gesamtzusammenhang der neuen sowjetischen Gesellschaft (oder besser: der industriellen Produktion) einbinden zu können.“94

Rodtschenkos Fotografien von Gebäuden, Arbeitern, Paraden oder Sportveranstaltungen entsprachen demnach der politischen Ausrichtung der Sowjetunion und dem Ideal einer klassenlosen Gesellschaft – veranschaulicht in der revolutionären Masse. So ließ sein erhöhter Blick auf Massenveranstaltungen auch gleichermaßen das Individuum wie das Gesicht der Gesellschaft verschwinden. Diese Beispiele zeigen jeweils auf unterschiedliche Weise, wie sich Massen organisieren. Das Motiv ‚Menschenmasse‘ als geometrisches Formgefüge fordert an dieser Stelle die Erläuterung des Begriffs ‚Ornament der Masse‘95 von Siegfried Kracauer, um dem spezifischen Ornament in den Bildern Gurskys näher zu kommen. Kracauer beschreibt in seinem 1927 erschienenen Essay die Formierung von Ornamenten durch die Masse Mensch, deren Phänomenologie das unbewusste Handeln des Einzelnen und der Gruppe zum Ausdruck bringe und damit die Fundamente des Zeitgeistes freilege. Kracauer beobachtet das moderne Freizeitleben, wie z.B. die Revuen der Tillergirls, die in der Synchronität ihres Tanzes und ihrer Komplexität als Masse geometrisch präzise Figuren ausbilden. Dabei spielt nicht das einzelne Mädchen, das Individuum, die tragende Rolle, sondern das in der Gesamtheit überindividuelle dekorative Muster.96 Jede Tänzerin ist – im Zusammenspiel ihrer Arme, Beine etc. – lediglich ein Bauelement, funktionalisiert, um das Ganze zu bilden, jedoch ohne sich der Ganzheit gewahr zu sein. Darin sieht Kracauer das Wesen der kapitalistischen Gesellschaft versinnbildlicht:

94 Röbl, Marie über die Katalogpublikation: Margarita Tupitsyn: Alexander Rodtschenko. Das Neue Moskau. München 1998. In: Camera Austria, 64/1998, S. 111-112, hier S. 111. 95 Kracauer, Siegfried: Das Ornament der Masse. In: Siegfried Kracauer. Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte. Frankfurt am Main 1977, S. 50-63. Ursprünglich in zwei Teilen in der Frankfurter Zeitung am 9. und 10. Juni 1927 erschienen. 96 Vgl. ebd., S. 50f.

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„Die Struktur des Massenornaments spiegelt die der gegenwärtigen Gesamtsituation wider. Da das Prinzip des kapitalistischen Produktionsprozesses nicht rein der Natur entstammt, muß es die natürlichen Organismen sprengen, die ihm Mittel oder Widerstände sind. Volksgemeinschaft und Persönlichkeit vergehen, wenn Kalkulabilität gefordert ist; der Mensch als Massenteilchen allein kann reibungslos an Tabellen emporklettern und Maschinen bedienen.“97

So wie die Gliedmaßen der Tillergirls die Komposition bilden, tragen die Hände der Arbeiter in der Fabrik als kleinste Funktionseinheit zum Produktionsprozess bei, an dessen Ende – für den Arbeiter nicht sichtbar – die Ware steht. Auch hier zeigt sich eine formierte Oberflächenerscheinung der gegenwärtigen Massenkultur: „Das Massenornament ist der ästhetische Reflex der von dem herrschenden Wirtschaftssystem erstrebten Rationalität.“98 Kracauers Verständnis vom ‚Ornament der Masse‘ lässt sich auf die Industrie- und Börsenbilder Gurskys insofern übertragen, als sich in diesen Aufnahmen ästhetisch wirksame Oberflächenmuster zeigen, die nur für den Betrachter aus entsprechender Distanz wahrnehmbar sind. Weder die Arbeiter noch die Broker überschauen das Gesamtsystem; sie sind lediglich Funktionsträger im übergeordneten Sinn der Warenproduktion oder des Börsengeschäfts. Das Ornament – sei es das konstruktive Strukturgerüst oder das organische All-over – schiebt sich zwischen das eigentlich Dargestellte und den Betrachter: Ein Prozess der Abstrahierung und Loslösung findet statt, der es erlaubt, von der Bildebene zur Erkenntnisebene – zum verborgenen Sinn – zu gelangen. Das Additive des Ornaments unterstreicht den Aspekt der sich wiederholenden Arbeitsabläufe im Bereich der Systeme Industrie und Börse. Mit der Ausübung seiner Funktion tritt das Individuum in den Hintergrund, der Einzelne löst sich in der gesellschaftlichen Masse auf. Nach den Ausführungen Kracauers wird der Einzelne zum Teil der Masse und nimmt sich auch als solcher wahr.99 Während es sich bei Kracauer um die Reflexion eines personenfeindlichen Wirtschaftssystems handelt, entlarvt Gursky noch darüber hinaus die kapitalistisch gesteuerte Fixierung einer Gesellschaft auf den extremen visuellen Reiz.

97 Ebd., S. 53. 98 Ebd., S. 54. 99 Vgl. ebd., S. 51f.

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Dass der Betrachter abstrahierte Bildstrukturen wahrnehmen kann, hängt nicht nur mit den ornamenthaften Bildeigenschaften zusammen, sondern auch mit dem nun vergrößerten Format der Aufnahmen. Gursky beschreibt schon zu diesem Zeitpunkt sein Prinzip, das jedoch erst in späteren Arbeiten ganz eingelöst wird: „Ein Großfoto sollte dem Betrachter bei aller realistischen Präsenz erlauben, über das konkrete Abbild hinwegzugehen und das Bild in ein rein abstraktformalistisches Gebilde aufzulösen.“100 Dasselbe gilt für die Funktionalisierung von Farbe, die im Prozess der Abstrahierung von großer Bedeutung ist. Der akzentuierende Einsatz und die Farbintensität tragen dazu bei, den Bildraum zu definieren und zu strukturieren.

2.1.4 Over-all In der Werkentwicklung Gurskys findet eine stetige Wiederaufnahme bestimmter Bildtypen statt – nicht gleichzusetzen mit einer seriellen Verortung –, die eine fortschreitende Formalisierung und Formverdichtung zu erkennen gibt. Gursky greift u.a. das Motiv der Börse immer wieder auf, an dem sich die Steigerung zu einem homogenen, umfassenden All-over, zu einem Over-all, veranschaulichen lässt. Die Aufnahme ‚New York, Börse‘ von 1991 (200 x 165 cm) z.B. zeigt aus einer erhöhten, frontalen Betrachterposition einen relativ kleinen Ausschnitt des Geschehens. Das Börsenparkett baut sich in horizontalen Streifen über die gesamte Bildfläche auf, lediglich am oberen Bildrand ist eine rückwärtige raumbegrenzende Zone sichtbar. Charakteristisch für diese Aufnahme ist die Überschaubarkeit der Situation: Nur wenige Personen bewegen sich auf dem Schauplatz und sind aufgrund der relativen Nähe des Betrachters zum Geschehen gut zu erkennen. Farbliche Akzente – wie die blauen Zeichen der Monitore bzw. die farbigen Jacken einiger Börsianer – treten nur zurückhaltend auf, so dass ihnen in der Komposition keine spezifische Bedeutung zukommt. Dies ändert sich sechs Jahre später in der Arbeit ‚Chicago, Mercantile Exchange‘, 1997 (186 x 249 cm): Farbstreifen in Orange und Rot – gebildet durch die Jacken der Broker im Vorder- und Mittelgrund – sowie die Leuchtschriften in Rot, Grün und Gelb an der 100 Gursky, Andreas in: Bürgi 1992a, S. 11.

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Wand im Hintergrund dominieren das Sujet und lösen es in ein Farbenspiel auf. Der Blickwinkel des Betrachters verläuft niedriger und weiter, wodurch sich die Anzahl der Personen zu einer größeren Menschenmenge erhöht. Dicht gedrängt durchziehen sie das Mittelfeld in seiner gesamten Breite; als zusätzliche Stilisierung des Geschehens wird die Leuchtschrift der Anzeigen als Punktmuster wahrgenommen. Im selben Jahr entsteht die Fotografie ‚Chicago, Board of Trade‘ (186 x 242 cm). Durch die Kleinteiligkeit der Bildobjekte wird hier ein All-over erzeugt, das einen großen Teil der Bildfläche überzieht. Dies liegt vor allem an der Entfernung des Fotografen zum Bildgegenstand, die einen weitläufigeren Blick auf die Raumsituation erlaubt. Die Individuen verlieren sich in der Masse und erhöhen den Grad der punktförmigen Abstrahierung. Die Makrostruktur verstärkt sich aufgrund des teilweise schwarzen Hinter- und Untergrundes, vor dem sich die farbige Bekleidung der Personen leuchtend abhebt. Zugleich löst sich die Struktur zum oberen und unteren Bildrand auf, d.h. einerseits nimmt die Zahl der Personen ab, so dass die dunklen Flächen der Sitzbereiche stärker hervortreten, andererseits bietet die rückwärtige schwarze Raumbegrenzung einige Ruhezonen für das bildabtastende Auge. Diese Zonen lösen sich in ‚Chicago, Board of Trade II‘ von 1999 (207 x 337 cm) auf, wodurch sich ein bildfüllendes Over-all einstellt. Der Betrachter schaut von oben in einem weiten Winkel auf die Szenerie und nimmt zunächst Strukturen von Linien und Farbexplosionen wahr. Doch lässt bei näherer Betrachtung diese Struktur Unregelmäßigkeiten erkennen: Bildzonen fallen auf, die den Betrachter verwirren und zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit den visuellen Fixpunkten animieren. Diese lassen sich mit der Wirklichkeit nicht in Einklang bringen: Geländer und Sitzreihen brechen plötzlich ab und werden in anderer Form weitergeführt; Monitore stapeln sich in einem Balanceakt übereinander, und eine Reihe von Personen erscheint in Verdopplungen mehrfach. Durch stark künstlich wirkende, überzeichnete Farbakzentuierungen entsteht ein Rhythmus im Bild, der vom eigentlichen Geschehen ablenkt. Die digitale Bearbeitung wird in dieser Arbeit bewusst nicht verborgen. So wird sie zwar erst auf den zweiten Blick ersichtlich, erhält dann jedoch umso mehr Gewicht und bestimmt wesentlich das Bildgeschehen. Die schon anhand der ‚Börse‘ dargestellte Formalisierung wird wieder durch das Prinzip der Wiederholung, durch das Additive, her-

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vorgerufen: Die Personen sind als ähnliche Motiveinheiten zu betrachten, die sich zu einem Rapport zusammenschließen. Die hervorgehobenen Farben akzentuieren und rhythmisieren zudem die Flächenstruktur, die in ihrer Gesamtheit die Bedingungen des Ornamentes erfüllt. Zudem erzeugen die Verschmelzung der Individuen in der Masse und die Stilisierung der Szenerie hin zu einem Farbformgerüst eine Annäherung von Figur und Grund. Die Hintergrundebene ist nicht mehr Träger aufgesetzter Figuren und Gegenstände, sondern vereint sich mit diesen zu einer einheitlichen Musterebene. Diese Merkmale gelten auch für die Aufnahmen von Konzertveranstaltungen. ‚Union Rave‘ von 1995 (186 x 305 cm) zeigt aus erhöhter Position einen ausschnitthaften Blick frontal auf die Zuschauermenge, so dass die Szenerie an allen Bildseiten beschnitten ist. Während im Vordergrund die Gesichter klar zu erkennen sind, verschwimmen sie im Hintergrund zu einer bräunlichen diffusen Masse. Ihre mit hochgerissenen Armen demonstrierte Ekstase gilt u.a. einer am linken unteren Bildrand als Rückenfigur zu erkennenden Person: einem Bandmitglied, das die Menge überblickt wie der Betrachter, doch ist er zugleich mitten im Geschehen und damit kein distanzierter Beobachter. Die das Bild überziehende Flächenstruktur steigert sich in der Aufnahme ‚May Day IV‘ von 2000. Mit den Maßen 207,6 x 508 cm konnte der Ausschnitt der Zuschauer deutlich breiter gewählt werden. Der Blick fällt nicht mehr frontal, sondern seitlich und rückwärtig auf die Personen, so dass sich die Anonymität der Beteiligten verstärkt. Sie steigert sich noch durch die erhöhte Distanz, die das Bildfeld zu einem fleckenhaften Hell-Dunkel werden lässt. Das Aufmerksamkeit stiftende Moment liegt in dieser Aufnahme außerhalb der Bildgrenzen. Obwohl sich insgesamt eine Bewegungstendenz nach rechts oben ausmachen lässt, wird diese Sichtrichtung von einigen Personen verweigert, da sie von vorne zu erkennen sind oder indem sie ihre Aufmerksamkeit einem anderen Geschehen zuwenden. Diese Irritation im Bild verstärkt sich bei genauerer Betrachtung noch, da Personenverdopplungen zu erkennen sind. Eine Montage mehrerer Motivsituationen ist jedoch nicht eindeutig nachzuweisen, wodurch die digitale Bearbeitung hier nicht die offenkundig bildstrukturierende Funktion erfüllt wie in ‚Chicago, Board of Trade II‘. Wesentlich kleinteiliger werden die Personen in der Fotografie ‚Tote Hosen‘, ebenfalls aus dem Jahr 2000 (204,4 x 508 cm), darge-

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stellt. Die Aufnahme mit ähnlichen Maßen wie ‚May Day IV‘ distanziert sich noch stärker vom Bildgeschehen. Die winzigen Köpfe und die empor gerissenen Arme lassen das Sujet zu einer flirrenden, aber gleichmäßigen Struktur werden. Unterbrochen wird das All-over lediglich durch die rückwärtige Raumbegrenzung, die als schmaler Streifen am oberen Bildrand ersichtlich ist, sowie durch die in der linken oberen Ecke platzierte Bühne mit zwei Bandmitgliedern. In den Konzertbildern tritt das Moment der Wiederholung in der Masse der Tanzenden signifikant hervor. Der Blick wird durch die Wiederkehr von identisch erscheinenden Personen rhythmisiert. Das Repetitive in den Konzertbildern Gurskys wird zusätzlich – wenn auch indirekt – durch die elektronische Tanzmusik der Raves zum Ausdruck gebracht: Besonders die Musikrichtungen House und Techno werden mit dem Begriff ‚repetitive beats‘ umschrieben.101 Die Fotografien Gurskys, die eine ‚Massenveranstaltung‘ zum Thema haben, zeichnen sich in ihrer Bildfindung dadurch aus, dass der Betrachter im Unklaren bleibt, ob er „in distanzierter Nähe oder in naher Distanz“102 zum Ereignis steht. Hervorgerufen wird diese Irritation durch die Bildaufsicht und die Tiefenschärfe, die eine Beobachtung der Personen bis in kleinste Details zulassen und die Fotografie durch gleichmäßige Aufmerksamkeitsverteilung in einen „Schwebezustand von Vorder- und Hintergrund“103 überführen. Hinzu kommt das Ausschnitthafte des Geschehens, das eine gewisse Nähe suggeriert. Distanz wird hingegen hergestellt durch das ausgrenzende Spezialistentum des Börsengeschäfts (‚Chicago, Board of Trade II‘) und durch die empor gerissenen Arme der Musikfans (‚Tote Hosen‘, 2000), die auch als „geschichtsträchtige Geste“104 gelesen werden können. Die am Rapport angelehnten Formwiederholungen bewirken eine ungezwungene Bildwahrnehmung, die ebenfalls mit einem Schwebe-

101 Vgl. Holert, Tom: „… repetitious, though not necessarily boringly so“. Notizen zur schwankenden Reputation der Repetition: Jazz, Techno etc. In: Hilmes, Carola; Mathy, Dietrich (Hrsg.): Dasselbe noch einmal: Die Ästhetik der Wiederholung. Opladen, Wiesbaden 1998, S. 215-228, hier S. 216. 102 Irrek 1995a, S. 9. 103 Ebd. 104 Ebd.

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zustand der Bildelemente in Verbindung gebracht wird.105 Dies erlaubt dem Betrachter, den Zugang ins Bild frei zu wählen, ohne von einer durch den Künstler gesteuerten Vorgabe der Sichtweise beeinflusst zu werden. Jedes Bildelement erscheint gleichrangig, obwohl der Bezug zur Wirklichkeit dazu animiert, bildimmanente Schwerpunkte festzulegen. Realitätsbezug und Abstrahierung begründen auf diese Weise die „Form von Freiheit“106, einen leichten und unverstellten Blick auf den Menschen und sein Umfeld zu werfen, oder auch die Möglichkeit, sich von der Realitätsvorgabe gänzlich zu lösen.107 In den „Rapport“Bildern zeigt sich eine Formalisierungsstrategie, in der sich ein Einzelbzw. Teilmotiv – z.B. der einzelne Raver oder Broker – der Gesamtstruktur unterordnet oder – anders formuliert – in der sich die Teilmotive in ihrer Gesamtheit räumlich zu einer Struktur organisieren. Der Betrachter konzentriert sich in der Makrostruktur auf die Gesamtwirkung des Rapportes und erst in der Mikrostruktur auf die Grundeinheiten. Dieser Schwebezustand lässt sich jedoch auch in eine andere Richtung denken. Das Eintauchen in die Aufmerksamkeitsverteilung eines All-over ist zugleich mit einer Umschließung verbunden, die – im Zusammenwirken mit der enormen Bildgröße – vereinnahmend und bedrängend wirken kann. Es lässt sich keine Insel der Andersartigkeit finden, kein Fluchtpunkt der Sicherheit oder des Auswegs. Dies führt zu charakteristischen, aber nicht klar definierten Räumen, die mit einer Art „Nirgendwo“108 konnotiert sind. Auch die auf konkrete Orte verweisenden Titel können nicht über das Gefühl der Ortlosigkeit hinwegtäuschen.109 Das Besondere und Geheimnisvolle an der Wiederholung ist laut Marianne Gronemeyer „das Überraschungsmoment auf kleinstem Raum, die unter Umständen winzige Abweichung von der Erwartung, durch die überhaupt erst Auffälligkeit entsteht und Aufmerksamkeit magisch selbst auf an sich Unscheinbares gelenkt wird. [...] Nur in der Wiederholung kann die geringfügigste Andersheit ihre umstür-

105 Vgl. Schmitz 1994, S. 8. 106 Ebd. 107 Vgl. ebd. Vgl. bzgl. der gleichmäßigen Aufmerksamkeitsverteilung auch Biggs 1995, S. 60. 108 Biggs 1995, S. 62. 109 Vgl. ebd., S. 60f.

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zende Verwandlungsmacht erweisen. Eine winzige Nuance kann mehr Überraschung bergen als die größte Neuheit, der ‚dernier cri‘.“110

In den Börsen- und Konzertbildern erweitert Gursky die Suche nach dieser ‚Nuance‘, indem er die digitale Bildbearbeitung als fotografisches Gestaltungsmittel nutzt und dies auch öffentlich bekannt macht. Der Betrachter weiß also, dass den Bildern Gurskys noch weniger zu trauen ist als den ‚dokumentarischen‘ Fotografien aus der Presse. In Ausstellungen kann beobachtet werden, dass Besucher die Bilder mit der Intention betrachten, die digitalen Schnittstellen und Dopplungen in der Masse der Tanzenden zu identifizieren. Das überraschende Auffinden der ‚Nuancen‘ ist von erfreuten Ausrufen begleitet und von der Genugtuung, dem Fotografen auf die Schliche gekommen zu sein. Die digitale Manipulation – zunächst deklariert lediglich als erweitertes Handwerkszeug – hat sich in diesen Fällen zu einem werkbestimmenden, weil rezeptionsrelevanten Moment entwickelt. Die Fotografien Gurskys gelten in der Wahrnehmung durch das Publikum pauschal als ‚digital verändert‘, obwohl es sehr viele Aufnahmen gibt, die der Fotograf nicht oder nicht sinnfällig digital bearbeitet hat. Durch die digitale Bildbearbeitung wird die fotografische Oberfläche zunehmend gestaltet – ein Umstand, der wiederum einen Vergleich mit Kracauer anbietet, in diesem Fall mit seiner literarische Arbeitsweise, die gegen die Reportage und für das Mosaik plädiert. Der folgende Ausschnitt aus Kracauers Studie über die Angestellten aus dem Jahr 1930 verdeutlicht dies: „Hundert Berichte aus einer Fabrik lassen sich nicht zur Wirklichkeit der Fabrik addieren, sondern bleiben bis in alle Ewigkeit hundert Fabrikansichten. Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Gewiß muß das Leben beobachtet werden, damit sie erstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengeführt wird. Die Reportage photographiert das Leben; ein solches Mosaik wäre sein Bild.“111

110 Gronemeyer 2000, S. 66. 111 Kracauer, Siegfried: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Mit einer Rezension von Walter Benjamin. Frankfurt am Main 1971, S.

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Erst die Montage aus diversen Einzelbeobachtungen und die Zusammenführung ihrer Kontexte erschließt Wirklichkeit und legt die „Exotik des Alltags“112 frei.113 Helmut Stalder erklärt dazu: „Die Reportagen, wie Kracauer sie vorfindet, bleiben an der Oberfläche haften, statt deren symbolische, metaphorische und allegorische Codes zu entziffern. Sie inventarisieren das Material, statt es dialektisch zu durchdringen. Weil sie die Welt nicht aus einer bestimmten, bewusst eingenommenen Position sehen, sind ihre Wahrnehmungen beliebig. [...] Sie stellen die Wirklichkeitspartikel zu sinnlosen, höchstens formal begründeten Abfolgen zusammen, statt aus ihnen aufgrund der Erkenntnis ihres Gehaltes in einer richtig verstandenen Montage ein beredtes Bild zu konstruieren.“114

Auch Gurskys Bilder sind keine Reportagen im Sinne eines Versuchs, Wirklichkeit darzustellen durch dokumentierendes Abfotografieren; vielmehr konstruieren sie neue Bildoberflächen aus verschiedenen Beobachtungen, Strategien und subjektiven Wirklichkeitsdaten, die ein tieferes Weltverstehen ermöglichen sollen. In den Bildern der Kategorien Konstruktion, All-over und Over-all wurden sowohl formal als auch inhaltlich Prozesse der Wiederholung festgestellt. Das Prinzip der Wiederholung läuft dem postmodernen gesellschaftlichen Streben zuwider, ‚individuell‘ zu sein, sein Leben ‚anders‘ und ‚non-konform‘ zu führen. Das Individuum will sich dadurch auszeichnen, dass es in jeder Lebensphase frei entscheiden bzw. aus dem für unbegrenzt gehaltenen Angebot der Optionen nach persönlichen Präferenzen wählen kann. Die Schwierigkeit liege nur darin, aus der Fülle des Möglichen richtig zu wählen – ein Problem, das in

16. Kracauer führt hier bereits einen Gedankengang aus, den B. Brecht 1931 aufnimmt, nämlich inwiefern eine Fotografie etwas über die Kruppwerke aussagt. Vgl. Kap. III.2.1.1. 112 Ebd., S. 11. 113 Vgl. Schroer, Markus: Unsichtbares sichtbar machen. Visualisierungsstrategien bei Siegfried Kracauer. In: Grunert, Frank; Kimmich, Dorothee (Hrsg.): Denken durch die Dinge. Siegfried Kracauer im Kontext. München 2009, S. 169-188, hier S. 173. 114 Stalder, Helmut: Das anschmiegende Denken. Kracauers Erotik der Wirklichkeit. In: Grunert, Kimmich 2009. S. 47-84, hier S. 77.

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Zeiten der Generationenvererbung nicht relevant war. Das Individuum will sich heute in seiner Besonderheit bestätigt wissen.115 Den Konflikt zwischen Individualität und Wiederholung hat bereits René Magritte 1953 im Gemälde ‚Golconde‘116 zum Thema gemacht. Ein mit Anzug, Mantel und Bowler schwarz gekleideter Mann füllt in vielfacher Reproduktion das gesamte Bildformat aus. In regelmäßigen Abständen und räumlich in drei Reihen geschichtet, fallen die Figuren vom blauen Himmel herab, entlang der im unteren Bilddrittel dargestellten Häuserfront. Aus unterschiedlichen Winkeln ist immer nur die Vorderansicht des männlichen Stereotypen ersichtlich. Die Wiederholung erzeugt den Anschein, als sei immer derselbe Mensch dargestellt.117 „Standardisierung und Serialität bestätigen einander: der Mensch als unendliche Kopie seiner selbst. Die Frage nach dem Original scheint aus dem Bild verbannt, denn Singularität und Selbsteigenheit des Einzelnen werden durch die Art und Weise der Darstellung gerade negiert.“118

Erst ein intensiver Blick lässt erkennen, dass die Männer ganz unterschiedliche Gesichtszüge zeigen. Magritte illustriert damit die Auflösung des Einzelnen in der anonymen Masse: „The man with the bowler is just middle class man in his anonymity“ [...] „the men are dressed the same, as simply as possible, to indicate a crowd.“119 Die Verstörung des Betrachters angesichts gleichförmig reproduzierter Menschen muss sich jedoch erst gegen die als harmonisch empfundene Anordnung der traumhaft schwebenden Gestalten durchsetzen.

115 Vgl. Gronemeyer 2000, S. 78ff. 116 René Magritte, Golconde, 1953. Öl auf Leinwand, 81 cm x 100 cm. The Menil Collection, Houston. Abb. in: Hilmes, Mathy 1998, S. 139. 117 Vgl. Hilmes, Carola: Auf der Suche nach dem surrealistischen Ich. Individualität und Wiederholung: Magritte und Breton. In: Hilmes, Mathy 1998, S. 135-158, hier S. 135f. 118 Ebd., S. 136. 119 Sylvester, David (Hrsg.): René Magritte. Catalogue raisonné. Bd. III: Oil Paintings, Objects and Bronzes. 1949-1967. The Menil Foundation, London 1993, S. 205f. Zitiert nach Hilmes 1998, S. 136.

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In der Strukturkategorie ‚Over-all‘ füllen die abgebildeten Personen den gesamten Raum aus – mitunter über die Ränder hinaus. Waren sie in den Landschaftsaufnahmen noch als singuläre Akteure erkennbar – wodurch der Landschaftsraum dominierte –, stehen sie nun „im Zusammenspiel mit dem Raum, der sie umgibt. Die wechselseitige Bezogenheit von Figur und Umgebung spricht von menschlicher Verfasstheit, von der Prägung durch die Räume, in denen wir uns bewegen und handeln. Und umgekehrt zeigt die Gleichwertigkeit von Figuren und Umgebung, wie sehr diese durch menschliche Präsenz bestimmt ist, sei es durch tatsächliche Eingriffe oder auch allein schon durch die Einstellung der Wahrnehmung.“120

Gursky bietet dem Betrachter in seinen Fotografien stets die gleiche Oberflächenstruktur an, eine Struktur, die durch depersonalisierte, zur bloßen Funktion degradierte oder ökonomisch verwertete Körper gebildet wird. Gurskys Bilder wollen zeigen, dass diese Depersonalisierung heute für alle Lebensbereiche des Menschen symptomatisch ist, für seine Freizeitgestaltung ebenso wie für seine Arbeit mit den steigenden Ansprüchen einer globalisierten Wirtschaft: „Der Druck steigt – und im selben Maß die Sehnsucht nach Entlastung und selbstgestalteten Lebensnischen. Der im Beruf geforderten Konzentration – dem innerlichen Sichzusammendrängen um einen oft nicht selbst gewählten Mittelpunkt – steht die Sehnsucht entgegen, in der off-time sich wieder selbst zu zerstreuen.“121

„Off-time“ bezeichnet die freie Zeit, die neben der Arbeitszeit Raum bietet,

120 Söntgen, Beate: Am Rande des Ereignisses. Das Nachleben des 19. Jahrhunderts in Andreas Gurskys Serie F1 Boxenstopp. In: Andreas Gursky. Ausst.-Kat. Kunstmuseum Basel. Ostfildern 2007, S. 49-68, hier S. 52. 121 Witzel, Eva: Sehnsucht nach Zerstreuung. In: Off-time. Fotografische Positionen zur Freizeit- und Eventkultur. Catherine Gfeller, Peter Granser, Andrew Phelps, Janine Schrijver, Massimo Vitali. Hrsg. v. Ralph Melcher. Ausst.-Kat. Saarlandmuseum Saarbrücken. Heidelberg 2007, S. 818, hier S. 8.

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„in dem der Mensch autonomos wird, sich etwas Eigenes schafft: individuell empfundene Sphären des Irrationalen, der Konventions- und Regellosigkeit oder zumindest der selbst gewählten Regeln“.122

Gursky zeigt, dass Rockkonzerte zu jenen „spielerischen Kulissen“ gehören, die den Menschen als „Projektionsflächen für Gefühle, Wünsche, Phantasien“ dienen.123 Die Masse Mensch ist dabei das attraktive Moment, weil Einzelne in ihr aufgehen können und durch sie Teil einer Gemeinschaft werden.124 Ähnliche Mechanismen wirken in Themenparks, beim Extremsport, Fitness oder Shopping: Der getriebene Mensch löst im Wunsch nach Selbstverwirklichung und Identität die Trennung der Lebensbereiche Arbeit und Freizeit auf. Die Integration in eine solche Gruppe, deren Handeln konformiert und deren Äußeres oft uniformiert ist, muss jedoch der sehnsuchtsvollen Suche nach Identitätsgewinn zuwiderlaufen. Gursky führt dem Betrachter diese Annäherung in Form des Ornaments vor Augen. Sowohl in der Börse als auch beim Konzert oder Rave wird durch die fotografische Aufnahme die organische, reguläre Formierung sichtbar. Das formale Strukturprinzip und die Bedeutungsebene bedingen sich gegenseitig: In der Oberflächenerscheinung wird das Verhalten der Gesellschaft in Beruf und Freizeit registriert und charakterisiert. Gursky selbst bezeichnet sich in solchen Aufnahmesituationen als bewusst distanzierten Beobachter, der einerseits – thematisch gesehen – zeitgenössische kulturelle Phänomene wahrnimmt bzw. gesellschaftliche Wünsche illustriert, andererseits Ansammlungen von Menschenmassen aus formalanalytischer Perspektive für die Umsetzung bestimmter Bildideen funktionalisiert.125 Dass dabei der formale Aspekt der Bildkomposition in den Vordergrund rückt, belegt die bereits in der Einleitung dieser Arbeit zitierte Äußerung Gurskys: „In der Tat werden meine Bilder zunehmend formaler und abstrakter. Eine bildnerische Struktur scheint die abgebildeten, realen Begebenheiten zu über-

122 Ebd. 123 Schulze, Gerhard: Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventkultur. 2. Aufl. Frankfurt am Main, New York 2000, S. 11. 124 Vgl. ebd., S. 100. 125 Vgl. Gursky, Andreas in: Krajewski 1999, S. 12.

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lagern. Ich unterwerfe die reale Situation meinem künstlerischen Konzept der Bildfindung.“126

Die Methode des Findens entspricht grundsätzlich der künstlerischen Haltung Gurskys: Sowohl inhaltlich als auch formal unterwirft er seine Umwelt einem Ordnungs- und Sortierungsprozess, der sich schließlich in seinen Werken widerspiegelt.127 Gurskys Arbeiten, die Broker, Raver oder Arbeiter zum Thema haben, unterstreichen das Suchen nach choreographischen Ordnungen128, die in den Werken der 80er-Jahre einer verborgenen Gesetzmäßigkeit zu folgen scheinen. Dabei handelt es sich immer um Ordnungen, die in ihrer Gesamterscheinung „zweckfrei“ sind, im Gegensatz zu Paraden, die bewusst eine Einheit kundgeben.129 Mit seiner Bildfindungsstrategie verdichtet Gursky in der Welt vorhandene Situationen. Das verwendete Ordnungsgerüst, die Fülle und der Reiz der Ornamentstruktur sowie der spielerische Charakter des Komponierens eröffnen – in Form einer allegorischen Potenz – zunächst die erste Sinnebene: die Zustände, Befindlichkeiten und Wünsche einer Gesellschaft. Der zweite Sinn, das allegorische ‚Sagen‘ als ‚Anders-Sagen‘, liegt eine Bedeutungsschicht tiefer und bezieht sich auf etwas im Bild selbst eigentlich Absentes – also Abstraktes: auf den kapitalistisch orientierten, selbst in seiner Freizeit getriebenen Menschen, der jede Individualität und die Fähigkeit zum Müßiggang verloren hat. „Bestand der Entwurf des modernen Menschen in der Einheit des Lebens oder auf der Entfaltung von Persönlichkeit, so ist der postmoderne Mensch gekennzeichnet von Brüchen, von Neuanfängen und von Flexibilitäten. Es gibt kein zentrales Subjekt mehr, keinen Lebensmittelpunkt, kein vorgeschriebenes Ziel und keinen festen Ausgangspunkt. Der Verlust sozialer Bindungen oder eines

126 Gursky, Andreas in: Görner 1998, S. V. 127 Vgl. ebd., S. III. 128 Vgl. Lütgens, Annelie: Der Blick in die Vitrine oder: Schrein und Ornament. Zu den neuen Bildern von Andreas Gursky. In: Textbeilage zu Gursky 1998a, S. 10-15, hier S. 13. 129 Vgl. ebd. Vgl. zu den Ordnungssystemen auch Wege, Astrid: Kein Ort. Nirgends. In: Texte zur Kunst. 8. Jahrgang, Heft 31, September 1998, S. 166-169, hier S. 167.

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sozialen Gefüges hat einen Individualismus ohne Individuum entstehen lassen. Es gilt, sich permanent neu zu erfinden.“130

Kann in den Bildern dieser Kategorie formal von einer Abstrahierung gesprochen werden, so liefert die semantische Ebene die Abstraktion. Der Raum wird durch den Menschen eingenommen und bestimmt, d.h. der Raum ereignet sich nicht mehr als bloßer Raum wie in der Strukturkategorie ‚Das Abstrahierende und das Ornamentale‘. Dort wurden noch die Vorstufen der Zivilisation und die Erkundung von Lebensräumen dargestellt. Was Bettina Steinbrügge für das Fotografieprojekt ‚Work Life Balance‘ der Dresdner Künstlergruppe ‚Reinigungsgesellschaft‘ feststellt, lässt sich auf Gurskys Landschaftsfotografien im Vergleich zur zweiten Strukturkategorie übertragen: „Inmitten der Spaß-, Risiko- oder Arbeitsgesellschaft entpuppt sich die Langeweile manchmal als eine intelligente Antwort auf ein überforderndes Leistungssystem, oder auch als ein Ausweg, seine eigene Realität zu reflektieren. [...] Wichtig könnte es sein, mit der Langeweile im eigenen und im kollektiven Leben umgehen zu lernen und dabei die scheinbare oder wirkliche Bewegungslosigkeit nicht mit erfundenen Aktivitäten und Betriebsamkeit zu Verschwinden zu bringen.“131

Der einzelne Mann unter der Brücke in der Aufnahme ‚Ruhrtal‘ (1989), die Angler in ‚Mühlheim, Angler‘ (1989) oder die Flughafenbeobachter in ‚Düsseldorf Flughafen, Sonntagsspaziergänger‘ (1984) sind demnach als Gegenpol zur tätigen Gesellschaft zu deuten: in ihrer Erfahrung einer konstruktiven Langeweile, die das eigene existenzielle Vorhandensein wieder erfahrbar werden lässt.

2.1.5 Geometrisierung In Gurskys Bildfindung erfährt der horizontale Bildaufbau in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre strengere geometrische Formalisierungen. Durch das Prinzip der Streifen wird einerseits das Abgebildete in ein 130 Steinbrügge, Bettina: Work Life Balance. Siehe www.reinigungsgesell schaft.de/texte/textsteinbruegge. htm vom 22.03.2008. 131 Ebd.

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rahmendes und unterteilendes Gefüge oder Muster überführt, andererseits bezeugt es eine bereits zuvor dagewesene Ordnung: „Gurskys Streifen schaffen die Struktur einer nicht konkret gefüllten Ausdruckshaftigkeit, in der unklar bleibt, ob sie von den dargestellten Dingen oder der Darstellung herrührt.“132 Besonders klar wird dies 1996 an der Arbeit ‚Rhein‘ (185 x 278 cm), in der noch einmal das Thema Landschaft aufgegriffen wird. So baut sich – aus der Ferne betrachtet – das fotografische Bild von unten nach oben flächig durch wechselnd grüne und grau-weiße Streifen in divergierenden Breiten auf. Bei näherer Betrachtung sind unebene Wiesenzonen, ein schmaler grauer Weg, eine gekräuselte Wasserzone sowie eine fast die Hälfte des Bildes ausmachende helle Himmelzone zu erkennen. Keine Architektur, kein Mensch oder Tier stören die Aufnahme der begradigten und kultivierten Natur; der Künstler half digital nach und eliminierte eine Fabrik im Hintergrund sowie einen roten Stab im Wasser.133 Gursky hat für diese Aufnahme vergeblich nach einem Flussabschnitt gesucht, der mit seinem gedanklich bereits konzipierten Bild übereinstimmte. Ähnlich wie bei den Industrieaufnahmen sollte das Bild des Flusses universalen Zeichencharakter besitzen und von allem Zufälligen befreit sein. Schließlich erforderte es eine digital produzierte „fiktive Struktur“134, um dieses Bild zu realisieren. Gursky gelangt somit nicht mehr über eine Vielzahl von Fotografien zu der gesuchten Aufnahme, sondern lässt seine Bildvorstellung digital entstehen. Neben der Komposition ‚Rhein‘ hat Gursky weitere Fotografien produziert, die durch extreme horizontale Bildeinteilungen und Flächen gekennzeichnet sind. So beginnt eine Bildkategorie mit Aufnahmen von Schuhregalen der Modefirma Prada. Die Aufnahme ‚Prada I‘, 1996 (134 x 226 cm) zeigt ein Arrangement aus zu Paaren und zu dritt platzierten Damenschuhen: Der Blick fällt frontal auf eine in Pastellgrün gehaltene Wandzone, in welche zwei Böden – davon eine in den Raum vorspringend – eingelassen sind, auf denen die Schuhe von hinten erleuchtet stehen. Das Regal-Wand-System steht auf einem rosafarbenen Teppich, von dem ein schmaler Streifen am unteren Bildrand

132 Söntgen 2007, S. 56. 133 Vgl. Syring 1998a, S. 6. 134 Gursky, Andreas in: Görner 1998, S. V.

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zu erkennen ist. Als Gegenpol dazu schließt ein leichter Wand- oder Deckenvorsprung in einem helleren Grün das Bildmotiv nach oben ab, wodurch eine horizontale Dreiteilung in der Fläche bewirkt wird. Räumlichkeit erfährt die Aufnahme durch die Regalaussparung im Mittelfeld, die nicht bis an die Bildränder herangeführt wurde, aber dennoch die Horizontalität betont. Das Sujet vermittelt durch Farben und Schuhanordnung eine kühle und strenge Atmosphäre, die für das Image und die Corporate Identity der Firma Prada kennzeichnend ist. Diese exklusive Schuhpräsentation hat Gursky in Paris vorgefunden und als bildwirksam eingestuft. Ein bloßes fotografisches Abbild wäre jedoch einer konventionellen Designfotografie zu nahe gewesen, so dass er sich dazu entschloss, die ästhetischen Qualitäten zu forcieren. So fotografierte er das Regal zweimal, jedoch mit ausgewechselten Modellen, und fügte die Bilder digital aneinander. Die Reihung und Linearität wurden auf diese Weise bewusst hervorgehoben.135 Gursky erhöht das Regal schließlich ein Jahr später in der Fotografie ‚Prada II‘, 1997 (166 x 316 cm) zum bildgebenden Motiv. Zu sehen ist die komplette, an den Seiten freistehende Regalkonstruktion in einem vom Betrachter – aufgrund grüner perspektivisch zusammenlaufender Seitenwände – vorgestellten Raum. Das Regal verstellt frontal diesen Raum, gibt aber selbst Raum frei, da drei Böden eingelassen sind. Das Aussparen der Schuhe macht das Konstrukthafte des Bildes besonders deutlich und legt Vergleiche mit den nachgebauten und fotografierten Raumszenerien von Thomas Demand nahe. Die Arbeiten von Gursky und Demand geben ein Beispiel dafür, wie wenig eine Fotografie über den eigentlich Maßstab des fotografierten Objektes Auskunft geben kann. So ist auch bei Gursky nicht zu klären, ob das Regal annähernd gleiche Maße aufweist wie sein fotografisches Abbild, das immerhin 166 x 316 cm groß ist. Als monumentale Architektur kann es aufgefasst werden im Vergleich zu einigen Architekturaufnahmen von Thomas Ruff. Dieser fertigte 1991 im Auftrag von Jacques Herzog und Pierre de Meuron für die Architekturbiennale in Venedig (1991) eine Aufnahme an, die das von den Architekten erbaute Lager der Firma Ricola in Laufen zeigt. Ruff fotografierte jedoch nicht selber, sondern überließ dies unter bestimmten Vorgaben einem Basler Fotografen. Die so entstandenen Aufnahmen setzte Ruff schließlich digital zu einer Fotografie mit dem Titel ‚Haus

135 Vgl. Gursky, Andreas in: Jocks 1999, S. 261.

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Nr. 4 II‘136 (Ricola Laufen) zusammen. In einer Einzelaufnahme hätte die gesamte Fassade bildlich nicht erschlossen werden können, da ein weiterer Gebäudetrakt eine unverstellte Sicht verhindert.137 Wie das Regal in ‚Prada II‘ ist das Gebäude zentral ins Bild gesetzt. Die Fassade nimmt in ihrer horizontalen Ausdehnung das gesamte Bildformat ein; nur ein schmaler Streifen zu allen Seiten hebt die Architektur vom Hintergrund ab. Die moderne horizontal gegliederte Architektur, „die durch Licht- und Farbfilter und ihre hypertrophierte Größe wie eine Epiphanie [...] [wirkt]“138, sowie das surreal anmutende Umfeld verschleiern das eigentliche Maßstabverhältnis. Die mit 153 x 295 cm ebenfalls sehr große Fotografie lässt den Vergleich mit ‚Prada II‘ zu. Dieser Vergleich zeigt, dass innerhalb der Fotografie ein Gebäude zum inszenierten Objekt und das Regal zur Architektur werden kann. Ähnliches ergibt der Vergleich mit einer weiteren Fotografie von Ruff, die ebenfalls im Auftrag von Herzog & de Meuron entstand. Die im Entstehungsprozess nicht manipulierte Aufnahme ‚Sammlung Goetz, München‘139 von 1994 zeigt dieselbe Bildsituation wie in ‚Ricola Laufen‘. Die gleichmäßig ausgeleuchtete und in Rechtecke gegliederte Fassade definiert die Architektur als Fläche und nicht als Raumkörper, wie es eigentlich die Funktion von traditionellen Architekturfotografien ist.140 Der dreigeschossige Bau, seine zentrale Stelle im Bild und das diffuse Licht in den unten und oben angesiedelten Fensterzonen legen den Vergleich mit ‚Prada II‘ nahe.141 Beide Aufnahmen geben über die Essenz des Fotografierten keine Auskunft,

136 Thomas Ruff, Haus Nr. 4 II (Ricola Laufen), 1991. Chromogener Farbabzug, mit Diasec Face kaschiert. Maße mit Holzrahmen 153 x 295 cm. Aufl. 4 + 2 AP, verso signiert, datiert und nummeriert. Siehe Werkverzeichnis in: Winzen 2001, S. 223. 137 Vgl. Claser 2000, S. 104. 138 Steinhauser 2000a, S. 15. 139 Thomas Ruff, Sammlung Goetz, München, 1994. Chromogener Farbabzug, mit Diasec Face kaschiert. Maße mit Holzrahmen 188 x 297 cm. Aufl. 4 + 2 AP, verso signiert, datiert und nummeriert. Siehe Werkverzeichnis in: Winzen 2001, S. 223. 140 Vgl. zur Fassadenwirkung von ‚Sammlung Goetz, München‘ Claser 2000, S. 105. 141 Den bildlichen Vergleich stellt auch Steinhauser her, lässt diesen jedoch unkommentiert. Vgl. Steinhauser 2000a, S. 16.

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sondern liefern – wie Claser für Ruffs Aufnahmen feststellt – Erkenntnisse „über das Bild der Realität, welches eine direkte Erfahrung der Wirklichkeit zunehmend ersetzt“142. Architekturbau und Regalbau verlieren in der bildlichen Wahrnehmung ihren funktionalen Wert. Der artifizielle Charakter, die unbestimmten Lichtverhältnisse und die unbestimmte Funktion erhöhen die Architektur zu sakral anmutenden Objekten. Die Steigerung zu einem All-over vollzieht Gursky in der Aufnahme ‚o.T. V‘, ebenfalls von 1997 (186 x 443 cm). In sechs Regalreihen, eine von ihnen wird noch vom Boden gespiegelt, werden, scheinbar endlos, einzelne Turnschuhe aneinander gereiht. Fast einer Karikatur gleich, scheinen sie im Regal-System zu schweben, das in einheitlichen Beige-Tönen zu einer Fläche verschmilzt. Die horizontalen Reihen der Schuhe dominieren und strukturieren auf diese Weise die gesamte Aufnahme. Doch hat Gursky – wie er selbst erklärt – nicht das ähnlich vorgefundene Schuhregal als Motiv verwendet, da es seiner Vorstellung nicht entsprach. Er baute vielmehr eine Regal-RaumKonstruktion nach, die etwa ein Sechstel des visuellen Regals ausmachte, fotografierte darin in sechs Etappen die Sportschuhe und gelangte durch digitale Bildbearbeitung zu einer Schuhanzahl von über 200 Stück.143 Ähnlich verhält es sich mit der Fotografie ‚o.T. IX, 1998 (136 x 226 cm), die ästhetisch und kompositorisch zwischen den Aufnahmen ‚Prada I‘ und ‚o.T. V‘ einzuordnen ist. Wie bei ‚Prada I‘ sind in zwei Reihen Konsumgüter abgebildet. Wohlgeordnet reihen sich – separat auf Bügeln verteilt – Slips, Bustiers und Bodys aneinander. Die schräge Seitensicht auf die nach Farben sortierten Wäschestücke lässt diese wie farbig fließende Formen erscheinen. Verstärkt wird die Wirkung der stilisierten Farbpalette durch das flächige Umfeld von Regal und Boden. Eine Steigerung der Abstrahierung findet sich in ‚Prada III‘ von 1998 (177 x 307 cm), das ein Regal mit schwarzen Pullovern zeigt. Der Betrachter nimmt zunächst nur schwarze Flecken wahr. Im Vergleich zur Kategorie ‚Konstruktion Außenarchitektur‘ wechselt in den Aufnahmen ‚Rhein‘ und ‚Prada‘ die Wahrnehmung von einem

142 Claser 2000, S. 104. 143 Vgl. Gursky, Andreas in: Görner 1998, S. IV. Vgl. auch Gursky, Andreas in: Krajewski 1999, S. 14.

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horizontalen, kleinteilig strukturierten Flächengerüst auf breitere homogene Flächenstücke. Nicht nur die Wertigkeit der Fläche nimmt zu, sondern auch die koloristische Prägnanz. Das Motiv erfährt und bewirkt gleichermaßen eine Reduktion, mit der eine Schematisierung und Vereinfachung der Komposition einhergeht. Eine geordnete Welt – sei es die begradigte Flusslandschaft oder die architektonische Rahmung bei ‚Prada‘ – zeigt sich distanziert, kühl und steril. In ‚Prada‘ ist es paradoxerweise die Fläche, die beim Betrachter das Gefühl einer abgegrenzten anonymen Räumlichkeit noch verstärkt. Francesca Ferguson stellt heraus: „‚Prada II‘ ist die ultimative symbolische Repräsentation einer Supermoderne, aus der die Objekte des Begehrens – die Schuhe – entfernt wurden und nur die Innenarchitektur – der Schrein für das Objekt – übrig bleibt. Eine Wand mit drei weich beleuchteten leeren Regalen wird auf den Rang einer entleerten Perfektion erhoben, in der die Ware selbst keine Rolle mehr spielt; es ist der Raum, der dieses Begehren weckt und umschließt.“144

Auf diese Weise hat sich die Marke vom Produkt gelöst; die Inszenierung des Podests wird zur Ausdrucksform einer kulturellen Oberfläche: dem Warenfetischismus. Arbeiten wie ‚Prada I‘, ‚Prada III‘ und ‚o.T. V‘ sind ästhetisch gesteigerte und verdichtete Darlegungsweisen einer sich über den Konsum von Luxusprodukten definierenden Gesellschaft. Gursky erläutert: „Überall werden sie präsentiert, und wir haben es letztlich mit einer übertriebenen Form von Warenfetischismus zu tun. Weiter geht es nicht. Dieser gesellschaftliche Aspekt interessiert mich [...] Wie gesagt, es gibt diese Art von Warenpräsentation, aber nicht in der radikalen Form, wie von mir zum Ausdruck gebracht.“145

Lütgens erhielt von Veit Görner zudem den Hinweis, dass Gursky die Exklusivität der Prada-Stores in seinen Fotografien durch die gleichzeitige Anordnung von Sommer- und Winterschuhen ironisch bricht. Die Ironie steigert sich noch dadurch, dass aus einzeln angeordneten

144 Ferguson, Francesca: Andreas Gursky und das urbane Zeitalter. In: Beil, Feßel 2008, S. 18-23, hier S. 22f. 145 Gursky, Andreas in: Jocks 1999, S. 261.

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sowie ausgesuchten Prada-Schuhen ein beliebiges Massenensemble von Sportschuhen entsteht, das den Anspruch der Marke Prada, Exklusivität und Individualität zu stiften, ad absurdum führt.146 Die Begriffe „Schrein und Ornament“147 – verstanden als Rahmung und Rapport – charakterisieren den Dualismus der Ware zwischen Nobilitierung und gleichzeitiger Banalisierung. Dass die zu einem All-over verbundene Präsentation von Sportschuhen ‚ohne Titel‘ bleibt − in einem sterilen, indefiniten und damit ortlosen Raum −, entlarvt die Fülle des Warenangebots als gleichförmig. Der Kunde erliegt der Illusion, frei und nach persönlichen Präferenzen auswählen zu können − und registriert nicht, dass dieser Auswahl kein originelles Moment innewohnen kann, weil das Angebotsspektrum im Verhältnis zur möglichen Konsumentenzahl eben doch verschwindend gering ist. Die für identitätstiftend gehaltene Vielfalt schlägt − gegen den Willen des Käufers und oft ohne dass er sich dessen bewusst wäre − in Uniformierung oder Gruppenassimilation um. Der Werbeslogan „Die Marke hat Persönlichkeit“148 wird konterkariert durch die industrielle Massenproduktion am Fließband. Was mit individueller Freiheit etikettiert ist, entlarvt sich als gleichgeschalteter Konsumzwang: „Kaum irgendwo geht es so wiederholsam, so imitativ und so konformistisch zu wie bei der Hervorbringung moderner Individualität. [...] Tatsächlich verfügt das immer unübersichtlicher werdende Angebot über eine beträchtliche Kraft, alle Unterschiede zu verwischen.“149

Um die endlose Fülle von Konsumgütern geht es ebenfalls in den ‚99 Cent‘-Arbeiten, doch zeigen diese zugleich den „Überfluss für Unterprivilegierte, einen Billigladen mit Wohlfühlfaktor“150. Collier Schorr schreibt:

146 Vgl. Lütgens 1998, S. 11f. 147 Ebd., S. 10. 148 Gronemeyer 2000, S. 82. Gronemeyer erläutert diese Blasphemie der Individualität am Beispiel der Mercedeswerbung. Vgl. ebd. S. 81f. 149 Ebd., S. 84. 150 Schmitz, Rudolf: „Nothing over 99 cent ever“ Oder: Die Warengesellschaft als Göttliche Komödie. In: Beil, Feßel 2008, S. 50-53, hier S. 53.

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„So stellt Gursky auch die Armut dar, aber er tut dies immer im Zusammenhang mit Bildern von Produktion und Wohlstand; der Zustand der Entbehrung ist an sich uninteressant, als Bild zu plakativ. Gurskys Photographien entfalten ihre Kraft innerhalb eines ideologisch reflektierten Begriffs dokumentarischer Objektivität.“151

Dass hier, anders als bei ‚Prada‘, eine ausschließlich auf niedrigste Preise angewiesene Zielgruppe anvisiert wird, ist meiner Ansicht nach nicht notwendig im Bild angelegt. Vielmehr zeigen die 99-CentProdukte auch, dass Konsum zum Hobby und zur Freizeitgestaltung werden kann. So scheint in ‚99 Cent‘ nicht nur der Kaufort der sozial Schwachen portraitiert zu sein, sondern ebenso das Vergnügen der Wohlhabenden, profane Dinge zu günstigen Preisen zu erwerben. Die großen Summen werden eher in das Designersofa oder in andere Luxusartikel investiert. Der Wohlhabende hat beim Einkaufen die Wahl, und gerade diese Wahl ist es, die den Einkauf zum ‚Shopping‘ macht und ihm den Erlebnischarakter verleiht − nicht zuletzt dadurch, dass der Besuch eines Discounters „das befriedigende Gefühl der feinen sozialen Unterschiede“152 erzeugt. Die Darstellung von Armut mittels farbiger Strukturen wäre eine provokante Angelegenheit, da Luxusboutiquen und Billigläden durch die gleiche bildnerische High-TechSprache dargestellt werden. Hinzu kommt, dass von den Betrachtern eine – von Schorr behauptete – ideologische Objektivität kaum zur Kenntnis genommen wird. Die bildwirksame farbige Struktur überlagert nicht nur die Personen im Bild, sondern im übertragenen Sinne auch den paradoxen Zustand der modernen Gesellschaft: Mit den endlos gefüllten Regalreihen wird dem Betrachter vor Augen geführt – wie Ferguson darlegt –, „dass die westliche Gesellschaft im Exzess versinken kann“; die arme Bevölkerung wird brüskiert durch die „Obszönität des Konsumdenkens“.153 Das „Ornament der Fülle“154 beschreibt ein faszinierendes System der Unbegrenztheit mithin verstärkt

151 Schorr 1995, S. 88-93, hier S. 90. 152 Fühner, Ruth: Völker, leert die Regale! Die Lust am Konsum. In: Kemper, Peter (Hrsg.): Der Trend zum Event. Frankfurt am Main 2001, S. 5770, hier S. 58. Fühner erläutert das Konsumerlebnis am Beispiel der Supermarktkette Aldi. Vgl. ebd. S. 57ff. 153 Ferguson 2008, S. 22. 154 Vgl. auch Schmitz 2008, S. 53.

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durch inszenierte Marktstrategie „nothing over 99 cent ever“, „Schnäppchen-Ewigkeit“ für immer155 – und doch bleibt das unterschwellig Gesagte unabweisbar: das beredte Zeugnis einer zementierten sozialen Ungleichheit.

2.1.6 Hyperordnung Die horizontale und vertikale Bildstrukturierung wird in den Innenarchitektur-Fotografien weiter formalisiert. Bei ‚Atlanta‘ von 1996 (186 x 260 cm) blickt der Betrachter von einem erhöhten Standpunkt frontal durch den Luftraum einer Hotelhalle auf die gegenüberliegenden Zimmeretagen. Zur rechten und linken Seite zeigen sich raumschließend in Zentralperspektive dieselben Etagen, die zur rückwärtigen Architektur führen. Die Szenerie, die sich ausschließlich aus den Farben Weiß, Rot und Grün zusammenfügt, wirkt gespenstisch leer. Nur auf einigen Etagen bleibt der Blick sporadisch an den unwirklich erscheinenden Wagen der Putzkolonnen und am Putzpersonal selbst hängen. Die hervor- und zurückspringenden Geländer bzw. Raumzonen bewirken eine rhythmische Gliederung der Architektur sowohl in der Horizontalen als auch in der Vertikalen. Modulartig fügen sie sich in strenger gleichbleibender Komposition aneinander, so dass keine Identifizierung der einzelnen Etagen möglich ist. Für die Gebäude des amerikanischen Architekten John Portman156 ist das Merkmal der Monumentalisierung und Formalisierung typisch. Die Etagen seiner Geschäfts- und Hotelbauten ordnen sich um große überdachte Hallen an. Portman steht damit in der Tradition der im 19. Jahrhundert erbauten Hallen- und Passagenarchitektur Europas.157 Um der gewaltigen Architektur von Portman bildlich gerecht zu werden, vereinte Gursky zwei Fotografien digital.158 Auf diese Weise wird dem Betrachter ein Raum erschlossen, den er aufgrund des begrenzten

155 Ebd. 156 Portman, John, junior, amerik. Architekt, * 1924 in Walhalla, S.C. 157 Der Brockhaus. Moderne Kunst. Vom Impressionismus bis zur Gegenwart. Mannheim, Leipzig 2003, S. 288. 158 Vgl. Sommer, Tim: Visionen von der Wirklichkeit. In: Art. Das Kunstmagazin, 4, April 2001, S. 34-49, hier S. 48.

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menschlichen Blickfeldes und der eingeschränkten Standortwahl in der Realität nicht wahrnehmen kann. Ins Extreme geführt wird die Komposition der Module in der Fotoarbeit von 1997 ‚Times Square‘ (180,5 x 244 cm). Der Blick fällt auf die Architektur des Hotelinnenraums, doch ist den einzelnen Etagen durch die Überzeichnung der Farbe jeder Raumeindruck genommen. Flächig reihen sich gelbe und hell erleuchtete, fast weiß wirkende Wandzonen aneinander.159 Nur zum unteren Bildrand wird die Raumsituation durch einen rötlichen Teppichboden abgeschlossen. In einigen Etagen sind Personen und Putzwagen zu Schatten und Schemen degeneriert und tragen zur anonymen Anmutung der Architektur bei. Der artifizielle Eindruck der Aufnahme verstärkt sich nochmals durch die Annahme, dass die Bildmodule mittels digitaler Technik am Computer generiert und aneinandergereiht wurden. Auch Gebäudeausstattungen wie Pflanzen und Brunnen wurden aus dem Portman Bauwerk digital entfernt.160 Während die Architektur von ‚Montparnasse‘ noch als Wohnkomplex mit darin lebenden Personen zu identifizieren war, erscheint ‚Times Square‘ als eine dem Menschen entfernte, fast unwirtliche Architektur, bei der ein Außen und Innen kaum auszumachen ist.161 Ähnliches gilt für die Fotografie ‚Shanghai‘ aus dem Jahr 2000 (280 x 200 cm). Der Betrachter schaut in die auf allen Seiten angeschnittene Rotunde einer Hotelhalle und damit auf die halbkreisförmig verlaufenden Etagenflure. Fast monochrom, in grellem Gelb gehalten, erscheint die Architektur in gleißendem Licht. Aufgrund der gleichzeitigen Frosch- und Vogelperspektive streben die Etagen bogenförmig nach unten und nach oben, wodurch das Bild gleichsam sakralen Charakter gewinnt. Den Eindruck architektonischer Homogenität erzielt Gursky durch mehrere Aufnahmen, die er von unterschiedlichen Standpunkten aus erstellte. Die digitale Bearbeitung führte schließlich zu einer gleichmäßigen und unwirklich anmutenden Gebäudestruktur.162

159 Auf die durch das künstliche Licht eliminierte Räumlichkeit bzw. auf die dadurch abstrakt wirkende Architektur verweist bereits Lütgens 1998, S. 12. 160 Vgl. Sommer, T. 2001, S. 48. 161 Vgl. Lütgens 1998, S. 12. 162 Vgl. Kimmelmann 2001, S. 7.

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Die formale und inhaltliche Veränderung in den Aufnahmen Gurskys zeigt sich, wenn man Portmans ursprüngliches Konzept der Hallenhotels – Ende der 60er-Jahre entstanden – betrachtet. Nicht das Hotel in seiner Funktion als reine Schlafstätte, sondern als Ort der kulturellen und gesellschaftlichen Begegnung war anvisiert: „Er verstand es als öffentlichen und offenen Raum. Seine Hotels sind meist selbst Teile von urbanen Zentren, großen multifunktionellen Komplexen, in denen eine Vielfalt von Nutzungen angeboten wird. Auffälligstes Merkmal dieser Baugruppen sind ihre gewaltigen Binnenräume. Portman-Hotels sind vertikal gegliederte Urbanräume, die Unterkunft, Verpflegung und Unterhaltung und – zusätzlich zum perfekten Service – auch noch ein überwältigendes räumliches Erlebnis bieten.“163

Portman holte mit der Idee des Atriums den belebten öffentlichen Platz, den in den amerikanischen Städten durch infrastrukturelle Bebauung nicht mehr vorhandenen Stadtraum, in das Innere der Hotels. Erlebnis ‚Stadt‘ wurde im architektonischen Raum neu erfahrbar mit all seinen sozialen Begegnungen und kommerziellen Bestimmungen.164 Die Fotografien Gurskys zeigen deutlich, dass der Künstler den Raumcharakter der Hotelarchitektur konterkariert und in eine ästhetisierte und mathematisch berechnete Oberfläche überführt: Raum wird zur abstrakten Struktur. Die Hyperordnung der Fassaden verhindert den Ausdruck jeder individuellen Atmosphäre. Vielmehr wird die Architektur zum Zeichen eines völlig anderen kulturellen Wertesystems: funktional, clean und anonym. Gursky entspricht hierbei – ob bewusst oder unbewusst – der am Beispiel Le Corbusiers gewonnenen Auffassung Bruno Tauts, dass das Wesen von Architektur fotografisch nicht ohne Weiteres zu erfassen sei: „[...] Architektur läßt sich nicht photographieren. Sie ist und bleibt Raumbildung, und von einem Raum kann man höchstens Einzelheiten zeigen. Das, was

163 Keck, Herbert: John Portman. 2007, S. 1-4, hier S. 1. Siehe http:// www.wohnbau.tuwien.ac.at/downloads/Temp.Wohnen/Skriptum%20John %20Portman.pdf vom 24.09.08. 164 Vgl. ebd., S. 2.

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seinen eigentlichen Wert ausmacht, entzieht sich jeder bildlichen Wiedergabe.“165

Mit der digitalen Bildmontage lässt Gursky den Betrachter zwar quantitativ mehr sehen, aber er verhindert eine konkrete Verortung der Architektur: durch die vereinheitlichte Fassadengestaltung, die Auflösung von Raumperspektiven, fehlende Raumöffnungen bzw. Durchblicke und durch die Aufhebung betrieblicher Funktionen. Gurskys Architekturfotografie zeigt also gerade nicht, „in welcher Weise ein Gebäude einen Ort im Raum schafft beziehungsweise aus einem Ort heraus den Raum aufspannt“166. Damit bildet Gursky nicht eine vorgefundene Realität ab, sondern betont das Charakteristische der Architektur, überführt diese in einen abstrakten Gegenstand und lässt sie zu einer Signatur werden: durch die Herauslösung des Motivs aus seinem Umfeld und durch die Transformation der Architektur in formalisierte und reduzierte Module. In den Hotelaufnahmen Gurskys wird der Wechsel von der Dokumentarfotografie zur dokumentarischen Fotografie besonders deutlich. Gursky widmet sich zwar der architektonischen Struktur eines einzelnen Gebäudes, doch hebt er diese durch die digitale Bearbeitung auf eine neue – gänzlich fiktionale – Ebene. Mit seinen Bildern findet er eine Sprache, die über das Abgebildete, seine konkrete Funktion bzw. über die bloße Präsentation des Gegenstandes hinausdeutet. Damit erweitert Gursky die Vorgehensweise von Bernd und Hilla Becher, die bereits in den 60er- und 70er-Jahren den Gegenstand zu einer „anonymen Skulptur“167 werden ließen. Ihre formatfüllenden Motive (Hochöfen, Wassertürme, Silos, Fachwerkhäuser etc.), das Aussparen aller nicht zum Sujet gehörenden Details im Umfeld, der durch lange Belichtungszeiten hell-diffuse Himmel sowie die Detail-

165 Taut, Bruno: Krisis der Architektur. 1929. Reprint in: Les Choses, Heft 3/4, 1989, S. 27. 166 Böhme, Gernot: Architektur: Eine visuelle Kunst? Über die Beziehung von moderner Architektur und Fotografie. In: Beil, Feßel 2008, S. 24-31, hier S. 29. 167 Lampe, Angela: Der Bildgegenstand in Serie, begradigt, abstrakt: Becher, Ruscha, Dibbets. In: Kellein, Lampe 2000, S. 207-222, hier S. 207.

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schärfe der Objekte bewirkten eine präzise und zugleich anonyme Dokumentation168: „Abstraktion wird in der [...] [Fotografie] der sechziger Jahre nicht mehr als formal-ästhetische Kategorie aufgefasst, sondern als die Herauslösung des Gegenstands aus einem sinnlich erfahrbaren Bezugsrahmen, als eine Befreiung des Dinglichen aus existentieller Umklammerung. [...] Der Gegenstand selbst wird nun für sie abstrakt.“169

Daraus resultiert, dass Gursky nicht mehr nur den Gegenstand an sich bezeichnet, sondern auf etwas eigentlich Absentes verweist: auf die abstrakte Bildidee. Die Verdichtung der Motive − hervorgerufen durch Blickperspektive und digitale Bearbeitung − entrückt den realen architektonischen Raum und irritiert, ja zerstört die sinnliche Erfahrbarkeit städtischen Lebens. Mit der Überführung in eine Signatur wird das Unverwechselbare eines Ortes annulliert und der Raum an sich zu einem universalen Ort erhoben. Es ist der Ort der Megastädte, in denen zu Beginn des 21. Jahrhunderts die globalen Netzwerke geknüpft werden. Neue Qualität gewinnen die weltweiten Urbanisierungsphänomene durch das „explosionsartige Wachstum von Städten“ und dadurch, „dass diese Prozesse zunehmend von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen werden: entweder als Gefahr (‚Zeitbombe Stadt‘) oder als Potenzial gesellschaftlicher Entwicklung (‚Recht auf die Stadt‘)“.170

Einerseits bedeutet Urbanisierung die Herausbildung von Elendsvierteln, informellen Siedlungen, Armut, infrastruktureller Überforderung und Umweltverschmutzung, andererseits die Möglichkeit einer wirtschaftlichen Entfaltung.171

168 Vgl. ebd., S. 207, S. 210. 169 Ebd., S. 210. 170 Korff, Rüdiger: Megastädte und die zunehmende Urbanisierung. In: Bundeszentrale für politische Bildung. Einführung: Wie urban ist die Welt? Vom 30. August 2007. Siehe http://www.bpb.de/themen/ 3XWP6D,2,0, Einf%Fchrung%3A_Wie_urban_ist_die_Welt.html, S. 1 vom 24.09.2008. 171 Vgl. Meyer, Ulf: Zum Stand der internationalen Debatte. In: Bundeszentrale für politische Bildung. Das Zeitalter der Megastädte. Vom 13. Sep-

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Für Ferguson ist Gursky der „Ikonograf“ dieser globalen Wandlung; die bislang analysierten Arbeiten der zweiten Strukturkategorie thematisieren dabei die Facetten von „Produktion, Freizeit und Konsum“172 als zwar ambivalente Symptome einer globalisierten Ökonomie − aber immerhin auch als solche, deren bewusste Handhabung durchaus zur Steigerung von persönlicher Lebensqualität dienen kann. Im Folgenden sei der Blick auf die letzte Bildzuordnung – jene der ‚Konstellation‘ – gerichtet, die das Thema ‚Globalisierung‘ z.T. auf ganz andere Weise reflektiert.

2.1.7 Konstellation In einigen späten Arbeiten wird der extrem hohe Betrachterstandpunkt, der bereits für die Schwimmbadaufnahmen [Kap. III.1.1.4.] typisch war, erneut aufgegriffen. Die Fotoarbeit „Amsterdam, EM Arena I“ von 2000 (280 x 200 cm) zeigt ein sich in die Vertikale erstreckendes Fußballfeld, das in die Fläche kippt und so die gesamte Bildfläche einnimmt. Nur die dem Fluchtpunkt zustrebenden Mähspuren und die kleiner werdende Spielfeldmarkierung im Hintergrund erzeugen räumliche Tiefenwirkung. Auf diesem Spielfeld begegnen sich im Rahmen einer Europameisterschaft die Spieler von Fortuna Düsseldorf und die Nationalmannschaft aus den Niederlanden. Es irritiert nicht nur diese irreale Mannschaftspaarung, die niemals stattgefunden hat, sondern auch die befremdlichen Körperhaltungen der einzelnen Spieler sowie ihre heterogenen Beziehungen zueinander. Das Objekt der gemeinsamen Aufmerksamkeit, z.B. die aktuelle Spielsituation, fehlt im groß angelegten Feld des Geschehens, so dass eine spielsituativ plausible Ausrichtung der Akteure kaum nachzuvollziehen ist. Hinzu kommen unterschiedliche und sich zuwiderlaufende Bewegungsrichtungen, die von den einzelnen Spielern eingeschlagen werden. Während ein Spieler im Vordergrund verletzt am Boden liegt, scheinen sich zwei andere im oberen rechten Bildfeld einen Zweikampf zu liefern, obwohl sich andere Spieler zielstrebig zum linken Bildrand bewegen. Dies alles

tember 2007. Siehe http://www.bpb.de/themen/WVAOMJ,1,0.Das_ Zeitalter_der_Megast%E4dte.html, S. 1 vom 24.09.2008. 172 Ferguson 2008, S. 18.

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zeugt von einer digital konstruierten Bildgestaltung.173 Daniel Spanke prägte im Zusammenhang mit dieser Aufnahme den Begriff der „Konstellations-Struktur“, in der die „kompositorischen Beziehungen“ aus einem lediglich „virtuell sichtbaren Kräftespiel voneinander getrennter Elemente“ bestehen.174 Trotz der irrationalen Anordnung der Feldspieler bewirken die Bildelemente in ihrer Gesamtheit bzw. in den Ausformungen der Verdichtung und der Auflösung eine spannungsreiche und ausbalancierte Bildorganisation. Den kompositorischen Zusammenhalt erfährt die Konstellation schließlich durch die Geraden und Kreissegmente der Spielfeldmarkierung sowie durch die vertikalen Mähspuren.175 Das Thema des Fußballfeldes greift Gursky im selben Jahr noch zweimal auf. Die Aufnahme ‚EM Arena II‘ (275 x 207 cm) zeigt eine ganz ähnliche Bildsituation. Das grüne Spielfeld ist wiederum vertikal mitsamt den Spielfeldmarkierungen anvisiert. Während die Mähspuren nur schwach wahrzunehmen sind, dominieren die horizontalen Streifen der Rasenbahnen. In einer diesmal statischen Spielsituation verteilen sich die Fußballer nahezu gleichmäßig über das Spielfeld, doch sind die gegnerischen Parteien nicht durchmischt, so dass der Verein in weißem Trikot die obere und der Verein in schwarzem Trikot die untere Bild- bzw. Spielfeldhälfte einnimmt. Das Spiel ist unterbrochen oder hat noch nicht begonnen, da der Ball im Zentrum des Feldes zwischen zwei Spielern der ‚weißen Mannschaft‘ liegt und der Schiedsrichter seine Anfangsposition auf der Mittellinie eingenommen hat. Die Fotografie ‚Fortuna Düsseldorf‘ (175 x 305 cm) hingegen ist horizontal angelegt und aus einer weniger hohen Distanz aufgenommen. Der Ausschnitt ist so gewählt, dass von den Spielfeldlinien nur der Anstoßkreis im Zentrum und die Mittellinie zu erkennen sind. Die Mannschaften agieren wieder dynamisch, gleichmäßig vermischt und aufgeteilt. Die Konstellation von Szenen eines gefoulten Spielers, des Inschachhaltens und der individuellen Ausrichtung zum Spielgeschehen sowie das Fehlen des Balles bewirken wieder eine inkonsistente, heterogene und irritierende Situation wie in ‚Amsterdam, EM Arena I‘.

173 Vgl. Czöppan, Gabi: Kühle Perspektiven. In: Focus, 9, 24.02.2001, S. 9498, hier S. 95. 174 Spanke 2002, S. 28. 175 Vgl. ebd.

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Die ästhetische Wirkung dieser Arbeiten liegt in der Abstrahierung der Bildelemente begründet. Mit der Aufsicht und Eingrenzung des Spielfeldes wird die Wahrnehmung einer grün-braun strukturierten Fläche hervorgerufen. Die weißen Spielfeldmarkierungen akzentuieren diese Fläche und geben ihr gesamtkompositorischen Halt. Sowohl die Markierungen als auch die Positionen der Spieler fungieren als Zeichen, die vom Betrachter entschlüsselt werden können. Obwohl Gursky nur einen Ausschnitt des spielerischen Geschehens präsentiert, assoziiert der Betrachter aufgrund der ihm dargebotenen Zeichen die Anlage des Stadions und die Zuschauermenge. So erläutert auch Großklaus im Hinblick auf das Phänomen des Massen-Events Fußball, dass jede Bewegung der Spieler – sei es der Torschuss, das Foul, das Ritual der Umarmung bzw. des Kniefalls oder die Geste der Verärgerung – einem universalen, elementaren und regelspezifischen Zeichen entspräche, das von der Zuschauermasse dekodiert werden könne.176 Gursky setzt in seiner Aufnahme diese weltweit und kulturinvariant allgemeingültigen Zeichen ins Zentrum des Bildgeschehens und verweist damit auf den gewichtigen Einfluss des Fußballs auf die globalen Gesellschaften: auf die nationale und internationale Politik und Wirtschaft sowie auf Konsumverhalten, Alltagskultur und psychische Befindlichkeiten der Menschen. Fußball erscheint gleichermaßen als Produkt wie als Protagonist der großen Globalisierungsmaschinerie.177 Sponsoren, Ausrüster, Fans und Konsumenten halten den Geldfluss des globalen Sportmarktes in ständiger Bewegung. Durch Internet und Fernsehen werden die staatlichen Grenzen aufgehoben, die Ereignisse des Sports sind überall und zu jeder Zeit abrufbar. Die Identifizierung der Fans mit ihren Vereinen findet dadurch nicht mehr regional, sondern unter globalen Bedingungen statt. Die räumliche und nationale Grenzüberschreitung findet auch durch die Spieler selbst statt, durch deren Einkauf in international zusammengesetzte Spitzenvereine, während sie auf der anderen Seite für ihre jeweilige Nationalmannschaft spielen. Die von Gursky konstruierten Konstellationen scheinen diese sportliche und kulturelle Neuordnung unserer Welt widerzuspiegeln und ihren Sinn in Frage zu stellen.

176 Vgl. Großklaus, Götz: Medien-Bilder. Inszenierung der Sichtbarkeit. Frankfurt am Main 2004, S. 27. 177 Vgl. Wright, George: The Impact of Globalisation. In: New Political Economy, 4/2, 1999, S. 268-272.

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2.1.8 Resümee Innerhalb der ersten Strukturkategorie registriert der Betrachter aus erhöhter Position zunächst Landschaftsräume und die Einordnung des Menschen in naturbelassene oder technisch-kultivierte Zusammenhänge. Raum und Landschaft werden als existenzielle Kontexte präsentiert. In der zweiten Kategorie erweist sich Gursky als Diagnostiker des urbanen Lebens. Der distanzierte und erhöhte Blickpunkt bleibt erhalten, jedoch wird dieser nicht mehr in die Weite des Panoramas gelenkt, sondern in begrenzte Raumfelder. Der Betrachter schaut in Räume hinein oder auf architektonische Strukturen, die Räume umschließen, und kann sich ihrer komplexen Infrastruktur nähern. Im städtischen und architektonischen Raum spiegelt sich – von Gursky fotografisch verdichtet – ein Zeitalter wider, „in dem der globale Fluss des Kapitals und ein unsichtbarer Strom von Daten, Technologien und Informationen die Schaltzentralen der globalen Netzwerke bestimmen“178. Die durch ‚Verkehr, Information und Kommunikation‘ erweiterten ‚technischen Fließräume‘ (Heidenreich 2004) werden in Form von zunehmend undurchschaubaren Vernetzungen und nicht zu hemmenden Handelsströmen erhöht. In Arbeiten wie ‚Schiesser, Diptychon‘, ‚Hong Kong, Hongkong and Shanghai Bank‘, ‚Chicago, Board of Trade II‘, ‚Bonn, Bundestag‘, ‚Paris, Charles de Gaulle‘ oder ‚Atlanta‘ werden dem Betrachter die politischen und wirtschaftlichen ‚Schaltzentralen‘ unmittelbar vor Augen geführt. Das geometrische bzw. organische ‚Ornament der Masse‘ unterstreicht als infinit fortführbares Muster und als Vermittlung vom Gegenständlichen ins Ungegenständliche das abstrakte System, das eine globale Gesellschaft erst funktionieren lässt. Es ist von „‚global cities‘“ die Rede, in denen „sich der alles beherrschende internationale Marktraum über die lokalen und regionalen Strukturen“ legt, und „der ‚space of flows‘ [...] die geographischen Räume [überlagert] und [...] andere Vorstellungsräume [produziert], die sich nicht mehr decken mit den alten Geographien von Welt und Kultur“.179 Es wird ersichtlich, dass in den Bildern die 178 Ferguson 2008, S. 18. 179 Prigge, Walter: Wie urban ist der digitale Urbanismus? In: Maar, Christa; Rötzer, Florian (Hrsg.): Virtual Cities. Die Neuerfindung der Stadt im Zeitalter der globalen Vernetzung. Basel, Boston, Berlin 1997, S. 49-54, hier S. 53.

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formale und die inhaltliche Struktur ineinander greifen und sich gegenseitig bedingen. Die regelhafte, rhythmische, konstruktive Oberflächenstruktur spiegelt die ritualisierten Bewegungsabläufe in Freizeit und Arbeitszeit, die gleichförmige Fülle von Produkten, Konsum und Rausch wider. Die Bildebene belebt die Bedeutungsebene − und andersherum. Gurskys Blick ist somit ein distanzierter und zugleich sezierender „zum Einfangen der Irritationen, die jene zunehmend perfektionierten Oberflächen der Gesellschaft durchziehen“180. In ‚fotografischer Prägnanz‘ zeichnet Gursky das urbane Leben des 21. Jahrhunderts nach. Die ornamentale Oberflächenerscheinung abstrahiert in Verbindung mit dem distanzierten Betrachterstandpunkt die reale Situation und setzt damit das urbane Raster präzise, geschärft und komprimiert in Szene. Mit der Ausklammerung des Individuellen – verschlungen in betrieblichen, freizeitlichen und wohnungsbedingten Verhaltensabläufen – wird das Wesentliche exponiert, erhält das Dargestellte als semantische Abstraktion universale Bedeutung. Die Bedeutung der Werke geht jedoch über diese formale und inhaltliche Verdichtung hinaus, zumal deren Anblick auch ästhetisches Vergnügen bereitet: Auf einer weiteren Sinnebene, die mitzudenken der Betrachter kaum vermeiden kann, thematisieren sie immer wieder auch ‚das Gegenteilige‘, z.B. die ‚Schattenseiten‘ der Megastädte. Gurskys Werke funktionieren dabei ähnlich wie die Werbung, deren wesentliches Prinzip nach Luhmann im „Verhältnis von Oberfläche und Tiefe“ liegt; sie gebrauche „die Lineaturen der Oberfläche, um Tiefe erraten zu lassen“ und entspricht damit „der Kunst des Ornaments“.181 Die Werbung zielt also auf die oberflächliche Rezeption, da sie ihre Wirkung und die Reaktionen des Konsumenten nur erahnen, aber nicht konkret bestimmen kann. Dabei setzt sie eine tiefere Rezeptionsebene voraus, die ihr selbst jedoch nicht zugänglich ist.182 Auch Gurskys Bildprinzip funktionalisiert die Oberfläche, die gerade auf diese Weise Sinn und Bedeutung stiftet und gesellschaftliche Phänomene offenlegt.183 Hinter der strukturellen Ordnung der Megastädte

180 Schmitz 1994, S. 11. 181 Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. 3. Aufl. Wiesbaden 1995, S. 92. 182 Vgl. ebd. 183 Vgl. Heynen 1992, o.S.

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findet sich nämlich gleichermaßen „die Dynamik des Behelfsmäßigen, eine informelle Ökonomie und die planlose und nicht kontrollierbare urbane Ausdehnung“184. Wirtschaftswachstum und unbegrenzter Konsum steigern die städtische Attraktivität und täuschen zunächst hinweg über Armut und Slumbildung. Während der eine Teil der Bevölkerung von der globalen Verknüpfung abgekoppelt ist, fügt sich der andere in die zunehmende Vernetzung – und damit in Räume anonymer Austauschbarkeit. Gursky veranschaulicht demnach auch das durch das Medienzeitalter veränderte städtische Leben, das die Städte zum Verschwinden bringt. Die urbanen Zentren sind durch den fortwährenden Informations- und Warenfluss geprägt, der sie zu kulturellen ‚NichtOrten‘ verflacht. Charakterisiert werden die Citykerne allein durch die Vielfalt an Dienstleistungen, Einkaufszentren und Freizeitoptionen, während das private Heim zunehmend in die ländliche Peripherie vordringt. Das urbane Zentrum wird auf gleichförmige und anonyme Hochhausarchitektur reduziert, die für die lebensnotwendigen Handelsflächen expansiver Geschäftsbereiche sorgt.185 Prigge erklärt, dass das Zentrum zu einem „leeren Foyer“ werde, das nicht mehr charakteristisch sei für das Verhältnis zwischen Bewohner und Stadt.186 Er zitiert dazu H. Lefebvre: „Das Urbane ist also eine reine Form: der Punkt der Begegnung, der Ort einer Zusammenkunft, die Gleichzeitigkeit. Diese Form hat keinerlei spezifischen Inhalt, aber alles drängt zu ihr, lebt in ihr ...“187 Gurskys Aufnahmen ‚Atlanta‘ und ‚Shanghai‘ können als Synonym für diese „abstrakte Raumstruktur“188 gesehen werden: Die Hotelarchitektur steht indirekt für die anonymen Ströme von Touristen und Besuchern der Städte, und Gursky stellt – noch

184 Ferguson 2008, S. 22. 185 Rötzer, Florian: Digitaler Urbanismus: Tod oder Wiederbelebung der Stadt? In: Maar, Rötzer 1997, S. 11-16, hier S. 11f. Den Begriff ‚NichtOrte‘ hat der französische Ethnologe Marc Augé geprägt. Vgl. Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt am Main 1994. 186 Prigge, Walter: Urbane Photographie? In: Breuer 1997, S. 46-56, hier S. 52. 187 Lefebvre, H.: Die Revolution der Städte. München 1972, S. 129. Zitiert nach Prigge 1997b, S. 52. 188 Prigge 1997b, S. 52.

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stärker als in ‚Paris, Montparnasse‘ – die Leere und die unüberschaubare Gleichförmigkeit der unpersönlichen Massenunterbringung dar. Was in den „Shopping“-Aufnahmen Gurskys zur Darstellung gelangt, ist nicht nur der Konsum als lustvolles oder Identität stiftendes Freizeitvergnügen, sondern auch städteplanerische Strategien, zu deren Treibstoff die menschlichen Massen geworden sind. Norbert Bolz sieht im Shopping das wichtigste Organisationsvorgehen einer Stadt. Es sei die einzige Energie, mittels derer das positive Erleben von Urbanität garantiert werde. Shopping sei das Hauptthema der urbanen Zentren, die als verdichtete „Themenwelten“ zu inszenieren seien. In ihnen komprimieren sich die Erlebnisse, sie ermöglichen „Ersatzerfahrungen, die gar nicht nach Ersatz schmecken, sondern intensiver, weil sie dichter und störungsfreier als die Wirklichkeit sind“.189 Die Fotografien zu Prada und Nike verweisen nicht nur auf das luxusorientierte Konsumverhalten einer elitären Gesellschaftsschicht, sondern auch auf die Abhängigkeit des Konsumenten von der Werbung. Der Mensch wird durch die Medien von Bildern überhäuft, die ihm seine vermeintlichen Sehnsüchte offenbaren und – mit Hilfe der angepriesenen Waren – ihre Erfüllbarkeit suggerieren. Eine neue Welt, die des Wunsches, manifestiert sich in der Flut der Bilder.190 Die Wunschwelt hat dabei nichts mehr mit dem tatsächlichen Gebrauchswert des Gegenstandes oder mit einem notwendigen Bedürfnis des Kunden zu tun. Das Erlebnis liegt im Kaufen selbst, denn „das unaufhörliche Pulsieren der nachfolgenden Produktionsausstöße setzt einen Konsumenten voraus, dem es mehr auf das Nehmen ankommt als auf das Haben“191 – so der Soziologe Gerhard Schulze. Die Stadt ist nicht mehr durch das Industrielle und Soziale gekennzeichnet, sondern durch die Mechanismen von Event und Kultur. In den Bilder Gurskys findet sich auch die Auffassung Bernd Guggenbergers wieder: dass der Trennung von Berufs- und Freizeitwelt eine immer größere Bedeutung zukommt. Es sei eine größtmögliche Kommerzialisierung eingetreten, welche die ‚Konsumenten‘ des „Erlebnis-

189 Bolz, Norbert: Das konsumistische Manifest. München 2002, S. 117f. 190 Vgl. Haug, Wolfgang Fritz: Kritik der Warenästhetik. Frankfurt am Main 1971, S. 84. 191 Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. 5. Aufl. Frankfurt am Main 1995, S. 265.

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parks Wochenende“192 zum Beispiel von den Volksmassen bei den Wagenrennen und Gladiatorenkämpfen im römischen Imperium unterscheidet.193 Obwohl durchaus noch unterschiedliche Wochenendkulturen feststellbar sind – oft abhängig von innerfamiliären Wertesystemen –, hat das Wochenende „seinen Charakter vom eher HäuslichMusischen zum Aushäusig-Sportiven hin verändert, vor allem zu den professionellen und geräteintensiven Leistungs- und Unterhaltungsofferten“194. Dieser Trennung von Beruf und Freizeit ist zugleich die Konfrontation von „Arbeitsfrust“ und „Freizeitlust“ eingeschrieben.195 Die Arbeit wird als Unterbrechung der Freizeit in Kauf genommen – oder mit dem vorrangigen Motiv intensiviert, sich in der Freizeit noch mehr sportliche Aktivitäten, Events oder Konsumgüter leisten zu können.196

Vergleichendes Intermezzo B 2.2 Das Konstruktive und das Ornament in der Tradition der abstrakten Malerei Die in der zweiten Abstraktionskategorie dargestellten Formalisierungs- und Schematisierungsphänomene sind mit den Prinzipien der Konstruktion und des Ornaments bestimmt worden. Diese Kompositionsprinzipien können in der abstrakten Malerei des 20. Jahrhunderts ebenfalls nachgewiesen werden. Die Vergleiche bieten die Möglichkeit, Gursky in eine bildnerische Tradition einzuordnen, aber zugleich auch das kunsthistorisch Originäre seines Werks herauszustellen. Für eine Gegenüberstellung bietet sich zunächst Piet Mondrian an, der in den 1910er- und 20er-Jahren den Weg von der Gegenständlichkeit zur reinen Abstraktion beschritt. Seine sogenannten ‚Kompositionen‘, die

192 Guggenberger, Bernd: Die Welt der Wochenenden. Auf dem Weg in die Freizeitgesellschaft. In: Kemper 2001, S. 27-43, hier S. 27. 193 Ebd., S. 27f. Vgl. zur unterschiedlichen Feiertagsgestaltung der Jahrhunderte: Köhler, Jochen: Von der Muße zum Marketing. Die Perfektionierung der Feiertage. In: Kemper 2001, S. 11-26. 194 Guggenberger 2001, S. 29. 195 Ebd., S. 31f. und S. 33. 196 Vgl. ebd., S. 37.

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sich mit der Anordnung von Linien und Farbflächen beschäftigen, realisieren sowohl Prinzipien der Konstruktion als auch solche des Ornaments. Andy Warhol wird zum Vergleich herangezogen, da sein Bildkonzept der 60er-Jahre nicht nur im Medium des Siebdrucks, sondern auch in der Fotografie die werkimmanente Motiv-Wiederholung als Reaktion auf die Flut von Bildern und Konsumgütern verwirklicht. Jackson Pollock steht schließlich mit seinen Drip-Paintings idealtypisch für das All-over in reiner Abstraktion.

2.2.1 Piet Mondrian In der ersten Hälfte der 20er-Jahre hatte Piet Mondrian197 die kubistische Phase bereits hinter sich gelassen und sein Atelier in der Manier des Künstlerkreises um ‚De Stijl‘198 zu einem Kunstwerk inszeniert. Bilder, Wände und Möbel sollten sich zu einem Kontinuum aus Farben, Formen und Linien vereinen.199 Mondrian erklärt: „Ich bin der Überzeugung, dass meine Arbeiten dort gemalt werden müssten, wo sie dann später auch aufgehängt werden, also in direkter Auseinandersetzung mit der Umgebung. Ich betrachte mein Werk auch als eine neue Form der dekorativen Kunst, in der das Malerische im Dekorativen aufgeht.“200

Der Begriff des Dekorativen darf bei Mondrian nicht allzu kritisch gesehen werden, da er sich an anderer Stelle differenzierter äußert: „Die neue Gestaltung201 neigt durch ihre Flächenhaftigkeit scheinbar zum 197 * 1872 in Amersfoort, Niederlande, † 1944 in New York. 198 „Mondrian ist einer der wichtigsten Autoren der 1917 von Theo van Doesburg gegründeten programmatischen Zeitschrift ‚De Stijl‘. Neben theoretischen Abhandlungen über die neue Kunst publiziert er darin auch zwei Theaterstücke über die Malerei.“ Deicher, Susanne: Piet Mondrian 1872-1944. Konstruktion über dem Leeren. Köln 1994, S. 58. 199 Vgl. ebd., S. 57. 200 Mondrian, Piet, zitiert nach Brüderlin 2001, S. 145. 201 Neue Gestaltung oder „Neoplastizismus, von Piet Mondrian geprägte Bezeichnung für Kunsttheorie und -praktiken der Stijl-Gruppe, zuerst formuliert in Mondrians Essay ‚Le néoplasticisme‘ (1920). Beeinflusst vom Kubismus, erstrebte der Neoplastizismus eine neue Räumlichkeit durch

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Dekorativen –, aber tatsächlich besteht das Dekorative nicht für den Begriff der neuen Gestaltung.“202 Als treffendere Charakterisierung bieten sich die Merkmale des Neuen Ornaments an, die den Weg zur motivischen Fläche ebnen und von der Wirkung des bloß Schmückenden befreit sind. Mondrians Kompositionen mit Blau, Gelb, Rot, Schwarz und Weiß/Grau zeigen gitterähnliche, rhythmisiert-additive Systeme aus viereckigen Formen und horizontalen sowie vertikalen Linien und thematisieren somit das Figur-Grund-Verhältnis. Die Kompositionen vermitteln den Eindruck, als handle es sich um die bildnerische Realisierung fundamentaler Gestaltgesetze. Die einzelnen rein abstrakten Form- und Farbelemente fügen sich in ihrem ausbalancierten Verhältnis zu einer einheitlichen Ebene zusammen, die keinen räumlichen Effekt von vorn und hinten bzw. innen und außen zulassen. Der Netzstruktur wird jedoch eine Asymmetrie entgegengesetzt, mittels derer die Rechtecke dynamisch zueinander formiert werden.203 Dieser künstlerische Ausdruck Mondrians wurde 1912 in Paris initiiert, als er den Kubisten Georges Braque und Pablo Picasso begegnete. Während Braque und Picasso als Vertreter des synthetischen Kubismus in der Gesamtheit der Formen der Gegenstandskorrespondenz verpflichtet blieben, entfernte sich Mondrian vom Kubismus seiner Vorgänger und löste den Gegenstand immer weiter in eine Struktur der Horizontalen und Vertikalen auf.204 Dieser Prozess der Abstrahierung – vor allem am Motiv des Baumes sichtbar – verleitet häufig zur Annahme einer stringenten Werkgenese Mondrians. Brüderlin erläutert jedoch, dass der Werkprozess vielmehr eine Spaltung erfahren habe, da Mondrian um 1914 mit dem Kubismus in Konflikt geraten sei. So

geometrische Klarheit und strenge Harmonie. Die Bildgestaltung beschränkte sich auf die Grundelemente der Senkrechten und Waagerechten sowie die drei Primärfarben (Gelb, Rot, Blau) sowie Weiß, Grau und Schwarz; alles Bildhafte, Zufällige und Willkürliche wurde ausgeschlossen.“ Brockhaus 2003, S. 255. 202 Mondrian, Piet, zitiert nach Brüderlin 2001, S. 141. 203 Vgl. Brüderlin, Markus: Mondrian + Malewitsch. Evolution und Revolution – Zwei Wege zum Absoluten. In: Mondrian + Malewitsch – In der Mitte der Sammlung. Hrsg. v. Fondation Beyeler, Riehen/Basel. Engl. und dt. Ausst.-Kat. Fondation Beyeler, Riehen/Basel. Wolfratshausen, 2003, S. 12-27, hier S. 12ff. 204 Vgl. Brüderlin 2003, S. 16.

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sei ihm die „Synthese von Linie und Farbfläche“ nicht gelungen, da ihn die im Kubismus verbleibenden Gegenstandsfragmente daran gehindert hätten, die „Struktur [...] überzeugend bis an die Bildgrenze“ zu führen.205 Daher entstanden einerseits Werke wie die Ozean- und Pier-und-Ozean-Bilder, die mittels horizontaler und vertikaler Linienfragmente – an die Zeichen Plus und Minus erinnernd – vom Gegenstand abstrahierten, und andererseits seit 1917 Arbeiten, die durch farbige Felder komponiert wurden. Die Farbfeldarbeiten wurden 1918/19 in den Gitterwerk- und Schachbrettkompositionen weiterentwickelt, so dass Mondrian unter Ausblendung der kubistischen Komposition zur reinen Abstraktion und zur Entwicklung des Neo-Plastizismus gelangen konnte.206 Die Kompositionsprinzipien der Farbfeldbilder verweisen in ihrer formalen Ausdehnung in der Regel auf einen größeren Strukturzusammenhang. Das Werk ‚Komposition Nr. 3 mit Farbflächen‘207 von 1917 gehört zu den ersten Bildern, mit denen Mondrian den Weg zum

205 Ebd., S. 18. 206 Ebd. Die Werkgenese Mondrians ist weitaus vielschichtiger, als sie hier dargestellt wird. Vgl. ausführlich Deicher, Susanne: Piet Mondrian. Protestantismus und Modernität. Berlin 1995. Den geistigen Inhalt seiner Bilder erläuterte Mondrian in seiner theoretischen Schrift „De nieuwe beelding in de schilderkunst“ (Die neue Gestaltung in der Malerei), die zwischen 1917 und 1918 in mehreren Folgen in der Zeitschrift De Stijl veröffentlicht wurde. 1921 erschien zudem die Abhandlung „Le néoplasticisme. Principe général de l’équivalence plastique“ (1924 in deutscher Ausgabe „Die neue Gestaltung. Das Generalprinzip gleichgewichtiger Gestaltung“). Mondrian verfolgte den aufgrund der Chaostheorie heute unzeitgemäßen Gedanken eines aus den Gesetzen der Harmonie abgeleiteten universellen Gleichgewichts. Vgl. Mondrian, Piet: De nieuwe beelding in de schilderkunst, Kap. 3. In: De Stijl I, 5, März 1918. Engl. Ausgabe: The New Plastic in Painting. In: Holtzmann, Harry; James, Martin S. (Hrsg. und Übers.): The New Art – The New Life: The Collected Writings of Piet Mondrian, Boston 1986, S. 42. Hier nach: Brüderlin 2003, S. 22. 207 Piet Mondrian, Komposition Nr. 3 mit Farbflächen, 1917. Öl auf Leinwand, 48 x 61 cm, Haags Gemeentemuseum, Den Haag. Abb. in: Jaffé, Hans L.C.: Piet Mondrian. Übers. aus d. Engl. von Herbert Frank. Sonderausg. – Köln 1990, S. 97.

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Neo-Plastizismus einschlägt. In gelbem, rotem und blauem Pastell verteilen sich Rechteckformen in lockerem Rhythmus über den hellen Bildgrund, der aufgrund der Lücken zwischen den Formen deutlich von diesen zu trennen ist. Einige Formen sind zu den Bildrändern hin angeschnitten, so dass sich die Komposition über die Seiten hinaus weiterdenken lässt. Die Form ist der Farbe nicht mehr übergeordnet und an keine gegenständliche Wahrnehmung gebunden.208 Auf Gursky bezogen ist der Betrachter versucht, z.B. in der Fotografie ‚Börse Tokyo‘ trotz des Figurenbezugs einen solchen ‚mondrianischen‘ Rhythmus zu erkennen. Mondrians Leistung zeigt sich nicht nur in der Abstraktion, sondern auch in der Würdigung solcher Formen als Kunstgegenstand. Die Komposition eines Gemäldes aus reinen abstrakten Formen nötigte den zeitgenössischen Betrachter zu einer ähnlichen Sinn-Suche, wie sie heute auch für das Werk Gurskys typisch ist. Bei Gursky geht die Faszination zunächst nicht von den abgebildeten Personen aus, sondern von den gleichartigen Formen der Gestalten, die zu einem offenen Muster formiert sind. In Mondrians Schachbrett-Kompositionen ist die Trennung zwischen Figur und Grund aufgelöst. 1919 entstanden die Werke ‚Schachbrett-Komposition mit hellen Farben‘209 und ‚Komposition: Damebrett, dunkle Farben‘210. Ein gleichmäßiges Netz von 16 x 16 cm kleinen linear gerahmten Rechtecken füllt die gesamte Leinwand aus. In einem regelhaft nicht zu bestimmenden Rhythmus sind die Felder mit den Farben Gelb, Rot und Blau sowie den Nichtfarben Weiß bis Dunkelgrau bzw. mit den Farben Rot, Purpur und Blau eingefärbt. Zu allen Seiten ließe sich dieses Muster aus Gitterlinien und Farbfeldern fortsetzen, wodurch das Gefühl von infiniter Regelmäßigkeit hervorgerufen wird. Die direkte Aneinandergrenzung der Formen und die Reduzierung des Bildgrundes auf schmale Linien schließen eine Hierarchisierung der Bildelemente aus. Der Betrachter hat es weniger mit einer Komposition zu tun als mit einer modularen Erscheinungsform, die ei-

208 Vgl. Jaffé 1990, S. 96. 209 Piet Mondrian, Schachbrett-Komposition mit hellen Farben, 1919. Öl auf Leinwand, 86 x 106 cm. Gemeentemuseum Den Haag, Niederlande. Abb. in: Brüderlin 2001, S. 139. 210 Piet Mondrian, Komposition: Damebrett, dunkle Farben, 1919, Öl auf Leinwand, 84 x 102 cm. Gemeentemuseum Den Haag, Niederlande. Abb. in: Jaffé 1990, S. 103.

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ne „Synthese von Farbe und Linie, Figur und Grund“211 zulässt. Das Gemälde suggeriert Ordnung, und es kann gemeinhin von der Ausprägung eines Ornaments gesprochen werden. Entsprechend dem Gesetz von Nordenfalk haben sich aufgrund der abstrakten Form der Rechtecke und ihrer Aneinandergrenzung Ornament und Grundfläche zu einer gleichmäßigen Musterebene vereint. Für Mondrian „bot sich die Affinität zur Flächenstruktur des Ornamentalen als Übergangsmodell an“, um den Kubismus zu überwinden und den Weg „vom Motivischen auf der Fläche zur Fläche als Motiv“ zu ebnen.212 Zugleich verlässt Mondrian das Feld malerischen Könnens zugunsten einer mechanisch kontrollierten, aber auch intuitiv und inspirativ gestalteten Gesamtkomposition.213 Die regelmäßigen Raster der Rechtecke und die vermeintliche Ordnung der Farbfelder lassen den Vergleich der Gursky-Fotografie ‚Montparnasse‘ mit den Schachbrett-Bildern Mondrians sinnvoll erscheinen, da sie den gemeinsamen Bezug zum Ornament herstellen. Entsprechend ist auch der Vergleich von ‚Montparnasse‘ mit den Farbpalettenbildern von Gerhard Richter zu begründen: Richter begann 1966 mit einer großformatigen Reihe, deren Bilder jeweils über das ganze Format hinweg eine Vielzahl von rechteckigen Farbfeldern in horizontalen bzw. vertikalen Bahnen zeigen. Im Gegensatz zu Mondrian hat Richter die Anzahl der Felder und Farben nicht nur erhöht, sondern die Farben darüber hinaus beliebig gewählt und in die Felder des Netzes aufgetragen. Richter bezieht sich in seinen Arbeiten auf die industriell angefertigten Farbpaletten, die jedoch im kleineren Format die nach Tönen geordneten Farben veranschaulichen. Richter entledigte sich damit der Notwendigkeit, zu komponieren und kreativ zu entscheiden. Überdies stellte er die abstrakte Kunst an sich in Frage, da die Bilder das künstliche Produkt der Farbenproben erkennbar imitier-

211 Brüderlin, Markus: Gemeinhin wird Piet Mondrians Weg zur Abstraktion [...], Kurztext in: Brüderlin 2001, 138. 212 Brüderlin 2001, S. 49. 213 Vgl. Greenberg, Clement: Jackson Pollock: Inspiration, Vision, intuitive Entscheidung. In: ders.: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken. Hrsg. v. Karlheinz Lüdeking. Aus d. Amerikan. v. Christoph Hollender. Amsterdam, Dresden 1997, S. 353-361, hier S. 354-357. Original: Greenberg, Clement: Jackson Pollock: Inspiration, Vision, Intuitive Decision. In: Vogue (New York), 1. April 1967, S. 160f.

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ten.214 Die Ästhetik des Ornaments als formale Verwandtschaft zwischen den Bildern von Mondrian, Richter und Gursky ist offensichtlich, doch sind die inhaltlichen Voraussetzungen unterschiedlich. Während Mondrian die Möglichkeiten zur Abstraktion hin auslotet, sucht Richter den Ausweg aus der abstrakten Malerei. Gurskys Arbeit ‚Montparnasse‘ kann zunächst zu beiden Künstlern in Beziehung gesetzt werden. Der distanzierte fotografische Blick frontal auf den Wohnblock und das beidseitige Anschneiden des Motivs lassen Fassade und Bildfläche zu einer Ebene verschmelzen. Der Aufnahme wird damit in der Makrostruktur die Bildtiefe genommen, die Fotografie verliert ihre zentralperspektivische Eigenschaft. Obwohl die abbildende Eigenschaft erhalten bleibt, verwendet Gursky mit Hilfe des Standpunktes, der Positionierung des Gebäudes und der digitalen Montage das Mittel der Formalisierung. Ähnlich wie Mondrian setzt Gursky auf die rhythmische und schematisierte Wirkung der Bildoberfläche. Form und Farbe stehen zueinander in dynamischer Beziehung und suggerieren bei Gursky einen gestalterischen Prozess. „Gleichzeitig ist diese enorme Abstraktion, ähnlich Richters mechanischer Neuschöpfung der Proben aus dem Fachgeschäft, die kunstlos passive Transkription eines Dings in die Welt.“215 Die Bildoberfläche erfährt durch das vorgefundene Motiv und die abbildende Eigenschaft der Fotografie zunächst eine zufällige Gestaltung; Form und Farbe stehen wie bei Richter in keinem komponierten Verhältnis zueinander. Das kompositorische Moment liegt bei Gursky schließlich in der Gesamtheit der Bildanlage begründet und im Wechsel zwischen Mikround Makrostruktur. Im New Yorker Exil führt Mondrian sein Spätwerk indirekt wieder auf den Gegenstand zurück. Die Boogie-Woogie-Bilder216 reflektieren den lebendigen Rhythmus der Großstadt. So können die Gitterstruktur als Stadtplan von New York und die Abfolge der farbig gegliederten Bänder als Lichter und Leuchtreklamen der Avenuen gelesen werden.217 Die horizontalen und vertikalen gelben Linien vor hellem

214 Vgl. Galassi 2001, S. 32. Gerhard Richter, * 1932 in Dresden. 215 Ebd., S. 32f. 216 Piet Mondrian, Broadway Boogie Woogie, 1942/43. Öl auf Leinwand, 150 x 150 cm. Sammlung, The Museum of Modern Art, New York. Abb. in: Jaffé 1990, S. 125. 217 Vgl. Brüderlin 2003, S. 24.

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Grund sind von einer Vielzahl blauer, roter und grauer Quadrate und Rechtecke in kleine Abschnitte gegliedert. Zwischen den Netzlinien ordnete Mondrian weitere Vierecke in den gleichen Farben an, aber in größerem Format. Der Wechsel zwischen den Form- und Farbmodulen ruft ein dynamisches Stakkato hervor und suggeriert Schnelligkeit. Impliziert ist somit nicht nur das Großstadtleben, sondern auch – wie der Titel anzeigt – der Rhythmus der Boogie-Woogie-Musik.218 Zudem ist in diesen Bildformen die Textur des späteren Drip Paintings in geometrisierter Art und Weise antizipiert.219 Im Vergleich zu Gursky ist wieder das Verhältnis zum Gegenstand relevant. Während bei Mondrian das Gegenständliche im Ungegenständlichen mitschwingt, vollzieht Gursky den umgekehrten Prozess: Das fotografische Abbild wird von abstrahierenden Strukturen überlagert. Mit der Aufnahme ‚Montparnasse‘, aber auch mit dem modularen Prinzip in den Hotelaufnahmen, steht Gursky in der Tradition der Raster-Struktur, die mit der kubistischen Malerei und den Werken Mondrians zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeleitet wurde und seitdem aus der Kunst nicht wegzudenken ist. Rosalind E. Krauss beschreibt die Ureigenschaften des Rasters: „Auf der räumlichen Ebene proklamiert das Raster die Autonomie der Kunst. Flach, geometrisch, geordnet, ist es anti-natürlich, anti-mimetisch, anti-real. So sieht Kunst aus, wenn sie der Natur den Rücken kehrt. Mit seiner durch die Koordinaten bedingten Flächigkeit verdrängt das Raster die Dimensionen des Realen und ersetzt sie durch die seitliche Ausbreitung einer einzigen Fläche. In seiner durchgängig regelmäßigen Organisation ist es nicht das Ergebnis von Nachahmung, sondern ästhetischen Dekretierens. [...] Das Raster erklärt die Kunst zu einem Raum, der autonom ist und sich selbst zum Zweck hat.“220

218 Vgl. Jaffé 1990, S. 124. 219 Vgl. Prange, Regine: Jackson Pollock. Number 32, 1950. Die Malerei als Gegenwart. Reihe kunststück, begr. von Klaus Herding, hrsg. von Michael Diers. Frankfurt am Main 1996, S. 63. 220 Krauss, Rosalind E.: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne. Hrsg. und mit einem Vorw. von Herta Wolf. Aus dem Amerikan. von Jörg Heininger. Amsterdam, Dresden 2000, S. 51f.

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Insbesondere für das Werk Mondrians konstatiert Krauss, dass die Ausbildung des Rasters in einigen Werken eine „zentrifugale“, in anderen eine „zentripetale“ Sehweise fordert. Die zentrifugale Ausformung lässt das Gemälde als Bruchstück oder Teil eines größeren Zusammenhangs erscheinen. Es fordert die Wahrnehmung des Rasters über die Grenzen des Rahmens hinaus. Die zentripetale Lesart hingegen wird angesprochen, wenn das Raster Grenzen ausformuliert, die sich in die rahmende Eigenschaft des Gemäldes einfügen. In diesem Fall bildet das modulare System innerhalb der Bildgrenzen einen eigenständigen Raum, der nicht nach außen drängt.221 Im Medium der Fotografie verbindet Gursky beide Typen des Rasters: Wie bereits beschrieben, lässt der distanzierte Blick die Architektur zunächst zu einem geometrisierten, über die Bildgrenzen hinaus fortsetzbaren Ornament werden. Die Sicht in die Mikrostruktur verlangt hingegen ein Eintauchen in den Architekturraum, der sich immer weiter in einzelne Realitätsräume aufschlüsselt. Die ästhetische Ausbreitung der Oberfläche wird aufgehoben zugunsten des Blicks in das abgeschlossene Innere des Werks.

2.2.2 Andy Warhol Mit Andy Warhol222 ist ein Künstler aufgeführt, der in Teilen seiner Arbeit die Realität ebenfalls durch das Prinzip des Rasters organisiert. In seinem Schaffen spielte die Fotografie von Beginn an eine zentrale Rolle. Als gelernter Graphikdesigner nutzte er bereits in den 50erJahren die Fotografie als Vorlage für seine Zeichnungen. Er bediente sich damit eines vorhandenen Reservoirs an Bildern, das dem Zeitgeist entstammte und daher nicht erst zu erfinden war. Auch für seine frühen Portrait-Auftragsarbeiten zu Beginn der 60er-Jahre setzte er die fotografische Vorlage in Form eines Passfotos ein, das mit seinen starken Schwarzweiß-Kontrasten bereits flächige Felder entstehen ließ und für die Übertragung in den Druckfilm gut geeignet war. Die in den 70er-Jahren von Warhol für die Portraitproduktion genutzte Polaroidkamera SX 70 Big Shot ließ überdies alle plastischen Gesichtswerte verschwinden, sodass gleichmäßig schöne und altersfreie Portrait221 Vgl. ebd., S. 61f. 222 * 1928 in Pittsburgh, PA, † 1987 in New York.

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Siebdrucke erzeugt werden konnten. Zugleich sollte dadurch eine besondere Glaubwürdigkeit der Bilder erreicht werden, die sich in Verbindung mit der grellen Farbigkeit und dem quadratischen Format zu glamourösen Ikonen verführerischer Ausstrahlung entwickelten. Warhols Haltung zur Kunst war durch die ökonomische und kommerzielle Produktion geprägt, die mit der Gründung seiner ‚Factory‘ zur vollen Entfaltung gelangte.223 Innerhalb des Warhol-Werks tritt das ornamentale Gestaltungsmoment in zweierlei Hinsicht in Erscheinung: Einerseits lässt es sich in der seriellen Anordnung und Wiederholung von Siebdruckmotiven auf Leinwand erkennen, andererseits in der rhythmischen Wiederkehr gleicher oder ähnlicher Bildelemente innerhalb des Siebdruckbildes sowie in weiteren einzelnen Fotografien. Im ersten Fall handelt es sich um Bilder wie ‚One Dollar Bills‘224 (1962), ‚Marilyn Diptych‘225 (1962) oder ‚100 Cans‘226 (1962). Das einzelne Motiv – Geldnote, das Porträt von Marilyn Monroe oder die Suppendose – wird in vielfacher Kopie in horizontalen und vertikalen Reihen angeordnet. Die regelmäßige Wiederholung innerhalb des Tableaus und die Austauschbarkeit der Bildelemente kennzeichnen die Matrix des Ornaments und sorgen innerhalb der Makrostruktur für ein gleichmäßiges Flächenmuster. Überdies

223 Vgl. Heinrich, Christoph: Andy Warhol. Art-director – Amateur – Künstler. In: Andy Warhol. Photography. Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, The Andy Warhol Museum Pittsburgh, PA (Hrsg.). Zürich, New York 1999, S. 9-17, S. 9ff. 224 Andy Warhol, One Dollar Bills, 1962. Siebdruck, Bleistift, Acrylfarbe auf Leinwand, 249 x 189 cm. Stiftung Sammlung Marx, Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Berlin. Abb. in: Andy Warhol. Retrospektive. Ausst.-Kat. Neue Nationalgalerie, Berlin; Tate Modern, London. Köln 2001, S. 135. 225 Andy Warhol, Marilyn Diptych, 1962. Siebdruck, Acrylfarbe auf Leinwand, je 208,3 x 144,8 cm, gesamt 208,3 x 289,6 cm. The Trustees of the Tate Gallery. Abb. in Warhol 2001, S. 142/143. 226 Andy Warhol, 100 Cans, 1962. Öl auf Leinwand, 183 x 132 cm. Collection Albright-Knox Art Gallery. Gift of Seymour H. Knox, Jr., 1963. Abb. in Warhol 2001, S. 127.

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„wird der ungestaltete Raum einer Ordnung des Maßes unterworfen, die zugleich die Art seiner zeitlichen Erschließung durch die Wahrnehmung regelt. Die in diskreten Einheiten fortschreitende Struktur des gestalteten Objekts taktet den Ablauf des Sehens und schafft auf diese Weise eine Rhythmisierung des Zeitflusses.“227

Die zu den Seiten hin offene Struktur und die rhythmische Bilderschließung an den einzelnen Reihenelementen entlang fügen sich in das gestalterische Prinzip der Pop- und Minimal-Art der 60er-Jahre, die damit eine künstlerische Gegenposition zu den hierarchisch geordneten und in sich geschlossenen Kompositionsgefügen schufen. Darüber hinaus verweist Warhols Bildkonzept der Motivwiederholung auf den Überfluss von Bildern und Produkten, der für die kapitalistische Konsumgesellschaft charakteristisch ist. Die vielfache Reproduktion des bereits vorhandenen Bildmaterials kann einerseits zwar als sinnentleerte Tautologie interpretiert werden; andererseits liegt aber gerade in der repetitiven visuellen Bindung die komprimierte, universelle und nachhaltig wirkende Bedeutungsvermittlung.228 Das Thema der industriellen Massenproduktion und die Möglichkeit der uneingeschränkten Bild-Vervielfältigung mittels Siebdruck gehen dabei eine elementare Sinn-Analogie ein. Mit der Reproduktion von Reproduktionen hält Warhol der Gesellschaft den Spiegel vor und zitiert ihre Wertevorstellungen: das Streben nach der fortwährenden Fülle und Verfügbarkeit eines Produkts, die nur scheinbar identitätsstiftende Wiedererkennbarkeit von Marken sowie die mediale Vermarktung von Stars und Idolen. Warhol vereinheitlicht sie alle und verweist durch die stereotype Darstellung auf ihre Austauschbarkeit. Das Individuelle des einzelnen Bildes ordnet sich den Merkmalen der Serie bzw. der Makrostruktur unter.229

227 Zitko, Hans: Der Ritus der Wiederholung. Zur Logik der Serie in der Kunst der Moderne. In: Hilmes, Mathy 1998, S. 159-183, hier S. 159. 228 Vgl. ebd., S. 162-165. 229 Vgl. Zbikowski, Dörte: „Plärrende Melodien, die einem nicht aus dem Kopf wollen“. Wiederholungen in den Werken von Andy Warhol. In: Warhol 1999, S. 129-137, hier S. 136.

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Eine innerbildliche Wiederholung ähnlicher Bildelemente veranschaulicht die fotografische Vorlage230 für den Siebdruck ‚Crowd‘231 (1963), die aus erhöhter Position eine dicht gedrängte Menschenmenge zeigt. Die Vielzahl der Köpfe offeriert auf den ersten Blick ein punktförmig strukturiertes All-over, das sich zu allen Bildseiten weiterführen ließe. Erst der zweite Blick auf die Mikrostruktur unterscheidet zwischen den Anzügen der Herren, den Kleidern und Hüten der Damen sowie Personen in kirchlicher Robe. Die gemeinsame Blickrichtung verweist auf ein offizielles, vermutlich kirchlich-sakrales Ereignis außerhalb des Bildausschnitts. Die Technik des Siebdruckes forciert die Herausbildung der gleichmäßigen Massenstruktur, indem sie die ursprünglich zu identifizierende Personengruppe in ein Gesprenkel von Hell-Dunkel-Kontrasten auflöst. Weniger bekannt ist die eigenständige fotografische Werkgruppe im Œuvre von Andy Warhol, in der das Thema der Wiederholung mehrfach aufgegriffen wird. Es handelt sich um Schwarz-WeißFotografien der Größe 8 x 10 cm bzw. 20,4 x 25,4 cm, die in den letzten elf Jahren seines Lebens zwischen 1976 und 1987 entstanden sind. Warhol fotografierte mit der kleinen Minox 35, die damals neu auf dem Markt erschienen war und 35-mm-Negative ermöglichte. Der Künstler nutzte die Kamera neben seinen Tonbandaufnahmen und Tagebucheinträgen als visuelle Gedächtnisstütze, da er glaubte, sich auf sein eigenes Gedächtnis nicht mehr verlassen zu können. Von den vielen Filmrollen, die wöchentlich entstanden, ließ Warhol nur wenige Aufnahmen von Christopher Makos abziehen. Sie einigten sich auf einen unmittelbaren und ungeschönten Stil, der durch starke Kontraste und unscharfe Ränder eine neue fotografische Form begründete. Warhols Fotografien sollten nicht interpretieren, sondern dasjenige wiedergeben, was tatsächlich gesehen wurde; allein die Oberfläche war von Interesse, keine weitere Sinnebene darunter. Jedes Motiv wurde gleichsam maschinell in derselben Prozedur aufgenommen und entwickelt. Trotz der strengen Auswahl durch den Künstler beläuft sich die

230 Vorlage für Andy Warhols Crowd 1963. The Archives of The Andy Warhol Museum, Pittsburgh, Founding Collection, Contribution The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc., Photo: Richard Stoner. Abb. in: Warhol 1999, S. 138. 231 Andy Warhol, Crowd, 1963. Siebdruck auf Leinwand, 127 x 91,8 cm. Photo: courtesy Jeffrey Deitch, New York. Abb. in: Warhol 1999, S. 139.

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Anzahl der Aufnahmen auf mehrere Tausend Einzelabzüge. Als Motive wurden nicht nur Persönlichkeiten aus der Kunstszene, aus Sport, Politik und Mode gewählt, sondern auch Themen wie Architektur, Stillleben, Konsumgüter, Schaufenster, Hotelzimmer, Kranke usw. Lediglich Form und Strenge, Struktur und Ästhetik waren für die Bildwürde eines Motivs entscheidend.232 Warhols Fotografie ‚Candy‘233 von 1982 zeigt aus der Vogelschau ein Sortiment an Süßigkeiten, das die gesamte Bildanlage ausfüllt. Die einzelnen Sorten, in mehreren Fächerreihen nebeneinander und übereinander angeordnet, bilden eine horizontale Bildstruktur. Die in großen Lettern gedruckten Produktbeschreibungen verlieren in der Fülle der Ware an Exklusivität. Es ist zu vermuten, dass sich Gursky aus ähnlichen formalen Beweggründen wie Warhol zu seiner Aufnahme ‚99 Cent‘ animiert fühlte. Gursky erweitert jedoch den ästhetischen Reiz der systematischen Anordnung der Produkte und deren Auswahl durch Größe und Farbigkeit der Aufnahme. Darüber hinaus fügt er im Gegensatz zu Warhol mit der konkreten Preiskennzeichnung ein interpretatorisches Indiz hinzu. Die Aufnahme ‚Tires‘234 von 1984 richtet den Blick auf ein Durcheinander von alten Autoreifen, die das gesamte Bildformat einnehmen. Das zunächst belanglos erscheinende Motiv eröffnet mit seiner zufälligen Formierung neuartige visuelle Qualitäten. Christoph Heinrich erklärt: „Eine große Anzahl von Photographien hat das graphische All-over zum Thema, das zwar Partien der Verdichtung wie des Aufgelockerten kennen mag, jedoch den individuellen Gegenstand zugunsten der Struktur des Vielfachen entwertet. Reifen, Laub, Steine und Tafelsilber, Süßigkeiten oder Müll werden

232 Vgl. Bischofberger, Bruno: Andy Warhols Visuelles Gedächtnis. In: Haenlein, Carl (Hrsg.): Andy Warhol. Fotografien 1976-1987. Hannover 2001, S. 13-26. 233 Andy Warhol, Candy, 1982. Schwarz-Weiß-Fotografie, 20,3 x 25,4 cm. The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. Abb. in: Warhol 1999, S. 233. 234 Andy Warhol, Tires, 1984. Silbergelatineabzug, 20,4 x 25,4 cm, Vintage Print. Slg. Bruno Bischofberger. Abb. in: Haenlein 2001, S. 210.

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im Anschnitt und mit gleichmäßiger Schärfe aufgenommen. Das Auge des Betrachters bleibt in Bewegung, die bewegte Masse suggeriert Energie.“235

Als typischer Vertreter der amerikanischen Pop-Art setzte sich Warhol mit der in Massen produzierten Ware, ihrer Inszenierung und mit ihrer Funktion als Projektionsfläche für die Sehnsucht der Konsumenten auseinander. Das Wiederholungsmoment der Massenproduktion spiegelt sich auch in den Massenmedien wider, da diese durch die unbegrenzte Kopierbarkeit und durch die Verbreitung von Bildern oder Filmen denselben Mechanismen unterworfen sind. Zudem bietet die durch ständige Wiederholung wirksame Produktwerbung erst die Impulse für dauerhaftes und wiederholtes Konsumieren. Typisch für Warhols Werk ist, dass er die Medien selbst zum Werkobjekt macht: als Thema einerseits, als Methode andererseits. Mit einer einzelnen Arbeit oder einer Serie irritiert er die Gewöhnung an repetitive Massenproduktion und demaskiert die inneren Mechanismen im kapitalistischen System. Zugleich wird er mit dem Siebdruckverfahren − mit dem Gegenkonzept zur persönlichen Handschrift und mit der Industrialisierung von Arbeitsschritten in der ‚Factory‘ − selbst ein Teil der „technischen Reproduzierbarkeit“ (Benjamin).236 Durch Warhol ist die Kunst zugleich kritisches Zeugnis und Objekt einer massenmedial geprägten Konsumgesellschaft geworden: „Aus der Erkenntnis der Unmöglichkeit, als Künstler absolut neuartige, individuelle und genialische Formen und Inhalte zu finden, wendet sich Warhol dem beinahe unerschöpflichen Reservoir von Formen, Motiven und Themen zu, die den Massenmedien entstammen. Es sind gerade diese anonymen und banalen Vorlagen, die ihm jene Distanz garantieren, die er benötigt, um die von den Medien verbreiteten Klischees als doppelbödige Zeichen und Symbole des von ihm diagnostizierten gesellschaftlichen Zustandes zu verwenden.“237

235 Heinrich 1999, S. 17. 236 Vgl. Felix, Zdenek: Ein Künstler in der Gesellschaft von Massenmedien. In: ders. (Hrsg.): Andy Warhol. retrospektiv. Mit Beitr. von Tilman Osterwold und Kenneth E. Silver. Ausst.-Kat. Deichtorhallen Hamburg, Württembergischer Kunstverein, Stuttgart. Stuttgart 1993, S. 9-13, hier S. 9ff. 237 Felix 1993a, S. 12.

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Für Gursky bleibt auch dreißig Jahre später das Thema Massenmedien und Massenkonsum von künstlerischem Interesse. Er erweitert die Reflexion jedoch um die Aktualität der Massen-Events und des Warenfetischismus. Wie Warhol bedient er sich formal und inhaltlich des repetitiven Moments. Obwohl Gursky nicht direkt aus dem Bilderreservoir der Medien zitiert, lässt er sich dennoch häufig von Motiven aus Illustrierten und von Fernsehbildern inspirieren. Ähnlich wie Warhol agiert er dann mit ‚doppelbödigen‘ oder auch allegorischen Zeichen, variiert allerdings die technische Herangehensweise und die visuelle Wirkung seiner Werke. Seine Arbeiten werden nicht in einer ‚Factory‘ produziert, sondern bleiben stets individueller Ausdruck einer spezifischen Wirklichkeitsverdichtung. Die schematisch-serielle Wiederholung einzelner Elemente – im Sinne der von Warhol im Siebdruck erzeugten – findet sich bei Gursky nicht. Ursprung und Funktion seiner Wiederholungen sind motivimmanent. Sie stellen nicht das Wesen der Bildaussage dar, sondern verweisen auf sie.

2.2.3 Jackson Pollock Das für den Abstrakten Expressionismus stehende Werk Jackson Pollocks238 ist unmittelbar mit den Begriffen des Action Paintings239 und

238 * 1912 in Cody, Wyoming, † 1956 in New York. 239 Harold Rosenberg prägte 1952 den Begriff ‚Action Painting‘ mit den Worten: „At a certain moment the canvas began to appear to one American painter after another as an arena in which to act – rather than as a space in which to reproduce, re-design, analyze or ‚express‘ an object, actual or imagined. What was to go on the canvas was not a picture but an event.“ „Ab einem bestimmten Zeitpunkt erschien einem amerikanischen Künstler nach dem anderen die Leinwand als Arena des Handelns und weniger als ein Raum, in dem ein wirklicher oder imaginierter Gegenstand abgebildet, gestaltet, analysiert oder ‚ausgedrückt‘ werden sollte.“ Übers. v. Prange 1996, S. 5. Rosenberg, Harold: The American Action Painters. In: Art News, December 1952, S. 22. Wiederabdruck bei Shapiro, David und Cecile (Hrsg.): Abstract Expressionismus. A Critical Record. University of Cambridge 1990, 1992, S. 75-85, hier S. 76.

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des All-over240 verbunden. Ob die in der Forschungsliteratur immer wieder angeführte formale Analogie zwischen den malerischen Allover-Strukturen Pollocks und jenen im fotografischen Werk Gurskys gerechtfertigt ist, wird im Folgenden genauer erläutert. Für die Untersuchung wird zunächst Pollocks Arbeit ‚Number 241 32‘ von 1950 herangezogen, die in der Forschung bereits vielfach Berücksichtigung gefunden hat. Die gesamte beige-weiße Leinwand – im Großformat von 269 x 457,5 cm – ist von einer schwarzen Struktur überzogen: einem Gefüge aus geschwungenen Linien und Farbklecksen, die sich immer wieder verdichten und ineinander gewundene Farbnester bilden. Der Betrachter wird ergriffen von der Dynamik der Farbspuren. Der Blick gleitet haltlos über die Bildoberfläche und unterbricht die visuelle Bahn nur, um an einer anderen Stelle erneut zu beginnen. Obwohl sich im Werk keine serielle Regelmäßigkeit und keine Gleichartigkeit der Farbformen finden lassen und die Farbspuren zu den Bildrändern hin linearer und lichter werden, suggerieren die von den Bildrändern angeschnittenen Strukturen und die gestalterische Nähe der Farbgebilde untereinander eine unendliche Weiterführung des Motivs. Das große Bildformat ermöglicht bereits das erweiterte Sehen und ist im Wortsinn un-übersichtlich, so dass sich der Betrachter vom Bildgeschehen umflutet fühlt. Ekkehard Putz beschrieb die Funktion der Randzonen bereits ausführlich: So verweise sie einerseits auf das Ende der Leinwand und damit auch auf den Abschluss der bildlichen Realität. Andererseits biete diese Grenze dem Betrachter gerade den Ausgangspunkt, um die innerbildliche Struktur fortzusetzen.242 Nicolas Hepp erläutert die Unschärfe der Grenze dahingehend, dass die „potentielle Fortsetzbarkeit nicht konkret sondern abstrakt zu Anschauung“ gelangt: „der Betrachter wird sich nie die Weiterführung des Geflechts selbst vorstellen

240 Der Kunstkritiker Clement Greenberg führte in den 40er-Jahren den Begriff des All-over ein. Vgl. Greenberg, Clement: The Crisis of the Easel Picture (1948). In: ders.: Art and Culture. Critical Essays. Boston 1961, 1965, S. 154-157. 241 Jackson Pollock, Number 32, 1950. Lackfarbe auf Leinwand, 269 x 457,5 cm. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. Abb. in: Prange 1996, Klapptafel. 242 Vgl. Putz 1975, S. 226f.

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können, er stellt sich vielmehr die Möglichkeit der Weiterführung vor“.243 Die Betrachtung der Bilder Pollocks erzeugt noch heute wie auch zu ihrer Entstehungszeit den unterschwelligen Argwohn, sie seien in ihrem Herstellungsprozess beliebig und lediglich von ornamental schmückendem Charakter.244 Anstatt seine Werke mit dem Pinsel auf der Staffelei zu entwerfen, legte Pollock die Leinwand auf den Boden und tropfte in ausschweifenden Bewegungen Lackfarbe darauf. In der Anfertigung solcher Drip-Paintings spielte neben der bewussten Führung des tropfenden Malinstrumentes der Zufall eine wesentliche Rolle. Pollock wandte sich – wie bereits Jahrzehnte vor ihm Marcel Duchamp mit den ready-mades oder Francis Picabia mit dem Tintenklecks ‚La Sainte Vierge‘ von 1920 – von den klassischen Kunsttechniken ab. Nicht nur die Distanz zum Malgrund wurde schöpferisch erprobt, sondern auch die Schwerkraft der unterschiedlichen Farbkonsistenzen.245 Neben der Verschmelzung der zeichnerischen und malerischen Bildgattungen konterkariert Pollock eine kompositorisch hervorgerufene räumliche Bilderfahrung und das hierarchisch geordnete Bildgefüge. An die Stelle der konkreten Bildidee oder der Überführung eines gegenständlichen Themas in geometrische Formen treten die reine Materialität der Farbe und des Bildträgers sowie ihr Verhältnis zueinander.246 „Pollocks Linie begrenzt und beschränkt gar nichts – außer gewissermaßen die Augen [...]. In diesen Arbeiten ist es Pollock gelungen, die Linie nicht nur von ihrer Funktion, Objekte in der Welt darzustellen, zu befreien, sondern auch von ihrer Aufgabe, Formen oder Gestalten, seien sie nun abstrakt oder gegenständlich, auf der Oberfläche einer Leinwand zu beschreiben und zu begrenzen.“247

243 Hepp, Nicolas: Das nicht-relationale Werk: Jackson Pollock, Barnett Newman. Ansätze zu einer Theorie handelnden Verstehens. Mülheim 1982, S. 72. 244 So sprach Rosenberg z.B. von einer „apokalyptischen Tapete”. Vgl. Rosenberg 1992 (1952), S. 76. 245 Vgl. Prange 1996, S. 6ff. 246 Vgl. ebd., S. 11ff. 247 Frieds, Michael: Three American Painters. Cambridge 1965, S. 16. Zitiert nach Clark, Timothy J.: Jackson Pollock. Abstraktion und Figuration. Aus dem Amerik. übers. von Evelyn Preis. Hamburg 1994, S. 35.

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Die Besonderheit des Bildes ‚Number 32‘ liegt in der Verbindung von Ordnung und Unordnung. Die bereits erwähnte mögliche Überschreitung der Bildgrenzen widerspricht zunächst der traditionellen in sich geschlossenen kompositorischen Bildordnung. Von einem chaotischen Zustand der Elemente kann jedoch nicht die Rede sein, da die Aufmerksamkeit bündelnden Farbverdichtungen in der Gesamtanlage gewichtausgleichend zueinander in Beziehung stehen und strukturelle Korrespondenzen aufweisen. Neben der Möglichkeit der bildlichen Weiterführung ist dem All-over immer das Moment des übergeordneten Ganzen eingeschrieben.248 Auf den Vorwurf, seine Bilder seien nicht harmonisch oder strukturell geordnet, reagierte Pollock vehement mit dem Ausruf: „No chaos damn it!“249. Greenberg erläutert bereits 1967: „Ein ‚All-over‘-Pollock erweckt den Eindruck des Chaotischen, weil er die Ordnung einer mechanischen Wiederholung verspricht, dieses Versprechen aber sofort bricht. Pollocks ‚All-over‘-Bilder sind nur in einer vagen und uneindeutigen Weise symmetrisch.“250

Aus der Distanz wirken Pollocks Farbspuren, die sich verdichten und wieder auflösen, gleichmäßig und suggerieren Ordnung. Aus der Nähe wiederum erscheint das Verfahren des Drip-Paintings beliebig. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass Pollock eine reine Wiederholung von identischen Motivstrukturen vermeidet. Im Gegensatz zu Mondrian „erwirkt Pollock die ästhetische Ordnung aus dem Anschein – aber eben nur dem Anschein – des Zufälligen“251. Die Ästhetik der Ordnung tritt wie bei Mondrian erst in der Gesamtkomposition in Erscheinung, für deren Gelingen sich jedes Detail als unabdingbar erweist.252 Von wesentlicher Bedeutung ist, dass Pollock in seinem Werk weder eine „Hierarchie der Formen“ noch eine „größtmögliche Verschiedenheit“ anstrebt.253

248 Vgl. Prange 1996, S. 14, S. 25. 249 Pollock, Jackson: Letter to the Editor. In: Time, December 11, 1950, S. 10. 250 Greenberg 1997 (1967), S. 355. 251 Ebd., S. 356. 252 Vgl. ebd. 253 Putz 1975, S. 219.

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Auf die diffizile Lesbarkeit der Pollock-Bilder reagierten die Kunstkritiker immer wieder mit dem Vorschlag der Aktions-Deutung: Harold Rosenberg begriff die Werke als Visualisierung eines ereignishaften künstlerischen Arbeitsprozesses und die Leinwand als die ‚Arena‘ des Künstlers.254 Regine Prange erklärt dazu: „Da der Betrachter jenem Schaffensakt aber nicht beiwohnen, ein Ereignis als solches nicht an der Wand hängen kann, war diese Formulierung lediglich ein Versuch, den Farbformen eine Zeichenbedeutung zu geben, sie gewissermaßen als Lebensspuren lesbar zu machen.“255

Das Einfühlen des Betrachters in den zeitlichen Ablauf der Aktion und in die psychischen Ambitionen des Künstlers sei in ‚Number 32‘ vor allem aufgrund der Reduzierung des künstlerischen Schaffens auf eine Farbe und durch die Distanz zwischen der Hand des Künstlers und dem Bildträger nicht möglich.256 Auch wenn die Spuren Pollocks kein Ereignis veranschaulichen können und auch keine Lebenslinien darstellen, sind sie dennoch Ausdruck eines dynamischen Farbauftrags im Gegensatz zu einer meditativen Farbverwendung wie z.B. bei Roman Opalka. Diese Dynamik ist es, die dem Betrachter jene unterschiedlichen Bildansätze ermöglichen. Bei Opalkas Zahlenreihen hingegen sind es nicht nur die Form des Schreibens und die Folge der Zahlen, sondern auch die Regelmäßigkeit und das Kontemplative, wodurch der Betrachter zum Lesen von links nach rechts und von oben nach unten angeleitet wird. Gurskys Fotografien – vor allem die Konzert- und Börsenbilder – mit Arbeiten von Pollock zu vergleichen, liegt in der Struktur des Allover begründet. Zu berücksichtigen ist, dass beide Künstler gerade nicht eine ‚radikale‘ All-over-Textur realisieren. Ein gleichmäßig füllendes All-over tritt z.B. im Werk von Mark Tobey in Erscheinung. Die Arbeiten des Amerikaners wie ‚Space Ritual XIX‘257 von 1957

254 Vgl. Rosenberg 1992 (1952), S. 76 und Anm. 170. 255 Prange 1996, S. 29. 256 Vgl. ebd., S. 32. Vgl. auch Hepp 1982, S. 65f. und Putz 1975, S. 217. 257 Mark Tobey, Space Ritual XIX, 1957. Tinte auf Japanpapier, 113 x 87,5 cm. Courtesy of Miani Johnson, Willard Gallery, New York.

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oder ‚Advance of History‘258 von 1964 zeigen ein kleinteiliges und nahe an die Bildränder herangeführtes Strukturennetz, das im Gegensatz zu Pollocks Arbeiten eine ruhige und meditative Ausstrahlung besitzt.259 Ähnlich wie in ‚Number 32‘ zeigt Gurskys ‚Börse, Tokyo‘ eine durch Bewegung und Zentren dynamisierte Bildoberfläche mit teilweise aufgelockerten Randzonen. Die Masse der Broker erzeugt eine Wiederholungsstruktur, die aber wie bei Pollock keinem definierten Raster unterliegt und aus unterschiedlichen ‚Formelementen‘ besteht. Ebenso fehlt eine Hierarchisierung der Bildelemente, so dass das Motiv zu allen Seiten weitergedacht werden kann. Der Arbeit Gurskys steht Pollocks Tuschebild ‚Ohne Titel‘260 von 1950 trotz des kleineren Formats noch näher. Um einen größeren Farbklecks im Zentrum scheinen weitere Kleckse und Farbspritzer in größer werdendem Radius zu kreisen. Wie in einem Rorschachbild lassen sich aus den Farbinseln figürliche Gestalten assoziieren. Aus der Distanz lässt sich auch Gurskys Börsenbild zu strukturierten Inseln im Hell-Dunkel-Kontrast abstrahieren. Die Nähe jedoch führt den Betrachter zum Konkreten: Die Linien und Formen bleiben den Personen und Dingen untergeordnet. Damit ist – abgesehen vom Medium – ein wesentlicher Unterschied zu Pollock benannt. Das Herantreten an die Bilder Pollocks ruft keine erweiterte und detailliertere Kenntnis über das Motiv hervor. Die Farbformen werden lediglich größer261, so dass die Nähe keinen Wechsel der Wahrnehmungsebene hervorruft, wie es bei Gursky oder im umgekehrten Fall, z.B. bei den Impressionisten, der Fall ist. Für die Aufnahme ‚Chicago Board of Trade II‘ bietet sich der Vergleich mit dem vor ‚Number 32‘ entstandenen Werk ‚Autumn

258 Mark Tobey, Advance of History, 1964. Gouache und Aquarell auf Papier, 65,2 x 50,1 cm. The Solomon R. Guggenheim Foundation, Peggy Guggenheim Collection, Venice. 259 Vgl. Prange 1996, S. 17f. 260 Jackson Pollock, Ohne Titel, 1950. Tusche auf Papier, 44,4 x 56,3 cm. The Museum of Modern Art, New York. Geschenk von Mr. und Mrs. Ronald S. Lauder zum Gedenken an Eliza-Parkinson Cobb. Abb. in: Prange 1996, S. 11. 261 Vgl. Hepp 1982, S. 70.

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Rhythm: Number 30, 1950‘262 an. Im Gegensatz zu ‚Number 32‘ wird diese Arbeit nicht von schwarzen Farbzentren dominiert, sondern durch ein verdichtetes polychromes Farbnetz charakterisiert. Die verschiedenfarbigen Ölspuren überlagern einander und bilden eine gleichmäßigere Struktur als in ‚Number 32‘, obwohl auch hier keine serielle Regelmäßigkeit festgestellt werden kann. Wird die Struktur einerseits von den Bildrändern angeschnitten, löst sie sich andererseits aufgrund geringerer Farbdichte im Randbereich auf. Pollock vermeidet jegliches „räumliche Fluidum“263. Gurskys ‚Chicago Board of Trade‘ zeigt im Vergleich zu ‚Börse Tokyo‘ ebenfalls eine Verdichtung in der Struktur durch die Applikation farbiger Akzente. Zu den Bildrändern löst sich die Verdichtung der Broker auf, so dass die leeren Sitze eine Randzone bilden. Gurskys erhöhter, distanzierter Blick schließt den Eindruck von Räumlichkeit ebenfalls aus. Aufgrund der digital erzeugten Motivdoppelungen ermöglicht auch die Nahbetrachtung keine eindeutige Raumklärung. Die formale Verbindung zwischen Pollock und Gursky besteht also in der Flächenstruktur, die eine nahezu gleichmäßige Aufmerksamkeitsverteilung provoziert: in der gedanklichen Fortsetzbarkeit des Motivs und durch das Fehlen einer Bildhierarchie trotz unterschiedlicher Bildformen. Von entscheidender Bedeutung ist auch, dass beide Künstler mit einem großen Werkformat arbeiten, das einen Überblick nur aus der Distanz ermöglicht, während der Betrachter bei einer Distanzaufhebung vom Bildraum aufgenommen bzw. umgeben wird.264 Pollock hätte das Bild nach der Bearbeitung am Boden an die Wand hängen müssen, um es als ganzes beurteilen zu können. Doch er las „die Gesamtheit des Gemäldes, während er daran arbeitete; er fügte für sich eine Vorstellung des gesamten Bildes aus den verschiedenen Betrachtungswinkeln, die er hatte, zusammen.“265 Als Fotograf muss Gursky sein Motiv vor der Aufnahme gesamtkonzeptionell durchdacht haben, um es gestalterisch bewältigen zu können. Die digitale Bearbeitung im

262 Jackson Pollock, Autumn Rhythm: Number 30, 1950, (1950). Öl auf Leinwand, 270,5 x 538,4 cm. The Metropolitan Museum of Art, New York. George A. Hearn Fund, 1957. Abb. in: Prange 1996, S. 12. 263 Prange 1996, S. 13. 264 Zum Verhältnis des Betrachters zum Bildraum bei Pollock vgl. Putz 1975, S. 238. 265 Clark 1994, S. 32.

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Nachhinein ermöglicht ihm jedoch die Betrachtung des Bildes aus unterschiedlichen Positionen heraus und gleichsam eine sukzessive Hinführung des Werks zu seiner endgültigen Realisierung. Zum Schluss des Vergleichs soll erneut die Frage nach dem Ornament aufgegriffen werden. Prange sieht bei Pollock keinen Bezug zum Ornament, denn „dem Drip Painting fehlt nicht nur die serielle Gleichförmigkeit eines Musters, sondern vor allem die figurative Eindeutigkeit des Ornaments, das von seinem Träger abstrahiert und selbständig für sich genommen werden will“266.

Berücksichtigt man jedoch den zweiten Teil des Gesetzes von Nordenfalk, nach dem sich Ornament und Grundfläche um so deutlicher vereinen, je abstrakter die Form des Ornaments ausgebildet ist, so kann allerdings von einer Ausprägung des Ornaments bei Pollock gesprochen werden. Ein gleichförmiges Muster ist jedoch – wie in den Beschreibungen bereits deutlich wurde – nicht identifizierbar. Dennoch ist das Ornament „vornehmlich als verborgene Struktur wahrzunehmen, als Möglichkeit eines Bildverfahrens, das die Strukturierung eines monumentalen Bildplanes höher stellte als das geformte Detail“267. Das Werk veranschaulicht in seiner Gesamtheit eine „Wiederholungsstruktur“, auch wenn dabei kein „festliegendes Raster“ zu erkennen ist.268 Die häufige Verwendung von Nummern als Bildtitel verweist darauf, dass es dem Betrachter überlassen bleiben soll, von wo aus und wie er das Werk betrachtet. Der Verzicht auf einen konkreten Titel entspricht dabei der fehlenden motivischen Hierarchisierung im Bild und damit der Möglichkeit, an jeder beliebigen Stelle des Bildes betrachtend anzusetzen.269 Philip Büttner sieht den Bezug zum Ornament darin, dass Pollock „[...] mit seinen Lineamenten, die sich

266 Prange 1996, S. 72f. Prange beruft sich dabei auf die Ausführungen von Holz, Hans Heinz: Einleitung. In: Ornamentale Tendenzen in der Zeitgenössischen Malerei. Ausst.-Kat. Haus am Waldsee, Berlin-Zehlendorf; Schloss Morsbroich, Städtisches Museum Leverkusen; Kunstverein Wolfsburg e.V. Berlin-Zehlendorf 1968, o.S. 267 Hoffmann 1970, S. 18. Zur inhaltlichen-kompositorischen Parallele Pollock/Gursky siehe auch Pfab 1998. 268 Putz 1975, S. 224. 269 Vgl. ebd., S. 223.

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zur Spur verselbstständigen, wieder wesentliche Aspekte der Arabeske in sein abstraktes Werk integriert: den ‚Rapport‘, das ‚Umspielen‘ und nicht zuletzt das ‚Füllen‘“270. Sowohl für Pollock als auch für Gursky stellen sich die Eigenschaften der neuen Ornamentik als Instrumentarium dar, um Momente der Abstraktion und Abstrahierung im Bild zunächst formal zu benennen. Diese Eigenschaften sind bei beiden Künstlern jedoch nicht absolut zu verstehen, da die jeweiligen Arbeiten eben nicht inhaltsleer abstrahieren oder gar nur dekorieren wollen, sondern stets von einem spezifischen Thema durchdrungen sind. Krauss erläutert, dass viele Betrachter das Begriffspaar ‚Abstraktion/Sujet‘ als unvereinbar empfinden, da sie das Abbild für das eigentliche Bildthema halten. Demnach besäße ein Werk keine Handlung, wenn es abstrakt sei und nichts abbilde. Das Ziel der abstrakten Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts liege jedoch in der Darstellung des ‚Nichts‘: „Wenn Mondrian und Malewitsch von etwas angetrieben wurden, so war es der Hegelianismus und die Vorstellung, daß die Berufung der Kunst durch ihren besonderen Ort im Fortschreiten des Geistes bestimmt wird. Das Bestreben, irgendwann einmal dahin zu gelangen, nichts zu malen, wird durch den Traum in Gang gehalten, daß es möglich ist, das Nichts zu malen, das gleichsam das ganze Sein ist, nur jeder Eigenschaft entkleidet, die es auf irgendeine Weise materialisieren oder begrenzen würde. Dergestalt gereinigt, ist dieses Sein identisch mit dem Nichts.“271

Die abstrakten Künstler nach 1945 hatten dieses ‚Nichts‘ bereits verinnerlicht. Es galt, der Notwendigkeit einer Ordnung gerecht zu werden, die auch in der unvorhergesehenen Zufälligkeit zu finden war. Das Sujet Pollocks „ist die provisorische Einheit der Identität von Gegensätzen: So wie Linie Farbe wird, wird Kontur zur Fläche und Materie zu Licht.“272 In den Werken Pollocks und Gurskys liegt − auch wenn ihr Verhältnis zur Wirklichkeit ein je anderes ist – ein durchaus analoger Impetus: über die erste überwältigende ästhetische Erfahrung

270 Büttner, Philippe: Die Idee der in „einem Strich“ durchgezogenen Zeichnung ... In: Brüderlin 2001, S. 94. 271 Krauss 2000 (1985), S. 293f. 272 Ebd., S. 295. Vgl. auch Meyer Schapiro: Moderne Kunst – 19. und 20. Jahrhundert. Übers. v. Benjamin Schwarz. Köln 1982, S. 239, S. 247.

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bzw. optische Sensation hinwegzuschreiten, um auf die interpretatorische Sinnebene zu gelangen.

2.3 Wahrnehmung von Weltbildern der Masse Gursky setzt in den Werken der zweiten Bildkategorie sein bis dato favorisiertes Werksujet fort: die Sicht auf neuzeitliche Weltgegenden. Von Interesse ist allerdings nicht mehr die räumliche Wahrnehmung bestimmter Topographien, sondern die innerstädtischen ‚Lebens- und Wirkungsräume‘ und deren Überlagerung durch technische und virtuelle Fließräume. Der Panoramablick schwindet, doch wird die „Totalität des Bildes“273 weiterhin ins Auge gefasst. Aus erhöhter Distanz beschreibt der Fotograf die ‚Kulissen‘ einer modernen Urbanität, die Schönheit, Glanz, Unterhaltung und Konsum in sich birgt, zugleich aber den Inbegriff für Anonymität, Masse und Beliebigkeit bildet und darüber hinaus mit einer sozialen Polarisierung − mit Armut, Slumbildung, Radikalisierung, Umweltverschmutzung etc. − verbunden ist. In Gurskys fotografischer Reflexion von Urbanität ist, formal und inhaltlich, das Phänomen der ‚Masse‘ offenkundiges Leitmotiv, das die Bilder dieser Strukturkategorie semantisch verknüpft. An dieser Stelle sei der Versuch unternommen, den Begriff Masse phänomenologisch so einzugrenzen, dass er als Folie für die Analyse von Gurskys fotografisch realisiertem Massenbegriff dienen kann: Der einzelne Mensch integriert sich in die technischen Fließräume der Stadt einerseits in Form von „offenen Massen-Strömen“274. Er ist Teil der Massen-Bewegungen, die sich als Zugkräfte an Ein- und Ausgängen, Ankunfts- und Abfahrtsorten sowie Transitbereichen formieren, und Teil von stehenden Massen in bewegten Transporträumen. Diese Massen werden von der einzelnen Person in der Regel als bedrückend

273 Vgl. Holert, Tom: Auf dem Balkon der Geschichte. Bilder der Macht – die unterschiedlichen Ansätze der Künstler Andreas Gursky und Sarah Morris, gültige Weltbilder festzuhalten. In: Literaturen 1/2 II 2002, o.S. 274 Großklaus 2004, S. 16. Die Unterscheidung zwischen der offenen, stetig an- und abschwellenden Masse und der geschlossenen Masse, bedingt durch räumliche oder strategische und ideologischen Grenzen, nimmt Elias Canetti vor. Vgl. Canetti, Elias: Masse und Macht. Limitierte Sonderausgabe. Frankfurt am Main 1996, S. 14ff.

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wahrgenommen, da es in ihnen zur Aufhebung der Individualdistanzen kommt, zu einer Berührung mit dem Fremden, die Unbehagen und Aggression auslöst.275 In der Unfreiwilligkeit des Aufeinanderstoßens offenbart sie „in jedem ihrer Atome die Neigung, eilig vorbeizulaufen an sich selbst wie an einem Hindernis und sich wie eine Zumutung, ein Zuviel als Materie am falschen Ort zu verfluchen“276. Andererseits fügt sich der einzelne Mensch auch freiwillig in geschlossene Massen, wenn sie sich innerhalb begrenzter Räume bildet und dem Individuum nur unter bestimmten Bedingungen Zutritt gewährt, zum Beispiel bei Konzert- oder Sportveranstaltungen. Als geschlossene Massen werden auch jene Formierungen bezeichnet, die einer ideologischen Steuerung unterliegen und als geometrisch geformte Körper in Erscheinung treten. Dazu zählen vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Massen der Soldaten und Heere sowie die Sportveranstaltungen zur körperlichen Ertüchtigung im Dritten Reich. Mit der Entstehung von Protest-Massen und Event-Massen in der postmodernen Gesellschaft tritt die ideologisch geschlossene Masse jedoch zugunsten der zwar formierten, aber offenen und beweglichen Masse in den Hintergrund.277 Charakteristisch für die Ansammlung von Massen ist die lokale Bestimmbarkeit des Geschehens. In Zusammenhang mit der Medialisierung der Gesellschaft führt Großklaus den Faktor Zeit als neuen Aspekt der Massen-Events an. Jede größere Veranstaltung ist mit einer medialen Übertragung verbunden, die es einer weiteren Masse an Personen weltweit ermöglicht, am Event-Geschehen teilzuhaben. Es ist eine „ganz und gar offene, global-zerstreute Massen-Formation, emanzipiert von der Nötigung räumlich-körperlicher Anwesenheit, [...] die sich nicht mehr im Raum, sondern in der Zeit versammelt, genauer an einer bestimmten Zeitstelle, eben jener, an der das beobachtete globale Massen-Event ›real‹ stattfindet.“278

275 Vgl. Großklaus 2004, S. 16. Vgl. zur Berührungsfurcht in der Masse Canetti 1996, S. 13f. 276 Sloterdijk, Peter: Die Verachtung der Massen. Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft. Frankfurt am Main 2000, S. 19f. 277 Vgl. Großklaus 2004, S. 17f. Vgl. zum Massensymbol des Heeres Canetti 1996, S. 202f. 278 Großklaus 2004, S. 18.

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Die Veranstaltung findet somit auf zwei Wirklichkeitsebenen statt: „einmal auf der lokalen Ebene der (empirischen) Erst-Wirklichkeit, zum anderen auf der globalen Ebene der (medialen) Zweit-Wirklichkeit“279. In Anlehnung an Luhmann beschreibt Großklaus analog zu den beiden Wirklichkeits- auch zwei Wahrnehmungsebenen. Die Masse vor Ort beobachte das Geschehen direkt, während die Masse an den Bildschirmen jene Bilder konsumiere, die von den Übertragungsmedien bereits gesehen und selektiert wurden. Der mediale Zuschauer ist sich dieser Situation jedoch häufig nicht bewusst, vielmehr sieht er sich unmittelbar als Zuschauer erster Ordnung.280 Die physische Abwesenheit von der Masse, aber gleichzeitig die Vorstellung, als Individuum ein Teil von ihr zu sein, zeigt sich nach Sloterdijk auch darin, dass „sich die heutigen, wenn man so will: die postmodernen Gesellschaften nicht mehr primär an Körpererfahrungen ihrer selbst orientieren, sondern sich nur über massenmediale Symbole, über Diskurse, Moden, Programme und Prominenzen selbst beobachten“281.

In Gurskys Aufnahmen ‚May Day IV‘ und ‚Tote Hosen‘ sind die Teilhaber an einer geschlossenen Masse unmittelbar vor den Augen des Betrachters formiert. Charakteristisch für solche Veranstaltungen – vor allem für jene der Popkultur – ist die psychische und kommunikative Interaktion von „Masse und Massen-Idol“282, welche die mediale Berichterstattung durch den Wechsel zwischen Nah- und Fernsicht bzw. Zoom und Totale dynamisiert.283 Gursky hingegen entscheidet sich in seiner Fotografie für eine totale Perspektive, die das Geschehen in einen umfassenden Raum einbettet. Die Masse wird, formatfüllend, zum entscheidenden Protagonismus des Events, das als „Theater des Körpers“284 inszeniert ist. Die Körper bewegen sich dabei im Spannungsfeld zwischen der introvertierten Selbst-Erfahrung und der extrover-

279 Ebd. 280 Vgl. ebd., S. 19. Vgl. zur Beobachtung erster und zweiter Ordnung: Luhmann 1995, S. 17. 281 Sloterdijk 2000, S. 17. 282 Großklaus 2004, S. 29. 283 Vgl. ebd. 284 Ebd., S. 38.

258 | DIE K ONSTITUTION DER D INGE

tierten Selbst-Inszenierung. Die Animierung erfolgt in erster Linie durch den Körper der Idole auf der Bühne und erst auf der zweiten Ebene durch die Masse selbst. Die Identifizierung mit dem Idol, die Organisation der Masse durch die Leitfigur und der Rhythmus von Gesang, Musik und Tanz schüren ekstatische Zustände, die in personale Entgrenzung münden und das Individualitätsbewusstsein des einzelnen überlagern.285 Sloterdijk sieht darin die archetypischen Überbleibsel mystisch-ritualisierter Kulturstufen, die in der säkularisierten Postmoderne zum ökonomisch funktionalisierten Freizeitvergnügen degradiert sind: „Nur in seltenen Augenblicken, wenn auf populären Festivals die Glücksmasse zu einem ekstatischen Kollektivkörper fusioniert wird, leuchtet durch die postmodernen Apathien noch einmal ein Funke von den politischen Dionysien und den Konventen der zu sich selbst erwachten luziden Menge hindurch – besonders sobald tonisierende Pop-Musik den Versammelten ihre Erregung und Entladung gebrauchsfertig zuspielt.“286

Dass auch der Vergleich – vor allem im Hinblick auf die erhobenen Armen in ‚Tote Hosen‘ – mit den Massenkundgebungen im Dritten Reich naheliegt, erläutert Großklaus im Zusammenhang mit der Szene ‚Nürnberger Parteitag 1934‘287 aus dem Film ‚Triumph des Willens‘ von Leni Riefenstahl: „Die Masse formiert sich zu einem bewegungslosen toten Massen-Körper, dessen abstrakt-geometrische Gestalt alles Konkret-Organische des menschlichen Einzelkörpers auslöscht und zum Verschwinden bringt. Das einzige Lebenszeichen, das dieser abstrakte Massenkörper zu äußern in der Lage ist, besteht in jenem Entladungsschrei, mit dem auf den Begrüßungsanruf des Führer-Idols (‚Heil meine Männer‘) geantwortet wird: ein hunderttausendfaches ‚Heil mein Führer‘.“288

285 Vgl. ebd., S. 37ff. 286 Sloterdijk 2000, S. 20. 287 Nürnberger Parteitag 1934, aus: Leni Riefenstahl: Triumph des Willen. Abb. in: Lorant, Stefan: Sieg Heil. Eine deutsche Bildgeschichte von Bismarck zu Hitler. Frankfurt am Main 1985, S. 250. 288 Großklaus 2004, S. 29.

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Die mediale Inszenierung macht den Betrachter zum Beobachter zweiter Ordnung, der die Szenerie aus der Distanz von oben wahrnimmt. Die Totale führt den Blick von der Leitfigur im Vordergrund über die achsensymmetrisch in Blockreihen dicht angeordnete Menschenmasse im Mittel- und Hintergrund. Die Ästhetik der Ordnung geht hier mit der Demonstration von Macht einher und ist von einem ideologischen Überbau zusammengehalten. Schließlich steht die geschlossene Masse sinnbildlich für die Einheit des Volkes.289 Somit zählt nicht der Einzelmensch, sondern die Verbundenheit der vielen durch eine einzige Idee, von innen geleitet durch den Massenwahn und eingeschmolzen im Augenblick der politischen Aktion. Gurskys Aufnahme hingegen zeigt mit der gänzlich unpolitischen Massenveranstaltung der Spaßgesellschaft das andere Extrem: auf sich selbst zurückgeworfene Individuen, deren Gleichgesinnung nur in der zeitweiligen Unterbrechung ihrer Apathie begründet ist und die sich von extrinsischen Faktoren − dem Massenkonsum, den Massenmedien und dem ökonomischen Interesse der Veranstalter − leiten und in Abhängigkeit bringen lassen. In Gurskys Werk zwischen 1984 und 2001 finden sich keine Arbeiten, die sich mit dem Thema der Massenbildung, der Demonstrationsmassen oder Paraden auseinandersetzen. Vielmehr waren es in diesem Zeitraum die Konsum- und Freizeitmassen sowie die durch das Kapital gesteuerten Massen. Im Jahr 2005 beginnt Gursky jedoch in Nordkorea die politischen Festspiele der kommunistischen Diktatur zu besuchen, die das Material für seine 2007 abgeschlossene Werkgruppe ‚Pyongyang‘ (Pjöngjang) liefern. Nina Zimmer beschreibt in ihrem Katalogbeitrag ‚Ausnahmezustand in Pyongyang‘290 ausführlich Gurskys fotografische Umsetzungen des Arirang-Festivals, jener Show, die das zweimonatige Fest zu Ehren des Kim Il Sung eröffnet. Die Fotoarbeiten ‚Pyongyang‘ I-V zeigen Szenen aus dem RungradoMay-Day-Stadion, in dem an die 70.000 Darsteller mit ihren Körper und diversen Accessoires wie Büchern und Pompon-Puscheln Bilder formieren. Mit dem distanzierten Blick des Fotografen wandelt sich das vielgliedrige Geschehen zu abstrakten Farbmustern und Ornamenten, aber auch zu konkreten Darstellungen von Blumen, Friedenstauben oder Waffen. Ein Herantreten an die Arbeiten zeigt einmal mehr

289 Vgl. ebd., S. 30ff. 290 Zimmer, Nina: Ausnahmezustand in Pyongyang. In: Gursky 2007, S. 6988.

260 | DIE K ONSTITUTION DER D INGE

die extreme Tiefenschärfe in Gurskys Bildern, die jede einzelne Person als Individuum zu erkennen gibt − und damit zugleich auch jede noch so kleine Abweichung von der Choreographie.291 Als auffällig erweist sich, dass Gursky in seiner Bildherstellung das propagandistische Moment auslöscht: Koreanische Schriftzüge und Porträts der kommunistischen Herrscher vermeidet er konsequent. „Gursky umgeht auf diese Weise elegant die Falle des Exotismus und betont durch seine Bildauswahl stattdessen immer das Musterhafte, Abstrakte des Massenspektakels.“292 Die Bildung des Musterhaften, also des Ornaments, offenbart sich jedoch in der ideologisch geschlossenen Masse als eine gleichmäßig gegliederte Oberflächenstruktur: Es „fasziniert und befremdet das gigantische menschliche Mosaik“293 – eine Ausnahme im Werk Gurskys, der die beweglichen Menschenmassen bislang im organischen All-over eines Jackson Pollocks zelebrierte. Doch wie in allen Bildern der zweiten Strukturkategorie wird auch in ‚Pyongyang‘ die Oberfläche zum Sinnträger für die Reflexion von gesellschaftlichen, politischen oder kulturellen Bedingungen. Gursky selbst kommentiert dazu: „‚[Ich] glorifiziere und idealisiere ja nichts, [...]. Ich will nur schildern, dass es hier eine Art Religionsersatz, eine Inszenierung kollektiven Glücks gibt, und wie sie aussieht. Und dass dies etwas Prototypisches ist.‘“294 Das inszenierte Glück und das tatsächliche Glück sind jedoch in beiden Welten – in der totalitärkollektivistischen und in der rationalistisch-individualisierten – fundamental verschieden. Zudem wird in den Oberflächenstrukturen deutlich, dass sich die politische Massenbildung in einem totalitären System von der ‚Kommerzmasse‘ phänomenologisch und psychologisch unterscheidet: Was in jener als (quasi-)religiöse Demonstration von kollektiv-kulturellem Glück inszeniert wird und auf diktatorischem Drill beruht, gilt in den freiheitlich-demokratischen Systemen als längst überwundener voraufklärerischer Gesellschaftszustand.

291 Vgl. ebd., S. 70f. 292 Ebd., S. 73. 293 Ebd., S. 83. 294 Gursky, Andreas in: Holger Liebs: In weiter Ferne, so nah. Vom Nürburgring bis Nordkorea: Für seine neuen Bilder ist Andreas Gursky bis ans Ende der Welt gereist. Bald werden sie in München gezeigt. In: Süddeutsche Zeitung, 26. Januar 2007. Zitiert nach Zimmer 2007, S. 73.

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In ‚EM, Arena, Amsterdam I‘ tritt die Masse als sogenannte RingMasse295 indirekt in Erscheinung. Obwohl wir nur das Spielfeld und die agierenden Spieler sehen, assoziieren wir im selben Augenblick das ringförmige Publikum, zahllose Menschen, deren Aufmerksamkeit auf das grüne Zentrum gerichtet ist und deren Gegenüber auf der anderen Seite zu einer unscharfen Masse verschmelzen. Ihre Erregung jedoch pflanzt sich trotz der Entfernung fort296; eine Erregung, die sich unmittelbar aus der körperlichen Zeichensprache der wettkämpfenden Spieler speist, was als Besonderheit des sportlichen Events im Gegensatz zum Show- und Musik-Event297 angesehen werden kann. Als charakteristisch für die ‚mediale Wirklichkeit‘ erweist sich die komprimierte, ausschnitthafte und dadurch intensivierte Darstellung des Events. Botschaften und Rituale, die von den Idolen der Sport-, Musik- oder Show-Veranstaltungen ausgehen, werden mit hohem technischen Aufwand in Szene gesetzt. Auf diese Weise werden dem Beobachter zweiter Ordnung jene Energien der Verzückung oder Anspannung zugänglich, die sonst nur dem Beobachter vor Ort vorbehalten sind, der dem Rausch der Masse und des Geschehens unmittelbar ausgesetzt ist. Anstelle des – in diesem Fall als vitalisierend und lustvoll empfundenen – Körperkontakts in der Masse erlebt der mediale Zuschauer ersatzweise die Verlockungen des voyeuristischen Kamerablicks.298 Die Vielfalt der Zeichen lässt Fußball zu einer Sprachform werden: „Bei einer Reise durch diesen Symbolkosmos – Stadion, Fankurve, Sprechgesänge, Rituale auf dem Spielfeld, Interviewmuster, Bildregie im Fernsehen, Formen der Berichterstattung, Kommentar – teilt sich allmählich die öffentliche, einem Millionenpublikum vertraute Kulturbedeutung von Fußball mit, ohne jemals explizit zu werden.“299

Gursky thematisiert also nicht nur den Fußball als Sport, sondern zugleich die Eigenschaften der medialen Vermittlung von Ereignissen.

295 Vgl. hinsichtlich der „Masse als Ring“ Canetti 1996, S. 29. 296 Vgl. hinsichtlich des Verhaltens der Masse in der Arena ebd. 297 Vgl. ebd., S. 27. 298 Vgl. ebd., S. 19, S. 23f. 299 Ebd., S. 12f.

262 | DIE K ONSTITUTION DER D INGE

Die geschlossene Masse wird auch in den Börsenbildern zum sinnfälligen Motiv. In Aufnahmen wie ‚Chicago, Mercantile Exchange‘ oder ‚Chicago, Board of Trade II‘ kann im übertragenen Sinne von einer Art ‚Hetzmasse‘ gesprochen werden. Canetti beschreibt die Hetzmasse in ihrem ursprünglichen Sinn als eine Jagdmeute, die ihr Opfer mit dem Ziel der Tötung verfolgt.300 Vor der Börsen-Kulisse geht es nicht um Mord, aber die Broker hetzen demselben Ziel, dem erfolgreichsten Aktienkurs und dem höchsten Gewinn, hinterher. Alle Energie wird aufgeboten, um zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, um als erster zuschlagen zu können. Ist das Ziel erreicht oder auch nicht, löst sich die Spannung und die gemeinsame Dynamik zerfällt, von der nur das hinterlassene Chaos Zeugnis ablegt. Reinhard Spieler bezeichnet den Welthandel als „archaisches Kampfritual“ bzw. als „großes Schlachtfeld“ und vergleicht die Szenerie mit Altdorfers ‚Alexanderschlacht‘. Formal gesehen fänden sich Struktur und Chaos in der Menschenmenge bei beiden Künstlern gleichermaßen. Auf inhaltlicher Ebene würden ebenfalls beide auf den globalen Rang der Schlacht verweisen. Altdorfer erziele dies mit dem allwissenden Feldherrenblick über die erdgekrümmte „Weltlandschaft“ im Hintergrund, während es bei Gursky das All-over ist, das „eine grenzenlose Gültigkeit und Bedeutung der Handlung suggeriert“. In Altdorfers Kampfszene sind zudem die Feldherrn strukturierend wirksam, während im Börsengeschäft eine Vielzahl von gegnerischen Parteien aufeinander treffen und die komplexere Weltwirtschaft „eher einem Magnetfeld [gleicht], in dem sich die Akteure nach geheimnisvollen, unsichtbaren Energiefeldern ausrichten“.301 Die Börse als Beispiel für eine aktive Hetzmasse bildet schließlich den Gegensatz zur passiven Manövriermasse eines Konzertpublikums. In Bezug auf die ornamentalen Figuren der Massen – entweder jene im Sinne Kracauers oder die politisch-ideologisch gesteuerten oder die hyperkapitalistischen – kann mit Reinhard Spieler behauptet werden: „Die formalästhetische Faszination, die sie vermitteln, spiegelt immer auch die gesellschaftlichen Prozesse und Organisationskonstellationen,

300 Vgl. Canetti 1996, S. 54f. 301 Spieler, Reinhard: Welthandel als archaisches Kampfritual. Chicago Board of Trade II, 1999. In: Beil, Feßel 2008, S. 58-61, hier S. 60f.

S TRUKTURKATEGORIE: D AS K ONSTRUKTIVE UND DAS O RNAMENT | 263

die zu einer solchen Form geführt haben.“ 302 Die Inszenierung von Unterhaltungsshows, Paraden, Sportveranstaltungen, Konsumgütern, Produktionsmechanismen und architektonischen Maßstäben bewirkt eine Gleichschaltung von Gemeinschaft, der Masse im Allgemeinen. Gursky hält die Massen und damit die Schaltzentralen und Funktionsweisen seines Umfeldes im fotografischen Großformat fest: In der Wahl des Bildausschnittes, der optischen Verdichtung der Bildebenen und in der digitalen Bildbearbeitung und Montage forciert und verdichtet er die bereits vorhandenen regelhaften Strukturen. Das organisch bzw. geometrisch angelegte Ornament vermittelt zwischen dem Gegenständlichen und dem Ungegenständlichen und erzeugt durch diese Stilisierung die allegorische Potenz seiner Werke. Hemken erläutert das künstlerische Vorgehen nicht nur von Ruff, sondern auch von Gursky wie folgt: „Die ästhetische Formalisierung, die beide Künstler als wichtigen Schritt des ‚Bildermachens‘ erachten, führt zu einer Verdichtung des Abgebildeten, so daß die Photographie sinnbildlichen, zeichenhaften Charakter gewinnt. So steht die bloße Abbildung gleichrangig neben dem Ikonischen: Motivwahl (Zivilisation), Darstellung (ästhetische Formalisierung) und Medium (Photographie) konkurrieren zu gleichen Teilen in den Arbeiten von Gursky und Ruff, wodurch die Problemzonen des Ikonischen (Realität, Repräsentation, Wahrnehmung) im Vakuum der Indifferenz gehalten werden.“303

302 Ebd., S. 61. 303 Hemken, Kai-Uwe: Von Sehmaschinen und Nominalismen. Anmerkungen zur digitalen Photographie von Andreas Gursky und Thomas Ruff. In: Steinhauser 2000, S. 29-39, hier S. 38.

STRUKTURKATEGORIE : A BSTRAKTION

DURCH

A NSCHAUUNG | 265

3. S TRUKTURKATEGORIE : ABSTRAKTION ANSCHAUUNG

DURCH

„Und für alles, was sichtbar ist, gibt es ein Gegenstück, das verborgen ist.“ (GARY HILL)

3.1 Strategien fotografischer Abstraktionen „Die Metastadt Welt ist eine Abstraktion“1: In den Arbeiten der Strukturkategorie ‚Das Konstruktive und das Ornament‘ stellte sich der ‚Ort‘ der Megastädte und der undurchschaubaren globalen Netzwerke als universaler Nicht-Ort dar. Der architektonische Raum wurde zur Oberfläche anonymer Austauschbarkeit. Ab dem Jahr 1993 setzt parallel zu diesen Arbeiten eine thematische Serie im Werk Gurskys ein, die zu einer höheren Stufe der formalen Abstrahierung führt. Diese Bilder weisen Abstraktionsmerkmale wie Monochromie und Flächenstrukturen auf und unterbinden die Wahrnehmung eines perspektivisch angelegten Raums. Es entsteht ein Aufzeichnungssystem, das die sichtbare Welt verdichtet und die Bildthemen der Globalisierungsphänomene metaphorisch verarbeitet. In Relation zum Gesamtwerk gehören zwar nur einige wenige Werke zu dieser Bildkategorie, die Gursky in seinem weiteren Schaffen allerdings immer wieder ausgelotet hat. Zur Strukturkategorie ‚Abstraktion durch Anschauung‘ werden schließlich auch jene Fotografien Gurskys gezählt, die Werke der bildenden Kunst, z.B. des ‚Abstrakten Expressionismus‘, zitieren oder sich der Malerei in Ausschnitten bedienen, um Farbspuren aus dem sujetbildenden Kontext zu isolieren. Marie Luise Syring bezeichnet diese fotografische Haltung Gurskys u.a. „als Kommentar, Paraphrase, ironische Distanzierung oder schlichtweg Auseinandersetzung mit der Malerei im allgemeinen und der modernen Kunst im besonderen“2. Vor diesem Hintergrund ist zu klären, inwieweit sich die Fotografie im Zitat der abstrakten Malerei Eigenständigkeit bewahren kann und in

1

Ferguson 2008, S. 18.

2

Syring 1998a, S. 5.

266 | DIE K ONSTITUTION DER D INGE

welcher Hinsicht sich die spezifischen Merkmale der Fotografie von denen der Malerei unterscheiden.

3.1.1 Monochrome Anschauungen Die Arbeit ‚Ohne Titel I‘ von 1993 mit den Maßen 186 x 224 cm präsentiert sich dem Betrachter zunächst als eine grau melierte Fläche. Der Blick aus der Distanz führt zu einem monochromen Eindruck, allerdings mit einer kontinuierlichen Helligkeitsabstufung zum unteren Bildrand. Aus der Nähe betrachtet, weist die abgebildete Fläche eine gekörnte Struktur auf, die zum oberen Bildrand hin abnimmt. Die hellen Grauwerte scheinen mit der Struktur zu verschmelzen. Durch die Tonwertabstufung und die Strukturauflösung wird dem Betrachter bei gleichbleibendem Standpunkt ein Wechsel von Nähe und Distanz suggeriert. Die Aufnahme entstand, wie u.a. Peter Galassi3 erläutert, in der Kunsthalle Düsseldorf: Gursky hatte bereits einige Bilder von der oberen Galerie mit dem Blick hinunter in die untere Galerie angefertigt, als er entschied, den Teppich genauer in den Blick zu nehmen. Es waren nicht mehr die aus der Vogelperspektive betrachteten Besucher von Interesse, sondern der Boden, auf dem sie sich bewegten. Die Struktur und das Grau des Teppichs wurden mit einem Abstand von 80 cm fotografiert. „Das Ergebnis war eine Aufnahme radikaler Leere, in der Gurskys geliebte Polarität zwischen Realismus und Abstraktion an beiden Enden vorwärts getrieben wurde. Die Aufnahme des flächendeckenden neutral grauen Feldes ist so bar jeden bildlichen Ereignisses, dass sein Objekt, wenn es überhaupt eines gibt, das Volumen ungenutzten Raums zu sein scheint, ein Raum, von dem der Teppich lediglich die untere Grenze darstellt. Auf der anderen Seite ist der Teppich jedoch sehr präsent und umso leichter mit den Augen zu erfassen, als er unter unseren Füßen entlang dem kontinuierlichen Gefälle der Textur zum oberen Bildrand hin zu verschwinden scheint.“4

3

Galassi 2001, S. 33.

4

Ebd.

STRUKTURKATEGORIE : A BSTRAKTION

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Die Erläuterungen Galassis zeigen, dass hier ein bildnerischer Kategorienwechsel stattfindet: von der Fotografie als gegenständlichem Abbild zum Bild eines bedeutungsoffenen optischen Erfahrungsfeldes. Die Teppichstruktur ist zwar konkret als solche zu erkennen, so dass von einer spezifischen Realitätszuordnung gesprochen werden kann. Bedeutsam ist jedoch die mehrschichtige Lesbarkeit der Aufnahme wie bei einem Vexierbild. Das Fehlen von narrativen Bildkomponenten leiten den Betrachter vom abgebildeten Gegenstand weg, hin zur intuitiven Vorstellung von Raum, Fläche oder Leere – zur Erfahrung von Abstraktion durch Anschauung. Mit der Reduktion des Dargestellten wird dessen Ausdruckspotenz gesteigert; die Wahrnehmung selbst wird zum Gegenstand der bildlichen Reflexion. Auch Gursky bezeichnete sein Bild in diesem Sinne als abstrakt: „Bei dem Bild ‚Ohne Titel I‘, 1993, etwa handelt es sich vielleicht aus der Ferne gesehen um ein Seh-Stück oder ein abstraktes Motiv. Bei näherer Betrachtung ist es unzweifelhaft als ein Teppichboden zu bestimmen.“

5

In dieser Aufnahme werden die Ebenen von Gegenständlichkeit und Abstraktion, von Fläche und Raum sowie das Verhältnis der Teile zum Ganzen reflektiert. Auch in dieser Kategorie ist die Position des Betrachters für die Wahrnehmung und Deutung der Fotografie relevant. Mit dem Wechsel vom nahen zum distanzierten Blick verändert sich der Eindruck von Abstraktion, die Fotografie löst sich mit zunehmender Betrachtungsdistanz vom gegenständlichen Referenten: Aus der Ferne erscheint der Teppich als graue Fläche und erhält abstrakten Bildcharakter – erzeugt durch die motivische Reduktion im Ausschnitt. Der Aufnahmestandpunkt unterläuft einerseits die in einer Fotografie gewohnte visuelle Erfahrung eines Perspektivraums, die nahezu einheitliche Motivstruktur dehnt sich über das gesamte Bildformat aus, wodurch es dem Gegenstand an Konturierung fehlt, durch die er eindeutig zu identifizieren wäre. Farbe und Struktur schieben sich in den Vordergrund des Seherlebnisses. Auf der anderen Seite ermöglichen der distanzierte Blick und die unterschiedlichen Grauwerte wiederum eine „Entflächung“ der Aufnahme, so dass ein Wechsel vom „Formfarbfeld zum Raumfeld“ stattfindet, eine räumliche Bildsituation

5

Gursky, Andreas in: Krajewski 1999, S. 8.

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suggeriert wird.6 Für die Arbeit ‚Ohne Titel I‘ können demnach folgende Eigenschaften festgehalten werden: Das gegenständliche Motiv wird auf eine Struktur reduziert, durch den Ausschnitt wird sie verdichtet. Zugleich ist eine Dehnung des Strukturfeldes wahrzunehmen, die zu einer räumlichen Anmutung führen kann. Diese bildliche Wirkung grauer Texturen legt den Vergleich mit den Graubildern von Gerhard Richter nahe, der an dieser Stelle formal und später im Kapitel ‚Abstrakte Malerei im Vergleich‘ ausführlicher auf der Deutungsebene vorgenommen wird. Wie der Untersuchung von Dietmar Elger7 zu entnehmen ist, entstanden diese Arbeiten in der Zeit zwischen 1968 und 1976 mit einem aus der Mischung der Farben Weiß, Schwarz und Umbra entwickelten Grauton. Auf den ersten Blick erscheinen die Arbeiten allesamt identisch, gleichsam als „Grenze zum kunstlosen grauen Anstrich“8. Eine intensivere Betrachtung bietet allerdings Ansätze zur Differenzierung. So unterscheiden sich die Arbeiten durch einen jeweils abweichenden Einsatz der Komponenten ‚Grauwert, Format, Auftrag und Malmittel‘. Im 1976 entstandenen Werkverzeichnis der Graubilder beschreibt Richter in kurzen Sätzen die spezifischen Eigenschaften einzelner Arbeiten. So heißt es zum ‚Grau‘ Nr. 194/12 (1968, 40 x 35 cm): „Helleres Grau, mittelgrob, gleichmäßig getupft“9. Hingegen wird das Bild Nr. 247/7 von 1970 mit „oelfleckig, malerisch, mittelbreite Pinselstriche“10 erläutert. Diese malerische Vielfalt spiegelt sich jedoch nicht in den Bildtiteln wider: Allen wird der Titel ‚Grau‘ zugeschrieben, der lediglich durch eine Nummer spezifiziert wird.11 Ähnlich wie bei Gursky wirken die Graubilder Richters durch die Standpunktvariation des Betrachters. Die Qualität der Oberflächen-

6

Hoffmann 1970, S. 159.

7

Elger, Dietmar: Gerhard Richter, Maler. Köln 2002, S. 269-274. Zu den Graubildern vgl. auch Friedrich, Julia: Grau ohne Grund. Gerhard Richters Monochromien als Herausforderung der künstlerischen Avantgarde. Köln 2009. Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 2008.

8

Ebd., S. 272.

9

Richter, Gerhard: hier nach Elger 2002, S. 272.

10 Ebd. 11 Vgl. Elger 2002, S. 269, S. 272.

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struktur12 wird erst aus unmittelbarer Nähe erfassbar. Die Fernperspektive hingegen löst das Werk aus der Gattung der Malerei: Es wird – wie bei Gursky – als Objekt oder Fläche eines Graus wahrgenommen. Während Richter Farbton, Farbauftrag und Farbqualität akribisch variiert, entscheidet Gursky spontan und antizipierend über die Bildwürde des fotografischen Motivs. Die Textur des Teppichs wurde aus der Distanz erblickt und in seiner doppelten Lesbarkeit bzw. in ihrer gegenständlich-ungegenständlichen Polarität als bildwirksam eingestuft. Als ein wesentlicher Unterschied zu Richter erweist sich das Phänomen der Entflächung bei Gursky. Unter Entflächung versteht Hoffmann in der Malerei eine Gestaltungsweise, „für die der Ausgangspunkt der verflächte Bildraum ist, von dem alle neuen Raumbildungen wie unter einem Ausdruckszwang ausgehen. Der entflächte Bildraum ist nun keineswegs der alte dreidimensionale, perspektivische, sondern ein fluktuierendes (vierdimensionales) Raum-Zeit-Kontinuum, in dem perspektivische Termini keine Rolle mehr spielen. Dieser bewegliche, fließende Bildraum ist kein statisch-ruhendes Gefüge, er lebt immer von mehr oder minder heftiger Verspannung nach den verschiedenen Bildseiten, aber auch nach vorn und nach hinten, von der Elastizität des Form-Farb-Feldes“13.

Diese Definition kann auf ‚Ohne Titel I‘ übertragen werden. Die Strukturauflösung und die Helligkeitsabstufung ließen sich zwar auch als eine innerbildliche Perspektive bewerten, doch handelt es sich nicht um eine Perspektive, die zur Klärung eines konkreten Raumverhältnisses beiträgt, sondern um eine bildliche Komponente, die eine bestimmte raum-zeitliche Wahrnehmung provoziert. Richters Graubildern hingegen fehlt dieses Kontinuum innerhalb der Oberflächenstruktur.

12 Die Bildmaterialität der Werke Gerhard Richters und das Verhältnis zwischen Oberflächenstruktur und Betrachterwirkung sind Themen bei Astrid Kasper: Gerhard Richter. Malerei als Thema der Malerei. Berlin 2003. 13 Hoffmann 1970, S. 23. „Die Bewegung innerhalb dieses Raumfeldes spielt sich ab zwischen schneller, wirbeliger Lineatur (Mathieu), schwingendem Lineament (Bernard Cohen), zwischen heftigem Formenstreit (Dewasne) und einem leisen Vor- und Zurückschwingen, gleichsam dem Atmen der Fläche (Leissler, Johannes Schreiter).“ Ebd. S. 23. Von schwingenden Linien oder einem Formenstreit kann bei Gursky nicht die Rede sein, doch bewirken Farbe und Struktur eine Flächenbewegung.

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Die Verwendung des Titels ‚Grau‘ bezeichnet dabei – trotz fehlender Differenzierung – einen konkreten Zustand, nämlich den des Graus. Zugleich beschreibt der Titel tautologisch den Inhalt des Bildes, also ohne einen signifikanten Informationsgehalt hinzuzufügen. Gursky hingegen vermeidet mit ‚Ohne Titel‘ eine Orts- oder Zustandsbeschreibung. Die Aufnahme soll auf den ersten Blick nicht gegenständlich wahrgenommen oder rezipiert werden, eine Betrachterlenkung durch einen konkretisierenden Titel wird vermieden. Gurskys Titelwahl entspricht damit der offenen fluidalen Wirkung der Aufnahme. Der Aufnahmeort kann durch keine topographische Angabe verifiziert werden, so wie es in der Fotografie ‚Rhein‘ durch die Titulierung noch möglich war. Gleichwohl stand das Bild des Rheins – trotz der konkreten Verortung – auch für den Fluss im Allgemeinen, den abstrakten Begriff Fluss. Diese Abstrahierung des Bildobjekts wird in ‚Ohne Titel I‘ nun noch gesteigert. Sinnfällig wird diese Deutung auch im Vergleich mit der später entstandenen Aufnahme ‚Schnee 1349‘14 (1996) von Boris Becker15. Ein weiß meliertes, sich in den Hintergrund zum Opaken hin auflösendes Motiv nimmt den Betrachter gefangen. Die von der Materie ausgehende Sogkraft führt den Blick weg von der fotografischen Oberfläche in anscheinend endlose Tiefe. Die Weite des Schnees bietet keine Orientierungsmöglichkeit, dehnt vielmehr – noch stärker als bei Gursky – die räumliche und zeitliche Wahrnehmung ins Indefinite. Die reduzierte Struktur in Beckers Aufnahme und der transzendentale Charakter der Farbe Weiß erweitern das Bildgefüge noch: „Das Bild markiert den Übergang des Sichtbaren ins Unsichtbare (bzw. umgekehrt); es offenbart damit, daß das Unsichtbare ein Teil des Sichtbaren ist.“16 Die Wahrnehmung wird irritiert, da kaum geklärt werden kann, was zu sehen ist bzw. ob überhaupt etwas zu sehen ist, obwohl es ja etwas zu sehen geben soll – das, was konkret indiziert wird durch den Titel ‚Schnee‘. Die Verkehrung des abbildenden Charakters der Fotografie

14 Boris Becker, Schnee 1349, 1996, 160 x 200 cm. Abb. in: Territorien. Fotografie. Boris Becker. Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bonn. Köln 1998, S. 25. 15 Der 1961 in Köln geborene Boris Becker studierte von 1984-1990 an der Kunstakademie in Düsseldorf bei Bernd und Hilla Becher und gehört damit der zweiten Generation der Becher-Schüler an. 16 Gronert, Stefan: Das Unsichtbare im Sichtbaren. Reflexionen zu „Schnee 1349“. In: Becker 1998, S. 23-25, hier S. 23.

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erlaubt zum einen die Hinführung zur Abstraktion; zum anderen wird das Medium der Fotografie in dieser Aufnahme ad absurdum geführt, da bestätigt wird, dass es sich bei einem fotografischen Bild immer um eine unzuverlässige Variation von Wirklichkeit handelt. Ebenfalls im Jahr 1993 fotografierte Gursky ‚Ohne Titel II‘ (180 x 216 cm). Eine Farb- und Lichterscheinung in Gelb-Orange steigt bogenförmig von unten in die Aufnahme. Im Mittelgrund transformiert sie sich zu einem Rot-Braun, um schließlich an der oberen Peripherie in ein Dunkel-Braun überzugehen. Keinerlei Strukturen lenken von dieser Farberscheinung ab. Reine Farbspektren bauen sich auf, losgelöst von jeder Gegenständlichkeit. Während sich in ‚Ohne Titel I‘ aufgrund der innerbildlichen Strukturveränderung noch Nähe und Distanz im und zum Motiv ausmachen lassen, ist dies dem Betrachter in ‚Ohne Titel II‘ nicht mehr möglich. Er nimmt vielmehr einen Wechsel von Gelb- und Braunwerten wahr, die ein Aufsteigen und Absinken suggerieren. Auch der Bildtitel führt – im Gegensatz zur späteren Aufnahme von Becker – zu keiner Identifizierung. Noch eindeutiger als bei Becker ist festzustellen: „Das Bild ignoriert scheinbar die medial bedingte Referentialität der Fotografie: In dem Maße, in dem es allein eine einfache, weder auf den ersten Blick noch zwangsläufig auf die außerbildliche Wirklichkeit beziehbare Farb-Fläche 17

zeigt, kann man es als ein gänzlich ungegenständliches Bild sehen [...].“

Gursky lässt in ‚Ohne Titel II‘ erstmals den Dualismus von abstrakten und gegenständlichen Bildmerkmalen vollständig verschwinden. Die Aufnahme ist offensichtlich eine abstrakte Fotografie, die auf einen konkret benennbaren Gegenstandsbezug verzichten kann – dennoch wird sie grundsätzlich als Bild mit fotografischen Merkmalen angesehen: durch den Einsatz von Fotopapier und durch den technischen Vorgang des Fotografierens. Letzterer verweist nicht nur auf den im Augenblick der Aufnahme ‚da-gewesenen‘ Gegenstand, sondern indi-

17 Gronert, Stefan: Reality is not totally real. Die Infragestellung des Sichtbaren in der zeitgenössischen Fotografie. In: Große Illusionen. Thomas Demand, Andreas Gursky, Edward Ruscha. Hrsg. v. Kunstmuseum Bonn. Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bonn; Museum of Contemporary Art North Miami. Köln 1999, S. 12-31, S. 19.

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ziert auch die visuell nachzuvollziehende raum-zeitliche Dehnung des Vergangenen in die Gegenwart bzw. umgekehrt die Dehnung des gegenwärtigen Motivs in die vergangene Entstehungszeit. Das abstrakte Motiv unterstreicht dabei die Visualisierung von Raum und Zeit. Schmitz hingegen erklärt, dass der Betrachter eindeutig erkennen könne, dass sich hier die atmosphärische Lichterscheinung eines Sonnenuntergangs in die fotografische Platte eingeschrieben habe.18 Dies bestätigt auch Greg Hilty und erläutert, dass große Naturerscheinungen als Bildthemen „zu einer Art ästhetischer Sättigung führen, die darin zum Ausdruck kommt, daß sich in Bilder von derart hohem Wiedererkennungswert oder Erhabenheit nicht Neues einbringen oder ihnen entnehmen läßt“19. Diese Uneinigkeit in der Deutung – ob der Referent zu benennen ist oder nicht – unterstreicht geradezu Gurskys Versuch, in dieser Strukturkategorie die Polarität von Konkretion und Abstraktion bildlich auszuloten. Gurskys ‚Ohne Titel VII‘ (186 x 224 cm) entstand 1998 und zeigt eine wolkige Modulation im Farbspektrum schwarz/dunkel-grau bis weiß/hell-grau. Während das bedrohliche Dunkel den unteren Bildbereich durchzieht, reißen lichte Partien das Grau im oberen Bereich auf. Assoziationen mit einem gewittrigen Wolkenhimmel drängen sich auf, doch könnte es sich auch lediglich um das Abbild einer Graumalerei handeln. In diesem Fall würde sich die Malerei im Medium der Fotografie verschränken. Die visuelle Hinführung zur Abstraktion gelänge dann nicht, wie noch in ‚Ohne Titel II‘, aus dem fotografischen Motiv selbst heraus, sondern aufgrund von kollektiven Bilderfahrungen. Andererseits erinnert Richters Werk ‚Wolke‘20 von 1970, das zur Graumalerei zählt, aufgrund der fotorealistischen Darstellung nicht nur an eine Naturaufnahme, sondern ist auch nach der Vorlage einer solchen entstanden.

18 Vgl. Schmitz 1994, S. 14. 19 Hilty 1995, S. 28. 20 Gerhard Richter, Wolke, 1970. Öl auf Leinwand, 200 x 300,7 cm. GR 2703. National Gallery of Canada, Ottawa. Abb. in: Gerhard Richter. Malerei. Ausst.-Kat. Kuratiert von Robert Storr. The Museum of Modern Art, New York; The Art Institute of Chicago; San Francisco Museum of Modern Art; Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Smithsonian Institution, Washington, D.C. Ostfildern-Ruit 2002, S. 153.

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Gursky gelangte zur Aufnahme ‚Ohne Titel VII‘, als er das Ausstellungskonzept für die Düsseldorfer Kunsthalle im Jahr 1998 plante. Auf zwei Ebenen sollten die Fotografien gehängt werden: Während für den oberen Bereich ‚Himmelsbilder‘ und das Bild einer ‚Lichtdecke‘ vorgesehen waren, sollten im unteren Bereich der ‚Sonnenuntergang‘ und die Aufnahme der ‚Raver‘ hängen – also Bildmotive, die faktisch oder im übertragenen Sinn keinen Boden besaßen. Da dem Künstler für die untere Ebene eine weitere Fotografie fehlte, lichtete er kurzerhand auf dem Dach der Kunsthalle den Wolkenhimmel ab.21 Obwohl ‚Ohne Titel VII‘ abstrakt gelesen werden kann, funktioniert dies weniger gut als in ‚Ohne Titel I‘. Das dürfte daran liegen, dass es sich um keine gleichmäßige Bildstruktur handelt, da wolkige Formen zu konkret sind, um sie nicht mit einem Himmel in Verbindung zu bringen. Als Vergleich zu Gurskys Arbeit ‚Ohne Titel VII‘ können die ‚Equivalents‘22 von Alfred Stieglitz aus den Jahren 19231931 herangezogen werden: Aufnahmen vom Himmel, den Wolken und der Sonne, abstrahierende Formationen und Wertigkeiten zwischen Hell und Dunkel, die dennoch Erkennbarkeit von Konkretem zulassen. Newhall schreibt dazu: „Mit dem Schock des Wiedererkennens wird einem sogleich klar, daß der Form, die das Auge entzückt, Bedeutung zukommt, und man gerät ins Staunen darüber, daß solche Schönheit im Alltäglichen zu entdecken ist. Denn eben hierin besteht die Kraft der Kamera: Sie kann das Vertraute erfassen, ihm neue Bedeutungen, einen besonderen Sinn verleihen und ihm einen persönlichen Stempel aufprägen.“23

In dieser Aussage wird die Polarität deutlich, die sich auch bei Gursky findet: zwischen Verfremdung des Gegenstands und gleichzeitigem Wiedererkennen. Kellein schreibt zu Stieglitz’ Arbeiten: „Die Equivalents bilden Himmelsfelder als Beispiele einer unendlichen Chaostheorie ab. Am Ende nähert sich die pionierhafte abstrakte Fotografie

21 Vgl. Gursky, Andreas in: Jocks 1999, S. 265. 22 Alfred Stieglitz, Equivalent, 1923. Silbergelatinepapier, 11,6 x 9,2 cm. George Eastman House, Rochester, Part purchase and part gift on An American Place, ex-collection Georgia O’Keeffe Courtesy George Eastman House. Abb. in Kellein 2000, S. 54. 23 Newhall 1998, S. 178.

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Amerikas einer Hommage an die Natur.“24 Gursky steht – ob bewusst oder unbewusst – in der Tradition der Verfremdung und erreicht zugleich mit seinen ‚monochromen‘ Arbeiten den höchsten Grad der Formalisierung in seinem bisherigen Gesamtwerk. Dass es sich hier nicht nur um einen erweiterten Prozess der Abstrahierung handelt, sondern dass die Arbeiten auch – auf das Gesamtwerk bezogen – von einer inhaltlichen Verdichtung zeugen, wird im Folgenden anhand der Werke der Kategorie ‚Strukturfelder‘ verdeutlicht.

3.1.2 Strukturfelder In Fortsetzung der Serie ‚Ohne Titel‘ entstand 1996 ‚Ohne Titel III‘ (186 x 222 cm). Dem Betrachter erschließt sich ein braunes mit Kies durchsetztes Feld. Der distanzierte Blick lässt Boden und Gestein zu einer punktförmig strukturierten Fläche verschmelzen. Aus der Nähe werden jedoch Reifenspuren25 ersichtlich, die sich diagonal durch die Aufnahme ziehen. Wie in ‚Ohne Titel I‘ muss sich die Kamera in geringem Abstand zum Motiv befunden haben. Trotz der flächigen Ausdehnung des Bodens ist aufgrund einer leichten perspektivischen Verkleinerung des Gesteins ein Vorder- und Hintergrund im Bild wahrnehmbar. Gursky entdeckte dieses Motiv, als er zu nächtlicher Stunde in der Schweiz über eine Passstraße spazieren ging. Die Scheinwerfer eines sich von hinten nähernden Autos tauchten den steinigen Boden zu Füßen des Künstlers kurzzeitig in Licht. Gursky stellte diese visuelle Situation später eigens für die Aufnahme nach.26 Die Licht-SchattenWirkung der Beleuchtung entfernt die Aufnahme von dem realistischen Referenten des Gesteins. Der Betrachter ist in der Lage, das eigentliche Abbild mit einer neuen Vorstellung von Realität zu überlagern: So könnte es sich auch um ein Landschaftsgebiet aus Satellitenperspektive handeln, da der Bildausschnitt eine Überprüfung von Grö24 Kellein 2000a, S. 43. 25 Vgl. Sommer, T. 2001, S. 48. 26 Vgl. Architektur- und Kulturkritik in Bildern? Die Kunsthalle Düsseldorf und das Fotomuseum Winterthur zeigen einen Überblick über das Gesamtschaffen des Becher-Schülers. In: Vorschau: Andreas Gursky. Noëma Art Journal, 49, Oktober-Dezember 1998, S. 100.

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ßenverhältnissen verhindert. Wäre Gursky daran gelegen gewesen, eine fotografische Darstellung von ‚Kies‘ zu vermitteln, hätte er einen hinweisenden Titel wählen können. Dass der Titel vorenthalten bleibt, eröffnet, im Wortsinn, Spielräume für die Vorstellungskraft des Betrachters und ermöglicht eine Rezeption des ‚Bildes hinter dem Bild‘. Das in den vorangegangenen Arbeiten bereits thematisierte RaumZeit-Verhältnis wird in ‚Ohne Titel III‘ nicht nur im Kontinuum der Wahrnehmung spürbar, sondern gleichfalls in den abgebildeten Spuren und ihrer kurzzeitigen Beleuchtung. Die Aufnahme indiziert in diesem Fall nicht nur, dass während des fotografischen Prozesses etwas vor dem Kameraobjektiv ‚da gewesen‘ ist; die abgebildeten Spuren verweisen zusätzlich darauf, dass vor der Aufnahme etwas ‚da gewesen‘ ist, was zum Zeitpunkt der Aufnahme aber bildlich nicht mehr vorhanden war: ein Gegenstand, der seinen Abdruck in Raum und Zeit hinterlassen hat. ‚Brasília, Plenarsaal I‘ (186 x 259 cm) entstand bereits 1994 und ist im Gegensatz zu den anderen Aufnahmen konkret betitelt. Zu sehen sind rhythmisch unterbrochene Lichtbahnen, die zum unteren Bildrand hin perspektivisch zulaufen. Ihnen liegt ein Raster aus kleinen Quadraten zugrunde. Zu den oberen Bildecken und den seitlichen Bereichen verzerren sich diese Quadrate zu dreieckigen Formen. Die von oben nach unten herabfallende Perspektivflucht erzeugt beim Betrachter eine Untersicht, die Suggestion einer räumlichen Überspannung. Allerdings kann die Arbeit auch so betrachtet werden, dass sich Strahlen in gelb-braunem und beige-weißem Ton am unteren Bildrand bündeln, um sich optisch zu einem Sonnenrad aufzufächern. Der profane Titel ‚Brasília, Plenarsaal I‘ reißt den Betrachter jedoch aus einer verklärenden Deutung der Aufnahme. Abgebildet ist nur eine Deckenbeleuchtung; der Titel verweist auf eine politische Raumfunktion. Diese Gegenstandsreferenz ist in der Aufnahme jedoch nicht erkennbar und nicht herstellbar. Der Makro-Ausschnitt, die Nähe und das Licht lassen das Objekt verschwinden, und der Rhythmus der Lichtparzellen sowie die Öffnung des Motivs zu den Seiten hin rufen stärker noch als in der Kieslandschaft den Eindruck einer ornamentartigen Struktur hervor. Dass trotz einer konkreten Titulierung keine inhaltlichen Rückschlüsse auf das Bildmotiv zu ziehen sind, erzeugt Befremden und Irritation. Der Titel wird durch das Bild ad absurdum geführt – und das Bild wiederum durch den Titel. Die Aufnahme kann sich nur in der Vorstellung des Betrachters entfalten: „[w]ie in einer

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anderen Welt schwebt die vergitterte Erscheinung über den Köpfen, mit der unterschwelligen Macht eines technologischen Sonnenuntergangs“27. Der Sog des Lichtes zieht den Blick in die Weite des Raumes und führt zu einer Entflächung der Aufnahme. Durch dieses Vexieren von Titel und Dargestelltem – genauer: durch die für den Betrachter nicht zu klärende Korrespondenz zwischen Titel und Betiteltem – erzielt Gursky den höchsten Grad von Abstraktion innerhalb seines bisherigen Gesamtwerks. Im selben Jahr fotografierte Gursky ‚Ofenpass‘ (226 x 186 cm). Eine schwarze Struktur aus Punkten, Strichen und kleine Flächen überzieht im Stakkato eine weiße Fläche. Der Blick zum oberen Bildrand löst jedoch die flächige Erscheinung auf. Eine Bergsilhouette grenzt sich leicht vom grau-weißen Himmel ab. Baumwipfel, Gebüsch und Gestein kristallisieren sich aus der Struktur heraus; ein schneebedeckter Hang ist zum Motiv gemacht worden. Im Gegensatz zu ‚Brasília, Plenarsaal I‘ können hier Titel und Motiv in Einklang gebracht werden. Diese Übereinstimmung führt zu dem Schluss, dass die Aufnahme trotz der abstrahierenden Wirkung des Strukturfeldes zur ersten Strukturkategorie zu zählen ist. Der Betrachter nimmt ähnlich wie in ‚Klausenpaß‘ oder ‚Albertville‘ eine Berglandschaft wahr. Der Unterschied liegt jedoch einerseits in der Nähe des Betrachters zum Motiv, wodurch die Aufnahme in Teilen den Charakter eines planen Strukturfeldes erhält, andererseits in der völligen Aussparung jeder menschlichen Existenz. Die Aura des Zufälligen oder des narrativ Geheimnisvollen ist in ‚Ofenpass‘ nicht zu finden. Für die Einordnung in die dritte Strukturkategorie fehlt wiederum die Möglichkeit, die Fläche als Erlebnisraum zu empfinden. Mit Struktur- und Farbfeldern setzte sich auch Boris Becker in seiner ‚Felder‘-Serie auseinander, die mit den erwähnten ‚Schneebildern‘ beendet wurde. Becker erklärt dazu: „Mit den letzten Schneefotos ist nichts mehr da, was hinzufügbar wäre. Dadurch ist eine Stunde Null markiert. [...] Aber ich hätte das Ganze genauso gut mit einem reinen Erdfeld beenden können.“28 An dieser Stelle sei auf einige Bilder die-

27 Wakefield, Neville: ‚Brasilia‘ Das Verschwinden der Fluchtpunkte. In: Parkett 44, 1995, S. 81-82, hier S. 81. 28 Becker, Boris in: Ein Gespräch von Heinz-Norbert Jocks mit Boris Becker. In: Kunstforum International. Band 146, Juli-August 1999, Seite 328, Ge-

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ser Reihe verwiesen, die einen mit Gursky vergleichbaren Ansatz verfolgen. So fällt der Blick bei ‚o.T. 1481‘29 von 1998 auf ein braun strukturiertes Farbfeld. Vor den Augen des Betrachters erstreckt sich der Ausschnitt eines gepflügten Ackers. Die zentralperspektivisch zusammenlaufenden Pflug-Furchen leiten in den Bildhintergrund, ohne jedoch die Begrenzung durch den Horizont sichtbar werden zu lassen. Eine gleichmäßige Struktur von Erdklumpen unterbricht die vertikale Blickführung und lässt den Blick horizontal hin- und hergleiten. Die Betonung der Horizontalen wird durch einen quer laufenden Schatten im Mittelfeld der Aufnahme noch verstärkt. Gursky wählte in ‚Ohne Titel III‘ im Vergleich zu Becker eine noch steilere Perspektive auf den Erdboden, so dass dieser – trotz der diagonalen Spuren – stärker in die zweidimensionale Fläche kippt. Der Lichteinfall modelliert den Kies zu Gesteinsbrocken und wirkt zugleich als dramaturgisches Element, das der Szenerie einen geheimnisvollen Charakter unterschiebt. Beckers Aufnahme wirkt dagegen farblich stumpfer; die Betonung liegt auf den durch Menschenhand geschaffenen Spuren. Die Arbeit ‚Feld 1310‘30 von 1995 zeigt aus einer erhöhten Betrachterposition den Ausschnitt eines abgeernteten Kornfelds. Durch das helle Braun der gekappten Halme sind Ackerfurchen erkennbar, welche die Aufnahme diagonal strukturieren. Ein Fahrzeug hat eine sich bogenförmig in den Hintergrund ziehende Reifenspur im Feld hinterlassen. Ohne Zweifel ist der Referent in der Aufnahme entschlüsselbar. Die Aufmerksamkeit des Betrachters allerdings wird durch den direkten, im Ausschnitt intensivierten Blick auf die Strukturen des Bildgegenstandes gelenkt. Becker nutzt eine „Bildsprache, die

spräche mit Künstlern. Hier nach: http://www.boris-becker.com/texte/ gespr_bb.html vom 08.05.2005. 29 Boris Becker, o.T. 1481, 1998, 160 x 200 cm. Abb. in: Becker 1998, S. 47. 30 Boris Becker, Feld 1310, 1995, 160 x 200 cm. Abb. in: Buhlmann, Britta E.; Pfalzgalerie Kaiserslautern (Hrsg.): Claims and Constructions / Landschaften und Konstruktionen. Fotografien von Boris Becker. Ausst.-Kat. Pfalzgalerie Kaiserslautern; Städtische Galerie Wolfsburg. Heidelberg 2000, S. 43.

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in ihrer Reduziertheit und Abstraktheit hervortritt“, die „Gegenständlichkeit vermag in Abstraktion umzuschlagen und umgekehrt“.31 Im Jahr 1996 hat Becker die ‚Blumenwiese‘32 fotografiert. Der Blick streift über die Weite einer Löwenzahnwiese, die sich vom Betrachter aus zu allen Bildseiten fortführen lässt. Die dicken Blüten des Löwenzahns lösen sich im Hintergrund auf zu einem gelben Gesprenkel auf grünem Grund. Der Betrachter taucht regelrecht ein in eine naturgebundene All-over-Struktur. Hier zeigt sich, dass „[...] es beim Betrachten der All-over-Fotografien durch die Eingrenzung des Blickfeldes und die Reduktion von Farbe und Form bei gleichzeitigem Fokussieren das in seiner komplexen Fülle Sichtbaren [zu einem außergewöhnlichen Seherlebnis kommt]“33.

Das Aussparen des Horizonts, die Größe der Aufnahmen und ihre Präsentation ohne ein rahmendes Passepartout verringern den Abstand des Betrachters zum Motiv, so dass sich dieser geradezu im Zentrum des Bildes glaubt.34 Zugleich bietet der fotografische Standpunkt eine Überblicksperspektive. Der Eindruck sich weitläufig erstreckender Natur wird durch das von Becker für die ‚Felder-Aufnahmen‘ verwendete Querformat noch verstärkt, das dem horizontal geprägten Sehen des Menschen entspricht.35 Nähe und Distanz bedingen bei Becker gleichermaßen den abstrahierenden Blick auf die Natur. Der Künstler selbst äußert sich zur Abstraktion folgendermaßen: „Irgendwann jedenfalls fotografierte ich nur noch reine Farbflächen in der Natur als eigenständige Bildaussagen, wobei ich mich rein auf Farben und deren Strukturen konzentrierte. Deswegen ging ich dazu über, Landschaften hori-

31 Reich, Annette: Kongruenz – Divergenz. Landschaften und Konstruktionen im fotografischen Werk von Boris Becker. In: Buhlmann 2000, S. 1120, hier S. 13. 32 Boris Becker, Blumenwiese, 1996, 160 x 200 cm. Abb. in: Buhlmann 2000, S. 42. 33 Reich 2000, S. 14. 34 Vgl. ebd. 35 Vgl. Gronert, Stefan: Bild – Feld. Zur Landschaftsfotografie von Boris Becker. In: Becker 1998, S. 7-15, hier S. 11.

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zontlos aufzunehmen, damit sich der Blick rein auf Fläche und Struktur richtet.“36

Die visuelle Konzentration auf das Motiv führt dazu, dass Natur neu erfahr- und wahrnehmbar wird. Wenngleich der Mensch nicht unmittelbar anwesend ist, so wird dennoch darauf verwiesen, dass die uns umgebende Natur nicht mehr unberührt, sondern stets von Menschenhand gestaltet und bearbeitet ist. Der Unterschied zu Gursky liegt vornehmlich in der Visualisierung von Strukturen: Beckers Felder manifestieren eine in die bildnerische Form und auf die Fläche übertragene haptische Qualität. Die vom Menschen geformte Natur wird in ihren Strukturgesetzen erlebbar gemacht und ist trotz der möglichen Abstrahierung stets von bildnerischem Gewicht. Gurskys Aufnahmen hingegen ermöglichen durch das Modellieren des Lichtes eine Absorption in die Fläche und damit in den Raum, so dass der Blick ‚hinter‘ das eigentliche Bild gelangt. Das Abbilden von Strukturen bezeichnet bei Gursky dreierlei: den Vorgang des Abwägens, bis zu welchem Punkt ein bildwirksames Fotografieren noch möglich ist und, damit verknüpft, inwieweit der Prozess der Formalisierung und Abstrahierung vorangetrieben werden kann. Schließlich nutzt Gursky noch die formale Qualität der Strukturen als Medium, um auf die über das Visuelle hinausgehenden Eigenschaften der Fotografie zu verweisen. Ginge es Gursky tatsächlich nur um das konkrete Abbild von Strukturen, so hätte er wie Becker eine ganze Reihe solcher Aufnahmen getätigt, wäre dabei in der Motivwahl bewusster vorgegangen und weniger spontan aus zufälligen Situationen und Umfeldbedingungen heraus. Trotz der Ähnlichkeiten zwischen Becker und Gursky zeigt der Vergleich auch die Eigenständigkeit beider Künstler. Beckers Reihe der ‚Landschaften‘ ist thematisch in sich geschlossen und kann unabhängig z.B. von der Reihe der ‚Bunker‘ betrachtet werden. Gurskys Strukturbilder hingegen sind immer wiederkehrende Versuche, den Grad der fotografischen Abstrahierung zu steigern, ohne sich dabei auf einen besonderen Motivbereich zu beschränken. Er bedient sich nicht wie Becker ausschließlich der Landschaft, sondern verarbeitet Motive sowohl in architektonischen Innenräumen als auch im natürlichen Außenraum. Für Becker sind seine Motive „ortlos“, da der Betrachter von

36 Becker, Boris in: Jocks 2005 (1999), o.S.

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dem vergrößerten, befremdlich wirkenden Motivausschnitt vereinnahmt wird und nicht weiß, wo dieser zu lokalisieren ist. Obwohl etwas Konkretes wahrgenommen werden kann, stellt sich die Frage, was genau visuell erfasst wird. Der Prozess der Abstrahierung vollzieht sich für Becker in der „Ortlosigkeit“ und im Wechsel vom „Erkennen“ zum „Verkennen“ des Dargestellten.37 Die Bilder Gurskys werden zwar auch als nicht definierbare Orte deklariert, doch der Fotograf vollzieht noch einen weiteren Schritt, indem er das im Bild sichtbare Narrative nahezu vollständig ausschließt. Das ‚Kies‘-Bild zeigt zwar Reifenspuren und so mittelbar auch den Menschen; Motiv und Struktur sind bei Gursky aber nicht mehr vordergründig, sondern fungieren als Pole zweier im Bild angelegten Sinnebenen. Seine Arbeiten vermitteln das utopisch Visionäre: gleichsam das Bild hinter dem Bild. Die Thematisierung von Strukturfeldern in der Fotografie geht auf eine einflussreiche Tradition zurück, deren Höhepunkte in den 20er- und besonders in den 50er-Jahren zu finden sind. Aus Otto Steinerts Bewegung der ‚subjektiven fotografie‘ entstanden zahlreiche Strukturfotografien, die Steinert schließlich selbst als eine sich verbreitende „Strukturitis“38 bezeichnete und der er nach der Ausstellung ‚subjektive fotografie 3‘ 1958 wiederum selbst ein Ende setzte.39 Mit Brasseï (1899-1984), der ebenfalls von Steinert ausgestellt wurde, gelangte die Struktur des späteren ‚All-overs‘ in die Fotografie. Brasseï nahm bereits zwischen 1931 und 1932 die Straßen von Paris bei Nacht auf. Die Aufnahmen „Les pavés“40 zeigen aus erhöhter Position Ausschnitte unterschiedlicher Kopfsteinpflaster. Eine reduzierte nächtliche Beleuchtung wird von der regennassen Pflasterung partiell reflektiert, während andere Bildbereiche im Schatten verschwinden. Bildzentrum und Fluchtpunkt fehlen, vielmehr dehnen sich die Strukturen zu allen Seiten hin aus. Jede romantische Atmosphäre ist aus die-

37 Ebd. 38 Zitiert nach Auer 1998a, S. 18. 39 Vgl. Schmoll, gen. Eisenwerth in: ebd., S. 18. 40 Brassaï, Les pavés, 1931-1932. Silbergelatinepapier, 24,1 x 17,4 cm. Centre Georges Pompidou, Paris Musée national d’art moderne. Brassaï, Les pavés, 1932. Silbergelatinepapier, 23,6 x 17,9 cm. Centre Georges Pompidou, Paris Musée national d’art moderne. Abb. in: Kellein, Lampe 2000, S. 128f.

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sen Fotografien gewichen, die Betonung liegt auf dem nackten Element.41 In ähnlicher Manier zeigt sich die Fotografie „Das Watt“42 (1935) von Alfred Erhardt (1901-1984). Ebenfalls in Aufsicht erstreckt sich der dunkel zerfurchte, nasse Wattboden über das gesamte Bildformat. Erhardt beschäftigte sich in Serien mit „der Natur im Ostseeund Nordseeraum, um abstrakt-strukturelle Zeugnisse von natura naturans festzuhalten, wie sie durch Sandverwehungen und Gezeiten hervorgerufen wurden“43. Dass Landschaften als Kompositionen von Flächen und Strukturen erkannt werden, findet sich seit den 1950er-Jahren auch in den Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Monika von Boch44, einer Schülerin von Steinert. Charakteristisch für ihr fotografisches Werk ist die Wirkung von Formen: „Das Grafische im Fotografischen steht im Vordergrund nach den Gesetzen optischer Spannung, Gewichtung und Ausdrucksdichte. Das Inhaltliche tritt oft weit zurück hinter der Ordnung der Formen. Aber diese sind doch Träger bestimmter Sinnhaftigkeit.“45

Durch Steinert wurden ihr die Prinzipien von Form und Fläche in der Fotografie vermittelt. Dennoch entwickelte von Boch ihre eigene Bildsprache, die durch den Gegensatz von „lyrisch“-„meditativ“ und „sachlich“-„nüchtern“ gekennzeichnet ist.46

41 Vgl. Kellein, Thomas: Moholy-Nagy und der Höhenflug konstruktivistischer Fotografie nach 1924. In: Kellein, Lampe 2000, S. 75-132, hier S. 88f. 42 Alfred Erhardt, Aus einer Serie ‚Das Watt‘, 1935. Silbergelatinepapier, 49,7 x 29,7 cm. Bauhaus-Archiv Berlin. Abb. in: Kellein, Lampe 2000, S. 124. 43 Kellein 2000b, S. 87. 44 Monika von Boch-Galhau, geb. 1915 in Mettlach, seit 1950 Schülerin von Otto Steinert in der Fotoklasse an der Kunstschule in Saarbrücken, seit 1959 Fotokurse bei Kilian Breier. Vgl. Schmoll gen. Eisenwerth, J.A.: Monika von Boch: das fotografische Werk 1950-1980. Experimentelle Fotografie – Fotogramme – Industrie – Abstraktionen – Natur. Dillingen (Saar) 1982. 45 Ebd., S. 11. 46 Ebd., S. 13.

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In der Themengruppe ‚Wälder‘ fotografiert von Boch aus erhöhter Position und Distanz Ausschnitte diverser Wälder. Die Aufnahmen ‚Wald auf dem Malberg‘47 (1962/66) und ‚Fichtenkultur mit Birken, Obersasbach‘48 (Ostern 1959) zeigen die gleichmäßige und bildfüllende Ausdehnung der Waldmotive. Die Wälder werden in den Fotografien zu bildimmanenten Texturen unterschiedlicher Ausprägung. So zeigt ‚Malberg‘ eine subtil ineinander verzahnte Binnenstruktur, die eine Hervorhebung einzelner Formen kaum möglich macht und die Aufnahme fast diffus erscheinen lässt. In den Arbeiten ‚Fichtenkultur‘ und ‚Birkenhang‘ sind die Ausschnitte enger gewählt, und die Bäume nehmen einzeln plastische Formen an. Eine daraus im Ansatz resultierende Räumlichkeit durchbricht die vorhandene All-over-Struktur. In der Kategorie der ‚Landschaftsaufnahmen‘ widmet sich von Boch auch geometrisch aufgebauten Landschaftsstrukturen. ‚Wegemarke bei Otzberg, Odenwald‘49 (1977) und ‚Diagonalweg, Otzberg, Odenwald‘50 (20.3.1977) zeigen unterschiedliche rautenförmige Ackerzonen, die zum Teil durch Wege voneinander getrennt sind. Der Horizont ist hoch angesetzt oder ganz eliminiert, so dass die Erdzonen fast das gesamte Bildformat füllen. Neben der flächigen Bildgestaltung sind es die Perspektivlinien der Wege und Feldränder, die Räumlichkeit suggerieren. Dennoch verdrängt die geometrisch angelegte Bildkomposition in Verbindung mit den Tonwerten der Aufnahme das eigentliche Bildsujet. Im Umfeld der ‚subjektiven fotografie‘ richtete Robert Häusser51 den Blick auf die von Menschenhand bearbeitete Natur. Die SchwarzWeiß-Aufnahme ‚Acker‘52 von 1950 zeigt längs verlaufende Ackerfurchen, die zunächst perspektivisch abfallen, um im Hintergrund erneut anzusteigen. Aufgrund dieser Landschaftsführung und der foto-

47 Abb. in: ebd., S. 98. 48 Abb. in: ebd., S. 101. 49 Abb. in: ebd., S. 115. 50 Abb. in: ebd. 51 Robert Häusser, geb. 1924 in Stuttgart, studierte zunächst 1941/42 an der Graphischen Fachhochschule in Stuttgart. 1950 begann Häusser das Studium der Fotografie an der Schule für angewandte Kunst in Weimar. Vgl. Lebenslauf in: Auer 1998, S. 215f. 52 Robert Häusser, Acker, 1950. Silbergelatine, 59,5 x 79,5 cm. Prof. Robert Häusser, Mannheim. Abb. in: Auer 1998, S. 119.

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grafischen Haltung werden die nahen und fernen Bereiche des Ackers vom Betrachter als besonders ausgeprägter Gegensatz wahrgenommen. Im Vordergrund, dicht vor dem Objektiv, erscheinen die schwarzen Ackerfurchen als tiefe Gräben. Die Erdaufwerfungen werden optisch zu unüberwindbaren Wällen stilisiert, die befremdlich silbriggrau glänzen. Im Hintergrund öffnet sich der Blick zu den Seiten, so dass ein größerer Bereich scheinbar schmaler gegliederten Ackerfurchen betont wird. In der Senke des Feldes ist in Rückenansicht der Landwirt mit seinem vom Vieh gezogenen Pflug zu sehen. Häusser bezieht den Menschen im Gegensatz zu Gursky und Becker bewusst in die Aufnahme ein. In den unwirtlich und widerständig wirkenden Erdwällen scheint die Mühsal des Bauern symbolisiert zu sein, der Erde ihre Früchte abzuringen. Allerdings ist die fotografische Intention mehr auf die naturale Struktur des Bildes gerichtet. Die steile Perspektive transformiert einen gewöhnlichen Acker zu einer befremdlichen Erscheinung. Fotografiert Gursky einerseits − in farblich und narrativ konzentrierter Motivik − Orte des exzessiven Konsums und Handels, so widmet er sich andererseits in einigen wenigen Arbeiten auch einer einförmigen, monochromen und durch Struktur bestimmten Motivlandschaft. Der Vergleich zu Künstlern wie von Boch oder Häusser zeigt, dass Gursky zwar formal in deren Tradition steht, es ihm inhaltlich aber nicht um die ‚graphische‘ Erschließung einer natürlich belassenen oder von Menschenhand geformten Natur geht. Mit der Reduktion auf Struktur, Farbe und Licht sowie einem verschleierten oder eliminierten Referenten repräsentieren diese Arbeiten im Vergleich zu den Werken der beiden anderen Strukturkategorien den höchsten Grad der Formalisierung und Abstrahierung. Der Informationswert der rudimentären Gegenstandsbezüge ist hier geringer als das Farb- und Strukturprinzip, das die erste Sinnebene der Bilder ausmacht. Der Betrachter sucht nicht nach einer objektiven Bestätigung der dargebotenen Bildwelt. Das ästhetisierende Ordnungsgerüst des Ornaments in den Werken der Strukturkategorie ‚Das Konstruktive und das Ornament‘ und sein Vermittlungscharakter zwischen Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit sind in der Kategorie ‚Abstraktion durch Anschauung‘ zugunsten einer Definition von Raum aufgehoben. Diesen Motiven sei der ‚Boden‘ genommen, wie Gursky 1998 während der Hängung in der Düsseldorfer Kunsthalle formulierte. Auch das Bild der ‚Raver‘ zählte er

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ausdrücklich dazu und stellte damit zwischen motivisch völlig unterschiedlichen Werken eine unerwartete Beziehung her: Anhand der beschriebenen Bildsujets wird ersichtlich, dass Gursky innerräumliche Begrenzungen – Decke/Teppich – und außerräumliche Zonen – Himmel/Sonne/Erde – wählt. Sie füllen den Bildraum völlig aus, ohne dabei ein Ende oder einen Horizont erkennen zu lassen. Struktur, Farbe und Licht erstrecken sich zu allen Seiten ins Unendliche, ein Halt bietender Fixpunkt bleibt ausgespart. Gursky bildet keine konkrete Topographie und auch keinen Ort des globalen Geschehens ab, sondern führt den Blick auf Motive, die dem Betrachter Leerstellen bieten. Eine Art Zwischenraum wird angezeigt, der über das eigentliche visuell Repräsentierte hinausweist. Scheint es abwegig, in Gurskys Strukturmustern, als reine Abstraktion aufgefasst, das reduzierteste Modell der in ihrem Wesen unerkennbaren Konstitution einer planetar organisierten Menschheitsgesellschaft zu entdecken? Lassen sich die globalen Netzwerke – Wertschöpfungsketten, Workflow, Finanzströme –, weil sie das Bewältigungsvermögen des Menschen übersteigen, nicht mehr konkret begreifbar machen, sondern nur noch als infinite abstrakte Struktur? Für die Funktionsweisen der weltweiten Medien z.B. finden sich immer wieder „Metaphern wie ‚Linie‘/‚Stern‘/‚Netz‘/‚Teppich‘ [...].“53 Die Weltgeschichte der Gegenwart muss verstanden werden „als Feld multipler, gleichwertiger und interdependenter Kräfte“. Das heißt, „[e]s wird nicht nach dem ‚Nacheinander‘ oder gar der kausalen Verknüpfung isolierter historischer Phänomene gefragt, sondern diese werden gerade in ihrem ‚Neben- und Miteinander‘, in ihrer wechselseitigen Durchdringung, in ihrer gewebeartigen Struktur herausgestellt [...]“.54

53 Köster, Ingo: Mediale Maßverhältnisse in Raum und Zeit. Ein Versuch der Systematisierung. In: Köster, Ingo; Kai Schubert (Hrsg.): Medien in Raum und Zeit. Maßverhältnisse des Medialen. Bielefeld 2009, S. 23-45, hier S. 26. 54 Kirchmann, Kay: Verdichtung, Weltverlust und Zeitdruck. Grundzüge einer Theorie der Interdependenzen von Medien, Zeit und Geschwindigkeit im neuzeitlichen Zivilisationsprozeß. Opladen 1998, S. 224. Zugl.: Siegen, Univ., Diss., 1996.

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Vor diesem Hintergrund können Gurskys verdichtete Strukturen, die raum-zeitliche Dehnungen und Verflüchtigungen in ‚Brasília, Plenarsaal I‘ und den ‚Ohne Titel‘-Bildern als Sinnbilder für den abstrakten und unendlichen Datenhorizont der „Metastadt Welt“ gelesen werden.

3.1.3 Zitate der Malerei Im Œuvre Gurskys haben jene Arbeiten eine Sonderstellung, in denen sich der Fotograf unmittelbar mit der Gattung der Malerei auseinandersetzt. Er reiht diese Werke zum Teil in die Serie der ‚Ohne Titel‘Bilder ein: So entsteht im Jahr 1997 die Arbeit ‚Ohne Titel VI‘ (186 x 239 cm), die sich als Bild im Bild präsentiert. Gursky hat im New Yorker Museum of Modern Art das Werk ‚One: Number 31‘ (1950) von Jackson Pollock zentral abgelichtet. Dabei wählte er den Abstand so, dass das Gemälde von der weißen Ausstellungswand eingerahmt wird. Die Zonen Decke und Boden bieten keine räumliche Umspannung mehr, sondern kippen in die Fläche und bilden mit der Wand eine Einheit, die durch die Farbbalancen wiederum eine horizontale Gliederung erfährt.55 Der Betrachter nimmt die Malerei – vermittelt durch ihr fotografisches Abbild – aus einer gewissen Distanz war, als integrierten Motivteil der Fotografie, die er betrachtet. Die durch das Ausstellungslicht modellierten Brauntöne des Bodens und der Decke korrespondieren farblich mit dem braunen, schwarzen und weißen Drip-Painting Pollocks. Mit dem Transfer des Gemäldes in den fotografischen Bildraum führt Gursky die Fotografie weg von einer bloß tautologischen oder archivarischen Reproduktion, denn „mittels der fotografischen Wiedergabe löst er visuell das Gemälde sozusagen aus seinem angestammten Platz im Museum heraus, um es dann mit Hilfe der technischen Vergrößerung des Fotos wieder in ein Riesenformat zu bringen und somit erneut in einen, dem Gemälde vergleichbaren Rang zu erheben.“56

55 „Die radikale Verflachung des Raums sowie die – bewußt eingesetzte – direkte Beleuchtung der Wand aus der Frontalen schematisieren und vereinfachen den Zusammenhang auf eine Weise, die die Fotografie der Sprache der ‚Hard-Edge-Malerei‘ der Nachkriegszeit annähert.“ Cooke 1998, S. 13. 56 Pfab 1998, S. 10.

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Thomas Zaunschirm vertritt hingegen die Auffassung, dass Pollocks Gemälde in der fotografischen Umsetzung durch die Rahmung an Monumentalität verliere und sich die Farbspuren nicht mehr ausbreiten, sondern vielmehr zusammenziehen und verdichten: „Das Foto gibt nicht das Bild wieder, sondern widersteht dessen energetischer Eigenart und entschärft es durch den Abstand.“57 Mit der Aufnahme von ‚One: Number 31‘ scheint Gursky sein eigenes an den Rapport gebundenes Kompositionsgefüge zu zitieren. Der Vergleich der Fotografien von Börsen und Raves mit den Allover-Strukturen von Pollock wird nun am Original regelrecht vorexerziert. Gursky bleibt aber nicht beim bloßen Zitat, sondern erweitert das malerische Werk. So begegnen sich zwei Pole in ‚Ohne Titel VI‘: die spontanen Spuren des Drip-Paintings, die trotz des Kompositionsverbundes offen und lose wirken, und die exakte horizontale Einfassung des Werkes in der fotografischen Situation. Gursky bindet die Arbeit Pollocks in die Horizontalität ein, die er in Werken wie ‚Rhein‘ oder ‚Prada‘ bereits bildwirksam erprobt hat.58 Gursky unterläuft damit die Grundvoraussetzungen für eine nach Putz optimale Bildhängung von Pollocks Werken. So „ist eine Wand erforderlich, die größer als das Bild ist und an der das Bild sich befindet. Eine Fläche, die das Bild rundum umgibt, ist nötig, damit sich die Bildstruktur potentiell darauf ausdehnen kann.“59 Die durch die Fotografie hervorgerufene horizontale Gliederung verhindert nicht nur die Ausdehnung, sondern lenkt den Betrachter von der Bildsprache Pollocks ab und bindet die Aufmerksamkeit an ein für Gursky typisches Bildmerkmal. Die Thematisierung der bildenden Kunst als Objekt der Fotografie findet sich bereits in der Arbeit ‚Turner Collection‘ (176 x 236 cm) von 1995. Drei Ölgemälde von William Turner stehen wie bei ‚Ohne Titel VI‘ fast unter denselben fotografischen Bedingungen im Mittelpunkt der Aufnahme. Wand und Boden bilden die strenge horizontale Fassung der Bilder, die neblig aufgelöste Landschaften zeigen.60 Doch

57 Zaunschirm, Thomas: Der Himmel über der Halde. Ohne Titel XIII (Mexiko), 2002. In: Beil, Feßel 2008, S. 76-79, hier S. 79. 58 Vgl. Lütgens 1998, S. 14. 59 Putz 1975, S. 227. 60 Vgl. Lütgens 1998, S. 14.

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unterscheidet sich – wie es Barbara Hess61 formuliert – die Arbeit zu ‚Ohne Titel VI‘ dadurch, dass die einzelnen Bildelemente wie Bildrahmen, Wand, Beschilderung und Parkett optisch deutlich voneinander zu trennen sind. In der Pollock-Aufnahme hingegen scheinen sich die Materien als abstrakte Flächen miteinander zu verbinden: Der Akzent verschiebt sich von der Räumlichkeit zur Oberfläche. Gursky führt damit „nicht nur den selbstreflexiven Diskurs der modernistischen Malerei fort, der in der fortschreitenden Analyse ihrer eigenen Bedingungen bestand; er führt gewissermaßen die modernistische Malerei selbst fort“62, allerdings „geht es in Gurskys Grenzgängen zwischen Malerei und Photographie nicht nur um formalistische Selbstreferentialität, sondern auch um den Versuch, auf Umwegen Aufschlüsse über die photographierte Wirklichkeit zu erhalten.“63

Die Inszenierung von Meisterwerken der Malerei findet sich ebenfalls in den großformatigen ‚Museumsbildern‘ von Thomas Struth. Auch er verwertet ‚One: Number 31‘ in seiner Arbeit ‚Museum of Modern Art I, New York‘ (1994; 181,5 x 240,5 cm) als fotografisches Motiv. Pollocks Malerei nimmt hier den Hintergrund ein, während im Vordergrund die Museumsbesucher agieren. Damit macht Struth ‚One: Number 31‘ zu einem „,betrachteten Bild‘“64 – das vom Betrachter vor der Fotografie abermals betrachtet wird. Die Besucher, teilweise farbig verschwommen oder nur als dunkle Umrisse wahrnehmbar, bilden vor Pollocks Gemälde ebenfalls eine scheinbar willkürliche Struktur. Das gemalte Sujet und die fotografierten Besucher werden bei Struth zu ei-

61 Vgl. Hess, Barbara: Photographen des modernen Lebens. Anmerkungen zu den Bildern von Lucinda Devlin, Andreas Gursky und Candida Höfer. In: Räume: Lucinda Devlin, Andreas Gursky, Candida Höfer. Hrsg. v. Kunsthaus Bregenz. Ausst.-Kat. Kunsthaus Bregenz. Köln 1999, S. 13-24, hier S. 21f. 62 Ebd., S. 22. 63 Ebd., S. 23. 64 Belting, Hans: Photographie und Malerei. Museums Photographs. Der photographische Zyklus der „Museumsbilder“ von Thomas Struth. In: ders.: Thomas Struth. Museum Photographs. Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle. München 1993, S. 5-28, hier S. 7.

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ner Einheit; der geschärfte Blick für Farben und Strukturen überträgt sich von der Malerei auf das fotografische Medium.65 Während die Amerikanerin Lynne Cooke die Auseinandersetzung Gurskys mit Pollock und Turner als signifikant für die fotografische Entwicklung des Künstlers betrachtet66, gibt Gursky selbst an, dass er die Auswahl der beiden Maler nicht bewusst getroffen habe. Beide Aufnahmen seien spontan entstanden, als er die Bildwirksamkeit der Gemälde in ihrem musealen Umfeld für die fotografische Umsetzung erkannt habe. Zugleich habe er sich die Frage gestellt, ob sich die Zitate der Malerei in sein fotografisches Werk einfügen oder ob die Malerei dominiere und die fotografisch-künstlerischen Qualitäten verdränge, so dass ausschließlich die Reproduktion in Erscheinung trete. Die Arbeit zu Turner habe wohl deswegen funktioniert, da die Landschaft bereits abstrahiert vorlag und somit keine sich in den Vordergrund schiebenden Kompositionsmerkmale besaß.67 „Die zitierten Meisterwerke verlieren so an Präsenz, daß die banale Wand, der Holzfußboden und die Rahmung zu gleichwichtigen Bildelementen werden.“68 Gursky erklärt dazu weiter: „Ich erforsche den Prozeß des Bildermachens und die Art, wie Bilder funktionieren, und frage, ob es möglich sei, von konkreten Bildinhalten wegzuführen.“69 Gursky spitzt die Funktionalisierung der Malerei in der Arbeit ‚Ohne Titel X‘ von 1999 (284 x 207 cm) zu, indem er einen kleinen Ausschnitt aus einem Gemälde von John Constable wählt und ihn stark vergrößert. Die detaillierte Landschaftsdarstellung Constables wird in Gurskys Fotografie zu abstrakten Farbspuren transformiert. In ‚Ohne Titel X‘ findet also keine formal konstruierte Positionierung des gesamten Bildes innerhalb seines musealen Umfeldes statt. Vielmehr handelt es sich um eine Fragmentierung der Malerei, um den Entzug des „Kontextes“ und eine „Verfremdung“ der ursprünglichen bildlichen Situation.70 Auf diese Weise wird dem Betrachter vor Augen geführt, dass aller gegenständlichen Malerei auch eine ungegenständliche Binnenstruktur

65 Vgl. ebd., S. 12. 66 Cooke 1998, S. 13. 67 Vgl. Gursky, Andreas in: Jocks 1999, S. 259. 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Gronert 1999, S. 21.

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inhärent ist. Paradoxerweise führt nach dieser Erkenntnis die Wahrnehmung von ‚Ohne Titel X‘ wiederum zur Gegenständlichkeit, denn der Betrachter könnte versucht sein, in den Strukturen einen schräg stehenden Baum zu sehen.71 Gursky hingegen äußert sich zu diesem Bild wie folgt: „Mir geht es nur um die Materie. Ich nähere mich dem Stoff Kunst in dem Falle auf rein haptischer Ebene an. In dem Bild vom Ausschnitt eines Kunstwerks geht es nur noch darum, was Öl auf Leinwand ist.“72 Die Ölmalerei wird demnach Thema des fotografischen Aktes. „Wenn man in bezug auf einen bestimmten Darstellungsmodus der Malerei von einer ‚fotorealistischen Malweise‘ (z.B. bei Gerhard Richter, Ed Ruscha) spricht, so wäre hier entsprechend von einer ‚malerei-realistischen Fotografie‘ zu sprechen.“73

Ähnlich verhält es sich ein Jahr später mit der Aufnahme ‚Ohne Titel XI‘ (275 x 200 cm), für die Gursky einen Ausschnitt aus einem Gemälde von van Gogh gewählt hat. Das Thema der Materie wird hier jedoch – offensichtlicher als in ‚Ohne Titel X‘ – um den malerischen Akt bzw. um die künstlerische Handschrift erweitert. So kann der Ausschnitt eindeutig van Gogh zugeordnet werden, wodurch die Aufnahme auch ohne Titel näher zu bestimmen ist. Bei den Arbeiten Gurskys, welche die Malerei thematisieren, stellt sich die Frage nach der künstlerischen Position und Wertigkeit innerhalb seines Gesamtwerks. Die Werke ‚Ohne Titel I‘ (Teppich), ‚Ohne Titel II‘ (Licht) und ‚Ohne Titel VII‘ (Wolken) fügen sich insofern in Gurskys Gesamtwerk ein, als in ihnen die fotografische Abstrahierung bis hin zur Abstraktion gesteigert wird. Dabei wird die Malerei zwar zitiert (u.a. Richter), jedoch indirekt und stets mit den Mitteln der Fotografie: Während Richters Gemälde fotografisch anmuten, vermitteln Gurskys Fotografien einen malerischen Eindruck. Es könnte somit – besonders im Hinblick auf ‚Ohne Titel VII‘ (Wolken) – von einer ‚malerei-realistischen‘ Fotografie gesprochen werden. Die Malerei existiert nur in der Vorstellung, während bei ‚Ohne Titel X‘ die Malerei

71 Vgl. ebd. 72 Gursky, Andreas in: Jocks 1999, S. 260. 73 Gronert 1999, S. 21.

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zum Zeitpunkt der Aufnahme vorhanden war. Im ersten Fall bewahren beide Gattungen ihre Autonomie. Ihre Eigenständigkeit ist dadurch gegeben, dass sie je individuelle Lösungen für realistische oder abstrakte Gestaltungsweisen gefunden haben, ohne dem Plagiat anheimzufallen. Wird die Malerei jedoch als direktes Abbild gewählt, so ist das fotografische Bild nur das Bild des gemalten Bildes. Das andere Medium wird auf diese Weise unmittelbar zitiert und vom Betrachter auch entsprechend erkannt. Der assoziative Faden ist damit durchtrennt. Die Arbeiten ‚Ohne Titel X‘ und ‚Ohne Titel XI‘ sind als singuläre Arbeiten im Verhältnis zum Gesamtwerk m.E. konzeptionell nicht überzeugend, da es Gursky, wie dargelegt, nicht vorrangig um die Analyse der Gattung Malerei im Allgemeinen oder um Öl, Pinselstruktur und Leinwand im Speziellen ging, sondern um die Frage, ob Strategien der Malerei für die Fotografie nutzbar gemacht und weiterentwickelt werden können. Es lässt sich feststellen, dass Gursky mit den Fotografien ‚Ohne Titel X‘ und ‚Ohne Titel XI‘ seine fotografische Sprache formal und inhaltlich verlassen hat. In ‚Ohne Titel VI‘ (Pollock) und ‚Turner Collection‘ integriert Gursky noch die Malerei in seine kompositorischen Strategien und verweist auf übernommene bildnerische Mittel. Die fotografische Vergrößerung eines Gemäldeausschnittes kann jedoch nicht als relevantes Substrat seiner fotografischen Entwicklung angesehen werden.

3.1.4 Resümee In der dritten Strukturkategorie konnte eine Bildgruppe definiert werden, die sich in den bisherigen Werkprozess Gurskys nachvollziehbar eingliedert: Sie besteht aus Arbeiten, deren Makro-Texturen sich über das gesamte Bildfeld rasterförmig, feinmaschig oder als reine Farbmodulationen ausbreiten. Durch den Bildausschnitt, den fotografischen Standpunkt in steiler Aufsicht bzw. Untersicht und durch die Ausbreitung der gleichmäßigen Struktur findet einerseits ein Flachwerden der Motivebene statt; andererseits bewirken die Lichtmodulationen und die Ansätze der Perspektivflucht eine Entflächung und somit eine räumliche Ausdehnung des Motivs. Die gewohnte Haltung des Betrachters in der Rezeption von Fotografien und seine Erfahrung von Räumen werden auf diese Weise irritiert und in Frage gestellt. Der

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Blick wird von der Farbe und der Bildstruktur aufgesogen und vom eigentlichen Bildgegenstand gelöst. Im Vergleich zu den Werken der zweiten Strukturkategorie erscheint die Anwendung des Begriffs der Ornamentik an dieser Stelle zunächst problematisch. Weder ist die Wiederholung eines ästhetisierenden Musters gegeben, z.B. in der Anordnung von Personen, Fenstern oder Konsumgütern, noch wirkt das Vermittlungsprinzip zwischen Gegenständlichem und Ungegenständlichem. Die Motive fungieren vielmehr als Projektionsflächen, durch die der Betrachter einen imaginären Gesamtzusammenhang herstellt. Führt man jedoch die Definition Hoffmanns an, so ist zumindest eine Assoziation hin zum Ornament denkbar: „Dieser Bildraum [...] ist ein fluktuierendes, elastisches Raum-Zeit-Kontinuum, ein Raum-Feld das sich aus ornamentaler Struktur, ornamentalen Zeichen oder ornamentaler Figuration bildet und die Phänomene zwischen der Verflächigung und der Entflächung behandelt“74.

Die Struktur des Teppichs, das geometrisch-lineare der Lichtdeckenkonstruktion oder die punktuelle Erscheinung des Kiesbodens bilden ein in sich gegliedertes Farbformgerüst, in dem Figur und Grund einander angenähert sind. Die geringe Anzahl der Werke in dieser Kategorie zeigt, dass Gursky keine konsequente Motiverprobung und -entwicklung verfolgte. Dennoch kann vor dem Hintergrund der bisher entstandenen Arbeiten der höchste Grad von Gegenstandsreduktion, Formalisierung und Abstrahierung konstatiert werden. „Was die ohne Titel-Serie von den anderen Serien Gurskys aber hauptsächlich unterscheidet, ist ihr demonstrativer Charakter. Er hebt sich deutlich ab von dem erzählerischen und beschreibenden Stil der sonstigen Arbeiten.“75

Es zeigt sich, dass innerhalb der ‚monochromen‘ Bilder und der ‚Strukturfelder‘ der Standpunkt der Erzählung wechselt: Das Motiv selbst bietet keine narrative Komponente mehr, sondern initiiert den narrativen Prozess im Betrachter. Der konkrete Gegenstand ist von untergeordneter Bedeutung oder wird gar nicht mehr wahrgenommen, so

74 Hoffmann 1970, S. 159. 75 Syring 1998a, S. 6.

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dass der Betrachter sich vom Motiv lösen muss, um zu assoziativen oder intuitiven Deutungen zu gelangen. Sowohl das Abbild als auch die Titulierung verlassen die Ebene der konkretisierenden Betrachterlenkung. Fotografisches Objekt ist allein die durch Distanz, Anschauung oder durch die Irritation der konventionellen Bilderfahrung hervorgerufene Abstraktion, die das Verhältnis des Betrachters zum Abgebildeten neu konstituiert.

Vergleichendes Intermezzo C 3.2 Abstrakte Malerei im Vergleich Das folgende Vergleichskapitel nimmt erneut Künstler der ungegenständlichen Malerei in den Blick, zu denen Gurskys Werke eine bildliche und/oder motivliche Beziehung aufnehmen. Das Zitieren von Malereien in den Werken ‚Ohne Titel VI‘ oder ‚Turner Collection‘ wurde bereits erläutert, so dass an dieser Stelle nur die Bilder der Kategorien ‚Monochrome Anschauungen‘ und ‚Strukturbilder‘ zur Debatte stehen. Die Auswahl der Maler ist einerseits formalanalytisch, andererseits inhaltlich durch ihre Auseinandersetzung mit den Raum-Zeit-Phänomenen begründet. Zu Beginn wird der in Kapitel 3.1.1. bereits begonnene Vergleich mit Gerhard Richters Graubildern fortgesetzt. Es folgt eine Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Mark Rothko, da diese den Dualismus von Farbraum und Farbfläche thematisieren.

3.2.1 Gerhard Richter Die grauen Fotografien Gurskys ‚Ohne Titel I‘ und ‚Ohne Titel VII‘ werden in der Literatur oftmals mit den Graubildern von Gerhard Richter verglichen. Eine formale Korrespondenz wurde in Kapitel 3.1.1. bereits nachgewiesen. Wie Rudolf Schmitz aber für ‚Ohne Titel I‘ andeutet, befand sich Richter in seinem Schaffensprozess an einem kreativen Nullpunkt, den er in der Erkenntnis und Thematisierung von Individualität in den Grauen Arbeiten überwand. Gurskys monochromen Arbeiten lag zwar keine Schaffenskrise zugrunde, allerdings ging es – ähnlich wie bei Richter – um ein initiatorisches Erkennen bildnerischer Qualitäten, die neue Ausdrucksmöglichkeiten im Werk bedin-

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gen.76 Die Erarbeitung künstlerischer Erkenntnis verläuft bei Gursky und Richter jedoch unterschiedlich. Richters Bewusstwerdungsprozess zog sich letztlich über eine ganze Werkgruppe hin. Der Maler selbst erklärte 1975: „Als ich anfangs (vor ungefähr acht Jahren) einige Leinwände grau zustrich, tat ich das, weil ich nicht wusste, was ich malen sollte oder, was zu malen wäre, und es war mir dabei klar, dass so ein erbärmlicher Anlass auch nur unsinnige Resultate zur Folge haben konnte. Mit der Zeit jedoch bemerkte ich Qualitätsunterschiede zwischen den Grauflächen und auch, dass diese nichts von der destruktiven Motivation zeigten. Die Bilder fingen an, mich zu belehren. Indem sie das persönliche Dilemma verallgemeinerten, hoben sie es auf; das Elend geriet zu konstruktiver Aussage, relativer Vollkommenheit und Schönheit, also zu Malerei.“77

Die Unterschiede der grauen Flächen vermitteln den Eindruck, als liege damit ein Exempel für die Analyse monochromer Malerei vor. Richter selbst charakterisiert – ebenfalls im Jahr 1975 – das Grau als eine Farbe, die weder auf der emotionalen noch auf der assoziativen Ebene eine Aussage transportiere und schließlich dazu verwendbar sei, „‚nichts‘“ darzustellen, um sich so gegen jegliche Meinung oder Gestalt zu verwahren.78 Um die Differenz zwischen Richters Graubildern und Werken der traditionellen monochromen bzw. abstrakten Malerei aufzuzeigen, führt Butin79 die Werke der Maler Yves Klein und Robert Ryman an. Yves Kleins Werke wie ‚Monochrome bleu‘80, 1957 (194 x 140,5 cm) sind von fast spiritueller Wirkung: Die Strahlkraft des zu-

76 Vgl. Schmitz 1994, S. 14. 77 Richter, Gerhard: Aus einem Brief an Edy de Wilde 23.2.1975. Abgedruckt in: Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe. Hrsg. v. Dietmar Elger und Hans-Ulrich Obrist. Köln 2008, S. 9192, hier S. 91f. 78 Vgl. ebd., S. 92. 79 Butin, Hubertus: Gerhard Richter und die Reflexion der Bilder. In: Butin, Hubertus; Gronert, Stefan (Hrsg.): Gerhard Richter. Editionen 1965-2004. Catalogue Raisonné. Ostfildern-Ruit 2004, S. 9-83, hier S. 24ff. 80 Yves Klein, Monochrome bleu, 1957. Pigment in Kunstharz auf Leinwand auf Holz, 194 x 140,5 cm. Museum Ludwig, Köln, Stiftung Ludwig. Abb. in Butin 2004, S. 24.

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sammen mit einem Chemiker 1956/57 entwickelten Ultramarinblau zieht den Betrachter einerseits in eine scheinbar unendliche Bildtiefe, andererseits strahlt es aus sich heraus und füllt gleichsam den realen Raum. Wie schon für Wassily Kandinsky81 und Johannes Itten82 zeigt sich auch für Klein „das Blau in einer kontemplativ erlebten Sinnlichkeit, die zu einer mystischen Erfahrung kosmischer Transzendenz führen soll“83. Richter hingegen verneint in seinem neutralen und indifferenten monochromen Grau jede transzendente Referenz. Die fehlende psychologische oder symbolische Farbbedeutung wirft die Frage auf, ob der Bedeutungsgehalt im Bereich der Materialeigenschaften zu finden ist. So liegt bei Richter durch die malerische Vielfalt eine haptische, sinnlich erfahrbare Materialität vor, doch lassen sich diese Unterschiede – vor allem in der Verwendung der ausdruckslosen Nichtfarbe Grau – in der Rezeption nicht tiefergehend deuten, so dass lediglich eine variable Verwendung des Materials für den Künstler im produktiven Prozess festzustellen ist. Die Werke von Robert Ryman84 sprechen trotz ähnlichen Ansatzes eine konträre Bildsprache. Er wählte seit den 50er-Jahren das quadratische Bildformat und die Nichtfarbe Weiß, um die Materialität der monochromen Malerei und Druckgrafik zu untersuchen. Bildträger, Grundierung, Malwerkzeug und Farbe wurden in vielfachen Variationen zueinander in Beziehung gebracht und in unterschiedliche Bildlichkeiten überführt. Bei Ryman ist es das Weiß der Bilder, das eine Reflexion des Lichts ermöglicht und den Charakter des Umgebungsraums mitbestimmt. Die Verbindung mit dem gleichmäßigen quadratischen Format ermöglicht es dem Betrachter, die subtilen Eigenschaften der Materialität und die der Farbe sowohl aus der Nähe als auch aus der Distanz differenziert wahrzunehmen.85 Für Richter sind dagegen weder die Spiritualität eines Yves

81 Vgl. Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst (1912). 10. Aufl., mit einer Einf. von Max Bill. Bern, o.J., S. 92. 82 Vgl. Itten, Johannes: Kunst der Farbe. Subjektives Erleben und objektives Erkennen als Wege zur Kunst (1961). Studienausgabe, Ravensburg 1987, S. 88. 83 Butin 2004, S. 25. 84 Bildbeispiel: Robert Ryman, Anchor, 1980. Öl auf Leinwand mit Stahl, 223,7 x 213,5 cm. Hallen für neue Kunst, Schaffhausen. Abb. in: Butin 2004, S. 25. 85 Vgl. Butin 2004, S. 24ff.

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Klein noch die Vielfalt der Materialqualitäten von Robert Ryman von Bedeutung, er „setzt diese beiden Kategorien programmatisch außer Kraft und konstituiert eine Ästhetik der Absenz, der Abwesenheit“86. Zudem sind die Malspuren aus der Ferne nicht mehr wahrnehmbar, und die Werke zeigen – wie es der Titel auch ankündigt – die Fläche eines nicht über sich hinausweisenden reinen Graus. Richters Grau-Bilder entstanden, wie erwähnt, aus einer Phase schöpferischer Hemmung heraus und nicht aus der gedanklichen Prämisse, das ‚Ende der Malerei‘87 zu beschwören. Mit dem Rückgriff auf die monochrome Malerei gelingt es Richter vielmehr, diese zu reflektieren und eine eigene Bedeutung von Monochromie zu erzeugen. Die in den grauen Werken transportierte „Aussageverweigerung“88 wird schließlich zu einem weiterführenden Inbegriff und damit zu einem neuen Teilbereich der traditionellen monochromen Malerei. Richter selbst erlebt diese Situation als einen Umbruch und Neubeginn innerhalb seines persönlichen Schaffensprozesses.89 Was Klaus Honnef für Richters Werke der 60er-Jahre – Farbtafeln, Streifenbilder, Städte- und Gebirgslandschaften sowie Fensterbilder – festhält, kann auch auf die Graubilder angewendet werden: „Er hat sie bewusst so gemalt, wie sie sind, damit sich der Betrachter vor ihnen nicht häuslich einzurichten vermag, damit er aus seiner passiven, rein voyeuristischen Rolle heraustritt und zur Reaktion gezwungen wird.“

Und schließlich: „Was Wunder, daß Richters Malerei nicht ins Image von Kunst als rasch konsumierbarer Ware einzugliedern ist, vielmehr sich eilfertigem Konsum strikt

86 Ebd., S. 26f. 87 Gerhard Richters Arbeiten wurden dahingehend vielfach untersucht. Vgl. Meinhardt, Johannes: Gerhard Richter: Unmögliche Malerei. In: ders.: Ende der Malerei und Malerei nach dem Ende der Malerei. Ostfildern-Ruit 1997, S. 177-198. 88 Richter 2008 (1975), S. 92. 89 Vgl. Butin 2004, S. 26f.

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entzieht. Denn in seinen Bildern schlägt sich die dauernde Gefährdung künstlerischer Existenz präzis und beunruhigend nieder.“90

Die Betrachtung der Arbeiten Gurskys im Sinne einer „radikalen Leere“ (Galassi) lässt den Vergleich mit Richter auf inhaltlicher Ebene zu. Im Gegensatz zur zweiten Strukturkategorie besitzen die Werke der dritten Kategorie keine verführerische Fülle, die leicht zu konsumieren wäre. Der voyeuristische Blick des Betrachters erkennt aus der Nähe nicht mehr, wird nicht in eine erzählerische Tiefe des Bildes hineingezogen. Gleichwohl verweigern Gurskys Aufnahmen − anders als Richters Graubilder − nicht die Aussage: Die Bildwirksamkeit der Motivstrukturen wird durch die Entflächung erhöht und im Kontext des Gesamtwerkes auf der Metaebene erfassbar und deutbar. In dieser Hinsicht steht Gursky den Werken Mark Rothkos näher, wie im Folgenden zu zeigen ist.

3.2.2 Mark Rothko Mark Rothko wurde 1903 als Marcus Rothkowitz in Dwinsk, Russland, geboren. 1913 wanderte die Familie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft nach Portland, Oregon (USA), aus. Bis Rothko sich in den 20er-Jahren der Malerei zuwendet, kämpft er aus ethischer und religiöser Überzeugung für unterdrückte Minderheiten. Nach einigen Studienjahren an der Yale University, New Haven, Oregon, nimmt er 1925 das Studium an der Art Student’s League, New York, bei Max Weber auf. Rothko erprobt und entwickelt in den 20er- und 30er-Jahren in den Gattungen der Figuren-, Genre- und Landschaftsmalerei seine künstlerischen Stilmittel, die zu Beginn noch unter dem Einfluss von John Marin, Henri Matisse und Milton Avery stehen bzw. später auch von italienischen Malern wie Giorgio de Chirico und Masaccio beeinflusst sind. Schließlich gelangt er zu einem eigenen Form- und Farbvokabular, aus dem in den 40er-Jahren die ersten abstrakten Gemälde entstehen. 1929 beginnt Rothko in New York zeitweilig an der Aka90 Honnef, Klaus: Schwierigkeiten beim Beschreiben der Realität. Richters Malerei zwischen Kunst und Wirklichkeit. In: ders.: „Nichts als Kunst…“. Schriften zu Kunst und Fotografie. Hrsg. v. Gabriele Honnef-Harling und Karin Thomas. Köln 1997, S. 12-17, hier S. 16f.

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demie des ‚Brooklyn Jewish Center‘ Kunst zu unterrichten. Von einem dortigen Vortrag – Ende der 30er-Jahre – sind Notizen und Listen erhalten, aus denen sein Formenverständnis und sein Umgang mit Farben hervorgehen. Seine Grundlage war die „These des Wiener Kunstpädagogen Cizek [...], derzufolge Kinder ebenso wie primitive Künstler ein angeborenes Formgefühl haben, das sich frei und ohne Eingriffe durch den Intellekt entfalten sollte“91. Obwohl Rothkos Anmerkungen in seine gegenständliche Schaffensphase fallen, lassen sich Begriffe wie ‚Zwischenraum‘, ‚Flächigkeit und Dreidimensionalität‘, ‚Absorbierende Oberfläche‘ und ‚Ummalen des Gegenstands‘ auch auf seine späteren abstrakten Arbeiten übertragen.92 Für den Vergleich mit Gursky werden nun zwei Werke aus den 50er-Jahren herangezogen, die keinerlei figurative und narrative Anleihen aufweisen. Zur Beschreibung der Bilder Rothkos sind die Begriffe Form, Farbe, Komposition und Licht von elementarer Bedeutung. Rothko sprach selber im Zusammenhang seiner Werke nicht von Farbfeldern oder Abstraktionen, sondern von „Gegenständen“, denen „Ideen“ inhärent sind und die „ethische“ sowie „prophetische Botschaften“ transportieren.93 Bevor Rothko mit dem Malen der ‚Gegenstände‘ begann, wurde nach der Festlegung des Formats die Leinwand zunächst mit einer Farbe und dem Zusatz von Kleister oder Leim dünn grundiert.94 Die Arbeit ‚Ohne Titel‘95 von 1955 zeigt im Hochformat eine dreiteilige Komposition in Weißgelb, Gelb und Orange, die von einer dunkel-gelben Randzone umgeben wird. Das weiß-gelbe, annähernd quadratische Farbfeld nimmt zwei Drittel des Bildraumes ein. Nach oben

91 Compton, Michael: Mark Rothko, die Themen des Künstlers. Übers. v. Barbara Honrath und Kirsten Kramer. In: Mark Rothko 1903-1970. Retrospektive der Gemälde. Ausst.-Kat. Museum Ludwig, Köln. Köln 1988, S. 9-46, hier S. 12. 92 Vgl. Compton 1988, S. 9-14. Bezüglich der biographischen Daten stützt sich Compton auf Waldman, Diane: Mark Rothko. 1903-1970. A Retrospective. Salomon Guggenheim Museum, New York 1978 und Ashton, Dore: About Rothko. New York 1983. 93 Zitiert nach Compton 1988, S. 23. 94 Vgl. Ebd., S. 28. 95 Mark Rothko, Ohne Titel, 1955. Öl auf Leinwand, 233 x 175,3 cm. Mr. and Mrs. Graham Gund, Cambridge, USA. Abb. In: Rothko 1988, S. 151.

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hin schließt mit schmaler Naht ein Objekt-Streifen in Orange an, der jedoch nicht die Breite der weiß-gelben Form aufweist. Darüber liegt wiederum in minimalem Abstand ein breiteres rechteckiges Feld in Gelb. Die Ecken der drei ‚Gegenstände‘ sind abgerundet, ihre Ränder diffus aufgelöst. Letzteres bewirkt eine Verzahnung der farblich getrennten Objekte, so dass diese auch als Objekteinheit betrachtet werden können, die im roten Streifenbereich eine Art Einschnürung erfährt. Die drei Farbfelder und die Randzone oszillieren zwischen Figur und Grund. So kann die Randzone einerseits als nicht bedeckter Untergrund verstanden werden, andererseits wäre auch eine von den Rändern ausgehende Übermalung der Farbfelder lesbar. Besonders deutlich wird dies im oberen Bildbereich, da das gelbe Objekt nur schemenhaft von der etwas dunkleren Randzone zu unterscheiden ist. Es scheint in dieser zu versinken, zugleich wirkt es aufgelegt. Das opaker wirkende und stärker strukturierte Weißgelb hebt sich dagegen deutlicher von der Randzone ab, obwohl am unteren Bildrand orange Farbstrukturen den Rand der weißen Form stellenweise zu überlagern scheinen. Die wolkige Modulation der Farbe bzw. die Abstimmung von Farbe, Textur und Bildränder sowie das leuchtende und Licht verströmende Gelb bewirken eine intensive atmosphärische Schichtung im Bildraum. Das Eintauchen in den Farbraum bzw. die irritierend sogartige räumliche Situation und die fixierende Wirkung der Oberfläche werden bei Rothko durch das große Bildformat verstärkt: „Ich male sehr große Bilder. Historisch gesehen lag ihre Funktion darin, etwas Grandioses und Pompöses darzustellen. Der Grund jedoch, warum ich sie male – und das trifft auch auf die anderen Künstler zu, die ich kenne –, liegt darin, daß ich sehr persönlich und menschlich sein möchte. Ein kleines Bild zu malen bedeutet, dich außerhalb deiner Erfahrung zu stellen, auf deine Erfahrung wie mit einem Verkleinerungsglas oder Stereoskop zu blicken. Malst du hingegen ein größeres Bild, dann bist Du in ihm. Und das ist nichts, was du ohne weiteres beherrschst.“96

96 Rothko, Mark: A Symposium on How to Combine Architecture, Painting and Sculpture. In: Interiors, Vol. 90, Nr. 10, Mai 1951, S. 104. Zitat abgedruckt in Waldman, Diane: Mark Rothko. New York 1978, S. 62. Hier nach Zweite, Armin: Über Newmans Bilder und das Unwirkliche ihrer eigenen Wirklichkeit. In: ders.: Barnett Newman. Bilder, Skulpturen, Gra-

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Das Werk ‚Erdbraun und Grün‘97, ebenfalls von 1955, stellt eine in dunklen Farbtönen gehaltene zweiteilige Komposition im Hochformat dar. Ein grünes Rechteckfeld nimmt im unteren Bildbereich etwas mehr als die Hälfte des gesamten Bildes ein. Im oberen Bildbereich ist – mit deutlichem Abstand zum grünen Objekt – ein braunes Rechteck in gleicher Breite zu erkennen. Beide Farbzonen sind in ein tiefes Blau eingebettet. Im Gegensatz zum Braun besitzt der grüne Farb‚Gegenstand‘ eine opake Wirkung. Die Ränder und Ecken sind klarer und schärfer umschrieben, so dass das Grün dem Blau aufgesetzt scheint. Das Braun hingegen ruft eine Tiefenwirkung hervor, als wäre das Blau aufgebrochen, um den Blick in eine dahinter liegende Sphäre freizugeben. Diese für das abstrakte Werk Rothkos beispielhaften Arbeiten veranschaulichen in Form ästhetischer Erfahrung die Möglichkeit des Betrachters, „Wirklichkeit zu erfassen und abzulösen von Überformungen und Interpretationen“98. Es geht nicht darum, einen Gegenstand im Bild zu erkennen, sondern um die „Vergegenständlichung von ‚Ideen‘“ durch das „Konkrete“ der Farbe.99 In den Bilder Rothkos scheinen sich Farbe und Fläche durch das oszillierende Figur-GrundVerhältnis zu bewegen. Die Bildelemente besitzen dadurch keinen eindeutigen Bezugspunkt in der Bildfläche, sondern changieren in ihrer diffusen Anlage in einem nicht klar zu definierenden Bildraum.

phik. Ausst.-Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. Ostfildern-Ruit 1999, S. 63-106, hier S. 94. 1. Aufl. 1997. 97 Mark Rothko, (Earth and Green) Erdbraun und Grün, 1955. Öl auf Leinwand, 231,5 x 187 cm. Museum Ludwig, Köln. Abb. in: Rothko 1988, S. 145. 98 Lehmann, Dorothee: Das Sichtbare der Wirklichkeiten. Die Realisierung der Kunst aus ästhetischer Erfahrung. John Dewey – Paul Cézanne – Mark Rothko. Essen 1991, S. 120. Reihe: Kunst – Geschichte und Theorie. Hrsg. v. Kunibert Bering. Bd. 18. Zugl.: Bochum, Univ., Diss., 1991. Lehmann unternimmt den Versuch, die ästhetische Theorie John Deweys, in der er das Phänomen der Erfahrung analysiert, auf die Kunstgeschichte zu übertragen. Sie bespricht unter diesen Prämissen die Werke Cézannes und Rothkos. Vgl. Dewey, John: Kunst als Erfahrung. Übers. v. Christa Velten, Gerhard vom Hofe und Dieter Sulzer. Frankfurt am Main 1988. Originaltitel: Art as Experience, 1934. 99 Lehmann 1991, S. 121.

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Der Betrachter wird in seiner gewohnten Vorstellung und Erfahrung von Raum irritiert. Die Farbe übernimmt auf diese Weise mehrere Funktionen: Sie ist sowohl Malmedium als auch formbestimmender Gegenstand und zudem Überträger von Erfahrungswerten.100 Sie erzeugt jene „Totalität, in der alle Wirkungen dieses Bildes letztlich aufgehen“101. In diesem Zusammenhang ist der Vergleich mit den ‚Monochromen Anschauungen‘ Gurskys sinnvoll. Bei Gursky findet sich nämlich eine Reduzierung des Motivs auf Farbfelder mit kontinuierlichem Farbverlauf, Farbmodulationen, changierenden Lichtwerten oder verhaltenen Strukturwerten. Der Gegenstand tritt in den Hintergrund, um – wie bei Rothko – unmittelbaren Erfahrungswerten Raum zu geben, die sich in Bereichen des Transzendenten und auf Metaebenen bewegen. Bedeutsam sind der Prozess des Sehens selbst, das Erkennen des nicht unmittelbar Benennbaren oder des nicht konkret Fixierbaren. Farben, Formen oder auch Strukturen sind weder formal noch inhaltlich fassbar, ziehen den Betrachter zugleich aber in ihren Bann.102 Der Sammler Duncan Phillips äußerte sich zu den von ihm erworbenen Rothko-Bildern: „[...] Was uns seine Werke ins Gedächtnis zurückrufen, sind keine Erinnerungen, sondern alte, wieder aufgeführte oder vergessene Emotionen – ein Gefühl des Wohlseins, auf das plötzlich der Schatten einer Wolke fällt –, Ockergelb, das in seltsamer Weise ein Schuss Grau durchzieht, das sich gegen eine Stimmung von Rosa durchsetzt, Feuer, das zu Asche verglimmt, Licht der Abenddämmerung.“103

100 Vgl. ebd., S. 125ff. 101 Bockemühl, Michael: Die Wirklichkeit des Bildes. Bildrezeption als Bildproduktion. Rothko, Newman, Rembrandt, Raffael. Stuttgart 1985, S. 41. Hier zitiert nach Lehmann 1991, S. 127. Zur Materialität und Suggestion der Farbflächen vgl. auch Boehm, Gottfried: Das Lebendige. Rothkos Zugänge zum Bild. In: Gaßner, Hubertus; Lange, Christiane; Wick, Oliver (Hrsg.): Mark Rothko. Retrospektive. Ausst.-Kat. Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München; Hamburger Kunsthalle. München 2008, S. 180-184. 102 Vgl. zu Rothko: Lehmann 1991, S. 128f. 103 Phillips, Duncan: Manuskript, Phillips Collection Archives. Hier zitiert nach: Rathbone, Eliza E.: Der Rothko Room in der Phillips Collection.

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Auch Gurskys ‚Brasília, Plenarsaal I‘ und ‚Ohne Titel II‘ (Sonnenuntergang) erzeugen zunächst die Stimmung des Wohligen – und danach eine unbestimmbare Irritation. In diesem Fall ist es jedoch nicht die Farbe, die den ‚Schatten wirft‘, sondern das Wissen um die Gegenständlichkeit, die in Fotografien stets erwartet und gesucht wird, in den Arbeiten Gurskys aber nicht zu identifizieren ist. Die Gesetzmäßigkeiten der Malerei Rothkos gelten vor diesem Hintergrund also auch für Gurskys Bilder und führen in ihrer Übertragung auf das Medium Fotografie zu einer originären Bildqualität.

3.3 Bildliche Raum-Zeit-Phänomene Die Wahrnehmung und Gestaltung von Raum-Zeit-Phänomenen durchzieht das gesamte Werk von Andreas Gursky und wird in der dritten Kategorie exemplarisch verdichtet. Das Kapitel ‚Wahrnehmung von Weltgegenden‘ beleuchtete den durch das Panorama erweiterten Blick auf die Natur sowie ihre kartographische und technische Durchdringung. Indirekt wurde damit die Erweiterung des „Zeithorizonte[s]“ und des „Raumhorizonte[s]“ angesprochen.104 Schon immer waren Hügel landschaftliche Grenzmarkierungen im menschlichen Blickfeld, welche die Ausdehnung von Haus, Hof oder Siedlung einfassten und der Gemeinschaft Schutz boten. Dem Bestreben, hinter den Hügel zu blicken, „ist der Wachturm geschuldet. Er geht der Erfindung des Fernrohrs voraus und sollte im Laufe der Zeit abgelöst werden vom Fernsehen und der ‚transhorizontalen‘ Fernüberwachung, mit der man die Rundheit des Globus selbst – die letzte Hürde, wie man sagt –, in den Griff zu bekommen suchte.“105

In: Mark Rothko, „A consummated experience between picture and onlooker“. Ausst.-Kat. Hrsg. v. Fondation Beyeler, Riehen/Basel. Ostfildern-Ruit 2001, S. 47-53, hier S. 52. 104 Großklaus, Götz: Medien-Zeit. In: Sandbothe, Mike; Zimmerli, Walther Ch. (Hrsg.): Zeit – Medien – Wahrnehmung. Darmstadt 1994, S. 36-59, hier S. 36. 105 Virilio, Paul: Panische Stadt. Hrsg. v. Peter Engelmann. Aus d. Franz. v. Maximilian Probst. Wien 2007, S. 26, S. 29. Franz. Originalausgabe: Ville panique. Editions Galilée 2004.

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Der Turm bedeutete in seiner vertikalen Ausrichtung gleichsam eine Annäherung an den Himmel, und „[d]iejenigen, die damals fliegen wollten, wollten zunächst ‚in die Luft fliegen‘ und nicht ‚irgendwo hinfliegen‘, wie später mit der zivilen Luftfahrt. Die berühmte ‚Eroberung der Luft‘ ist wohl die Eroberung eines unvergleichlichen Anblicks, diejenige einer Allgegenwart, die dem göttlichen Blick analog ist...“106.

Mit der Entwicklung der Eisenbahn reduzierten sich die Reisezeiten und folglich die Erfahrung von räumlichen Distanzen. Wurde der Raum auf der einen Seite verkleinert bzw. vernichtet, so fand auf der anderen Seite eine Ausdehnung der Raumgrenzen statt.107 Neben den neuen Transportmöglichkeiten des 19. Jahrhunderts (Eisenbahn, Dampfschiff) beeinflussten auch die technischen Errungenschaften wie Telegraphie und Fotografie die Wahrnehmung von Raum und Zeit. Die Fotografie vermittelt Zeit im doppelten Sinne, da sie eine Situation aus der Vergangenheit gegenwärtig präsentiert. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine „Wiederherstellung“ – so Barthes – sondern es wird „das Wirkliche in vergangenem Zustand: das Vergangene und das Wirkliche zugleich“ gezeigt, so dass der Betrachter eine „Beglaubigung“ des Dagewesenen erfährt.108 Der Zeitraum zwischen der Aufnahme des Bildes und der Bildbetrachtung könne laut Großklaus entweder als verdrängter Raum betrachtet werden oder als eine Komprimierung, die im gegenwärtigen Bild zur Anschauung gelangt. „Derselbe Vorgang fotografischer Vergegenwärtigung läßt sich als Verschwinden historischer Zwischenzeit und als ‚Verdichten‘: als Akkumulation von Zwischenzeit beschreiben.“109 Analog zur „Raumverkleinerung und der Raumerweiterung“110 stellt Großklaus für die Di-

106 Virilio, Paul: Rasender Stillstand. Essay. Aus d. Franz. v. Bernd Wilczek. 4. Aufl. Frankfurt am Main 2008, S. 53. Franz. Originalausgabe: L’inertie polaire. Paris 1990. 107 Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2000, S. 37. 108 Barthes 1985 (1980), S. 92f. 109 Großklaus 1994, S. 37. 110 Schivelbusch 2000, S. 37.

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mension der Zeit Folgendes fest: „die Zusammenziehung der Geschichts-Zeit zur Gegenwarts-Zeit erscheint umgekehrt als Erweiterung der Gegenwartszeit zum ganzen ‚Raum der Geschichte‘“111. Die technischen Errungenschaften bewirken damit „die Tilgung räumlicher Distanzen und Zwischenräume und die Auslöschung zeitlich-geschichtlicher Intervalle – mit dem doppelten Effekt der zeiträumlichen Zusammenziehung zu prägnanten Punkten oder der Erweiterung und Vernetzung dieser Punkte zu Zeit- und Raumfeldern.“112

Virilio erläutert ebenfalls, dass mit „[…] der relativen Geschwindigkeit des Verkehrs und der körperlichen Bewegung […] die territoriale Eroberung der Ausdehnung des geophysischen Realraums verbunden [war]. Mit der absoluten Geschwindigkeit interaktiver Datenübertragung verbindet sich die Eroberung der Abwesenheit von Ausdehnung in der Augenblicklichkeit der Echtzeit.“113

Das Kapitel ‚Wahrnehmung von Massen-Events und Massen-Medien‘ veranschaulicht das in den Bildern Gurskys erkennbare Raum-ZeitVerhältnis. Die im 19. Jahrhundert technisch initiierte und seitdem immer weiter vorangetriebene Beschleunigung der Bewegung kann auch in der zweiten Abstraktionskategorie als Thema seiner Fotografien angesehen werden. „Informations- und Kommunikations-Flüsse“, „Waren- und Geldflüsse“ sowie „Menschen- und Zeichenflüsse“ sind als Beschleunigungen gestaltet und innerhalb der visuellen Formalisierungsprozesse als „Distanz auflösende Verdichtung“ analysierbar.114 Der Wolkenkratzer symbolisiert den Prozess der Urbanisierung und ist in seiner aufstrebenden Architektur heute dem Himmel näher als einst der Kirchturm einer Siedlung hinter dem Hügel. Raketen und Satelliten überwinden schließlich die Schwerkraft, der ein Turm unterworfen blieb; und in der unbegrenzten Telekommunikation zeigt sich die Aus-

111 Großklaus 1994, S. 38. 112 Ebd. 113 Virilio 2007, S. 76. 114 Großklaus, Götz: Medien-Zeit, Medien-Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne. Frankfurt am Main 1995, S. 31.

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löschung von Raum in Echtzeit, die in alle Bereiche der Erde und in den Weltraum vordringt: „Was mit der Globalisierung auf uns zukommt, ist die Endlichkeit der Welt, die Endlichkeit eines Planeten, der an seine endgültige Grenze stößt: die Leere des Weltraums.“115 Die Wahrnehmung von Zeit und Raum soll nun für die dritte Ordnungskategorie erörtert werden. Zu Beginn dieses Kapitels war von der technologisch bedingten Auflösung räumlicher und zeitlicher Intervalle die Rede, die sowohl mit einer Verdichtung als auch mit einer Grenzerweiterung und Vernetzung einhergeht. Nachdem bei Gursky bereits in den ersten beiden Ordnungskategorien die entwicklungsgeschichtliche Beschleunigung der Bewegung und die Erschließung und Verdichtung von Raum aufgezeigt und die Fotografien an sich als Zeitbilder interpretiert werden konnten, ist es naheliegend, sowohl die monochromen Aufnahmen als auch die Strukturbilder im abstrahierten Sinne als eine Darstellung von ‚Zeit- und Raumfeldern‘ anzusehen. Die Fotografie bzw. die Bildmedien im Allgemeinen, die Gursky durch seinen distanzierten, erhöhten Blick und durch den Verweis, dass Ereignisse in Form von Wirklichkeit zweiter Ordnung vermittelt werden, thematisiert, führen einerseits ein zeitlich und räumlich entferntes Ereignis „in das enge Sichtfenster des Momentanen und Aktuellen“, andererseits kann dieser Prozess „als ‚Feld-Verdichtung‘ oder als Dehnung der Gegenwart zu einem Feld“ verstanden werden.116 Das Phänomen der immer schneller werdenden Bild-, Zeichen- und Datenflüsse und die damit einhergehende Verdichtung von Gegenwart beschrieb bereits Niklas Luhmann: „Die Weltgesellschaft synchronisiert sich in die Gegenwart, und das ist nur mit Hilfe der Massenmedien möglich, die die Koordinierungszeit fast auf den Moment verkürzen.“117 Großklaus spricht im Zusammenhang der Synchronisation bildlich gesehen nicht von „Punkt und Linie“, sondern – aufgrund der sich in den Medien zusammenschließenden Daten entfernter Ereignisse in Raum und Zeit – von einem sich verzweigenden Netz aus „Punk-

115 Virilio 2007, S. 67. 116 Großklaus 1994, S. 40. 117 Luhmann, Niklas: Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien. In: ders.: Soziologische Aufklärung 3. Opladen 1981, S. 309-320, hier S. 314. Vgl. auch Großklaus 1994, S. 39f.

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ten und Feldern“.118 Diese Vernetzung vergleicht er mit neuronalen Vorgängen, mit der gleichzeitigen Aktivierung von Modulen im Gehirn, die, wenn sie als Licht wahrnehmbar wären (Eccles), ein glitzerndes Muster bilden würden.119 Dieser hier stark verkürzt dargestellte Vergleich soll als ein Modell verstanden werden, mit Hilfe dessen ein nicht-sichtbarer Vorgang in eine Oberflächenstruktur transformiert wird. Gurskys Arbeiten der dritten Ordnung können letztlich als Versuche gedeutet werden, die Verfassung und die Dynamik der globalen ökonomisch-technischen Zivilisation in Form verdichteter Zeichen und infiniter Strukturen zur Anschauung zu bringen. Die ‚Bewegungsflüsse‘ der Weltgesellschaft werden in netzartige Bildstrukturen übersetzt. Obwohl es auch möglich ist, aus der Nähe einen konkreten Gegenstand im Bild zu benennen, liegt das Wesen der Bilder in der abstrakten Grundstruktur, die Raum und Zeit nicht nur im übertragenen Sinne, sondern auch direkt durch vorhandene Lichtmodulationen und durch den Verlauf der Betrachtung veranschaulichen. Ähnlich wie Rothko im Medium der Malerei überführt Gursky seine Bildideen in Farb- und Strukturfelder und beschreibt damit einen spezifischen Zustand der Welt. Die Bezeichnung einiger Bilder mit ‚Ohne Titel‘ und ihre Transformation in ‚Nicht-Orte‘ korrespondiert mit der Bedeutung der ‚Raum- und Zeitfelder‘. Mit der Auslöschung von Entfernungen lösen sich auch die weitergeleiteten Zeichen von den entsprechenden Orten. Es kommt im Bereich der Erinnerung somit zu einem „topografischen Gedächtnisschwund“120. Der erhöhte Standpunkt und die Vogelperspektive fördern den Blick auf ein nicht konkretes Landschaftsfeld, da dieser entfernte Blick spezifische Merkmale wie Formen, Gerüche oder Geräusche zu einem Oberflächenmuster zusammenzieht. Einem Ort seine Topographie zu nehmen ist wiederum aus den Luftaufnahmen der Kriege her bekannt.

118 Großklaus 1994, S. 40. 119 Vgl. ebd., S. 41. Vgl. umgekehrt zur Medienmetapher im Bereich der Neurophysiologie Eccles, John C.: Die Psyche des Menschen. Das Gehirn-Geist-Problem in neurologischer Sicht. München 1990, S. 64ff. 120 Boyer, M. Christine: Im virtuellen Raum verschwindet das Gedächtnis der Stadt. In: Maar, Rötzer 1997, S. 162-176, hier S. 163.

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„Luftaufnahmen sind Symptome und Kräfte des veränderten Wahrnehmungsprozesses zugleich. Indem sie rein ästhetische Effekte und nützliche militärische Informationen miteinander vernetzen, entleeren sie den Raum von Erfahrungen und militärischen Inhalt.“

121

Virilio erklärt dazu: „War mit der Eroberung der höchsten Punkte im Relief einer Landschaft das Schlachtfeld vor allem ein ‚Wahrnehmungsfeld‘, von militärischen Perspektiven und topografischen oder ballistischen Horizonten geprägt, so ist es jetzt ein Wahrnehmungsfeld der Globalisierung, die zum Nicht-Ort der Mutter aller Schlachten geworden ist. Daher rührt die veränderte Natur und das systematische Kreisen in der Schleife der unterschiedlichsten Arten bruchhafter Ereignisse [...].“

122

121 Hüppauf, Bernd: Experiences of Modern Warfare and the Crisis of Representation. In: New German Critique. Frühjahr/Sommer 1993, S. 41-76, S. 59. Hier zitiert nach Boyer 1997, S. 166. 122 Virilio 2007, S. 57.

IV. Reflexionen „Es ist ein grundlegendes Missverständnis, dass man Fotografie dazu verdammt, ein Abbild der Wirklichkeit zu sein. Von der Literatur verlangt dies schließlich niemand.“ (ANDREAS GURSKY)

1. G URSKYS P OSITION IN DER F OTOGRAFIEGESCHICHTE – R ÜCKBLICK , AUSWEG , E TABLIERUNG UND AUSBLICK Im folgenden Kapitel wird zunächst ein fotohistorischer Rückblick auf die 50er- und 70er-Jahre geboten, um die Ausgangslage – die künstlerischen Strategien und die Situation des Kunstmarktes – zu beschreiben, die Gursky zu Beginn seiner Ausbildung vorfindet. Im Anschluss daran werden die Einflüsse der ‚subjektiven Fotografie‘ und des Lehrerehepaars Becher sowie der Prozess der Verselbstständigung Gurskys und die originären Merkmale seiner Fotografie dargelegt. Die Fotografie der 50er-Jahre wurde in Deutschland vornehmlich durch die Bewegung der ‚subjektiven fotografie‘ Otto Steinerts geprägt. Nach dem zweiten Weltkrieg bedeutete dies den Neubeginn: die Chance, die gestalterischen Möglichkeiten der Fotografie auszuloten und an die experimentelle Fotografie des im Nationalsozialismus geschlossenen Bauhauses anzuknüpfen. Paradoxerweise wurde die ‚neue fotografie‘ der 20er-Jahre einerseits von den Nationalsozialisten als entartet verfemt, andererseits bediente sich das Regime der neuartigen Kameraperspektiven, um Massenveranstaltungen durch die Sicht von oben monumental zu inszenieren. Um sich von der Dokumentarfoto-

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grafie abzugrenzen, verwendete die ‚subjektive fotografie‘ gestalterische Strategien, wie die des Bildausschnitts, extremer Blickwinkel und grafisch wirkender Kontraste.1 Nach Einstellung der gleichnamigen Überblicksausstellungen zur ‚subjektiven fotografie‘ wurde Steinert 1959 Dozent an der ‚Folkwangschule für Gestaltung‘ in Essen und kuratierte zwischen 1959 und 1977 die Ausstellungen über ‚Beiträge zur Geschichte der Fotografie‘ im Museum Folkwang, dessen fotografische Sammlung er selbst begründet hatte. Zeitgleich mit Steinert setzte sich L. Fritz Gruber nach 1945 für die Fotografie ein und begann ab 1950 mit der Organisation der fotografischen Fachmesse ‚Photokina‘ in Köln. Ein Jahr später wurde dort auch die Deutsche Gesellschaft für Fotografie (DGPh) gegründet. Im Jahr 1972 wurde die erste kommerzielle Fotogalerie Deutschlands durch Ann und Jürgen Wilde ins Leben gerufen, der weitere folgten, darunter auch die Aachener Fotogalerie Lichttropfen im Jahr 1974 – heute Galerie Rudolf Kicken – und die von F.C. Gundlach 1978 eröffnete PPS Galerie in Hamburg. Die erste europäische Fotografie-Auktion fand 1971 in London bei Sotheby’s statt, die in den Folgejahren mit Arbeiten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts große Absätze erzielte, was jedoch für die deutschen Galerien keinen nachhaltigen Impuls auslöste. Während die Fotografie in den 70er-Jahren in Amerika als neues Sammlerobjekt oder als Geldanlage entdeckt wurde, blieb der Interessentenkreis in Deutschland noch immer klein. Neben den kommerziellen Galerien, die sich bereits mit der Fotohistorie auseinandersetzten, etablierten sich auch Fotogalerien, die durch öffentliche Fördermittel bestehen konnten und sich der Ausstellung der zum Teil noch unbeachteten zeitgenössischen Fotografie widmeten. Dies galt auch für die Spectrum Photogalerie in Hannover, die 1972 aus der ein Jahr zuvor durch Heinrich Riebesehl und weitere Fotografen aus Hannover gegründeten ‚Gesellschaft zur Förderung der Photographie‘ hervorging.2 Ende der 70er-Jahre gelangte die Fotografie schließlich auch in Deutschland in eigens konzipierte Abteilungen der Museen und öffentlichen Sammlungen. Zu nennen sind u.a. das Museum Ludwig Köln,

1

Vgl. Koenig 1988b, S. 3ff. Vgl. auch Galassi 2001, S. 11.

2

Vgl. Schneider, Ulrike: Die Ausstellungstätigkeit der Spectrum Photogalerie 1972-1991. Ein Rückblick. In: Spectrum Photogalerie 1972-1991. Ein Rückblick. Ausgewählte Fotografien. Ausst.-Kat. Sprengel Museum Hannover. Hannover 1995, S. 7-26, hier S. 7-11, S. 25.

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das Museum Folkwang Essen oder das Sprengel Museum Hannover, in das die Spectrum Photogalerie integriert wurde. Die deutschen Museen öffneten sich der Fotografie also relativ spät, im Gegensatz zu jenen in Amerika, die bereits in den 30er-Jahren die Fotografie als mit den klassischen Kunstgattungen gleichrangiges Ausdrucksmittel verstanden. Ähnlich verhielt es sich mit der Farbfotografie, die bereits Mitte der 70er-Jahre – vertreten durch William Eggleston und Stephen Shore als Pioniere – in Amerika anerkannt wurde. Zu Beginn der 80erJahre wurden diese Fotografievertreter auch in Deutschland entdeckt und hielten anstelle der in Farbe fotografierenden Werbe- und Modefotografen Einzug in die Ausstellungen.3 In die von der ‚subjektiven fotografie‘ gekennzeichneten 50erJahre fällt der Beginn der fotografischen Tätigkeit von Bernd und Hilla Becher. Dass ihre Dokumentarfotografie Ende der 60er-Jahre als Kunstfotografie anerkannt wurde, lag in der typologischen Herangehensweise und der nun durch die Minimal- und Konzeptkunst geprägten Zeit begründet.4 Die ‚Anonymen Skulpturen‘ wurden von der Kunstszene als skulpturale Objekte angesehen und in die minimalistische Denkweise eingegliedert. Die Bechers konkretisierten ihr Vorhaben im Hinblick auf die Erbauer der Industriearchitektur: „Diesen Objekten ist gemeinsam, daß sie ohne Rücksicht auf Maßverhältnisse und ornamentale Raster gebaut wurden. Ihre Ästhetik besteht darin, daß sie ohne ästhetische Absicht entstanden sind. Der Reiz, den das Thema für uns hat, liegt darin, daß Bauten von prinzipiell gleicher Funktion in einer Vielzahl von Formen auftreten. Wir versuchen, mit Hilfe der Photographie diese Formen zu ordnen und vergleichbar zu machen.“

5

Die Bechers wurden von ähnlichen Motiven geleitet, die bereits in den 20er-Jahren bei Architekten in Erscheinung getreten waren. Dass in

3 4

Vgl. ebd., S. 16f. Vgl. Andre, Carl: A note on Bernhard und Hilla Becher. In: Artforum, December 1972, S. 59. Abgedruckt in: Bernhard und Hilla Becher. Typologien industrieller Bauten 1963-1975. Ausst.-Kat. XIV Biennale Sao Paulo, 1977, S. 7. Vgl. auch Herzogenrath 1994, S. 206.

5

Bernd und Hilla Becher in der Kunst-Zeitung Nr. 2. Hrsg. v. Eugen Michel und Hans Kirschbaum. Düsseldorf Jan. 1969. Zitiert nach Herzogenrath 1994, S. 208.

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der Industriearchitektur die Form der Funktion folgte und nicht aus einer übergeordneten Idee heraus entstand, traf die Auffassung von Architekten wie Walter Gropius und Le Corbusier. Fotografien solcher Bauten wurden von den Architekten als beispielhafte Vorbilder in ihre Publikationen aufgenommen und beeinflussten nachhaltig ihre Ideen zu neuen Bauten.6 Indem Bernd und Hilla Becher Form und Funktion der Industriearchitektur ins Zentrum ihrer Bilder stellten, wurden diese in Objekte mit ästhetischen Werten transformiert. Zur Geltung kommt darüber hinaus eine intermediale Anschauung, da auf der Basis der fotografischen Vermittlung das Abbild skulpturale, architektonische und ikonische Eigenschaften erhält.7 Ihr fotografisches Gesamtwerk ist schließlich als ein „‚Monument des 20. Jahrhunderts‘“8 zu bezeichnen, da Denkmäler der Industrie und somit auch deren Gegenwart dokumentiert wurden, die das kollektive Gedächtnis und die Erinnerung an das 20. Jahrhundert nachhaltig beeinflusst haben dürften. Die Bilder der Bechers sind so tief in unsere Vorstellung eingedrungen, dass wir, wenn wir das Ruhrgebiet besuchen und die Reste der dortigen Industriearchitektur sehen, nicht an die Firmen Thyssen oder Krupp denken, sondern an die Becher-Fotografien erinnert werden. Ihr Gesamtwerk stellt nicht zuletzt ein beredtes Archiv für die Orte der Arbeitswelt und die durch sie geprägten gesellschaftlichen Strukturen dar.9 Die Bechers bilden die Wirklichkeit fotografisch so ab, dass der Blick des Betrachters in mehrfacher Hinsicht auf etwas aufmerksam wird, was er in seiner eigenen Lebenswelt nicht oder anders wahrgenommen hätte. Wenn sie dem Betrachter damit jedoch einen „Vorschlag für eine Sehwei-

6

Vgl. Herzogenrath 1994, S. 204f. Vgl. auch Le Corbusier: Kommende

7

Vgl. Honnef, Klaus: Bernd und Hilla Becher. In: Lange 2002, S. 61-62,

Baukunst. Dt. Deutsche Verlag Anstalt 1926. hier S. 62. 8

Bussmann, Klaus: Hilla und Bernd Becher. In: Lange 2002, S. 69-70, hier S. 69.

9

Vgl. ebd., S. 69f.

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se“10 liefern, so scheint an dieser Stelle der dokumentarische Ansatz von einer subjektiven Sichtweise eingeholt zu sein.11 Als sich Gursky 1980 an der Kunstakademie in Düsseldorf immatrikulierte, fand er den Nährboden einer sich seit den 70er-Jahren etablierenden Fotografieszene vor, die sich von den Fotojournalisten und Werbefotografen absetzte. Zu dieser Zeit hatten auch amerikanische Sammler die avantgardistische Düsseldorfer- und Kölner Kunstszene – mit Künstlern wie Joseph Beuys, Anselm Kiefer, Sigmar Polke und Gerhard Richter – für sich entdeckt. Mit Eintritt in die Klasse von Bernd Becher im Jahr 1981 erhielt Gursky wie die anderen Schüler die Aufgabe, ein Thema aus dem Architekturbereich oder dem sozialen Bereich zu wählen. Verlangt wurde ein gleichförmiger Stil – Frontalität, Statik und ein sachlicher Hintergrund –, damit, wie bei den Bechers auch, das Objekt das zentrale Moment der Aufnahme ausmachen konnte und der subjektive Standpunkt in den Hintergrund trat. Mit einer Vielzahl von Aufnahmen sollte schließlich eine Typologie erstellt werden. Die Bechers gaben klare Richtlinien vor, so dass den Schülern in der Fülle der künstlerischen Möglichkeiten methodischer Halt geboten wurde.12 Dem konzeptionellen Reglement folgte Gursky mit Innenaufnahmen von Restaurants und Bars, mit Bildern von Verkäuferinnen in Kaufhäusern und schließlich mit den sogenannten Pförtnerbildern. Fotografiert wurde bereits mit der Plattenkamera (4 x 5-Inch und 5 x 7Inch), da diese ein geduldiges und vorausschauendes Arbeiten verlangte. Die Vorstellung allerdings, für lange Zeit immer weitere Pförtner aufnehmen zu müssen, erfüllte Gursky letztlich mit Unbehagen, so dass er sich 1984 von dem typologischen Vorgehen abwandte und einen neuen Weg beschritt. Bis zu diesem Zeitpunkt beeinflussten nicht nur die Bechers den künstlerischen Reifeprozess der Schüler, sondern auch die inzwischen renommierte Düsseldorfer und Kölner Kunstszene. Auf den von Kaspar König durchgeführten Workshops an der Kunstakademie, zu denen er prominente Künstler einlud, lernte

10 Zweite, Armin: Perspektivische Objektivität. In: Lange 2002, S. 71-74, hier S. 71. Zweite zitiert damit eine Äußerung von Bernd und Hilla Becher, die nicht bibliographisch zugeordnet wird. 11 Vgl. ebd., S. 71f. 12 Vgl. Galassi 2001, S. 14ff.

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Gursky u.a. Dan Graham und Jeff Wall kennen. Die großen Fotografien von Wall und deren Präsentation in Leuchtkästen – Reminiszenzen an Reklamebilder – beeindruckten Gursky zutiefst; in seiner ersten Ausstellung 1987 im Düsseldorfer Flughafen wurden einige seiner Arbeiten in dortigen Werbeschaukästen gezeigt. Die Künstler Jochen Gerz und Jean Le Gac dürften als unkonventionelle Fotografen, die im Gegensatz zu den Bechers eine weniger reglementierte Arbeitsweise vertraten, ebenfalls Spuren hinterlassen haben. Anhand von HansPeter Feldmanns kleinen Fotobüchern, die Ende der 60er-/Anfang der 70er-Jahre entstanden, wurde Gursky auf die Möglichkeit aufmerksam, mittels einer Vielzahl von Schnappschüssen aus den Bereichen Konsum, Tourismus, Freizeit und Heim die Welt – genauer: individuelle Lebenswelten – spontan im Bilde darzustellen. Während Gursky bei Bernd und Hilla Becher lernte, die Fotografie als Kunst zu verstehen und zu handhaben, so verweisen die anderen Einflüsse auf die Fotografie als Medium der Alltagskultur.13 Im Jahr 1984 wechselt Gursky von der Plattenkamera zur Mittelformatkamera, deren Negativ von 6 x 7 cm sich durch höhere Detailgenauigkeit auszeichnet und die ohne Stativ gehandhabt werden kann. Es entstanden die von Kasper König als Sonntagsbilder bezeichneten Aufnahmen, die Menschen beim Spaziergang, beim Wandern, beim Sport, im Schwimmbad usw. zeigen. In ihrer farblichen Stimmung, ihren Lichtverhältnissen und in landschaftlich banalem Umfeld indizieren sie bereits den Einfluss amerikanischer Fotografen wie Stephen Shore und Joel Sternfeld. Die Bechers machten ihre Schüler mitunter auf den Katalog ‚The New Color Photography‘ (New York 1981) von Sally Eauclaire mit amerikanischen Fotoarbeiten aufmerksam, um ihnen, neben ihrem eigenen Standpunkt, einen umfassenden Blick auf die Fotografie zu vermitteln. Während die Amerikaner die Farbfotografie bereits früher erprobten, gehört Gursky in Deutschland zur ersten Generation, die sich ganz der Farbe zuwandte. Diese Wendung lag gewiss auch darin begründet, dass das Farbbildmaterial erst in den 70er-Jahren erschwinglich wurde und leichter zu handhaben war, um als Künstler von Laboren unabhängig agieren zu können.14 In der

13 Vgl. ebd., S. 19ff. und S. 42, Anm. 27. 14 Vgl. ebd., S. 21f. und S. 42, Anm. 30. Vgl. auch Bernd und Hilla Becher in: Liesbrock 1994b, S. 32. Da die Akademie über keinen großen Bestand

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kompositorischen Grundanlage der Bilder steht Gursky in der Tradition von Shore. Bei beiden Künstlern finden sich Landschaftsstrukturen wie der horizontale oder vertikale Aufbau, die zum Thema der Bildkomposition werden. Zudem lässt sich die künstlerische Relevanz der Aufnahmen bei beiden erst auf den zweiten Blick erschließen. Die Vorgehensweise Shores, der „mit den Stilmitteln einer Dokumentarfotografie [arbeitet], seine Bilder [...] aber immer Resultate einer subjektiven Sicht [sind]“15, kann auch auf Gursky übertragen werden. Shore steht damit wiederum „in der Tradition der Fotografen, die diese sachlich wirkende Art mit einer persönlichen Fotografie geprägt haben: Eugène Atget mit den Bildern von Paris um die Jahrhundertwende und Walker Evans mit seinen Ende der zwanziger 16

Jahren entstandenen Fotografien von Amerika“ .

Den ersten Schritt in eine originäre Stilrichtung vollzog Gursky, als er auf der 1984 getätigten Aufnahme ‚Klausenpaß‘ erst viel später die Wanderer entdeckte – ein Bildmoment, das ihm zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht gewärtig war. Aus dieser Erfahrung heraus entstand die gestalterische Ambition, einen zum Geschehen distanzierten Standpunkt einzunehmen, so dass die bekannte Welt plötzlich fremdartig erscheint und neu erschlossen werden muss. Der Überblick vermittelt zunächst nur den Anschein, als sei der Betrachter in einer allwissenden Position, doch der gewählte Ausschnitt von Welt gibt Rätsel auf und verweist auf ihre Perspektivität. Das Vorgehen, die Umgebung aus der Ferne aufzunehmen, in Verbindung mit einer durchgängigen Bildschärfe, geht wiederum auf amerikanische Vorbilder zurück. So finden sich solche Aufnahmen mit der Großbildkamera in den 70erJahren bereits bei Robert Adams oder Martin Manz und später in der Farbfotografie der 80er-Jahre u.a. bei Joel Sternfeld. Was Gursky jedoch von den Amerikanern unterscheidet, ist das von den Bechers übernommene Prinzip, systematisch einem Bildmodell zu folgen und die Motive nach einer zuvor wohldurchdachten Konzeption aufzuspüren. Die Amerikaner hingegen passten ihre Fotografie der jeweiligen

an Literatur zur Fotografie verfügte, brachten die Bechers ihre eigenen Bücher und selbst erworbene Fotografien als Anschauungsmaterial mit. 15 Weski 1994, S. 24. 16 Ebd.

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Forderung der Situation an, sie erstrebten keine „Produktion von Bildern über Bilder“, sondern „Bilder über die Welt“.17 Im Jahr 1987 greift Gursky wieder auf die Großbildkamera zurück, um den immer größer werdenden Abzügen die erforderliche Schärfe zu geben. Das vergrößerte Bildformat entsprach den Entwicklungen der Zeit. Die Fotografie wollte es mit den Formaten der Malerei aufnehmen, und obwohl solche Abzüge nur noch im Labor angefertigt werden konnten und wesentlich teurer waren, machte sich der Aufwand insofern bezahlt, als die Fotografie in Wirkung und Präsentation mit der Malerei nun konkurrieren konnte. Die Methode, die Fotografien mit Plexiglas zu laminieren und zu rahmen, so dass sie Objektcharakter erhielten, war der nächste Schritt. Die Nachfrage auf dem Kunstmarkt war vorhanden – und so konnte dieser kostenaufwändige Weg weiter verfolgt werden. Die großen Formate eröffneten nun dieselben visuellen Möglichkeiten wie in der Malerei, z.B. unterschiedliche Wirkungen zu erzielen abhängig von der Nähe bzw. Distanz des Betrachters zum Bild. Auf diese Weise entwickelte Gursky die später häufig von ihm angewandte Methode, seine Bilder mit einer Makround einer Mikrostruktur zu versehen.18 Die Idee, ‚Bilder von Bildern‘ zu machen, gewinnt noch an Bedeutung, als Gursky Anfang der 90er-Jahre beginnt, Motiven nachzugehen, auf die er durch Print-Medien oder Fernsehbilder aufmerksam wurde. In dieser medial vermittelten Bilderflut sah Gursky ein relevantes gesellschaftliches Symptom: Bilder beispielsweise von Börsen böten an sich „nichts Neues“, „was sie jedoch als Ikonen des zeitgenössischen Bewusstseins ausweist, ist ihr ständiges Auftauchen in den Medien“19. Mit dieser Inspirationsquelle begann Gursky seine Bildfindung auf Orte in der ganzen Welt auszudehnen – nicht zuletzt wurden diese Reisen durch seine stetig steigende Prominenz ermöglicht. Gurskys Themenfeld ‚Landschaften mit vereinzelten Personen‘ wird nun erweitert: um distanziert wahrgenommene Innenräume mit Massen gedrängter Personen und technischer Gerätschaften, um Manifestationen personaler Anonymität sowie um Großveranstaltungen in der Natur. Seine Bildsprache der 90er-Jahre verweist bunt, plakativ und

17 Galassi 2001, S. 23 und vgl. ebd., S. 22f. 18 Vgl. ebd., S. 27f. 19 Gursky, Andreas, im Gespräch mit Galassi. Zitiert nach Galassi 2001, S. 43, Anm. 40. Vgl. auch ebd., S. 28.

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verführerisch auf die Geld-, Waren- und Kommunikationsflüsse. Gursky hat dafür seine eigene Ästhetik entwickelt und die medial vermittelten Bilder in ein originäres visuelles Konzept überführt.20 Die Dokumentarfotografie bildete die Voraussetzung für die künstlerische Entwicklung der Becher-Schüler, doch gehören sie einer Generation an, die mit alten und neuen Medien gleichermaßen aufgewachsen und von einer durch überbordende Bilderfluten vermittelten Wirklichkeit umgeben sind. Ihre Bilder sind – wie bereits angemerkt – „Bilder von Bildern der Wirklichkeit“21. Im Gegensatz zur rigiden „Spurensicherung“ der Bechers und ihrer formstrengen Präsentation der Gebäude in Form beharrender Abbilder erforschen ihre Schüler die Wirklichkeit auf einer Meta-Ebene. Ihnen werden Mitte der 90er-Jahre zunächst gemeinsame Stiltendenzen attestiert: Sie richten ihren Blick auf das nahe Lebensumfeld, um der alltäglichen Verfassung der Gesellschaft und den sozialen Mechanismen näher zu kommen. Im Vordergrund stehen keineswegs markante Ereignisse oder exponierte Persönlichkeiten und Orte, sondern das lebensweltlich Gewöhnliche. Obwohl das typologische Moment fehlt, ist für einige Schüler das serielle Moment (Kopfserie von Thomas Ruff, Familien-Portraits von Thomas Struth) charakteristisch. Allen ist gemeinsam, dass sie ihr Motiv nicht arrangieren oder inszenieren, sondern es möglichst objektiv, ohne Manipulation und Einsatz von zusätzlicher Beleuchtung, wiedergeben.22 Als Vertreter der objektiven Dokumentarfotografie nehmen Bernd und Hilla Becher den diametralen Standpunkt zur ‚subjektiven fotografie‘ ein. Aufgrund des Einflusses auf ihre Schüler erscheint ein Vergleich mit der ‚subjektiven fotografie‘ häufig nicht angebracht. So führt Pfab die Darstellung von Bewegung bzw. die Veranschaulichung eines Zeitausschnittes an – Aspekte, die bei den Düsseldorfer Fotografen nicht zu finden seien. Zudem gehe es bei der ‚subjektiven fotografie‘ stets um das Einzelbild, während bei den Becher-Schülern das einzelne Kunstwerk immer auch im Kontext des gesamten Werks stehe.23

20 Vgl. Galassi 2001, S. 28f. 21 Derenthal 2000, S. 21. Derenthal stützt sich dabei auf eine Äußerung von Thomas Ruff. Vgl. Adam, Willi: Der Betrachter entscheidet. Im Gespräch: Thomas Ruff. In: Kultur Joker. 4, 4.-17.3.1994, H. 9/10, S. I, 46, hier S. 46. 22 Vgl. Herzogenrath 1994, S. 213-217. 23 Vgl. Pfab 2001, S. 139.

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Die Düsseldorfer Fotografen repräsentieren eine auf das Medium bezogene Sachlichkeit, die sich darin zeige, dass „aus dem direkten Blick auf das Objekt [...] ein direktes Bild vom Objekt [folgt]“24. Der unmittelbare Standpunkt gegenüber dem Objekt zeuge von einer „Bejahung der gegenständlichen Welt“, die sich entgegengesetzt zu den „bewegten Bilder[n]“ des Cyberspace verhalte.25 Diese Argumente Pfabs sind im Hinblick auf Arbeiten von Thomas Ruff oder Thomas Struth zutreffend, lassen sich jedoch auf das Werk Gurskys nicht durchgängig anwenden, zumal die Stilmerkmale der ‚subjektive fotografie‘ von Pfab nur reduziert dargestellt wurden. Vielmehr zählt zur ‚subjektiven fotografie‘, die dem „Verhältnis von bildgestalterischen Mitteln zu dargestellter Wirklichkeit“ nachgeht, u.a. auch jene Gruppe von Bildern, die „Szenen der Wirklichkeit wiedererkennbar abbilden, bei denen aber Konstellationen aufgesucht bzw. Ausschnitte gewählt wurden, die verfremdende bzw. formalisierende Bildwirkungen hervorbrachten“, sowie jene Arbeiten, „bei denen Kamerafotografien mithilfe weitergehender Bearbeitungen der Negative bearbeitet wurden“.26 Die Betrachtung der von Koenig genannten Bildbeispiele zeigt zwar, dass ein unmittelbarer Vergleich zu Gursky nicht sinnvoll ist − genauso wenig, wie es sinnvoll ist, Gursky der reinen Dokumentarfotografie zuzuordnen. Die sich im Werk Gurskys manifestierenden Einflüsse der Bechers wurden bereits erläutert; allerdings bin ich der Auffassung, dass Gurskys Werk dennoch Merkmale der ‚subjektiven fotografie‘ in sich trägt – wie bereits an Häusser und von Bloch gezeigt wurde – , die erweitert und neu definiert worden sind. Die Aufnahme ‚Feuertreppe Chicago‘ (1951) des Dänen Keld Helmer-Petersen wird aufgrund der von unten nach oben ausgerichteten Kameraposition und des Gegenlichtes sowie des Ausschnitts und der Wahl eines harten Fotopapiers zu einem grafischen Konstrukt aus schwarzen Linien vor weißem Grund. Obwohl die räumliche Situation und die Funktion nicht mehr zu eruieren sind, bleibt das Gefühl für ein

24 Ebd., S. 140. 25 Ebd. 26 Koenig, Thilo: Otto Steinerts Konzept ‚Subjektive Fotografie‘ (19511958). München 1988, S. 110. Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1986. tudivStudien, Reihe Kunstgeschichte, Bd. 24. Zur Feststellung dieser Kriterien analysierte Koenig die Werke des ersten Bandes zur ‚subjektiven fotografie‘ von Otto Steinert.

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architektonisches Gebilde erhalten. Um Struktur ging es auch Harry Callahan, der für die Aufnahme ‚Cut‘ (silhouetted Blades of Grass, ca. 1950) Grashalme über einen hellen Untergrund verteilte und so ein All-over ähnlich wie bei Jackson Pollock erhielt.27 Die Arbeit ‚Börse in Florenz‘28 (um 1952) von Ludwig Windstoßer, der zur Gruppe ‚fotoform‘ gehörte, zeigt aus erhöhter Position den Ausschnitt einer Ansammlung von Personen auf regennassem Asphalt. Einige von ihnen halten einen Regenschirm; sie stehen gruppiert oder vereinzelt, so dass Freiräume im Bild wahrzunehmen sind. Erschließt sich die Vergleichbarkeit der ersten beiden Bilder mit Gursky noch nicht unmittelbar, so erinnert der bildnerische Aufbau von ‚Börse in Florenz‘ sogleich an Gurskys ‚Börse, Tokyo‘. Auch ‚Feuertreppe Chicago‘ und ‚Cut‘ zeigen den von Gursky anvisierten Dualismus ‚Abbild versus Abstraktion‘. Prozesse der Formalisierung konkurrieren mit den abbildenden Eigenschaften der Aufnahme. Ende der 90er-Jahre hat Gursky die oben genannten Einflussgrößen für sich weiter entwickelt oder sich ganz von ihnen entfernt. Außer Frage steht seine intensive Beschäftigung mit der Gesellschaft und ihrer Lebenswelt, die sich zu globalisieren im Begriff ist. Seine Ambitionen liegen darin, das Fremdartige im Alltäglichen sichtbar zu machen und die Entindividualisierung sowie die Dynamiken anonymer Massen zu veranschaulichen. Allerdings verfolgt Gursky diese Thematik nun mit Hilfe einer neuartigen Bildsprache, die ihn weit von der Stilprägung durch die Bechers entfernt. Er funktionalisiert nicht nur die wirklichkeitsverändernde Sprache der Werbung bzw. der Medien, sondern arrangiert mittels der digitalen Technologien die Wirklichkeit neu, um ein Surrogat bzw. eine Verdichtung von Wirklichkeit zu erlangen. Dabei entstehen jedoch keine computergenerierten Phantasiewelten, sondern „Gursky reibt sich an der Wirklichkeit und zeigt sie dann in einer Art, wie sie in dieser Zuspitzung nicht existiert – gleichwohl sind die Versatzstücke seiner Bildkonstruktion der Wirklichkeit entnommen“29.

27 Vgl. Koenig 1988b, S. 11, S. 17. 28 Ludwig Windstosser, Börse in Florenz, um 1952. Gelatine-Abzug, 57,5 x 47,8 cm. Manfred Heiting Collection. 29 Weski, Thomas im Gespräch mit Susanne M. Thiesbürger: „So könnte es gewesen sein“. Andreas Gursky sagt: „Wirklichkeit ist überhaupt nur dar-

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Ähnlich stilbildend wie die Becher-Fotografien historischer Industriearchitektur sind mittlerweile jene Aufnahmen Gurskys, die den erhöhten Blick auf ornamenthafte Ansammlungen oder abstrahierende Gebäudestrukturen ins Bild setzen. Während die Bechers Monumente der Arbeitswelt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigen und die Industriekultur als Erbe archivieren, führt uns Gursky die Insignien der Gesellschaft in der zweiten Jahrhunderthälfte vor und archiviert die Erscheinungen einer Massen- und Eventkultur. In Anlehnung an das typologische Verfahren seiner Lehrer erforscht Gursky die Welt systematisch, um sie neu oder anders zu erkennen. In der Tradition der Dokumentarfotografie, der ‚subjektiven Fotografie‘ und der amerikanischen Landschaftsfotografie weist sich bei Gursky die „digitale Bearbeitung mit dem nahtlosen Ineinanderübergehen und dem Konstruieren neuer Perspektiven, dieses Daherkommen in der Gestalt des Dokuments in Verbindung mit den großen Formaten“30 als ein neues Moment in der Fotografiegeschichte aus. Zur gleichen Zeit – Ende der 90er-Jahre und damit dreißig Jahre nach dem Einzug der Fotografie in die europäischen Museen und Sammlungen – beginnt zunächst für die Klassiker der Fotografie eine Preisentwicklung auf dem Markt, die mit den anderen Kunstgattungen vergleichbar ist; die zeitgenössische Fotografie, deren Preise bereits in den 80er-Jahren durch den amerikanischen Markt bestimmt waren, folgt dieser Entwicklung. Das Medium der Fotografie war – auch durch die gestiegene museale Akzeptanz – für zwei Sammlergruppen interessant geworden. So kann bis heute zwischen einem Markt für klassische und einem Markt für zeitgenössische Fotografie unterschieden werden, deren Trennung indirekt auch schon durch die verschiedenen Verkaufsbereiche – Auktionen für Fotografie und der Contemporary Art Sales – gefördert wird. Während die eine Gruppe stärker an den spezifischen und klassischen Eigenschaften des Mediums Fotografie interessiert ist, zielen die anderen Sammler auf ein Medium als Vermittler von Zeitgeist und auf dessen Profit-Potenzial.31 Die zeitge-

zustellen, indem man sie konstruiert.“ In: Das Magazin der Allianz deutscher Designer AGD, Braunschweig. Ausgabe 01/2009, S. 8-10, hier S. 9. 30 Ebd., S. 9. 31 Vgl. Herchenröder, Christian: Art 32 Basel. Fieberschübe in einem gespaltenen Markt. In: NZZ, Sonntag, 5. Juni 2001. Hier nach NZZ Online

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nössische Fotografie ist mitunter zu einer Art „Lifestyle-Trophäe“ avanciert; in den USA ist mit dem Interesse an den Düsseldorfer Fotografen Thomas Struth, Thomas Ruff und Andreas Gursky sogar von einem „‚Struffsky‘-Virus“ die Rede.32 Die Wirkmacht der Werke Gursky liegt u.a. in der großformatigen Umsetzung populärer Motive begründet. Die Sammler fühlen sich angezogen von der „Ikonisierung von Zeitgeist-Sujets wie Popkonzerte und Shoppingwelten“, wobei „der erhabene Blick von oben [...] das profane Thema von seinem alltäglichen Gehalt [entrückt]“.33 Zudem wird das Interesse an den Bildern Gurskys dadurch erzeugt, dass sie Orte abbilden, die aufgrund der globalen Vernetzung und Kommunikation in die kollektive Wahrnehmung vorgedrungen sind und somit zum wiedererkennbaren Bilderfundus gehören. Rachel Stern zitiert einen Kunstkritiker der New York Times: „Genieße den Augenblick, ohne später darüber nachzudenken“, und sie erklärt selbst: „Die Schnelllebigkeit unserer Zeit und das heute vorherrschende Prinzip des augenblicklichen Genusses (instant gratifiction) machen Andreas Gurskys Erfolg möglich“.34 Eine andere Sichtweise will zeigen, dass es gerade die Verführung durch das Schöne ist, die den Bildern gleichzeitig eine unnahbare und distanzierte Wirkung einschreibt: die Totalität des Schönen, die Aufnahme aus der Totalen, die Auflösung alles Spontanen in absichtsvoll Konstruiertem und das Verschwinden des Individuellen in der Masse. Dem Auge bleibt wenig, an das es sich heften, in das es sich einfühlen könnte.35 Dieser Blickwechsel verweist

12.6.2001. Siehe http://www.nzz.ch/2001/06/12/hw/page-article7FPA5. html vom 5.8.2001. 32 Karcher, Eva: Der Struffsky-Effekt oder wie Ikonen gemacht werden. Warum Andreas Gursky, Thomas Ruff und Thomas Struth so viel Erfolg auf dem zeitgenössischen Kunstmarkt haben. In: Süddeutsche Zeitung, Montag, 29.4.2002. Hier in: http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/artikel 146298.php vom 01.05.2002. 33 Ebd. 34 Stern, Rachel: Blick in die Massengesellschaft. In: Aufbau – deutschjüdische Zeitung. Thursday, March 15, 2001, No. 6. Hier nach: http://auf bauonline.com/issue6001/pages6/8html vom 4.8.2001. 35 Vgl. M.L.K.: Andreas Gursky. In: die tageszeitung, 11.5.2001. Hier nach: http://www.taz.de/tpl /2001/05/11.nf/mondeText.Tname,a0014.idx,3 vom 04.08.2001.

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auf die multiple Wirkung der Bilder Gurskys, in der sich Gegenwartskultur widerspiegelt: „dokumentarischer Realismus und digitale Manipulation, moderner Idealismus und postmoderner Skeptizismus, Kunst und Kommerz“36. Die vorliegende Arbeit untersucht die bis 2001 entstandenen Werke. In diesem Zeitraum hat Gursky nicht nur sein fototechnisches Handwerkzeug entwickelt, sondern auch zu einer charakteristischen Bildsprache gefunden. Die Wahl des Sujets und seine Umsetzung haben formale und inhaltliche Kategorien erzeugt, die in den Strukturkategorien konkret benannt und analysiert werden konnten. Ohne ein allzu starres Gefüge zu verabsolutieren oder verschiedene Phasen im Schaffensprozess zu ignorieren, ermöglicht das System formal wie inhaltlich eine Einordnung ebenso der bis heute entstandenen Werke. Im Folgenden sind einige Beispiele benannt: Die Arbeit ‚Monaco‘ von 2004 (307 x 224,5 cm) verbindet die im Werk ‚Sha Tin‘ (1994) beschriebene horizontale Perspektive (Kap. III.1.1.2.) mit dem erhöhten Panoramablick (Kap. III.1.1.5.), wie er bei ‚Singapore I‘ (1997) und ‚Salerno‘ (1990) zu finden ist. ‚James Bond Island I-III‘ (2007, je 307 x 223,3 cm) und ‚Dubai World I-II‘ (2007, je 307 x 223,3 cm) sind wiederum den surrealen Bildwelten (Kap. III.1.1.7) zuzuordnen. Die Arbeit ‚Kuwait Stock Exchange‘ von 2007 (295,1 x 222) erweist sich als Fortsetzung der ‚Börsenbilder‘ (Kap. III.2.1.3.): Die All-over-Struktur ist offensichtlich. Gursky fügt mit seinem neuen geographischen Standort einen kulturellen Standpunkt hinzu und erfasst das globale Netz der kapitalistischen Machtzentren. Bei ‚Mayday V‘ (2006, 324 x 217,9 cm) wird die Architektur als Konstruktion begriffen wie bei ‚Paris, Montparnasse‘ (1993) und bei der ein Jahr später entstandenen Arbeit ‚Hong Kong, Hongkong and Shanghai Bank‘ (Kap. III.2.1.2.). Die Transparenz der Hochhausfassade gibt den Blick auf die einzelnen Etagen und die sich darin bewegende Menschenmasse frei. Gursky erläutert selbst: „Die Westfalenhalle hat nur vier Etagen, auf meinem Bild sind es 18. Ich habe sie vom Kran aus verschiedenen Perspektiven fotografiert und dann am Computer zusammengesetzt. Die Fotos entstanden über einen Zeitraum von fünf

36 Ebd.

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Stunden, die Szenen sind alle real. Ich habe die Zeit komprimiert in einem Bild. So ist das Bild zwar nicht wahr, aber wahrhaftig.“

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Bereits die Hotelarchitektur Portmans ließ der Fotograf zu einer reinen Signatur werden, die das Unverwechselbare des Ortes annulliert und den Raum auf diese Weise universal macht. Auch hier konstruiert Gursky aus „Bausteinen der Realität [...] einen Meeting-Point der Gegenwart, einen Passagenort der Freizeitgesellschaft. Der geschichtsträchtige Ursprungsort löst sich 38

dabei auf zu einer Welt-Architektur ohne besondere Eigenschaften“ .

Seit 1993 findet in der Nacht auf den 1. Mai die zum Kultereignis avancierte Rave-Party ‚Mayday‘ in der 1952 wieder neu erbauten Dortmunder Westfalenhalle statt. Gurskys fiktionale in Licht getauchte Gebäudekonstruktion lässt die ursprüngliche Architektur Walter Höltjes zum Inbegriff, zum visuellen Signum eines globalisierten Events werden.39 Schließlich erfüllen ‚Kamiokande‘ (2007, 228,2 x 367,2 cm) und ‚Beelitz‘ (2007, 307 x 219 cm) die formalen Prinzipien der Strukturfelder (Kap. III.3.1.2.). ‚Kamiokande‘ „führt hinein in einen Raum der Schönheit – doch das Schöne, erfährt man, ist nichts als des Schrecklichen Anfang“40. Der Betrachter versinkt in die unendliche Gleichförmigkeit streng linear angeordneter goldener Kugeln, deren Idealtypus nach Platon die höchste Idee des Schönen verkörpert. Die Möglichkeit der vielfachen technischen Reproduktion trivialisiert jedoch die vollkommene Schönheit. Der einst romantische Blick in die Grotte verkehrt sich nun zu einem Blick in einen Neutrino-Tank, ein Hightech-Laboratorium.41 Auch dieser Ort ist kein spezifischer, sondern lässt sich metaphorisch als „eine ebenso faszinierende wie über-

37 Gursky, Andreas in: Schlüter, Ralf: Reporter des Weltgeistes. In: Art. Das Kunstmagazin, 3, März 2007, S. 36-53, hier S. 51f. 38 Beil 2008, S. 13. 39 Vgl. ebd., S. 12f. 40 Böhme, Gernot: Das intrauterine Paradies. Kamiokande, 2007. In: Beil, Feßel 2008, S. 96-99, hier S. 99. Böhme zitiert damit einen Vers aus Rilkes Duineser Elegien. 41 Vgl. ebd., S. 99.

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mächtige Wissenschaftsarchitektur [lesen], in der der Mensch selbst zum Elementarteilchen wird“42. Mit Arbeiten wie ‚Ohne Titel XIII (Mexiko)‘ von 2002 (Blick über eine Müllhalde; 280 x 207 cm), ‚Nha Trang‘ von 2004 (Blick auf vietnamesische Frauen der Firma Rapexco, die in orangefarbenen T-Shirts Körbe und Stühle für das Unternehmen Ikea flechten; 295,5 x 207 cm), ‚Greeley‘ von 2003 (Blick über eine Massentierzuchtanlage; 221,3 x 285,5 cm) oder ‚Pyongyang I-V‘ von 2007 spart Gursky zeitweilig das Schöne und Verführerische aus und wendet sich sozialkritischen Themen globalen Maßstabs zu. Überdies wählt Gursky Großveranstaltungen als Motive, die zu fotografieren nur mit immer umfangreicherem logistischen Aufwand oder mit höchster politischideologischer Sensibilität möglich sind. Geographische und kulturelle Grenzen müssen für Gursky an Bedeutung verlieren, um die Symbolbilder der Weltgesellschaft ins Werk zu setzen.

2. I NTERMEDIALITÄT : M ALEREI , F OTOGRAFIE UND D IGITALISIERUNG IM D IALOG Der Dialog zwischen Malerei, analoger Fotografie und digitaler Bildbearbeitung im Werk Gurskys leitet einerseits die Diskussion um die technischen Prämissen ein, verändert andererseits aber auch – und dies ist von elementarer Bedeutung – die Möglichkeiten und Weisen der Rezeption. Die Debatte, ob das digitale Bild technisch gesehen noch eine Fotografie ist oder ob die digitale Bildveränderung der klassischen Retusche im analogen Bild entspricht, geht der Frage voran, ob die beiden Bildarten differente Rezeptionsweisen erzeugen. Der letzte Aspekt zielt sowohl auf die eventuell sichtbaren Unterschiede als auch auf vorgefasste Erwartungshaltungen und visuelle Erfahrungen, die der Betrachter an das Bild heranträgt. In diesem Zusammenhang ist zu klären, ob Gursky ähnlich wie in der Malerei „Bilder macht“43, wobei das technische Handwerkszeug eine untergeordnete Rolle spielt, oder ob der mediale Umgang einen noch immer großen Einfluss bzw. einen womöglich gewollten Einfluss auf die Rezeption des fotografischen

42 Beil 2008, S. 14. 43 Äußerung von Urs Stahel im Gespräch mit der Autorin am 12.05.2004 im Museum Winterthur.

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Kunstwerkes ausübt. Die hier genannten Ansätze werden im Folgenden kurz diskutiert, um den Dialog in Gurskys Fotografien – auch im Hinblick auf die Ergebnisse der hier durchgeführten Untersuchung – genauer bestimmen zu können. Karl Prümms Feststellung, dass „die Bilder immer lügen“44, betont erneut die Unmöglichkeit, die Fotografie als „Beglaubigungsinstrument“45 zu betrachten. Mit der Erfindung der Fotografie verbreitete sich die Auffassung, mittels Licht die Realität wahrheitsgetreu abbilden zu können. Dieser Glaube an die exakte Wiedergabe von Wirklichkeit war so resistent, dass mit der Entwicklung des digitalen Bildes „die Krise des dokumentarischen Bildes“46 eingeläutet wurde. Das am Computer generierte Bild besitzt nunmehr keinen durch eine Lichtspur hervorgerufenen analogen Bezug zur Wirklichkeit. Das referenzlose, unbegrenzt veränderbare Bild im Erscheinungsmantel der analogen Fotografie löst beim Betrachter die Sorge aus, dass nun keinem Bild mehr zu trauen sei. Nur schwer vermittelbar ist, dass die Fotografie von Beginn an einen nur vermeintlich dokumentarischen Charakter besaß. So wurden die Möglichkeiten der Bildmanipulation, wie Retusche, Kolorierung oder Montage, bereits früh erprobt und angewandt. Franz Hanfstaengl zeigte 1855 auf der Pariser Weltausstellung, dass er Retuschierungen nicht erst auf dem Abzug seiner Portraitaufnahmen vornahm, sondern bereits am Negativ. Dadurch waren keine unmittelbaren Manipulationsspuren am Bild mehr nachzuweisen, während die Retusche, Kolorierung und Übermalung der Abzüge, die aus Eitelkeit von den Portraitierten gewünscht waren, erkennbar blieben.47 Eine weitere Möglichkeit der Motivmanipulation ergab sich aus der ‚Kombinationsphotographie‘, die es u.a. Gustave Le Gray um 1856 erlaubte, bei seinen Seestücken48 das Problem der unterschiedlichen Belich-

44 Prümm, Karl: Die Bilder lügen immer. Die Digitalisierung und die Krise des dokumentarischen Bildes. Siehe http://userpage.fu-berlin.de/~sybkram/ medium/pruemm.html vom 28.11.2002. Erstveröffentl. in: Medienwissenschaft rezensionen reviews. Heft 3, 1996, S. 264-267. 45 Ebd., o.S. 46 Ebd. 47 Vgl. Newhall 1998, S. 72f. 48 Gustave le Gray, Die große Welle – Sète, 1865. Kombinationskopie auf Albuminpapier. Slg. Paul F. Walter, New York. Als Dauerleihgabe im Museum of Modern Art, New York. Abb. in: Newhall 1998, S. 76.

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tungszeiten für Himmel und Erde zu umgehen. So fertigte er zwei Negative an und kopierte mit Hilfe von Masken die bildwirksamen Bereiche für den Abzug heraus. Oscar G. Rejlander fertigte für die Allegorie „Die zwei Lebenswege“49 (1857) sogar an die dreißig Negative an, welche die unterschiedlichen von Modellen dargestellten Bühnenszenen wiedergaben. Puzzleartig ließen sich dann – wiederum mit Masken – die einzelnen Negative auf das 70 x 40,5 cm große Fotopapier kopieren. Der Fotograf nutzte die Kamera dazu, um die Komposition der bildnerischen Situation skizzenartig festzuhalten.50 Das Bildresultat wurde auf diese Weise – der Bildidee entsprechend – zurechtgelegt. Schon diese wenigen Beispiele zeigen, dass auch die frühesten analogen Bilder schon im technischen Fertigungsprozess nahezu spurlos manipuliert werden konnten, dass sie also von Beginn an „nie mehr [gewesen sind] als ästhetische Transformation von Wirklichkeit, zufällige und subjektive Blicke, die durch eine unendliche Reihe anderer Blicke widerlegt werden“51. Vor diesem Hintergrund lässt sich die digitale Bildbearbeitung seit den 1990er-Jahren zwar als technischer Quantensprung begreifen – in den bildgestaltenden Auswirkungen jedoch nur als Perfektionierung, Vereinfachung und Universalisierung längst bekannter manipulativer Methoden. An dieser Stelle ist es sinnvoll, auf die Begriffe und Bedeutungen von digitaler Fotografie, digitalisierter Fotografie, computergenerierter Fotografie und Post-Fotografie näher einzugehen. Wenn Mitte der 90er-Jahre von einer „Fotografie nach der Fotografie“52 gesprochen wurde, war dies ein Versuch, im Hinblick auf die veränderten technischen Bedingungen, die analoge von der digitalen Fotografie – im

49 Oscar G. Rejlander, Die beiden Lebenswege, 1857. Kombinationskopie auf Albuminpapier. The Royal Photographic Society, Bath, England. Abb. in: Newhall 1998, S. 78. 50 Vgl. Newhall 1998, S. 76f. 51 Prümm 2002 (1996), o.S. Vgl. zum vermeintlichen Wahrheitsgehalt der Fotografie auch Rötzer, Florian: Betrifft: Fotografie. In: Amelunxen, Hubertus v.; Igelhaut, Stefan; Rötzer, Florian (Hrsg.): Fotografie nach der Fotografie. Ein Projekt des Siemens Kulturprogramms. Dresden, Basel 1995, S. 13-25. 52 Amelunxen, Hubertus v.; Igelhaut, Stefan; Rötzer, Florian (Hrsg.): Fotografie nach der Fotografie. Ein Projekt des Siemens Kulturprogramms. Dresden, Basel 1995.

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Sinne einer digitalisierten Fotografie bzw. der digitalen Bearbeitung eines ursprünglich analogen Bildes – zu unterscheiden und die Begriffskonstellation von ‚digital‘ und ‚Fotografie‘ zu überprüfen. Gegenstand der Untersuchung war dabei nicht, einer möglichen Differenz in der künstlerischen und ästhetischen Erscheinung nachzugehen.53 Timothy Druckrey spricht im Zusammenhang mit digitalisierten Bildern von Postfotografien, da das Rechensystem mit dem fotografischen System nicht mehr übereinstimme und der analoge Faden zur Wirklichkeit unterbrochen sei.54 Anette Hüsch geht den Termini noch differenzierter nach: Der Begriff der „Post-Photografie“ sei insofern zutreffend, als er ein neues Medium charakterisiere, welches zwar ursprünglich der analogen Fotografie entstamme, aber im Prozess der digitalen Veränderungen nichts mehr mit den spezifischen Merkmalen von Licht und Trägermaterial zu tun habe. Die digitale Fotografie sei hingegen eine Variante der analogen Fotografie, da mittels einer digitalen Kamera fotografische Bilder erzeugt werden können. Die Umwandlung der gebündelten Lichtstrahlen innerhalb der Kamera in einen digitalen Code bedeute zunächst eine Befreiung vom Film und dessen chemischer Entwicklung.55 Sowohl von den Bildern der klassischen Kamera, als auch von

53 Vgl. Rötzer 1995, S. 13. 54 Vgl. Druckrey, Timothy: From Dada to Digital. In: Metamorphosis. Photography in the Electronic Age. New York 1994, S. 7. 55 Hüsch, Anette: Schrecklich schön. Zum Verhältnis von Körper, Material und Bild in der Post-Photographie. In: Belting, Hans; Schulze, Ulrich (Hrsg.): Beiträge zur Kunst und Medientheorie. Projekte und Forschungen an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. 1. Aufl. Ostfildern bei Stuttgart 2000, S. 33-45. Sowohl bei der chemischen als auch bei der elektronischen Fotografie wird mittels lichtempfindlicher Sensoren ein Bild von etwas erzeugt. Für die klassische analoge Kamera wird dafür der Silberhalogenid-Film benutzt, während für die digitale Kamera ein CCD-Chip (Charge Coupled Device) zur Verfügung steht. Der Film vereint dabei Sensor und Speicher, während im elektronischen Medium Sensor und Speicher voneinander getrennt sind. Bei beiden Techniken verändern die einfallenden Lichtstrahlen die Sensorschicht. Beim analogen Verfahren muss der belichtete Film erst den Prozess der chemischen Entwicklung durchlaufen, damit ein dauerhaftes Bild entstehen kann. Im Chip hingegen werden die Signale der Elektronen sofort ‚ausgelesen‘ und in Bildinforma-

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jenen der digitalen Kamera können Abzüge hergestellt werden, die davon zeugen, dass zum Zeitpunkt der Aufnahme etwas vor dem Objektiv ‚da gewesen‘ ist. Beiden Bildarten wäre damit gleichermaßen zu trauen bzw. im Hinblick auf den nur vermeintlich dokumentarischen Charakter eben nicht zu trauen. Erst die Digitalisierung des analogen Bildes und die Bereitstellung der Daten am Computer oder die Überführung der Chip-Daten ins selbe Medium erlauben den digitalen Eingriff in das gespeicherte Bild. Solche bildnerischen Eingriffe, ob visuell sichtbar oder nicht, verändern das ursprüngliche Abbild und durchtrennen die Verbindung zum ursprünglich ‚Dagewesenen‘. Andreas Müller-Pohle sieht in diesem Fall die Fotografie nur noch im Dienst von computergesteuerten Bildprozessen; sie sei dadurch nicht mehr autark, sondern enthalte gleichsam als zu bearbeitendes Rohmaterial eine „produktiv orientierte ›generative‹ […] Tendenz“56. In diesem Fall müsse dann, so auch Hüsch, von einer Post-Fotografie gesprochen werden. Das gänzlich am Computer generierte Bild unterscheide sich wiederum von der Post-Fotografie dadurch, dass ihr ursprüngliches Bild keiner Kameraaufnahme entspringt, sondern unmittelbar am Computer künstlich aufgebaut wird. Der Übergang allerdings sei dann fließend, wenn bei der Post-Fotografie jeder einzelne Pixel bearbeitet und somit das Kamerabild völlig irrelevant wird.

tionen umgewandelt. Auf dem Chip (Bildwandler) bzw. auf dem lichtempfindlichen Silizium-Substrat-Plättchen befinden sich hunderttausende [mittlerweile bis zu 16 Mio., Anm. d. Verf.] von Pixeln (Picture Elements). Diese Pixel vereinen sowohl die lichtempfindlichen Elemente als auch die Speicherelemente. Je mehr Pixel auf einem Chip sind, desto mehr Bildpunkte existieren nach der Belichtung und umso größer ist die spätere Auflösung. Trifft nun Licht auf die Sensoren, so werden Elektronen freigesetzt und mittels positiv geladener Elektroden auf der Siliziumkristalloberfläche gespeichert. Die elektronische Bildinformation auf dem Chip wird schließlich auf ein Speichermedium (Video-Floppy-Disc, Digital Memory Card) übertragen und kann dann am Bildschirm in ein sichtbares Bild umgewandelt werden. Vgl. ausführlich Henninges, Heiner: Die neue Enzyklopädie der Fotografie. Augsburg 1994, S. 185ff. 56 Müller-Pohle, Andreas: Die fotografische Dimension. Zeitgenössische Strategien in der Kunst. In: Kunstforum International, Bd. 129, Januar/April 1995, S. 75-99, hier S. 78.

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Glüher diskutiert die mit der Digitalisierung einhergehende Veränderung der Fotografie in Bezug auf Entstehungsprozess und Erscheinungsbild. Er erklärt, dass „Parameter wie Authentizität, Reproduzierbarkeit, Dokument, Referenz und Rezeptionsmodi in neue Dimensionen vorstoßen bzw. gänzlich ihre Basis verlieren“57. Das digitalisierte Bild sei ein vollständig neues Medium, das im Gewand der Fotografie und unter Ausnutzung ihrer Rezeptionsstrategien das fotografische System nur vortäusche. Technisch gesehen beschreibe das digitale Bild einen komplexen mathematischen Prozess, der nichts mehr mit der analogen Fotografie zu tun habe. Diese besitze stets eine Referenz auf etwas, einen reproduzierenden Bezugsfaden – das generierte Bild, das die Daten von einer Magnetoberfläche beziehe, hingegen nicht.58 „Digitale Bilder sind keine ‚Bilder‘ im Sinne des Tafelbildes, sondern Modelle von Rechnerprogrammen. Eine dringend erforderliche Theoriebildung des digitalen Bildes muß notwendigerweise auf diesen Umstand aufbauen, wenn ihre Diskurse nicht den Leerlauf der ewigen Wiederholung riskieren wollen.“

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Diese von Glüher beschriebene absolute Unbestimmbarkeit von Authentizität, Dokument und Referenz in der Betrachtung des digitalen Bildes ist bei Andreas Gursky mit den klassischen Bildparametern Format, Standpunkt und Sujet so kombiniert, dass von einer gänzlich neuen Bildwirkung in der Fotografie gesprochen werden kann. Diese sei auch, so Peter Weibel, an der extensiven „soziale[n] Zustimmung“ ablesbar, die Gurskys Kunst allerorten erfahre und die belegt, dass etwas Neues und Ungewöhnliches „über unser Verhältnis zur Welt, das heißt auch über unser Verhältnis zu Maschinen und zur Natur“ zum Ausdruck gebracht wird.60

57 Glüher, Gerhard: Von der Theorie der Fotografie zur Theorie des digitalen Bildes. In: Kritische Berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften. Hrsg. v. Christoph Danelzik-Brüggemann u.a. Heft 2, Jg. 26, 1998, S. 23-31, hier S. 24. 58 Vgl. Glüher 1998, S. 25. 59 Ebd. 60 Peter Weibel führt dies im Zusammenhang mit den neuen Medien an. Vgl. „Die Evolution frisst ihre Kinder.“ Ein Interview mit Peter Weibel. Geführt von Manfred Matheis, Leif Scheuermann und Siegfried Reusch. In:

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Im Laufe der Jahre, in denen Gursky künstlerische Fotografie betreibt bzw. mit digitalen Techniken Bilder erzeugt, hat die Wirklichkeit, das im Sinne Roland Barthes „Dagewesene“, für die Werke zunehmend an ‚Referenzstrenge‘ verloren – bis hin zur kalkulierten vollständigen Verschleierung oder Negation. In der ersten Hälfte der 90erJahre nutzte Gursky den Computer zunächst nur, um störende Bildelemente zu retuschieren, Farben zu verändern oder zwei Aufnahmen aneinander zu fügen. Es ging in erster Linie darum, Bilder zu verwirklichen, die bis zu einem gewissen Grade auch in der Wirklichkeit vorfindbar waren, bzw. gefundene Bilder einer inneren Vorstellung anzupassen oder um bestimmte Bildinhalte zu exponieren.61 Fotografisch-technische Mittel wurden also vorwiegend eingesetzt, „um formale Komponenten bildwirksam zu verstärken oder perspektivisch nicht zu lösende Bildideen künstlich umzusetzen“62. Spätere Werke Gurskys zeigen jedoch zunehmend Sujets, die so grundlegend digital verändert, bearbeitet oder kombiniert wurden, dass sie als Referenzsystem für unsere Lebenswelt unbrauchbar sind – da sich mit der heutigen Digitalisierungstechnik nahezu unbegrenzte Möglichkeiten der Bildfindung und -manipulation eröffnen, die, wie es Florian Rötzer auch dem im Computer gespeicherten Text attestiert, dem Grenzbereich zwischen „Wirklichkeit“ und „Möglichkeit“63 angehören. Das kreative Potenzial vervielfältigt Assoziationen und Bildfindungen, die es im Sinne einer analogen Aufnahme aus der Wirklichkeit nicht gegeben hat. Vor diesem Hintergrund gehen die Instrumente der digitalen Bildfindung auch über einen erweiterten Handwerksbegriff hinaus, da sich eine neue Bildästhetik entwickelt hat, die einen völlig neuartigen Umgang mit fotografischen Bildern begründet. Es kann von einem neuen Bildmedium gesprochen werden, das bei Gursky in Zwischenstufen zur Ästhetik der analogen Aufnahme zu betrachten ist. Diese Position ist bedeutsam, denn

Der blaue Reiter. Journal für Philosophie. Nr. 13 (1/01). Stuttgart 2001, S. 68-72, hier S. 69. 61 Vgl. Bradley 1995a, S. 12. 62 Gursky, Andreas in: Görner 1998, S. IV. 63 Rötzer, Florian (Hrsg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. 1. Aufl. 1991. Neue Folge Band 599, Frankfurt am Main 1996, S. 23.

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„Gurskys Bilder erinnern stark an Fotografien. Das macht ihren Reiz aus. Aber der Begriff der Fotografie gerät hier an seine Grenzen. Es handelt sich um Datensätze, deren Visualisierung auf ein Spiel mit gesellschaftlichen Erwartungen an Hochtechnologie, Kollektivität und Schönheit ausgerichtet ist.“

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Doch wie wird die neue Bildästhetik rezipiert? Gursky geht es in diesen Arbeiten nicht mehr um die Frage der künstlerischen Technik, sondern um die Potenzierung und Konzentration der Bildsemantik. Spätestens an diesem Punkt verlässt Gursky durch den manipulativen Eingriff die Grenzen dessen, was seit 150 Jahren traditionell als Fotografie gegolten hat und rezipiert wurde. Exemplarisch zeigen dies die Aufnahmen ‚Prada‘ und ‚o.T. V‘ bzw. ‚o.T. IX‘, die als digitale Konstrukte auf eine entgrenzte Konsumvielfalt und zugleich auf den illusorischen Individualitätsgewinn durch Modeprodukte hinweisen.65 „Der Einsatz der Digitalisierung entlarvt also die Konsumwelt als ein virtuelles Spektakel, und durch die am Computer hergestellte Radikalisierung der Bildstruktur unterstreicht Gursky die Theatralik einer letztlich tragikomischen Situation.“

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Dabei kann der Fotograf auf eine vom Betrachter bereits in den Alltagsmedien gelernte digitale Bildsprache rekurrieren. Die Bekanntheit und Vertrautheit der Bildsprache in den Werken Gurskys, besonders in ‚Prada‘ und dem Sportschuhbild ‚o.T. V‘, resultiert aus der Korrespondenz mit einem notorischen Referenzpunkt im Alltag: dem Formenkanon der Werbung. Denn sowohl im Werbebild als auch in der realen Präsentation der Produkte spielt dort die Ästhetik, die zum Kauf animieren soll, die entscheidende Rolle.67 Die allgegenwärtigen Macht und Autorität des Fernsehens verleiht dem Werbeversprechen immer wieder höchste Glaubwürdigkeit, auch wenn die Erfahrung oftmals das Gegenteil beweist. Dass der Konsument, obwohl er diese Mechanismen rational durchschaut hat, dennoch nicht gegen sie immunisiert ist, wird durch den fortwährenden Erfolg der Werbekonzepte belegt – und

64 Holert 2002, o.S. 65 Vgl. Syring 1998a, S. 6. Vgl. auch Gursky, Andreas in: Jocks 1999, S. 261f. 66 Syring 1998a, S. 6. 67 Vgl. Pfab 1998, S. 9f.

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wohl auch durch die Popularität Gurskys: Die Bildwirkung beruht weitgehend auf dem ebenso resistenten wie trügerischen Vertrauen des Betrachters in die Fotografie als dokumentierendes Abbild – trotz des eigentlichen Wissens um die ‚Lüge‘. „[...] [D]as Medium oder die Eigenschaften eines Mediums [...] [hat] bestimmte Kommunikationsgemeinschaften und [...] bestimmte Wahrheitsgehalte [konstruiert]“68, die sich in der kollektiven Rezeptionshaltung festgesetzt haben. So entsprechen Gurskys Fotografien einerseits den gewohnten Wahrnehmungsweisen und -haltungen, so dass sich der Betrachter auf vertrautem visuellen Terrain bewegt. In der musealen Präsentation wird dem Betrachter jedoch eine intensive Reflexion ermöglicht, die ihm die flüchtige Bilderflut im Fernsehen oder am Computer nicht gestattet. Er ist in der Lage, mögliche Bildmanipulationen eigenständig aufzudecken oder sich dem Reiz der Ästhetik bewusst hinzugeben – und in der Zusammenschau beides als Träger einer übergeordneten Bildsemantik zu erfahren. Das ‚bild-sprachliche Vertrauen‘ des Betrachters wird also zum Vehikel für Gurskys Botschaft. Dem Rezipienten wird etwas − im Wortsinne − vor Augen geführt, was im Idealfall eine (selbst-)kritische Reflexion über die Bildinhalte initiiert: Wie ‚Prada‘ hält auch ‚99 Cent‘ einer hypervisualisierten Konsumgesellschaft den Spiegel vor. Die auf jedem Produktsektor feilgebotene Vielfalt versucht darüber hinwegzutäuschen, in welch hoher Abhängigkeit sich der einzelne Konsument zu dieser Vielfalt befindet.69

68 Weibel 2001, S. 71. 69 Vgl. dazu Syring 1998a, S. 5. Andreas Berndt bespricht Gurskys Bilder ebenfalls im Zusammenhang mit einer Gesellschaft, die durch medial und digital manipulierte Bilder geprägt ist. Berndt ist der Ansicht, dass die Arbeiten nicht an der Ästhetik der Bildmedien orientiert sind, sondern als fotografisches Medium mit der Nähe zur sichtbaren Wirklichkeit das Alltägliche widerspiegeln. Gursky misstraue den oberflächlichen, oftmals virtuellen Bildern – seine Arbeiten seien „zeitlose Bilder des Innehaltens, der Ruhe, die uns das Banale neu entdecken lassen und zum intensiven Betrachten auffordern“. Berndt 1997, S. 128. Zu dieser Überlegung werden Arbeiten wie ‚Sha Tin‘ (1994), ‚Hong Kong, Flughafen‘ (1994) und ‚Osaka‘ (1990) herangezogen. Im Hinblick auf diese Bilder stimme ich Berndt zu, vor allem insofern, als ich diese Bilder der ersten Abstraktionskategorie und damit der Panorama-Sichtweise zuordne. Für die nach 1997 entstandenen Konzertbilder, Börsenbilder und Hotelfoyers trifft Berndts Überle-

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Gurskys Bilder entspringen also der Ästhetik einer bilderüberfluteten Gesellschaft, die sich „[...] die Wirklichkeit immer weniger über direkte Erfahrungen als sekundär über Medien [erschließt]. Speziell im Fall der Bildschirmmedien verdichtet sie sich zu einem reproduzierten und transformierten Realitätsbild aus zweiter Hand, und Eigentätigkeit wird zugunsten konsumierender Aneignung er70

setzt.“

Wenn Gursky in seiner künstlerischen Arbeit diese Bildästhetik aufgreift, spricht dies für eine bewusste Funktionalisierung und Bedienung sozialer und kultureller Wahrnehmungsmuster. Einer fundamental visuell bestimmten Gesellschaft wird mittels der Kunst eine Ästhetik vor Augen geführt, die laut Odo Marquard durch die Modernität der Welt bedingt wird: „je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher wird das Ästhetische.“71 Rötzer erläutert: „Kunst [...] soll die fatalistisch hinzunehmenden Realitätsverluste moderner Wirklichkeit durch Realitätsgewinne auf ästhetischer Ebene wieder ausgleichen. Versöhnung durch Ersatzbefriedigung, die das Unbehagen durch Amüsement entschärft.“

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Vor diesem Hintergrund führt die mediale Vermittlung von Ereignissen zu einer Wirklichkeit zweiter Ordnung. Gursky macht diese Wirklichkeit in seinen Bildern der zweiten Strukturkategorie sichtbar, indem er Realität nicht nur fotografisch verdichtet, sondern in einigen Fällen auch konstruiert. Gurskys Bilder unterscheiden sich also von der alltäglichen Bilderflut, da sie als sogenannte ‚gültige Bilder‘ selektiert und im Sinne der künstlerischen Idee zu besonderen Bildern, eben zu ‚Kunstwerken‘, erhoben wurden. Spezifische Merkmale unserer

gung jedoch nicht mehr zu. Diese Aufnahmen sind zeitspezifisch, spiegeln das postmoderne Leben in Räumen wider und artikulieren eine durch die neuen Medien beeinflusste Bildsprache. 70 Berndt 1997, S. 127. 71 Marquard, Odo: Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen. Paderborn, München, Wien, Zürich 1989, S. 9. Angeführt von Rötzer 1996, S. 10. 72 Rötzer 1996, S. 10

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Wirklichkeit werden freigelegt, dergestalt dass sich oftmals eine Stilisierung einstellt bzw. fiktive Strukturen die eigentliche Realität überlagern. Besonders deutlich wird dies an den Hotelaufnahmen, an einer konstruierten Perspektive, die mit dem Originalschauplatz nicht deckungsgleich ist.73 Gurskys digitale Bildbearbeitung als bloßen Akt „gestalterischer Klärung“74 zu banalisieren, hängt mit der irrigen Auffassung zusammen, dass sie nichts mit der Erschaffung oder Aufdeckung von neuen in der Realität nicht sichtbaren Bildern zu tun hätten, dass in seinen Bildern nichts Grundsätzliches simuliert werde.75 Einige Arbeiten wie z.B. ‚Chicago Board of Trade II‘ (1999) korrespondieren jedoch nur bei oberflächlicher Betrachtung mit lebensweltlich-analoger Erfahrung. Die strenge Analyse zeigt elementar manipulierte Bildinhalte – mithin Räume, deren Konstruktionen und Inhalte sich als irreal und irrational erweisen. Überdies zeigen die Arbeiten Gurskys, dass „das abstrakte Foto heute Denkbild und tiefergehende Analyse dessen sein kann, was wir aus dem zunehmenden Bildervorrat oftmals und unbewusst mit Wirklichkeit verwechseln“76 Anders formuliert: Die Bilder Gurskys betreiben modellhafte Entlarvung und Analyse bzw. ein prototypisches „Vor-Augen-Führen“ der Differenz von Schein und Wirklichkeit im Alltag. Eine ihrer Funktionen ist es, diesen Irrtum durch die ostentative Auflösung dieser Differenz experimentell zu veranschaulichen. In der Rezeption stellt sich das Bewusstsein des Betrachters für manipulative Phänomene oftmals erst in einem zweiten Schritt ein, so dass die Wirklichkeit der Bilder in ihrer Konstruktion und Simulation häufig mit der lebensweltlichen Wirklichkeit verschmilzt.77 So verweist Riedel darauf, dass das Wissen bzw. die Kenntnis um photographische Aussagen von einem übergeordneten „Glaubenssystem“ bestimmt wird: Die Aneignung von Wissen beruhe oftmals darauf, dass bestimmten Medien oder Personen Glauben geschenkt wird – dass sie für wahr gehalten werden –, ohne dass eine weiterreichende Verifika-

73 Vgl. Görner, Veit in: Görner 1998, S. VI. 74 Gronert 1999, S. 17. 75 Vgl. ebd. 76 Kellein 2000, S. 8. 77 Vgl. Nowotny, Helga: Das Sichtbare und das Unsichtbare: Die Zeitdimension in den Medien. In: Sandbothe 1994, S. 14-35, hier S. 22.

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tion das Sachverhaltes stattfindet.78 Dieses ‚Für-wahr-Halten‘ als psychische Prädisposition des Rezipienten ist für die Wirkung von Gurskys Bildern höchst bedeutsam: Obwohl der Betrachter weiß, dass er es mit einem künstlerischen Bild zu tun hat, berufen sich Titel wie ‚Tote Hosen‘ ‚Bundestag‘ oder ‚Börse Tokyo‘ auf einen Realitätsbezug, der bereits durch das Medium Fernsehen bestätigt scheint. Dieses Vertrauen in das Bild vernetzt sich mit dem Wissen um den Einsatz der digitalen Bildbearbeitung bzw. mit der stets vermuteten, aber oft nicht erkennbaren digitalen Veränderung bei Gursky. Es ist also gerade die als nur angeblich „weiteres Handwerkzeug“ eingesetzte Methode der digitalen Bearbeitung, die uns als ‚bloßes Bild‘ die Medienwelt kritisch vor Augen führt. Diese Interpretation wird dadurch gestützt, dass Gurskys Bildideen vielfach durch mediale Bilder inspiriert sind. Gursky selbst hat seine Motive wie den Bundestag oder die Börse in Tokyo im Fernsehen bzw. in der Zeitung gesehen und daraufhin beschlossen, diesen konkreten Ort nach seiner künstlerischen Vorstellung fotografisch ins Werk zu setzen.79 Gursky bezieht bewusst den Umstand ein, dass die Gesellschaft einerseits gewohnt ist, täglich von unzähligen Bildern in schnellen Rhythmen überflutet zu werden und andererseits in der Lage bzw. durch die Reizüberflutung gezwungen ist, nach Interessensschwerpunkten bzw. nach der Eindringlichkeit und Präsenz bestimmter Bilder zu selektieren.80 Dabei findet zumeist jedoch keine direkte Auseinandersetzung mit den Inhalten dieser Bilder statt, sondern es stellt sich vielmehr ein Erinnerungserlebnis ein, wenn eine neue Situation genau diese Inhalte abruft. Gurskys Bilder erzeugen aber nicht nur dieses Erinnerungserlebnis; seine Arbeitsweise ist stilistisch an eine Gesellschaft adressiert, die inzwischen eine elementare Prägung durch modernste Technologien in Bereichen des Bildes, der Information und der Unterhaltung erfahren hat.81 Der museale Kontext der Bildrezeption prädestiniert überdies – allerdings, wie dargestellt, erst im zweiten Schritt – für eine analytische Besichtigung der Bildinhalte.

78 Riedel 2002, S. 106f. 79 Vgl. Galassi 2001, S. 28. 80 Vgl. Rötzer 1996, S. 33. 81 Vgl. ebd., S. 9.

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So gibt es Aufnahmen, die gar nicht bzw. nur minimal digital bearbeitet sind. In einer anderen Bildkategorie sind Veränderungen vorgenommen, die der Betrachter auf den ersten Blick nicht identifizieren kann. Erst nach längerer Betrachtung treten Irritationen und Unstimmigkeiten auf, die schließlich davon zeugen, dass eine fiktive Bildkonstruktion vorliegt. Und dennoch kann sich auch der akribischste Betrachter niemals über den Grad der Bildmanipulation sicher sein – oder darüber, ob überhaupt digital manipuliert wurde. Vor diesem Hintergrund emanzipiert sich Gurskys Fotografie also zu einem Medium, das nicht mehr analog gelesen werden kann, weil bildimmanent nicht mehr entscheidbar ist – nicht einmal anhand von Erläuterungen Gurskys –, ob es der Fantasie ihres Schöpfers entspringt und die Welt nur konjunktivisch zeigt: wie sie sein könnte. Es geht also nicht nur darum, mit den digitalen Möglichkeiten Bilder zu erzeugen, die den analog produzierten ähnlich bzw. mit diesen verwechselbar sind, sondern es sind auch eigenständige Bilder mit eigener Ästhetik anvisiert, unabhängig von einer eventuellen Beweisführung. Lambert Wiesing spricht im Zusammenhang mit diesen Bildbesonderheiten von einer „Verstärkung der Imagination“82, von einer Unterstützung der Vorstellungskraft. Die digitale Fotografie erfährt demnach ihre Wirkung aus der Interaktion von „Bildschaffung“ (u.a. der visuellen Umsetzung von Reaktionen auf die Umwelt) und „Betrachterwirkung“.83 Gursky nutzt diese Strategien, um neue bildimmanente Bedeutungsebenen zu erzielen. Die Wirkung einer Arbeit auf den Betrachter resultiert aus den vom Künstler ins Bild gelegten Phänomenen, wird jedoch zugleich um die variante Lesefertigkeit und Wahrnehmung des Betrachters erweitert. Das ‚bloße‘ Abbild einer fotografierten Welt tritt zugunsten einer visuell interpretierten Vorstellung des Künstlers84 und zugunsten der visuellen und kulturellen Prädisposition des Betrachters in den Hintergrund. Die Inszenierung bzw. das All-over von ‚o.T. V‘ kann z.B. „die Fetischisierung unserer Warenwelt auf den Punkt […] bringen“85, während das in der Realität vorgefundene Schuhensemble diese Bildwirkung nicht – oder nicht in der gewünschten drastischen Weise – erzielen konnte.

82 Wiesing, Lambert: Phänomene im Bild. München 2000, 9ff. 83 Pfab 1998, S. 10. 84 Vgl. ebd. 85 Gursky, Andreas in: Görner 1998, S. IV.

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Die Analyse der ‚Prada-Reihe‘ zeigt auch, dass das für frühe Arbeiten Gurskys von Zedenek Felix und Saskia Bos festgehaltene Charakteristikum − das Fehlen von motivischen Inszenierungen in Form von Modellen86 − nicht mehr gilt. Dies ist auch dann der Fall, wenn Gursky seine Arbeiten wie in ‚Chicago Board of Trade II‘ oder ‚Bundestag‘ aus digitalen Versatzstücken konstruiert bzw. im Prozess der Bildfindung neue Bilder aus diversen fotografischen Puzzleteilen manuell kreiert.87 Die Inszenierung findet hier zwar nicht vor der Kamera statt, dennoch führt Gursky Regie, wenn er seine Bildideen künstlerisch ins Werk setzt. So kann im Werkabschnitt der späten 90er-Jahre auch von einer Methode des Experimentierens u.a. im Bereich der neuen Medien gesprochen werden.88 Inwiefern sind nun die Rezeption und Deutung der Bilder durch das Wissen um ihre mögliche digitale Veränderung beeinflusst? Ist für die Lesbarkeit eines Bildes die Frage relevant, ob überhaupt und in welchem Grad ein digitaler Eingriff erfolgt ist, ob es sich noch um digitale Kosmetik, schon um Manipulation oder gar um Generierung handelt? In zahlreichen Publikationen wie auch in der kunstwissenschaftlichen und populären Debatte über das Phänomen Gursky widmet man sich immer wieder akribisch der Aufdeckung von digital veränderten Bildeinheiten – meist durch einen direkten Vergleich der Gursky-Bilder mit den realen Schauplätzen der Aufnahme. Die Resultate müssen unvollständig und zweifelhaft bleiben, zumal es die wissenschaftliche Exaktheit verbietet, sich bei der Indiziensuche auf Hinweise von Gursky selbst zu berufen. Vielmehr stellt sich die Frage nach dem kunsthistorischen Erkenntniswert solcher Gegenüberstellungen von Realmotiv und Bildmotiv. Bestenfalls sind Aufschlüsse über Gurskys technische Finessen zu erwarten, für die Interpretation eines Bildes bedeuten sie schlichtweg nichts. Wer sich zu sehr mit der Suche nach Differenzen zwischen wirklichen und abgebildeten Motivkomponenten beschäftigt, verliert das eigentliche Bild aus den Augen. Dass die motivische Au-

86 Vgl. Felix, Zdenek; Bos, Saskia: Vorwort. In: Felix 1994, o. S. 87 Diesen Hinweis zur Technik gab Franziska von Hasselbach im Galeriegespräch vom 28.02.03. 88 Dieser Ansatz wurde zu Beginn der 90er-Jahre im Hinblick auf die zwischen 1984 und 1994 entstandenen Werke noch verneint. Vgl. Felix, Bos 1994, o.S.

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thentizität nicht erschließbar ist, erzeugt die Bedeutungsoffenheit, die jede Kunst intellektuell und emotional fruchtbar macht. Die Faszination von Gurskys Werken entspringt ja insbesondere dem ostentativen Mysterium, dem sich der Betrachter im Zusammenhang mit der Reflexion über Wirklichkeit und Weltvarianz nicht entziehen kann – und soll. Die Sinnstiftung vollzieht sich in Gurskys Inszenierung von Unklarheit. Das Geheimnis zu lüften – was ohnehin nicht vollständig gelingen kann –, hieße, den Zaubertrick zu verraten. Das Bild als ganzes wird, zugunsten sezierter Bildkomponenten, profan. Dies zeigt sich u.a. am Beispiel der Arbeit ‚Hamm, Bergwerk Ost‘ (250 x 183 cm) von 2008, deren Entstehung – für die Ausstellung ‚Andreas Gursky. Werke 80-08‘ im Kunstmuseum Krefeld – durch Jan Schmidt-Garre filmisch dokumentiert ist.89 Ein Jahr vor Ausstellungseröffnung begann Gursky für seine Bildvorstellung die Waschkaue90 eines Bergwerks zu suchen – er war von einer Aufnahme in den Medien inspiriert worden – und wurde fündig im Bergwerk Ost in Hamm. Die ursprüngliche Aufnahme der als bildwirksam eingestuften Schwarzkaue zeigt einen Ausschnitt der Deckenkonstruktion, an der die Körbe mit der Arbeitskleidung der Bergmänner sicher hängen. Mithilfe einer Kette kann jeder seinen persönlichen Korb herunterlassen. Da es nicht im Sinne von Gurskys Bildidee war, den architektonischen Raum der Kaue oder einige hängende Kleidungsstücke zu zeigen, musste sich der Fotograf vom authentischen Motiv entfernen und das Bild digital verändern, um eine verdichtete Wirklichkeitsversion – den Eindruck von unendlich vielen Kleidern – zu erzeugen. Dafür scannte Gursky mehrere analoge Dias91 exakt desselben Motivs, aber mit jeweils veränderten Belichtungsparametern. Um die zahlenmäßige Dichte der Kleidungsstücke und damit auch den Raum zu vergrößern, fertigte Gursky in der Schwarzkaue sechs Monate vor Ausstellungsbe-

89 Arte zeigte den Film ‚Andreas Gursky. Das globale Foto‘ von 2009 am 30.08.2010 von 23:10 - 00:05. 90 In der sogenannten Waschkaue wechseln die Bergwerksleute ihre Kleidung. Im Bereich der Weißkaue verbleibt die private Kleidung, während in der Schwarzkaue die Arbeitskleidung hängt. Den Hinweg bzw. den Rückweg über die Duschen beschreiten die Arbeiter ohne Kleidung. 91 Andreas Gursky arbeitet inzwischen parallel mit analogen und digitalen Kameras wie der Hasselblad-Digitalkamera mit über 30 Millionen Pixeln. Vgl. Schlüter 2007, S. 51.

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ginn zusätzliche Nahaufnahmen einzelner Kleidungsstücke an. Aus diesen Elementen konstruierten Gursky und sein Bildbearbeiter am Rechner ein neues fotografisches Bild. Mit dem digitalen Stift wurden Kleidungstücke hinzugefügt, störende Elemente retuschiert und Kontrast, Helligkeit und Farbe arrangiert, so dass die Kleidung im Bild dicht an dicht hängt, die räumliche Flucht aufgehoben ist und die gespannten Zugketten wie Perlen oder Tropfen herabzuhängen scheinen. Eine im Originaldia sichtbarer Arbeiter inspirierte Gursky dazu, weitere „Statisten“ im unteren Bildbereich einzufügen. Dafür fotografiert er erneut einige Arbeiter, die sich zufällig auf dem Gelände seines Ateliers aufhielten. Diese wurden später in den Bildhintergrund eingefügt. Aus einer im Zeitalter der Hochtechnologie anachronistisch gewordenen Schwarzkaue macht Gursky ein Symbolbild für den Niedergang einer bis ins Hochmittelalter zurückreichenden Industriekultur. Im September 2010 fiel auch das Bergwerk Ost in Hamm endgültig dem Kostendruck der globalen Konkurrenz zum Opfer und wurde stillgelegt. Die Dokumentation von Schmidt-Garre zeigt eingängig, wie Gursky durch die Kombination von fotografierten Wirklichkeitsfragmenten das Bild seiner Vorstellung digital konstruiert. Die einzelnen Etappen der künstlerischen Produktion werden offengelegt, und es wird deutlich, dass der Künstler inzwischen nicht mehr allein an der Bildgenese beteiligt ist. Ein so dezidierter Einblick in den digitalen Produktions- und Konstruktionsprozess, dessen Resultate wir als die bildgewaltigen Kunstwerke Gurskys kennen, ernüchtert: das Hineinkopieren von Bildkomponenten vollzieht sich mit der Bildbearbeitungssoftware wie von selbst. Der Akt der Bilderzeugung wird profan, das Wissen darum nimmt dem Werk einen Teil seiner künstlerischen Würde. Wenn die digitalen Eingriffe nur mittelbar oder überhaupt nicht zu erkennen sind, dann bleibt es von wesentlichem Interesse, dass Gursky einen Bildtyp entwickelt, der sich aus analogen und digitalen Komponenten zusammensetzt, die mediale Bilderflut verarbeitet und Kompositionsprinzipien aus der Gattung der Malerei aufgreift bzw. aus dem kollektiven Bildgedächtnis schöpft. Nicht nur die traditionelle Landschaftsmalerei, sondern auch die abstrakte und fotorealistische Malerei haben indirekt oder direkt Spuren hinterlassen. Sowohl der Künstler selbst als auch der Betrachter schöpfen aus dem Bildreservoir des kollektiven (Un-)Bewusstseins, das die bildnerische Gestaltung und/oder

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den Blick auf das Kunstwerk beeinflusst. Die Malerei ist somit in ein nicht-malerisches Medium überführt worden.92 Auf diesem Weg löst sich das erinnerte Bild vom Medium der Malerei und liefert letztlich Möglichkeiten der Gestaltung, die zur Deutung des tatsächlichen Bildes beitragen. Die Korrespondenz mit bildnerischen Überlieferungen der Malerei zeugt aber auch davon, dass den Künstlern daran gelegen ist, sich in die kunsthistorische Tradition einzugliedern. Die Malerei hat bereits die verschiedensten Möglichkeiten entwickelt und ausgelotet, um Wirklichkeit gegenständlich und ungegenständlich zu reflektieren. Diese Gestaltweisen müssen von der Fotografie also nicht mehr neu erfunden werden, können aber zitiert und erweitert werden. Bei Gursky vermischen sich die traditionellen Bilder auch mit aktuellen Bildformen und -inhalten. Zu den Erinnerungsbildern zählen dann auch jene Bilder, die über das Fernsehen, das Internet, als Reproduktionen etc. aufgenommen wurden. Die Bilderflut, durch die Globalisierung der Medien nahezu unbegrenzt erweitert, bricht den historischen Kanon auf.93 Einen mit der Malerei formal gleichwertigen Status erreicht die Fotografie in den 80er-Jahren, als die Abzüge die Größe von Tafelbildern annahmen und gerahmt präsentiert wurden. Mit dem Einsatz der digitalen Technik, mit der Möglichkeit, Pixel für Pixel per Mausklick zu verändern oder Neues hinzuzufügen, wird die Fotografie von allem Zufälligen befreit und erhält eine handwerkliche Komponente, mit der sich die Fotorealität konstruieren lässt. Die digital bearbeitete Fotografie ist dann „Malerei mit anderen Mitteln, ist ‚Malerei ohne Malerei‘“94.

92 Vgl. Schmidt, Hans-Werner: Malerei als Form des Denkens. In: Luckow, Dirk; Schmidt, Hans-Werner (Hrsg.): Malerei ohne Malerei. Ausst.-Kat. Museum der bildenden Künste Leipzig. Leipzig 2002, S. 6. 93 Vgl. Luckow, Dirk: Malerei ohne Malerei. Über das Fortleben der Malerei in anderen Kunstformen. In: Luckow, Schmidt 2002, S. 7-13, S.7f. Vgl. auch Schwartz, Ineke: Neue Kunstformen, alte Perspektiven – eine malerische Sicht. In: Luckow, Schmidt 2002, S. 14-15. 94 Lehmann, Ulrike: Malerei in der Fotografie. Galerie Carol Johnssen, München, 14.1.-31.3.2003. Siehe http://www.artcontent.de/kunstforum/abon nement/archiv/baende/164/164065.asp vom 14.09.2003. Quelle: Kunstforum, Bd. 164, März-Mai 2003, S. 353.

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In diesem Dialog zwischen Malerei, analoger Fotografie und Digitalisierung werden die für objektiv gehaltenen Sehgewohnheiten und Wahrnehmungsweisen irritiert, analysiert und aufgebrochen – und eine neue Sicht auf die Welt eingeleitet. Es nicht bloß der Akt einer gestalterischen oder verfahrenstechnischen Klärung, sondern es ist der Zusammenschluss differenter Bildsprachen, der die Möglichkeit bietet, genau diese Differenz zu erkennen.95 Annelise Zwez erklärt dazu treffend: „Es geht dem Künstler um Systeme und Strukturen, die Leben spiegeln; nicht um Bilder, die Leben abbilden.“96 Gursky schöpft aus der Vielfalt, die die Welt ihm bietet, und erklärt schließlich selbst, dass „der Rohstoff meiner Bilder […] sich aus den unterschiedlichsten Quellen zusammen[setzt]“97 und „mir ist letztlich jedes Mittel recht, das zum Bild führt“98. Die ‚Wirklichkeit‘ wird in den Arbeiten Gurskys zum Instrument, um fiktional-artifizielle Bilder zu erzeugen, unbefragte Wahrnehmungsgewohnheiten und geläufige Bildvorstellungen zu irritieren und damit Räume für neue Interpretationsansätze zu schaffen. Dabei wird nicht zuletzt die digitale Bildbearbeitung selbst zum künstlerischen Gegenstand Gurskys.

95 Vgl. dazu auch Buhrfeind, Eva: Irritation der Sehgewohnheit. Bildtypen zwischen Fotografie, Film, Malerei, Video und Zeichnung. Siehe http:// www.aargauerzeitung.ch/pages/index.cfm?dom=3&id=1195720&rub=104 5&arub vom 04.05.2002 Ausstellung: in between, Kunsthaus Langenthal, 2002. 96 Zwez, Annelise: Bildsysteme sind Bedeutungsstrukturen. Der Fotokünstler Andreas Gursky im Fotomuseum Winterthur. Siehe http://www.xcult.ch/ texte/zwez/nov98/gursky.html vom 02.07.2004. 97 Gursky, Andreas: zitiert nach Becker, Jochen: Andreas Gursky. „Fotografien 1984 bis heute“, Kunsthalle Düsseldorf, 29.8.-18.10.1998; „Fotografien von 1994-1998“, Kunstmuseum Wolfsburg, 23.5.-23.8.1998. In: Kunstforum International, Bd. 142, Oktober-Dezember 1998, S. 397, Ausstellungen: Düsseldorf, Wolfsburg. 98 Gursky, Andreas: zitiertnach Czöppan 2001, S. 98.

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3. S CHLUSS : D IE S TRUKTURMOMENTE G ESAMTWERK

IM

Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist die spezifische Bildsprache der zwischen 1984 und 2001 entstandenen Fotografien Andreas Gurskys. Die übergeordnete Fragestellung zielte zunächst auf die Analyse von Abstrahierungsphänomenen und Abstraktionsstrukturen im fotografischen Bild, um einen differenzierten Zuordnungsrahmen für die formalästhetische Klassifizierung des Gursky-Gesamtwerks im o.a. Zeitraum zu erstellen. Dafür war eine grundlegende Schärfung des Begriffs ‚Abstraktion‘ vonnöten, der seit seinem Einzug in das kunstwissenschaftliche Fachvokabular zur Beschreibung von ungegenständlicher malerischer Bildsprache diente. Seine Adaption für das Medium Fotografie erwies sich − aufgrund einer im Vergleich zur Malerei völlig anders gearteten Ontologie des Bildgegenstands und der Bilderzeugung − als inadäquat, weil in jedem fotografisch erzeugten Abbild wesensgemäß das Gegenständliche referiert wird oder denkbar ist, so dass eo ipso eine Fotografie − einzige Ausnahmen sind Chemiegramm und Luminogramm − nicht im malerischen Sinne abstrakt, also ungegenständlich sein kann. Vor diesem Hintergrund musste ein Begriffssystem gefunden werden, mit dessen Hilfe jene formalästhetischen Phänomene in der Fotografie präzise beschrieben werden konnten, die der Kategorie ‚abstrakt‘ bisher nur indifferent subsumiert wurden. Wie diese Untersuchung gezeigt hat, treffen das ‚Ornamentale‘ und das ‚Ornament‘ in Gurskys Bildern im Besonderen − und in der Fotografie überhaupt − genau jene formensprachlichen Momente, die sich mit dem Begriff der Abstraktion nicht hinreichend erfassen lassen: Sie sind das Vermittlungsprinzip zwischen den ‚Gegenständen‘ im Bild einerseits und ihren autarken Oberflächenformen andererseits, die dem Motiv oder einzelnen Motivelementen immer wieder gleichsam schablonenhaft auferlegt oder eingeschrieben wurden und die Gurskys notorische Bildgewalt mit begründet haben. Obwohl das formale Repertoire der untersuchten Werke zweifellos eine Besonderheit darstellt, reicht es nicht aus, um das ‚Phänomen Gursky‘ − die faszinierende Wirkung und das Charakteristische seiner Fotografien − zu erklären. Überdies lässt sich anhand der identifizierten Formen zwar eine Kategorisierung des bisherigen Gesamtwerks vornehmen − doch ging es in dieser Arbeit darüber hinaus um die Fra-

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ge, ob sich im Zusammenhang mit der Formensprache bei Gursky auch thematische oder motivliche Kategorien ergeben, die für eine umfassende Werkanalyse und -klassifizierung zu berücksichtigen sind. Während die ‚Abstraktion‘ für die formale Beschreibung noch suspendiert und durch das Ornament und das Ornamentale sinnstiftend ersetzt wurde, stellt derselbe Terminus, die ‚inhaltliche Abstraktion‘, ein geeignetes Instrument zur Analyse von Bildinhalten und -botschaften dar. Zu diesen als abstrakt lesbaren Bildaussagen gelangt Gursky auf zwei verschiedene Weisen: Voraussetzung für die eine ist das Verständnis des Abstraktionsbegriffs in seinem etymologisch ursprünglichen Sinn − nämlich eine generalisierende, allgemeingültige Bedeutung zu erzeugen. Dies erreicht Gursky in seinen Bildern nicht durch die Entkleidung des Motivs von allen unwesentlichen und kontingenten Attributen, sondern durch dessen − auf fotografisch-technische oder auch manipulative Bildverfahren gestützte – Verdichtung. Die Aufnahme ‚Siemens‘ – ein nicht digital bearbeitetes Bild – illustriert das Grundprinzip: Der Bildtitel indiziert zwar ein spezifisches und raumzeitlich definierbares Einzelphänomen als Motiv, weist jedoch auch darüber hinaus: von den automatisierten Produktionsverfahren in einem Siemenswerk und der Funktion des einzelnen Arbeiters darin hin zu den industriellen Produktionsbedingungen schlechthin. Die Bildaussage verweist also nicht auf eine ganz bestimmte Industrieanlage, sondern – gleichsam symptomatisch – auf die technische und soziale Gegenwart im Allgemeinen. Je sichtbarer eine digitale Bildveränderung ist, je unwirklicher ein Bildmotiv dadurch erscheint (z.B. ‚Atlanta‘, 1996, oder ‚Dubai World III‘, 2008), umso mehr löst es sich von dem im Bildtitel angezeigten konkreten Einzelphänomen und deutet auf das Universale – ohne dass die Motive ins Phantastische und damit in eine bloß dekorative Bildwirkung abgleiten. Letztlich ist es die mehr begriffliche als visuelle Lesart, welche die inhaltlich abstrakte Komponente in Gurskys Bildaussagen begründet. Das Prinzip der begrifflichen und damit abstrakten Lesart gilt in gesteigertem Maße auch für das, was in der vorliegenden Arbeit als „allegorische Potenz“ bezeichnet wird. Auch hier ist dem Bild eine über das singuläre Phänomen hinausweisende Bedeutung inhärent − mit dem Unterschied, dass die abstrakte Bedeutung erst im Absenten entsteht. Dies impliziert wenigstens zwei Sinnebenen: Die eine Ebene ist die des Bildinhalts „an sich“, des eigentlich und konkret im Bild

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Gezeigten, das oftmals auch durch den Titel − scheinbar eindeutig − indiziert ist. Dieses Scheinbare verweist bereits auf die zweite Ebene, auf der im Sinne der Allegorie etwas im Anderszeigen gezeigt wird − mitunter im Gegenteiligen –, wenn der Betrachter das bildlich Präsente mit dem bildlich Absenten zu verknüpfen genötigt wird. In diesem Prinzip des ‚Double-Coding‘, das in den Bildern der zweiten Strukturkategorie besonders ausgeprägt ist, realisiert sich die Erhöhung des Bildinhalts zu einer abstrakten übergeordneten Bildidee. Besonders deutlich wird dies in den Bildern der Prada-Reihe: Während das ‚an sich gezeigte‘ Regal mit den Prada-Schuhen in ‚Prada I‘ nicht nur auf das Modelabel verweist, sondern darüber hinaus – eben im Anderszeigen – auf das kapitalistische Konsumdenken, den Markenfetischismus und − im Sinne einer Aussageverdichtung ex contrario − auf die Obszönität und den sozialen Elitarismus des Konsumdenkens, wirft das leere Regal in ‚Prada II‘ die Frage auf, ob und wie eine Welt ohne Luxusprodukte denkbar ist. Die in dieser Arbeit untersuchten Werke der Jahre 1984 bis 2001 lassen sich anhand signifikanter Merkmale in drei Strukturkategorien einteilen, wobei jeweils formale und thematische Aspekte gemeinsam kategoriebildend sind und eine weitgehend konsistente Werkentwicklung aufzeigen. Im Folgenden werden die Hauptaspekte der Untersuchung zusammenfassend dargelegt: In die erste Strukturkategorie fügen sich Gurskys Werke der 80erund frühen 90er-Jahre ein, mit denen er sich dem urbanen und ruralen Milieu in seinem bekannten Umfeld annähert. Die Unterteilung in ‚Zufallsblick‘, ‚Horizontale Perspektive‘, ‚Turmperspektive‘, ‚Panorama‘ und ‚Vogelperspektive‘ sowie die Vergleiche aus der Fotografie- und Malereigeschichte zeigen, dass Gursky klassische Bildstrategien wie die Überblickslandschaft oder die kartographische Sichtweise verwendet und erprobt. Die unterschiedlichen Perspektiven und Bildausschnitte lassen abstrahierende und ornamentale ‚Bildnähte‘ entstehen, die das Bildgefüge in vereinfachte Einheiten überführen. Mit der Betonung von Flächen, der Eliminierung des Horizonts oder mit der Einbindung einzelner Partien in überfigurale Elemente kippt der Bildraum in die Bildfläche. Der Betrachter gewinnt ein erstes Bewusstsein für Strukturen, für die Ästhetik der Oberfläche, das eine Wahrnehmung des Ungegenständlichen im Gegenständlichen forciert.

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In späteren Werken, die der zweiten Strukturkategorie zugeordnet werden, entwickelt Gursky die klassischen Bildstrategien zu einer eigenständigen Bildsprache weiter. Die Kategorien ‚Konstruktion‘, ‚Allover‘ bzw. ‚Over-all‘, ‚Geometrisierung‘ und ‚Hyperordnung‘ zeigen ein Struktursystem auf, das sich als Bildgerüst vom fotografischen Abbild emanzipiert, so dass sich dieses dem kompositionellen Gestaltungsgefüge unterordnet. Die fototechnisch erzeugte Komprimierung der Motivebene − in Verbindung mit einer digitalen bildnerischen Klärung und einer enormen Tiefenschärfe sowie einem hohen, distanzierten Kamerastandpunkt − lassen zwei Bildebenen entstehen: eine Mikrostruktur und eine Makrostruktur. Während der Betrachter das Motiv in der Mikrostruktur, d.h. aus einer nahen Betrachterposition, detailgenau betrachten kann, so nimmt er aus der Distanz eine Makrostruktur wahr, die sich als geometrisches oder organisches All-over bzw. Overall oder als strenge und sterile Formalisierung präsentiert. Ein gleichmäßiger, regelhafter, rhythmischer, modularer oder homogener Bildeindruck überdeckt die raumillusionistischen und abbildenden Eigenschaften der Fotografie und kann − als isoliertes Flächengerüst − als ungegenständlich bzw. abstrakt bezeichnet und mit den malerischen Kompositionen Pollocks oder Mondrians verglichen werden. Die gesamte Bildanlage bleibt jedoch weiterhin gegenständlich bestimmt, so dass sinnvollerweise von einer Abstrahierung gesprochen werden muss. Das Vermittlungsprinzip des Ornamentalen hingegen beschreibt den Wechsel zwischen Gegenständlichem und Ungegenständlichem und unterstreicht bzw. charakterisiert das bildnerische System Gurskys, das darauf angelegt ist, nicht als rein abstrakt wahrgenommen zu werden, sondern in der Mikrostruktur das Gegenständliche zu betonen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Arbeiten auch von den Strukturfotografien der 50er-Jahre, deren graphische Strukturen zwar in den Vordergrund treten, jedoch keinen sichtbaren ‚Mikrokosmos‘ aufweisen. Gurskys Werke faszinieren durch ihre ästhetisch klare und verführerische Oberfläche ebenso, wie sie als fotografische Abbilder die Neugier und das Interesse am Dargestellten wecken. Zur gleichen Zeit entstehen Ende der 90er-Jahre und zu Beginn des 21. Jahrhunderts Arbeiten, die mit ihrer Reduktion auf Struktur, Farbe und Licht sowie mit einem verschleierten oder eliminierten Referenten der dritten Strukturkategorie zuzuordnen sind und damit – auf das Gesamtwerk bezogen – den höchsten Grad der Formalisierung und Abstrahierung repräsentie-

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ren. In den Kategorien ‚Monochromie‘ und ‚Strukturfelder‘ ist der bewusste Wechsel zwischen Mikro- und Makrostruktur, zwischen Gegenständlichem und Ungegenständlichem, nicht mehr von Interesse, denn die Kenntnis vom eigentlich fotografierten Gegenstand ist im Verhältnis zu den rasterförmigen, feinmaschigen Texturen oder den Farbmodulationen von geringer Bedeutung. Wesentlich ist vielmehr die visuelle Möglichkeit der Entflächung, die Überführung einer flachen Motivebene in eine optisch räumliche Ausdehnung. ‚Ohne Titel II‘ (Sonnenuntergang) kann dabei als einzige Arbeit im Gesamtwerk Gurskys als ungegenständlich und damit auch formalästhetisch als abstrakt gelesen werden, da ihr Referent bildimmanent nicht zu identifizieren ist. Bis zu diesem Punkt hat die Einteilung und Analyse der Fotografien gezeigt, dass das fotografische Werk Gurskys – im Sinne des Ungegenständlichen – formal nicht als abstrakt bezeichnet werden kann. Die inhaltliche Analyse hingegen, deren Konsistenz den drei formalen Strukturkategorien entspricht, ließ – wie oben erläutert – den Terminus zu. Zunächst zeigt Gursky in den Motiven urbaner und ruraler Milieus das Unterwegssein des Menschen. Als außenstehender Beobachter registriert und erfasst er Figurenkonstellationen, beobachtet die Gattung Mensch in der Weite ihrer Lebenswelt. Als übergeordnete abstrakte Bildidee fungiert das menschliche ‚Existenzial von Raum‘; Gursky thematisiert im Spannungsverhältnis zwischen Naturraum, Personenraum und Kulturraum das menschliche ‚Im-Raum-Sein‘ schlechthin. Der Betrachter nimmt Weltgegenden bzw. neuzeitliche Weltgegenden wahr und erhält aus der Position eines Feldherren oder aus der kartographischen Perspektive verschiedene Rezeptionsangebote: Landschaft unter ästhetischen Gesichtspunkten als ein inszeniertes System, das an die Oberfläche gelangt, oder die Möglichkeit des Vordringens in den landschaftlichen Raum, um sich entweder mit den ‚realen‘ Gegebenheiten zu identifizieren oder um auf der zweiten Sinnebene zu einer ‚Erkenntnis von Welt‘ zu gelangen. Letzteres verdrängt das motivlich Präsente und verweist im Sinne des Allegorischen auf das Absente. In den Fotografien, die zur zweiten Strukturkategorie gezählt werden, wechselt Gursky den Blick vom landschaftlichen Raum auf innerstädtische und innerräumliche Kulissen einer modernen Urbanität. Die Schaltzentralen der globalen Netzwerke, die unsichtbaren Kapital- und Handelsströme, der fortwährende Informations- und Warenfluss sowie die gleichförmige Produkt- und Konsumfülle offenbaren sich in der

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Totalität des Bildes, wenn der sezierende Blick unter die ästhetisierte Oberfläche des Dargestellten und der Gesellschaft dringt. Das inszenierte und komprimierte geometrische und organische Ornament in den Arbeiten Gurskys unterstreicht die Wahrnehmung von Weltbildern der Masse und erzeugt darüber hinaus − als Form der Stilisierung − die allegorische Potenz. So liegt – verstärkt in der zweiten Strukturkategorie – die zweite Sinnebene im Verborgenen, wenn die urbanen Zentren als ‚Nicht-Orte‘ zu lesen sind und Armut und Slumbildung die Megastädte charakterisieren. Dringt Gursky von der ‚ersten zur zweiten Strukturkategorie‘ immer tiefer in die Mechanismen einer sich globalisierenden Gesellschaft mit ihren technologischen Vernetzungen und Fließräumen vor, so mündet dieser Aspekt in den Werken der dritten Kategorie in die Darstellung des infiniten Datenhorizontes der ‚Metastadt Welt‘. Gursky veranschaulicht in der fotografischen Bildstruktur der Verflächigung und Entflächung die Bewegungsflüsse und Vernetzungen der Gesellschaft in Raum und Zeit. Die elektronische Topographie bezeichnet daher zugleich auch das Verschwinden von Raum und Zeit, da Geschwindigkeit als beherrschende Dimension die Welt potenziell auf ein Nichts reduziert. Was die vorliegende Arbeit leistet, ist die Bereitstellung eines synoptischen Zuordnungsrahmens und Beschreibungsrasters für das bisherige Gesamtwerk Andreas Gurskys. Dabei ist das begründete Kategoriensystem keineswegs als absolutes zu verstehen, sondern als ein mögliches heuristisches Modell, das innerhalb eines umfangreichen und vielschichtigen fotografischen Werks relativ differenziert die formalen und thematischen Charakteristika in verschiedenen Entwicklungsphasen und Schaffensperioden aufzeigen kann. Ohne Zweifel lässt sich das in dieser Untersuchung gefundene Deutungsraster noch erweitern und verfeinern; als Versuch, das fotografische Gesamtwerk Gurskys phänomenologisch „in den Griff zu bekommen“, hat es sich jedoch als adäquat erwiesen − zumal sich, wie dargelegt, auch die nach dem gewählten Untersuchungszeitraum entstandenen Bilder Gurskys in dieses Raster einordnen lassen. Darüber hinaus lässt sich als zentrale Einsicht festhalten, dass für das Werk Gurskys das Begriffspaar ‚fotografische Prägnanz‘ etabliert werden kann: In einer präzisen und komprimierten Bildsprache ‚macht‘ Gursky Bilder, die beredte Zeugnisse einer globalisierten Gesellschaft sind. Mit diversen bildnerischen und technischen Mitteln

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entwirft er künstlerische Bilder, die auf den ersten Blick dokumentarisch und objektiv erscheinen, es aber nicht sind und nicht wie eine Dokumentarfotografie z.B. eine spurensichernde Funktion besitzen oder einer wissenschaftlichen Methode zuzuordnen sind. Gursky schärft den Blick, um dem Betrachter eine Szenerie vor Augen zu führen, die − im Wortsinn − bedeutungsschwanger ist und über das singuläre Phänomen hinausweist. Unabhängig von den spezifischen Fotografien Andreas Gurskys stellt diese Arbeit überdies ein Vokabular zur Verfügung, mit dem sich formale Bildmerkmale im Medium Fotografie generell differenzierter beschreiben lassen. Wie sich im theoretischen Diskurs und in der konkreten Analyse gezeigt hat, mangelt es dem herkömmlichen − z.B. dem aus der Malerei übernommenen − Abstraktionsbegriff für die Benennung fotografischer Bildphänomene an Klarheit und Differenzierung. Für eine grundlegende Diskussion über den begrifflichen Umgang mit spezifisch fotografischen Form- und Strukturphänomenen sei an dieser Stelle plädiert. Mit dem Vorschlag, den Begriff des Ornamentalen und des Ornaments der fotografischen Bildsprache anzuverwandeln, ist ein erster Schritt hin zu einer dem Medium angemessenen phänomenologischen Präzision getan.

V. Literaturverzeichnis

1. L ITERATUR

ZU

G URSKY

1.1 Kataloge Beil, Feßel 2008: Beil, Andreas; Feßel, Sonja (Hrsg.): Andreas Gursky. Architektur. Ausst.-Kat. Institut Mathildenhöhe Darmstadt. Ostfildern 2008. Beil 2008: Beil, Ralf: Just what is it that makes Gurksy’s photos so different, so appealing? Zur Bildstrategie und Emblematik der Architekturbilder von Andreas Gursky. In: Beil, Feßel 2008, S. 8-17. Biggs 1995: Biggs, Lewis: Schöne Neue Welt. In: Bradley 1995, S. 58-64. Böhme 2008a: Böhme, Gernot: Architektur: Eine visuelle Kunst? Über die Beziehung von moderner Architektur und Fotografie. In: Beil, Feßel 2008, S. 24-31. Böhme 2008b: Böhme, Gernot: Das intrauterine Paradies. Kamiokande, 2007. In: Beil, Fessel 2008, S. 96-99. Bradley 1995: Bradley, Fiona (Hrsg.): Andreas Gursky. Bilder. Ausst.-Kat. Tate Gallery Liverpool. München, Stuttgart 1995. Bradley 1995a: Bradley, Fiona: Einführung. In: Bradley 1995, S. 812. Bürgi 1992: Bürgi, Bernhard (Hrsg.): Andreas Gursky. Ausst.-Kat. Kunsthalle Zürich. Köln 1992. Cooke 1998: Cooke, Lynne: Andreas Gursky: Visionäre (Per)Versionen. In: Syring 1998, S. 13-17. Felix 1994: Felix, Zdenek (Hrsg.): Andreas Gursky. Fotografien 19841993. Ausst.-Kat. Deichtorhallen Hamburg; De Appel Foundation, Amsterdam. München, Paris, London 1994.

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Felix, Bos 1994: Felix, Zdenek; Bos, Saskia: Vorwort. In: Felix 1994, o.S. Ferguson 2008: Ferguson, Francesca: Andreas Gursky und das urbane Zeitalter. In: Beil, Feßel 2008, S. 18-23. Galassi 2001: Galassi, Peter: Andreas Gursky. Ausst.-Kat. The Museum of Modern Art, New York. Ostfildern-Ruit 2001. Gursky 1995: Andreas Gursky – Montparnasse. Hrsg. v. Portikus Frankfurt am Main. Ausst.-Kat. Portikus Frankfurt am Main. Stuttgart, Frankfurt am Main 1995. Gursky 1998a: Andreas Gursky. Fotografien 1994-1998. Ausst.-Kat. Kunstmuseum Wolfsburg; Fotomuseum Winterthur; Serpentine Gallery, London; Scottish National Gallery of Modern Art, Edinburgh; Castello di Rivoli, Museo d’Arte Contemporanea, Torino; Centro Cultural de Belém, Lisboa. Ostfildern 1998. Gursky 2002: Andreas Gursky. Hrsg. v. Centre Georges Pompidou. Ausst.-Kat. Centre National d’Art et de Culture Georges Pompidou, Paris 2002. Gursky 2007: Andreas Gursky. Ausst.-Kat. Kunstmuseum Basel. Ostfildern 2007. Hentschel 2008: Hentschel, Martin (Hrsg.): Andreas Gursky. Werke 80-08. Ausst.-Kat. Kunstmuseum Krefeld, Haus Lange und Haus Esters; Moderna Museet, Stockholm; Vancouver Art Gallery. Ostfildern 2008. Herbert 1999: Herbert, Lynn M. (Hrsg.): Andreas Gursky. Ausst.Kat. Contemporary Arts Museum Houston. Houston 1999. Heynen 1989: Heynen, Julian: Andreas Gursky. Ausst.-Kat. Museum Haus Lange, Krefeld 1989. Heynen 1989a: Heynen, Julian: Weltgegenden. In: Heynen 1989, o.S. Heynen 1992: Heynen, Julian: Ein Schein von Freiheit. In: Weski 1992, o.S. Hilty 1995: Hilty, Greg: Der Raum als Ereignis. In: Bradley 1995, S. 14-56. Irrek 1995a: Irrek, Hans: Fragmente einer Weltsicht. In: Gursky 1995, S. 5-19. Irrek 1995b: Irrek, Hans: Documents of intense spatial experience. In: Amsellem, Patrick; Nittwe, Lars (Hrsg.): Andreas Gursky. Ausst.Kat. Rooseum Center for Contemporary Art. Malmö 1995, o.S. Lütgens 1998: Lütgens, Annelie: Der Blick in die Vitrine oder: Schrein und Ornament. Zu den neuen Bildern von Andreas Gursky

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/ Shrines and Ornaments: A Look into the Display Cabinet: Andreas Gursky’s New Pictures. In: Textbeilage zu Gursky 1998a, S. 10-15 (Deutsch), S. 15-19 (Englisch). Pfab 1998: Pfab, Rupert: Wahrnehmung und Kommunikation. Überlegungen zu neuen Motiven von Andreas Gursky. In: Syring 1998, S. 9-11. Schmitz 1994: Schmitz, Rudolf: Weder Mordfall noch Taufe. Andreas Gurskys angstfreier Blick aufs Ganze. In: Felix 1994, S. 7-14. Schmitz 2008: Schmitz, Rudolf: „Nothing over 99 cent ever“ Oder: Die Warengesellschaft als Göttliche Komödie. In: Beil, Feßel 2008, S. 50-53. Söntgen 2007: Söntgen, Beate: Am Rande des Ereignisses. Das Nachleben des 19. Jahrhunderts in Andreas Gurskys Serie F1 Boxenstopp. In: Gursky 2007, S. 49-68. Spaventa 2001: Spaventa, Monica (Hrsg.): Andreas Gursky. Ausst.Kat. Palacio de Velázquez, Madrid; Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia, Madrid 2001. Spieler 2008: Spieler, Reinhard: Welthandel als archaisches Kampfritual. Chicago Board of Trade II, 1999. In: Beil, Feßel 2008, S. 5861. Syring 1998: Syring, Marie Luise (Hrsg.): Andreas Gursky. Fotografien 1984 bis heute. Ausst.-Kat. Kunsthalle Düsseldorf. München, Paris, London 1998. Syring 1998a: Syring, Marie Luise: Wo liegt ‚ohne Titel‘? Von Orten und Nicht-Orten in Gurskys Fotografie. In: Syring 1998, S. 5-7. Weski 1992: Weski, Thomas: Andreas Gursky. Ausst.-Kat. Fotoprojekt 13. Siemens AG, Kulturprogramm. München 1992. Weski 2007: Weski, Thomas (Hrsg.): Andreas Gursky. Ausst.-Kat. Haus der Kunst, München. Köln 2007. Zaunschirm 2008: Zaunschirm, Thomas: Der Himmel über der Halde. Ohne Titel XIII (Mexiko), 2002. In Beil, Fessel 2008, S. 76-79. Zimmer 2007: Zimmer, Nina: Ausnahmezustand in Pyongyang. In: Gursky 2007, S. 69-88.

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1.2 Interviews Ackermann 2010: Ackermann, Tim: Andreas allein im All. In: Welt am Sonntag, Nr. 20, 15 Mai, 2010, Kultur, S. 65. Beyer, Knöfel 2007: Beyer, Susanne; Knöfel, Ulrike: „SpiegelGespräch: Fotos dürfen lügen. Der Weltbekannte Düsseldorfer Künstler Andreas Gursky über die Komposition seiner Bilder, die Verführung der digitalen Technik und seine Aufnahmen in Nordkorea“. In: Der Spiegel, 4, 2007, S. 152-154. Bürgi 1992a: Bürgi, Bernhard: Ein Gespräch zwischen Andreas Gursky und Bernhard Bürgi, 6. Januar – 11. Februar 1992. In: Bürgi 1992, S. 4-37. Görner 1998: Görner, Veit, in einem Briefwechsel mit Andreas Gursky: ‚... im Allgemeinen gehe ich die Dinge langsam an‘ / ‚... I generally let things develop slowly‘. In: Gursky 1998a, S. 3-7 (Deutsch), S. 7-10 (Englisch). Graw 1990: Graw, Isabelle: Düsseldorfer Künstler (IV). Ausflug. Ein Interview von Isabelle Graw mit Andreas Gursky. In: Artis, 42, Januar 1990, S. 52-55. Illies 2007: Illies, Florian: „Gursky gibt Gas“. In: Monopol, 3, März 2007, S. 74-81. Jocks 1999: Jocks, Heinz-Norbert: „Andreas Gursky: ‚Das Eigene steckt in den visuellen Erfahrungen‘. Ein Gespräch von HeinzNorbert Jocks.“ In: Kunstforum International, Bd. 145, Mai-Juni 1999, S. 248-265. Kos 1997: Kos, Wolfgang: Mikrostrukturen, Megastrukturen. Wolfgang Kos im Gespräch mit Andreas Gursky. In: Kos, Wolfgang (Hrsg.): Alpenblick. Die zeitgenössische Kunst und das Alpine. Ausst.kat. Kunsthalle Wien. Basel 1997, S. 111-113. Krajewski 1999: Krajewski, Michael: Kollektive Sehnsuchtsbilder: Andreas Gursky im Gespräch mit Michael Krajewski. In: Das Kunst-Bulletin 5, Mai 1999, S. 8-15. Lane 2009: Lane, Guy: The Bigger Picture. In: ArtWorldMagazine, April/May 2009, S. 35-39. Reiter Raabe 1997: Reiter Raabe, Andreas: Ich glaube eher, dass es eine allgemeine Sprache der Bilder gibt. Andreas Gursky im Gespräch mit Andreas Reiter Raabe. In: Eikon, 21/22, 1997, S. 18-22. Tousley 2009: Tousley, Nancy: Andreas Gursky: Interview with Insight. In: Canadianart, online, May 2009.

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1.3 Aufsätze, Artikel, Besprechungen, Filme Becker, J. 1998: Becker, Jochen: Andreas Gursky. „Fotografien 1984 bis heute“, Kunsthalle Düsseldorf, 29.8.-18.10.1998; „Fotografien von 1994-1998“, Kunstmuseum Wolfsburg, 23.5.-23.8.1998. In: Kunstforum International, Bd. 142, Oktober-Dezember 1998, S. 397, Ausstellungen: Düsseldorf, Wolfsburg. Berndt 1997: Berndt, Andreas: Die Entdeckung des Gleichen im Ungleichen. Andreas Gurskys Blick auf die Welt. In: Breuer 1997, S. 125-134. Burckhardt 1995: Burckhardt, Jacqueline: Andreas Gursky: Maler der neuen Schauplätze. / Painter of New Theaters of Action. In: Parkett 44, 1995, S. 68-70 (Deutsch), S. 74-75 (Englisch). Criqui 1995: Criqui, Jean-Pierre: Von der Melancholie der Standorte. (Beim Durchblättern eines Albums von Andreas Gursky) / Of the Melancholy of Vintage Points. (As I leaf through an ‚Album‘ by Andreas Gursky). In: Parkett 44, 1995, S. 59-62 (Deutsch), S. 6365 (Englisch). Czöppan 2001: Czöppan, Gabi: Kühle Perspektiven. In: Focus, 9, 24.02.2001, S. 94-98. Grieger 2003: „Scala, das Kulturmagazin von WDR 5, stellt die Entstehung eines Großfotos und die Weiterverarbeitung im Diasec®Verfahren anhand eines Motivs von Fotokünstler Andreas Gursky vor.“ In: Grieger GmbH & Co KG Fotolaboratorien/Grieger News. Siehe http://www.grieger-online.de vom 18.06.2004. Die Sendung von Claudia Dichter wurde am 17. September 2003 ausgestrahlt. Gursky 1997/1999: Gursky, Andreas: Kommentar im Film: Contacts. Thomas Ruff. Andreas Gursky. La Sept Arte, KS Visions, Le Centre National, De La Photographie, Présentent Sur Une Idée De William Klein. Andreas Gursky: Réalisation Sylvain Roumette. France 1997/1999. Ausgestrahlt am 23.11.2002 auf arte. Gursky 1998b: Architektur- und Kulturkritik in Bildern? Die Kunsthalle Düsseldorf und das Fotomuseum Winterthur zeigen einen Überblick über das Gesamtschaffen des Becher-Schülers. In: Vorschau: Andreas Gursky. Noëma Art Journal, 49, Oktober-Dezember 1998, S. 100. Kimmelmann 2001: Kimmelmann, Michael: Dokumentarfotografie oder digitale Malerei? In: Kulturchronik, Nr. 3, 19. Jhg., 2001, S. 6-9.

352 | DIE K ONSTITUTION DER D INGE

M.L.K. 2001: M.L.K.: Andreas Gursky. In: die tageszeitung, 11.5.2001. Hier nach: http://www.taz.de /tpl/2001/05/11.nf/monde Text.Tname,a0014.idx,3 vom 04.08.2001. Schlüter 2007: Schlüter, Ralf: Reporter des Weltgeistes. In: Art. Das Kunstmagazin, 3, März 2007, S. 36-53. Schmidt-Garre 2009: Schmidt-Garre, Jan: Andreas Gursky. Das globale Foto. Eine Kooperation der Pars Media mit der Andreas Tilk Filmproduktion, dem Bayerischen Rundfunk und Arte. Ausgestrahlt am 30.08.2010 auf Arte. Schorr 1995: Schorr, Collier: How Familiar Is It? / Wie vertraut ist uns das? In: Parkett 44, 1995, S. 83-86 (Englisch), S. 88-93 (Deutsch). Sommer, T. 2001: Sommer, Tim: Visionen von der Wirklichkeit. In: Art. Das Kunstmagazin, 4, April 2001, S. 34-49. Wakefield 1995: Wakefield, Neville: ‚Brasilia‘ Vanishing Points / ‚Brasilia‘ Das Verschwinden der Fluchtpunkte. In: Parkett 44, 1995, S. 78-80 (Englisch), S. 81-82 (Deutsch). Wege 1998: Wege, Astrid: Kein Ort. Nirgends. In: Texte zur Kunst. 8. Jahrgang, Heft 31, September 1998, S. 166-169. Weski 2009: Weski, Thomas, im Gespräch mit Susanne M. Thiesbürger: „So könnte es gewesen sein“. Andreas Gursky sagt: „Wirklichkeit ist überhaupt nur darzustellen, indem man sie konstruiert.“ In: Das Magazin der Allianz deutscher Designer AGD, Braunschweig. Ausgabe 01/2009, S. 8-10. Zwez 1998: Zwez, Annelise: Bildsysteme sind Bedeutungsstrukturen. Der Fotokünstler Andreas Gursky im Fotomuseum Winterthur. Siehe http://www.xcult.ch/texte/zwez/nov98/gursky.html vom 02. 07.2004.

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2. L ITERATUR

ZU

G URSKY

UND

ANDEREN

Breuer 1997: Breuer, Gerda; Henry van de Velde-Gesellschaft e.V., Hagen (Hrsg.): Außenhaut und Innenraum. Mutmaßungen zu einem gestörten Verhältnis zwischen Photographie und Architektur. Frankfurt am Main 1997. Claser 2000: Claser, Sonja: Photographie parallel zur Architektur. Interieurs und Häuser im Werk von Thomas Ruff. In: Steinhauser 2000, S. 101-105. Derenthal 2000: Derenthal, Ludger: Skeptische Architekturphotographie. In: Steinhauser 2000, S. 19-28. Gronert 1999: Gronert, Stefan: Reality is not totally real. Die Infragestellung des Sichtbaren in der zeitgenössischen Fotografie. In: Große Illusionen 1999, S. 12-31. Große Illusionen 1999: Große Illusionen. Thomas Demand, Andreas Gursky, Edward Ruscha. Hrsg. v. Kunstmuseum Bonn. Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bonn; Museum of Contemporary Art North Miami. Köln 1999. Hemken 2000: Hemken, Kai-Uwe: Von Sehmaschinen und Nominalismen. Anmerkungen zur digitalen Photographie von Andreas Gursky und Thomas Ruff. In: Steinhauser 2000, S. 29-39. Hentschel 2004: Hentschel, Linda: Wohnsucht und Bildersucht: Visuelle Einrichtungen in der Moderne. Siehe http://www.gendernet. udk-berlin.de/downl/gzine3_hentschel.pdf vom 30.7.2004. Hess 1999: Hess, Barbara: Photographen des modernen Lebens. Anmerkungen zu den Bildern von Lucinda Devlin, Andreas Gursky und Candida Höfer. In: Räume 1999, S. 13-24. Holert 2002: Holert, Tom: Auf dem Balkon der Geschichte. Bilder der Macht – die unterschiedlichen Ansätze der Künstler Andreas Gursky und Sarah Morris, gültige Weltbilder festzuhalten. In: Literaturen 1/2 II 2002, o.S. Karcher 2002: Karcher, Eva: Der Struffsky-Effekt oder wie Ikonen gemacht werden. Warum Andreas Gursky, Thomas Ruff und Thomas Struth so viel Erfolg auf dem zeitgenössischen Kunstmarkt haben. In: Süddeutsche Zeitung, Montag, 29.4.2002. Hier in: http://www. sueddeutsche.de/aktuell/sz/artikel146298.php vom 01. 05.2002.

354 | DIE K ONSTITUTION DER D INGE

Marzona 2000: Marzona, Daniela: Struktur und Detail. Zu den neueren Architekturphotographien von Andreas Gursky. In: Steinhauser 2000, S. 80-85. Meister 1991: Meister, Helga: Andreas Gursky. Sonntagsbilder. In: dies.: Fotografie in Düsseldorf. Die Szene im Profil. 1. Aufl. Düsseldorf 1991, S. 176-179. Pfab 2001: Pfab, Rupert: Studien zur Düsseldorfer Photographie. Die frühen Akademieschüler von Bernd Becher. Weimar 2001. Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1999. Räume 1999: Räume: Lucinda Devlin, Andreas Gursky, Candida Höfer. Hrsg. v. Kunsthaus Bregenz. Ausst.-Kat. Kunsthaus Bregenz. Köln 1999. Sommer, A. 2002: Sommer, Achim (Hrsg.): Zwischen Schönheit und Sachlichkeit. Boris Becker, Andreas Gursky, Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Ruff, Thomas Struth. Ausst.-Kat. Kunsthalle Emden. Heidelberg 2002. Spanke 2002: Spanke, Daniel: Das Museum der Wirklichkeit. Eine Typologie kompositorischer Bildstrukturen der Werke von Bernd und Hilla Becher und der Düsseldorfer Fotografie. In: Sommer, A. 2002, S. 18-31. Steinhauser 2000: Steinhauser, Monika (Hrsg.): Ansicht, Aussicht, Einsicht. Andreas Gursky, Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Ruff, Thomas Struth. Architekturphotographie. In Zusammenarbeit mit Ludger Derenthal. Ausst.-Kat. Museum Bochum; Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig. Düsseldorf 2000. Steinhauser 2000a: Steinhauser, Monika: Architekturphotographie als Bild. In: Steinhauser 2000, S. 7-18. Stern 2001: Stern, Rachel: Blick in die Massengesellschaft. In: Aufbau – deutsch-jüdische Zeitung. Thursday, March 15, 2001, No. 6. Hier nach: http://aufbauonline.com/issue6001/pages6/8html vom 4.8.2001.

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3. W EITERE L ITERATUR Alpers 1998: Alpers, Svetlana: Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts. Mit einem Vorwort von Wolfgang Kemp. 2. Aufl. Köln 1998. Amelunxen et al. 1995: Amelunxen, Hubertus v.; Igelhaut, Stefan; Rötzer, Florian (Hrsg.): Fotografie nach der Fotografie. Ein Projekt des Siemens Kulturprogramms. Dresden, Basel 1995. Anders 1980: Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. München 1980. Andre 1977 (1972): Andre, Carl: A note on Bernhard und Hilla Becher. In: Artforum, December 1972, S. 59. Abgedruckt in: Bernhard und Hilla Becher. Typologien industrieller Bauten 1963-1975. Ausst.-Kat. XIV Biennale Sao Paulo, 1977, S. 7. Arnheim 1999 (1932): Arnheim, Rudolf: Flächenbilder (1932). In: Kemp 1999, S. 164-168. Erstdruck des Textes in: Arnheim, Rudolf: Film als Kunst (1932). Berlin 1932. Quelle für Wolfgang Kemp: Ausgabe München 1974, S. 63-69. Auer 1998: Auer, Barbara (Hrsg.): Fotografie der 50er Jahre. Zwischen Abstraktion und Wirklichkeit. Ausst.-Kat. Kunstverein Ludwigshafen am Rhein e.V. Ludwigshafen am Rhein 1998. Auer 1998a: Auer, Barbara: „Die Fotografie ist ein äußerst spannendes Medium, ungeheuer vielseitig, flexibel und sicherlich noch lange nicht ausgelotet.“ Ein Gespräch zwischen Prof. Dr. J.A. Schmoll gen. Eisenwerth und Barbara Auer am 29. Juli 1998 in München. In: Auer 1998, S. 7- 18. Augé 1994: Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt am Main 1994. Bätschmann 1988: Bätschmann, Oskar: Anleitung zur Interpretation: Kunstgeschichtliche Hermeneutik. In: Belting et al. 1988, S. 191221. Bätschmann 1989: Bätschmann, Oskar: Entfernung der Natur. Landschaftsmalerei 1750-1920. Köln 1989. Barthes 1985 (1980): Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Übers. v. Dietrich Leube. Frankfurt am Main 1985. Originalausgabe: La chambre claire. Note sur la photographie. Paris 1980.

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Becker 1998: Territorien. Fotografie. Boris Becker. Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bonn. Köln 1998. Belting et al. 1988: Kunstgeschichte – Eine Einführung. Hrsg. v. Hans Belting, Heinrich Dilly, Wolfgang Kemp, Willibald Sauerländer und Martin Warnke. 3. durchges. u. erw. Aufl. Berlin 1988. Belting 1993: Thomas Struth. Museum Photographs. Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle. München 1993. Belting 1993a: Belting, Hans: Photographie und Malerei. Museums Photographs. Der photographische Zyklus der „Museumsbilder“ von Thomas Struth. In: Belting 1993, S. 5-28. Benjamin 1974: Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: ders.: Gesammelte Schriften I. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1974, S. 203430. Berthold 1987: Berthold, Gertrude: Editorische Notiz zu „Das Ornamentale und die Gestalt“. In: Hetzer 1987, S. 7-13. Bischofberger 2001: Bischofberger, Bruno: Andy Warhols Visuelles Gedächtnis. In: Haenlein 2001, S. 13-26. Boehm 2008: Boehm, Gottfried: Das Lebendige. Rothkos Zugänge zum Bild. In: Rothko 2008, S. 180-184. Bollnow 2004: Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum. 10. Aufl. Stuttgart 2004. Bolz 2002: Bolz, Norbert: Das konsumistische Manifest. München 2002. Boyer 1997: Boyer, M. Christine: Im virtuellen Raum verschwindet das Gedächtnis der Stadt. In: Maar, Rötzer 1997, S. 162-176. Brecht 1967: Bertolt Brecht. Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 18. Frankfurt am Main 1967. Brion 1960: Brion, Marcel: Geschichte der abstrakten Malerei. Köln 1960. Brockhaus 2001: Der Brockhaus Kunst. Künstler, Epochen, Sachbegriffe. 2., völlig neu bearb. Aufl. Leipzig, Mannheim 2001. Brockhaus 2003: Der Brockhaus. Moderne Kunst. Vom Impressionismus bis zur Gegenwart. Mannheim, Leipzig 2003. Brüderlin 1995: Brüderlin, Markus: Die Einheit in der Differenz. Die Bedeutung des Ornaments für die abstrakte Kunst des 20. Jahrhunderts. Von Philipp Otto Runge bis Frank Stella. Wuppertal, Univ., Diss., 1995, Mikrofiche-Ausgabe.

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Image Thomas Abel, Martin Roman Deppner (Hg.) Undisziplinierte Bilder Fotografie als dialogische Struktur Februar 2012, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1491-6

Elize Bisanz (Hg.) Das Bild zwischen Kognition und Kreativität Interdisziplinäre Zugänge zum bildhaften Denken Oktober 2011, 426 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1365-0

Dietmar Kammerer (Hg.) Vom Publicum Das Öffentliche in der Kunst März 2012, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1673-6

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Image Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur Januar 2012, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0

Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts 2010, 256 Seiten, kart., 135 Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-420-1

Eva Reifert Die »Night Sky«-Gemälde von Vija Celmins Malerei zwischen Repräsentationskritik und Sichtbarkeitsereignis November 2011, 258 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1907-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Image Sabiene Autsch, Sara Hornäk (Hg.) Räume in der Kunst Künstlerische, kunst- und medienwissenschaftliche Entwürfe

Anita Moser Die Kunst der Grenzüberschreitung Postkoloniale Kritik im Spannungsfeld von Ästhetik und Politik

2010, 304 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1595-1

September 2011, 332 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1663-7

Elize Bisanz Die Überwindung des Ikonischen Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Bildwissenschaft

Jeannette Neustadt Ökonomische Ästhetik und Markenkult Reflexionen über das Phänomen Marke in der Gegenwartskunst

2010, 184 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1362-9

Mai 2011, 468 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1659-0

Lars Blunck (Hg.) Die fotografische Wirklichkeit Inszenierung – Fiktion – Narration

Christine Nippe Kunst baut Stadt Künstler und ihre Metropolenbilder in Berlin und New York

2010, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1369-8

Mai 2011, 382 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1683-5

Julia Bulk Neue Orte der Utopie Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeitgenössischen Künstlergruppen

Alejandro Perdomo Daniels Die Verwandlung der Dinge Zur Ästhetik der Aneignung in der New Yorker Kunstszene Mitte des 20. Jahrhunderts

Februar 2012, ca. 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1613-2

Dezember 2011, 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1915-7

Doris Ingrisch Pionierinnen und Pioniere der Spätmoderne Künstlerische Lebens- und Arbeitsformen als Inspirationen für ein neues Denken

Astrit Schmidt-Burkhardt Die Kunst der Diagrammatik Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas

Januar 2012, ca. 308 Seiten, kart., mit DVD, ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1792-4

Mai 2012, ca. 190 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1887-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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