Deutsch-Jüdische Jugendliche im »Zeitalter der Jugend« 9783847098058, 9783899715576

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Deutsch-Jüdische Jugendliche im »Zeitalter der Jugend«
 9783847098058, 9783899715576

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Formen der Erinnerung

Band 43

Herausgegeben von Jîrgen Reulecke und Birgit Neumann

Yotam Hotam (Hg.)

Deutsch-Jîdische Jugendliche im »Zeitalter der Jugend«

V&R unipress

Der vorliegende Band ist im Rahmen einer vom SFB 434 »Erinnerungskulturen« finanzierten Tagung entstanden. Er wurde auf Veranlassung des SFB 434 unter Verwendung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-89971-557-6 © 2009, V&R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany.

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Jîrgen Reulecke Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Yotam Hotam Einleitung – Jugend und Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

I. Strategie Jugend Yotam Hotam »Strategie Jugend« – Politische Theologie, Zionismus und Zeit . . . . . .

21

Sharon Gordon Das Projekt zur Rettung der Moderne: Erich Gutkind und Emmanuel Levinas zu Jugend, Alter und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Ofer Nordheimer-Nur Die anarchistische østhetik der Jugendbewegung »HaShomer HaZa’ir« in den 1920er Jahren und das Tragische in ihrer Weltanschauung . . . . . .

61

Ulrike Pilarczyk Gemeinschaft. Jîdische Jugendfotografie 1924 bis 1938 . . . . . . . . . .

75

II. Zur Geschichte der deutschen Jugendbewegung Jîrgen Reulecke Zur Geschichte der deutschen Jugendbewegung seit 1900. Einige einfîhrende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

Daniela Neuser Identittssuche und Erinnerungsikonographie: Deutsch-jîdische Jugendbewegung 1912 – 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

6

Inhalt

Irmgard Klçnne Jugendbewegung und Realittserfahrung: Von der deutsch-jîdischen Jugendbewegung zur Kibbuzgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

III. Jïdische Jugend in Europa und im Exil Adi Gordon Auf der Suche nach der zentraleuropisch-jîdischen Generation des Ersten Weltkrieges: »Weltbîhne« und »Brith Shalom« . . . . . . . . . . . 145 Stefanie Schîler-Springorum »Dazugehçren«: Junge Jîdische Kommunisten in der Weimarer Republik

167

Helga Embacher Lenin oder Jabotinsky? Jîdische Identittssuche in Salzburg nach dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Zohar Maor Das Bild der Jugend: Der Prager Kreis zu Beginn des 20. Jahrhunderts . . 193 Rina Peled Die Jugendbewegung »HaShomer HaZa’ir« in Palstina: Vom nietzscheschen Individualismus zum leninistisch-stalinistischen Kollektivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Boaz Neumann Genealogien des Nationalismus: die Erde von Eretz Israel . . . . . . . . . 241 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

Jîrgen Reulecke

Geleitwort

Der vorliegende Band geht auf eine internationale Konferenz zurîck, die vom 16. bis 18. Mai 2004 an der Hebrew University in Jerusalem zum Thema »The Age of Youth: German-Jewish Young Generation and Modern Time« stattgefunden hat. Es handelte sich dabei um eine aus der Partnerschaft zwischen dem »Richard Koebner Minerva Centre for German History« und dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefçrderten Gießener Sonderforschungsbereich »Erinnerungskulturen« (= SFB 434) hervorgegangenen Veranstaltung, die insbesondere von dem Jerusalemer Historiker Moshe Zimmermann zusammen mit seinem Mitarbeiter Yotam Hotam geplant und durchgefîhrt worden ist – dies in Zusammenwirken mit dem zu dieser Zeit in Jerusalem zu einem Forschungsaufenthalt weilenden Gießener Germanisten Gînter Oesterle, der bis Herbst 2003 Sprecher des SFB 434 gewesen war. Bis in die letzte Bewilligungsphase 2006 – 2008 dieses 1997 ins Leben getretenen Sonderforschungsbereichs hat es eine enge und fruchtbare Zusammenarbeit zwischen den beiden Kooperationspartnern in Gießen und Jerusalem gegeben, die sich in mehreren gemeinsamen Forschungsprojekten, in diversen Publikationen und wissenschaftlichen Veranstaltungen niedergeschlagen hat. Unter ihnen war die hier dokumentierte Konferenz ein besonders spektakulres Beispiel.1 Mehrere deutsch-israelische Teilprojekte sind seit 2000 unter dem Dach des Sonderforschungsbereichs in engem Austausch vor allem zwischen den Germanisten Gerhard Kurz und Gînter Oesterle sowie den Historikern Helmut Berding und Jîrgen Reulecke auf der Gießener und dem Philosophen Gabriel Motzkin sowie dem Historiker Moshe Zimmermann auf der Jerusalemer Seite durchgefîhrt worden. Bei all diesen Forschungsvorhaben ging es unter dem Oberbegriff »Erinnerungskul-

1 Siehe zum »Gesamtertrag« des SFB 434 »Erinnerungskulturen« einschließlich der hier angesprochenen Publikationen und Aktivitten die Anfang 2009 vorgelegte »Abschlussdokumentation (1. Januar 1997 – 31.12.2008)«, Gießen 2009.

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Jïrgen Reulecke

turen« um eine Reihe exemplarischer Forschungsfelder aus der deutsch-jîdischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. An der hier dokumentierten Konferenz, die in engem Zusammenhang mit dem gemeinsamen SFB-Teilprojekt »Von der Erinnerungskultur zum Erinnerungsbruch: deutsch-jîdische Jugendbewegung vor und nach der Emigration« (Leitung: Moshe Zimmermann und Jîrgen Reulecke) durchgefîhrt wurde, nahmen 25 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus Israel, der Bundesrepublik, §sterreich und Frankreich als Diskussionsleiter und/oder Referenten teil; die meisten der gehaltenen Referate sind in zum Teil îberarbeiteter Form im vorliegenden Band abgedruckt. Ein in hebrischer Sprache verfasster Tagungsband ist bereits, ebenfalls von Yotam Hotam herausgegeben, im Sommer 2008 im Magnes Verlag der Hebrischen Universitt zu Jerusalem erschienen. Die nun ins Deutsche îbersetzten Beitrge finden sich im vorliegenden Band, ergnzt durch den Beitrag von Irmgard Klçnne, der fîr die hebrische Ausgabe wegen einer schweren Krankheit der Verfasserin nicht mehr pînktlich einging. Nach dem Tode der sehr verdienstvollen Wissenschaftlerin im Mai 2008 hat ihr Gatte Arno Klçnne deren Vortragsunterlagen zu dem hier nun abgedruckten Aufsatz zusammengefîgt, wofîr wir ihm herzlich danken. Irmgard Klçnne hat sich viele Jahre lang u. a. intensiv mit den deutsch-jîdischen Beziehungen und insbesondere mit den Erinnerungen an die aus Deutschland vertriebenen Angehçrigen der deutsch-jîdischen Jugendbewegung beschftigt2 und enge Kontakte zu jîdischen Emigranten gepflegt, von denen einige dann auch als hoch betagte Zeitzeugen Gste bei der Konferenz im Mai 2004 waren. So hat sie zum Beispiel mehrfach zusammen mit der Universitt Haifa einen »deutsch-jîdischpalstinensischen« Studierendenaustausch organisiert. Wir mçchten deshalb Irmgard Klçnne den vorliegenden Band in memoriam widmen und damit ihre Verdienste um die deutsch-jîdische Verstndigung wîrdigen. Unser Dank gilt neben dem engagierten Herausgeber Dr. Yotam Hotam den ˜bersetzern der hebrisch verfassten Beitrge und besonders Herrn Dr. Jens Mattern (Gießen/Heidelberg), der diese ˜bersetzungen noch einmal îberarbeitet hat (wobei in den Gesamtduktus der Texte nicht eingegriffen worden ist), außerdem den Studentischen Hilfskrften unseres SFB, die einzelne Beitrge redaktionell durchgesehen haben. Die redaktionelle Gesamtbetreuung des nun vorliegenden Bandes lag in den Hnden von Frau PD Dr. Christa Frateantonio, der wissenschaftlichen Geschftsfîhrerin des SFB. Auch ihr unser herzlicher 2 S. zum Beispiel ihre Dokumentation »Deutsch, Jîdisch, Bîndisch. Erinnerung an die aus Deutschland vertriebene jîdische Jugendbewegung«, Teil 1 (= puls 21, Witzenhausen 1993) sowie ihre zusammen mit Ilana Michaeli herausgebrachte Darstellung des von Martin Gerson in der frîhen NS-Zeit geleiteten Hachschara-Ortes »Gut Winkel – die schîtzende Insel« (Mînster 2007).

Geleitwort

9

Dank! Dank auch dem Gçttinger V&R unipress-Verlag, in dem die inzwischen fast vierzig Bnde umfassende Schriftenreihe des SFB »Formen der Erinnerung« erschienen ist! Gießen, im Mai 2009 Jîrgen Reulecke

Yotam Hotam

Einleitung – Jugend und Moderne1

In der heutigen modernen und schnelllebigen Gesellschaft spielt Jungsein in verschiedener Hinsicht eine zentrale Rolle. Leitsprîche wie» Die Zukunft gehçrt der Jugend« unterstreichen die positiven Konnotationen des jugendlichen Alters und Daseins noch zustzlich. Doch was steht hinter dem Begriff »Jugend« und wann erhielt er diese positive Bedeutung, die auch heute noch gilt? Die Beitrge des vorliegenden Sammelbandes wollen sich diesen Fragen im Hinblick auf einen spezifisch jîdischen Zusammenhang annehmen.2 Zur Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert bildete sich im deutschsprachigen Raum Mitteleuropas unter dem Eindruck der Krise des Bîrgertums und der Bîrgerlichkeit ein neuer Jugendbegriff.3 Mit »Jugend« war nunmehr das Ideal einer unabhngigen Existenz gemeint, eine Art Freiraum fîr junge Menschen außerhalb des gesellschaftlichen, kulturellen und gesetzlichen Rahmens der traditionellen bîrgerlichen Gesellschaft; er war gegen diesen Rahmen gerichtet und ist als Reaktion auf die Krise, in der sich das gesamte 1 Aus dem Hebrischen von David Ajchenrand. 2 Zur jîdischen Geschichte als reprsentatives Beispiel der europischen Geschichte siehe Moshe Zimmermann: Moderne jîdische Geschichte als Testfall der europischen Geschichte, in: Manfred Buhr (Hg.), Das geistige Erbe Europas, Neapel, 1993, S. 89 – 100, wie auch Dan Diner: Geschichte der Juden – Paradigma einer europischen Geschichtsschreibung, in: ders.: Gedchtniszeiten. ˜ber jîdische und andere Geschichten, Mînchen 2003, S. 246 – 262. 3 Der Zusammenhang zwischen der beschleunigten Modernisierung und der Krise des Geistes (Kulturkrise) wird in den zahllosen Werken îber diese Epoche besonders hervorgehoben. Exemplarisch hierzu sind Fritz Stern: The Politics of Cultural Despair. A Study in the Rise of the Germanic Ideology, New York 1965; Hans-Ulrich Wehler : Modernisierungstheorie und Geschichte, Gçttingen 1975; Jîrgen Kocka: Bîrgertum im 19. Jahrhundert: Deutschland im europischen Vergleich, Mînchen 1988; Reinhart Koselleck: Critique and Crisis: Enlightenment and the Pathogenesis of Modern Society, Cambridge 1988; Michael Tiech und Roy Porter (Hgg.): Fin de Siºcle and its Legacy, New York 1990; Thomas Nipperdey : Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Mînchen 1990 – 1992; David Blackbourn und Richard J. Evans, The German Bourgeoisie, London und New York 1992; Wolfgang Hardtwig und Harm-Hinrich Brandt (Hgg.): Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert, Mînchen 1993; Geoff Eley (Hg.): Society, Culture and the State in Germany, 1870 – 1930, Ann Arbor 1996.

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Yotam Hotam

Umfeld zu befinden schien zu verstehen.4 Dieser neue Jugendbegriff fand auf verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Ebenen – in der Gesellschaftskritik, in der Philosophie und Literatur, in Kunst und østhetik und selbstverstndlich auch in den großen ideologischen Bewegungen der Zeit – vielfltigen Ausdruck.5 So prgte zum Beispiel Carl Gustav Jung den Archetyp »Puer Aeternus«; Walter Benjamin schrieb îber die Metaphysik der Jugend, und Karl Mannheim entwickelte jenen Generationsbegriff, der seither fast in jeder Diskussion îber neue Jugendgenerationen vorkommt. Andere Denker jener Epoche, darunter Oswald Spengler und Erich Gutkind, beschftigten sich ebenfalls mit dem Jugendideal.6 Das Drama »Frîhlings Erwachen« von Frank Wedekind setzte sich mit Jugenddasein als einem autonomen Lebensraum auseinander ;7 in die gleiche Richtung deuten auch die damals weit verbreiteten Illustrationen von Fidus (Hugo Hçppener), in denen das Bild von Jugend eine dominierende Rolle spielt. Jugendalter, Jugendexistenz, Jugendraum und Psychologie des Jugendalters waren wichtige Kernbegriffe jener Zeit. Sie reflektierten das zunehmende Bewusstsein fîr die besondere Rolle der jungen Menschen in der Gesellschaft. Die zunehmende Bedeutung des Jungseins brachten spter Philippe Aries dazu, den neuen Jugendbegriff als das prgende Phnomen des 20. Jahrhunderts zu bezeichnen, whrend er die Kindheit als wichtiges Element der Gesellschaftsdefinition des 19. Jahrhunderts ansah.8 Ein deutlicher Ausdruck des neuen Jugendideals waren die um die Jahrhundertwende entstandene Jugendbewegung und die daraus hervorgegangenen spezifischen Jugendkulturen, die bis heute fortwirken. Als erste Gruppierung 4 Zur Verknîpfung von Jugend und Jungsein als Phnomen der hier behandelten Epoche siehe auch Philippe Aries: Centuries of Childhood: A Social History of Family Life, New York 1992, S. 29 – 31. Aries weist darauf hin, dass mit Jugend im Wesentlichen die Lebensphase des Erwachsenwerdens gemeint ist, im Gegensatz etwa zum Mittelalter, als Jugend die Hauptlebensphase des Menschen, also das Erwachsensein, bezeichnete. 5 Trotz unterschiedlichem Ausdruck beruht dieser Jugendbegriff, wie hier behauptet werden soll, auf einer gemeinsamen Grundlage. Dem widerspricht der Standpunkt, wonach die Entfaltung der Jugendorganisationen in Europa auf mehreren Grundlagen beruhte. Siehe dazu Matityahu Mintz: Jugendkrise. Die Schomerbewegung 1911 – 1921. (hebr. Chevlei Neurim. Ha-Tnuah ha-Schomrit 1911 – 1921), Jerusalem 1995, S. 9. 6 Fîr eine eingehende Diskussion von Jungs Begriff Puer Aeternum siehe Marie Louise von Franz: Puer Aeternum, Zîrich 1970; zu Walter Benjamin siehe Walter Benjamin: Selected Writings, Vol I, 1913 – 1926, Marcus Bullock und Michael W. Jennings, Harvard 2004; vgl. auch Karl Mannheim: Diagnose unserer Zeit: Gedanken eines Soziologen, Zîrich 1951; Oswald Spengler : Der Untergang des Abendlandes: Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Mînchen 1920; siehe auch Spenglers Vorlesung vor Studenten vom Februar 1924, in der er sich auf die Epoche der Jugend und Erneuerung bezieht, ders.: Politische Pflichten der deutschen Jugend, Mînchen 1924. Zu Gutkind siehe den Beitrag von Sharon Gordon in diesem Band. 7 Frank Wedekind: Frîhlings Erwachen, Mînchen 1906. 8 Aries: Centuries of Childhood (Anm. 4), S. 33.

Einleitung – Jugend und Moderne

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solcher Jugendbewegung gilt der »Wandervogel«.9 Offiziell gegrîndet wurde er am 4. November 1901, doch gehen seine Anfnge auf Aktivitten hçherer Schîler im Berliner Stadtteil Steglitz Ende des 19. Jahrhunderts zurîck. Die jungen Leute, die sich dem »Wandervogel« und spter der »Freideutschen Jugend« anschlossen, stammten mehrheitlich aus bildungsbîrgerlichen Verhltnissen und waren von dem Bestreben geleitet, ihr eigenes Leben im Kreise Gleichaltriger zu gestalten, frei von ußeren (bzw. fremden) Einflîssen und unabhngig von Gesellschaft, Kultur, Schule und der Erwachsenenwelt. Ihren ersten Hçhepunkt erreichte diese deutsche Jugendbewegung dann bei einem Jugendfest auf dem Hohen Meissner, einem Bergrîcken çstlich von Kassel, im Oktober 1913, wo der neue Jugendbegriff zum Ideal der Jugendbewegung erhoben wurde (= »Meißnerformel«, s. dazu den folgenden Beitrag von Jîrgen Reulecke). Bevor wir uns dem besonderen deutsch-jîdischen Ausdruck und der besonderen deutsch-jîdischen Interpretation dieser Formel zuwenden, soll zunchst kurz die Hauptthese des vorliegenden Sammelbandes angesprochen werden: Ein zentraler Grund zur Entstehung jenes neuen Jugendbegriffs war zweifellos der demografische Wandel, den Mitteleuropa seit dem Anbruch der »Moderne« erlebte und aus dem unter anderem neue Definitionen der Lebensalter hervorgingen.10 Zu diesem Spektrum gehçrt auch die wachsende spezifische Bedeutung des Nachwuchses in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts, die zu einer Verlagerung des gesellschaftlichen Blicks von den Erwachsenen auf die jeweiligen jungen Generationen fîhrte. Doch letztlich standen nicht die demografischen Aspekte bei der Diskussion des Jugendbegriffs und dessen Bedeutung im Vordergrund, sondern die Verknîpfung von Jugend und Moderne, Jugend und Modernisierung. Diese Verknîpfung kann als einfache Kausalitt dargestellt werden: Htte es die Moderne und ihre Spezifika (u. a. Urbanisierung, Verbîrgerlichung, Entstehung von Klassengesellschaft, moderner Wissenschaft, Medizin und Hygiene) nicht gegeben, kçnnte weder von demografischen Vernderungen noch von der Herausbildung von Jugend als eigener Lebensphase in Mitteleuropa gesprochen werden. Eine zweite, komplexere Deutungsmçglichkeit besteht darin, 9 Eine Jugendbewegung ganz anderer Art war die von Baden-Powell gegrîndete Pfadfinderbewegung, die sich damals in Großbritannien entwickelte und auch die verschiedenen Jugendbewegungen auf dem europischen Festland beeinflusste. Zur Entwicklung der Pfadfinderbewegung in Großbritannien siehe John R. Gillis: Conformity and Rebellion: Conflicting Styles of English and German Youth, 1900 – 1933, History of Education Quarterly 13, 3 (1973), S. 249 – 260; Paul Wilkinson: English Youth Movements, 1908 – 1930, Journal of Contemporary History 4, 2 (1969), S. 3 – 23. 10 Zur Prgung des Begriffs Kindheit in der Moderne siehe Aries: Centuries of Childhood (Anm. 4), S. 33 – 49.

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den inneren Zusammenhang zwischen dem neuen Jugendbegriff und den Besonderheiten der Moderne zu ergrînden. Dabei ist davon auszugehen, dass sich die Moderne selbst als Erneuerungbewegung begriff, die sich in besonderer Weise in der Jugend und in deren Aufbruchswillen verkçrpert sah. Diese Verknîpfung zeigte sich deutlich um die Jahrhundertwende im Kontext der damaligen Kulturkrise: In dieser geistigen Krise, die die Sptmoderne im Allgemeinen und das ›fin de siºcle‹ im Besonderen prgte, fîhlte sich ganz besonders das Bildungsbîrgertum herausgefordert, den immer unîbersehbar werdenden bedrohlichen gesellschaftlichen Folgen der Modernisierung zu begegnen und nach zukunftsweisenden Lçsungen zu suchen. Viele Hoffnungen wurden dabei auf die junge Generation gesetzt. Mit ›Jugend‹ war jedoch nicht in erster Linie ein bestimmtes Alter gemeint – wenngleich ein gewisser Zusammenhang zwischen dem Alter der Teilnehmer am Jugendprojekt und dem Jugendideal selbst gesehen wurde –, sondern vielmehr ein Denkmodell: ein abstraktes Ideal, eine Ikone, ein Bewusstseinszustand. ›Jugend‹ wurde geradezu zu einem Austauschbegriff fîr ›Modernsein‹, mit dem sowohl die Trger der Moderne als auch deren Kritiker und selbst die Revolutionre gegen die negativen Seiten der Moderne gemeint sein konnten. ›Jugend‹ stand fîr eine intensive Suche nach zukunftsgerichteter Wertsetzung gegen die etablierte Kultur, fîr Bedeutung als Selbstzweck und – im abstrakten Sinne – fîr die Aufhebung der von vielerlei Traditionen bestimmten historischen Zeit, gegen die sich die Erneuerung richtete. In diesem Sinne wurde ›Jugend‹ zum Kernsymbol der Moderne. Da sich im Jugendbegriff smtliche Spannungen dieser Epoche widerspiegelten – von den theologischen Grundlagen der Skularisierung bis hin zum Bedîrfnis nach Revolte gegen das Etablierte, gegen die Kultur, gegen die Elterngeneration mit deren Gesetzen usw., war er ikonografisch und ikonoklastisch zugleich: ikonografisch in der sich entwickelnden Jugendkultur sowie in der Auffassung von Kçrper, østhetik, Theologie und Zeit, die diese Kultur nhrte; ikonoklastisch gegen die Kultur, aus der diese Jugendkultur zwar hervorging, die aber mit den îberholten Werten der Elterngeneration, der bîrgerlich-liberalen Kultur und der gesamten historischen Epoche, von der sich die junge Generation lçsen wollte, gleichgesetzt wurde. An dieser Stelle sei betont, dass Jugend in diesem Sinn weitestgehend das Projekt des mnnlichen Bildungsbîrgertums war. Es handelte sich also letztlich um eine innerbîrgerliche und sogar zunchst geschlechtsspezifische Angelegenheit,11 um ein modernes bîrgerliches Phnomen also, das sich als Revolte gegen das îberkommene Erbe und die bîrgerlichen Traditionen verstand, sich dabei gleichsam îber die eigenen Grenzen hinwegsetzte und einen »neuen 11 Siehe hierzu z. B. George L. Mosse: The Culture of Western Europe: The 19th and 20th Century, Boulder, Colorado 1988, S. 216.

Einleitung – Jugend und Moderne

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Menschen« schaffen wollte. Dass dieses Phnomen vor allem junge Mnner betraf und ihren Bedîrfnissen entsprang, zeigt die Jugendbewegung selbst: Die von ihr beschworene Kameradschaft betraf fast ausschließlich mnnliche Individuen und ihr Jugendideal bezog sich lange Zeit allein auf den mnnlichen Kçrper. Dasselbe galt auch fîr die Psyche des jungen Menschen: Der von der damaligen Psychologie als Grunderfahrung der Persçnlichkeitsbildung definierte Ablçsungsakt vom Elternhaus bezog sich nahezu vçllig auf junge Menschen mnnlichen Geschlechts.12 Wenn Weiblichkeit eine Rolle spielte, dann nur als inneres mnnliches Ereignis oder in jenem homoerotischen Sinne, den Hans Blîher der Jugendbewegung in ihren Anfngen unterstellte13 Die hier angesprochenen inneren Zusammenhnge îberhçhten also das Phnomen Jugend, das immer strker einen bestimmenden gesellschaftlichen Charakter erlangt hatte, zu einem Epochensymbol und die Epoche, die den Jugendbegriff auf ihre Fahnen geschrieben hatte, zu einem »Zeitalter der Jugend«. Seitdem sie zum Kultursymbol avancierte, ist ihre Erforschung unerlsslich fîr das Verstndnis jener historischen und kulturellen Phnomene, die îber die historischen und geographischen Grenzen ihrer eigenen Zeit bis heute fortwirken: von der Studentenrevolte der sechziger Jahre bis hin zur Konsumkultur und dem Schçnheitsmythos unserer Zeit – all diese Phnomene wurzeln letztlich in jenem zu Beginn des 20. Jahrhunderts entworfenen Jugendbild und -ideal.14 Das »Zeitalter der Jugend« ist der zeitliche Rahmen, in den auch die jîdische Ausformulierung und Interpretation des Jugendbegriffs einzuordnen sind. Ihre Ursprînge liegen ohne Zweifel im deutschen Kulturkreis; dennoch waren sie auch zum Teil spezifisch jîdisch, was ihre Inhalte, Symboliken, østhetiken und damit verknîpften Interessen betrifft. Mit einer deutsch-jîdischen Interpreta12 Dies ist eine grundstzliche Kritik an der Freudschen Psychologie und der aus ihr abgeleiteten Lehre. Vgl. z. B. Carol Gilligan: In a Different Voice. Psychological Theory and Women’s Development, Cambridge 1993. 13 Der erste Text hierzu ist gleichzeitig die erste Arbeit îber die Jugendbewegung: Hans Blîher : Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung, Berlin und Prien 1919. Zur Rolle der Homoerotik bei der Entstehung der modernen Mnnlichkeitsbilder siehe auch George L. Mosse: Nationalism and Sexuality, New York 1985; ders.: The Image of Man, New York 1982. 14 Der unmittelbare Auslçser der Studentenrevolte war der Protest franzçsischer Studenten gegen die Hochschulpolitik der franzçsischen Regierung, doch sie entwickelte sich bald zu einer breiten soziokulturellen Protestbewegung, die auf einer Mischung von sozialistischer Ideologie und einer von jungen Menschen getragenen Strategie der Erneuerung beruhte. Vgl. hierzu Daniel Cohn-Bendit/Jean-Pierre Duteuil/Alain Geismar/Jacques Sauvageot: The French Student Revolt: The Leaders Speak, New York 1968. Der Zusammenhang zwischen der Studentenrevolte und der Jugendfrage diente dem Werk des franzçsisch-jîdischen Philosophen Emmanuel Levinas als Ausgangspunkt, vgl. Emmanuel Levinas: Nine Talmudic Readings, Bloomington 1990. Der Begriff »Schçnheitsmythos« stammt von Noami Wolf: The Beauty Myth: How Images of Beauty are Used against Women, New York 1992.

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tion von Kultur- und Bewußtseinsinventaren jener Zeit kçnnen zwei Komponenten gemeint sein: Einerseits kann es um deutsche Verhltnisse im engeren Sinn gehen, verknîpft mit den Jugendbewegungen und anderen Gruppierungen jîdischer Jugendlicher in Deutschland selbst, etwa den jîdischen Jugendbewegungen »Blau-Weiß«, »Kadima« oder »Jungjîdischer Wanderbund« (JJWB), sowie den jîdischen Studenten- und Sportvereinen in Berlin, Mînchen, Frankfurt und in weiteren deutschen Stdten. Andererseits nimmt aber eine solche deutsch-jîdische Interpretation auch die viel breitere, die Grenzen des deutschen Nationalstaates sprengende und sich îber ganz Mitteleuropa erstreckende kulturelle Dimension in den Blick – dies besonders im Hinblick auf die Bedeutung der deutschen Sprache.15 Das deutsch-jîdische Denkmodell war fîr jîdische Jugendliche in ganz Mitteleuropa von prgender (oder vielleicht sogar) identittsstiftender Bedeutung und Relevanz, in Prag ebenso wie in Lemberg, Salzburg oder Wien, fîr jîdische Jugendbewegungen wie den »Hashomer Hazair« und fîr grundlegende Ideale wie »Chalutziut« (hebrisch: [zionistischer] Pioniergeist). In diesem Zusammenhang genîgt es nicht, den Einfluss der deutschen Kultur als eine Einbahnstrasse zu betrachten. Vielmehr ist zu ergrînden, wie die Dramatik und die Atmosphre jener Zeit in die eigentîmliche Welt der jîdischen Jugend Eingang fanden und wie sie die spezifischen jîdischen Interpretationen des allgemeinen Denkmodells hervorriefen. Im gesamten Spannungsfeld zwischen dem sogenannten assimilierten Judentum und dem nationaljîdischen, zionistisch orientierten Judentum in Mitteleuropa spielten die Jugend und die Einstellung zur Jugend eine zentrale Rolle. Der Wettbewerb zwischen beiden Richtungen konzentrierte sich weitgehend auf die Beeinflussung der Jugend und der jîngeren Generation. Hier wurde die Entscheidung îber die Zukunft des Judentums erwartet: Die Jugendbewegungen, aber nicht zuletzt auch die jîdischen Turn- und Sportvereine wurden zum Schauplatz fîr die Austragung des innerjîdischen Kampfes um die Zukunft. Zur bitteren Ironie und zu den Paradoxien der Geschichte gehçrt zudem die Tatsache, dass im NS-Regime ein solches auf die Jugend gerichtetes Interesse seinen Hçhepunkt erreichen konnte und die Rettung der Jugend zum obersten Ziel wurde. Der erste Teil des vorliegenden Bandes ist theoretischen Fragen gewidmet, die im Zusammenhang mit dem Kernbegriff »Jugend« stehen und auch die Grundlage fîr die zeitgençssischen Debatten lieferten: Jugend wird als ausgeprgte Strategie der Moderne dargestellt (Hotam), als Symbol im politischtheologischen Diskurs îber moderne Gesellschaft und Kultur (Gordon), als tragisches Ideal fîr die neue jîdische Identittsbildung (Nordheimer-Nur) 15 Dan Diner: Gedchtniszeiten. ˜ber jîdische und andere Geschichten, Mînchen 2003, S. 1 – 5.

Einleitung – Jugend und Moderne

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sowie als sthetisch-ethisches Motiv (Pilarczyk). Der zweite Teil beschftigt sich mit historischen Hintergrînden der deutschen Jugendbewegung (Reulecke) und ihrer deutsch-jîdischen Pendants (Neuser) als Sonderfall, gefolgt von einem Beitrag, der die Brîcke von Deutschland nach Palstina schlgt (Klçnne). Der dritte und letzte Teil behandelt deutsch-jîdische Jugendphnomene in Europa und whrend der Emigration. Die Beitrge gewhren Einblick sowohl in deren historische Besonderheiten als auch in deren gemeinsame Grundlagen. Mit der Welt der mitteleuropischen Jugend befassen sich die Untersuchungen zur ›Generation von 1914‹ (Gordon), zur Identittssuche der jîdischen Jugend in Salzburg (Embacher), zur Prager Mystik (Maor) und zur jîdisch-kommunistischen Kritik an der Gleichsetzung der jîdischen Bewegungen mit dem Zionismus (Schîler-Springorum). Am Beispiel des »Hashomer Hazair« wird sodann die jugendliche Emigrationserfahrung gezeigt (Peled). Den Abschluss bildet eine neue Studie zur emotionsgeladenen Beziehung der zionistischen Pioniere zum Land Israel (Neumann). Die Beitrge in diesem Band bemîhen sich, wissenschaftliches Neuland zu erschließen, und liefern Einblicke in die aktuelle historische Forschung in Israel, indem sie neuere Forschungsgebiete vorstellen und die wachsende Sensibilitt fîr Genderfragen sowie nicht zuletzt auch die unermîdliche Suche nach neuen Quellen und neuen Forschungsperspektiven dokumentieren.

I. Strategie Jugend

Yotam Hotam

»Strategie Jugend« – Politische Theologie, Zionismus und Zeit1

»Die Zeit, in der ich kam, am Anfang der zwanziger Jahre, war ein Hçhepunkt in der zionistischen Bewegung. Eine, wie soll ich sagen, glïhende Jugend, die sich das Hçchste von drïben, von der Arbeit in Palstina versprach, war ins Land gekommen, und die Anstrengungen fïr die Grïndung einer jïdischen Gesellschaft, die ihr eigenes produktives Leben haben wïrde, waren von großer Intensitt. Es waren wichtige und wunderbare Jahre, der Schatten ungeachtet, die heraufzogen und sich bemerkbar machten … Als ich kam, gab es weniger als hunderttausend Juden im Land, und doch gab es so etwas wie einen großen Auftrieb, der von dieser Jugend kam, die sich der Sache des Zionismus als der ihren verschrieben hatte. Diese Jugend, und es ist nie zu vergessen, dass der Zionismus im Entscheidenden eine Bewegung der Jugend war, hatte etwas als selbstverstndlichen Besitz, was so vielen Jugendbewegungen fïnfzig Jahre spter so zerstçrerisch abging, ja zum Schimpfwort wurde: sie hatte Geschichtsbewusstsein.«2 Dieses Zitat von Gershom Scholem ist eine romantische Versinnbildlichung der Verknîpfung von Zionismus und Jugend. Es handelt sich dabei nicht um einen Fremdkçrper im nationalen jîdischen Kollektivgedchtnis, dennoch îberrascht sie uns, stammt sie doch aus der Autobiographie eines der schrfsten Kritiker der Jugendbewegung ganz allgemein und der jîdischen Jugendbewegung im speziellen. Scholem îbte heftige Kritik an zionistischen Jugendbewegungen wie dem »Blau-Weiß«, seit er sich in Berlin zum Zionismus bekannte. Die Debatte, die er mit dieser Kritik in Gang setzte, wurde zum Mittelpunkt des zionistischen Diskurses seiner Zeit und wird auch in den retrospektiven Arbeiten von Scholem selbst und von anderen Autoren îber ihre bewegte Jugendzeit erwhnt.3 Hans 1 Aus dem Hebrischen von David Ajchenrand. 2 Gershom Sholem: Von Berlin nach Jerusalem; Jugenderinnerungen, Frankfurt a. M. 1977, S. 109. 3 Zum Sholem-Streit mit dem »Blau-Weiß« siehe ebenda, S. 59 – 61, 93 – 95. Als Reaktion auf das Organ des »Blau-Weiß« gab Sholem die Blauweiss-Brille heraus, worin er den »Blau-Weiß« als

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Jonas (1903 – 1993), ein bekannter deutsch-jîdischer Intellektueller jener Zeit und als Jugendlicher selbst begeisterter Zionist, berichtete etwa in seinen autobiographischen Aufzeichnungen von einer der Tagungen, auf denen Scholem den »Blau-Weiß« attackierte. Es handelte sich um eine Konferenz zum Thema Zionismus, die 1922 in Berlin stattfand und an der smtliche jîdischen Jugendorganisationen vertreten waren, auf der einen Seite die jîdischen Studentenorganisationen und das »Kartell jîdischer Vereine« (KJV) und auf der anderen Seite die Fîhrung des »Blau-Weiß«. Gershom Scholem war gerade aus Mînchen zurîckgekehrt und in diesen Kreisen schon damals als Zionist bekannt.4 Er, der selbst keiner der dort vertretenen Bewegungen angehçrte, wandte sich gegen ein Zusammengehen dieser Bewegungen. Jonas bemerkt dazu folgendes: »Wie er in die Verhandlungen hineinschrie und versuchte, uns akademische Zionisten davor zu schîtzen, in diese verhngnisvolle Verbindung einzutreten, die nur die ,Entjudungstendenzen‹ und den Entfremdungsprozess der modernen assimilierten Juden weiter verstrken wîrde.«5 Auch der sptere deutsch-jîdische Religionsphilosoph Ernst Simon soll in seiner Rede auf dieser Konferenz Kritik an der »Blau-Weiß«-Bewegung geîbt haben. Sie sei nicht als Rîckkehr zu den Quellen des Judentums durch den Zionismus, sondern als neue Form des Heidentums zu betrachten.6 Im Rahmen seiner Kritik, die er bereits einige Jahre vor dieser Konferenz zu ußern begann, verurteilte Scholem die romantische Verklrung der jîdischen Jugendbewegungen und ihre militrischen Zîge. Dies deutet auf einen mçglichen Widerspruch hin: Einerseits unterstîtzte er den Zionismus als Jugendbewegung des jîdischen Volkes; andererseits kritisierte er die sich darin entfaltende Jugendkultur. Wie ist dieser Gegensatz zwischen Scholems Kritik und seiner autobiographischen Ikonographie zu verstehen? Handelt es sich tatschlich um einen Widerspruch? Richtete sich die Kritik des jungen Scholem an den Jugendbewegungen (von der er seine eigene Bewegung »Jung Juda« ausnahm) ausschließlich gegen den seiner Meinung nach falschen Ausdruck des Jugendideals, mit dem er sich eigentlich identifizierte? Zumindest der eingangs zitierte Ausschnitt aus seinen Jugenderinnerungen lsst diesen Schluss zu. Scholem îbte heftige Kritik an der Interpretation des Jugendideals durch die zionistisches Plagiat des deutschen Wandervogels kritisierte. In anderen Beitrgen verurteilte er den romantischen Geist der Jugendbewegungen als vçlligen Unsinn. 4 David Baile zufolge soll sich Scholem bereits 1911 als 14-Jhriger dem Zionismus zugewandt haben. Ders.: Gershom Scholem. Kabbalah and Counter-History, Cambridge 1982, S. 11. Siehe dazu auch Scholem: Von Berlin nach Jerusalem (Anm. 2), S. 11. Baile bezieht sich auf Scholems autobiographische Aufzeichnungen. 5 Hans Jonas: Erinnerungen, hrsg. von Christian Wiese, nach Gesprchen mit Rachel Salamander, Leipzig 2003, S. 97. Scholem selbst erwhnt in diesem Zusammenhang nur die Begegnung mit Ernst Simon. Siehe Scholem: Von Berlin nach Jerusalem (Anm. 2), S. 189. 6 Jonas: Erinnerungen (Anm. 5), S. 96.

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Jugendbewegungen, jedoch nicht am Jugendideal selbst, von Kritik an der Verknîpfung von Jugend und Zionismus ganz zu schweigen. Doch worum geht es eigentlich bei dem angesprochenen Jugendideal? Oder mit anderen Worten: Was bedeutet hier ›Jugend‹? Eine Mçglichkeit, diese Frage zu beantworten, ist empirischer Art: Man versucht, einen Gesamtîberblick îber die Geschichte aller Jugendphnomene des frîhen zwanzigsten Jahrhunderts – die Gruppen, Kreise, Vereine, Clubs oder Verbnde jeder Art – zu gewinnen und aus diesem empirischen Material Rîckschlîsse auf Gemeinsamkeiten zu ziehen. Ein solches Beispiel aus den 1960er Jahren ist die Geschichte der Jugendbewegungen von Walter Laqueur, der selbst Mitglied einer deutsch-jîdischen Jugendbewegung war.7 Als Alternative bietet sich freilich die ˜bertragung des an sich abstrakten und ungeklrten Jugendbegriffs in – durch Karl Mannheim verbreitete – konkretere soziologische Kategorien wie beispielsweise ›Generation‹ an, um diese dann anschließend nach sozialen und kulturellen Gesichtspunkten zu untersuchen. Eine dritte Mçglichkeit ist gnzlich theoretischer Natur. Hier hat der Betrachter die Aufgabe, zu prîfen, ob diesen verschiedenen historischen Phnomenen ein gemeinsames Denkschema zu Grunde liegt, und zu versuchen, es aus seinen inneren Zusammenhngen heraus zu verstehen.8 Im vorliegenden Beitrag soll die dritte Variante zur Anwendung kommen. Das Jugendideal, so mçchte ich darlegen, ist als abstrakte Strategie verschiedenen, zuweilen widersprîchlichen Anstzen, Interpretationen und Phnomenen gemein. Die Untersuchung berîcksichtigt zwei Ebenen: die theologische Ebene und, davon abgeleitet, die Zeitebene. Die Strategie ›Jugend‹ lsst sich, wie gezeigt werden soll, in theologischer Hinsicht als moderne Hresie interpretieren. Fîr den Zeitbegriff bedeutet dies die Verwischung der Grenzen zwischen ›Gegenwart‹ und ›Ewigkeit‹ bzw. ›ewige Gegenwart‹.

7 Walter Laqueur : Young Germany. A History of the German Youth Movement, London 1962. Dieser Ansatz wirkte auch in nachfolgenden Arbeiten fort: Peter D. Stachura: The German Youth Movement 1900 – 1945, New York 1981; vgl. auch Mosses Werk îber die Krise der deutschen Ideologie, das sich eingehend mit der Jugendkultur jener Epoche und ihrer Bedeutung befasst. Ders.: The Crisis of the German Ideology, New York 1964. Mosses Interesse an der Jugendkultur der sechziger Jahre kommt auch in seinen spteren Werken zum Ausdruck: George L. Mosse: Nationalism and Sexuality, New York 1985; ders.: The Image of Man, New York 1982. 8 Vgl. den hermeneutischen Ausgangspunkt von Eric Voegelin: The New Science of Politics, Chicago 1952, S. 27 – 30.

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Strategie Jugend Unzhligen zeitgeschichtlichen Darstellungen und Forschungsarbeiten entnehmen wir, dass sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eine ganze jîdische Generation mit der Identittssuche beschftigte und dabei gegen jene Lebenswelt revoltierte, in der sie aufgewachsen war. Dies war das große Drama jener Epoche, die von einer schweren Kulturkrise gezeichnet war. Viele Zeitgenossen empfanden das schnelle Tempo des gesellschaftlichen Wandels – die Modernisierung – als îbereilten Sprung von der traditionellen zur modernen Gesellschaft und somit als akutes Problem.9 Doch damit sei nicht gesagt, dass radikale Vernderungen zwangslufig mit Krise gleichzusetzen sind, sondern nur, dass sie in ihrer Zeit als solche empfunden wurden. Es handelte sich also um einen sozialen Umbruch, der im gesellschaftlichen Bewusstsein der damaligen Zeit die Bedeutung einer Krise erlangte. Und da dieser mit dem Bîrgertum identifiziert wurde, kodifizierten vor allem die Trger des Bîrgertums diese Krise als die ›Krise des deutschen Bîrgertums‹. Die Krisendiagnose war mit einem Aufruf zum Handeln verbunden, einem Aufruf zur Suche nach den Wurzeln der Krise und nach Lçsungen. Die Kultur und ihre Schçpfungen waren wiederum von einer Atmosphre der Revolte geprgt, besonders was die Jugend und Jugendkultur anbetraf, die jîdische Jugend mit eingeschlossen, wie hier gezeigt werden soll. In diesem Umfeld verstand sich die zionistisch-deutsch-jîdische Jugend als Avantgarde, die sich bei der Identittssuche gegen die Lebensform auflehnte, aus der sie selbst hervorgegangen war. Die zionistische Jugend verlieh dem Drama ihrer Epoche zwei gegenstzliche Symbole: die Revolte gegen den vertrauten jîdischen Lebensrahmen und den Imperativ der Rîckbesinnung auf ein ursprîngliches, authentisches jîdisches Ich. Das eine Symbol war konkreter Natur: Auflehnung gegen das jîdische Diasporadasein und dessen Ablehnung. Die Ablehnung betraf wiederum zweierlei: den halachisch-religiçsen Lebensrahmen, aber auch den der deutschen Kultur. Beide wurden als verbreiteter Ausdruck derselben problematischen Wurzel betrachtet: das jîdische Leben in der Diaspora an sich. Das zweite Symbol war abstrakter Natur, und niemand wusste genau, was eigentlich gemeint war mit dem ursprînglichen oder authentischen jîdischen Ich und wie das vom jîdischen Jugendlichen antizipierte authentische Leben genau beschaffen sein kçnnte. Der im deutschen Kulturkreis laut werdende Aufruf an die zionistische Jugend, das jîdische Ich wieder zu entdecken, trug deshalb die Zîge einer Identittssuche, bei der es einzig und allein darum ging, die Wurzeln bzw. den 9 Die nachfolgenden Bemerkungen sind der in der Einleitung zitierten Literatur îber die Epoche entnommen.

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Kern des wie auch immer gearteten jîdischen Seins zu finden. Die Suche nach diesen Wurzeln prgte eine ganze Generation. Das Gesetz der Diaspora – die Religionsgesetze einerseits und der bîrgerliche deutsche Kulturcode andererseits – wurde mit der Generation der Eltern, dem Diaspora-Judentum gleichgesetzt, dem die Entfremdung vom dem wahren jîdischen Ich vorgeworfen wurde. Der Imperativ der Selbstfindung fand wiederum Ausdruck in Verhalten, Lebensweise, Solidaritt und intensiver jugendlicher Identittssuche. All diese Faktoren bildeten die Grundlage der Vereinigung des jîdischen Jugendlichen mit seinem inneren jîdischen Ich, das sich nicht klar umschreiben ließ. Aus dem bisher Gesagten ergeben sich drei Elemente der Weltanschauung der zionistischen Jugend jener Epoche: Erstens: Die deutsch-jîdische Jugend war von tiefem Glauben an ein ursprîngliches jîdisches Ich durchdrungen. Zweitens: Das Ziel des jîdischen Jugendlichen war die Vereinigung mit dem ursprînglichen, intimen inneren jîdischen Ich. Drittens, und meiner Meinung nach am wichtigsten: Die Suche nach dem inneren Ich wurde als Kernpunkt des Jungseins empfunden. Dies wiederum bedeutete, dass die Strategie der Suche mit dem Jugendbegriff gleichgesetzt wurde. Mit anderen Worten: Jugend im Bewusstsein der Epoche bedeutete Strategie der Selbstsuche. Diese Etikettierung von Jugend als Strategie der Selbstsuche impliziert jedoch nicht eine einheitliche Antwort auf die Frage nach der Beschaffenheit des gesuchten inneren jîdischen Wesens. Dass diese keineswegs gegeben war, zeigt sich allein schon bei dem zu Beginn erwhnten Streit zwischen Scholem und der Jugendbewegung »Blau-Weiß«. ˜berdies kam es innerhalb der Jugendbewegungen hufig zu heftigen Konflikten, wie dies beispielsweise innerhalb des »Blau-Weiß« die Auseinandersetzung zwischen der Leiterschicht und den jungen Bewegungsmitgliedern demonstriert, oder gar zu inneren Spaltungen wie etwa bei »Kadima« und dem »Jungjîdischen Wanderbund«.10 øhnliche Konflikte prgten auch den »Wandervogel«. Doch so hnlich oder verschieden diese Konflikte auch waren, sie kçnnen die Behauptung nicht widerlegen, dass sich die Jugendlichen an einem gemeinsamen strategischen Grundprinzip orientierten: Sie identifizierten sich alle vollstndig mit der beharrlichen Suche nach dem wahren, ursprînglichen inneren jîdischen Ich und bedienten sich dabei einer Strategie der Selbstsuche, die mit der allgemeinen Bezeichnung Jugend gleichgesetzt wurde.

10 Zu den zeitgeschichtlichen Berichten îber die zahlreichen inneren Konflikte der jîdischen Jugendbewegung siehe zum Beispiel Livnot we-Lehibanot: Tnuat ha-Bonim be-Germania 1920 – 1940 (Bauen und sich aufbauen. Die Habonim-Bewegung in Deutschland; hebr.), Tel Aviv 1990, S. 38 – 40; Hannah Weiner : Rastlose Jugend in einer selbstzufriedenen Volksgruppe. Die zionistische Jugendbewegung Hechalutz in Deutschland (hebr.), Tel Aviv 1996, S. 53.

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Politische Theologie Die Suche nach dem wahren, ursprînglichen inneren jîdischen Ich fîhrte in folgende Richtung: Das ursprîngliche jîdische Wesen wurde als innere Stimme empfunden, als selbsterfahrene, selbstevidente innere Realitt des jîdischen Jugendlichen. Hans Jonas definierte die Selbstsuche als von Hindernissen gesumten Weg hin zum »innere[n] Hçren des Menschen«, den er als zionistischjîdischer Jugendlicher selbst beschritt.11 Was dieses »Hçren« empfindet, ist die Stimme, die, laut Jonas, das authentische, ursprîngliche innere jîdische Ich war ; seine Worte sind typisch fîr die allgemeine geistige Haltung seiner Generation. An dieser Stelle mçchte ich auf folgenden wichtigen Punkt hinweisen: Das immanente (bzw. innere) wahre Ich, wonach der Jugendliche Ausschau hielt, wurde weitgehend als Element jenseits der Realitt, in der er aufwuchs, empfunden, wenn nicht gar als deren Gegensatz oder Widerspruch.12 Darin lag die Bedeutung der Jugenderfahrung jener Zeit: eine innere Wahrheit freizulegen, deren Ursprung sich jenseits der etablierten Auffassungen, Gewohnheiten, Werte und Verhaltensnormen befand; kurz: Sie war verborgener Art.13 Fîr den in der Diaspora aufwachsenden jîdischen Jugendlichen galt alles Vertraute, einschließlich der Denkschemata, die seine Weltanschauung nhrten, als Hindernis auf dem Weg zu seinem ursprînglichen immanenten Wesen. Demzufolge empfand er seine Umwelt als – diesseits von seiner wahren Realitt gelegenen – virtuellen Raum und die Existenz in diesem Raum als unwahre Existenz, die abgelehnt werden musste. Jungsein bedeutet hier also Entfremdung, war aber auch radikale Ablehnung der Welt. Diese radikale Ablehnung ist das Fundament der Strategie Jugend. Die Betonung bei dieser letzten Einsicht liegt nicht auf der Frage, ob sich die zionistischen Jugendlichen der Grundlagen des Projekts, an dem sie teilnahmen, bewusst waren, wenn es zweifellos auch Zeitgenossen gab (z. B. Hans Jonas), die selbst in die metaphysischen Tiefen ihrer Weltanschauung zu blicken vermochten. Es geht vielmehr um das bewusste oder unbewusste Denkmodell, das der kollektiven Strategie Jugend in jener Epoche zu Grunde lag. Dieses Modell wurde mit der Suche nach dem verborgenen immanenten Ursprung gleichgesetzt, der sich jenseits der Welt befand, wie sie der junge Mensch – im vorliegenden Fall der jîdische Jugendliche – definierte. Hier sei erneut betont: Es geht mir keineswegs darum, zu behaupten, dass die verschiedenen Wege der Freisetzung dieses verborgenen Ichs im Grunde alle gleich verliefen. Wie bereits erwhnt, wurden von verschiedenen Gruppen und manchmal auch innerhalb 11 Jonas, Erinnerungen (Anm. 5), S. 63. 12 Ebenda. 13 Zur Wahrnehmung dieser Angelegenheit siehe ebenda, S. 68 – 70.

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derselben Gruppe verschiedene, in gewissen Fllen gar widersprîchliche Gedanken zum Prozess und Weg der Selbstfindung geußert. Dennoch mçchte ich auf ein gemeinsames Fundament hinweisen, auf jene Strategie nmlich, die man mit der mit Jugend gleichgesetzten Suche nach dem verborgenen Ich definieren kçnnte. Die historische Bedeutung der Gleichsetzung von Jugend und Suche nach dem verborgenen Ich zeigt sich an folgendem Beispiel: Die zionistische Jugend revoltierte gegen das Diasporadasein, wobei sich ihre Kritik gegen das Fundament der sie umgebenden Kultur richtete, zu der auch die jîdische Bevçlkerung gehçrte. Es handelte sich nicht um einen abstrakten Widerstand gegen die vertraute Realitt, sondern um eine ausdrîckliche Ablehnung der inneren Logik dieser Welt. Diese Ablehnung hatte meines Erachtens eine ausgeprgt theologische Bedeutung, d. h. das Denkmodell, worauf die Strategie Jugend beruhte, war theologischen Charakters. Die theologische Sphre erwhne ich hier aus zwei Grînden: Der erste hngt mit der Interpretation eines zentralen Begriffs im Bewusstsein jener Zeit zusammen, der Skularisierung. Skularisierung ist in diesem Zusammenhang nicht einfach die Befreiung von den Fesseln des religiçsen Denkens oder der Theologie oder eine Art Entfernung der westlichen Kultur von ihren religiçsen Wurzeln, wie sie Weber in seinem Vortrag »Wissenschaft als Beruf« (1918) definierte. Sie ist vielmehr eine komplexe Verweltlichung theologischer Konzepte im modernen Denken. Der Begriff Skularisierung oder Skularisation versinnbildlicht dies in seiner ikonischen Bedeutung – Verstaatlichung kirchlichen Besitzes (whrend der Franzçsischen Revolution). Die theologische Dimension wird assimiliert, verinnerlicht, ja vielleicht sogar absorbiert, doch eine eigentliche Befreiung vom religiçsen Erbe findet nicht statt. Diese Interpretation der Skularisierung gilt auch fîr die Strategie Jugend: Es handelte sich zweifellos um eine moderne Erscheinung, deren zionistische Variante sich als skular betrachtete, doch die Rîckbesinnung auf den Ursprung bzw. die Ablehnung der real existierenden Welt beinhaltete eine innere theologische Komponente, zumindest was den Erlçsungsgedanken dieser Strategie anbetraf. Es soll also nicht bestritten werden, dass die zionistische Jugendbewegung îberwiegend skular war (obwohl spter auch religiçs-zionistische Jugendbewegungen gegrîndet wurden), sondern nur auf die wirkliche Bedeutung der Skularisierung hingewiesen werden: komplexe Existenz einer theologischen Komponente in der modernen Kultur statt Befreiung vom religiçsen Vermchtnis im einfachen Sinne. Der zweite Grund fîr die Erwhnung des Theologischen hngt mit der Tatsache zusammen, dass das verborgene Ich stets einen Kontrast zur vertrauten Welt bildete und vor dem Hintergrund dieser Welt formuliert wurde. Mit anderen Worten: Das Umfeld, von dem sich der junge Mensch distanzierte, wurde stets als außerhalb des immanenten Kerns begriffen und erhielt fîr ihn folglich

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transzendente Bedeutung. Dies entsprach einer Strategie, die im Widerspruch zur Strategie des In-der-Welt-seins stand und ein Gefîhl der Ausgeworfenheit reflektierte. Auf der theologischen Ebene kçnnte man die Strategie der Suche nach dem verborgenen Ich bei gleichzeitiger Ablehnung der Kultur und ihrer Gesetze als eigentlichen hretisch-gnostischen Imperativ bezeichnen.14 Die Erwhnung der Gnosis mag îberraschen. Wie kommt es, kçnnte man fragen, dass ein Begriff aus den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung im modernen Denken Platz findet? Oder anders formuliert: Wie ist es mçglich, dass der ›sptantike Geist‹, um den Begriff von Hans Jonas zu verwenden, im ›Geist der spten Neuzeit‹ fortwirkt? Die Erklrung dafîr hat meines Erachtens mit der Art zu tun, in der verschiedene Geisteswissenschaftler und Philosophen die gnostische Ketzerei in der hier behandelten Jugendepoche definierten.15 Das theologische Profil der Strategie Jugend zeugt von ihrem Dualismus (von der Dichotomie zwischen der wahren Realitt und der virtuellen Realitt der uns bekannten Welt, zwischen denen der junge Mensch gespalten ist), vom antikosmischen Charakter ihres Strebens nach metarationalem Wissen, das uns erlauben wîrde, das Geheimnis des Daseins zu lîften (vgl. die Behauptung, dass man die vertraute, an sich falsche Weltordnung îberwinden muss, um die wahre Natur der Dinge zu erkennen) und gleichzeitig auch von der fremden und verborgenen Qualitt des sogenannten Ursprînglichen. Auf dieser Grundlage kçnnen wir uns nun mit dem hretischen Charakter der Strategie Jugend befassen, d. h. sowohl mit dem Gefîhl der Fremdheit des jungen Menschen gegenîber der Welt als auch mit der Bedeutung der Existenz einer verborgenen Wahrheit jenseits dieser Welt. Aus dieser Perspektive erscheint die Welt deprimierend, die Jugend dagegen befreiend. Bei dieser Formulierung kommt jenes theologische Profil zum Vorschein, das die einschlgige Forschung in ihrer 14 Siehe hierzu die Gedanken von Hans Jonas, ebenda. Jonas hat spter (basierend auf seiner Dissertation aus dem Jahre 1928) das bedeutendste Werk seiner Zeit zur Gnosisforschung geschrieben: ders.: Gnosis und sptantiker Geist, Gçttingen 1934/1954. Vgl. Christoph Schmidt: Der hretische Imperativ. ˜berlegungen zur theologischen Dialektik der Kulturwissenschaft in Deutschland, Tîbingen 2000. 15 Hier wre auf das wachsende intellektuelle Interesse an der Gnosis, d. h. an der auf sptantike Strçmungen und Sekten zurîckgehenden Suche nach Erkenntnis von Gott und der Welt durch philosophische Spekulation im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts hinzuweisen. Adolf von Harnacks »Marcion« îber den Paulus-Schîler Marcion war ein Hçhepunkt des modernen gnostischen Diskurses. Vgl. ders.: Marcion, das Evangelium vom fremden Gotte: Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche, Leipzig, 1920; Richard Reitzenstein: Das iranische Erlçsungsmysterium; religionsgeschichtliche Untersuchungen, Bonn 1921, ist ein weiteres Beispiel fîr das wachsende intellektuelle Interesse an der Gnosis in jener Zeit. Doch auch jîdische Denker wie Martin Buber, Gershom Scholem und Hans Jonas befassten sich intensiv mit diesem Thema. Jonas hat dazu, wie erwhnt, promoviert und daraus spter eine breitere Definition der Gnosis formuliert, die in der Forschung bis heute Gîltigkeit hat.

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Blîtezeit in der ersten Hlfte des zwanzigsten Jahrhunderts als Gnosis bezeichnete. Dualismus, die Erkenntnis Gottes und die Entfremdung von der materiellen Welt sind schließlich die anerkannten Fundamente der Gnosis im Sinne des theosophischen Denkens, das bestimmten sptantiken Sekten zugeordnet wurde und auch in der Symbolik der Moderne zum Ausdruck kommt.16 Wenn also Jugend eine Strategie war, wie hier behauptet wird, dann hatte sie theologische Bedeutung: die Bewltigung der Welt – d. h. der Kultur und der gesellschaftspolitischen Realitt – im Rahmen einer Suche nach dem immanenten, ursprînglichen Wesen, zum Ausdruck gebracht durch Ablehnung und Befreiung. Der junge Mensch war zwischen dem immanenten und dem transzendenten Kern hin- und hergerissen, von denen er sich gleichermaßen angezogen fîhlte. Dieses Selbstgefîhl ist Ausdruck des modernen gnostischen Denkmodells. Der Jugendliche scheint mit seiner ußeren Welt, der transzendentalen Existenz, weitaus strker vertraut zu sein, als mit dem inneren wahren Ich. Er glaubt, mittels Einkehr in sein Inneres durch immanente Krfte und durch die dadurch erfolgende Befreiung von den Fesseln des Gesetzes, das ihm die transzendente Welt aufgezwungen hat, die Gegenstze vereinen zu kçnnen – die ußere Realitt und das innere verborgene Ich – und erhofft sich dadurch die Erlçsung vom Kampf, von der innerlichen Spaltung und der inneren Krise. Eine solche Selbstbefreiung von der Transzendenz auf der Suche nach dem immanenten Wesen ist gleichsam verkehrte Gnosis. Was die zionistischen Jugendbewegungen anbetraf, fîhrte das hier erwhnte theologische Mançver zur politischen Schlussfolgerung Zionismus. Dass es sich beim Zionismus um eine nationale und politische Bewegung handelt, ist nicht zu bestreiten. Dennoch soll hier versucht werden, der Diskussion îber deren Bedeutung neue Impulse zu geben. Schließlich wurde der Zionismus als Antwort auf die Suche nach dem mit dem ursprînglichen Ich îbereinstimmenden nationalen Ich deklariert. Darin unterschied sich die zionistisch-jîdische Jugend vom geistigen Hintergrund anderer Jugendgruppen. Der Unterschied lag im Inhalt des politisch-theologischen Pfades, der zur Schlussfolgerung Zionismus fîhrte, aber nicht in dessen Verlauf an sich. In der zionistischen politischen Theologie wurde die Verwirklichung des immanenten jîdischen Ichs, wie erwhnt, mit dem wiedererwachenden nationalen Ich gleichgesetzt. Dieses nationale Ich bekam aus nahe liegenden Grînden die Bedeutung von Rîckbesinnung auf den jîdischen Ursprung. Gemeint waren vor allem das Ursprungsland Israel und die Ursprungssprache Hebrisch. Mit beiden beschftigten sich die zionistischen Jugendorganisationen sehr intensiv. Doch bei diesem In-sich16 Zur Gnosisforschung siehe z. B. Jonas: Erinnerungen (Anm. 5), S. 5; Adolf von Harnack: Marcion (Anm. 15), S. 1 – 2; Giovanni Filoramo: A History of Gnosticism, Cambridge 1990, S. 39; Layton Bentley (Hg.): The Gnostic Scriptures, New York 1987, S. 8 – 9.

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gehen, das nationale Bedeutung erhielt, handelte es sich im Grunde genommen um nichts anderes als um eine Umwandlung einer theologischen Identitt in eine andere. Diese Umwandlung wurde als Erkenntnis begriffen, und diese zionistische Intuition hallt in der Forschung bis heute nach.17 So ußerte etwa der ehemalige »Blau-Weiß«-Jugendleiter Felix Rosenblit, der spter unter dem Namen Pinchas Rosen als erster Justizminister des Staates Israel bekannt wurde, die ˜berzeugung, dass es dem »Blau-Weiß« darum gehe, dem jîdischen Jugendlichen durch die Naturverbundenheit den Freiraum fîr die Suche nach dem ursprînglichen Ich zu verschaffen, die ihn zwangslufig zum Zionismus fîhren werde.18 Kurt Blumenfeld verfolgte eine direktere Strategie. Fîr ihn war der »Zionismus die Jugendbewegung des jîdischen Volkes«.19 Jakob Klatzkin, eine zentrale Figur der damaligen zionistischen Kreise, schrieb im selben Geist, der Zionismus sei eine Jugendbewegung, die sich gegen die Wirklichkeit auflehne […] »getrieben vom Glauben an eine nationale Revolution.«20 Die entsprechende Parallele von Gershom Scholem wurde bereits erwhnt. Diese Beispiele besttigen die Regel: Der theologisch-politische Prozess endet mit der als unausweichlich erachteten – auf theologischer Grundlage beruhenden – zionistischen Schlussfolgerung. Fassen wir die bisherigen Erkenntnisse îber die Strategie Jugend zusammen: Die Strategie der Selbstsuche beruht auf einer metaphysischen Grundlage. Die zionistische Interpretation dieser allgemeinen Strategie deutet wiederum auf eine zustzliche Wendung hin: Obwohl Zionismus eine skulare politische Nationalbewegung war, beruhte er auf einer hretisch-theologischen Grundlage. Dies bedeutet nicht, dass der Zionismus keine skulare Bewegung war, sondern es verdeutlicht vielmehr die politisch-theologische Bedeutung der Skularisierung, wie sie die Strategie Jugend zum Ausdruck brachte.

Jugend, Zionismus und Zeit Im Mittelpunkt der zionistischen Interpretation des Jugendbegriffs steht offensichtlich die Metapher der Rîckkehr zum wahren Jîdischen. Diese Rîckkehr ermçglichte den aufkommenden jîdischen Nationalismus und hob gleichzeitig 17 Gemeint ist die Darstellung des seelischen Prozesses des jîdischen Jugendlichen von der Selbstsuche bis zur zionistischen ˜berzeugung als unausweichlichem Entwicklungsvorgang. Vgl. Chaim Schatzker : Zurîck zum Judentum, zum Zionismus und zur Verwirklichung des zionistischen Pioniergeists (hebr.), Jerusalem 1998, S. 7 – 9. 18 Siehe das vollstndige Zitat bei Weiner : Rastlose Jugend (Anm. 13), S. 62. 19 Ebenda, S. 15; Weiner zitiert Moshe Perekh ehemals Lçwenstein, Jîdische Rundschau, 29.9.1922. 20 Jakob Klatzkin: Tchumim (hebr.: Gebiete), Berlin 1925, S. 136.

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die Exilexistenz der Juden auf. Eine derartige Rîckbesinnung war Ausdruck des Gefîhls der Erneuerung und des Anknîpfens an die jîdische Existenz im Altertum. Zumindest in dieser Hinsicht ist das Verhltnis der Strategie Jugend zur Zeitdimension komplex und deshalb meines Erachtens einer Untersuchung wert. Dabei geht es nicht um einen Exkurs in die exakten Wissenschaften, sondern einzig und allein darum, einen weiteren Aspekt der Strategie Jugend zu beleuchten. In Zeitbegriffen gedacht, hat man sich die Geschichte der jîdischen Existenz in der Diaspora, die der zionistische Jugendliche ablehnt, als linearen Verlauf – oder als ein historisches Zeitkontinuum – von der Vergangenheit bis zur Moderne vorzustellen. Diesem historischen Kontinuum steht die neue Jugendexistenz als Zeitkategorie jenseits der historischen Linearitt gegenîber. Diese Schlussfolgerung scheint mir unvermeidlich, wenn man das Bewusstsein der Revolte und Entfremdung, das die neue Jugendexistenz begrîndet, auf die Zeitdimension îbertrgt. Zeitlich gesprochen mçchte sich die Jugendsphre jenseits der Geschichte der Diaspora und losgelçst davon ansiedeln. Die Zeit des Jungseins ist deshalb verborgen. In diesen neuen Zeitraum kann der Jugendliche nur dann vorstoßen, wenn es ihm gelingt, sich von den Fesseln der linearen Temporalitt zu lçsen. Gegenîber dem Zeitkontinuum Vergangenheit-Zukunft und im Gegensatz dazu wird diese Zeit als verborgene Gegenwart – das Hier und Jetzt – begriffen. Daraus ergibt sich, dass die Gegenwart die Zeit der verborgenen ursprînglichen Sphre ist, die der junge Mensch bei der Selbstsuche zu entdecken versucht. Diese Erkenntnis wird in der Strategie Jugend als Rîckkehr zu dem Verlorenen (beim Fall ins Historische) kodiert. Von dem Moment an, wo der junge Mensch diese Zeit erkennt, in sie vorstçßt oder eintaucht oder sich mit ihr verbindet, wird sie zur Ewigkeit, die man als ewige Gegenwart bezeichnen kçnnte und die im Widerspruch zur linearen Temporalitt steht, von der es sich zu trennen gilt. Diese Denkweise erinnert stark an Hegel. Karl Lçwith bemerkte jedenfalls, dass die Ewigkeit als konstante Gegenwart nicht nur der griechischen Zeitkonzeption, sondern auch jener Hegels entspreche.21 Die Strategie Jugend stellt, verglichen mit dem hegelianischen Vorbild, in gewisser Hinsicht eine Umkehrung dar, da die hier erwhnte ewige Gegenwart nicht im Verlauf der Geschichte offenbar wird, sondern eine verborgene Zeit darstellt, die der Geschichte und der ihr zu Grunde liegenden Linearitt der Zeit fremd ist. Es handelt sich also um einen Zeitraum jenseits der menschlichen Perzeption. Mit anderen Worten: Wir haben es mçglicherweise mit einem verkehrten Hegelianismus zu tun. 21 Karl Lçwith: Von Hegel bis Nietzsche: Der revolutionre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Zîrich 1941, S. 120.

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Was den Zeitbegriff betrifft, bildet die auf dem Zeitfluss zwischen Vergangenheit und Zukunft beruhende Linearitt der Zeit die Grundlage der menschlichen Perzeption von Geschichte, Kultur und Gesetz. Die Metapher Jugend steht dieser Linearitt der Zeit diametral entgegen, d. h. sie liegt jenseits der Zeitgeraden Vergangenheit-Zukunft. Die Jugend definiert sich als Gegenwart, doch im Grunde genommen handelt es sich nicht um Zeit, sondern um ein Daseinsgefîhl. Die Gegenwart wird zur Zeit des gesuchten, verborgenen immanenten Ichs und ist als solches Ziel der Strategie Jugend, da Ersteres stets dem Hier und Jetzt unserer Bestrebungen entspricht, das jenseits unserer Perzeption liegt, solange wir auf die Zeitlinearitt Vergangenheit-Zukunft fixiert sind. Die Gegenwart ist also der als Jugend kategorisierte unsichtbare Zeitpunkt zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Aus hretisch-theologischer Perspektive kann das verborgene Hier und Jetzt selbstverstndlich freigelegt und erreicht werden. Dabei handelt es sich genaugenommen um den konstituierenden Augenblick der Strategie Jugend, da er das Ziel der Suche nach der immanenten Existenz bzw. des Strebens nach Freilegung des verborgenen Hier und Jetzt und nach Eindringen in dasselbe darstellt. Die in Zeitbegriffe îbertragene hretische Theologie ist also nichts anderes als konstante verborgene Gegenwart, denn sobald der Mensch diesen Moment in sich entdeckt oder sich innerlich mit ihm verbindet, wandelt sich der Moment streng genommen zur inneren Zeit jenseits der linearen historischen Zeit. Zu dieser Frage bemerkte Scholem in seinem Tagebuch, die »Zeit als religiçse Kategorie werde zur ewigen Gegenwart«.22 In diesem Sinne ist mçglicherweise auch Eric Voegelins These der Immanentisierung der Transzendenz (»Immanentization of Transcendence«) als Basis der modernen skularen Erlçsungstheologie zu interpretieren.23 Die abstrakte Grundlage der ewigen Gegenwart beinhaltet als Schlîssel zum Verstndnis der Strategie Jugend ein breites Spektrum von Begriffen und Interpretationen. So lsst sich etwa die Verherrlichung des jugendlichen Heldentods als Ausdruck der hier besprochenen temporalen Grundlage begreifen, und ich wage zu behaupten, dass sie auch bei Bubers kurzem Flirt mit der romantischen Verklrung des Krieges 1914 eine Rolle spielte.24 Eine alternative Strategie wre, verschiedene Utopien – Kollektiv, Kibbuz, Gemeinschaft oder jîdischer Staat – als Reflektion des Ausbruchs der verborgenen Gegenwart aus der historisch-linearen Zeit darzustellen und damit die Zeit in das Rumliche zurîckzufîhren. In diesem Kontext wîrde die zionistische Gegenwartsarbeit als Befreiung von der Gesetzmßigkeit der jîdischen Geschichte empfunden, die 22 Siehe Steven Aschheim: The Metaphysical Psychologist: On the Life and Letters of Gershom Scholem, in: Journal of Modern History, 71/4 (2004), S. 909. Aschheim zitiert aus Scholems Tagebîchern. 23 Voegelin, New Science of Politics (Anm. 8), S. 124 – 125. 24 Vgl. z. B. Ulrich Sieg: Jîdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg, Berlin 2001, S. 47.

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gleichzeitig auch Teil der allgemeinen historischen Kontinuitt darstellt – ein temporales Paradoxon an sich! Dieses Konzept entspricht der allgemeinen Auffassung, wonach es sich beim Zionismus um eine messianisch-skulare Bewegung handelt, d. h. um eine Bewegung, die sich einerseits als skular verstand, andererseits jedoch auf einer eigenen theologischen Grundlage beruhte.25 Diese beiden Beispiele sind verschiedene, parallele Interpretationen ein und desselben Prinzips, beruhend auf derselben Zeitkonzeption. Will man die Strategie Jugend aus ihren inneren Zusammenhngen heraus begreifen, stçßt man bei der Behandlung des Zeitaspekts meines Erachtens an die Grenzen des Abstrahierbaren. Es handelt sich zweifellos um einen Exkurs ins Theoretische und Spekulative mit doppeltem Ergebnis: Zum einen verdeutlicht diese Diskussion die Verknîpfung zwischen Jugend als Strategie und dem Zionismus und damit die theologische Basis der Ideologie der jîdischen Einwanderung nach Palstina und der Wiederherstellung einer alt-neuen nationalen Identitt. Diese Basis ist von folgendem Zeitaspekt begleitet: Selbstbefreiung von den transzendentalen Krften im Namen einer immanenten Wahrheit und Selbstbefreiung vom linearen Zeitraum durch die auf uns hereinbrechende ewige Gegenwart. Damit fîhrt uns diese Diskussion zum mystischen und paradoxen Grundproblem des skularen Modells an sich zurîck, ein Themenkreis, der im Zusammenhang mit jîdischer Geschichte und Zionismus hufig diskutiert wird. Zum anderen ist der hier angesprochene zionistische Fall ein reprsentatives Beispiel der Strategie Jugend, die fîr eine ganze Reihe von historischen Phnomenen in der betreffenden Zeit relevant war. Mit anderen Worten: Das zionistische Beispiel ist eine Veranschaulichung des Jugendbegriffs und seiner Bedeutungen und gehçrt demzufolge zur europischen Kulturgeschichte jener Zeit.

25 Zum Konzept des tragischen Menschen siehe den Beitrag von Nordheimer-Nur in diesem Band.

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Das Projekt zur Rettung der Moderne: Erich Gutkind und Emmanuel Levinas zu Jugend, Alter und Tod1

Der Begriff Jugend bezieht sich im Kontext des hier vorliegenden Sammelbandes auf eine ganz bestimmte Altersgruppe. Die generationelle Schichtung, innerhalb der dem Begriff Jugend eine besonders wichtige Bedeutung zukam, erreichte um die Zeit des Fin de Siºcle ihren Hçhepunkt. Der Begriff Jugend ist zweifelsohne von enormer Tragweite, da es sich um eine Art Leitprinzip handelt, dem ein umfassendes begriffliches System zu Grunde lag, das fîr die Angehçrigen der modernen Gesellschaft ein nachahmungswîrdiges Modell darstellte. Diesem Phnomen wurden folgende Attribute zugeschrieben: Leben, Frische, Schçnheit und Blîte, ebenso Freiheit, das Erwachen der Triebe, das Durchbrechen von Konventionen sowie Erneuerung und sogar Widerspenstigkeit bzw. Rebellion. Die immer weiter zunehmende Attraktivitt des Modells der Jugend brachte Stefan Zweig in seinem Werk »Die Welt von Gestern« durch die Darstellung der Unterschiede zwischen seinem Vater und sich selbst, dem Sohn Stefan, zum Ausdruck. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war sein Vater ein vierzig Jahre alter Mann mit Bart, der als Symbol seines Prestiges und seiner Autoritt als Familienoberhaupt ein Monokel benutzte. Stefan Zweig beschreibt sich selbst im gleichen Alter – zur Zeit der Weimarer Republik – als einen beschwingten und jugendlichen Mann.2 Dem folgenden Beitrag liegt die These zu Grunde, dass man die inneren Kmpfe des modernen Denkens im 20. Jahrhundert als eine Art fortwhrende Spannung zwischen Jugend und Alter verstehen kann. Das Alter versuchte man nicht nur verzweifelt abzuwenden, sondern unternahm zudem ganz erhebliche Anstrengungen, um die Jugend zu bewahren. Trotzdem soll nicht der Begriff 1 Aus dem Hebrischen von Antje C. Naujoks. 2 Stefan Zweig zieht in seinem Buch »Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europers«, Zîrich, 1944, mehrmals Vergleiche zwischen der Stellung der Jugendlichen, die der Generation seines Vaters angehçrten, und der seiner eigenen und der nachfolgenden Generationen und betont dabei vor allem die Unterschiede bezîglich der Auffassung des Kçrpers und der Erscheinungsform sowie das Ausmaß der Freizîgigkeit im Hinblick auf Kleidung und Verhalten. Siehe z. B. S. 34 – 35, 42, 70 – 73.

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Jugend als solcher im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen. Hier soll vielmehr dargelegt werden, wie man den Charakter dieses Begriffes im Rahmen des Beziehungssystems zu seinem Gegenpol zu verstehen hat. Der Vorteil einer Untersuchung des Selbstverstndnisses der hier behandelten Periode im Licht dieser beiden Begriffe beruht auf einer Bewegung zwischen Abstraktem und Konkretem. Die Begriffe nehmen Farbe und Form an und treten in der Vorstellung eines jeden Lesers unabwendbar in den Figuren eines jungen und eines alten Menschen zu Tage, so wie ein jeder sie sich vorstellt. Zerlegt man sowohl den Begriff Jugend als auch den Begriff Alter in die Erlebnisse und Bilder, aus denen sich jeder dieser Begriffe fîr sich selbst betrachtet zusammensetzt, und stellt sie nachfolgend einander gegenîber, so birgt dies ein Potenzial, das unterschiedliche Aspekte der inneren Kmpfe des modernen Denkens freizulegen vermag, die von der Forschung bisher kaum beachtet wurden. Somit soll in diesem Beitrag das Selbstverstndnis der Moderne im Licht dieser Metaphern betrachtet werden, wobei sich die Diskussion auf zwei Philosophen des 20. Jahrhunderts konzentriert: Als erstes das Verstndnis von Jugend bei dem Philosophen Erich Gutkind (1877 – 1967); es wird anhand jenes Bruches analysiert, der whrend des Fin de Siºcle auftrat und allgemein als Kulturkrise bezeichnet wird. Der zweite hier in den Blick genommene Philosoph, Emmanuel Levinas (1906 – 1995), schrieb hingegen îber das Wesen der Jugend nach einer tief greifenden Krise, die der Holocaust hervorrief. Auf den ersten Blick besteht keine Verbindung zwischen diesen beiden Philosophen und ihren Werken und sicherlich auch nicht bezîglich der Perioden, in denen sie wirkten. Dennoch zogen beide das fîr die jeweilige Periode geltende Modell heran, dem der Begriff Jugend zu Grunde lag. Durch eine Gegenîberstellung der Gedankenwelt von Levinas – ein Post-Holocaust-Denken – und von Gutkind – ein Denken vor dieser Periode – soll der Wandel des modernen Selbstverstndnisses im 20. Jahrhundert im Kontext des Begriffes Jugend einschließlich der ihm inhrenten Konflikte erhellt werden. Die Diskussion der Werke der Philosophen Gutkind und Levinas beschrnkt sich auf zwei Aspekte: Der erste Aspekt beschftigt sich mit einer der vielen und vielseitigen Eigenschaften der Jugend, nmlich mit dem Terminus Erneuerung. Der zweite Aspekt setzt sich mit der Einordnung des Begriffes Jugend in das Zeitverstndnis der beiden Philosophen auseinander. Diesbezîglich werden zwei Schwerpunkte gesetzt: Jugend als eine parallel zu anderen Altersgruppen existierende Altersgruppe einer Generation einerseits, und das Verhltnis zwischen Jugend und dem sich daran anschließenden fortgeschrittenen Alter andererseits.

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Erich Gutkind: »Siderische Geburt« Erich Gutkind wurde 1877 in Berlin geboren. Er wuchs in einer wohl situierten jîdischen Familie auf. Wie so viele andere Angehçrige des Bîrgertums hatte auch Gutkind irgendwann das Leben dieser Gesellschaftsschicht mit ihren liberalen Werten satt und wandte sich einer mystisch-spirituellen Anschauung zu, die ihm die Welt der religiçs-existenzialistischen Begrifflichkeiten nher brachte. 1910 verçffentlichte er unter dem Pseudonym Volker das philosophische sowie mystisch-esoterisch geprgte Werk »Siderische Geburt«.3 Vier Jahre spter wurde eine zweite Auflage herausgegeben, die dieses Mal nicht unter dem Pseudonym, sondern unter Gutkinds Namen erschien.4 Da die Wissenschaft das Werk kaum beachtete, wurde dazu nur wenig publiziert.5 In seinem Werk schlug Gutkind vor, einen spirituellen Weg einzuschlagen, um die moderne Menschheit vor ihrer nahen Zerstçrung zu retten und ihr einen Weg zum Gedeihen und zur Erlçsung aufzuzeigen. Im Zentrum des Werkes steht der Aufruf zur erneuten Selbstschçpfung der Menschheit durch einen Menschen, der im Laufe des langwierigen historischen Prozesses zum Gott wurde. Schon nach der Erstverçffentlichung im Jahre 1910 stieß das Buch auf Resonanz, weshalb nachfolgend verschiedene Persçnlichkeiten Kontakt mit Gutkind aufnahmen, darunter beispielsweise auch Wassily Kandinsky (1866 – 1944). Kandinskys philosophische Ideen, die er in seinem 1911 publizierten Buch »˜ber das Geistige in der Kunst« prsentierte, sind den in der »Siderischen Geburt« geußerten Gedanken erstaunlicherweise sehr hnlich. Das Bemerkenswerte dabei ist, dass beide Werke zeitlich fast parallel zueinander entstanden, ohne dass die Verfasser voneinander wussten.6 Die Verçffentlichung der »Siderischen Geburt« fîhrte zur Grîndung eines neuen Kreises, an dessen Spitze Gutkind und der Literat Frederik van Eeden (1860 – 1932)7 standen, der als sozialer Reformator und Traumpsychologe zu den fîhrenden Kçpfen einer avantgardistisch-literarischen Gruppe in den Niederlanden gehçrte. Diesem 3 Volker : Siderische Geburt. Seraphische Wanderung vom Tode der Welt zur Taufe der Tat, Berlin 1910. 4 Erich Gutkind: Siderische Geburt, Seraphische Wanderung vom Tode der Welt zur Taufe der Tat, Berlin 1914. Alle nachfolgenden Zitate sind dieser Ausgabe entnommen. 5 Friedrich Niewçhner : Der große Gesang. Siderische Geburt von Volker, in: Wilhelm SchmidtBiggemann (Hg.): Christliche Kabbala, Ostfildern 2003, S. 247 – 256; Manfred Voigts: Erich Gutkind, in: Andreas Kilcher und Otfried Fraisse (Hg.): Lexikon jîdischer Philosophen, Stuttgart 2003. 6 Wassily Kandinsky : ˜ber das Geistige in der Kunst, insbesondere in der Malerei, Mînchen 1911. Vergleiche Gutkind (siehe Anm.3, hier S. 225 – 230). 7 Ein Jahr spter gaben sie gemeinsam ein Buch heraus, dessen ersten Teil Gutkind verfasste, whrend van Eeden den zweiten Teil schrieb: Volker und Frederik van Eeden: Welt-Eroberung durch Heldenliebe, Berlin 1911.

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pazifistischen Kreis, der eine gerechte und harmonische Welt auf der Grundlage von mystischen Prinzipien schaffen wollte, gehçrten whrend unterschiedlicher Phasen u. a. Wassily Kandinsky, Franz Oppenheimer, Rabindranath Tagore, Walter Rathenau, Upton Sinclair, Gustav Landauer, Martin Buber und Romain Rolland an. Als erste Maßnahme zur Zusammenfîhrung dieser elitren Gruppe, deren Mitglieder dezidiert moralische Ansprîche vertraten und îber eine neue Fîhrung fîr die Menschheit nachdachten, traf man sich zu einer dreitgigen Klausurtagung, whrend der man eine asketische und ethische Lebensweise praktizierte. Diese Gruppe, die sich »Forte-Kreis« nannte8, machte zur damaligen Zeit weder Schlagzeilen, noch war sie besonders einflussreich. Ihren endgîltigen Plan zur Schçpfung einer neuen Menschlichkeit erarbeitete die Gruppe dann am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Aufgrund des Kriegsausbruchs schaffte es die Gruppe jedoch nicht mehr, weiter îber die Verwirklichung dieses Plan zu debattieren und lçste sich kurze Zeit spter auf. Obwohl heutzutage sowohl Gutkinds Buch als auch diese Gruppe, die ihre Prinzipien auf seiner Philosophie aufbaute, kaum bekannt sind, sind sie dennoch eine nhere Betrachtung wert. Die meisten Mitglieder des »Forte-Kreises« waren namhafte, einflussreiche Persçnlichkeiten. Gegenwrtig ist beispielsweise noch immer interessant, welcher Einfluss dem Buch und seinem Verfasser sowie dem »Forte-Kreis« auf Walter Benjamin zugeschrieben wird. Florens Christian Rang, ein Mitglied des Kreises, unterhielt nach dem Ersten Weltkrieg engen Kontakt zu Benjamin. In diesem Zusammenhang ist noch bedeutender, dass zwischen Benjamin und Gutkind eine innige Freundschaft bestand. Als Benjamin in finanziellen Schwierigkeiten war, wohnte er in Gutkinds Berliner Domizil. Sie begannen sogar, zusammen Hebrisch zu lernen. Gutkind setzte dieses Studium fort, whrend Benjamin es abbrach. Beide verband zudem eine enge Freundschaft mit Gershom Scholem, und Gutkind und Scholem sollten auch nach Benjamins Tod weiter befreundet

8 Siehe: Christine Holste: Der Forte-Kreis (1910 – 1915): Rekonstruktion eines utopischen Versuches, Stuttgart 1992, sowie dies.: Kçnigliche des Geistes ohne Kçnig. Der Forte-Kreis (1910 – 1915), in: Richard Faber und dies. (Hg.): Kreise, Gruppen, Bînde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziationen, Wîrzburg 2000. Zu den verschiedenen Persçnlichkeiten, die im »Forte-Kreis« aktiv waren, siehe: dies. (Hg.): Der Potsdamer Forte-Kreis. Eine utopische Intellektuellenassoziation zur europischen Friedenssicherung, Wîrzburg 2001. Holste beschftigt sich schwerpunktmßig mit dem Begriff ›Gruppe‹ im Hinblick auf den Forte-Kreis, wobei sie soziologische Theorien zu elitren Gruppen heranzieht. Der ForteKreis wurde von mehreren Persçnlichkeiten der damaligen Zeit erwhnt, siehe dazu z. B.: Hans Kohn: Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit, Kçln 1961, hier S. 150 – 151, sowie in: Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen, erweiterte Fassung, aus dem Hebrischen von Michael Brocke und Andrea Schatz, Frankfurt a. M. 1977. Scholem gibt fast wortwçrtlich Kohns Beschreibung wieder.

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bleiben.9 Zudem ist in diesem Zusammenhang Gutkinds Freundschaft mit Ernst Bloch zu erwhnen, die auf sein auf mystischen Grundlagen aufbauendes revolutionr-marxistisches Denken zurîckzufîhren ist. Doch Gutkinds Kontakte hatten auch auf anderen Ebenen Einfluss. Kandinsky, der in der Anfangszeit zum »Forte-Kreis« gehçrte, schrieb diesbezîglich an Arnold Schçnberg: »Also: Ich mçchte Sie aufmerksam machen auf ein Buch, von dem ich meine, es mïsste Ihnen auch Freude und Genuss bereiten. Und – auf seinen Autor, der sicher ein merkwïrdiger, seltsamer Mensch ist. Er heißt Volker und sein Buch ’Siderische Geburt’, Verlag Karl Schnabel, Berlin 1910. […] Ich will Ihnen weiter nicht viel erzhlen von dem Buch. Ich pflïge mich nur langsam, und leider mit Pausen, hindurch. Ich nehme nur soviel davon, als ich halt haben kann. Ganz kann ich nicht mit, besonders wird’s mir wohl zum Schluss zu hoch werden. Aber es geht mir wie eine schwere goldene Kette Glied fïr Glied, Satz fïr Satz, durch die Hnde. Und ich glaube, es ist was fïr Sie!«10 Kandinsky knîpfte zudem den Kontakt zwischen Gutkind und dem in London lebenden serbischen Philosophen Demitrije Mitrinovic. Auf Grund dieses Kontaktes gewann Gutkind auch îber den deutschsprachigen Raum hinaus Einfluss, da Mitrinovic nicht nur Gutkinds Ideen unter dem Pseudonym Cosmoi in der damals populren Zeitschrift »New Age« verbreitete, sondern auch Gutkinds Werk zum Manifest des unter seiner Fîhrung stehenden Kreises »New Europe« erhob. Auf diese Weise wurde Gutkinds Werk gleich fîr zwei esoterischmystische Kreise zum Manifest, die zur zeitgençssischen Erscheinung exklusiver mystischer Zusammenschlîsse zu zhlen sind und von denen einer im Zentrum Deutschlands wirkte und der andere in England aktiv war.11 Auf den ersten Blick fllt es schwer, sich mit den Gedankengngen des abgelehnten und gescheiterten Philosophen Gutkind anzufreunden. Dennoch war Scholem beispielsweise der Ansicht, dass die çffentliche Resonanz auf das Buch davon zeugte, dass Gutkind mit seinen Ideen zumindest nicht alleine stand.12 Die 9 Zu Scholems Bekanntschaft mit Gutkind, die îber Benjamin geknîpft wurde, und zu Scholems Eindruck von Gutkinds Person siehe: Scholem (siehe Anm. 8), hier S. 105 – 108, und ebenfalls Gershom Scholem: Walter Benjamin – Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt a. M. 1975, hier S. 205, 437. 10 Wassily Kandinsky und Arnold Schçnberg: Der Briefwechsel, hg. von Jelena Hahl-Koch, Stuttgart 1993, hier ein Brief vom 20. 8. 1912, S. 56. 11 M. M. Cosmoi und A. R. Orage: 1921 World Affairs, in: New Age. A Socialist Review of Religion, Science and Art, ohne Nummer (1921), S. 87 – 88, 135 – 136. In diesen beiden Kolumnen statuieren die Herausgeber, dass sie Gutkinds Buch »Siderische Geburt« als gedankliches Manifest ihrer Zeitschrift angenommen haben. 12 Scholem (siehe Anm. 8), hier S. 56. Zwar lsst Scholem zwischen den Zeilen einen gewissen Spott îber die Person Gutkind erkennen, doch als Religionsforscher weckten Gutkinds Ideen

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Tatsache, dass Scholem die Gedankengnge eines Zeitgenossen auf diese Art und Weise reflektierte, sollte heute noch ausreichen, um Historiker fîr dieses Werk zu interessieren. Darîber hinaus darf man nicht außer Acht lassen, dass es Gutkind war, der einen direkten Einfluss auf Benjamin und Bloch hatte, die letztlich jene Philosophen sein sollten, die Gutkinds Ideen weiterentwickelten und vertieften. Tatschlich kann man in Gutkind sowie in Landauer und anderen Persçnlichkeiten der damaligen Zeit die Wegbereiter der Ideen vieler anderer Philosophen sehen, die zu einem spteren Zeitpunkt wirkten und mit denen wir uns auch heute immer noch beschftigen. Das Buch »Siderische Geburt« erwhnt den Begriff Jugend zwar nicht explizit, bezieht sich aber wiederholt auf Begrifflichkeiten wie Gesundheit, Revolution, Ausbruch, Erneuerung, Schçpfergeist und Kreativitt. Jugend wird folglich durch die ihr zugeschriebenen Eigenschaften vorgestellt. Gutkind erweiterte die Bedeutung des Begriffes Jugend, indem er dieser bahnbrechenden Weltvorstellung weitere Eigenschaften wie Spiritualitt und Natîrlichkeit hinzufîgte. Neben den bisher erwhnten Begriffen, die sich um den ›dionysischen Wunsch‹ drehten, wurde zur damaligen Zeit ein Trend immer populrer, den man als ›Rîckkehr zur Natur‹ bezeichnen kann. Zudem wandten sich die damaligen Zeitgenossen immer intensiver dem Spiritualismus und der mystischen Geistigkeit zu. Diese Tendenzen und Neigungen, die auch ein Vermchtnis Nietzsches waren, kamen in vielen kulturellen Bereichen und in unterschiedlichen Diskursen jener Zeit zum Tragen. Diese Modetrends begleiteten unterschiedlichste Phnomene wie beispielsweise das zunehmende Interesse an den asiatischen Religionen,13 die aufkommenden anthroposophischen und theosophischen Theorien sowie sein Interesse und seine Neugier. Unter den Werken in Scholems Privatbibliothek, die in der Jîdischen National- und Universittsbibliothek in Jerusalem, Israel, verwahrt wird, befindet sich auch folgendes Buch: Erich Gutkind: The Body of God. Frist Steps towards an AntiTheology, hg. von Lucie B. Gutkind und Henry le Roi Finch, New York 1969. In diesem Buch hielt Scholem handschriftlich folgende Worte fest: »curious view of Kabbalah.« Auf die Erwhnung des Begriffes ›Genie‹ in Verbindung mit Gutkinds Namen in der Einleitung des Buches (S. 12) reagierte Scholem sehr ungehalten. Neben die Ausfîhrungen des Verfassers dieser Einleitung, die besagen, dass Gutkinds Ideen zwar erst noch entdeckt werden mîssen, aber eventuell sogar bedeutsamer sein kçnnten als die Ideen von Rosenzweig und Buber zusammen, hielt Scholem hingegen in großen und fetten Buchstaben folgendes Wort fest: YES (hier S. 14). 13 Zu den Mitgliedern des »Forte-Kreises« unmittelbar vor seinem Auseinanderbrechen vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges gehçrten der hollndische Sinologe Henry Borel (1869 – 1933) und Martin Buber, der sich sehr umfassend mit der Beziehung zwischen dem Buddhismus und dem Chassidentum befasste. In der frîhen Phase des »Forte-Kreises« zhlte auch der indische Nationaldichter Rabindranath Tagore zu den Mitgliedern. Auch das Buch »Siderische Geburt« befasst sich ausfîhrlich mit Fragen zwischen Ost und West bzw. Morgen- und Abendland. Die Religionen Asiens werden darin als eine Mçglichkeit vorgestellt, die westlichen Lnder vor ihrem Untergang zu bewahren.

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die intensive intellektuelle Beschftigung mit eben diesen Bereichen. Als weitere Phnomene lassen sich Versuche identifizieren, den Menschen mit seinem Kçrper und mit der Natur zu verbinden. Dies schlug sich im gesellschaftlichen Engagement in Jugendbewegungen und in schulischen Curricula ebenso nieder wie in verschiedenen Trends in der Kunst von der Musik bis hin zur Architektur. Den »Forte-Kreis« muss man zu jenen Kreisen zhlen – wie beispielsweise auch die Gruppe »Monte Verit”«14 –, die von spirituell-mystischen Lehren beeinflusst wurden und eine Verschmelzung mit der Natur anstrebten. Diese geistig-natîrlichen Trends wollten einen gesunden Menschen und eine intakte Gesellschaft schaffen, die – so wie man es damals verstand – nicht unter jenen psychischen Krankheiten und Deformierungen leiden wîrde, die durch die kînstliche, konsumgeprgte und industrialisierte Welt hervorgerufen war. Die gesellschaftliche Spannung und die persçnliche Dissonanz der kînstlich modernen Welt sollten durch eine seelische Ruhe ersetzt werden, die auf Grund der Verknîpfung mit dem entsteht, was man damals als ›natîrlich‹ betrachtete. Diese beiden Modetrends – ›dionysisch‹ einerseits und ›natîrlich-spirituellmystisch‹ andererseits – verband ein weit verzweigtes Beziehungssystem, das auf einem gemeinsamen nietzscheschen Nenner beruhte: die Suche nach der Quelle der Dinge und nach ihrer Ursprînglichkeit.15 Gutkind veranschaulichte diese Verknîpfung zwischen dem ausbrechend-revolutionren (›dionysisch‹) und dem spirituell-mystischen Element in der Gestalt des Kînstlers. Gutkind stellte die Kunst der Wissenschaft gegenîber. Die Wissenschaft sei ein Produkt der westlichen Kultur, in der sich alles um die Aufklrung drehe.16 Die Menschheit, so behauptete er, habe eine Phase der vollstndigen Erleuchtung erreicht, die das Ergebnis der Wissenschaft sei. Ein Wissenschaftler ver14 Zum Kreis »Monte Verit”« siehe: Martin Green: Mountain of Truth. The Counterculture Begins, Ascona 1900 – 1920, Hannover 1986. 15 Siehe dazu beispielsweise die Diskussion bei Fritz Mauthner : Mystik, in: ders., Wçrterbuch der Philosophie, Band 2, Mînchen und Leipzig 1910, hier S. 115 – 134. Mauthner, der nicht zum »Forte-Kreis« gehçrte, unterhielt dennoch sehr enge Beziehungen zu einigen Mitgliedern dieser Gruppe, vor allem jedoch zu Gustav Landauer. Auf Grund der Beziehung zu Mauthner kam Landauer mit den Schriften von Meister Eckhart in Kontakt. Mauthners Beschftigung mit dem Thema der Mystik und den damit in Verbindung stehenden Fragen der Begierde und Liebe, die so sehr Fragen hneln, die in dem Werk »Siderische Geburt« aufgeworfen werden, ist ebenfalls ein Teil des verzweigten Beziehungssystems und der Diskussion der damaligen Zeit. Sowohl Mauthner als auch Gutkind (siehe Anm.3, hier S. 75 – 76) weisen auf den Unterschied hin, der zwischen der westlichen Kultur und den Religionen Asiens in dieser Hinsicht bestehe: Der Westen, so behaupteten sie, fasst das Subjekt als Geprîften seiner Welt auf, weshalb sich dieses Subjekt in einer Situation der bestndigen Begierde nach dem Objekt seiner Liebe befinde. Der Osten hingegen verstehe den Menschen als einen integralen Bestandteil der Welt, mit der er verschmilzt, so dass er dadurch Momente der Ruhe erleben kçnne. 16 Gutkind, (siehe Anm. 3), hier S. 119.

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suche, die ußere Welt freizulegen, wobei er ebenfalls den Menschen und sich selbst, d. h. sich als Individuum, zum Gegenstand der Betrachtung und Erforschung gemacht habe. Auch seine innere Welt versuche ein Wissenschafter so zu betrachten, als sei diese eine ußere Welt.17 Dies sei der Hçhepunkt des Wissens und – aus Gutkinds Perspektive betrachtet – jener Erkenntnisprozess, auf den der Tod Gottes zurîckzufîhren sei.18 Gutkind fîhrte in diesem Zusammenhang die Metapher der Mittagsstunde an, whrend der alles offen liege und erkennbar sei.19 Zu diesem Zeitpunkt des Tages gebe es keine Geheimnisse mehr. Nichts bleibe verborgen. Dies sei eine jener Stunden, die am meisten Angst einflçßen, da alles deutlich und klar sei. Entsprechend Gutkinds Mystik sei dies somit ein mit dem Tod identischer Moment.20 Die Kunst, so argumentierte Gutkind, wirke hingegen anders. Sie entstehe aus dem Ich und sei subjektiv. Ihr Ausbruch gehe auf die Seele eines Kînstlers zurîck, auch wenn dieser sich auf Faktoren außerhalb seines Selbst beziehe.21 Die Quelle der inneren Schçpfung sei nicht rational, sondern ursprînglich und triebhaft. In Gutkinds Augen war somit die Kunst und nicht die Wissenschaft der Trger der Freiheit der Menschheit: »Der freie Mensch ist vom gezwungenen Tier zum schaffenden Kînstler geworden, die Kunst ist die hçchste Form der Freiheit und des gçttlichen Schaffens.«22 Das Ausbrechen und die Kreativitt, die als Grundlagen zur Errettung der Menschheit im gesamten Buch immer wieder angefîhrt werden, kmen im kînstlerischen Schaffen zum Ausdruck, das nicht rational und subjektiv sei und zudem aus dem Inneren komme. Der Angst vor dem Mittagslicht – dem Modell der Wissenschaft, in dem laut Gutkind die ußere Welt klar hervortrete – setzte er die Hoffnung auf die Nachtstunde entgegen.23 Ausgerechnet die Dunkelheit und das Ungewisse, das diese Stunde mit sich bringe, ermçglichten ein Betrachten des Inneren und ein subjektives Schaffen. Dieser Ansatz des Gutkindschen Denkens, der eine Verbindung von Nacht, Traum, Kreativitt, Kunst und Jugend schuf und diese als authentische revolutionre und erlçsende, aber auch als wahrhaft befreiende Grundlage darstellte, passte sehr gut in die damalige Epoche. Die Abwesenheit Gottes in der forschenden Wissenschaft wollte Gutkind durch den im kreativen Menschen verborgenen Gott ersetzen, der seinen ultimativen Ausdruck im Kînstler selbst finde. Die Kunst sei ein Mittel zur Erlçsung, doch zugleich sei sie auch ein

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Ebd., hier S. 60. Ebd., hier S. 76. Ebd., hier S. 11 – 12. Ebd., hier S. 9 – 10. Gutkind betont die kreative Seite der Kunst gegenîber ihrer darstellenden Seite. Ebd., hier S. 226. Ebd., hier S. 9 – 10.

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allgemeines Bild des Charakters des Schaffens und der Schçpfung. Der Mensch werde somit als Kînstler zum Gott – zum Schçpfer der Welt. Das bisher vorgestellte begriffliche System definiert besonders jene Eigenschaften der Jugend, die nicht dem Denken, der Logik, der Langzeitplanung und der linearen Zeit inhrent sind. Folglich ist Jugend ein Ereignis, das Widersprîche miteinander verknîpft: Das schçpfende Ich trgt Verantwortung fîr die Welt, da es selber ein Teil von ihr ist. Die von der Jugend geforderte Verantwortung ist im Grunde die Verantwortung eines Menschen fîr sich selbst, d. h. fîr seine Gemeinschaft. Gutkind definierte Jugend in einer hnlichen Form, in der Buber îber die Aufgabe der Jugend im Kreise des jîdischen Volkes nachgedacht hatte: »Ihr Streben nach Erkenntnis kennt keine andere Grenze, als die die eigene Erfahrung sie wahrnehmen lehrt, ihre Vitalitt keine andere Verantwortung, als die vor der Ganzheit des eigenen Lebens.«24 Gutkind erklrte die Erweiterung der Eigenstndigkeit um jene Verantwortung, die der Verknîpfung von Individuum und Gemeinschaft entspringt. Somit steht der Begriff Jugend als Kode fîr den Ausbruch des schçpferischen Ich einerseits und zugleich fîr seine moralische Verantwortung fîr die eigene Schçpfung andererseits. Der Kînstler wurde von Gutkind als ideale Figur dieses Ich angesehen. Das Zeitalter, das Gutkind dem Kînstler und der Jugend zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt zuwies, war die Moderne. Schon in der Einleitung zu seinem Werk legte Gutkind seine diesbezîgliche Argumentation offen: Die moderne Epoche, so Gutkind, sei ein Ereignis des Wesens der Jugend. Gutkind behauptete, dass die moderne Epoche eine Phase der Krise sei. Die Welt werde einen Weg finden mîssen, um diese Krise zu îberwinden. Er glaubte daran, dass die Menschheit ihr positives Vermçgen wîrde verwirklichen mîssen, um »[…] unser hçheres seraphisches Selbst zu gewinnen, îber all unserer Kultur, die sich erschçpfen muss und nicht sich ewig steigert, wird sich die neue Kultur der siderischen Geburt erheben.«25 Die »Siderische Geburt« zieht sich als Prinzip der Erlçsung durch das gesamte Werk. Dieses Prinzip beruhte auf Gutkinds Auffassung, dass die Moderne ein Bestandteil des historischen Zeitkontinuums sei. Um die Funktion dieses Prinzips aufzuschlîsseln, muss man sich zunchst mit Gutkinds Zeitverstndnis befassen. Dazu ist es notwendig, sich zunchst den Unterschied zwischen Moderne und Modernismus bewusst zu machen. Der Begriff Moderne umschreibt die historische Periode des Fin de Siºcle und bezieht sich auf eine große Spannbreite epochespezifischer Erscheinungen: auf 24 Martin Buber : Cheruth – Eine Rede îber Jugend und Religion, Werkausgabe: Paul MendesFlohr und Peter Schfer (Hgg.): Vermchtnis Nietzsches, Bd. 8; Schriften zu Jugend, Erziehung und Bildung. Juliane Jacobi (Hg.), Mînchen 2005, S. 84 – 92, hier S. 84 (Erstausgabe von 1919). 25 Gutkind (siehe Anm. 3), hier S. 7.

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wirtschaftliche Muster sowie die industrielle Entwicklung, aber auch auf kulturelle Entdeckungen und politische sowie gesellschaftliche Verhaltensnormen. Das Selbstbild der Moderne charakterisierten Vernderungen und unaufhçrliche Krisen. Aus diesem Grund war das um die Jahrhundertwende aufkommende Gefîhl einer tief greifenden Kulturkrise ebenfalls ein markanter Bestandteil der Moderne. Whrend dieser Zeit wurde die Moderne – ihre Folgen im Allgemeinen sowie ihre Kultur im Besonderen – immer harscher kritisiert. Diese Kritik richtete sich gegen die Degeneration der modernen Kultur, die mit ihrem Entstehen zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Phnomenen der Erneuerung, der Vitalitt, der Revolution und auch der Rebellion einherging. Das liberal-bîrgerliche Ethos mit der ihm innewohnenden Logik wurde am intensivsten kritisiert. Gerade diese Kritik schlug sich vor allem in themenspezifischen Schriften, in literarischen Werken und in Kunstwerken nieder und ußerte sich auch in der Grîndung von politischen und gesellschaftlichen Bewegungen. Obwohl sich diese Phnomene teilweise gegen die Moderne als solche richteten, versuchten die meisten Wortfîhrer jedoch, die Krankheiten der Moderne zu beseitigen, indem sie Lçsungen anboten, durch die sich eine innere Vernderung wîrde vollziehen kçnnen. In dieser Periode wurde das ›degenerierte‹ Europa als eine greise Frau dargestellt, die recht raffiniert, aber dennoch îbermßig stark geschminkt war. Dadurch versuchte sie, ihre Falten zu verbergen, da sie wusste, dass diese von ihrem nahen Tod kîndeten. Weil die Moderne keine Hoffnung und kein Ziel zu haben schien, werde das greise, intellektuell aufgeblasene und hedonistische Europa, das seine Naivitt eingebîßt hatte und weiterhin ein leeres, lebloses Leben fîhrte, untergehen. Diesen Zustand der europischen Kultur kritisierte Max Nordau scharf in seinem Buch »Entartung«, so dass dieses Werk im europischen Diskurs der Jahrhundertwende schnell zu einem Synonym fîr die Krankheiten der Moderne wurde.26 In dieser Periode kam der Modernismus als neue sthetische, literarische und kînstlerische Strçmung auf, die sich mit dem Individuum und seiner Psyche beschftigte. Der Ausgangspunkt dieser Strçmung war das Durchbrechen der alten Konventionen. In der Musik entwickelte Arnold Schçnberg die Zwçlftonmusik, in der Malerei prsentierte Kandinsky seine neue Theorie zur Formenund Farbensprache, und in der Literatur bildeten etwa Marcel Proust und James Joyce den Bewusstseinsstrom aus. Die bewusste Erneuerungssucht des Modernismus fasste Hermann Bahr, der Grînder des Kreises »Junges Wien«, in deutliche Worte:

26 Das Buch erschien in deutscher Sprache: Max Nordau: Entartung, Berlin 1892. 1895 erschien die englische Ausgabe – Max Nordau: Degenerations, New York 1885. Sie wurde noch whrend des Erscheinungsjahrs acht Mal neuaufgelegt.

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»Nur nichts Beharrendes, nur keine Dauer, nur kein Gleichbleiben. Fluss, Bewegung, Vernderung, Umsturz, ohne Unterlass. Denn jedes Neue ist besser, schon weil es jïnger ist als das Alte.«27 Bahr fîrchtete sich vor dem Morgen, an dem er selbst alt sein und seinen Platz einem anderen wîrde frei machen mîssen. Neben dem Modernismus – und in einem gewissen Maße auch als ein Teil des Modernismus – kam eine weitere sthetische Strçmung auf: die Dekadenz. øhnlich wie das Phnomen des Modernismus aus einer Auffassung der Moderne als einer Epoche der Vernderung und der fortwhrenden Erneuerung heraus entstand – wobei sich der Modernismus vor allem den »jungen« Charakteristika der Moderne zuwandte –, wandte sich die Strçmung der Dekadenz den dekadenten bzw. »alten« Charakteristika der Moderne zu. Dekadenz war durch einen geschliffenen Stil, eine verfeinerte Sprache und einen kraftlosen, nicht widerstandsfhigen, spitzfindigen und verflschten Lebensstil gekennzeichnet. Die umfassende Literatur, die sich mit dieser Strçmung befasst, deutet darauf hin, dass die Dekadenz als sthetisches Konzept nicht dekadent war, sondern vielmehr in einem ambivalenten Verhltnis stand zu all dem, was als »entartet« galt und als integraler Bestandteil der Moderne angesehen wurde.28 Diese Strçmung drîckte die Spannungen aus, die zwischen Erneuerung und Jugend einerseits und Degeneration mitsamt dem Alter im Selbstverstndnis der Moderne andererseits bestanden, sowie die Spannung zwischen dem hervorstechenden und sich ziemlich extrem ußernden Optimismus des Modernismus, dem Pessimismus und der Skepsis, welche die Strçmung der Dekadenz kennzeichneten. Gutkinds Buch ist ein reprsentatives Beispiel fîr diese Auseinandersetzung. Obwohl es keiner kînstlerischen Strçmung zuzuordnen ist, drîckte es dennoch eine klar formulierte modernistische Auffassung mit eindeutiger Einstellung zu den Erneuerungen aus, die Gutkind in einen spirituellen Ansatz îbertrug. Sein zentrales Anliegen war die Moderne, auf die er sich in dialektischer Art und 27 Hermann Bahr : Briefwechsel mit seinem Vater, Wien 1971, hier S. 154. Ein Brief vom 14. 3. 1887 wird angefîhrt von Jacques Le Rider : Modernity and Crisis of Identity. Culture and Society in Fin-de-Si¤cle Vienna, New York 1993. 28 Aus der umfangreichen Literatur sollen hier nur folgende Titel angefîhrt werden: Carl E. Schorske: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siºcle, Frankfurt a. M. 1982, sowie Allan Jenik und Stephan Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, New York 1973, die auf den Wiener Modernismus eingehen. Zum Verhltnis zwischen der Moderne und dem Modernismus siehe auch: Le Rider (siehe Anm. 27). Das erste Kapitel dieses Buches bezieht sich u. a. auf die komplexe Beziehung zwischen dem Modernismus und der Dekadenz, die einen besonders extremen Ausdruck im literarischen Kreis fand, der als »junges Wien« bekannt geworden ist und der von Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann und Arthur Schnitzler angefîhrt wurde. Siehe dazu auch David Weir : Decadence and the Making of Modernism, Amherst 1995; Matei Calinescu: Five Faces of Modernity : Modernism, AvantGarde, Decadence, Kitsch, Postmodernism, Durham 1987.

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Weise bezog. Die Wissenschaft ist seiner Ansicht nach eines der Kennzeichen der Moderne. Gutkind portrtierte sie als Greisin. Er stellte ihre Zeit, wie bereits erwhnt, als Hçhepunkt des Tages dar – als eine helle und erhellende Mittagsstunde –, die eine Situation der Nîchternheit und der Erkenntnis sei, in der es keine Erlçsung gebe, eine Zeit, als »[…] alle Welt um uns veraltete und uns zu eng ward […]. Wie unsere ußere Kultur sich ins Unermessliche steigerte, schwindet auch die letzte Hoffnung, dass ihre Macht uns je das erhoffte Paradies hervorzaubert.«29 Schuld daran sei ausgerechnet die unbeschrnkte Suche der westlichen Gesellschaft nach Wissen: »Jetzt begreifen wir auch, warum das Wissen die Menschheit altern machte und warum sie durch Erkenntnis Jugend und paradiesische Unschuld fîr immer verlor.«30 Diesen Zustand beschrieb er folgendermaßen: »[…] es ist das hçchste, furchtbarste Leid, das je und je sein kann, das Schçpferleid an der Endlichkeit, das Leid der hçchsten Enge, […] es ist das Leid des Todes.«31 Die Greisin – sprich das Welken, das Verlçschen und die Niederlage – weckte in Gutkind Angst und Schrecken. Die Mittagsstunde als Synonym fîr die Zeit des Alters sei die Zeit der Wissenschaft. Auf der anderen Seite, parallel dazu, werde die Moderne zugleich aber auch zu einer Epoche der »himmlischen«, d. h. der mystischen, der kînstlerischen und der gçttlichen Neuentdeckung, also zu einem Zeitalter, in dem die Wissenschaft von ihrem Thron herabsteigen und zu einem bloßen Hilfsmittel werde. In dieser Hinsicht reprsentiert die Moderne dann ebenfalls Jugend. Das Zusammentreffen dieser beiden Tendenzen in der Moderne ließ diese Periode, so Gutkind, zu einer Phase der Krise werden. Hier tritt bei Gutkind der Ansatz der periodischen Gesetzmßigkeit der Menschheitsgeschichte hervor. Dementsprechend definiere sich das Alter als Ende der Kultur. Die Linearitt sei in eine Kreislufigkeit eingebunden: Eine Kultur stirbt, und eine andere, die sie ablçst, wird geboren. Bei diesem von Gutkind vorgestellten Ansatz, der ihn zu Giambattista Vico und Johann Gottfried Herder zurîckkehren ließ32, handele es sich um einen Vorgang, der von 29 30 31 32

Gutkind (siehe Anm.3), hier S. 9 – 10. Ebd., hier S. 77. Ebd., hier S. 9. Isaiah Berlin: Vico and Herder. Two Studies in the History of Ideas, London 1976. Dieses Denken, dessen Grundlage religiçs ist, erfuhr eine Skularisierung und einen Wandel zur historisch-soziologischen Betrachtung. Karl Jaspers untersuchte die ersten Jahrhunderte nach der Zeitenwende als eine Periode des radikalen Wandels des Begriffes des Heiligen als eines der wesentlichen Elemente der Religion. Seither, so seine Behauptung, habe dieser Begriff keinen Wandel mehr durchlaufen und wîrde so verwandt werden, wie ihn die damaligen großen Religionen definiert htten. Er nannte die Periode des Umbruchs »Axial Age«. Siehe dazu: Karl Jaspers: The Origin and Goal of History, New Haven 1953. Shemuel Noah Eisenstadt setzte diesen Gedanken fort und stellte die Behauptung auf, dass wir in den letzten Jahrhunderten in einem neuen »Axial Age« leben, in dem der Begriff des Heiligen

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enormen Gewaltttigkeiten begleitet werde. Er begnîge sich nicht mit der »natîrlichen« Kreislufigkeit, in der die Menschheit bis in alle Ewigkeit leben wîrde, denn die individualistischen Kulturen wîrden geboren und sterben, so wie es nun einmal der Lauf der Welt sei. Stattdessen schlug er eine Situation der bestndigen Rebellion der Kulturen vor. Der Wechsel entspringe keineswegs dem Austausch einer Generation durch eine andere. Das bedeutet, eine Kultur beginnt und beendet ihr Leben anders als eine Menschheitsgeneration, die einen Weg von der Geburt bis zum Alter bzw. Tod absolviert. Vielmehr sei der Lebenszyklus einer Kultur vergleichbar mit einer Generation, die gegen die ltere Generation aufbegehrt – dieses Aufbegehren erfolge somit also noch whrend des Lebenszyklus dieser Generation bzw. Kultur. Die Zeit sei verkîrzt, oder, anders ausgedrîckt, beschleunigt, nicht vom Suglings- bis zum Greisenalter, sondern vielmehr stehe Jugend dem Erwachsensein entgegen. Gutkind ließ sich bei dieser Analyse von der Angst vor dem Alter leiten. Die Kultur wolle nicht auf natîrliche Weise langsam alt werden, sondern sich die ganze Zeit îber erneuern, zu jedem beliebigen Zeitpunkt sterben und erneut geboren werden. Die Rebellion der Jugend gegen die erwachsenen Vter sei der Zustand einer ermîdenden Revolution innerhalb der Kultur, die sich bestndig erneuern mîsse. Tod und Geburt vereinten sich in einer permanenten Situation der Erneuerung, der aktiven Energie, die den Weg der Kultur in den Status des Alters – der Dekadenz – verhindere. Auch der Charakter des Todes verndere sich somit: Es sei nicht mehr ein Ereignis, das ein Scheitern infolge des Alters verkînde, sondern vielmehr ein revolutionres Ereignis, das erfrischend und sogar wînschenswert sei und mit dem Ereignis der Geburt gleichzusetzen sei. Die Essenz der Moderne, so meinte Gutkind, sei die Revolution. Mit dieser permanenten Revolution whle die Menschheit den Tod und zugleich auch die Neugeburt. Sie erschaffe sich unentwegt neu, schçpfe sich selbst und erlçse sich fortwhrend. In theologische Termini gefasst wird der Mensch somit zum Gott. Die Geburt der Moderne ist folglich der tragende Moment ihres Charakters, nmlich der permanenten Revolution. Zunchst mîsse sie gegen ihr Alter aufbegehren. Der dabei ausgeîbte Druck lasse sie nach Wissen und Erkenntnis streben. Dann jedoch mîsse sie einen Weg einschlagen, der sie bestndig dem Tod, aber auch der Schçpfung entgegen fîhre. Das ist eine typisch modernistische Auffassung, die sowohl im philosophischen Schreiben zum Ausdruck kam, das die Menschheit schlechthin beschftigte, als auch auf erstaunliche erneut einen Umbruch erlebe: S. N. Eisenstadt: The Origins and Diversity of Axial Age Civilizations, Albany 1986. Diesbezîglich wies Gutkind in seinen Schriften auf zwei Aspekte hin: Durch die analytische Betrachtung entdeckte er zum einen die Vernderung, welche die Periode durchlief, und zum anderen ist der positivistische Aspekt zu benennen, denn die von Gutkind vorgeschlagene Antwort ist ein Bestandteil jener Vernderung, die zur Grîndung von Religionen in der Neuzeit fîhrt.

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Weise den literarischen Schriften hnelte, die sich mit dem Individuum auseinander setzen. Diesbezîglich soll es ausreichen, auf die Geschichten von Richard Beer-Hofmann hinzuweisen, in denen der Protagonist einen dramatischen Verlauf einer paulinisch, rebellisch-skularen Konversion durchluft, eine erneute innere Geburt und wiederholte persçnliche Spaltung durch den Tod der hedonistischen und dekadenten Persçnlichkeit erfhrt.33 Diese Erneuerung habe, wie Bahr feststellte, unaufhçrlich zu sein. Mit dem Titel seines Buches »Siderische Geburt« bezog sich Gutkind in erster Linie auf seinen Plan des ˜bergangs von einem materiell-irdischen Leben zu einem spirituell-himmlischen Leben, dessen wesentliches Bild die Planeten und Sterne sind. Der Gebrauch des Wortes siderisch anstelle von stellar scheint darauf hinzudeuten, dass Gutkind auf eine einzigartige Bedeutung anspielen wollte. Es handelt sich um einen Begriff der Astronomie, der sich auf die inneren Verhltnisse eines jeden Sterns fîr sich bezieht und dabei das Verhltnis der Sterne bzw. Planeten zueinander unbeachtet lsst. Mit anderen Worten: Die »Siderische Geburt« ignoriert vollstndig die Sonne und untersucht somit ausschließlich das Verhltnis eines jeden Sterns bzw. Planeten – und somit auch das der Erde – zu sich selbst. Die Koppelung dieses Begriffes mit dem Wort Geburt bedeutet entsprechend Gutkinds Auffassung, dass der Selbstgeburt whrend jedes beliebigen Momentes innerhalb der kreislufigen Zeit Hoffnung und Erlçsung zuzuschreiben sei.34 Die Jugend wird dadurch zu einem Synonym fîr die Verknîpfung einer linear-lebensalterlichen Bahn einschließlich des generationell-krisenhaften Prinzips in der fortwhrenden kreislufigen Bewegung der Menschheit. Durch seinen Kampf gegen die Entgleisung, den er fîr eine Kultur als notwendig erachtete, wollte Gutkind die Erneuerung wahren und konsolidieren. Auf den ersten Blick widersprechen die Begriffe Wahrung und Konsolidierung grundlegend einer Erneuerung, doch um das »bewahrende« Alter abzuwenden, bleibe nun einmal nichts anders îbrig, als sich in einem fortwhrenden Kreis zu bewegen – in einem Kreis, in dem sich der Moment des Todes mit dem Moment der Geburt vereint und beide eins werden. Das ist das Einswerden von Gegenstzen in der simplen mystischen Bedeutung. Die Jugend

33 Richard Beer-Hofmann: Das Kind [1893], in: ders., Novellen, Gînther Helmes (Hg.), Paderborn 1993, hier S. 82 – 87; ders.: Der Tod Georgs [1900], Gînther Helmes (Hg.), Paderborn 1994. 34 Es ist wichtig hervorzuheben, dass der Begriff »siderisch« nicht ausschließlich von Gutkind verwendet wurde. Dieser Begriff findet sich auch in anderen mystischen Schriften seiner Zeitgenossen, so z. B. bei Rudolf Steiner. Die Verwendung dieses Begriffes ist auf die Schriften von Jakob Bçhme (1576 – 1624) zurîckzufîhren, der einen großen Einfluss auf das mystische Denken im Deutschland des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen hatte. Diesbezîglich hatte sein Buch »Aurora« (1602), das sich ebenfalls mit den ußeren Planeten der Erde als mystisches Prinzip beschftigt, einen besonderen Einfluss.

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wird auf diese Weise zu einem fortwhrenden revolutionren Prozess, der solange anhlt, bis das System mit seiner bestndigen Umwertung identisch ist. Diese Ideen sind auch aus der Korrespondenz von Benjamin und Bloch bekannt, in der es um Epoche, Vertiefung und Schrfen geht. Die von Gutkind in seinem Werk festgehaltenen Ideen mçgen uns trivial erscheinen, doch er schrieb sie zu einer Zeit – zu Beginn des 20. Jahrhunderts – nieder, als die entsprechenden Schriften von Benjamin und Bloch noch gar nicht verfasst waren. Deshalb waren Gutkinds Ideen neu und auch revolutionr. Gutkinds Ideen der Schçpfung und der hervorbrechenden und bestndigen Erneuerung, welche die Mitglieder des »Forte-Kreises« teilten, sollten im Leben einiger dieser Personen zur Wirklichkeit werden. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden vier der fînf Deutschen dieser Gruppe von îberzeugten Pazifisten zu vehementen Befîrwortern des kriegerischen Kampfes. Rang wurde zu einem glîhenden, ja sogar extremistischen deutschen Nationalisten. Buber war vom Ausbruch der »authentischen Energien« begeistert, die den Auszug in den Kampf begleiteten, wobei er sich nicht fîr den Grund des Kriegsausbruches interessierte und sich eigentlich mit dem Feind identifizierte. Auch Theodor Dubler und Gutkind waren deutsche Nationalisten. Landauer war der einzige Deutsche dieses Kreises, der den Krieg weiterhin verurteilte und seine deutschen Freunde wegen ihrer Haltung zum Krieg und wegen ihres deutschen Nationalismus sogar angriff. Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungen unter den deutschen Freunden sowie der Tatsache, dass die nichtdeutschen Freunde îber die Haltung ihrer deutschen Kollegen sehr îberrascht waren, ging der Kreis auseinander, ohne seinen bizarren Plan der Schaffung einer neuen Menschlichkeit auf ihrer spirituellen Klausurtagung verwirklichen zu kçnnen. Nach dem Krieg jedoch zogen alle eine persçnliche Bilanz der Ereignisse. Buber nderte seine Ansichten noch whrend des Krieges, was maßgeblich auf Landauers Einfluss zurîckzufîhren war, so dass er mit Ende des Krieges im Jahre 1918 in dem bereits erwhnten Artikel die Frage stellte, welche Verantwortung der Jugend zukam. Mit Ende des Krieges wandelte sich Rangs Weltanschauung ebenfalls. Er wurde zum erbitterten Kritiker des deutschen Nationalismus und unterstîtzte die von Holland und Belgien an Deutschland gestellten Reparationsforderungen. Gutkind machte damals einen Wandel durch, der dazu fîhrte, dass er sich von der christlichen Mystik abwandte und fîr die jîdische Mystik zu interessieren begann. Auch Landauer blieb von den praktischen Auswirkungen der revolutionren Ideen nicht unberîhrt, so dass er sich nach dem Krieg an der gewaltttigen anarchistischen Revolution in Deutschland beteiligte und letztlich ermordet wurde.

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Emmanuel Levinas: »Israels Jugend« 1970 hielt Emmanuel Levinas (1906 – 1995) vor dem Forum des in Frankreich tagenden Jîdischen Weltkongresses einen Vortrag zum Thema »Israels Jugend«.35 Er hielt diesen Vortrag vor dem Hintergrund der Ereignisse der Studentenrevolte des Jahres 1968. Wie so viele andere Philosophen seiner Zeit hatte auch Levinas ein ambivalentes Verhltnis zum Begriff Jugend, der durch die Studentenrevolte erneut ins Gesprch gebracht worden war. Etliche Philosophen verspîrten angesichts dieses belasteten Begriffes ein Unwohlsein. In Anbetracht der Revolte, die von den jungen Menschen der damaligen Zeit angefîhrt wurde, dachten zahlreiche Philosophen çffentlich îber dieses Konzept nach, von dem sie sich einerseits angezogen fîhlten, das sie andererseits aber auch zurîckschrecken ließ. Dass die Studentenrevolte Levinas emotional sehr beschftigte, kann man schon an der großen Anzahl seiner Vortrge zum Thema erkennen, die er in jenen Jahren hielt. Schon 1969, also im Jahr vor seinem Vortag »Israels Jugend«, hatte er vor eben diesem Forum eine Rede zum Thema »Judentum und Revolution« gehalten, die man als direktes Ergebnis der Studentenrevolte betrachten muss.36 1970 verçffentlichte Levinas seinen Artikel »Ohne Identitt«, der viele Ideen, die er im Beitrag »Israels Jugend« in einer ersten Rohfassung prsentiert hatte, in einer theoretischen Sprache weiterentwickelt vorstellte.37 Levinas Artikel »Israels Jugend« soll hier ausschließlich im Hinblick auf den hier relevanten Kontext besprochen werden, d. h. bezîglich Levinas Verstndnis von Jugend und seiner Schlussfolgerungen. In seinem Artikel richtete er das Hauptaugenmerk auf sein Unbehagen im Zusammenhang mit dem Begriff der Jugend, insbesondere den Platz, den Jugend in der faschistischen Ideologie erhalten hatte, und ihre Bedeutung als mchtiges und Macht demonstrierendes Image im Prozess der Ausbreitung der Ideologie.38 Im Grunde fîrchtete Levinas sich vor jeder Revolution und deren gewaltttigen Folgen.39 Seine Befîrchtungen verdeutlichte er am Beispiel der Chasal – »unserer Weisen«, Rabbiner, die im Talmud als Weise bezeichnet werden – vor den Tagen des Messias.40 Dennoch sah Levinas, dass »ungeachtet dessen […] die Jugend hçchst begehrenswert und am Anderen hçchst liebenswert [bleibt]. Man kann kaum abwertend îber sie 35 Emmanuel Levinas: Israels Jugend, in: ders.: Vom Sakralen zum Heiligen: Fînf neue Talmud-Lesungen. Aus dem Franzçsischen von Frank Miething, Frankfurt a. M. 1998, S. 53 – 81. 36 Ders.: Judentum und Revolution, in: ders.: Vom Sakralen zum Heiligen: Fînf neue TalmudLesungen. Aus dem Franzçsischen von Frank Miething, Frankfurt a. M. 1998, S. 11 – 51. 37 Ders.: Ohne Identitt, in: ders.: Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 2005, S. 85 – 104 (Franzçsische Erstausgabe 1970). 38 Ders. (siehe Anm. 35), hier S. 62 – 63. 39 Ders. (siehe Anm. 37), hier S. 87 – 88. 40 Ders., (siehe Anm.35), hier S. 71 – 72.

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sprechen.«41 Daraus ist zu ersehen, dass Levinas dem Begriff Jugend intuitiv dennoch ein grundstzlich positives Wesen zuschrieb. Wenngleich er zu Beginn seines Vortrags dieses Wesen nicht erluterte, gab er dennoch die Definition einer Eigenschaft, die er als grundlegend fîr den Begriff Jugend erachtete: Erneuerung. Levinas ist in seiner Befîrwortung der Erneuerung konsequent, doch auf Grund der Lehre der Geschichte, die uns der Nazismus und der Kommunismus beschert htten, sei er sich bewusst, dass der Begriff Jugend ebenfalls negative Bedeutungen beinhalte. Diesbezîglich griff er in erster Linie den Anspruch an, den der Faschismus auf den Begriff Jugend erhoben hatte. Er betonte, dass er den Begriff in einer Bedeutung und mit eben jenen Eigenschaften gebrauche, die ihm vor der Zeit des Faschismus zugeschrieben worden waren. Schon in der Einleitung seines Artikels wies er bestimmte Bedeutungen, die sich auf die Jugend bezogen, strikt zurîck. Eigenschaften wie etwa Spontaneitt, Stolz, Ablehnung der Vergangenheit und Freiheit bezeichnete er als gefhrlich. Ihnen stellte er Fhigkeiten gegenîber, die er als positiv verstand: das innige Empfinden, ein Ziel zu haben, eine Mission zu erfîllen sowie Verantwortung zu tragen und sich fîr die Wahrung der Existenz einzusetzen. Anstatt sich gegen die Vergangenheit aufzulehnen, solle man sie vielmehr annehmen, anstatt Stolz lieber Bescheidenheit und Demut zeigen, der Spontaneitt Ernst und der Freiheit ein Verantwortungsbewusstsein entgegensetzen.42 Doch îber allem habe zu stehen, dass die Konzentration auf das Selbst durch die Verpflichtung gegenîber dem Anderen ersetzt werden mîsse. Um dem »Ideal der Jugend« Bedeutungen zuschreiben zu kçnnen, die von jenen differierten, die eine faschistische Gefahr beinhalte, whlte Levinas demonstrativ einen hermeneutischen Ansatz. Dieser Ansatz ruft durch die Verbindung von Begrifflichkeiten eine wechselseitige Projektion hervor, die zu Spiegelungen eines Begriffes in einem anderen fîhrt, so dass in diesem Netz der Reflexionen fîr jeden dieser Begriffe eine gemeinsame Bedeutung entsteht. Das Heranziehen dieses methodologischen Ansatzes deutet auf die Flexibilitt hin, durch die der Inhalt des Begriffes geschaffen wurde, nmlich durch eine terminologische Organisation innerhalb eines dialogartigen Beziehungssystems. Um dem System neue Bedeutungen zuschreiben zu kçnnen, wollte Levinas den Begriff Jugend aus seiner Einbettung in die dicht gewebte nietzschesche Begriffswelt retten und an ein anderes begriffliches System binden. Er wandte sich deshalb jener begrifflichen Welt zu, die auf jîdische Quellen zurîckgreift, und schlug somit im weiteren Verlauf seines Beitrags eine ˜bernahme der Bedeutungen vor, die zwischen dem Begriff Jugend und dem biblischen bzw. dem

41 Ebd., hier S. 63. 42 Ebd.

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talmudischen Nasirer43 – »dem Geweihten« – liegen. Aus dem Nasirat schlussfolgerte er Bedeutungen fîr den Begriff Jugend und schrieb ihm eine Bedeutung zu, die den Faktor der Erneuerung als primre Grundlage hervorhebt, die jedoch erst durch die Interaktion mit dem Nasirat konsolidiert wird. Im spteren Verlauf wird deutlich, dass die Verbindung des Begriffes Jugend mit dem Begriff Nasirat die Bedeutung des Begriffes Jugend radikal verndert. Das Ergebnis dieser Vernderung ist die Schaffung der »verantwortungsvollen Erneuerung«. Dazu ist anzumerken, dass Levinas rabbinische Schriften las, die sich mit dem Nasirat und dessen Interpretation beschftigten, in seiner Interpretationslehre das Lesen jedoch zu einem expliziten Akt des Schreibens wurde: Indem er zwischen den Begriffen eine Verbindung herstellte und darîber schrieb, schuf er sie eigenhndig entsprechend der ihm bekannten ChasalPrinzipien, die Analogien zwischen den Stellen der Bibel herstellen. Gleich zu Beginn seines Artikels verwies Levinas auf den Eid der Nasirer, der sich auf das sechste Kapitel des 4. Buch Mose bezieht und drei Gebote anfîhrt, wobei Levinas zudem auch die Widersprîchlichkeiten dieser Gebote aufzeigte. Jedes der Gebote stehe im Widerspruch zur Botschaft der westlichen Philosophie. Das erste Gebot bezieht sich auf die Vermeidung einer Verunreinigung durch Tote, was Levinas als Schutz vor dem Hedonismus deutete, der vom Zusammentreffen bzw. von der Berîhrung mit dem Tod herrîhrt. Das zweite Gebot bezieht sich auf die Entsagung vom Genuss von Wein als Schutz vor der Illusion, whrend das dritte Gebot in der ersten Phase eine Untersagung und in der zweiten Phase eine Pflicht darstellt. So besagt es etwa, dass man sich whrend der Zeit des Nasirats die Haare nicht schneiden dîrfe, nach Ende des Nasirats das Schneiden der Haare hingegen eine Pflicht sei. Hier verwies Levinas auf einen Sachverhalt und den ihm immanenten Widerspruch. Das Gebot, sich die Haare zu schneiden, so erluterte er, sollte das Ignorieren des Selbst zum Ausdruck bringen, d. h. es sollte Ausdruck eines nicht gegebenen Narzissmus, einer Ablehnung der Normen und der Bejahung der Rebellion sein. Auf den Sinn der Pflicht des Haarschneidens bezog er sich folgendermaßen: »Vielleicht um zu verhindern, dass die schçne Gewalt, die man sich antat, zu einer sïßen Gewohnheit und der Protest gegen die Institution zur Institution wird!«

43 Als Buber und Rosenzweig ihre Bibelîbersetzung anfertigten, transkribierten sie den hebrischen Buchstaben Sajin dieses Begriffes mit dem Buchstaben z, der ein stimmhaftes s zu sein hat. Auch der ˜bersetzer Levinas’ hielt sich an die Schreibweise Nazirat und machte dazu die entsprechende Anmerkung. Diese Schreibweise ist heute jedoch nicht mehr îblich.

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Und er fîgte hinzu: »Doch Vorsicht vor der Ausïbung der Ungehçrigkeit, wenn alles revolutionre Bewusstsein geschwunden ist.«44 Er wies somit auf ein Paradoxon hin: Sich dem Establishment unterordnen (d. h. sich die Haare zu schneiden), um die Rebellion nicht zum Establishment zu machen. Das war gleichermaßen ein Angriff auf die studentischen Revolutionre. Doch fîr Levinas bedeutete dies auch ein Bestehen auf einem noch viel grundlegenderen Prinzip: Das Nasirat als Modell der Jugend funktioniert somit als revolutionres Prinzip, wobei zugleich seine gewaltttigen Grundlagen durch die Entsagung von Alkohol, Abstandnahme von einem Zusammentreffen mit dem Tod und vor allem durch die Unterordnung unter die Konventionen des bestehenden Establishment sowie die Achtung des Gesetzes ventiliert werden. Er fasste seine Ablehnung des Prinzips Jugend als Ablehnung des egoistischen Selbstbewusstseins der vergnglichen Gegenwart, der »Betrachtung des Selbst«, zusammen: Nicht nur schçn aussehen, sondern sich selbst als schçn empfinden, und das Gefîhl haben, dass das Greisenalter niemals eintreten werde. Mit anderen Worten: »Was dieser Nasirer par excellence […] ablehnte, war diese Selbstbespiegelung: nicht schçn zu sein, sondern sich als schçn zu betrachten.« Levinas setzte der Konzentration auf das Selbst im vergnglichen Moment die Jugend entgegen: »Es handelt sich um diejenige Uneigennîtzigkeit (das ’Desinter-esse’), die dem Wesen (der ›Essenz‹) eines Seins entgegengesetzt ist, das genau genommen immer Beharren im Wesen (in der ›Essenz‹) ist, Rîckkehr des Wesens zu sich selbst, Selbstbewusstsein und Selbstgeflligkeit.«45 Auch Levinas vertrat also eine andere Auffassung von Jugend als in der westlichen Kultur îblich, d. h. so wie sie in der bereits erwhnten Definition Bubers zum Tragen kam: »Ihr Streben nach Erkenntnis kennt keine andere Grenze, als die, die die eigene Erfahrung sie wahrnehmen lehrt, ihre Vitalitt keine andere Verantwortung, als die vor der Ganzheit des eigenen Lebens.«46

44 Levinas (siehe Anm.35), hier S. 60. 45 Ebd., hier S. 66. 46 Buber (siehe Anm.24).

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Mittels des Nasirats schlug Levinas eine Definition des Begriffes Jugend vor, die nicht von Gewaltttigkeit – eben jener Gewalt, die ihrem Wesen entspringt – durchdrungen sei. In diesem Begriff der Jugend entdeckte er zudem auch Respekt vor Autoritt und vor den Traditionen der Vergangenheit und keineswegs das Aufbegehren gegen den Vater, sondern sein Akzeptieren. Levinas verwies diesbezîglich auf zwei Figuren, die im Talmud als Nasirer erwhnt sind, nmlich auf den Helden Samson und auf den Propheten Samuel. Levinas betont, dass sie Richter und Gelehrte waren, die sich mit den Gesetzen beschftigten, so wie ihnen diese aus der Vergangenheit îberliefert worden waren. Die Jugend, so behauptete Levinas, sei eine Erneuerung, die nicht im Namen der Huldigung der Rebellion erfolge, sondern sich durch Respekt vor der Tradition vollziehe. Jugend sei der Zustand der Aufnahmefhigkeit gegenîber dem, was dauernd ist, und ganz das Gegenteil des ›Vaterkomplexes‹. Die Kinder Israels seien die Jugend schlechthin: die Studenten der Tora. Die, die die Tora erneuern, indem sie sie aufnehmen.47 Die Beziehung, die Levinas zwischen Jugend und Establishment bzw. Institutionen herstellte, band sich an seine besondere Auffassung von der Zeit. Er diskutierte das Nasirat auf zwei Ebenen. Zunchst bezeichnete er es als eine definierte Zeitspanne, die einen Anfang und ein Ende habe und sich letztlich dem alten Establishment unterordnen mîsse. Doch dann wandte er sich der Diskussion des lebenslangen Nasirats zu, das weder einen Anfang noch ein Ende habe. Samson und Samuel – die von ihm angefîhrten biblischen Vorbilder – waren schon vor ihrer Geburt zu Nasirern erhoben worden. Levinas war der Ansicht: So kommen wir zur Vorstellung einer Weihe – eines Nasirats –, das lter als unser wahlfhiges Alter ist. Der absolute Nasirer ist lter als sein Leben. Außerordentliches Altsein! Doch auf diese Weise trgt der absolute Nasirer sein ganzes Leben hindurch das Markenzeichen einer unvorstellbaren Jugend, einer Jugend noch vor der Jugend, einer Jugend vor allem Altern.48 Ein Nasirer ist nicht einfach nur ein junger Mensch, der dem alten Establishment untersteht, sondern er trgt die Jugend und das Alter zugleich in sich. Dies stellt eine grundstzliche Abweichung von den generationellen Zeitbegriffen dar, laut welcher sowohl Jugend als auch Alter zwar parallel bestehen, jedoch separiert sind und jeder Zustand in einer anderen Form und einer anderen Zeit auftritt: der jugendliche Mensch einerseits und der greise Mensch andererseits. Der Nasirer hingegen sei eine Verbindung von beiden, eine Vereinigung der Widersprîche in einer einzigen Person. Das Vermçgen, parallel zu existieren, sei, so argumentiert Levinas, auf der Ewigkeit des Nasirats begrîndet,

47 Ebd., hier S. 78. Kursivdruck im Original. 48 Ebd., hier S. 79.

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denn es erfolge – wie bereits ausgefîhrt – als Erhebung noch vor der Geburt und setze sich nach dem Tod fort: »Das Nasirer ist nicht die Jugend des Anfangs, es ist die vorursprïngliche Jugend, die Jugend vor dem Eintritt in die geschichtliche Zeit.«49 Levinas Zeitverstndnis bezog sich auf die parallele Existenz von zwei widersprîchlichen Bewusstseinszustnden – Jugendlicher und Greis –, wobei beide ineinander îbergehen wîrden. Dabei gebe es keine historische Zeitrechnung in Form von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Nasirat widerspreche der Auffassung der Jugend als vergnglicher Moment, als Augenblick, in dem »[…] das Selbstbewusstsein, altervergessen, ein tçrichter Stolz«50 ist, denn »[…] die Zukunft ist gegenwrtig, sie lsst sich nicht aufschieben.«51 Das Alter warte nicht, denn es sei bereits vorhanden und gegenwrtig, anwesend und bestehe in der Jugend selbst. Levinas polemisiert im Verlauf des gesamten Artikels gegen die westliche Kultur, die seiner Meinung nach auf dem Selbst und dem »gedachten Denken« aufbaue, entsprechend dem der aristotelische Gott definiert wurde und mit dem Hegels Enzyklopdie und vermutlich die »westliche Philosophie« ende. Der Auffassung der primren Jugend, die auf sich selbst fixiert und nichts als ein vergnglicher Moment der Geschichte sei, stellte er »Israels Jugend« entgegen, die zugleich außerhalb der historischen Zeit ewig sei. Die jîdische Alternative zur Jugend, so wie Levinas sie sah, biete der Menschheit eine besser passende, moralische Grundlage. Die Gegenîberstellung von jîdischer Moral und der Moral der westlichen Philosophie findet sich ebenfalls in Levinas Artikel »Ohne Identitt«, den er mit einem »Spruch der Vter« aus der Mischna (Aboth, 1,14) beginnt: »Wenn ich nicht fîr mich bin, wer ist dann fîr mich? Wenn ich nur fîr mich bin, was bin ich dann?«52 49 Ebd. 50 Ebd., hier S. 66. Levinas widersetzte sich folgendermaßen: »Der Mensch Nietzsches, der im ˜bergang zum ˜bermensch das Sein der Welt erschîttert, […] doch aus der Zeit der Alterns (der passiven Synthesis) zieht sich dieses Wort zurîck durch den Gedanken der ewigen Wiederkehr«, (siehe Anm.37, hier S. 97). Dadurch machte er seine Gegnerschaft zur Auffassung der kreislufigen Zeit zur Wahrung der Jugend als zentrales Ich des Selbst unmissverstndlich deutlich. 51 Levinas (siehe Anm. 35), hier S. 67. 52 Levinas (siehe Anm. 37), hier S. 85. Hier soll in einer Nebenbemerkung darauf hingewiesen werden, dass durch die Betonung des Alters als wichtigen Brennpunkt des Judentums im Gegensatz zur Jugend als zentraler Aspekt der westlichen Philosophie ein unterschiedliches Verhltnis nicht nur im Hinblick auf die Werte des Judentums gegenîber ihren philosophischen Botschaften zum Ausdruck kommt, sondern sich dies auch in der Figur des Juden niederschlgt. Im Gegensatz zu Max Nordaus »Muskeljudentum«, der um die Jahrhundertwende dazu aufforderte, den alten Juden in einen jungen und vitalen Menschen zu

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Indem Levinas zwischen den textuell losen Begriffen Jugend und Nasirat eine Verbindung herstellte, schlug er eine durchaus îberraschende Richtung vor. Die von Levinas vorgestellte Interpretation ist nicht nur ein Mittel zur ˜bermittlung von Botschaften, sondern beinhaltet selbst ebenfalls die Parallelitt von Jugend und Alter. Fîr diese innovative Interpretation werden einerseits die antiken Chasal-Schriften sowie andererseits die Chasal-Methodologien herangezogen, womit Levinas zugleich illustrierte, dass sein Vorschlag der Erneuerung der Tradition und der Autoritt unterzuordnen sei. Die Verbindung zwischen Jugend und Nasirat zog Levinas ebenfalls heran, um ein weiteres seiner sich selbst gesetzten Ziele zu erlangen: die Negierung des Bçsen, das in Auschwitz seinen Hçhepunkt erreicht hatte. Auch hier arbeitete er, wie in allen seinen Werken, mit der Definition von Verantwortung. Seine Ambivalenz gegenîber dem Begriff Jugend entspricht seinem grundstzlichen Konfliktverhltnis zur Moderne, die den Faschismus, den Kommunismus sowie eine Vielzahl von Traditionsbrechungen hervorgebracht hatte. Durch das Prinzip der Verantwortung gegenîber dem Mitmenschen versuchte Levinas dennoch, die Moderne gleichsam zu retten. Dieses Engagement wurde deshalb forciert, weil ein Vergleich zwischen Jugend und Nasirat paradox erscheint und nicht unbedingt îberzeugend wirkt. Auf den ersten Blick scheint dies nmlich vollkommen losgelçst von unserer gegenwrtigen Konsumkultur zu sein, in der die nietzschesche Jugend erdrîckend dominant ist. Beschftigt man sich allerdings intensiver mit der politischen und kulturellen Grundlage, die bei Levinas dem Bild der Jugend zu Grunde liegt, dann stellt sich heraus, dass er der Jugend – auf genau die Art und Weise wie wir sie ebenfalls kennen – auch weiterhin nietzschesche Eigenschaften zuschrieb,53 er genau diese jedoch zîgeln wollte. Er erwartete von diesen Eigenschaften, dass sie zu einem erfrischenden Faktor wîrden, zu einem Faktor, der etwas in Schwung brchte, nicht jedoch die Plînderung des Systems vorantreibe. Diese Eigenschaften sollten etwas zur Verbesserung der modernen Welt beitragen, diese allerdings nicht in den Verfall stîrzen. Der Prozess der Kooptation einer jugendlichen Revolte, so wie ihn Levinas vorschlug, fîgte sich gut in die moderne Kultur ein, die beinahe jede revolutionre Idee letztlich in eine Selbstbesttigung zu verwandeln mag. Somit kann man abschließend festhalten: Levinas Erneuerung der Jugend bewegt sich zwischen einem vorsichtigen Optimismus, der ein schwaches Echo des Modernismus beinhaltet und einer den Postmodernismus charakterisierenden Skepsis sowie Nîchternheit.

verwandeln, rief Levinas dazu auf, die Figur des alten Juden als eine positive Botschaft zu wahren, dies allerdings aus einer Perspektive der Jugend heraus. 53 Ebd., hier S. 104.

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Exkurs: Jugend versus Alter – Gutkind liest Levinas Auch in Gutkinds Auffassung von der Moderne, d. h. als ein Mensch, der in der Periode vor dem Ersten Weltkrieg lebte, ebenso wie in Levinas Ansicht, die auf dem Verstndnis aufbaute, als ein Philosoph in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu wirken, waren Figuren der Jugend und des Alters prsent. Was kann man folglich îber Levinas Haltung aus dem Blickwinkel jener Diskussion zu Beginn des 20. Jahrhunderts, an der Gutkind beteiligt war, sagen? Mit anderen Worten: Zu welchen Schlussfolgerungen wre Gutkind wohl gekommen, wenn er Levinas Schriften gelesen htte? Gutkind wirkte auf der Grundlage einer nachhaltig durch Nietzsche geprgten Begriffswelt, auch wenn er in seinem Buch dazu aufforderte, eine neue stellare Sprache zu gebrauchen. Levinas wollte die nietzscheschen Bedeutungen der Begriffe Jugend und Alter durchbrechen, indem er sie mit einem anderen Begriff – mit dem des Nasirats – verknîpfte. Sein Ansatz, der von seinem Wunsch herrîhrte, die Bedeutung des Begriffes Jugend zu ndern, vernderte nicht nur das Beziehungssystem zwischen Jugend und Alter, sondern auch die Bedeutung des Begriffes Alter. Bei Gutkind stand das Alter fîr Dekadenz, Degeneration und Genusssucht als Ergebnis des bevorstehenden Todes. Bei Levinas hingegen stand das Alter fîr Weisheit und Nîchternheit. Gutkinds Kampf, mit aller Macht dem Alter zu entkommen und die Jugend zu bewahren, wurde bei Levinas zu einem Projekt, das vorschlug, dem Alter zuzuhçren, was einem Ausgleich der verborgenen Krfte der Jugend gleichkam. Beide Philosophen beschftigten sich mit der Moderne und erkannten in ihr gegenstzliche Krfte: Erneuerung und Institutionalisierung. Gutkind schreckte vor der Degeneration zurîck, die er wie so viele andere seiner Generation erlebte. Die Moderne wollte er als eine fortwhrende Erneuerung sehen, als Aufhebung des Alten gegen das Neue in einem endlosen Kreislauf von Tod und Neugeburt, die die Frische der Jugend bewahrt, indem der Tod eine andere Bedeutung erhlt und von einem Endpunkt zu einem Neuanfang wird. Er wollte die kreativen und schçpferischen Krfte der Moderne durch eine fortwhrende Revolution und das Ausrauben des Systems als solchem freisetzen. Sein Zusammentreffen mit Levinas wre an einem Punkt erfolgt, an dem Levinas etwas eingestand, das Gutkind nicht htte erwarten kçnnen: die zerstçrerische Macht der Erneuerung in radikalster Form. Levinas hatte keineswegs das Ziel, die von Gutkind vorgeschlagene Form der Jugend zu negieren. Genau wie Gutkind war nmlich auch er der Ansicht, dass das Zusammentreffen mit dem Tod zum Hedonismus fîhren kçnne, doch anstatt den Tod ins Bewusstsein zu rîcken, ignorierte er ihn und schlug vor, sich der ewigen Zeit zuzuwenden, in der sowohl die Jugend als auch das Alter zugleich und parallel existierten. Tatschlich stand Gutkind zwischen der Jugend und dem Alter und zog letztlich den Tod dem Alter

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vor. Aus seiner Perspektive betrachtet kann man vorschlagen, dass Levinas das Alter als Sieg îber den Tod an einem Punkt prsentierte, an dem sich das Alter mit der Jugend verband. Beide Philosophen sahen die Moderne als ein enormes Problem an. In vielerlei Hinsicht war das Projekt, an dem sie beteiligt waren, ein großangelegtes Unterfangen, um die Moderne vor sich selber zu retten. Sowohl die von Gutkind als auch die von Levinas vorgeschlagenen Lçsungen standen mit dem Beziehungssystem von Jugend und Alter in Verbindung, das mit einer jeweils anderen Zeitauffassung unterlegt wurde. Gutkind schlug einen dialektischen Zeitwert vor, und zwar die lineare und die generationelle Zeit, die sich miteinander vereinten, um eine kreislufige Zeit zu schaffen, in der die Erlçsung zu jedem beliebigen Zeitpunkt stattfinden kçnne. Levinas zerlegte die Zeit hingegen vollkommen, indem er ein Modell der ewigen, parallelen Zeit vorstellte, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht mehr von Bedeutung sein wîrden: Wenn die Zeit keine Zukunft habe, dann habe die Moderne keine Erlçsung außerhalb ihrer selbst. Gutkinds radikal-revolutionren Auffassungen, die zur damaligen Zeit fîr intellektuelle Bewegungen typisch waren, wollte Levinas mßigen. Er negierte die Erneuerung nicht, die in seinen Augen fîr eine moralische Existenz der Menschheit, die sich selbst îberprîft, vital sei. Doch er wollte diese revolutionren Aspekte einer Autoritt unterordnen. Diese Autoritt mîsse zwar der Jugend zuhçren, die gegen verschiedene Phnomene protestierte, doch zugleich habe die Jugend ihren Protest in den Rahmen eben dieses Systems ein- bzw. unterzuordnen. Somit verwandelte er die Jugend in ein Prinzip des Gehorsams gegenîber dem Establishment. Diesbezîglich schlug Levinas den Einsatz unseres gegenwrtigen Konsumsystems vor : Kooptation jeder Revolution, ˜bertragung ihrer Symbole auf die Konsumkultur, eine beschrnkte Beantwortung ihrer Forderungen und letztlich ihre Zîgelung und ihre Verwandlung zu einem Bestandteil des Systems. Das moderne Revoluzzertum, welches das System aushebeln und ausrauben und dabei bestndig vorwrts schreiten will, wird durch ein blasses postmodernes Pendant ersetzt, das lediglich hier und da ein wenig verndern mçchte, oder aber es trifft auf ein System, das so opportunistisch und flexibel ist, dass es das Revoluzzertum in sich aufzunehmen vermag, ohne dabei irgendeinen Schaden zu erleiden. Sowohl Gutkind als auch Levinas stellten moralische Forderungen an die Moderne, die sich auf eine umfassende Verantwortung gegenîber jenen unterschwelligen Inhalten bezogen, die erneut im Bild der Jugend entdeckt wurden. Im Grunde genommen war das Projekt zur Rettung der Moderne ein ethisches Projekt. Beide Philosophen, die den radikalen Individualismus heftig kritisierten, schlugen einen Verlauf vor, durch den die Grenzen der Verantwortung gegenîber der Existenz im Allgemeinen erweitert werden sollten. Levinas wehrte

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sich zwar gegen diese Auffassung, lehnte das Prinzip der Verantwortung jedoch nicht ab. Seiner Meinung nach gab es immer jemanden oder etwas, der/das »anders« sei, und ebenfalls gegenîber diesem »Anderen« mîsse Verantwortung gezeigt werden. Levinas schlug eine neue Interpretation mit einem abgeschwchten Konzept des Nasirats vor. Auf Grund dieses Vorschlags gelang es ihm erstaunlicherweise tatschlich, die hedonistisch-revolutionren nietzscheschen Auffassungen, die nur schwer zu durchbrechen und aufzulçsen waren, dem Establishment unterzuordnen. Sein Erfolg beruhte allerdings nicht auf dem Pioniercharakter seines Vorschlags, sondern auf dessen Machtanspruch. Levinas erkannte in seinen Schriften die Existenz der Vernichtung an, denn schließlich waren die Inhalte und Regeln, aus denen sich seine Auffassung der Moderne zusammensetzte, grundstzlich mit denen Gutkinds identisch. Nicht umsonst waren sowohl Gutkind als auch Levinas Zeitgenossen derselben Moderne mit denselben Konflikten und Paradoxien.

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Die anarchistische ùsthetik der Jugendbewegung »HaShomer HaZa’ir« in den 1920er Jahren und das Tragische in ihrer Weltanschauung1

Unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges und im Verlauf der frîhen 1920er Jahre formulierte die sozialistisch-zionistische Jugendbewegung »HaShomer HaZa’ir« (Hebrisch: Der junge Wchter) eine auf einer Fantasie aufbauende tragische Weltanschauung.2 Der damals zur Leitung der Jugendbewegung zhlende Meir Wald, der nach seiner Auswanderung nach Palstina seinen Familiennamen ins hebrische Pedant Ya’ari nderte und spter der politische Leiter der Bewegung wurde, schrieb dazu: »Da wir junge Menschen sind, ist uns das Tragische aufgebïrdet. Wenn sich das tragische Moment, das uns inne wohnt, verflïchtigt, dann werden wir auseinander brechen, dann werden wir nicht weiter als Bewegung existieren […] Sehnsïchtig suche ich vor allem nach der tragischen Anschauung des Menschen.«3 Im Weiteren hielt Wald fest, dass die Angehçrigen der Zweiten Alija [Hebrisch wçrtlich: Aufstieg, d. h. Einwanderung nach Palstina. Mit der hier erwhnten Einwanderungswelle (1904 – 1914) kamen vorwiegend Juden aus Russland und Polen ins Land] die spirituelle Welt des HaShomer HaZa’ir nicht verstehen wîrden. Zwar kçnnten sie den Hang zum Tragischen spîren, doch wegen ihres mangelhaften Glaubens und ihres nicht vorhandenen Verstndnisses wîrden sie zurîckweisend behaupten, dass »das Tragische hinter dem Pflug schdlich sei und der Balance des inneren Tohuwabohus keine Rechnung trage.« Wald fîhrte darîber hinaus aus, dass »die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir diesen Geist bis zum Ende bekmpfen mîssen.«4 1 Aus dem Hebrischen von Antje C. Naujoks. 2 Angelika Jensen: Sei stark und mutig! Chasak We’emaz! 40 Jahre jîdische Jugend in §sterreich am Beispiel der Bewegung »Haschomer Hazair« 1903 bis 1943, Wien 1995. 3 Matityahu Mintz: Jugendkrise. Die Schomerbewegung 1911 – 1921. (hebr.), Jerusalem 1995, S. 393. Hervorhebungen im Originaltext. 4 Ebd. S. 395.

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Solche Hinweise auf das Tragische und den tragischen Menschen sind vor allem in einer von Walds polnischsprachigen Schriften zu finden, die er aus Palstina an die Kameraden seiner Bewegung in Polen schickte. Er verfasste dieses Schriftstîck im Februar oder Mrz 1921. Weitere Erwhnungen des Tragischen und dessen Diskussion im Kreis der Mitglieder des HaShomer HaZa’ir tauchen in verschiedenen Schriften und Aufstzen auf, die David Horowitz verfasste, der zur damaligen Zeit ebenfalls zur Leitung dieser Jugendbewegung gehçrte. Die Tragçdie als eine Form des Dramas gehçrt zu den literarischen Grundmustern, deren Wurzeln bis in das antike Griechenland zurîckreichen. Der Begriff »Tragçdie« stammt aus dem Griechischen und bezeichnet einen ›Bocksgesang‹ (griech.: tragod„a). Beim Dionysoskult wurden Umzîge mit Masken und Bocksfellen (griech.: tragûs, Darstellung des Gottes selbst oder seiner Begleiter Satyrn) aufgefîhrt. Die Situation der Hauptfigur verschlechtert sich im Verlauf der Handlung unausweichlich bis hin zu ihrem Tod am Ende des Stîckes. Das Scheitern des tragischen Helden ist unumgnglich, liegen die Ursachen dafîr doch in der Figurenkonstellation und Charakterdisposition des Protagonisten. Der Kern der Tragçdie ist, dass der Mensch îber das ihm zugeteilte Schicksal hinausgehen will. Tragisch (griechisch tqacij|r) bedeutet nach Aristoteles ein Ereignis, welches zugleich Mitleid (mit dem Betroffenen) und Furcht (vor uns selbst) erweckt. Das Tragische, das durch poetische Mittel ausgedrîckt wird, zeichnet das Schicksal eines Menschen in einer bestimmten gesellschaftlichen, politischen und historischen Situation nach. Diese Situation aber ist eine Fantasie. Im hier vorgelegten Beitrag mçchte ich die Fantasien analysieren, die Wald und andere Mitglieder der Jugendbewegung HaShomer HaZa’ir whrend der 1920er Jahre zum Ausdruck brachten. Um die gesellschaftliche und die historische ebenso wie die tiefgreifende persçnliche Krise dieses Personenkreises herauszuarbeiten, habe ich die von Klaus Theweleit in seinem Klassiker »Mnnerphantasien« aufgestellten Thesen herangezogen.5 Nach Theweleit ist die Fantasie ein Bestandteil des kreativen Denkprozesses, der in seiner Entstehung eigenen Regeln unterworfen ist. Als Bestandteil eines Denkmusters spielt die Fantasie eine entscheidende Rolle im Hinblick auf die Verknîpfung zwischen den tiefgrîndigen, unbewussten Gedanken whrend der Nacht sowie in Wachtrumen oder in verdrngten Erinnerungen in verbotenen Spiegelbildern der Freiheit oder des Selbstverlustes – und zwischen gesellschaftlichen Produkten des Bewussten, die nicht nur in der Kunst, sondern auch im alltglichen Leben zum Tragen kommen. Abgesehen von den gesellschaftlichen und politischen Analysen dieser Bewegung whrend jener 5 Klaus Theweleit: Mnnerphantasien. Frauen, Fluten, Kçrper, Geschichten, Band 1, ungekîrzte Ausgabe, Mînchen 2000.

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Jahre ermçglicht die hier vorgelegte Studie eine Annherung an die Sprache sowie an die Welt der Mitglieder des HaShomer HaZa’ir. Darîber hinaus soll sie den Kontext erhellen, in dem die Mitglieder dieser Jugendbewegung gelebt haben und aktiv gewesen sind, denn durch die allgemeinen Erkenntnisse, die man durch die Analyse einer solchen Fantasie gewinnen kann, erfhrt man nicht nur mehr îber die entsprechende Periode und eine bestimmte historische Gruppe, sondern erkennt letztlich auch, dass der Dialog der Pioniere des damaligen Yishuw (vorstaatlich-jîdische Ansiedlung in Palstina) im Allgemeinen sowie die Welt der Mitglieder des HaShomer HaZa’ir im Besonderen durch einen intensiven Ausdruck der Fantasien gekennzeichnet war.

Das Tragische Heute ist die Aussage allgemein akzeptiert, dass der Zionismus von einem »messianisch-skularen« Geist durchdrungen war, der danach strebte, das jîdische Volk aus dem Exil zu erlçsen.6 Viele zionistische Denker brachten ihre Leidenschaft fîr das skulare Exil in den Worten einer messianisch-religiçsen Sprache zum Ausdruck. Parallel zum messianischen Dialog beschrieben die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir ihre Weltsicht durch die Unentbehrlichkeit des Tragischen. Spter definierte der jîdisch-franzçsische Intellektuelle und Marxist Lucien Goldmann, der in jungen Jahren selbst Mitglied in der rumnischen HaShomer HaZa’ir-Bewegung gewesen war, was die tragische Weltanschauung ausmacht.7 Diese Weltanschauung entspringt, seinen Ausfîhrungen zufolge, einer gesellschaftlichen Gruppe, deren Angehçrige in eine auswegslose gesellschaftliche Situation geraten sind.8 In seinem Buch »Der verborgene Gott«, das 1955 verçffentlicht wurde und als Klassiker gilt, stufte Goldmann die franzçsischen Schriftsteller des 17. Jahrhunderts Pascal und Racine sowie Kant als durch ein tragisches Bewusstsein charakterisiert ein. Diese Weltanschauung 6 Siehe z. B. Richard Wolin: Reflections on Jewish Secular Messianism, in: Labyrinths Explorations in the Critical History of Ideas, Amherst 1995, S. 41 – 54; oder Michael Lçwy, Redemption and Utopia: Jewish Libertarian Thought in Central Europe, Stanford 1988. 7 Siehe Lucien Goldmann: Der verborgene Gott. Studie îber die tragische Weltanschauung in der Pens¤es Pascals und im Theater Racines, Frankfurt a. M. 1985. Eine wichtige Diskussion des Buches von Goldmann und eine marxistische Analyse der tragischen Vision der Welt finden sich bei Michael Lçwy : Goldmann and Lukcs: The Tragic Worldview, in: The Philosophical Forum XXIII, 1 – 2 (1991 – 1992), S. 124 – 139. Siehe auch Lucien Goldmann: Racine, îbersetzt von Alastair Hamilton, Cambridge 1972, S. 22 – 23. 8 Zum Begriff »Weltanschauung« in der intellektuellen Geschichte siehe Roger Chartier : Intellectual History or Sociocultural History? The French Trajectories, in: Dominick La Capra und Steven L. Kaplan (Hgg.), Modern European Intellectual History : Reappraisals and New Perspectives, Ithaca 1982.

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entstehe durch eine Situation, in der das Individuum an spîrbare Grenzen stoße, die es nicht îberwinden kçnne. Die Werke von Pascale und Racine bezeichnete Goldmann als Ausdruck der Frustration einer gesamten gesellschaftlichen Gruppe, zu der Beamte und Bîrokraten gehçrten, die nach und nach ihr Prestige einbîßten, weil sie aus ihren politischen Machtpositionen entfernt wurden, in das sie die absolutistische Regierung Frankreichs des 17. Jahrhunderts erhoben hatte. Ein tragischer Mensch wird zu eben diesem aufgrund seiner Verzweiflung, wobei die diesen Zustand auslçsende Krise in ihm den Wunsch erweckt, sich einerseits von dieser Welt abzunabeln, andererseits zugleich allerdings auch seinen sehnsîchtigen Wunsch schîrt, gegen eben diese Situation anzukmpfen. Goldmann versuchte, die exakten gesellschaftlichen Umstnde zu definieren, die zu dieser Weltanschauung fîhrten und den gesellschaftlichen Kontext der Verzweiflung darzulegen. Nach Goldman entsteht eine tragische Weltanschauung in einer »geschlossenen« gesellschaftlichen Situation, d. h. in einer Situation, in der bestimmten gesellschaftlichen Gruppen der Zugang zu Macht, Autoritt oder gesellschaftlichen Ressourcen verwehrt wird. Diese gesellschaftlichen Gruppen haben nur relativ wenig Kontrolle îber ihr Umfeld und Schicksal. Zudem nimmt die von ihnen ausgeîbte Kontrolle bestndig ab. Sie kommen nicht in den Genuss jener Bedingungen, die anderen Gruppen der Gesellschaft zugnglich sind.9 Die tragische Weltanschauung umfasst drei wesentliche Komponenten: 1. Das Gefîhl, dass Gott den Menschen absichtlich vernachlssigt. Das Gefîhl des Tragischen deckt sich dabei nicht zwangslufig mit dem Atheismus, denn schließlich ist es mçglich, dass Gott sehr wohl existiert, doch zu der Zeit nicht zugegen ist und nicht îber den Menschen wacht. 2. Der tragische Mensch versucht, trotz seiner begrenzten Chancen mit seiner Verzweiflung umzugehen, um sich selbst neu zu erschaffen. Er versucht, eine neue Welt zu kreieren. Um dies zu bewerkstelligen, gibt er sich absoluten moralischen Werten hin. Auf diese Weise versucht er schließlich, »entweder alles oder aber gar nichts« zu erreichen. Ein tragischer Mensch kennt nur die absolute Wahrheit und die absolute Lîge. Ein solcher Mensch strebt nach absoluten Werten und rebelliert nicht nur gegen die bestehende Ordnung, sondern wird im Rahmen seiner Revolte auch zum kompromisslosen Extremisten. 3. Ein Mensch ist nur dann tragisch, wenn seine Seele Pein und Qual aussteht. øhnlich wie die literarische Gestalt Hamlet, zerreißt es den tragischen Menschen zwischen seiner Eingebung, eine mutige Tat zu vollbringen, und seiner Verpflichtung, ein moralisches Leben zu fîhren. Niemals ist er sich 9 Mary Evans: Lucien Goldmann. An Introduction, New Jersey 1981, S. 61

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sicher, was der richtige Weg ist, seine Ziele zu verwirklichen. Nur wenn dieser Mensch seelische Pein und Qual durchsteht, kann er herausfinden, was tatschlich der richtige Schritt ist.

Das Tragische ist im Grunde genommen eine mentale Struktur, die es einem Individuum oder einer Gruppe ermçglicht, in der Geschichte aktiv zu werden und diese zu beeinflussen bzw. zu verndern. In dieser Hinsicht unterschieden sich die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir nicht von anderen jîdischen jungen Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Im Lebenszentrum vieler dieser Menschen stand das Ziel der Rîckfîhrung des jîdischen Volkes zur Geschichte mittels einer visionren Tat.10 Dieser Ansatz stimmt mit der Negierung der Verbannung îberein, einem zentralen Motiv im Leben vieler Juden Zentral- und Osteuropas zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir waren sich bewusst, dass von extremistischen Individuen oder entschlossenen revolutionren Gruppen die tragische Situation zum Anlass fîr eine Vernderung der Geschichte genutzt werden kçnnte. Wer eine tragische Weltanschauung zum Ausdruck brachte, der drîckte damit die Ausweglosigkeit aus, die er empfand und die in zwei gegenstzliche Pole mînden konnte: in der Geschichte die Macht zu ergreifen oder einen Abstieg in den Abgrund des Versagens und der Bestrafung zu erfahren. Einhergehend mit der Sehnsucht, «zur Geschichte zurîckzukehren«, kam die tragische Situation als solche, die vom Wesen her paradoxerweise eine fesselnde Fantasie war, außerhalb der zeitlichen Dimension zum Ausdruck. Gleich einem Mythos oder Traum wurde das Tragische von der Zeit abgekapselt, d. h. es geschieht zwar zu einem gegebenen Moment, ist aber dennoch an das Endlose und Transzendente gebunden. Meir Wald hatte das verstanden. Er versuchte, das Wesen des tragischen Lebensgefîhls zu beschreiben und hielt dabei fest, dass der tragische Aspekt »einen Akt des hçchsten Lebens« darstelle, der »zugleich ein Akt des Unterganges« sei.11 Die Bewegung des HaShomer HaZa’ir beschritt einen einzigartigen historischen Weg. Sie wurde im Jahre 1916 in Wien als eine eigenstndige und autonome jîdische Organisation gegrîndet, also als eine Organisation, die von Jugendlichen fîr Jugendliche ins Leben gerufen und von Jugendlichen ohne Einmischung von Erwachsenen gefîhrt wurde. Im Hinblick auf das Organisationsmuster griff man zunchst auf das Beispiel der polnischen Zofim-Bewegung 10 Lucien Goldmann zur zeitlich ungebundenen Grundlage der Vision der tragischen Weltanschauung: The Early Writings of Georg Lukcs, in: Tri-Quarterly 9 (1967), S. 165 – 181, hier : S. 168 – 170. 11 Mintz: wie Anm. 3, S. 395.

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(Pfadfinder) zurîck, die sich als Organisation im Jahre 1911 in Lvov, der Hauptstadt des çstlichen Galizien, zusammengefunden hatte. Der HaShomer HaZa’ir wurde in der Phase seiner Konsolidierung spirituell sehr nachhaltig durch die Ideen der deutschen »Wandervogel«-Bewegung beeinflusst. Angelehnt an das Beispiel der »Wandervogel«-Bewegung – und im Gegensatz zu den meisten anderen Jugendbewegungen des 20. Jahrhunderts – war der HaShomer HaZa’ir eine autonome Bewegung.12 Obwohl die Grîndung des HaShomer HaZa’ir in Wien erfolgte, kann man nicht sagen, dass die Bewegung aus dieser Stadt hervorging. Der harte Kern der Mitglieder und die Leiter der Bewegung lebten zwar mit ihren Familien in der çsterreichischen Hauptstadt, waren aber zumeist erst zu Beginn des Ersten Weltkrieges dorthin geflohen.13 In Wien wurden an die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir viele unterschiedliche Ideen herangetragen: der Anarchismus, die Philosophie Nietzsches, der spirituelle Sozialismus ” la Gustav Landauer, die Jugendkultur und die Psychoanalyse. Da die fîhrenden intellektuellen Kçpfe, welche die Bewegung prgten, diese Ideen in ihre Weltanschauung aufnahmen, fanden sie auch Zugang in die Anschauungen der Bewegung als solche und in die Einstellungen ihrer Mitglieder. Viele der fîhrenden Personen kehrten nach dem Ersten Weltkrieg zusammen mit ihren Familien wieder in ihre ostgalizischen Wohnorte zurîck. Zweifellos war der Bîrgerkrieg zwischen der Armee des freien Polens und der ukrainisch-nationalen Bewegung Ende des Jahres 1918 fîr sie ein traumatisches Erlebnis, das einen Bruch hinterließ, und eben dieser Bruch veranlasste Hunderte der Mitglieder der Bewegung dazu, umgehend den Weg nach Palstina anzutreten. Nach Ende des Ersten Weltkrieges und aufgrund der Friedensvertrge wurde Polen zum souvernen Staat. Whrend dieser Zeit wurden zahllose Mitglieder der Bewegung Zeugen der Gewaltttigkeiten, die Soldaten des freien Polens in der Region des çstlichen Galiziens an jîdischen Familien verîbten. Diese jungen Menschen, die als Polen groß geworden waren, polnische Nachbarn gehabt und polnische Schulen besucht hatten, waren wegen dieser Pogrome am Tag des nationalen Sieges zutiefst von der polnischen Nation enttuscht. Daher begann die HaShomer HaZa’ir-Bewegung in den 1920er Jahren des 20. Jahrhunderts nach Palstina auszuwandern. Im Laufe dieses Jahrzehnts entwickelte sie sich zu einer der bedeutenden Siedlungsbewegungen des Landes (Ha’Kibbutz Ha’Artzi: hebr.: Landesweiter Kibbuz) und zhlte zu

12 Im Hinblick auf weitere Informationen zur Geschichte der Bewegung des HaShomer HaZa’ir siehe den Beitrag von Rina Peled in diesem Sammelband. Weitere Details zur Geschichte der Bewegung bei Walter Laqueur : Young Germany. A history of the German Youth Movement, New York 1962, siehe auch die deutsche Ausgabe: Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Kçln 1962. 13 Ein weiterer Beitrag zu dieser Zeitspanne stammt von Angelika Jensen: Sei Stark und Mutig!

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einem jener Faktoren, die fîr die Grîndung der Kibbuzbewegung verantwortlich waren. Zwischen 1920 und 1922 wanderten nicht nur die polnischen Mitglieder der Bewegung nach Palstina aus: Unter den Auswanderern waren auch zahllose Mitglieder aus Gebieten des einstigen çsterreichisch-ungarischen Reiches. Auf einem entlegenen Hîgel mit Blick auf den See Genezareth grîndete eine Gruppe von zwanzig Mnnern und vier Frauen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren die Gemeinschaft Bithania Elite (Hebrisch: Hçhe Bithani’a). Diese Ansiedlung bestand zwar nur sieben Monate, wurde im Kreis der jîdischen Jugend in Palstina und in der jîdischen Welt der 1920er- und 30er Jahre aber dennoch sehr schnell zum Mythos: Die Leitung der Bewegung stellte nmlich den Mitgliedern der Diaspora diesen Versuch in idyllischen Schilderungen vor, um junge Juden in der Diaspora fîr den HaShomer HaZa’ir zu begeistern und nach Palstina anzuziehen. Einhergehend mit der Mythisierung der Hçhe Bethania Gruppe entstand in der Bewegung das Vorbild des »neuen Menschen«, das sich îber mehrere Generationen in der Weltanschauung dieser Bewegung halten sollte. Zu einem spteren Zeitpunkt entwickelte die Bewegung sowohl fîr die Aktivitten in Europa als auch fîr die pdagogischen Einrichtungen in Palstina eine besondere Tagesordnung und ein originelles pdagogisches Programm, die darauf ausgerichtet waren, im Kreise der jîdischen Jugend das Verhltnis von Kçrper und Geist tiefgreifend zu verndern. Das Ziel der Bewegung des HaShomer HaZa’ir, ein Modell von einem ›neuen Menschen‹ zu entwickeln, ging in erster Linie auf den Wunsch zurîck, dem Image des Diasporajuden zu entkommen. Dies ging einher mit der Idee der Negierung der Verbannung. Verndert werden sollte vor allem das negative physische und psychische Image des jîdischen Mannes der Diaspora. Im Rahmen der HaShomer HaZa’ir-Bewegung musste allerdings auch die Frau zu einer ›neuen Frau‹ werden. Um diesen Sachverhalt drehten sich viele interne Diskussionen der 1920er Jahre. Zumindest in einem Fall wurde eine Debatte îber das Wesen der neuen Frau als tragische Frau gefîhrt. Obwohl man den Aufruf der Bewegung zur Formung eines ›neuen Menschen‹ nur verstehen kann, wenn man die Termini entschlîsselt, die der HaShomer HaZa’ir in den ersten Jahren seines Bestehens in Zusammenhang mit der Diskussion des Wesens der tragischen Situation verwendete, wurden diese bisher von der Forschung kaum beachtet. 1939 verçffentlichte die HaShomer HaZa’irBewegung eines ihrer ersten Bîcher, das beim Verlag Sifriat Poalim (hebr.: Verlag der Arbeiter) erschien und die hebrische ˜bersetzung des 1908 verçffentlichten Buches »Lehavot« (hebr.: Flammen) des polnischen Schriftstellers Stanisław Brzozowski war.14 In der von den Herausgebern verfassten Einleitung 14 Mintz, siehe Anm. 3, S. 226 – 235. Mintz widmete dem Buch »Die Flammen« und seinem

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dieses Buches – die vermutlich u. a. von Meir Wald angeleitet wurde – findet sich die wohl wichtigste Bezugnahme der Bewegung auf den tragischen Menschen bzw. auf die Weise, in der ein solcher Mensch leben und arbeiten soll. Brzozowskis Roman erzhlt die Geschichte von polnischen Revolutionren, die Mitte des 19. Jahrhunderts versuchten, den russischen Zaren zu ermorden. Moshe Zertal, der zum Fîhrungsstab des HaShomer HaZa’ir gehçrte und die Geschichte des Warschauer Kerns der Bewegung (hebr. wçrtlich: Nest. So nennt die Bewegung ihre lokalen Gruppen) niederschrieb, berichtete, das Buch dieses Schriftstellers sei bereits whrend des Ersten Weltkrieges und in den Jahren danach zur »Bibel« der Mitglieder der Bewegung geworden.15 In der Einleitung der Neuauflage versuchten die Herausgeber, die Verbindung zwischen dem Roman und der Bedeutung eines der Ideale der Bewegung – der Formung des ›neuen Menschen‹ – darzulegen. Diese Erklrung umfasst auch Elemente des Tragischen: »[Das Buch …] legt die seelischen Wurzeln frei, legt die Geburt des befreiten Menschen offen, der da ist: Es ist die Prometheus gleiche Persçnlichkeit, die es wagt, zu den freien Gestaltern der menschlichen Geschichte zu gehçren. Der neue, der tragische Mensch, der keinen Gott hat, der mit seinen Hnden die Sulen des Lebens umschließt, um sie angesichts des sich auftuenden Abgrundes des Todes – gegenïber dem schwarzen Nichts, das aus der Realitt hervorlugt – und zu Gunsten des spirituellen ›Seins‹ neu zu ordnen.«16 Die Helden Brzozowskis fîhren das Leben des hçchsten Menschen, d. h. ihnen wohnt die Macht der historischen Flamme der Wahrheit inne, die sich mit der persçnlichen Verbitterung eines einsamen Revolutionrs mischt, der das Leben eines verfolgten Raubtieres fîhrt. Das ist der Geist eines Revolutionrs, des Einzigen, der in der Dunkelheit der Nacht die Wahrheit weiter trgt.17

Nietzsche-Rezeption Diese Zeilen sind ein Schlîssel zum Verstndnis jener tragischen Situation, so wie die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir sie verstanden. Daraus geht in erster Linie hervor, dass die Mitglieder der Bewegung zentrale Begriffe von Friedrich Nietzsche îbernahmen, ein Phnomen, das auch in vielen anderen Bewegungen Einfluss auf die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir whrend des Ersten Weltkrieges und in den 1920er Jahren ein ganzes Kapitel seines Buches. 15 Moshe Zertal: Spring of Youth, Tel Aviv 1980, (Hebr.). 16 S[tanislaw] Brzozowski: Lehavot, (Flames). Hebr., Ha’Kibbutz Ha’artzi, Ha’Shomer Ha’Zair Publishing House, 1939, Einleitung. 17 Ebd., Einleitung.

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Zentraleuropas um die Jahrhundertwende festzustellen ist.18 Ab 1918 îbernahmen die Mitglieder der HaShomer HaZa’ir-Bewegung Nietzsches Ideen und wandten sich von ihnen erst in den 1920er Jahren ab, als sie sich der marxistischen Ideologie çffneten. Im Brennpunkt des Interesses des HaShomer HaZa’ir standen vor allem zwei Werke von Nietzsche: »Also sprach Zarathustra« und »Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik«. Die Schriften der Bewegung, die um die Zeit der Grîndung der Ansiedlung Hçhe Bethania entstanden, veranschaulichen die Verinnerlichung der Ideen Nietzsches. Nach Nietzsche hat sich das moderne Individuum seinem Schicksal alleine zu stellen, und es liege in seiner Hand, seine Zukunft zu verndern. Es kçnne keine îbernatîrliche Intervention erwarten, denn Gott existiere nicht. Zudem htten die traditionellen Werte ihre Bedeutung verloren. Der Mensch habe sich sowohl von der Natur als auch von der menschlichen Gesellschaft entfremdet und sei deshalb zu einer besonders einsamen Kreatur geworden. Damit er zu einem wahren Mensch werden kçnne, mîsse er zum Schçpfer werden, und zwar zum Schçpfer seines Selbst. Die Vollendung des Weges der Selbstfindung wurde als durchaus mçglich und auch greifbar nahe angesehen, denn sie îbersteige das menschliche Vermçgen keineswegs.19 Um die bisher dargestellten Vorstellungen von den Eigenschaften des tragischen Menschen und der tragischen Situation konkreter konkret zu fassen, wenden wir uns nun einem Artikel des jîdisch-ungarischen Philosophen Georg Lukcs zu. In seiner Publikation »Die Metaphysik der Tragçdie«, 1910 verfasst und ein Jahr spter verçffentlicht, bestimmte Lukcs die tragische Situation der Jahre vor dem Zusammenbruch der liberalen Stabilitt in Europa durch das Ende des Ersten Weltkrieges. Der tragische Mensch ekele sich vor der bîrgerlich-sterilen Existenz, die lediglich fîr die Suche nach Bequemlichkeit und wirtschaftlicher Sicherheit stehe.20 Seine Welt sei die Welt einer Suche nach der Bestimmung und nach dem Wesen der Existenz, nachdem der tragische Mensch einsichtig geworden sei, dass es keine metaphysische Macht gebe, die diese gestalte. Whrend seiner Suche nach der Bestimmung und dem Wesen der Existenz erlebe der tragische Mensch das Leben in einer sehr existenziellen und authentischen Weise. Die tragische Existenz sei eine Vision und befinde sich, so Lukcs, außerhalb der Zeit, sie habe keinen Anfang, kein Ende und keine Gegenwart, denn alles spiele sich in einem einzigen Moment ab, der insgesamt ein Symbol sowie ein Erwachen aus einem Traum darstelle. Dieser Moment be18 Jacob Golomb: Nietzsche and the Marginal Jews, in: Nietzsche and Jewish Culture, London 1997, S. 158 – 192. 19 Walter Kaufmann: From Shakespeare to Existentialism: An Original Study, Princeton 1980, S. 217. 20 Georg Lukcs: Metaphysik der Tragçdie, in: Logos, Band 2, 1911, 79 – 91. Goldmann, siehe Anmerkung 5.

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inhalte sowohl die Geburt des tragischen Menschen, seine Momente der Erkenntnis und ebenso den Moment seines Todes. Whrend sich Lukcs mit dem Wesen der tragischen Existenz beschftigte, brachte einer seiner herausragenden Schîler – Lucien Goldmann – sein Werk »Der verborgene Gott« heraus.21 Es îberrascht nicht, dass der Entdecker der tragischen Weltanschauung zwischen 1927 und 1930 selbst ein Mitglied des HaShomer HaZa’ir im rumnischen Botos¸ani war.22 Von Gott verlassen: Die erste Eigenschaft der tragischen Existenz drîckt sich in einer negativen Theologie aus, d. h. in der Empfindung, dass Gott die Welt zurîckgelassen bzw. alleingelassen hat. Schon dem Titel des Goldmann-Buches »Der verborgene Gott« ist zu entnehmen, dass ein zentrales Element der Entstehung einer tragischen Weltanschauung auf der Abwesenheit von Gott beruht oder Reaktion auf die Erkenntnis ist, dass der Held von Gott im Stich gelassen wurde. Durch diesen Ansatz wurde die Figur des Prometheus, des verlassenen Gçttersohnes und Propheten der Kreativitt, nicht nur zum Helden der Mitglieder des HaShomer HaZa’ir, sondern zu einem spteren Zeitpunkt auch zum Held der existenzialistischen Philosophen. Das HaShomer HaZa’ir-Mitglied David Horowitz schrieb 1922 im Hinblick auf das tragische Dasein, dass »Zarathustra uns sagt, dass Gott tot ist.« Da Gott tot sei, verspîre der tragische Mensch den Drang, aktiv zu werden, damit sein Platz ausgefîllt werde – um die »Seiten des Lebens [zu umklammern, um] sie angesichts des sich auftuenden Abgrunds des Todes neu zu ordnen.«23 Dabei handelt es sich nicht nur um die Abwesenheit oder den Tod von Gott, sondern auch um das Gefîhl, dass Gott gezielt und absichtlich die menschlichen Helden alleine ihren Weg suchen lsst. Weil sie verlassen wurden, mîssen sie sich mit der Existenz auseinander setzen und sie verstehen, doch darîber hinaus auch noch ihre Zukunft selbst, also ohne jedwede Hilfe, gestalten. Der Versuch, die Geschichte zu ndern: Die zweite Eigenschaft bindet sich an die Verpflichtung, sich auf Grund der Verzweiflung in die Geschichte einzumischen, um sie – manchmal sogar bis zur Selbstaufgabe – zu verndern. Vernant war der Ansicht, dass die Tragçdie entstand, als die freien Griechen die My-

21 Mitchell Cohen: The Wager of Lucien Goldmann: Tragedy, Dialectics, and a Hidden God, Princeton 1994, S. 158. Goldmann sagte, dass er die tragische Weltanschauung in den 1930er Jahren nach der Lektîre der Schriften von Lukcs entdeckt habe. Auf Grund dieser Erkenntnisse habe er nachfolgend sein Buch îber die tragische Situation im Frankreich des 17. Jahrhunderts geschrieben. 22 Ebd., S. 22 – 23. 23 David Horowitz: Jugendbewegung, in HaPoel HaZa’ir 15 (Juli 1922), Band 33, S. 8 – 11 (Hebr.).

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thologie und ihre Symbolik angesichts der Realitt des plebejischen Lebens zu hinterfragen begannen.24 Diese Mythologie wird auf den Wunsch zurîckgefîhrt, eine Vernderung in der Entwicklung der Geschichte herbeizufîhren. Im Gegensatz zur epischen oder mythischen Geschichtsbetrachtung hat die Tragçdie ihren Ausgangspunkt in der alltglichen Realitt. Sowohl die antiken Griechen als auch die Menschen des 20. Jahrhunderts schufen in ihren Tragçdien mythische Gestalten, sie stellten Helden auf die Bîhne der Geschichte, die den Wunsch hatten, die politische Situation zu verndern. Im Hinblick auf das antike Griechenland waren es die Tyrannen, die Wut und Verzweiflung hervorriefen. Deshalb mischten sich letztlich die tragischen Helden in den Kampf um die Wiederherstellung der Freiheit ein, und zwar indem sie die Tyrannen vernichteten. Nach dem Ersten Weltkrieg standen den antibîrgerlich eingestellten jîdischen Jugendlichen in Zentral- und Osteuropa zwei Optionen offen, um in die Geschichte einzugehen: Sie konnten sich der sowjetischen Revolution und somit dem universalen Kommunismus anschließen oder nach Palstina auswandern und zu Pionieren beim Aufbau der jîdischen Nation werden.25 Beide Optionen gehen auf die Erfahrung gesellschaftlicher Ungerechtigkeit oder Diskriminierung zurîck, die sie in jungen Jahren als Flîchtlinge in Wien erlebt hatten. Einer der Leiter des HaShomer HaZa’ir, Shlomo Horowitz, schrieb dazu: »Manchmal spïrst du, dass diese ganze Last, das Leid der Generationen […], nichts anderes als eine Furcht erregende Vision ist, ein Tyrann, dem es auf der gesamten Bïhne der Geschichte nach dem Blut der Menschen dïrstet und der sich an ihrem Leid ergçtzt. Und diesem Leben bist du nun einmal unterworfen. Doch trotz all deiner Gefïhle und wider des großen Aufstandes deiner inneren Seele […] allem zu trotz musst du in diesem stïrmischen Meer leben und einen Weg finden. Um dich herum flattern junge Menschen in Todeskampf […] Wie Prometheus scheinen mir alle unsere Leute, gleich Prometheus mit unlçsbaren Ketten an einen Felsen geschmiedet, whrend die Raubvçgel ihre Eingeweide fressen. Doch wird Herkules der Erlçser kommen, die Ketten lçsen und sie befreien?«26 Horowitz spîrte, dass er und seine Kameraden die Geiseln einer historischen Krise waren, ganz wie in einem Drama, das von einem feindseligen Tyrannen bestimmt wurde. øhnlich wie Anhnger der Romantik und der Neo-Romantik 24 Jean-Pierre Vernant: Tensions and Ambiguities in Greek Tragedy, in: ders. und Pierre VidalNaquet (Hg.): Myth and Tragedy in Ancient Greece, New York 1990, S. 29 – 48, hier S. 33. 25 David Horowitz: Meine Gestern (Hebr.: Ha-etmol sheli), Jerusalem 1970, hier S. 76 – 77 und 116. 26 Shlomo Horowitz: Auszîge aus dem Tagebuch, in: Kehilatenu, Jerusalem 1988, S. 138 (Hebr.).

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identifizierte er sich mit Prometheus, in dem er eine Figur sah, die wider Willen in den ›Tumult der Geschichte‹ gezogen wurde. Die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir wollten ihrem Schicksal nicht entfliehen, im Gegenteil. Ihre Einwanderung nach Palstina war fîr sie wie eine Verpflichtung, die Bîhne der Geschichte zu betreten und dort Einfluss zu nehmen. Die ˜bersiedlung nach Palstina wurde von ihnen als ein Zurîcklassen des schmerzerfîllten Europa und zugleich als ein Akt der Einmischung in die Geschichte verstanden. Beides richtete sich gegen die Passivitt der Juden in der Diaspora. Die totale Verpflichtung: Durch die Abwesenheit Gottes und das Hinterfragen der Ursprînge der traditionellen Autoritt, das mit dem Gefîhl der innigen Verpflichtung zum moralischen Handeln einhergeht, wird der tragische Mensch zu seinem Pflichtgefîhl gegenîber absoluten Werten veranlasst. Der tragische Mensch weist jeden Versuch des Kompromisses zurîck und versucht, eine vollkommene Gesellschaft nach dem Motto ›alles oder nichts‹ zu verwirklichen. Diesen Ansatz, dem der HaShomer HaZa’ir in den frîhen 1920er Jahren huldigte, geht auf die 1866 geschaffene Tragçdie »Brand« des norwegischen Schriftstellers Henrik Ibsen zurîck. Hin- und hergerissen zwischen der Pflicht, aktiv zu werden, und der Pflicht, sich moralisch angemessen zu verhalten, kommen in der Seele des tragischen Menschen Zweifel im Hinblick auf die richtige und angemessene Handlung auf. Im Kreis der Mitglieder des HaShomer HaZa’ir fand diese idealistische Auffassung im Streben nach einer radikalen Lebensweise ihren Ausdruck. Sie verabschiedeten sich von der bîrgerlichen Gesellschaft, die sich mit dem gegebenen Wesen der Welt abgefunden hatte.27 Auf der Suche nach historischen Modellen der revolutionren, radikalen und kompromisslosen Verpflichtung fanden die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir Anstçße bei den Zeloten wie etwa dem Propheten Eliyahu oder dem Florentiner Dominikanerpater Girolamo Savonarola.28 Doch das Werk »Brand« von Ibsen, das die Mitglieder der Bewegung mit großer Begeisterung lasen, hatte in dieser Hinsicht einen noch grçßeren Einfluss als Eliyahu und Savonarola und inspirierte sie, nach einer kompromisslosen Lebensform zu suchen: Ibsens Stîck »Brand« schildert das Leben und Wirken des norwegischen Pfarrers Brand, der durch seine Kompromisslosigkeit im Glauben nicht nur Frau und Kind verliert, sondern schließlich auch seine Gemeinde. Skepsis und die zerrissene Seele: Nach Goldmann lebt der tragische Mensch in seiner Verzweifelung ein geradezu paradoxes Leben voll absurd scheinender Herausforderungen, bei denen die Antwort auf jedes Problem sowohl ein Ja als auch ein Nein sein kann.29 Der tragische Held hat aufgrund dieser Konstellation 27 Mary Evans: Lucien Goldmann: An Introduction, New Jersey 1981, S. 60. 28 Shlomo Horowitz, siehe Anmerkung 26, S. 122. 29 Goldmann, siehe Anmerkung 5, hier zitiert nach der englischen Ausgabe, S. 60.

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stets eine zerrissene Seele, die von schier unendlichem Leid geplagt ist. Dies wird jedoch auch zur Voraussetzung fîr die Fhigkeit zur Vernderung: Ohne Selbstzweifel kommt man nicht zur Wahrheit, kann nicht richtig handeln oder gar eine Revolution umsetzten. David Horowitz schrieb: »Das Mrchen ïber den eindimensionalen Menschen, ïber den einseitigen und beschrnkten Fanatiker, welcher der Einzige ist, der aktiv und gesellschaftlich ttig ist, enthlt keine Wahrheit. Die Revolution fçrdert immer sehr komplexe und psychisch ausgesprochen merkwïrdige Typen zu Tage. Wer ›Die Flammen‹ von Brzozowski, die Seele der russischen Revolution, kennt, der kennt auch die Untiefen der inneren Tragçdie, jene Komplikationen, aus denen die handfeste revolutionre Tat erwuchs. Der Auffassung eines Prometheus gleichen Lebens, die alles auf eine Karte setzt, wohnt eine enorme Kraft inne. Das Leid der Welt und der Hamletismus sind kreative Momente und keineswegs Symptome der Degeneration.«30 Horowitz schildert die Spannung, die im Zentrum der Existenz Hamlets steht, und zwar der Spannung zwischen dem Gedanken, was man tun muss, und zwischen der Tat selbst. In diesem Spannungsverhltnis lebt auch der anarchistische Aktivist: Er ist ein denkender und moralischer Mensch, der aber zugleich auch zu einer mutigen, revolutionren und handfesten Tat verpflichtet ist. Zwar ist seine Seele zerrissen, doch genau das ist das Geheimnis, um einerseits revolutionr handeln und andererseits fîr die Gerechtigkeit kmpfen zu kçnnen. In Ostgalizien und auch in Wien erlebten die Mitglieder der Jugendbewegung HaShomer HaZa’ir eben diese ›geschlossene‹ Situation, auf die Goldmann verweist. In dem Bewusstsein, dass man in Europa nicht vorankommen kçnne, wurde das Gefîhl, Teil einer Tragçdie zu sein, zur Quelle der Erneuerung und des Aktivismus in Palstina. Da die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir von den grundlegenden Elementen der europischen Kultur beeinflusst waren, wollten sie zu tragischen Menschen werden.31 Whrend einer intensiven kollektiven und individuellen Krise – zutiefst enttuscht îber die Vorgnge in Wien und Galizien nach dem Ersten Weltkrieg – waren die Mitglieder der Bewegung verzweifelt, hilflos und wollten heldenhafte Taten vollbringen, die auf einem tragischen Selbstverstndnis aufbauten. Diese Anschauung – die Vernderung der Welt durch einen Durchbruch auf die historische Bîhne – erforderte zunchst jedoch eine Vernderung der eigenen Seele. Die tragische Idee als eine Fantasie wurde 30 Mintz, siehe Anm. 3, S. 228. Hervorhebung im Original. 31 Franz Rosenzweig schrieb îber das tragische Gefîhl in: Der Stern der Erlçsung, Frankfurt a. M. 1921. Der tragische Mensch sei in seinen Grundzîgen eine besondere Erscheinung des Westens. Rosenzweig behauptete, dass man weder in der indischen noch in der chinesischen Kultur tragische Grundlagen findet, was sowohl auf das Theater als auch die Folklore zutrifft.

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als jene seelische Konstruktion îbernommen, die es ermçglichte, das Schicksal anzunehmen, indem durch aktives Handeln die Geschichte verndert werden konnte. Dabei war man sich bewusst, dass der Preis fîr solche handfesten Taten zwischen absolutem Heldentum und dem Abstieg in den Abgrund liegen konnte.32

32 Raul Hillberg schrieb, dass der Ursprung des Pessimismus der Juden whrend des Holocaust von der seit Jahrtausenden tradierten Erfahrung und Akzeptanz des Leidens herrîhrt. Der Aufstand im Warschauer Getto – so aussichtslos er auch gewesen sein mag – war daher, so Hillberg, eine wahrhafte Kehrtwende. Siehe Amos Funkenstein: Perceptions of Jewish History from the Antiquity to the Present, Los Angeles 1993, S. 232. Der Anfîhrer des Aufstandes, Mordechai Anielewicz, war einer der Leiter der Warschauer Gruppe des HaShomer HaZa’ir.

Ulrike Pilarczyk

Gemeinschaft. Jïdische Jugendfotografie 1924 bis 1938

Einleitung Gemeinschaft gehçrt zu den zentralen Begriffen der sozialen Bewegungen in Deutschland und Europa am Anfang des 20. Jahrhunderts. Gemeinschaftsvorstellungen werden nicht nur sprachlich ausgedrîckt, sondern auch visualisiert und îber Bilder propagiert. Zeichnungen, Gemlde, Fotografien gaben dem zunchst zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht festgelegten Begriff von Gemeinschaft einen eindeutigen Sinn bzw. gaben Ideen Gestalt, wie z. B. »das Lichtgebet« des Malers und Grafikers Fidus, die dann als Postkarten, Publikationen und Plakate fluktuierten.1 Die sich nach dem Ersten Weltkrieg zahlreich verzweigenden Bîndnisse der Jugendbewegung verstanden sich grçßtenteils als Erziehungsbînde, als Gemeinschaften, die die zukînftige bessere (Volks-)Gemeinschaft in nuce in sich bergen sollten. Fîr die jîdische Jugendbewegung stellte sich das Problem der Gemeinschaft in einem Milieu des wachsenden Antisemitismus einerseits und unter dem Eindruck der europaweit erstarkenden zionistischen Bewegung andererseits.2 Martin Buber formulierte 1919 fîr die jîdische Jugend als Problem und Aufgabe, dass sie die »Gemeinschaft, nach der sie Verlangen trgt, erst 1 Fidus prgte Stil und Symbolik der ersten Phase der Jugendbewegung und war vor und nach dem Ersten Weltkrieg sehr populr, vgl. Frecot, Janos/Johann, Friedrich Geist/Kerbs, Diethart: Fidus, 1868 – 1948. Zur sthetischen Praxis bîrgerlicher Fluchtbewegungen, Mînchen 1997 (erw. Neuauflage); im grafischen und fotografischen Schaffen von E.M. Lilien verbinden sich Jugendstil und frîhe zionistischer Bildkultur, vgl. M. Stanislawski: Vom Jugendstil zum »Judenstil«. Universalismus und Nationalismus im Werk Ephraim Moses Lilien, in: Michael Brenner und Yfrat Weiss (Hgg.): Zionistische Utopie – israelische Realitt, Mînchen 1999, S. 68 – 101; Orna Bar-Am und Micha Bar-Am: Painting with light – The Photographic Aspect in the Work of E.M.Lilien, Tel-Aviv 1991; als bekanntester Amateur-Wandervogel-Fotograf gilt Jule Groß, vgl. Winfried Mogge: Bilder aus dem Wandervogel-Leben. Die bîrgerliche Jugendbewegung in Fotos von Julius Groß 1913 – 1933, Kçln 1986. 2 Vgl. zum Antisemitismus in der deutschen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg Andreas Winnecken: Ein Fall von Antisemitismus. Zur Geschichte und Pathogenese in der deutschen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, Kçln 1991.

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wahrhaft finden muss«.3 Die Diskussionen îber Ziele und Aufgaben – Leben in der Diaspora oder zionistischer Aufbau in Palstina – sowie îber das Verhltnis von Individuum und Gemeinschaft und Gemeinschaftserziehung lassen sich in den Bundesblttern und anderen Verçffentlichungen der jîdischen Bînde rekonstruieren. Sie finden zum Teil auf einem hohen theoretischen Niveau statt und haben fîr Historiker eine große Anziehungskraft. Doch erklren sie nicht, warum das Selbsterziehungskonzept der Jugendbewegung, die Erziehung zur Gemeinschaft in der Gemeinschaft, so wirkungsvoll war, warum es auch jenen zu einem innerstes Anliegen wurde, denen die theoretischen Ausfîhrungen der (lteren) Fîhrer eher fremd waren. Vermutlich hngt dies mit einem Wesenszug der Jugendbewegung in Deutschland zusammen, den 1948 Hermann Mau – selbst Mitglied der Jugendbewegung und nach dem Zweiten Weltkrieg erster Direktor des Instituts fîr Zeitgeschichte in Mînchen – auf die Formel brachte: »Die bewegende Mitte der Jugendbewegung ist ein Erlebnis«;4 und, so kçnnte man hinzufîgen, eben nicht der theoretische Diskurs ihrer intellektuellen Elite. Der intime Kenner der jîdischen Jugendbewegung Hermann Meyer-Cronemeyer bezeichnet die Situation, in der sich die historische Forschung damit befindet, als paradox: »Das Eigentliche, das Wandern und das Lagern, das Gefïhl des Zusammengehçrens, die Zuversicht des ›Mit uns zieht die neue Zeit‹ … genïgte es, einmal zu registrieren und zu deuten, denn ob eine Fahrt nun nach X oder Y ging, ob besser oder schlechter gesungen wurde, ist historisch relativ belanglos, whrend das Uneigentliche, die Ideen, also das, was von den kaum zehn Prozent der lteren Mitglieder gedacht und erstrebt wurde, das historisch Relevante ausmachen. Die Mittleren und erst recht die Jïngeren verstanden ja gar nicht, worum es bei den geistigen Hçhenflïgen ging.«5 Die Bedeutung der jîdischen Jugendbewegung fîr und deren Einfluss auf den Einzelnen ist bisher lediglich Forschungsgegenstand der Erinnerungsliteraturen gewesen6 oder wurde nachtrglich durch Interviews recherchiert.7 Unter bil3 Martin Buber : Zion und die Jugend. Eine Ansprache (1919), in: Ludwig Liegle und Franz Michael Konrad (Hgg.): Reformpdagogik in Palstina. Dokumente und Deutungen zu den Versuchen einer »neuen« Erziehung im jîdischen Gemeinwesen Palstinas (1918 – 1948), Frankfurt am Main 1989, S. 57. 4 Zit. nach Chaim Schatzker : Die »klassische« deutsche Jugendbewegung der Jahrhundertwende und die Studentenbewegung der 1960er Jahre, in: Jîrgen Elvert und Michael Salewski (Hgg.): Historische Mitteilungen, Bd. 16, Stuttgart, S. 177. 5 Hermann Meier-Cronemeyer: Jîdische Jugendbewegung, Teil 2, in: Germania Judaica. N.F. 27/28, Jg. 8 (1969), H. 3/4, S. 81. 6 Vgl. u. a. Werner T. Angress: Generation zwischen Furcht und Hoffnung. Jîdische Jugend im dritten Reich, Hamburg 1985; Herbert A. Strauß: ˜ber dem Abgrund. Eine jîdische Jugend in Deutschland 1918 – 1943, Frankfurt a.M. 1997; Asher Benari: Erinnerungen eines Pioniers aus

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dungsgeschichtlicher Perspektive gewinnt das »Eigentliche«, und damit meine ich hier die Erlebnisdimension der Jugendbewegung, große Brisanz. Denn die Jugendbewegung als Erziehungsbewegung und ihre außerordentliche Wirkung lassen sich ohne Verstndnis ihrer prgenden Krfte nicht angemessen wîrdigen. Die Formulierung eines ehemaligen »Kameraden«, der sich nach mehr als 50 Jahren noch an den »Geruch der Jugendbewegung«8 erinnert, lsst die komplexe Dimension dieses Feldes erahnen. Im Folgenden mçchte ich den Begriff der »bewegenden Mitte« – den Chaim Schatzker mit Verweis auf Hermann Mau in den Diskurs zur Jugendbewegung einbrachte – fîr eine bildanalytische Untersuchung fruchtbar machen.9 Im Weiteren gehe ich davon aus, dass sich die Vitalitt der Jugendbewegung zu einem wesentlichen Teil aus einem elementaren Gemeinschaftserlebnis speiste, an dem alle Mitglieder, die Jîngeren wie die ølteren teilhatten. Dieses Gemeinschaftserlebnis war zugleich Voraussetzung und Bedingung fîr den Erfolg der Selbsterziehungskonzeption der Jugendbewegung. Die Frage, die meine Untersuchung leiten soll, ist jene nach der Qualitt dieses Erlebnisses, seinen Erscheinungsformen und Funktionen.

Fotografie als Quelle Es ist bekannt, dass das Fotografieren zu den Alltagsritualen der Jugendgruppen gehçrte wie die Sonntagsfahrt, der Heimabend, das Gesprch untereinander und das gemeinsame Essen. Intensiv gelebte Naturverbundenheit und deutlich artikulierte Zivilisationskritik hinderte die jungen Leute jedenfalls nicht, das damals hochmoderne technische Medium ausgiebig und bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu nutzen.10 Whrend jedoch die meisten der jugendbewegten Ri-

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Deutschland, Hazorea o. J.; Max Fîrst: Gefilte Fisch. Eine Jugend in Kçnigsberg, Mînchen 1975 und ders.: Talisman Scheherezade, Mînchen 1976; Arie Goral-Sternheim: Jeckepotz. Eine jîdisch-deutsche Jugend 1914 – 1933, Hamburg 1989. Vgl. u. a. Jutta Hetkamp: Ausgewhlte Interviews von Ehemaligen der jîdischen Jugendbewegung Deutschlands, Mînster/Hamburg 1994;, Walter B. Godenschweger und Fritz Vilamr : Die rettende Kraft der Utopie. Deutsche Juden grînden den Kibbuz Hazorea, Frankfurt a.M. 1990; Walter Fçlling und Werner Melzer : Gelebte Jugendtrume. Jugendbewegung und Kibbuz, Witzenhausen 1989. In: Hetkamp, Interviews, S. 28. Vgl. Schatzker, die »klassische« deutsche Jugendbewegung, S. 177 ff.; auch der Historiker der Reformpdagogik Wolfgang Scheibe griff 1969 auf die Einschtzung Maus zurîck und sieht in der Jugendbewegung einen »irrationalen Erlebnisgrund, der sich gesprochenem Wort entzieht.« In: Die reformpdagogische Bewegung. Weinheim/Basel 1994, S. 39. Dass das Fotografieren bereits ein weit verbreitetes Hobby war, wurde in Gesprchen mit ehemaligen Mitgliedern immer wieder besttigt. Mit der Senkung der Preise fîr Fotoapparate im Verlaufe der 20er Jahre stieg auch die Zahl der Amateurfotografen. Trotz vager

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tuale spter lediglich als Fakt erinnert werden, hinterlsst das Fotografieren eine visuelle Spur des Erlebnisses, mit dem es verbunden ist. Außerdem handelt es sich um ein per se multiperspektivisches Medium, in dem nicht nur die Perspektive des Fotografen, sondern auch die der Abgebildeten, des eventuellen Auftraggebers, die der Adressaten, in manchen Fllen auch die der Nutzer prsent ist. Fotografien kçnnen somit als vorzîgliche zeitgençssische Quellen fungieren: Insbesondere historische Jugendfotografien bewahren die Sichtweisen Heranwachsender und Formen individueller und kollektiver Weltdeutung.11 Dass die Quelle bis heute so wenig, und zur Erforschung der jîdischen Jugendbewegung12 bisher gar nicht, genutzt wurde, liegt zum einen an den vielfltigen methodischen Schwierigkeiten13, die mit der Nutzung von Fotografien, insbesondere der privaten, verbunden sind, und zum anderen daran, dass das dafîr geeignete fotografische Material erst gefunden werden musste.14

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Zahlenangaben geht man fîr Deutschland 1927 bereits von 3 Prozent Kamerabesitzern aus, ein Anteil, der sich bis 1939 auf etwa 10 Prozent steigert. Der grçßte Teil davon sind Knipser. Da die Kameras oft auch von mehreren Familienmitgliedern benutzt wurden, lsst sich ein tatschlich noch hçherer Prozentsatz an privaten Fotografen vermuten, alle Angaben nach Tim Starl: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und §sterreich von 1880 bis 1980, Mînchen/Berlin 1995, S. 97 f. Zur Jugendfotografie als Quelle vgl. auch Ulrike Mietzner/Ulrike Pilarczyk: Der gebannte Moment. Jugendliche als Fotografen, in: Bilstein, Johannes/Miller-Kipp, Gisela/Wulf, Christoph (Hgg.): Transformationen der Zeit. Erziehungswissenschaftliche Studien zur Chronotopologie, Weinheim 1999, S. 276 – 309. Autsch hat nach meiner Kenntnis bisher als einzige private Fotografien ehemaliger Mitglieder der deutschen (nicht-jîdischen) Jugendbewegung systematisch ausgewertet, vgl. Sabiene Autsch: Erinnerung-Biografie-Fotografie, Potsdam 2000; K. Bergbauer und S. Schîler-Springorum haben zur Erforschung des »Schwarzen Haufens« neben Archivmaterialien und autobiografischen Texten auch viele private Fotografien gesammelt, die im Rahmen der Ausstellung im Haus der Wannsee-Konferenz (Berlin) gezeigt wurden, eine quellenkritische Aufbereitung des visuellen Materials steht noch aus, Knut Bergbauer, Stefanie Schîler-Springorum: »Wir sind jung, die Welt ist offen…« Eine jîdische Jugendgruppe im 20. Jahrhundert, Berlin 2002. Die Untersuchung stîtzt sich methodisch auf das von mir und Ulrike Mietzner in zehn Jahren Forschung ausgearbeitete Verfahren der seriell-ikonografischen Fotoanalyse, ein qualitatives und quantitatives Verfahren zur Auswertung bildlicher Quellen, insbesondere von Fotografien, fîr sozialwissenschaftliche und erziehungshistorische Untersuchungen, vgl. dazu Ulrike Pilarczyk Ulrike Mietzner : Das reflektierte Bild. Die seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Bad Heilbrunn 2005; dies.: Methoden der Photoanalyse, in: Yvonne Ehrenspeck und Burkhart Schffer (Hgg.): Film- und Photoanalyse in der Erziehungswissenschaft. Ein Handbuch, Opladen 2003, S. 19 – 36. Auf zwei Forschungsreisen im Jahr 2004 nach Israel im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefçrderten Projektes »Wandering Images. Die Darstellung jîdisch/israelischer Gemeinschaftserziehung auf Fotografien aus Deutschland und Israel von 1920 bis 1970« haben wir aus Archiven und von Privatpersonen ehemaliger Mitglieder der deutsch-jîdischen Jugendbewegung mehr als 80 private Fotoalben mit mehr als 7500 privaten Aufnahmen aus der Zeit 1924 – 1938 analog und digital reproduziert und archiviert. Die Fotografien unseres Untersuchungsbestandes, ca. 5800 Einzelfotos aus 68 privaten Fo-

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Natîrlich reprsentieren Fotografien nur einen Ausschnitt der jîdischen Jugendbewegung, der sowohl durch den Zeitraum der Aufnahmen als auch durch die Perspektive der Fotograf/innen begrenzt ist, denn es handelt sich dabei ausnahmslos um Jugendliche, die ab Mitte der 20er Jahre nach Palstina emigrierten, nach 1933 z. T. mit Hilfe der »Jugend-Alija«. Fotografie als Quelle der folgenden bildanalytischen Untersuchung ist als ein eigenstndiges komplexes sthetisches Ausdrucksmedium zu betrachten, ein visuelles (Massen-) Kommunikationsmittel, îber das individuelle und îberindividuelle Erfahrungen vermittelt und bewahrt werden und durch das Erlebnisdimensionen prsent sind, die îber andere Kanle so gar nicht kommunizierbar waren. Da Bildquellen außerordentlich komplex sind, unterscheide ich vier Analyseebenen. Zunchst werde ich mich auf die abbildenden Funktionen der Fotografie konzentrieren und Darstellungsformen und Symbole der Jugendgemeinschaft untersuchen, anschließend in einer Analyse der sthetischen Wirkung ausgewhlter Fotobilder nach den darîber prsenten Erlebnisqualitten fragen, dann drittens die Perspektive der Abgebildeten in die Untersuchung einbeziehen und viertens Intentionen der Gestalter der Fotoalben herausarbeiten.15 toalben aus dem Zeitraum 1924 – 1938, reprsentieren bedeutende und zahlenstarken Bînde – Blau-Weiß, Jungjîdischer Wanderbund/Brit Haolim, Kadima, Kameraden bzw. Werkleute, Habonim, Makkabi Hatzair, Haschomer Hatzair und Esra. Grundlegend dafîr immer noch Meier-Cronemeyer: Jîdische Jugendbewegung; ˜berblick und Orientierung bieten Chaim Schatzker : Die jîdische Jugendbewegung in Deutschland (1919 – 1933), in: Werner Kindt (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung Bd. 3 (1920 – 1933). Die bîndische Zeit, Dîsseldorf/ Kçln 1974, S. 769 – 794; Irmgard Klçnne: Deutsch, Jîdisch, Bîndisch. Erinnerungen an die aus Deutschland vertriebene jîdische Jugendbewegung, Teil 1, Witzenhausen 1993; fîr die chaluzische Bewegung nach 1933: Eliyahu (Kutti) Salinger : »Nchstes Jahr im Kibbuz«. Die jîdisch-chaluzische Jugendbewegung in Deutschland zwischen 1933 und 1943, Paderborn 1998; zum JJWB: Richard Markel: Brith Haolim. Der Weg der Alija des Jung-jîdischen Wanderbundes (JJWB), in: Bulletin des Leo-Baeck-Institutes 1966, 9 Jg. Nr. 33 – 36, S. 119 – 189; weiterhin Bernhard Trefz: Jugendbewegung und Juden in Deutschland. Eine historische Untersuchung mit besonderer Berîcksichtigung des Deutsch-Jîdischen Wanderbundes ›Kameraden‹, Frankfurt a.M. 1999; Benjamin B. Adler : Esra. Geschichte eines orthodox jîdischen Jugendbundes, Leipzig 2001. 15 Methodisch haben Fotografien aus Fotoalben den Vorteil, dass sie von den Besitzern oder Gestaltern fîr ihre Zwecke mehrfach ausgewhlt, arrangiert evtl. sogar bearbeitet wurden. Ihre Bedeutung fîr den Albumbesitzer steht zweifelsfrei fest. Jeder Selektions- und Gestaltungsprozess kann als Bedeutung generierende soziale Handlung angesehen werden kann, die die ›Dichte‹ der bildlichen Darstellung erhçht. Damit lsst sich dem gerade gegenîber der privaten Fotografie gern vorgebrachte Vorwurf, es handle sich um rein zufllige Darstellungen, erfolgreich begegnen. Auch die Leistungen der Albumgestalter sind interpretierbar, offenbar sahen die fotografische Bilder, eigene und andere, als eine Art sthetisches Rohmaterial an, das sie – unabhngig von ursprînglichen Intentionen der Bildautoren – nach eigenen Vorstellungen weiterverarbeiteten.

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Dokumente der Gemeinschaft Es kann davon ausgegangen werden, dass die meisten Fotografien des Bestandes zu dem Zweck gemacht und genutzt wurden, um Menschen, Orte und Ereignisse bildlich zu fixieren, um sich spter an sie erinnern zu kçnnen. Die Mehrzahl der Fotografien in den Alben lassen sich den Themenbereichen Jugendgruppe, Heimat und Familie zuordnen. Das soziale Leben außerhalb der Bereiche Familie und Jugendgruppe, etwa Schule oder bei den ølteren auch Studium oder Beruf bleibt bis auf wenige Ausnahmen fast vollstndig ausgeblendet. Zur Heimat rechnen hier alle Fotografien, auf denen Stadt- und Naturlandschaften (auch schweizerische und çsterreichische Berglandschaften) abgebildet sind. Der Stil dieser Aufnahmen ist îberwiegend romantisierend und entspricht durchaus dem fotografischen Zeitstil der 1920er Jahre; der Begriff Heimatfotografie wird in diesen Jahren îberhaupt erst geprgt.16 Dieses Thema kommt auch weitgehend ohne Protagonisten aus; dadurch wirken vor allem Stdte befremdlich entvçlkert. Die Familie erscheint in den Alben aus diesen Jahren als Thema am Rande – im Stil sehr konventionell – in den 1930er Jahren nimmt sie zunehmend mehr Raum ein, dagegen tritt das Thema Heimat in den Hintergrund. Ohne tiefgehende Prîfung scheinen die Grînde fîr diesen Wandel der Sichtweise auf der Hand zu liegen: Den Juden hatte man auf vielfltige und brutale Weise jeglichen Anspruch auf Heimat in Deutschland verwehrt. Der familire Zusammenhalt und der, den die Jugendbewegung bot, wurden fîr die Jugendlichen zunehmend lebensbestimmend. Ob sich nun dort, wo in dieser Zeit noch Stadtlandschaften abgebildet sind, der Darstellungsstil ndert, wre in weiteren Untersuchungen zu prîfen. Eine ganze Reihe fotografischer Motive stiftete in den 1920er Jahren auch die Faszination fîr die Errungenschaften der neuen Zeit: die neue Jugendherberge in Frankfurt, Zîge und Straßenbahnen, Elektrizittsmasten, Schiffswerften, Ozeandampfer, Autos und immer wieder der Zeppelin; dadurch ›outen‹ sich die jungen Fotografen als moderne Zeitgenossen. Die îberwltigende Mehrheit der in den Alben versammelten Fotografien, schtzungsweise zwei Drittel aller Aufnahmen, ist dem Thema Jugendbewegung gewidmet. Abbildung 1 und 2 zeigen fîr den Bestand typische Gemeinschaftsformen der 20er Jahre – eine »Kameraden«-Gruppe in Kreisformation beim Essen (Abb. 1) und eine Gruppe vom jung-jîdischen Wanderbund (JJWB) gemeinsam mit Kindern vom Esra als Haufe bei der Rast (Abb. 2).

16 Vgl. Starl: Knipser, S. 99.

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Es gibt eine auffallende thematische Konzentration auf die Bereiche Rast, Lager und Essen. Ob das ausgeprgte fotografische Interesse auch bedeutet, dass die Rast der wichtigste Teil des Gruppenlebens war, sei dahingestellt. Abgesehen davon, dass siebzig Alben nicht fîr das fotografische Schaffen der gesamten jîdischen Jugendbewegung reprsentativ sein kçnnen, ließe sich dagegen auch einwenden, dass damals das Fotografieren in Bewegung grçßere Anforderungen an das fotografische Kçnnen stellte, whrend die Rast immer auch eine quasi natîrliche Gelegenheit zum Fotografieren bot. Die jungen Menschen erscheinen vorzugsweise als Gruppen in Naturrumen. In Stadtrumen sind sie auf Bildern vergleichsweise selten anzutreffen und verschwinden daraus im Verlaufe der 1930er Jahre vollkommen. Auch erkennbar nicht-jîdische Personen (Passanten, Bauern auf Feldern, Mitschîler) findet man ausgesprochen selten. Darin unterscheiden sich die Fotografien der jîdischen Jugendbewegung von denen bîndischer, nicht-jîdischer Gruppen fundamental. Denn whrend sich bei den jîdischen Jugendfotografien zunehmend eine Tendenz zu sozialer und rumlicher Isolierung beobachten lsst, zeigen die privaten Aufnahmen aus der nicht-jîdischen Jugendbewegung seit Mitte der 20er Jahre zunehmend eine Eroberung sozialer Rume bei gleichzeitiger Straffung, Formierung und Zunahme der Bînde.17 Gemeinschaftlichkeit wird in den jîdischen Jugendfotografien insbesondere durch konzentrierte Abbildungen entsprechender Kçrperformationen zum Ausdruck gebracht. Auch gemeinsames Tun – wie gleichfçrmige Bewegungen in

17 Vgl. dazu die Untersuchungen von Sabiene Autsch: Haltung und Generation – ˜berlegungen zu einem internmedialen Konzept, in: BIOS 13/2002, S. 176 f.

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dieselbe Richtung und gemeinsame Verortung auf demselben Weg, auf derselben Wiese, auf demselben Hausdach bzw. im Boot oder auf Schienen – kann die Jugendgemeinschaft charakterisieren. Die Bedeutsamkeit dieses gemeinsamen Einnehmens verschiedener §rtlichkeiten ist gelegentlich auch in mîndlichen Berichten prsent. Der eingangs zitierte »Kamerad« Fritz Harburger erinnerte sich im Interview spter, dass die Gruppe mit Absicht die ganze Straße einnahm, sich dann îber Autofahrer rgerte und ihnen auch schon mal »Kultursau« hinterher rief.18

Gemeinschaft als Bild Fotografie zeichnet nicht nur auf, sondern schafft als sthetisches Ausdrucksmedium auch Bilder. Die Themenserien zeigen, wie selbst noch fotografisch weniger ambitionierte Fotografen, die bis heute etwas abfllig als »Knipser«19 bezeichnet werden, durch Themen-, Ausschnitt- und Standortwahl gestalten. Denn mit der Wahl des Ausschnittes trifft jeder Fotograf auch eine grundstzliche sthetische Entscheidung. Damit ist entschieden, was auf der Bildebene als Mittelpunkt gilt, welche dominanten Linien das Bild bestimmen, wo der Fluchtpunkt liegt usw. Der Standpunkt des Fotografen entscheidet maßgeblich îber die Perspektive, aus der eine Sache betrachtet (und bedacht) wird – einen Standpunkt einnehmen, hat hier sowohl einen ganz wçrtlichen als auch einen îbertragenen Sinn. Hinzu kommt, dass viele der Aufnahmen des Bestandes fotografische Ambitionen aufweisen, die deutlich îber das ›Knipsen‹ hinausgehen. Man kann sogar sagen, dass eine Mehrheit der jungen Fotografen Amateure waren, die nicht nur Erinnerungsfotos ›schossen‹, sondern denen es auch darum ging, gute Bilder zu machen. Bezeichnenderweise sind einige von ihnen spter professionell oder semiprofessionell als Fotografen ttig gewesen,20 von anderen wissen wir aus den biografischen Angaben, dass sie ambitionierte 18 In: Hetkamp: Interviews, S. 27. 19 Den Eigenwert und die Eigengesetzlichkeit der Knipserfotografie betont dagegen Timm Starl: Knipser. 20 Aus dem Untersuchungsbestand: Alfred (Eliezer) Wertheim (JJWB) und Irmgard Schçnstdt (Jehudit Shaltiel) (Kadima) nehmen schon in Deutschland an Fotowettbewerben teil, Wertheim ist spter in Givat Brenner Kibbuzfotograf, auch Hans Heller (Hanan Bahir) wird Kibbuzfotograf in Givat Brenner und mit Ausstellungen îber den Kibbuz hinaus bekannt. Asher Benari (Kameraden/Werkleute) arbeitet als Kibbuzfotograf mit eigenen Ausstellungen in Hazorea, Richard Lewinsohn in Ben Schemen, Hanns Pinn und Werner Braun (beide Habonim) werden Pressefotografen in Israel, Kurt Meyerowitz (Kameraden) wird Fotograf in Frankreich und Israel, Tim Gidal (Blau-Weiß/Kadima) und Sonia Gidal (Werkleute) erlangen sogar Weltruhm. Zum Einfluss der deutschen Fotografen auf die palst. Fotografie vgl. auch Klaus Honnef und Frank Weyers: Und sie haben Deutschland verlassen…mîssen. Fotografen und ihre Bilder 1928 – 1997, Bonn 1997.

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Amateure waren, und nicht zuletzt erkennt man den kundigen Amateur auch an einem spezifischen Stil.21 Die zwei ausgewhlten Fotografien, die ich im Folgenden vorstelle, sind Teil von Serien aus dem Gruppenleben, doch in ihrer Ausdrucksqualitt sind sie ikonografisch und ikonologisch einzigartig.22 Die erste fîr die Einzelbildanalyse ausgewhlte Fotografie (Abb. 3)23 stammt aus der Mitte der 20er Jahre und zeigt eine Blau-Weiß-Gruppe aus Frankfurt.

Abb. 3: Am Lagerfeuer. Eine Frankfurter Blau-Weiß-Gruppe, 1924

Die Aufnahme reprsentiert einen ganz bestimmten Typ von Fotografien, die ich Dialogbilder nennen mçchte, weil sie den Eindruck erwecken, also ob die Abgebildeten den Betrachter direkt anblicken. Abzîge desselben Fotos fand ich in verschiedenen Alben, außerdem wurde es in dem 1988 von Tim (Nachum) Gidal herausgegebenen und illustrierten Band »Die Juden in Deutschland« im Kapitel »Jugendbewegung« publiziert. Tim Gidal wurde 1909 in Mînchen geboren und war in den 1920er Jahren selbst Mitglied des Blau-Weiß-Bundes, anschließend im Kadima. Er wird spter zu den weltweit bekannten Fotografen der Agentur 21 Z.B. Alice Krmer (Alisa Kamun) (Kameraden/Werkleute), Martin Klein (Kadima), Alexander (Sascha) Steinberg (Kameraden), Ruth Schçn (Lavi) (Makkabi Hatzair), Herbert Bettelheim (Makkabi Hatzair), Lotte Kuhnreuter (Ramot) (Habonim), Ulla Weiler (Ilana Michaeli) (Werkleute), Hans (Chanan) Heimann (IWB). 22 Die ikonografisch-ikonologische Einzelbildinterpretation ist ein von Erwin Panofsky zu einem Stufenmodell ausgearbeitetes und in der Kunstgeschichte bewhrtes bildanalytisches Verfahren, das von Konrad Wînsche und Pilarczyk/Mietzner fîr die Interpretation von Fotografien modifiziert wurde, vgl. Pilarczyk/Mietzner, das reflektierte Bild, (im Druck). 23 Mit dieser Bildunterschrift ohne Autorenangabe publiziert in: Gidal, (Nachum) Tim: Die Juden in Deutschland. Von der Rçmerzeit bis zur Weimarer Republik, Gîtersloh 1988, S. 334, außerdem befinden sich Abzîge derselben Aufnahme in den Alben von Kthe Weil und Emy Horowitz, beide Kadima, beide Alben stammen aus dem Archiv des Kibbuz Givat Hayyim Ichud.

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Magnum gehçren. Nach den biografischen Angaben, die sich zu seiner Person finden lassen, hat er erst 1929 mit dem Fotografieren begonnen; angeblich wusste er zuvor nicht einmal, wie man einen Film einlegt.24 Weder in den Alben noch in der Publikation Gidals gibt es Hinweise auf den Fotografen bzw. die Fotografin. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich aber um eine Jugendfotografie, vielleicht von Emy Horowitz (Kadima), in deren Album sich auch ein Abzug fand und mit der Gidal befreundet war. Die Grînde, warum er das Foto spter zur Illustration des Themas Jugendbewegung in seiner Publikation whlte, obwohl es gar nicht von ihm selbst stammte, sind leicht nachzuvollziehen: Dieses Bild nimmt den Betrachter durch seine dichte Atmosphre und die kçrperliche Prsenz der Personen gefangen. Es bringt etwas Wesentliches der Jugendbewegung auf den Punkt, denn es vermittelt auf spezifische Weise ein Gemeinschaftsgefîhl, das mit Worten nicht adquat zu vermitteln ist. Diese außerordentliche sthetische Wirkung war dem erfahrenen Fotografen und Buchautor Gidal natîrlich bewusst. Jede einzelne der abgebildeten Personen reagiert auf ganz persçnliche Weise auf den Fotografen und die fotografische Situation, aber trotz der Vielfalt der mimischen und gestisch-kçrperlichen Reaktionen dominiert insgesamt freundliche Zurîckhaltung – eine Reserviertheit, die vor allem durch die Blicke und auf der formalen Bildebene durch das Bein, das der Junge rechts vorn zwischen den Fotograf/Betrachter und den Kreis der Personen geschoben hat, verstrkt ist. Trennend wirkt auch der Teil der Wimpelstange, der vorne rechts als Diagonale das Bild schneidet. Das Bein als formales Bildelement îbernimmt außerdem die Funktion, den Kreis der Personen optisch zu schließen. Im Mittelpunkt des Kreises befindet sich eine Feuerstelle mit einer Konstruktion, auf die der Kochtopf gestellt werden kann; er steht aber neben dem Feuer. Das Feuer ist der optische Mittelpunkt des fotografischen Bildes. Aufgrund der Vegetation und der Kleidung kann man darauf schließen, dass das Foto an einem kîhlen Herbsttag entstanden ist – umso eindrucksvoller wirken die nackten Beine des Jungen rechts vorn. Es lassen sich im Bestand viele Belege dafîr finden, dass die Jungen sogar auf Winterfahrten im Schnee mit kurzen Hosen unterwegs waren – die kurze Hose war mehr als ein Bekleidungsstîck: Es ging den Jungen ›gegen die Ehre‹, lange Hosen zu tragen,25 und die Fotos zeigen, dass auch die Mdchen mit Kniestrîmpfen in der kalten Jahreszeit wanderten. Die Jugendlichen wirken weder aufgeregt noch erschreckt, ihre Kçrperhaltungen verraten eher Gelassenheit. Kçrperlich sind sie sich nah, vor allem ein Mdchen und ein Junge (zweiter und dritte von rechts). Auf der Bildebene ist formal der Halbkreis, den die Personen bilden, durch die gebogene Linie der 24 Nachum Tim Gidal: Photographs 1929 – 1991,Tefen 1992, S. 3. 25 Alfred Oren (Kamerad/Werkleute) in: Hetkamp, Interviews, S. 92.

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Baumwipfel und das dunkle Band des Waldrandes aufgenommen. Das Hell des Himmels korrespondiert mit der Helligkeit des Feuers. Zwischen dem hellen Zentrum der Gruppe und dem Himmel schafft aufsteigender Rauch eine Verbindung, die man als spirituell bezeichnen kçnnte. Die jungen Menschen schauen nicht auf dieses Licht, dennoch vermitteln sie den Eindruck, dass sie etwas teilen, das genau aus ihrer Mitte zu kommen scheint. Ihre abweisende Haltung, mit der sie sich vor dem zudringlichen Blick des Fotografen schîtzen, kçnnte der Bewahrung dieser Verbundenheit dienen. Wenn man sich die kommunikative Funktion solcher Fotografien vergegenwrtigt, dann transportieren die Blicke der Abgebildeten neben dem Verschwçrerischen und dem Stolz auf das Eigene auch ein Insistieren auf die selbst gewhlte Form, Spuren von Trotz bis hin zu leichter ˜berheblichkeit. Denn wie bei Fotografien îblich, gilt der Blick nicht nur dem Fotografen, sondern auch potentiellen zukînftigen Betrachtern, den Adressaten. Das Bild erçffnet fîr die weitere Analyse des Bestandes neue Horizonte; wir kçnnen Fragen formulieren und am Ende auch Hypothesen aufstellen, die im Anschluss an diese, den Bestand aufschließende Untersuchung die weitere Forschung leiten werden. Aus der Einzelbildinterpretation ergeben sich erstens Fragen nach der Beschaffenheit der Dialogrume, die durch Fotografen und Fotografierte geschaffen werden, wer îber den Blick ausgegrenzt wird und wer Teil hat. Des Weiteren wirft die Fotografie die Frage nach dem Geschlechterverhltnis innerhalb der Gruppen auf, das hier sehr ausgewogen wirkt. Whrend in den schriftlichen Quellen Frauen kaum das Wort ergreifen (außer in den spten Interviews) und Mdchenthemen insgesamt rar sind, sind sie auf den Fotografien sehr prsent, lebendig und selbstbewusst, vor allem dort, wo sich die Mdchen selbst mit ihren Kameras in den Blick nehmen. Eine weitere Frage ist die nach dem Naturerlebnis: Was dem Fotografen bzw. der Fotografin gelingt, ist die Darstellung eines Gleichklangs von Gruppenform und Naturlandschaft, verbunden durch ein quasi spirituelles Erlebnis. Die Natur fungiert als geschlossener Schutzraum und Inspiration. Die enge Verbundenheit der jungen Menschen untereinander und mit der sie umgebenden Natur wird auf der Bildebene durch das Ineinanderîbergehen von Motiv und Hintergrund und durch Formanalogien, hier durch die Analogie des Halbkreises der Gruppe zur gebogenen Linie der Baumwipfel und des Waldrandes, visualisiert; in dieser Perspektive bedeutet das, dass Natur- und Gemeinschaftserleben gar nicht voneinander zu trennen waren. Das zweite Beispiel fîr eine Einzelbildanalyse stammt von Sascha Steinberg vom Wanderbund der »Kameraden«. ˜ber Stil und Technik ist Steinberg als ambitionierter Amateurfotograf identifizierbar.26 Offenbar fotografiert er hier 26 Die nicht standardisierten Grçßen und das besondere Papier seiner Abzîge weisen ihn sogar

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whrend einer Rast oder whrend eines Lagers den Moment kurz vor dem Essen. Im Foto dominiert nicht die Zentralperspektive; es gibt praktisch keinen Fluchtpunkt, da der Fotograf die Szenerie schrg von oben aufnimmt. Dadurch wird das Bild ›flach‹, man nimmt die Bildelemente weniger rumlich wahr.

Abb. 4: Privatalbum Alexander (Sascha) Steinberg, Ende der 1920er Jahre (Kameraden; Archiv Hazorea)

Die untere Bildhlfte zeigt Kochgeschirr bestehend aus sechs aufgereihten Deckeln, einem Teller oder einem Tablett voller Brote (vielleicht auch Kuchen), einem Kochtopf mit Suppe und einer Kelle. Die obere Bildhlfte zeigt die halbnackten Beine und die Fîße von vermutlich vier mnnlichen und einer weiblichen Person, zînftig bekleidet mit Wanderschuhen, Socken oder Knieals einen Fotografen aus, der seine Fotografien selbst entwickelte.

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strîmpfen. Diese Andeutungen reichen aus, um das Motiv mit einer jugendbewegten (Sommer)Wanderfahrt zu assoziieren. Dazwischen befindet sich eine figîrlich und hinsichtlich ihrer Beschaffenheit nicht weiter zu bestimmende Flche; vermutlich handelt es sich um einen Waldboden mit wenig Vegetation. Der geometrische Mittelpunkt, der in der privaten Fotografie normalerweise eine große Bedeutung hat, ist daher hier arm an Objekten, er ist eigentlich leer. Da weder dieser Mittelpunkt noch ein Fluchtpunkt die Wahrnehmungen des Betrachters steuern, îbernehmen andere Elemente diese Funktion, wie etwa die leicht gebogene Reihe der Kochgeschirrdeckel, die Reihe der Beine am oberen Rand oder der runde Teller mit den Broten. Die Anordnung dieser Bildelemente ruft den Eindruck einer leichten Drehbewegung hervor, deren Zentrum sich aber außerhalb des Bildes befindet, nmlich dort, wo der Fotograf steht. Mit der kargen Motivik und der Beschrnkung auf visuelle Andeutungen gelingt Steinberg ein stimmungsvolles Gleichnis der Wanderfahrt: das Rasten, das Erlebnis der Sonne und der ursprînglichen Natur, die Freude auf das gemeinsame Essen, auch auf die Selbstbezogenheit der Gruppe, die alles außerhalb der Gruppenperspektive auszublenden scheint. Durch diese Bildatmosphre und die leicht berauschende Drehbewegung hat Sascha Steinberg visuell ein Selbstgefîhl zum Ausdruck gebracht, dass mçglicherweise fîr die jîdische Jugendbewegung (zumindest der 1920er Jahre) typisch war und in den Textbeitrgen der fîhrenden Intellektuellen keine Rolle spielt, was nicht bedeuten soll, dass sie von diesem Gefîhl nicht ebenso intensiv erfasst waren. Zugleich erscheint auch hier das Essen als zentrales, durch sthetische Gestaltung îberhçhtes Motiv. Dieses ließe sich als Ausdruck einer quasi familiren Verbundenheit der Gruppenmitglieder deuten.

Gemeinschaft im Bild und Selbstreprsentation Die Untersuchung des Fotomaterials hat ergeben, dass eine der hufigsten Formen der Selbstdarstellung das Posieren in der Gruppe vor der Kamera und ausschließlich fîr die Kamera ist. Die beiden folgenden Bildbeispiele sind fîr die Art und Weise der Selbstreprsentationen fîr den Untersuchungsbestand typisch. Die Beispiele zeigen Jungen vom zionistischen Jung-jîdischen Wanderbund Dîsseldorf in Kluft, bzw. Mdchen vom Makkabi Hatzair Brînn. Die Jungen haben sich in einer Felsspalte in eine vertikale Reihe sortiert, wobei sie Mîhe zu haben scheinen, nicht auf den Fotografen oder die Fotografin zu rutschen. Die Mdchen haben ihre Kçrper auf dem Boden liegend kreisfçrmig so arrangiert, dass sich ihre Kçpfe teilweise berîhren. Vermutlich bei keiner anderen Gelegenheit waren die beiden Gruppen auf die

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Idee gekommen, eine solche Performance zu inszenieren. Allein die Fotografie schafft den Anlass fîr diese Form, und so handelt es sich um jeweils typische fotografische Situationen. In der Konsequenz heißt das, dass Fotografie die Form, die sie abbildet, îber das Ritual des Fotografierens selbst schafft. Die Jugendlichen agieren im vollen Bewusstsein, dass sie ein Bild von sich abgeben und dass dieses Bild fixiert und weitergegeben wird. Das Gemeinschaftsbild wird von ihnen selbst entworfen, das Foto dient zur Beglaubigung. Des Weiteren ist auffllig, dass die Mdchen in der zweiten Fotografie als Gruppe mittig im Bild angeordnet sind, was dafîr spricht, dass der/die Fotografierende selbst zu dieser Gruppe gehçrt. Der Fotograf und die Fotografin sind in diesem Fall nicht mehr nur (heimliche) Beobachter/innen eines Geschehens, sondern sie reflektieren, konservieren und vermitteln ein Selbstbild, das sie mit den anderen Mitgliedern der Gruppe teilen.

Die Konsequenzen dieser Aktionen sind nicht unerheblich: Zwar wird die Form ausschließlich fîr das Foto geschaffen, jedoch wird sie von jedem einzelnen auch tatschlich leiblich erfahren, wenn auch nur fîr die Dauer der fotografischen Situation. Die Fotografien belegen sogar, dass bestimmte Gruppenformen immer wieder eingenommen werden. Es scheint, als ob das fotografische Ritual die Kçrper der jungen Menschen in einem eigenen Rhythmus und an be-

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stimmten Orten immer wieder zu solchen Formen zusammenfîgt. Die Fotografie erweist sich damit als integraler Bestandteil der Formierungsprozesse, die fîr die Jugendbewegung charakteristisch sind. Daraus kann eine weitere These abgleitet werden: Durch bewusste Gestaltung, Wiederholung und bildliche Fixierung werden Gemeinschaftshaltungen inkorporiert, habitualisiert und erinnert. Es wird eben nicht nur ein Bild entworfen, ein geistiger Vorgang in Gang gesetzt, sondern die Form wird auf der Ebene des Kçrperlichen tatschlich eingeîbt. Das kçnnte zumindest teilweise das Phnomen erklren, warum Bîndische sich oft weit îber das Jugendalter hinaus erkannten, bevor sie îberhaupt ein Wort miteinander gewechselt hatten.27

Gemeinschaft der Bilder – Neuinszenierung im Fotoalbum Das Fotoalbum erçffnet neue, îber das Fotografieren hinausgehende mediale Mçglichkeiten, Gemeinschaft in Szene zu setzen bzw. weitere Gemeinschaftsbilder zu entwerfen. Dabei handelt es sich um ein Medium, in dem andere Medien – nicht nur Fotos und andere Bilder, sondern auch Texte und Artefakte – neu inszeniert werden.28 Dabei sind die Ansprîche – wie beim Fotografieren auch – an die Gestaltung des Albums recht unterschiedlich. Im Bestand gibt es nur ein einziges Album, das gar keiner thematischen oder chronologischen Ordnung zu folgen scheint. Oft sind die Bildgruppen thematisch geordnet, z. B. Schulausflug, Familie, Jugendbewegung, Reise nach §sterreich. Manche der Jugendlichen haben auch die Alben thematisch angelegt, z. B. ein Album zum Thema Familie, ein Album zum Thema Landschaftsfotografie, ein Album Jugendbewegung. Nicht nur die Fotografien und ihre Inhalte, Formen und Stile liefern Anhaltspunkte zur Beurteilung des Stellenwertes, den die Mitgliedschaft in einer der Gruppierungen der Jugendbewegung im Leben eines Jugendlichen hatte, sondern auch die Anzahl der im Album versammelten Fotografien, die Art des Arrangements, der Zeitpunkt, an dem das Album zusammengestellt wurde, der 27 Vgl. Scheibe: Reformpdagogische Bewegung, S. 39. 28 In den Privatalben erscheinen neben privaten Fotografien auch andere Bilder unterschiedlicher Provenienz – Ansichtskarten, Fotografien Prominenter (z. B. Buber), Zeitschriftenfotografien sowie Zeitungsausschnitte, Telegramme, Briefe, offizielle Dokumente, Stoffabzeichen, Fahrkarten, Theaterbillets u.s.w. Die Seiten werden grafisch gestaltet, mit selbst gemalten Bildern kontextualisiert. Fotografien werden auch beschnitten oder Ausschnittvergrçßerungen verwandt. Durch den Buchcharakter des Albums ist eine Betrachtungsreihenfolge vorgegeben, die Fotografien werden dadurch in eine zeitliche Abfolge gebracht, zumeist in Korrespondenz zu biografischen Ereignissen bzw. den Zeitpunkten des Ereignisses, unter anderem werden dadurch auch Rhythmisierungen der Bildfolgen erreicht.

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Zweck (z. B. privates Erinnerungsalbum oder Gruppenalbum) sowie die Bearbeitung und Gestaltung der Albumseiten. Durch die Nhe der Bilder zueinander ergeben sich nicht nur thematische Bezîge oder Relationen auf der Formebene, es werden auch bestimmte Lesarten nahe gelegt. Diese Effekte werden zum Teil sogar gesucht. Was die Anordnung der Fotografien betrifft, gibt es unterschiedliche Formlçsungen. Inhaltlich dominiert die kaleidoskopartige Anordnung der Fragmente des Gruppenlebens, îblich ist auch die Formierung der Bilder von Gruppenmitgliedern oder von Gruppenaktivitten nach Themen. Die wichtigsten Gestaltungsmittel bei der Gestaltung der Alben sind Auswahl, Arrangement, Bearbeitung, Collage, Untertitelung sowie Text- und grafischer Kommentar. Das fotografische Material wird damit zu neuen Bildern der Gemeinschaft geformt. Soweit es sich nach dem Stand der Untersuchung bereits absehen lsst, sind folgende Intentionen der Gestalter erkennbar : Dynamisierung durch Schrglagen, Rhythmisierungen durch Formwiederholungen sowie Harmonisierung und Stabilisierung durch symmetrische Anordnungen. Durch das Zusammenfîgen von fragmentarischen Schnappschîssen zu sinnvollen Einheiten schaffen die Gestalter der Alben komplexe Formen. In der Regel verstrken sie die Nhe der Personen zueinander, die auch die fotografischen Bilder zeigen. Es werden jedoch nicht nur Bilder zu neuen Bildkomplexen zusammengefîgt, sondern es werden auch Bildteile ausgeschnitten und vereinzelt, um so die besondere Bedeutung dieser Bildelemente – in der Regel Personen – zu betonen. ˜ber Textkommentare und solche bildlicher und grafischer Art werden ebenfalls neue Bedeutungen geschaffen bzw. festgelegt. So steht z. B. das Bild eines Schiffes fîr Alija, eine im Album hufig gebrauchte Metapher. Zwei Beispiele fîr Albumgestaltungen sollen die Komplexitt des Ausdrucksmediums Fotoalbum veranschaulichen, eine erschließende Interpretation steht noch aus: Sie wird Gegenstand weiterfîhrender Forschung sein. Die Gestalterin der Seite (Abb. 7) ist auch die Albumbesitzerin. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ob sie auch die Fotografin war. Sie hat die Ursprungsfotos aufgelçst, die Gruppenmitglieder oder kleine Gruppenformen aus dem ursprînglichen Bildzusammenhang frei gestellt und zu einer neuen Form zusammengefîgt, in der sie das eigene Bild mehrfach eingefîgt hat. ˜ber das Collageverfahren wird Nhe fiktiv hergestellt, und zugleich reflektiert sie ihre eigene Stellung in der Gruppe als multiprsent – wieder entsteht ein Haufenbild. Das letzte Bildbeispiel (Abb. 8) zeigt eine Albumseite, die eine Freundin des Albumbesitzers Ende der 1930er Jahre îbernommen hatte. ˜ber das handschriftliche Kommentieren hinaus waren auch grafische Ergnzungen des Bildmaterials îblich. Hier wird das Fîhrerprinzip in der Jugendbewegung durch die Gestalterin ironisch kommentiert. Aus dieser Perspektive lassen sich auch

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Abb. 7: Privatalbum: Ruth Langer (Meron, Haschomer Hatazir), 1930er Jahre (Privatbesitz Ruth Meron, Kibbuz Dalia).

Abb. 8: Privatalbum: Rudi Barta (Habonim) Mitte der 1930er Jahre (Privatbesitz R. Barta, Nordiyya).

die Fotografien ironisch auffassen, was ohne den Kontext nicht unbedingt nahe liegt. Ironische Distanz ist eine der hufigen Umgangsweisen mit den Formen jugendbewegten Lebens, durch die sich die Jugendlichen einen Teil ihrer Unabhngigkeit, jedoch nicht Autonomien sicherten.

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Fazit Die Untersuchung hat gezeigt, dass man sich nicht auf die Analyse von fotografischen Aufnahmen beschrnken kann. Vielmehr erweist sich die Fotografie als soziale Praxis, die am Prozess der Gemeinschaftsbildung aktiv teilhatte. Dieser Anteil lsst sich auf verschiedenen Ebenen beschreiben, die sich voneinander nur schwer trennen lassen, aber zum Zwecke der Untersuchung analytisch unterschieden werden mussten. Anlass des Fotografierens ist oftmals eine dokumentarische Absicht: Ereignisse und Teilnehmer werden registriert; Mitglieder, Formen und Aktivitten der Gruppe sollen bezeugt werden. Zugleich werden Bilder der Gemeinschaft entworfen: erstens durch die Fotografen, die Themen und Motive, den Standpunkt, die Ausschnitte und fotografische Gestaltungsmittel whlen (zu dieser Ebene wren auch die Albumgestalter zu rechnen, die die Bilder neu inszenieren); zweitens liefern auch die Abgebildeten ein Bild von sich und der Gemeinschaft bzw. von sich als Teil der Gemeinschaft; drittens schafft das fotografische Ritual gemeinschaftliche Formen, die îber das Ritual hinaus prgend sind, und viertens fungieren die Fotografien als Kommunikationsmittel in den Gruppen. Man kann sagen, dass auch îber das Nachmachen von Aufnahmen und die Verwendung gleicher Aufnahmen ein Gruppenkonsens hergestellt wird; fînftes werden natîrlich Gemeinschaftserlebnisse und -formen durch die fotografischen Bilder und ihre Anordnung im Album ins Gedchtnis gerufen und tradiert. Gemeinschaft ist ein dynamisches Prinzip; sie ist nicht, sondern sie wird immer erst hergestellt und muss permanent neu geschaffen werden. Die Bewegung, die mit dem Begriff Jugendbewegung assoziiert wird, findet im Bestand privater Fotografien weniger als erwartet Entsprechung in Formen der Vorwrtsbewegung, wie beispielsweise im ›Ziehen‹ hin zu neuen Zielen oder Ausblicken. Vielmehr stellt sich Bewegung aus der Perspektive derer, die daran Teil hatten, als ein Kreisen um sich selbst dar, das auch rauschhafte Zîge annehmen konnte. Die ›bewegende Mitte‹ wird als eine gemeinsame spirituelle, wrmende und nhrende Kraft erlebt, die sich îber die geistig-kçrperliche Verbundenheit mit anderen, durch das Verschmelzen von Natur- und Gemeinschaftserlebnissen auf magische Weise einstellte. Gemeinschafts- und Naturerlebnisse waren dabei nicht zu trennen, sie sind auf der Bildebene als Verwobensein von Kçrperkonturen untereinander und in Formanalogien mit Naturlandschaften prsent. Darîber hinaus ist auffallend, dass die îber die Fotografien und Albumseiten geschaffenen Bildrume fîr die Gruppen eng und begrenzt sind. Blicke zum Horizont werden selten gewagt und Blicke in die Ferne zumeist auch dort vermieden, wo sie eigentlich zu den fotografischen Konventionen gehçren, zum Beispiel auf dem Gipfel von Bergen. Darin drîckt sich vermutlich sowohl eine

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Konzentration auf das soziale Leben der Gruppe als auch ein Schutzbedîrfnis aus. Die etymologische Verwandtschaft von Enge und Angst schwingt aber in vielen Bildern mit und kann sowohl als Beschrnkung von Wahrnehmung als auch als Perspektivlosigkeit gedeutet werden. Mit Blick auf die Forschungsergebnisse zum fotografischen Stil, der die Bilder der jungen Menschen nach ihrer Emigration in Palstina prgt, lsst sich hier im chronologischen Vergleich der Bilder sagen, dass sich sowohl die vertrauten Gruppen- als auch die analogen Naturformen in den ersten Jahren in Palstina auflçsten, offenbar verloren sie hier ihre Funktion. Die Bildrume der 1930er und 40er Jahre in Palstina sind radikal offen: Tief gelegte Horizonte schaffen weite Perspektiven, das helle Licht sorgt fîr harte Kontraste, und die Personen wirken darin zwar kraftvoll und entschlossen, aber auch existenziell gefhrdet.29 Diese Hypothesen sind nicht nur an einem grçßeren Bestand zu prîfen und dort auf ihre Reichweite hin zu untersuchen, sondern es sollten fîr eine derartige Untersuchung kontrastierend andere fotografische Perspektiven (z. B. die der Pressefotografie) und (autobiografische) Textquellen einbezogen werden. Das wird Gegenstand weiterer Untersuchungen sein.

29 Vgl. dazu Ulrike Pilarczyk: Rume fîr die Zukunft. Die Entwicklung pdagogischer Raumvorstellungen auf Fotografien aus dem Kibbuz und aus Internatsschulen in Palstina und Israel von 1930 bis 1970, in: Franz Josef Jelich und Heidemarie Kemnitz (Hgg.): Die pdagogische Gestaltung des Raums. Geschichte und Modernitt, Bad Heilbrunn 2003a, S. 93 – 116; dies.: Fotografie als gemeinschaftsstiftendes Ritual. Bilder aus dem Kibbuz, in: Christoph Wulf und Jçrg Zirfas (Hgg.): Paragrana 12 (2003b)1, S. 621 – 640.

II. Zur Geschichte der deutschen Jugendbewegung

Jîrgen Reulecke

Zur Geschichte der deutschen Jugendbewegung seit 1900. Einige einfïhrende Bemerkungen

Es bietet sich an, mit zwei recht unterschiedlichen, aber – wie ich meine – sich sinnvoll ergnzenden Zitaten zu beginnen, aus denen sich vielleicht so etwas wie ein Scheinwerferstrahl ergibt, mit dem sich die mentalittsgeschichtlichen Hintergrînde der Jugendbewegungsgeschichte im frîhen 20. Jahrhundert etwas besser ausleuchten lassen. Das erste Zitat aus dem Jahr 1913 stammt von Sigmund Freud aus seinem Buch »Totem und Tabu«.1 Freud stellt darin fest, dass »keine Generation imstande [sei], bedeutsamere seelische Vorgnge vor der nchsten zu verbergen«, und dass man zum Verstndnis der aufeinander folgenden »Generationsreihen« danach fragen mîsse, »welcher Mittel und Wege sich die eine Generation bedient, um ihre psychischen Zustnde auf die nchste zu îbertragen.« Das zweite Zitat stammt von dem Schweizer Schriftsteller Friedrich Dîrrenmatt und beschreibt einen Gedanken, der ihn als 43jhrigen 1964 am Grab seines 1881 geborenen Vaters îberfallen hat: »Die Generationen îberschlagen sich wie Wellen, werden von der Zeit davongetragen, und ihre Spuren sind fîr sptere Generationen oft rtselhaft, oft rîhrend, selten grandios und manchmal nicht ohne hçhere Komik.«2 Wer heute in der çffentlichen Debatte in der Bundesrepublik mit dem Generationenbegriff argumentiert, begibt sich in die Gefahr, als Nachzîgler in einem inzwischen breitgetretenen Diskurs wahrgenommen zu werden: Hçchst oberflchlich und geschwtzig haben nmlich Feuilletons und flinke Buchmacher in den letzten zehn Jahren diesen Begriff okkupiert, um ihn in Form von Zuschreibungen wie »Generation Golf«, »Generation 89«, »Generation Berlin«, »Generation Reform« (und einigen Dutzend weiterer solcher Wortkombinationen) verkaufsfçrdernd als Etikettierungen fîr einzelne Altersgruppen zu verwenden. Die Grînde fîr diesen Boom sind vielschichtig und kçnnen hier nicht erlutert werden. Aber eines ist dennoch einleitend festzustellen: Ganz 1 Freud Sigmund: Totem und Tabu: einige ˜bereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Frankfurt a. M.,/Hamburg 1962, S. 176. 2 Friedrich Dîrrenmatt: Labyrinth. Stoffe I – III, Mondfinsternis, Zîrich 1998, S. 176.

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unabhngig von dieser medialen Konjunktur des Generationenbegriffs besitzt er – und darauf sollten die beiden Einleitungszitate aufmerksam machen – ein bemerkenswertes Anregungspotential fîr eine Geschichtswissenschaft, die nicht mehr nur unpersçnliche Strukturen, Prozesse und Gesellschaftsformationen untersucht, sondern den Versuch unternimmt, der von konkreten Menschen in ihrer Zeit gelebten Geschichte, d. h.: ihrem Umgehen mit der fîr sie offenen Zukunft, ihren øngsten und Hoffnungen, aber auch ihren Verstrickungen, ihrem Scheitern, ihren Verletzungen nachzuspîren. Dass man dabei dann vor oft Rtselhaftem steht, Anrîhrendes ebenso wie hçhere Komik entdeckt, kann man mit Dîrrenmatt leicht feststellen. Hinzuzufîgen ist, dass man oft auch (bis in die eigene Familie hinein) – insbesondere, was die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts angeht – auf Erschreckendes ebenso wie Bedrîckendes und Deprimierendes stçßt. Ein spezieller Impuls aus einer in der jîngsten Zeit in noch kleinen, interdisziplinren Kreisen gefîhrten Diskussion luft dabei darauf hinaus, die deutsche Mentalitts- und Kulturgeschichte des zum Teil so katastrophalen 20. Jahrhunderts vom spten Kaiserreich îber die Weimarer Republik und das NS-Regime mit dem Zweiten Weltkrieg, die Zeit der beiden deutschen Staaten bis zur Wiedervereinigung auch und nicht zuletzt mit den generationellen Verarbeitungen der krassen Umbrucherfahrungen durch besonders von diesen Umbrîchen geprgte Altersgruppen in Verbindung zu bringen.3 In diesem Kontext spielt dann die Geschichte der Jugend, d. h. die Geschichte von Jugendbewegungen, von jugendlichen Auf- und Ausbruchsversuchen profilierter ›junger Generationen‹, von Generationsspannungen und -konflikten eine zentrale Rolle. Hinzu kommt neuerdings noch jene Einsicht, die im einleitenden Freud-Zitat angesprochen ist, dass nmlich die psychischen Probleme bestimmter Elterngenerationen und die unbewltigten Erfahrungen und – im Extremfall – traumatischen Erlebnisse einzelner Alterskohorten im Kindes- und Jugendalter in bisher kaum beachteter, allenfalls geahnter Weise auch die folgenden Kinder- und Enkelgenerationen – bis heute – geprgt und belastet haben (und weiter prgen und belasten werden).4 3 Vgl. Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlîsselwçrter, 5. Aufl. Frankfurt a. M. 2006. 4 Fîr den Stand der aktuellen Forschung siehe z. B. Barbara Stambolis: Mythos Jugend: Leitbild und Krisensymptom. Ein Aspekt der politischen Kultur im 20. Jahrhundert, Schwalbach/Ts 2003; Jîrgen Reulecke (Hg.): Generationalitt und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, Mînchen 2003; Jîrgen Reulecke: »Ich mçchte einer werden so wie die …«. Mnnerbînde im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2001; Kerbs, Diethart/ Reulecke, Jîrgen (Hg.): Handbuch der Reformbewegungen 1880 – 1933, Wuppertal 1998; Peter Reichel: Vergangenheitsbewltigung in Deutschland, Mînchen 2001; Walter Z. Laquer: Geboren in Deutschland. Der Exodus der jîdischen Jugend nach 1933, Berlin/Mînchen 2000; Walter Z. Laqueur: Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, 2. Aufl. Kçln 1978; Gottfried Kîenzlen: Der neue Mensch. Zur skularen Religionsgeschichte der Moderne, 2. Aufl. Mînchen 1994; Peter

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Nach diesen Vorîberlegungen komme ich mit einer Einleitungsthese nun prziser zu meinem Thema: Norbert Elias, der große Soziologe (1897 – 1990) – er war als Jugendlicher in Breslau Mitglied in einer jîdischen Wandervogelgruppe – hat einmal mit Blick auf das 20. Jahrhundert festgestellt, es habe zwei unterschiedliche Arten von »Generationsketten« gegeben: Bei der einen seien die kulturellen und politischen Orientierungen zweier aufeinander folgender Generationen weitgehend »gleichgerichtet« gewesen. Bei der anderen habe eine jîngere der ihr vorausgehenden Generation »demonstrativ neue Muster« entgegengesetzt.5 Fîr unser Thema dîrfte nun bedeutsam sein, dass es eine solche ›Gleichgerichtetheit‹ zwischen einer betrchtlichen Zahl von Wortfîhrern aus der sogenannten Frontgeneration des Ersten Weltkriegs (geboren um 1890) und der nachfolgenden ›Kriegsjugendgeneration‹ (geboren zwischen ca. 1902 und 1912) gegeben hat – dieses mit bemerkenswerten, kaum zu îberschtzenden Folgen fîr die deutsche Geschichte. Zugespitzt ausgedrîckt: Die Sçhne der sogenannten ›Wilhelminer‹ – benannt nach dem 1859 geborenen Wilhelm II. – waren von ihren Vtern 1914 mit großem Pathos und markigen Sprîchen in einen verlustreichen, mçrderischen Krieg geschickt worden, aus dem viele der ˜berlebenden mit schweren psychischen und physischen Verletzungen, oft auch mit einem tiefen Hass auf die Vtergeneration in den grauen Alltag einer besiegten Nation zurîckkehrten. Sie stilisierten sich in der Folgezeit als ›verlorene Generation‹. Da ihnen der Staat, die Weimarer Republik, keine politische Heimat mehr zu bieten schien, umwarben sie die nchstfolgende Generation (wenn man so will: ihre zehn bis fînfzehn Jahre jîngeren Geschwister), mit ihnen gemeinsame Sache zu machen. Diese Altersgruppe galt dann als eine nchste ›verlorene Generation‹, weil sie durch Heimatfronterlebnisse, durch Vaterlosigkeit, Revolution und Inflation, Ende der 20er Jahre dann infolge der Weltwirtschaftskrise durch Arbeitslosigkeit »in die Welt eingefîhrt« worden sei. Beide mnnliche Altersgruppen, so hat Hannah Arendt (1906 – 1975) geschrieben, seien demnach von massiven Brîchigkeitserfahrungen, von dem Gefîhl, îberflîssig und emotional heimatlos zu Schulz-Hageleit: Leben in Deutschland 1900 – 1950. Historisch-psychoanalytische Betrachtungen, Pfaffenweiler 1994; Irmgard Klçnne: Deutsch, Jîdisch, Bîndisch. Erinnerung an die aus Deutschland vertriebene jîdische Jugendbewegung, Teil 1, Witzenhausen 1993; Ulrich Herrmann: »Das Konzept der ›Generation‹«, In: Neue Sammlung 27 (1987), S. 364 – 377; Martin Doerry : ˜bergangsmenschen. Die Mentalitt der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, Weinheim/Mînchen 1986; Koebner, Thomas/Janz, Rolf-Peter/Trommler, Frank (Hg.): »Mit uns zieht die neue Zeit«. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. 1985; Werner Kindt (Hg.): Dokumentation der Jugendbewegung, bes. Bd. III: Die bîndische Zeit, Dîsseldorf/Kçln 1974; Ernst Gînther Grîndel: Die Sendung der Jungen Generation. Versuch einer umfassenden Sinngebung der Krise, Mînchen 1932. 5 Norbert Elias: Studien îber die Deutschen. Machtkmpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992, S. 361 ff.

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sein, sowie von der Notwendigkeit, gravierende Verluste verarbeiten zu mîssen, geprgt gewesen. Um 1930 kam dann der Slogan auf, diese Doppelgeneration von ›Enterbten‹ mîsse sich zu einer ›Generation der Berufenen‹ aufschwingen, die eine Revolution der ›jungen Generation‹ in dem von Greisen, Versagern und korrupten Feiglingen beherrschten »System von Weimar« herbeifîhren werde.6 Einer der Wortfîhrer der ersten der beiden ›verlorenen Generationen‹ schrieb damals: Weil sie angesichts des herrschenden politisch-gesellschaftlichen ›Systems‹ den Befehl zum Kmpfen empfnden, gehçrten die Frontgeneration und die ihr folgenden Jahrgnge zusammen, »nicht weil sie wollen (das ist nebenschlich), sondern weil die Geschichte so will.« Es ist klar, worauf eine solche zwar holzschnittartige, aber durchaus diskussionswîrdige Zusammenschau der beiden Altersgruppen hinausluft: auf die Feststellung, dass sich dann der Frontsoldat Adolf Hitler (geb. 1889), unterstîtzt und nach oben gebracht durch weitere Angehçrige der Frontgeneration wie Hermann Gçring, Ernst Rçhm, Robert Ley usw., als charismatische Fîhrerfigur (nach der Machtergreifung auch als Sicherheit und Zukunft versprechende Vaterfigur) andienen konnte. Selbstverstndlich ist festzuhalten, dass jene pauschalen Charakterisierungen der beiden Generationen keineswegs auf alle Angehçrigen der Altersgruppen gleichermaßen und jederzeit zutrafen, sondern immer nur auf deutlich profilierte Teilmengen bzw. »Generationseinheiten« (im Sinne Karl Mannheims)7 – und dies auch nur unter besonderen historischen Umstnden. Vor allem scheint es so gewesen zu sein, dass die Generationenrhetorik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in erster Linie eine Angelegenheit bildungsbîrgerlich-mnnlicher Kreise der stdtischen Mittelschichten gewesen ist. Nun soll es allerdings im vorliegenden Beitrag nicht nur um den generationellen Kontext im Allgemeinen, sondern insbesondere um die bîrgerliche Jugendbewegung gehen, von der dann die jîdische Jugendbewegung ein spezieller Ableger war. Wie lsst sich dieses Spezifikum deutscher Kultur- und Geistesgeschichte in die genannten Generationsverhltnisse einordnen? Zunchst ein kurzer ˜berblick îber die Entstehung und Entwicklung der deutschen Jugendbewegung. Man kann oft die Meinung lesen, die deutsche Jugendbewegung sei Ausdruck eines Generationenkonflikts gewesen. Dieses Urteil trifft jedoch nur in sehr eingeschrnktem Sinn zu. Viel eher war sie das Ergebnis bzw. die Folge jener ›Fin de siºcle‹-Stimmung, die sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts insbe6 Claudia Althaus: Erfahrung denken. Hannah Arendts Weg von der Zeitgeschichte zur politischen Theorie, Gçttingen 2001, S. 145 ff. 7 Vgl. Karl Mannheim: Diagnose unserer Zeit: Gedanken eines Soziologen, Zîrich 1951.

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sondere im deutschen Bildungsbîrgertum ausbreitete. Die Grînde sind vielfltig und kçnnen hier nur angedeutet werden: rasante Industrialisierung und Verstdterung, das Aufkommen einer großstdtischen Massenzivilisation, die Entstehung neuer tonangebender Gesellschaftskreise, der Bedeutungsverlust der herkçmmlichen bîrgerlichen Werte, das wachsende Gefîhl der Bedrohung durch ›Reichsfeinde‹ von innen (Sozialdemokratie) und außen (›Einkreisung‹), die Hohlheit der wilhelminischen ›Plîschgesellschaft‹ mit ihrem sbelrasselnden Pathos, gesundheitliche Gefhrdungen, die vor allem den Nachwuchs betrafen und die Zukunftsfhigkeit des deutschen Volkes ebenso zu bedrohen schienen wie die Wehrkraft der Nation. Zwei Reaktionen auf diese Herausforderungen neben vielen weiteren waren von besonderer Bedeutung: einerseits jener wachsende Jugendmythos, der in der Jugend und in der Erzeugung eines ›neuen Menschen‹ durch hygienische, lebensreformerische, spter auch rassistische Maßnahmen eine Lçsung der gesellschaftlichen Probleme sah, andererseits ein Kampf der Parteien und Weltanschauungen um den Nachwuchs nach dem Motto ›Wer die Jugend hat, hat die Zukunft‹. Der jugendbewegte Aufbruch der meist aus stdtischen bildungsbîrgerlichen Familien stammenden »Wandervçgel« und »Freideutschen« ab 1900 wurde zum einen von dem erwhnten Jugendkult angeregt, zum andern war er eine Abwehrbewegung gegen die zunehmende Gngelung und Umwerbung der Jugend durch Staat und Gesellschaft sowie außerdem eine Flucht aus der geistigen und rumlichen Enge der Großstadtzivilisation in die Natur. In Berlin-Steglitz und etwas spter in Hamburg entstanden Wandergruppen von hçheren Schîlern, die sich »Wandervçgel« nannten und von denen dann nach ihrem Abitur in Universittsstdten wie Gçttingen und Jena jugendbewegte »Akademische Freischaren« gegrîndet wurden. Hufig zwar gefçrdert durch einige aufgeschlossene Erwachsene, ging es den Wandervçgeln und den freideutschen Studenten um eine vom Einfluss der lteren Generationen unabhngige, gegen die autoritre Erziehung und den ›Hurra-Patriotismus‹ des Kaiserreichs gerichtete Selbstgestaltung des jugendlichen Lebens. Die Basis der Wandervogel-Bewegung waren kleine, weitgehend autonome Gruppen von etwa zehn bis fînfzehn Schîlern unter einem nur wenige Jahre lteren ›Fîhrer‹. Vor allem der sich in diesen Gruppen ausbildende, damals hçchst ungewçhnliche Gruppenstil war es, der Jungen (ab 1905 zunehmend auch einige Mdchen) anlockte: Wanderfahrten in spezieller Wanderkleidung mit ˜bernachtungen im Freien oder in Scheunen, einfaches, kameradschaftliches Leben in der Gruppengemeinschaft, Abkochen auf offenem Feuer, Entdeckung des Volkstanzes, Volksliedpflege mit Lauten-, Gitarren- und Geigenbegleitung. Besonders bedeutsam, weil prgend war in diesem Zusammenhang zum Beispiel das be-

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rîhmte Wandervogelliederbuch »Der Zupfgeigenhansl« von Hans Breuer aus dem Jahre 1909.8 Einflîsse auf die sich im ganzen Deutschen Reich und im deutschsprachigen Ausland ausbreitende Bewegung (1910 ca. 25.000 jugendliche Mitglieder in 800 Ortsgruppen, insgesamt mit Fîhrern, Studenten, lteren Freunden ca. 60.000) îbten Ideen der Reformpdagogik und der Lebensreformbewegung aus (z. B. Antialkohol- und Antinikotinforderungen, Kleidungs- und Ernhrungsreform u. .); aber auch vçlkisch-nationalistische sowie antisemitische Gedanken fanden Anhnger in einzelnen Gruppen bzw. Bînden. Mit dem sog. ›Zittauer Ereignis‹ vom Mai 1913, das heißt dem Ausschluss eines jîdischen Mdchen aus einer Wandervogelgruppe, eskalierte z. B. die Debatte um den angeblich spezifisch ›deutsch-germanischen‹ Charakter der Vorkriegsjugendbewegung, und es kam zu antisemitischen øußerungen, aber auch zu entsetzten Reaktionen angesichts dieser Entwicklung. Einer der Bînde, der »Vortrupp-Bund«, in dem sich auch engagierte Pazifisten wie Walter Hammer und Hans Paasche befanden, verkîndete z. B. klar und deutlich: »Ein jeder Jude, den ehrliches Wollen mit uns eint, sei uns willkommen. Wer anders denkt, bleibe uns fern, ob er nun Christ oder Jude sei.«9 Hçhepunkt der Vorkriegsjugendbewegung war dann im Oktober 1913 der erste »Freideutsche Jugendtag« – ein großes Treffen unter freiem Himmel auf dem Hohen Meißner, einem Bergrîcken çstlich von Kassel, zu dem freideutsche Studenten eingeladen hatten und das als Gegenveranstaltung gegen die martialische Großveranstaltung in Leipzig aus Erinnerung an den hundert Jahre zurîckliegenden Sieg îber Napoleon geplant war.10 Hier kam es dann zu jener berîhmten ›Meißner-Formel‹, die generationenprgenden Charakter erhalten sollte: »Die Freideutsche Jugend« will aus eigener Bestimmung, aus eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten.« Sie war Ausdruck der jugendbewegten Vorstellungen vom Ethos eines »neuen Menschen« und von einer eigenstndigen, von den »hsslichen Konventionen« befreiten »Jugendkultur«, wie es damals hieß. Im Ersten Weltkrieg, in den die meisten lteren »Wandervçgel« mit der ˜berzeugung zogen, ihre Pflicht zur Verteidigung des von Feinden bedrohten Vaterlandes zu erfîllen, und in dem dann îberproportional viele von ihnen ihr Leben ließen (von ca. 12.000 eingerîckten etwa 8.000), entstand der »Feldwandervogel«, der den Kontakt unter den Wandervçgeln an der Front herstellte, whrend es in der Heimat jetzt oft die ›Wandervogelmdchen‹« waren, die sich 8 Hans Breuer (Hg.): Der Zupfgeigenhansl, Leipzig 1909. 9 Vgl. Andreas Winnecken: Ein Fall von Antisemitismus. Zur Geschichte und Pathogenese der deutschen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, Kçln 1991. 10 Vgl. Mogge, Winfried/Reulecke, Jîrgen: Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Kçln 1988.

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um die Fortfîhrung der Gruppen und Bînde bemîhten. 1915 schrieb der damals 28jhrige Dichter Walter Flex (1877 – 1917) im Schîtzengraben jenes geradezu hymnische Bîchlein auf den sich im Felde bewhrenden Charakter eines Wandervogelfreundes, das spter mit einer Auflage von îber einer Million Exemplaren ein ›Kultbuch‹ der Jugendbewegung werden sollte.11 Das Einleitungsgedicht »Wildgnse rauschen durch die Nacht« wurde eines der meistgesungenen Lieder, und der hier geprgte Satz »Rein bleiben und reif werden – das ist schçnste und schwerste Lebenskunst« galt als die zentrale Devise der gesamten nachfolgenden Jugendbewegung. Whrend viele junge Mnner verletzt, verstçrt, verbittert aus dem Krieg zurîckkehrten, versuchte dennoch eine betrchtliche Zahl von ehemaligen ›Wandervçgeln‹ und ›Freideutschen‹, an die Vorkriegstraditionen anzuknîpfen, und strebte einen umfassenden ›Bund der Bînde‹ an. Doch gelang dies zunchst nicht: Die Aufsplitterung der von jugendbewegten Stilformen geprgten Gruppen in verschiedene Richtungen von rechts bis links, nationalistisch bis anarchistisch hatte sich fortgesetzt, zumal jetzt auch Einflîsse des von England îbernommenen Scoutismus, also des Pfadfindertums, eine Rolle spielten, so dass einerseits Wandervogelgruppen pfadfinderische Lebensformen, andererseits Pfadfindergruppen verstrkt jugendbewegte Elemente im Stil des »Wandervogels« îbernahmen. Zunehmend spielten jetzt in den sich immer deutlicher als Jungmnnerbînde verstehenden Gruppierungen statt der bisher îblichen Orientierung an den mittelalterlichen ›fahrenden Scholaren‹ elitre Vorstellungen vor allem in Anlehnung an mittelalterliche Ritterorden eine Rolle. Junge Weltkriegsoffiziere scharten nun Gefolgschaften von Jîngeren um sich, boten sich als charismatische Bundesfîhrer an und verkîndeten ›Bundesideen‹, in denen in Gegenposition zur kalten, bedrîckenden politischen und sozialen Realitt der 1920er Jahre von einer zu Hçherem berufenen heldisch-soldatischen Jugend in einem ›neuen Reich‹ die Rede war. In dieser sich jetzt »Bîndische Jugend« nennenden Fortsetzung der Vorkriegsjugendbewegung kam nun auch die Idee des ›Lebensbundes‹ auf, d. h. einer verschworenen Gemeinschaft der drei mnnlichen Altersgruppen »Jungenschaft«, »Jungmannschaft« und »Mannschaft«, die sich zu idealem und selbstlosem Dienst fîr Volk und Zukunft verpflichtete. Zwar bildeten auch weiterhin die kleinen Jungengruppen von etwa zehn Jungen mit ihren Wanderfahrten und ihrem nur wenige Jahre lteren Fîhrer die Basis der neuen Bînde, doch trat jetzt daneben der Bund mit seinem Bundesfîhrer, der bei den großen jhrlichen Bundeslagern ›Heerschau‹ hielt. Diszipliniertes Auftreten, oft in Reih und Glied, uniformhnliche Kluft mit diversen Abzeichen und eigenen 11 Walter Flex: Gesammelte Werke, Bd. 1, darin: »Der Wanderer zwischen beiden Welten«, hier zitiert nach der 9. Aufl. Mînchen o. J. (1944), S. 185 – 265.

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Symbolen, Fahnen und Bannern, Trommeln und Fanfaren (statt wie frîher Lauten und Geigen) bestimmten bei diesen Bundeslagern das Bild. Der hufig geußerte Wunsch nach einem ›Hochbund deutscher Jugend‹ fîhrte schließlich 1926/27 zum Zusammenschluss einiger großer Wandervogelund Pfadfinderbînde zur »Deutschen Freischar« mit îber 10.000 Mitgliedern. Insgesamt dîrften Mitte der 1920er Jahre zwar nur etwa 90.000 îberwiegend Jungen zu bîndischen Gruppen im engeren Sinn gehçrt haben, doch die Wirkung der Ausstrahlung ihrer Stilformen in fast alle sonstigen Jugendorganisationen bis hin zur çffentlichen Jugendpflege und Jugendfîrsorge kann wohl kaum îberschtzt werden. Unter Fîhrung des jungen Juristen und Volkswirts Ernst Buske (1894 – 1930) gelang es der »Deutschen Freischar«, die extremen Flîgel zusammenzufîhren und einer positiv-offenen Haltung gegenîber der Weimarer Republik den Weg zu ebnen. Diverse Initiativen der ølterenkreise in der Freischar liefen darauf hinaus, durch Volksbildungskurse in Arbeitslagern staatspolitische Aufklrung und musische Bildung zu verbreiten, mit jungen Arbeitern und Bauern in Kontakt zu kommen und sich schließlich in der zugespitzten Krisenphase der Republik sogar durch parteipolitische Unterstîtzung der kurzlebigen demokratischen Deutschen Staatspartei zu engagieren. Der Staat brauche, so verkîndeten ltere Freischarfîhrer, eine verlssliche ›junge Generation‹, die îber einen festen ›Formwillen‹ und ›Selbstzucht‹ verfîge und zum »nîchternen Dienst am Werdenden« bereit sei. Doch das waren Schlagworte, die viele der im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg geborenen Jîngeren nicht mehr begeistern konnten. Mit diesem Hinweis beginnt sich der Kreis zu den Ausgangsîberlegungen îber die allgemeinen Generationenkonstellationen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu schließen: Auch die jugendbewegten Bînde gerieten um 1930 in den Sog einer demagogisch aufgeladenen Deutung jener Generationenrhetorik, in der eine ›Revolution der jungen Generation‹ gegen die ›Republik der Greise‹ beschworen wurde. Immer aggressiver auftretende Jugendbînde von rechts- bis linksaußen begannen ebenso die Szene zu bestimmen wie einige mitreißende neue Aufbrîche jîngerer Kreise innerhalb der »Deutschen Freischar«, von denen die »Deutsche Jungenschaft vom 1. 11. 1929« (= dj.1.11) unter dem charismatischen Fîhrer Eberhard Koebel, genannt tusk (1907 – 1955), wohl der phantasievollste und wirksamste war. Die Stilformen dieser Jungenschaft wurden dann auch innerhalb der deutsch-jîdischen Jugendbewegung insbesondere vom »Schwarzen Fhnlein« îbernommen. Dass dann nach der ›Machtergreifung‹ den Nationalsozialisten Ende Januar 1933 eine solch facettenreiche selbstndige Bîndische Jugend ein Dorn im Auge war (obwohl eine Reihe von bîndischen Fîhrern mit der NSDAP sympathisierte und den ˜bergang in die Hitler-Jugend empfahl), liegt auf der Hand. Als mit einem weiteren Zusammenschluss zu einem »Großdeutschen Bund« und einer

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Ergebenheitsadresse an den Reichsprsidenten von Hindenburg die Bînde versuchten, ihre Selbstndigkeit zu wahren, griff der von Hitler zum »Jugendfîhrer des Deutschen Reiches« ernannte Baldur von Schirach (1907 – 1974) durch: Alle jugendbewegten Bînde wurden im Juni 1933 verboten und ihre Anhnger, die sich nicht von ihnen lossagten, verfolgt. Einige gingen in die Emigration, einige landeten in Konzentrationslagern bzw. wurden umgebracht; die meisten resignierten, passten sich an oder ließen sich durch neue ømter und Karrieremçglichkeiten, durch Titel und Uniformen einfangen. Eine Reihe jîngerer Fîhrer versuchte noch eine Zeitlang, vor allem im »Jungvolk« der Hitlerjugend, ein bîndisches Gruppenleben aufrechtzuerhalten. Auch Teile des spteren Jugendwiderstandes gegen das NS-Regime wie die »Weiße Rose«, einzelne Mitglieder der »Roten Kapelle« und des »Kreisauer Kreises« sowie die so genannten »Edelweißpiraten« hatten bîndische Wurzeln. Insgesamt ist jedoch zu sagen, dass nur wenige Wortfîhrer aus der Bîndischen Jugend einigermaßen nîchtern und kritisch durchschauten, was mit dem Nationalsozialismus auf sie zukam. Sie teilten insofern das Schicksal der nahezu gesamten deutschen bîrgerlichen Mittelschicht, die glaubte, aus dem kalten, individualistischen, ›liberalistischen‹, von Parteien- und Kapitalistenherrschaft zerrissenen ›System von Weimar‹ erlçst und nun zu einer harmonischen ›Volksgemeinschaft‹ gefîhrt zu werden.12 Die Jugendbewegung hatte hohe Gefîhle erzeugen und eine junge Elite außerhalb der nîchternen Alltagsrealitten in romantischen Jugendparadiesen zu ganzheitlichen Menschen erziehen wollen, die dann wie ein Sauerteig in der Gesellschaft wirken sollten. Kritisch-rationale Fhigkeit zur Analyse, Skepsis gegenîber klingenden Zukunftsversprechungen und ironische Distanz zu nationalem Pathos waren keine Elemente bîndischer Erziehung. Im Gegenteil: Man hat deshalb den Jugendbewegten der Weimarer Zeit aus der Rîckschau den Hang zu naiven Illusionen, zu elitrer Kurzsichtigkeit und apolitischer Selbstîberschtzung vorgeworfen. Fîr Urteile dieser Art lassen sich viele Belege anfîhren, doch waren die jungen Menschen Kinder ihrer Zeit, d. h. Teile eines desorientierten Bîrgertums, dessen ehemalige Rolle als Wahrer der kulturellen Werte des deutschen Volkes weitgehend ausgespielt war und das jetzt geradezu hektisch nach neuen Orientierungen und zukunftversprechenden Haltepunkten suchte. Fazit: Ich pldiere deshalb nicht fîr eine Verurteilung der Jugendbewegung als einer Bewegung von Versagern – das wre krass unhistorisch –, sondern fîr den Versuch, sie im Kontext der damaligen Wahrnehmungsmçg12 Vgl. Arno Klçnne: Jugend im Dritten Reich. Die Hitlerjugend und ihre Gegner, Kçln 2003; Harald Welzer u.a: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedchtnis, Frankfurt a. M. 2002; Matthias von Hellfeld: Bîndische Jugend und Hitlerjugend. Zur Geschichte von Anpassung und Widerstand 1930 – 1939, Kçln 1987.

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lichkeiten und Erfahrungen sowie vor dem Hintergrund der Generationenkonstellationen in einer immens herausfordernden Zeit kultur- und mentalittsgeschichtlich zu verstehen; was selbstverstndlich nicht billigen heißt.

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Identittssuche und Erinnerungsikonographie: Deutsch-jïdische Jugendbewegung 1912 – 1933

»Doch blicke ich heute zurïck, so mçchte ich meine Erfahrungen in der Jugendbewegung auf keinen Fall missen. Diese bedeutete in einer schwierigen Periode meines Lebens einen Anker, eine Insel des Friedens inmitten einer Welt, die mehr und mehr feindlich wurde; in ihr entwickelten sich Eigenschaften wie Disziplin und Verantwortungsgefïhl, auch Fïhrungsqualitten.«1 So urteilte der Historiker Walter Laqueur (geboren 1921) îber seine Zeit in der Jugendbewegung in Breslau.2 In seinen Erinnerungen beschreibt er die wçchentlichen Aktivitten, die Erlebnisse auf den Sommerfahrten und ein besonderes Gefîhl der Sicherheit und Freiheit, resultierend aus den Gemeinschaftserfahrungen in der Jugendgruppe. Einerseits Teil einer individuellen Biographie steht Laqueurs Sichtweise zugleich andererseits auch exemplarisch fîr die Erinnerungs- und Erfahrungsgeschichte der Jugendbewegung insgesamt. Wie er schtzten viele ehemalige Mitglieder der Jugendbewegung diese Zeit ihres Lebens als eine besondere Phase ein, nicht nur weil es der Zeitraum ihrer Jugend und ihres Erwachsenwerdens war, der nahezu zwangslufig eine bedeutende Etappe bei der Identittssuche im Leben eines Menschen darstellt, sondern weil darîber hinaus die Mitgliedschaft in einer besonderen Gruppe und die Erfahrung der Teilhabe an einem distinkten Gruppenerlebnis eine neuartige Wertschtzung der eigenen Person bewirkten. In dieser entwicklungspsychologisch zentralen Zeit und der in mentalittshistorischer Perspektive prgenden Phase wurden die Jugendlichen in den Gruppen der Jugendbewegung zu jener Person, die sie in vielfacher Hinsicht fîr den Rest ihres Lebens bleiben sollten. Die Zeit in der Jugendbewegung bedeutete nicht nur freie Zeit ohne Aufsicht 1 Walter Laqueur : Wanderer wider Willen. Erinnerungen 1921 – 1951, Berlin 1995, S. 106. 2 Laqueur ist nur ein Beispiel fîr spter prominent gewordene ehemalige Mitglieder der Jugendbewegung, z. B. zu nennen sind auch Werner T. Angress, Guy Stern, Herbert A. Strauss oder Norbert Elias. Breslau als eine der großen jîdischen Gemeinden – etwa neben Berlin und Frankfurt – in Deutschland war auch eines der Zentren der deutsch-jîdischen Jugendbewegung.

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der Eltern oder anderer erwachsener Autoritten wie der Schule; die gemeinsam verbrachten Wochenenden waren oft die kostbaren Hçhepunkte der Woche, die die individuellen Zeitçkonomien der Jugendlichen miteinander verknîpften und so die Bildung einer jenseits der familiren und schulischen Herrschaftsrume angesiedelten, kollektiv geteilten Erlebnisstruktur ermçglichten. Hinsichtlich dieser im weitesten Sinne funktionellen Bedeutung gab es viele øhnlichkeiten zwischen der deutschen und der (deutsch-)jîdischen Jugendbewegung. Wanderungen und Fahrten, das Ideal eines naturnahen und einfachen Lebens, der Versuch der Erprobung neuer Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens und die Utopie der Schaffung eines neuen Menschentums waren nur einige dieser Bestandteile. Werner Rosenstock beschreibt dieses nur schwer eindeutig in Worte fassbare Gefîhl, Teil einer alternativen und vom gngigen bîrgerlichen Habitus unterschiedenen Lebenspraxis zu sein, 1936 rîckblickend folgendermaßen: »Man empfand Jungsein als Wert eigener Art, man fïhlte sich nicht irgendeiner Partei oder Weltanschauungsgruppe verhaftet, sondern einer weitumspannenden Bewegung der gesamten jungen Generation. […] Man wïrde diese Bewegtheit in ihrem Eigenwert unterschtzen, wollte man sie einfach als ›Sturmund Drangzeit‹, die angeblich jeder Mensch und jede Generation durchlebt, abtun. Stïrmer und Drnger anderer Epochen haben sich meist bestehenden revolutionren, auf bestimmte Teilziele ausgerichteten Bewegungen angeschlossen. Hier aber stellte eine Jugend als Jugend Forderungen auf. […] Man empfand sich nicht als Trger einer bestimmten jïdischen Weltanschauung, sondern als Jugendbewegung jïdischen Milieus.«3 Doch was bedeutete die von der Geschichtswissenschaft als bîrgerliches und großstdtisches – in der konkreten Ausgestaltung aber antistdtisch und antibîrgerlich auftretendes – Phnomen verortete Jugendbewegung fîr die Identittsbildung junger (jîdischer) Menschen im Wilhelminischen Kaiserreich und in der Weimarer Republik im Hinblick auf ihre kulturelle und soziale Selbstverortung innerhalb des allgemeinen Wertekanons der damaligen Zeit? Asher Ben-Natan (geboren 1921, und in den 1960er Jahren israelischer Botschafter in der BRD) erinnert sich mit folgenden Worten an seine Zeit in der zionistischen Jugendbewegung in Wien zu Beginn der 1930er Jahre: »Ich war nie sehr religiçs, aber meine jïdische Identitt war mir schon frïh bewusst und sehr wichtig. Mit der Zeit war der Maccabi Hatzair mein zweites Zuhause, eine ernsthafte Konkurrenz fïr Familie und Schule. Hier war das 3 Werner Rosenstock: Vom Werden einer Generation. Aus der Entwicklung der jîdischen Jugendbewegung, In: Der Morgen 12 (1936), S. 349 – 358, hier S. 351 – 352.

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Kollektiv wichtiger als das Individuum, die Gemeinschaft stand ïber der Familie, der Dienst in ihr war uns viel wertvoller und bedeutungsvoller als irgendein egoistisches Streben nach persçnlichem Erfolg. Zweifellos hat diese Erziehung mein spteres Leben wesentlich beeinflusst.«4 Mit dieser Aussage steht Asher Ben-Natan stellvertretend fîr viele Ehemalige der deutsch-jîdischen Jugendbewegung: Immer wieder artikulierten sie die Vorstellung, dass die Familie als zentraler Ort der Sozialisation, als Platz der Vermittlung des Einzelnen mit der Gesellschaft durch die Jugendgruppe zwar nicht vçllig verdrngt, aber doch um den wichtigen Aspekt gleichaltriger Gemeinschaftlichkeit erweitert werden sollte. øhnliches zeigt auch der folgende Auszug eines bereits 1916 in Martin Bubers Zeitschrift »Der Jude« verçffentlichten Textes von Moses Calvary (1876 – 1944)5 : »Wenige Formen binden so stark wie tage- oder wochenlange gemeinsame Wanderschaft. Hier entsteht ein Gemeinschaftsbewußtsein […] Gemeinsame Erlebnisse, gegenseitige Hilfe in gemeinsamen Nçten, das Gefïhl einer gemeinsamen Idee zu dienen: das alles kettet die jugendlichen Menschen aneinander und an das Judentum, das sie zusammenschließt. […] Im Wandern und durch das Wandern sich seines Judentums bewußt werden, das bedeutet eine Vertiefung des Gemeinschaftslebens, die schon heute in der wandernden Jugend den Wunsch erzeugt hat, sich des historischen Judentums zu bemchtigen: sie lernt hebrisch, sie will Feste erneuen, sie beginnt, sich in die Geschichte des Judentums zu vertiefen.«6 Diese Aktivitten, verstanden als eine sich wiederholende Aktualisierung geteilter Gemeinsamkeit, waren ohne Zweifel dazu geeignet, ein neues und eigenstndiges Konzept einer jîdischen Identitt der Jugend in Deutschland auszuprgen: In der kommunikativen (Wieder-)Aneignung der Tradition des Judentums bemchtigten sich die jîdischen Jugendlichen zugleich ihrer ›Herkunftsgeschichte‹ und verstrkten so im gemeinsamen Umgang mit den historischen Erzhlungen des Judentums das Gefîhl der Eigenstndigkeit ihrer jugendbewegten Gruppe. Genau diesen, auf die Elemente ›Jugend‹ und ›Judentum‹ perspektivierten Mechanismus einer vor dem Hintergrund der nichtjîdischen Umgebungsgesellschaft vollzogenen Identittsbildung hatte etwa Moses Calvary im Blick, als er die These aufstellte, so etwas wie jîdische Identittsbildung sei îberhaupt nur in der Jugendbewegung mçglich gewesen: 4 Asher Ben-Natan: Die Chuzpe zu leben. Stationen meines Lebens, Dîsseldorf 2003, S. 14. 5 Moses Calvary war »Blau-Weiß«-Fîhrer in Breslau. 6 Moses Calvary : Blau-Weiß. Anmerkungen zum jîdischen Jungwandern, in: Der Jude (1916), S. 451 – 457, hier S. 452.

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»Denn es gilt, die ganze jïdische Jugend, unabhngig von irgendeiner Parteizugehçrigkeit, zu einem offenen, gesunden, seines Eigenwertes bewussten, jeder Vorstellung und jeder Duckmuserei abgewandten Stil des Lebens zu erziehen: Das aber ist nur in jïdischen Jugendbïnden mçglich. Und ist im besonderen die Aufgabe eines Wanderbundes.«7 Die ausgewhlten Zitate ermçglichen einen ersten Einblick in die Gefîhls- und Stimmungslage der Jugend jener Zeit wie auch in die nachgelagerten Vergegenwrtigungsprozesse der sich spter an diese prgenden Lebensjahre erinnernden erwachsengewordenen ›Jugendbewegten‹. Im Folgenden gilt es, diesem nur schwerlich greifbaren Lebensgefîhl und den damit verbundenen dauerhaften Einstellungen, Erfahrungen und Erinnerungen etwas nher auf die Spur zu kommen.8 Jugendbewegung und Zionismus sind neben all den anderen nach 1900 geradezu inflationr entstehenden kulturellen Reformprogrammen und -bewegungen nur zwei der mçglichen neuen und eigenen Wege auf der Suche nach »Identitt« im krisenhaften Klima der Sptphase des Wilhelminischen Kaiser7 Ebd., S. 457. 8 Vgl. Daniel L. Schacter : Wir sind Erinnerung. Gedchtnis und Persçnlichkeit, Reinbek bei Hamburg 2001, bes. S. 23 und S. 156: »Was uns in der Vergangenheit zugestoßen ist, entscheidet darîber, was wir aus dem Strom der tglichen Ereignisse herausgreifen und behalten. Erinnerungen halten fest, wie wir Ereignisse erlebt haben, sie sind keine Kopien dieser Ereignisse. Erfahrungen sind in Gehirnnetzwerken kodiert, deren Verbindungen bei frîheren Auseinandersetzungen mit der Welt angelegt worden sind. Dieses bereits vorhandene Wissen beeinflusst entscheidend, wie wir neue Erinnerungen kodieren und speichern, und prgt damit die Natur, Textur und Qualitt dessen, an was wir uns spter erinnern.« (S. 23) und weiter: »Psychologen sind zu der Erkenntnis gelangt, dass die komplexe Mischung, die unser persçnliches Wissen um unsere Vergangenheit darstellt, zu Lebensgeschichten und persçnlichen Mythen verflochten werden. Dies sind die Biographien des Ichs, die mit einer erzhlerischen Kontinuitt Vergangenheit und Zukunft verknîpfen – ein Erinnerungsfundus, der Kern der persçnlichen Identitt ist. Der Psychologe Dan McAdams, einer der entschiedensten Verfechter der Hypothese, dass Lebensgeschichten eine entscheidende Rolle in Kognition und Verhalten spielen, unterstreicht, dass auch diese auf einer hçheren Ebene angesiedelten Erinnerungen Konstruktionen sind: »Wie sich ein Leben entfaltet, offenbart sich eher durchs Erzhlen als durch die erzhlten konkreten Ereignisse. Geschichten sind keine ›Chroniken‹, nicht die Aufzeichnungen, die sich ein Schriftfîhrer whrend einer Sitzung macht, um spter genau darlegen zu kçnnen, was sich wann zugetragen hat. In Geschichten geht es weniger um Fakten als um Bedeutungen. Beim subjektiven und beschçnigten Erzhlen wird die Vergangenheit konstruiert – Geschichte wird hergestellt.« (S. 156) Harald Welzer kommt sogar zu der Behauptung, dass das, an was wir uns erinnern, weniger mit der Vergangenheit zu tun hat, als vielmehr mit der Gegenwart und der Bewltigung der Gegenwart und der Orientierung in der Gegenwart. Auch mîssen die erinnerten Ereignisse nicht unbedingt dem sich erinnernden Menschen widerfahren sein, sondern kçnnen ›irgendwie‹ erfahren, beobachtet oder gehçrt worden und in den persçnlichen ›Erfahrungsschatz‹ îbergegangen sein. Vgl. Martina Keller : »Das ganze Leben ist eine Erfindung«, in: Die Zeit (2004), Nr. 13 (18. 03. 2004), S. 42 sowie: Im Gedchtniswohnzimmer, Gesprch mit Harald Welzer, in: Die Zeit, Sonderbeilage (2004), Nr. 14, S. 43 – 46.

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reichs und der Weimarer Republik.9 Teilweise bedingten sie – Jugendbewegung und Zionismus – sich gegenseitig, teilweise schlossen sie sich aus. Inwieweit entwickelt sich aus der hier nur in Umrissen skizzierten gesellschaftlich-historischen Situation eine spezielle jîdische Idee von Identitt innerhalb der Jugendbewegung? Zwei Hauptstrnge entstanden innerhalb des Spektrums der deutsch-jîdischen Jugendbewegung, die sich im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts an der ebenfalls noch jungen, zumeist bîrgerlichen und großstdtischen deutschen Jugendbewegung – dem »Wandervogel« – orientierte und wenig spter davon auch abgrenzte. Den Anfang machten die Zionisten mit dem »Blau-Weiß«, der 1912 gegrîndet wurde, zurîckgehend auf Vorlufer aus dem Jahr 1907. Zu Beginn gab es viele Gemeinsamkeiten mit dem »Wandervogel« – was schon fast wieder merkwîrdig erscheint: Wie konnten sich junge Zionisten am deutschen Wandervogel orientieren? Dies ist nur eines von vielen Beispielen fîr das Dilemma der deutsch-jîdischen Jugendlichen, die glaubten, sich stets rechtfertigen zu mîssen fîr die zunchst meist von außen an sie herangetragenen Zuschreibungen von Deutschtum und Judentum. Das deutsch-jîdische Selbstverstndnis der Jugendlichen wurde von der Umgebungsgesellschaft infrage gestellt und erzeugte so zustzliche, den alterspezifischen Konflikt mit der Elterngeneration îberlagernde Probleme der Selbstdefinition, die zwar einerseits durch die selbstlegitimatorische Wertschçpfung innerhalb der Jugendgruppe aufgefangen werden konnten. Andererseits aber entwickelten sich durch die voranschreitende und sich spter bis zur antisemitischen Anfeindung verschrfende Ausdifferenzierung der Jugendbewegung insgesamt neue Verunsicherungspotentiale. Im »Wandervogel« wurde diese Frage nach dem Verhltnis zwischen deutscher und deutsch-jîdischer Jugend erstmals im Mai 1913 am Beispiel des berîhmt-berîchtigten ›Zittauer Falls‹ zum Gegenstand allgemeiner Debatten: Das sich in Zittau ereignende Vorkommnis – einem jîdischen Mdchen wurde aufgrund antisemitischer Vorurteile die Aufnahme in eine Wandervogelgruppe verweigert – nahmen viele in deutsch-jîdischen Jugendorganisationen engagierte junge Leute zum Anlass, in grundlegender Weise îber das Verhltnis der deutschen zur deutsch-jîdischen Jugend nachzudenken.10 9 Vgl. hierzu Wolfgang J. Mommsen: Die latente Krise des Wilhelminischen Reiches: Staat und Gesellschaft in Deutschland 1890 – 1914, In: Ders., Der autoritre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur des deutschen Kaiserreichs, Frankfurt a. M. 1990, S. 287 – 315; Kerbs, Diethart/Linse, Ulrich: Gemeinschaft und Gesellschaft, in: Kerbs, Diethart/Reulecke, Jîrgen (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 – 1933, Wuppertal 1998, S. 155 – 159; Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalitt der klassischen Moderne, Stuttgart/ Weimar 1994; Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Klte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994. 10 Die Wandervogelfîhrerzeitung vom Oktober 1913, die sogenannte Judennummer erschien unter der ˜berschrift »Der Wandervogel deutsch« und publizierte antisemitische Beitrge.

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Als Reaktion auf diese Diskussionen wurden daraufhin auch die Abgrenzungsbestrebungen im »Blau-Weiß« strker.11 Doch in Vorfllen wie im Zittauer Ereignis alleine den Anstoß fîr die Grîndung spezifisch jîdischer Gruppen zu sehen, wîrde der jîdischen Jugendbewegung nicht gerecht werden. Zwar war die eher defensiv akzentuierte Betonung der jîdischen Herkunft als Reaktion auf die Ausgrenzungstendenzen der deutschen Gesellschaft ein wichtiger Impuls fîr die Vergemeinschaftung der jîdischen Jugendgruppen. Darîber hinaus hatte sich aber auch schon vorher in der Auseinandersetzung mit der jîdischen Tradition eine inhaltliche – von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich gewichtete – Programmatik entwickelt, die sich, schlagwortartig verdichtet, in der Propagierung eines neuen »jîdisches Menschentums«12 artikulierte und fîr einen offensiveren Umgang mit den eigenen jîdischen Wurzeln eintrat. Dennoch hatten aber gerade dieses Ereignis im »Wandervogel« und die anschließenden Diskussionen die jungen Zionisten im »Blau-Weiß« in ihrer Selbstsicht bestrkt, den richtigen Weg gewhlt zu haben. Als Reaktion auf die sich nach dem Ersten Weltkrieg und der Erfahrung der ›Judenzhlung‹ 1916 noch verschrfende antisemitische Agitation intensivierte sich innerhalb der nationaljîdischen Bînde wie dem »Blau-Weiß« die Tendenz, sich von der nach wie vor in jîdischen Kreisen massiv propagierten Assimilations- bzw. Integrationspolitik zu verabschieden und ein Leben in Erez Israel/ Palstina konkret vorzubereiten. So zielte die von vielen Jugendlichen durchlaufene »Hachschara« (hebrisch fîr : Ertîchtigung, Tauglichmachung) darauf ab, notwendige landwirtschaftliche Kenntnisse zu vermitteln, um so fîr ein Leben im Kibbuz vorbereitet zu sein. So hieß es im Jahre 1918: »Mit dieser Gemeinschaft treten wir Blauweiße in die Reihen der jïdischen Jugendbewegung. Wir wollen gleichermaßen von beiden Seiten her, durch Selbsterziehung und durch Dienst am Volke unser Ziel uns bauen, volles jïdisches Menschentum in und fïr Erez Israel.«13 In diesem Sinne hatte auch Walter Deutschmann aus Breslau schon im Februarheft von 1914 der Blau-Weiß-Bltter dazu aufgerufen, »die jîdische Jugend, d. h. in erster Linie uns selbst, umzugestalten.«14 Solche Selbsterziehung fand auf vielfltige Weise statt: So hielt etwa Karl Glaser die Mitglieder des »Jîdischen

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Vgl. Andreas Winnecken: Ein Fall von Antisemitismus. Zur Geschichte und Pathogenese der deutschen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, Kçln 1991. Auch gab es eine Debatte darîber, ob jîdische Kinder noch im Wandervogel bleiben sollen oder in neue jîdische Blau-Weiß-Gruppen eintreten sollten. R. Menzel-Waltuch: Blauweiß im Rahmen der jîdischen Jugendbewegung, in: Jerubbaal (1918), S. 80 – 82. Ebd., S. 82. Walter Deutschmann: Ein Kampf, in: Blau-Weiß-Bltter 1 (1914), No. 11, S. 1 – 2.

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Wanderbundes Blau-Weiß« 1914 unter dem Motto »Ein Schatz der Erinnerung […] der fîrs Leben reicht«15 dazu an, mithilfe von Zeichnungen und Fotografien die Wanderungen ihrer Gruppe zu reflektieren, das Sehen »mit eigenen Augen« einzuîben und nicht bloß Bekanntes zu kopieren. Wandern und Fotografie gehçrten seiner Meinung nach eng zusammen: »Der Photograph, der mit uns hinauszieht, wird bald verlernen, das Land ringsum mit Großstadtaugen anzusehen; leichter und schçner wird ihm der Sinn unseres Wanderns aufgehen.« Interessanterweise pldierte Karl Glaser schon 1914 dafîr, sich spter wieder an das Wandern einmal zu erinnern. Nicht genug damit, die Wanderungen bewusst und intensiv zu erleben: Die anzufertigenden Fotografien oder Zeichnungen sollten ein Bild-Reservoir bereitstellen, auf das man gerne zurîckgreifen mochte. Und tatschlich war es neben dem Gemeinschaftserlebnis vor allem die Schçnheit der Landschaft, die spter von vielen ehemaligen Jugendbewegten erinnert wurde. So gaben also die zeitgençssischen Autoren ihren jungen Lesern Hilfestellungen bei der schwierigen Identittssuche und strukturierten zugleich die kînftigen Erinnerungen der in der Jugendbewegung groß gewordenen Jugendlichen: Jugendbewegung, Identittssuche und zeichenhafte, ikonographische Erinnerung waren eng miteinander verknîpft; es scheint fast, als wîrden sich die in der Gruppe erwanderten Landschaften spter als Erinnerungsbilder in die ›mental maps‹ der Jugendbewegten eingeschrieben haben. Jehuda Steinbach, der im Alter von zwçlf oder dreizehn Jahren den »BlauWeiß«- Bundestag auf Schloss Prunn miterlebt und der dortigen politischen Neuformierung des »Blau-Weiß« zu einer ›Armee‹ beigewohnt hat, war sich aus der Rîckschau der Bedeutung seiner Mitgliedschaft im »Blau-Weiß« fîr sein Leben und die dort erfahrene Charakterstrkung durchaus bewusst: »Wir waren dann eben auch die ganzen Jahre in der zionistischen Jugendbewegung, und die hat uns, wie man so sagt, geformt und uns auch widerstandsfhiger gemacht fïr das, was die Juden dann in Deutschland erleiden mussten. Wir waren irgendwie seelisch gefestigt.«16 Zahlreiche positive øußerungen von Ehemaligen der Jugendbewegung, sowohl der deutschen als auch der deutsch-jîdischen Bewegung, belegen die prgende Wichtigkeit dieser Teilnahme und Zugehçrigkeit fîr ihr Leben und ihre per15 Karl Glaser : Was uns fehlt, in: Blau-Weiß-Bltter 1 (1914), No. 12, S. 1 – 3; 2 (1914), H.1, S. 4 – 6. Siehe auch den Beitrag von Ulrike Pilarczyk im vorliegenden Band. 16 Betten, Anne/Du-nour, Miryam (Hg.): Wir sind die Letzten. Fragt uns aus. Gesprche mit Emigranten der dreißiger Jahre in Israel, Gerlingen 1995, S. 92.

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sçnliche Entwicklung – auch noch, oder gerade wieder, in ihrer Erinnerung an diese Zeit viele Jahre spter. Arie Goral-Sternheim zog jedoch die Grenze, die nichtjîdische und jîdische Gruppen mehr und mehr trennte, weniger scharf: »So sehr man sich dem Jïdischen hingab, so sehr war man auch deutsch. Man verleugnete nicht das eine um des anderen willen und ließ nicht eines auf Kosten des anderen verkïmmern. Lebendige Jugendkultur kennt keine Grenzen, ist auch nicht bereit, Grenzziehungen und Ausgrenzungen anzuerkennen. Man war aber nicht ›deutsch‹ nach chauvinistischer Art. Als jïdische Jugend trennte man sich rechtzeitig von der deutschen Jugendbewegung, die nicht frei von antisemitischen Tendenzen war. Unsere jïdische Identitt schloß die humanistischdeutsche Kultur mit ein. Ebenso fïhlten wir uns internationalen Freiheitsbewegungen verbunden, ohne uns Dogmatismen anzupassen oder gar zu unterwerfen. Bei allen ideologischen Unterschieden, ja, auch Gegenstzen der in Bïnden organisierten jïdischen Jugend war allen gemeinsam der Kampf gegen Assimilation. Die deutsche und zumeist reaktionre Umwelt bewies uns, wie lebensnotwendig und kostbar unsere von jïdischen Kultur- und Geistesinhalten getragene jïdische Identitt war.«17 Ein weiterer, nicht weit von Goral-Sternheims Ausfîhrungen entfernter Zweig innerhalb der jîdischen Jugendbewegung in Deutschland entstand in der nichtzionistischen Gruppe der »Kameraden«(gegrîndet 1916).18 Diese vertraten eine dezidiert liberale deutsch-jîdische Perspektive und formulierten schließlich nach langen Debatten îber die Grundtendenz ihres Bundes die Idee eines ›deutsch-jîdischen Menschentums‹. Allerdings waren von Beginn an innerhalb der »Kameraden« unterschiedliche Gruppen beteiligt, was sptere Konflikte und Abspaltungen gewissermaßen vorprogrammierte:19 Hier sind sowohl die eher ›deutsch gesinnten‹, von den Pfadfindern oder Wandervçgeln herkommenden Mitglieder zu nennen, die mit entsprechendem Liedgut, mit der Klampfe, mit einfacher Kleidung und einer eher antiintellektuellen Ausrichtung des Gemeinschaftserlebens auftraten, als auch die eher jîdisch-liberalen mit religiçser ˜berzeugung sowie als dritte Gruppe die Befîrworter einer Synthese von Deutschtum und Judentum in starker Orientierung am »Centralverein« und in bewusster Abgrenzung zum zionistischen »Blau-Weiß«. In den 1920er Jahren kam es zu weiteren Abspaltungen: einerseits in eine 17 Arie Goral-Sternheim: Jeckepotz. Eine jîdisch-deutsche Jugend, Hamburg 1996, S. 170. 18 Vgl. die Studie von Bernhard Trefz: Jugendbewegung und Juden in Deutschland. Eine historische Untersuchung mit besonderer Berîcksichtigung des Deutsch-Jîdischen Wanderbundes ,Kameraden‹, Frankfurt a. M./Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1999. 19 Fîr die folgenden Angaben vgl. Ernst Markowitz: Die Kameraden, In: Jîdische Rundschau (1932), Nr. 45/46, S. 215 (8. 6. 1932)

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»deutsche«, andererseits in eine »jîdische« Richtung. Hermann Gerson orientierte sich dann wieder strker am Judentum und am Leben in Erez Israel/ Palstina (s. dazu den Beitrag von Irmgard Klçnne). Die von Gerson gegrîndeten »Werkleute« etwa waren maßgeblich am Kibbuz Hasorea beteiligt.20 Der »Schwarze Haufen«, ebenfalls aus den »Kameraden« hervorgehend und zunchst in Kçnigsberg um Hans Litten21 und Max Fîrst22 konzentriert, war dagegen eher sozialistisch und antibîrgerlich orientiert.23 Als weitere Gruppe ist das »Schwarze Fhnlein« zu nennen, dessen Mitglieder sich ausdrîcklich als Deutsche verstanden – der jîdische Glaube galt als Privatsache jedes einzelnen Mitglieds.24 Auch an dieser Stelle zeigt sich wieder die seit 1800 von vielfachen gesellschaftlichen Friktionen, Konvulsionen, aber auch Gemeinsamkeiten bestimmte »Beziehungsgeschichte« von »Juden« und »Deutschen«, die »eine gemeinsame Geschichte hatten, die nicht isoliert oder losgelçst voneinander betrachtet werden kann.«25 Die einzelnen Gruppen und Bînde der deutsch-jîdischen Jugendbewegung entwickelten eine fîr die Jugendbewegung insgesamt typische breite publizistische Aktivitt, die letztlich dem programmatischen Sendungsbewusstsein der »jungen Generation« geschuldet war und darîber hinaus die Funktion hatte, nach innen integrativ auf die eigenen Reihen einzuwirken. So entstanden in großer Zahl Zeitschriften fîr die Mitglieder und die Fîhrer der einzelnen Bînde. Der »Blau-Weiß« verçffentlichte, in Anlehnung an den Zupfgeigenhansl26 der »Wandervçgel«, auch ein eigenes Liederbuch: ˜ber vierzig Lieder finden sich als ›Schnittmenge‹ in beiden Liederbîchern.27 Wie groß die Nhe innerhalb der gesamten Jugendbewegung war, wird auch deutlich, wenn man die in den verschiedenen Publikationen verwendeten Illustrationen betrachtet. Ein gemeinsames Bildarchiv ist hier ebenso unverkennbar wie das in weiten Teilen gemeinsame Liedrepertoire; hier soll exemplarisch nur kurz auf die Titelbltter bzw. Illustrationen in den Liederbîchern des Wandervogels und des »Blau20 Hermann Gerson: Werkleute. Ein Weg jîdischer Jugend, Berlin 1935; Hermann Gerson: Vom Werden des Kreises, Berlin 1934. Gerson grîndete auch den »Kreis«. 21 Irmgard Litten: Eine Mutter kmpft gegen Hitler, Frankfurt a. M. 1984. 22 Max Fîrst: Gefilte Fisch und wie es weiterging, Mînchen 2004. 23 Vgl. Bergbauer, Knut/Schîler-Springorum, Stefanie: »Wir sind jung, die Welt ist offen…«. Eine jîdische Jugendgruppe im 20. Jahrhundert, Berlin 2002. 24 Vgl. Werner T. Angress: Generation zwischen Furcht und Hoffnung. Jîdische Jugend im Dritten Reich, Hamburg 1985; Carl J. Rheins: The Schwarzes Fhnlein, Jungenschaft 1932 – 1934, In: Leo Baeck Institute Year Book 23 (1978), S. 173 – 197. 25 Vgl. Julius H. Schoeps: Die mißglîckte Emanzipation. Wege und Irrwege deutsch-jîdischer Geschichte, Berlin 2002, S. 9 – 10. 26 Herausgegeben von Hans Breuer, erstmals Leipzig 1909, vielfach aufgelegt, beispielsweise 1922 in der 117. Auflage 27 Blau-Weiß-Liederbuch, hg. v. der Fîhrerschaft des Jîdischen Wanderbundes Blau-Weiß, Berlin 1914.

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Weiß« hingewiesen werden: Beide zeigen immer wieder den typischen Wanderer im Profil mit Gitarre. Ebenso gleichen sich die Illustrationen der Zeitschriften der verschiedenen Jugendbewegungen. Auch zu Fidus (= Hugo Hçppener)28 und seinem berîhmten, in verschiedenen Fassungen (die erste von 1890) seit dem Erscheinen der Postkarte zum Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner Okt. 1913 tausendfach verbreiteten ›Lichtgebet‹ und dem darin transportierten Kçrperideal als eine der Ikonen der Jugendbewegung lsst sich ein ikonographisch hnliches jîdisches Gegenstîck finden: Es ziert das Titelblatt des 1916 erschienenen Tagebuchs fîr jîdische Wanderer und ist auch im Tagebuch selbst noch einmal in hnlicher Form abgedruckt. Die Illustration des Titelblatts hat eher die Form eines Scherenschnitts bzw. Schattenbildes und ist schwarz ausgefîllt, die im Innenteil abgebildete Zeichnung ist sozusagen das feinere Pendant als Positiv : Es zeigt die androgyne Figur des ›Lichtgebets‹ mit Flîgeln nur im Umriss. Diese Zeichnungen stammen von der »Blau-Weiß«-Fîhrerin Kte Ephraim aus Breslau. ˜brigens wird auch im Textteil von Joseph Marcus29 auf die Nhe zum »Wandervogel« und dessen Vorbildfunktion fîr den »Blau-Weiß« hingewiesen.30 Bevorzugte Publikationsmedien waren in erster Linie die internen Zeitschriften der jeweiligen Bînde.31 Doch man nutzte darîber hinaus auch Zeitungen und Zeitschriften mit einer breiteren, nicht dezidiert jîdisch-jugendbewegten Adressatengruppe, um dort Themen zu erçrtern, die îber die eigentliche Gemeinschaftsarbeit hinausreichten. So ging es Autoren, die sich an Beilagen und Sonderseiten fîr Jugendliche beteiligten, immer wieder um Fragestellungen, die die Situation der jîdischen Jugend in Deutschland und die Organisationen der jîdischen Jugendbewegung und Jugendpflege betrafen. Dabei reicht das Spektrum von der zionistisch ausgerichteten Jîdischen Rundschau (1902 – 1938) bis zur »Central-Verein-Zeitung« (1922 – 1938, zuvor unter dem Titel »Im deutschen Reich« 1895 – 1922), einem offiziellen Organ des 1893 gegrîndeten »Centralvereins deutscher Staatsbîrger jîdischen Glaubens«, die sich in ihrer Berichterstattung sowie auch in der Themenwahl unterschieden. Dominierten in der Jîdischen Rundschau die Anteilnahme am Schicksal des »Blau-Weiß« als prominenter zionistischer Gruppe und das Interesse am Leben 28 Vgl. Frecot, Janos/Geist, Johann Friedrich/Kerbs, Diethart: Fidus 1868 – 1948. Zur sthetischen Praxis bîrgerlicher Fluchtbewegungen, Hamburg 1997. 29 Herausgeber des Tagebuchs und ebenfalls »Blau-Weiß«-Fîhrer. 30 Tagebuch fîr jîdische Wanderer, Wien 1916. 31 Beispielsweise Blau-Weiß-Bltter, Blau-Weiß-Fîhrerzeitung, Kameraden. Verbandszeitschrift des Jugendverbandes jîdischer Deutscher Kameraden, Jîdische Jugendbltter (Esra), und viele mehr. Zur Publikationslandschaft insgesamt vgl. auch Vçlpel, Annegret/Shavit, Zohar : Deutsch-jîdische Kinder- und Jugendliteratur. Ein literaturgeschichtlicher Grundriß, Stuttgart 2002.

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in Palstina, widmete sich die »Central-Verein-Zeitung« eher den auf das Leben in Deutschland bezogenen Zielen und Aktivitten der deutsch-jîdischen »Kameraden« und der deutsch-jîdischen Jugend insgesamt.. Auch Vordenker der jîdischen Jugendbewegung, Ideen- und Stichwortgeber wie etwa Martin Buber (1878 – 1965) oder Siegfried Bernfeld (1892 – 1953) trugen nicht zuletzt in den von ihnen herausgegebenen Zeitschriften »Der Jude« (1916 – 1928) und »Jerubbaal« (1918/19) ebenfalls zur Diskussion um jîdische Jugend und jîdische Identitt bei.32 Fîr die jîdischen Jugendlichen in der Jugendbewegung, meist Kinder assimilierter Eltern in Deutschland, bildeten die ›deutsche Kultur‹ – oft erwhnt wird auch die Liebe zum ›deutschen Wald‹33 – und die deutsche Sprache einen wichtigen Hintergrund, der einerseits innerhalb der Jugendbewegung eine Rolle spielte wie andererseits bei der spteren Emigration und dem Zusammentreffen mit anderen Emigranten und Einheimischen in Palstina – oder einem anderen Zufluchtsland –, aber auch bei der Auseinandersetzung mit einer neuen und ganz anderen Landschaft und Natur als der zuvor in Deutschland kennengelernten.34 Die Identittssuche der jîdischen Jugendlichen in Deutschland vollzog sich also innerhalb des Spektrums der deutschen Gesellschaft zwischen Akzeptanz und Antisemitismus und zugleich im Spannungsfeld der Auseinandersetzung mit einer jîdisch-bîrgerlich-assimilierten Elterngeneration. Gershom Scholem spricht in diesem Zusammenhang von »Selbstbetrug«35, denn die deutsch-jîdischen Jugendbewegten htten meist aus (bildungs-)bîrgerlichen Kreisen mit deren Abgrenzung wie auch Anlehnung der deutschen bîrgerlichen Jugendbewegung gestammt. Die verschiedenen Bewegungen suchten die Antworten auf die im Alltag immer wieder erlebten Probleme des eigenen Pariatums auf unterschiedliche Weise. Im Zionismus mit dessen Vorbereitung auf die Auswanderung nach Erez Israel / Palstina erblickten viele einen Ausweg. Gleichzeitig sahen die nichtzionistischen Gruppen ihre Zukunft eindeutig in Deutschland – zumindest bis zum Jahr 1933: »1933 war jedoch ein sehr großer Einschnitt, wenn 32 Vgl. auch Anatol Schenker : Der Jîdische Verlag 1902 – 1938. Zwischen Aufbruch, Blîte und Vernichtung, Tîbingen 2003, S. 192 – 217. 33 »Mit der Klampfe durch den Kçnigsforst« WDR 04. 07. 1999, Erinnerungen von Sha’ul Treidel (geboren 1914); Uri Avnery (geboren 1923), S. 23 – 45, In: Ingrid Wiltmann: Lebensgeschichten aus Israel. Zwçlf Gesprche, Frankfurt/Main 1998, hier S. 24 34 »Es ist selbstverstndlich, daß die Fden, die den jugendlichen jîdischen Menschen mit seiner Umgebung verknîpfen, zahlreich sind. Er hat gemeinsam mit seinen andersglubigen Kameraden jene deutsche Allgemeinbildung in sich aufgenommen, die ihm in seiner Haltung und Einstellung Formen eingibt, von denen er sich nur schwer lçsen kann.« Bruno Mintz: Zur Mentalitt der jîdischen Jugend in Deutschland I, In: Jîdische Rundschau 32 (1927), Nr. 31/32, S. 230. 35 Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen, Frankfurt a. M. 1997, S. 30.

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man geglaubt hat, deutsch zu sein und jîdischer Religion.«36 Die jîdischen Jugendlichen befanden sich also in einem mehrfachen Dilemma: Nicht nur hatten sie, wie ihre deutschen Altersgenossen, viele Auseinandersetzungen mit ihren Eltern und in der Schule auszutragen; darîber hinaus mussten sie in einer zunehmend feindlicher werdenden Atmosphre Wege finden, ihre Zugehçrigkeit – die ihnen immer hufiger verweigert wurde – zur deutschen Gesellschaft und ihre Verwurzelung darin zu zeigen und zu begrînden. Zur jîdischen Identittsfindung gehçrte oft auch das Erlernen der hebrischen Sprache. In den »Blau-Weiß«-Blttern wurde immer wieder auf die Bedeutung des Hebrisch-Lernens hingewiesen, und es wurden Anregungen zum leichteren Einîben der Sprache, beispielsweise in Gruppenarbeit, gegeben.37 Einerseits diente dies als praktische Vorbereitung fîr die »Alija«; andererseits war es ein Zeichen fîr eine eigenstndige jîdische Tradition und Kultur, die in Deutschland fîr die assimilierten Jugendlichen erst wieder neu hergestellt werden musste.38 Die Jugendbewegung war dabei in besonderer Weise dazu in der Lage, den Jugendlichen Angebote zu machen, die sie als sinnstiftend und identittsbildend ansehen konnten. Dies gilt fîr das gesamte Spektrum der jîdischen Jugendbewegungen in Deutschland, sei es bei den »Kameraden«, die grundstzlich auch nichtjîdische Mitglieder in ihren Bund aufnahmen, oder im Rahmen der zionistischen Bînde, die sich frîhzeitig fîr eine bewusste rumliche Abkehr von der deutschen Gesellschaft entschieden (sich dennoch um eine Akzeptanz des deutschen kulturellen Hintergrunds bemîhten), ihre Zukunft in Erez Israel / Palstina sahen und daran arbeiteten, dieses Ideal zu verwirklichen. Sie nahmen mit dieser Arbeit eine wichtige Vorreiterposition ein – etwa fîr Initiativen wie die Jugend-Alija von Recha Freier, die ab 1933 Jugendliche auf »Hachschara« schickte und die Alija organisierte.39 In verschiedenen Kibbuzgemeinschaften in Israel versammelten sich dann viele ehemalige Mitglieder der Jugendbewegung seit ihrer Einwanderung in den 1920er oder 1930er Jahren. Die gelebten Ideale ihrer Jugendzeit hinterließen Spuren bei vielen von ihnen, auch denjenigen, die das Kibbuz nach einer gewissen Zeit wieder verlassen haben, wobei sich insgesamt bestimmte Verhaltensstandards und Einstellungsmuster – etwa ein oft lebenslanges besonderes

36 So ußert sich Ruth Tauber in einem Interview, vgl. Betten/Du-nour : Wir sind die Letzten, 1995, S. 86. 37 Alex Feig: Wie lernt man Hebrisch? in: Blau-Weiß-Bltter 5 (1916), H. 5, S. 107 – 111. 38 Vgl. Hermann Gerson: Werkleute. Ein Weg jîdischer Jugend, Berlin 1935. 39 Vgl. die Ausstellung im Jîdischen Museum Frankfurt a. M. und den gleichnamigen Katalog »Rettet die Kinder!« Die Jugend-Aliyah 1933 bis 2003. Einwanderung und Jugendarbeit in Israel.

Identittssuche und Erinnerungsikonographie

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soziales Engagement – beobachten lassen, die eine gruppen- bzw. generationsspezifische Verallgemeinerung erlauben.40 Fîr diejenigen ehemaligen Jugendbewegten jîdischen Glaubens, die nach Israel kamen, bot sich in der dauerhaft oder auch nur zeitweise praktizierten Gemeinschaftsform im Kibbuz eine Mçglichkeit, das Lebensgefîhl ihrer Jugendzeit und der in der Jugendbewegung gebildeten spezifischen Identitt (vielleicht gerade) îber die Emigration hinaus fortzufîhren. Angesichts dieser Perspektive kam etwa Chaim Seeligmann zu dem Ergebnis »daß die in den verschiedenen Jugendbewegungen und Jugendbînden entwickelten Ideale in der Lebensform des Kibbuz eine reale Verwirklichung fanden und finden.«41 Die Zeit in der Jugendbewegung hat so oft zu einer lebenslang wirkenden Form der Identittsfindung und Persçnlichkeitsentwicklung beigetragen, denn gerade die Jugendbewegung in ihren verschiedenen Formen hatte es den jungen Menschen ermçglicht, ein Gefîhl der Kameradschaft zu erleben sowie die eigene Individualitt und Identitt auszuformen und zu behaupten. Aus der Jugendbewegung und der dort erfahrenen Gemeinschaft transportierten die deutsch-jîdischen Jugendlichen in Deutschland oftmals nur solche Erfahrungen, an die sie sich aus der Rîckschau positiv erinnerten. Wie unterschiedlich die einzelnen Lebenswege nach der Emigration auch verlaufen sein mçgen: Diese gemeinsamen Sichtweisen, die Erinnerungskultur und Identittsbildung in der deutsch-jîdischen Jugendbewegung wurden zu einem verbindenden und oft auch bestimmenden Element in der Erinnerung vieler deutschen Juden in Israel.

40 Vgl. z. B. Ingrid Wiltmann: Lebensgeschichten aus Israel. Zwçlf Gesprche, Frankfurt a. M. 1998, vgl. auch die von Jutta Hetkamp gefîhrten Interviews: Jutta Hetkamp: Die jîdische Jugendbewegung in Deutschland von 1913 – 1933, Mînster 1994. 41 Chaim Seeligmann: Die Jîdische Jugendbewegung und die Kibbuzbewegung, in: Melzer, Wolfgang/ Neubauer, Georg (Hg.): Der Kibbuz als Utopie, Weinheim/Basel 1988, S. 70 – 85, hier S. 77.

Irmgard Klçnne

Jugendbewegung und Realittserfahrung: Von der deutsch-jïdischen Jugendbewegung zur Kibbuzgesellschaft

Jugendbewegung, Jugendkultur und Jugendmythos Einleitend ein Zitat, das einer 1982 verfassten autobiografischen Aufzeichnung von Menachem/Hermann Gerson entnommen ist. Gerson, eine charismatische Fîhrergestalt in der deutsch-jîdischen Jugendbewegung, war zeitweilig der Bundesfîhrer des deutsch-jîdischen Wanderbundes »Kameraden« und spter der »Werkleute«. »Die Freideutsche Jugend will vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit, nach eigener Bestimmung ihr Leben gestalten. Fïr diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umstnden geschlossen ein. Alle Veranstaltungen der freideutschen Jugend sind alkohol- und nikotinfrei.«1 Bei diesem Zitat handelt es sich um jene sogenannte Meißnerformel, die 1913 bei einem Treffen im idyllischen hessischen Hîgelland von Vertretern des »Wandervogel« und verschiedener weiterer Jugendbînde als gemeinsames Motto angenommen wurde. Gerson schreibt, dass dies die »reprsentative Formulierung des geistigen Inhalts der deutschen Jugendbewegung« gewesen sei. Das bedeutet auch: Die Unbestimmtheit dieses Leitsatzes und seine individualistische Zielrichtung machten ihn verfîgbar fîr die unterschiedlichsten Interpretationen. Dennoch: Peter Stachura folgend, lsst sich die Meißnerformel begreifen als »a dramatic, even revolutionary proclamation which asserted youth’s demand to be recognised as an independent estate entitled to self-determination and responsibility. The formula encapsulated the quintessence of the Wandervogel 1 Menachem Gerson: Eine Jugend in Deutschland, Typoskript, Archiv von Hasorea, Akte Menachem Geson, 93/74/IV, S. 17. Siehe dazu auch den Beitrag von Jîrgen Reulecke im vorliegenden Band.

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spirit and it became a symbol of the free youth movement’s sense of mission and freedom as well as acting as an inspiration for the future.«2 Die praktische Grundlage dieses Mythos der Jugendbewegung war deren damals neuer Lebensstil, die kleine Gruppe ›auf Fahrt‹, die sich abseits von Schule und Elternhaus ihr eigenes Jugendreich schuf. Die »bewegende Mitte«3 dieser Jugendkultur war das Erlebnis der Gemeinschaft in einer ›erlesenen‹ und durch gegenseitige Sympathie getragenen Gruppe. Menachem Gerson meint in seinen Erinnerungen, die jugendbewegten Gruppen seien durchdrungen gewesen von dem »berauschenden Erlebnis der Besonderheit und Kraft der Jugend, das sie auf ihren romantischen Fahrten in Deutschlands Wldern fand.«4 Festliche Hçhepunkte im Bundesleben bildeten die jhrlichen Bundestage. Hier feierten die Jungen und Mdchen sich selbst und ihre Zugehçrigkeit zur Bundesgemeinschaft. Das ›große Erlebnis der Bundestage‹ gipfelte nach Gerson im »gemeinsamen Aufmarsch zum Feuer, an dem jedes Jahr der Bundesleiter Stefan Georges feierlichen Spruch sprach: ›Wer je die Flamme umschritt, bleibe der Flamme Trabant‹.«5 Solche emotionalen Prgungen, die mit einem starken Gefîhl der Auserwhltheit verbunden waren, erhielten eine gewissermaßen ›rationale‹ Grundlegung durch Gustav Wynekens Begriff der ›Jugendkultur‹. Wyneken, Grînder der Reformschule »Freie Schulgemeinde Wickersdorf« und Redner auf dem Meißnerfest 1913, wahrscheinlich auch Mitverfasser der dort verabschiedeten Leitstze, war der Jugendbewegung eng verbunden. In seinen Schriften6 mutete er der Jugend eine spezifische kulturelle Aufgabe zu. Noch nicht durch die Zwnge des Berufslebens moralisch verbogen, trachte sie stets nach dem »Letzten« und »Unbedingten«.7 Insofern sei die Jugendzeit nicht lediglich ›Vorbereitungszeit‹; vielmehr habe die Jugend »ihre eigene Schçnheit und infolgedessen auch das Recht auf ein eigenes Leben, auf die Mçglichkeit der Ent2 Peter Stachura: The German Youth Movement 1900 – 1945, London 1981, S. 33. 3 Hermann Mau: Die deutsche Jugendbewegung, Rîckblick und Ausblick. In: Pdagogik, Heft 7, Berlin 1947, S. 401. 4 Menachem Gerson: Eine Jugend, S. 21. 5 Ebd., S. 18; Stefan George: Der Stern des Bundes, 1914, Drittes Buch, S. 78. 6 Gustav Wyneken: Schule und Jugendkultur, Eugen Diederichs Verlag Jena 1919; und: 7 Gustav Wyneken: Der Gedankenkreis der Freien Schulgemeinde, Eugen Diederichs Verlag Jena 1919, S. 6; als Beispiel dafîr, dass Wyneken mit seinen Ideen durchaus die Gedankenwelt der Jugendbewegung traf, sei hier aus einem Bericht îber den Bundestag des »Schwarzen Haufens« 1927 zitiert: Dort heißt es: »Jugend hat den Willen zum Unbedingten, aber auf dem Weg zum Unbedingten liegt das Ding und mit dem mîssen wir fertig werden.« Zitiert nach Knut Bergbauer, Stefanie Schîler-Springorum: »Wir sind jung und die Welt ist offen…« Eine jîdische Jugendgruppe im 20. Jahrhundert. Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung in der Gedenk- und Bildungssttte Haus der Wannsee-Konferenz 2002, hgg. Von Norbert Kampe, Gedenk- und Bildungssttte Haus der Wannsee-Konferenz.

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faltung ihrer besonderen Art.«8 Wyneken definierte die reformerische Schule als jene Sttte, »wo der Geist und die im Geist noch junge Menschheit zusammenkommen.« In der Jugendbewegung sah er einen Ort, an dem die Jugend ihre »Nhe zum Dienst am Geist«9 entfalten kçnne. Dieser Diskurs war prgend auch fîr die jîdischen Jugendbînde in Deutschland. Viele junge Menschen, die in diesen Bînden sozialisiert waren, wurden zu Aktivisten sozialer und politischer Gruppierungen, die sich in den Gang der Geschichte einmischten – von der revolutionr gestimmten Linken bis zu kommunitren Projekten. Der Jugendmythos bildete auch einen Impuls der Kibbuzbewegung, in der viele aus der Jugendbewegung kommenden jungen Menschen die dort erfahrenen Werte und sozialen Utopien eines Lebens in Gemeinschaft in reformerische Praxis umzusetzen trachteten.

Die jïdische Jugendbewegung im Kontext von Jugendgeschichte und Politik der 1920er und 1930er Jahre in Deutschland øhnlich wie viele andere Bînde der deutschen Jugendbewegung wurden auch die meisten jîdischen Bînde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von interessierten Erwachsenengruppen als Jugendvereine gegrîndet, die vor allem der Jugendpflege dienen sollten. Innerhalb kurzer Zeit îbernahmen alle diese Bînde die Lebensformen des »Wandervogel«. Die Gruppen gingen ›auf Fahrt‹ und trafen sich zu den wçchentlichen Heimabenden. Und hnlich wie in den anderen Bînden der Jugendbewegung waren auch die Ideenwelten der jîdischen Jugendbînde getragen von der Hoffnung auf ein ›neues‹ Leben und eine ›neue‹ Gesellschaft, gerichtet gegen ›Doppelmoral‹ und bîrgerliches Statusdenken der erstarrten Gesellschaft des Kaiserreiches. Beinhaltete dies fîr die christlichkonfessionellen Jugendbînde die Kritik an entleerten kirchlichen Ritualen und die Suche nach einer eigenen spirituellen Unmittelbarkeit, so lehnte die jîdische Jugend vor allem die deutsch-bîrgerliche ›Assimilation‹ ihrer Elterngeneration ab und suchte nach einer neuen jîdischen Identitt. Insofern gilt, dass die jîdische Jugendbewegung in ihren Denkmustern und in ihrem Agieren und Reagieren im Zusammenhang von Politik und Kultur der 1920er Jahre ebenso »deutsch« war wie jeder andere Bund der klassischen deutschen Jugendbewegung. Dies trifft nicht nur auf die explizit deutsch-jîdisch ausgerichteten Bînde wie etwa die »Kameraden« oder den »Ring. Bund deutschjîdischer Jugend« (ab 1936 »Ring. Bund jîdischer Jugend«) zu, sondern auch fîr die Nachfolgebînde der »Kameraden«: die »Werkleute«, die »Freie deutsch8 Gustav Wyneken: Der Gedankenkreis, S. 10. 9 Ebd., S. 7.

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jîdische Jugend« (FDJJ) oder das »Schwarze Fhnlein«. Es gilt aber auch fîr alle anderen jîdischen Bînde, unabhngig davon, ob sie sich als ›zionistisch‹ verstanden wie der »Blau-Weiß« oder ›chaluzisch‹, wie der »Kadima« und der »Brith Haolim«, die nach dem Zusammenschluss mit dem »Jung-jîdischen Wanderbund« (JJWB) zum »Habonim Noar Chaluzi« wurden, und ebenso fîr den religiçs gesetzestreuen »Esra«. Die Mitglieder dieser Bînde kamen ganz îberwiegend aus westjîdischen Familien und verfîgten damit îber hnliche jugendkulturelle Sozialisationsmuster und Vorstellungen wie die Mitglieder anderer deutscher Jugendbînde. Eine Ausnahme bildete der marxistisch orientierte Chaluz-Bund »Haschomer Hazair«. Wenngleich auch hier die maßgeblichen Fîhrer und Fîhrerinnen westjîdischen Familien angehçrten,10 stammten die Mitglieder mehrheitlich aus ostjîdischen Elternhusern. Viele dieser Kinder und Jugendlichen waren schon in Deutschland geboren und mit der deutschen Kultur vertraut, besaßen jedoch nicht die deutsche Staatsbîrgerschaft. Diese Tatsache und die Zugehçrigkeit zum Ostjudentum trugen dazu bei, dass in diesem Bund die Frage des ›Deutschtums‹ keine Rolle spielte. Dabei ist allerdings auch zu berîcksichtigen, dass der aus Osteuropa stammende »Haschomer Hazair« in Deutschland erst 1931 gegrîndet wurde und die Idee der ›Chaluziut‹ einen essentiellen Teil seines Programms darstellte. In allen anderen jîdischen Jugendbînden wurde zunehmend darîber debattiert, welche Bedeutung dem ›Deutsch-Sein‹ und dem ›Jîdisch-Sein‹ in der persçnlichen Identitt ihrer Mitglieder und im Selbstverstndnis des Bundes zukam. Die Antworten fielen unterschiedlich aus und vernderten sich im Zuge der antisemitischen Verfolgung. Je vorrangiger der Gedanke der ›Chaluziut‹ wurde, desto mehr wurde das ›Jîdisch-Sein‹ betont und dem ›Deutsch-Sein‹ entgegengesetzt. Es scheint mir, dass diese Verschiebung im Blickwinkel der jîdischen Jugendbewegung sich auch in deren historischer Betrachtung durchgesetzt hat. Das mag ›politically correct‹ sein, stimmt aber nicht mit der geschichtlichen Wirklichkeit îberein. Vorschub erhielt eine solche Sichtweise nicht nur durch den Erfolg des ›jîdischen Projekts‹ in Gestalt des ›Jischuw‹ und des Staates Israel, sondern auch durch das historische Scheitern der anderen ›Konzepte‹: Das ›deutsch-jîdische Projekt‹ wurde durch den Rassismus des nationalsozialistischen deutschen Staates zerschlagen, und das ›sozialistische Projekt‹ ging in der Verfolgung durch den Faschismus und im Zusammenbruch der kommunistischen Staaten unter. Diese Problematik betrifft ebenso die Quellenlage: Eine 10 Abraham Schiff, ehemaliges Mitglied der Bundesleitung vom »Haschomer Hazair«, wies in einem Vortrag darauf hin, dass der Bund zwar mehrheitlich von sogenannten Ostjuden gegrîndet worden war, jedoch von den sechs Mitgliedern der ersten Bundesleitung fînf dem Westjudentum angehçrten. Siehe: Der »Haschomer Hazair« unter der nationalsozialistischen Herrschaft 1933 – 1939, Archiv Hasorea, Akte 93/90.1.

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Studie îber die sozialistischen oder kommunistischen Richtungen der jîdischen Jugendbewegung steht vom Material her vor sehr viel grçßeren Schwierigkeiten als eine îber die Palstina-orientierten Bînde. Strker als die anderen Jugendorganisationen war die jîdische Jugendbewegung in das gesellschaftspolitische Spannungsfeld der 1920er/1930er Jahre einbezogen, das schon bald dramatische Entwicklungen hervorbrachte. Es versteht sich, dass in den Ereignissen des Jahres 1933 ein Wendepunkt in der Geschichte der jîdischen Jugendbînde lag. Fîr viele ihrer Mitglieder richtete sich der Lebensentwurf nun auf eine neue Heimat aus. Mit der Orientierung auf die ›Chaluziut‹ erhielten die aus dem elitren Selbstverstndnis der Jugendbînde herrîhrenden jugendkulturellen Konkurrenzhaltungen zwischen den Bînden eine eigene, politisch-ideologisch begrîndete Akzentuierung, die unter den Mitgliedern der Bînde fîr heftige Auseinandersetzungen sorgte. Der Realittsgehalt dieser Debatten lag in der Zuordnung der einzelnen Bînde zu den unterschiedlichen palstinensischen Kibbuzbewegungen, die îber ihre nach Deutschland entsandten ›Schlichim‹ fîr ihre jeweiligen politischen Konzepte warben und die Jugendlichen bei ihrer Vorbereitung auf die ›Alija‹ pdagogisch und organisatorisch unterstîtzten. Anzumerken ist hier, dass zahlreiche junge Menschen aus der jîdischen Jugendbewegung andere Wege gingen als den in die ›Chaluziut‹; diese fîhrten in den sozialistischen oder kommunistischen illegalen Widerstand in Deutschland, in linke Exilgruppen oder auch in die Teilnahme am militrischen Kampf gegen den Faschismus, so etwa in britischen oder US-amerikanischen Truppeneinheiten. Auch das waren Schritte vom Jugendmythos zur Realittserfahrung, aber îber solche Verlufe und Biographien mîsste gesondert geforscht und berichtet werden.

Die »Kameraden«. Deutsch-jïdischer Wanderbund Der wohl interessanteste Bund der jîdischen Jugendbewegung in Deutschland war der Bund der »Kameraden«, der zwischen 1916 und 1920 entstand. Kaum ein anderer Bund der deutschen Jugendbewegung war so »bîndisch«11 wie die 11 Im Zentrum dieses Begriffs stand die Idee vom Bund als persçnlichen Lebensmittelpunkt. Zu den mit romantischen Symbolen besetzten Vorstellungen vom ›Bund‹ gehçrte auch der Kult um ein »charismatisches Fîhrertum« und eine »adlige Haltung«, von der Hermann Gerson 1928 meinte, dass sie »innerlich gebunden« eine Werteordnung schaffe, die gekennzeichnet sei durch »Kmpfertum, Mut, Herbheit, Treue, Stolz, Edelmut, Gebundenheit« an îbergreifende Ziele und beinhaltete das »Streben zu Ganzheit« und den »Willen zur Verwirklichung«. Hermann Gerson (Hg.): Bîndische Erziehung, 1928. In: Vom Werden des Kreises, »Werkleute Bund jîdischer Jugend«, Berlin, April 1934, S. 13 – 19, 14. Die in dieser Verçf-

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»Kameraden« und deren Nachfolgebînde. Aufgrund der spezifischen Ausrichtung der »Kameraden« wurde dort die Debatte îber die Bedeutung der Jugendbewegung, îber das Deutschtum und das eigene Jude-Sein ebenso intensiv ausgetragen wie die Auseinandersetzung mit der sozialistisch-kommunistischen Bewegung. Mit Beginn der 1930er Jahre gewann dann die Diskussion um den Zionismus und den strker werdenden Antisemitismus an Gewicht. Die Spaltungen und Neugrîndungen aus diesem Bund spiegeln in unmittelbarer Weise die Entscheidungszwnge wider, vor denen junge Juden in der Weimarer Republik und in den Anfangsjahren des nationalsozialistischen Regimes standen. Schon bei Grîndung des Bundes zeichnete sich ein interner Richtungsstreit zwischen den verschiedenen Gruppierungen ab. Manche Mitglieder strebten eine religiçse Ausrichtung an, die jedoch von der Mehrheit abgelehnt wurde. In der Folge taten sich 1924 die jîdisch-religiçs interessierten Mitglieder in einem »ølterenbund« zusammen. Einige Jahre spter machten drei neu konkurrierende Richtungen von sich reden, die jeweils unter charismatischen Fîhrergestalten standen. Die erste, der »Schwarze Haufen«, trat unter Hans Litten und Max Fîrst mit jugendrevolutionrem Autonomieanspruch auf und vertrat anarchistisch-sozialistische Positionen. Auch die zweite Gruppe, der von Ernst Wolff gefîhrte »Ring«, beanspruchte Jugendautonomie, verstand diese aber im Sinne eines unpolitischen deutschen Jugendlandes. Der »Ring« lehnte jede politische oder religiçse Ausrichtung ausdrîcklich ab. Die dritte Gruppierung fîhlte sich einem »Kreis« zugehçrig, der sich unter der Leitung von Hermann Gerson 1928/29 zusammengeschlossen hatte.12 Weniger radikal als der »Schwarze Haufen« dem Sozialismus zugeneigt, verfolgte der »Kreis« als zentrales Anliegen, eine Bundesgemeinschaft aufzubauen, die aus der Frage nach dem »Sinn des Jude-Seins« leben sollte.13 Nachdem es mit dem Ausschluss des »Schwarzen Haufen« 1927 zu einer ersten Abspaltung bei den »Kameraden« gekommen war, dauerte es nicht lange, bis sich weitere Spaltungen ergaben. Unter dem Druck der wirtschaftlichen Krise und der damit einhergehenden politischen Radikalisierungen spitzten sich die Gegenstze zwischen den weit auseinanderstrebenden Flîgeln zu, und so brach der Bund der »Kameraden« Pfingsten 1932 endgîltig auseinander.14 Die fentlichung gesammelten Aufstze von Hermann Gerson geben einen guten ˜berblick îber die Entwicklung bîndischer Wertediskussion. 12 Das genaue Grîndungsdatum des »Kreises« ist nicht bekannt. Der erste Rundbrief an dessen Mitglieder, der in dem Buch »Vom Werden des Kreises« nachgedruckt wurde, ist im September 1929 datiert. Siehe »Rundbrief, der zur Rosch-ha-schana (September 1929) an einige wenige Menschen des Kreises« ging. In: Vom Werden des Kreises, April 1934, S. 40/41. 13 Hermann Gerson: Unsere jîdische Stellung, Teil I und II, ursprînglich erschienen im Bundesblatt November und Dezember 1930. In: Vom Werden des Kreises, April 1934, S. 56 – 66, 56. 14 Der letzte Bundestag der »Kameraden« fand im August 1931 in Hausen statt. Aufgrund der

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etwa vierhundert Mitglieder des ›deutsch‹ ausgerichteten ›Ring‹ schlossen sich zum »Schwarzen Fhnlein« zusammen, das als eigenstndiger Jugendbund zu bestehen suchte, bis es im Dezember 1934 dem Verbot durch den nationalsozialistischen Staat per Selbstauflçsung zuvorkam.15 Der sozialistische Flîgel bildete mit etwa hundertfînfzig bis zweihundert Mitgliedern die »Freie deutschjîdische Jugend«. Nach 1933 zerfiel dieser Bund recht bald, da die politisch aktiven lteren Mitglieder entweder verhaftet wurden, untertauchen mussten oder zur Emigration gezwungen waren.16 Die grçßte Gruppe von etwa tausend Mitgliedern schloss sich in dem von Hermann Gerson gefîhrten Bund der »Werkleute«17 zusammen. In dessen »Entschließung îber das Bundesziel« hieß es, dass mit dem Namen »Werkleute Bund deutsch-jîdischer Jugend« eindeutig »unsere Zugehçrigkeit zum deutschen Lebensraum ausgedrîckt sein [soll], wie sie durch die historische Entwicklung als unbestreitbare Tatsache gegeben ist.«18 Kaum neun Monate spter, am 29. April 1933, wurde das »deutsch« aus dem

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bevorstehenden Spaltung des Bundes wurde bei dieser Gelegenheit kein neuer Bundesfîhrer gewhlt, sondern lediglich ein ›Bundesverwalter‹ eingesetzt, der fîr die organisatorische Aufrechterhaltung der Bundesangelegenheiten verantwortlich war. Tom Angress, ehemals Mitglied im »Schwarzen Fhnlein« und »Fahnentrger« im Gau Brandenburg, berichtete mit in einem persçnlichen Brief von der Selbstauflçsung des Bundes am 8.12.1934. Danach war der damalige Bundesfîhrer Gert Lippmann von einem alten Freund, der inzwischen der Reichsjugendfîhrung angehçrte, îber den bevorstehenden Auflçsungsbefehl informiert worden. Um diesem Befehl zuvorzukommen, hatte Lippmann mit einigen Bundeskameraden im Grunewald eine Zusammenkunft verabredet, bei der der Bund in Eigenregie aufgelçst werden sollte. In seiner Funktion als ›Fahnentrger‹ war auch der damals 14jhrige Tom Angress von dem Treffen benachrichtigt worden und hatte die Bundesfahne auf dem Fahrrad herbeigeschafft. Whrend die Fahne feierlich den Flammen îbergeben wurde, las Gert Lippmann einen Text aus dem Buch von Ernst Salomon, »Die Kadetten«. (Eine kurze Zusammenfassung der Situation findet sich auch in Gert Lippmann: A Link in the Chain. Biographical Notes, 1990 Eigenverlag Sydney, Australia, S. 20 – 29). Vgl. dazu: Antje Dertinger : Weiße Mçwe, gelber Stern. Das kurze Leben der Helga Beyer, Bonn 1987. Laut Menachem/Hermann Gerson wurde der Bundesname »Werkleute« nach einem Wort des Rabbi Tarphon aus den Sprîchen der Vter gewhlt: »Der Tag ist kurz, das Werk ist groß, die Arbeiter sind lssig, der Lohn ist groß und der Herr des Hauses drngt. Nicht an dir ist’s, das Werk zu vollenden, doch du bist nicht frei, dich ihm zu entziehen.« In: Menachem Gerson: Eine Jugend, S. 20. Im Unterschied zu Gerson betont Schalom Ben-Chorin, ursprînglich habe ein Vers von Rilke aus dem ersten Teil des »Stundenbuches« Pate fîr die Namensgebung der »Werkleute« gestanden: »Werkleute sind wir ; Knappen, Jînger, Meister, und bauen dich, du hohes Mittelschiff.« Schalom Ben-Chorin in einer Rezension des Buches von Walter B. Godenschweger und Fritz Vilmar : Die rettende Kraft der Utopie. Deutsche Juden grînden den Kibbuz Hasorea, Frankfurt 1990. In: Israel Nachrichten vom 2. Juni 1990. Der biblische Ursprung des Spruches von Rabbi Tarphon geht auch aus Matthus 9, Vers 37 hervor. Dort heißt es: »Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende.« Typoskript: Entschließung îber das Bundesziel, Berlin, 4. August 1932. Archiv Hasorea, Akte 93.

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Bundesnamen gestrichen und als neues Bundesziel die Errichtung einer eigenen Siedlung in Palstina angegeben.19 Im Folgenden geht es um die Entwicklung dieses Bundes hin zur kibbuzischen Gesellschaft, also um einen Prozess, der im Spannungsfeld zwischen deutsch-jîdischem Jugendmythos und Realittserfahrungen in Palstina/Israel verlief.

Der »Kreis«, die »Werkleute. Bund deutsch-jïdischer Jugend« und die Alija Ursprînglich als ølterengemeinschaft der »Kameraden« gegrîndet, erhielt der »Kreis« schon bald eine zentrale Bedeutung sowohl fîr die Herausbildung des Bundes der »Werkleute« als auch fîr dessen inhaltliche Ausrichtung und stilbildende Gestalt. Als die »Werkleute« ab Ende 1933 auf Alija gingen, waren sie davon îberzeugt, die im »Kreis« erarbeitete ›dialogische‹ Beziehungskultur im bundeseigenen Kibbuz verwirklichen zu kçnnen und damit einen wichtigen Beitrag fîr die »jîdische« Gestalt der Kibbuzbewegungen zu leisten. So anspornend dieses gleichsam missionarische Selbstverstndnis auch sein mochte, war die »Kreis«-Philosophie gleichzeitig auch urschlich fîr die tiefgreifenden Auseinandersetzungen und ernsthaften Gruppenkonflikte, mit denen die »Werkleute« beim Aufbau ihrer Kibbuzgesellschaft konfrontiert waren. Vordenker der ebenso komplexen wie spannungsreichen »Kreis«-Philosophie war Hermann Gerson,20 der whrend seiner Zeit als Bundesfîhrer der »Kameraden« 1928/29 die »zentralen und aktivsten Menschen« des Bundes im »Kreis« um sich geschart hatte.21 Unter dem Einfluss der philosophischen Anschauun19 Typoskript: Satzungen der Werkleute, Bund jîdische Jugend, angenommen auf dem Fîhrertreffen am 29.4.1933. Archiv Hasorea, Akte 93. 20 Manachem/Hermann Gerson (1908 – 1989). Der Schîler von Martin Buber und Bundesleiter der »Werkleute«, die sich nach Hitlers Machtîbernahme auch zionistisch orientierten, wanderte 1934 nach Palstina aus, wo er den Kibbuz Hasorea mitbegrîndete. 1940 – 1946 war er als Leiter des Erziehungsdepartments vom Kibbuz Arzi ttig und in der Zeit von 1949 – 1952 Schaliach in England. Ab 1953 arbeitete er zusammen mit Mordechai Segal (Hameuchad) und Jehuda Messinger (Chewer Hakwuzot/Ichud) fîr den Kibbuz Arzi im Leitungsgremium des Lehrerseminars Oranim. Verfasser von Monografien und Aufstzen zur Kibbuzerziehung. 21 In einem Werbeschreiben von 1933, mit dem der »Kreis« um finanzielle Unterstîtzung fîr den Aufbau des bundeseigenen Kibbuz in Palstina warb, wurde die Anzahl der »Kreis«Mitglieder mit »etwa 250« angegeben. Wahrscheinlich ist diese Angabe hoch gegriffen. Der grçßere Teil der Mitglieder lebte in Berlin, dem geistigen und kulturellen Zentrum des »Kreises«. (Hermann Gerson selbst sprach in diesem Zusammenhang von »Zentrum« und »Peripherie«.) Zahlenangabe im Typoskript: »Der ›Kreis‹ innerhalb der ›Werkleute‹«. Archiv Hasorea, Akte 92.

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gen Martin Bubers,22 der elitren Ideenwelt Stefan Georges,23 aber auch jugendbewegter Ideale war es Gersons Anliegen, die Buber’sche Dialogphilosophie mit den bîndischen Gemeinschaftsidealen der »Kameraden« beziehungsweise der »Werkleute« zu verbinden. Den Ausgangspunkt seiner Ansichten bildete die Auffassung, dass in der modernen Welt »die Einheit und Ganzheit der Person zerstçrt, […] die Sinnhaftigkeit des ganzen Lebens erschîttert, […] die Unmittelbarkeit der menschlichen Beziehungen zerrîttet wurde.« Diesem »Chaos« setzte Gerson mitsamt dem Berliner Kern des »Kreises« »die Erneuerung des ganzen Menschen und aller menschlichen Beziehungen« entgegen. Dabei betonte er, dass dieses Ziel nicht mit Hilfe einer »ferne[n], allgemeine[n] Formel etwa politischer Art« zu erreichen sei, vielmehr gelte es, an jeder Stelle und in jeder Situation »die Wandlung von Beziehungen zwischen den Menschen wichtig zu nehmen.« Allein »das richtige Leben [sei] Beginn der Erneuerung.«24 Diese allgemeine Aussage konkretisierte sich fîr Gerson in der von Martin Buber vertretenen Idee eines »dialogischen Lebens in Unmittelbarkeit und Gebundenheit«.25 Diese Aussage wurde fîr Hermann Gerson zum zentralen Motto und damit entscheidend fîr die spirituelle Ausrichtung des »Kreises«. Ganz im Sinne Bubers, als dessen Schîler Hermann Gerson sich verstand, sah er die Existenz des Menschen auf zwei unterschiedlichen Beziehungsebenen gegeben, der einer religiçs-spirituellen Welt und der des sozialen Miteinanders. Immer wieder wies er darauf hin, dass der Begriff des »dialogischen Lebens« eine »Grundhaltung« bezeichne, mit der der Mensch sich auf beide Erfahrungen beziehe. So gewinne er seine »Gebundenheit« an îberpersçnlichen Werthal22 Martin Buber (1878 – 1965), aufgewachsen im galizischen Lemberg und vertraut mit den chassidischen Traditionen des osteuropischen Judentums, wurde zuerst als Herausgeber und Interpret von Schriften des Chassidismus bekannt als »Die Erzhlungen der Chassidim«. Bubers Denken wurde sowohl im frîhen »Blau-Weiß« wie auch in den spteren Bînden der jîdischen Jugendbewegung rezipiert, ohne dass diese Bînde sich wie die »Werkleute« auf seine philosophischen Ideen bezogen. 23 Stefan George (1868 – 1933) galt in vielen Bînden der Jugendbewegung als Idol, unabhngig davon, ob diese zionistische oder antisemitische, nationalistische oder republikanische Positionen vertraten. Der George-Kult war nicht zuletzt begrîndet durch den elitistischen Charakter des George-Kreises sowie durch Georges mystische Selbstinszenierung und die Rtselhaftigkeit seiner Gedichte. Wie weit diese Faszination in die jugendbîndische Kultur hineinreichte, geht daraus hervor, dass sowohl Hermann Gerson wie auch Norbert Elias, der zur Fîhrerschaft des Breslauer »Blau-Weiß« gehçrte, George-Texte zelebrierte. Vgl. Asher Benari: Erinnerungen eines Pioniers aus Deutschland. Eigenverçffentlichung der Familie Benari, Hasorea 1999, S. 20 und Jçrg Hackeschmidt: Die Kulturkraft des Kreises. In: Berliner Journal fîr Soziologie, Heft 2, FN 30, S. 165. 24 Hermann Gerson: Rechenschaft. Aus dem Bundesblatt vom April 1930. In: Vom Werden des Kreises 1934, S. 44 – 55, 47. 25 Hermann Gerson: Rundbrief an die Mittleren des Kreises, Oktober 1932. In: Vom Werden des Kreises 1934, S. 101 – 105, 104.

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tungen, die ihm Identitt und Handlungsorientierung vermittelten. Fîr die nach ›Ganzheit‹ strebenden »Kreis«-Mitglieder, die kaum noch Bindungen an jîdische Lebensweise und ˜berlieferung hatten, bedeutete diese philosophische Blickweise, dass sie »sich hineinstellen [wollten] in den großen Zusammenhang, […] wie ihn die Geschichte des jîdischen Volkes birgt.«26 Dass dieser Entscheidung als gemeinsamer Erfahrungshintergrund des »Kreises« ›Suchbewegungen‹ vorausgegangen waren, wird deutlich in einem von Hermann Gerson verfassten Rundbrief aus den Anfangszeiten des »Kreises«. Darin heißt es: »Wir alle haben in uns das Gefïhl verantwortlich zu sein. Wir nannten es das »ES«, dem wir dienten und von dessen Dienst her unser Leben bestimmt ist: die Idee. Wir wurden immer mehr gewahr, dass es sich nicht um eine einzelne Idee handelt. […] Wir wissen, wir wollen uns binden und wollen, dass die Menschen wieder ihre Mitte finden. Und hier handelt es sich sozusagen um ein Wiedererkennen. Um ein Spïren, dass andere Zeiten dies Rufende und Sichernde [in uns] beides zugleich – Gott nannten. Wir brauchen, wenn wir lange genug in unserem Kreise gewachsen sind, eine neue Kawanna,27 die es uns ermçglicht, an ein Gebet, wie es ïberliefert ist, heranzugehen, es zu sprechen und dabei immer wieder die Richtung auf das Rufende in uns zu haben; wenn wir im Sprechen so Gott erfahren, erfahren [wir] das in uns Lebende wahrhaft als ’Gott der Vter’: dann geschieht der Durchbruch zum religiçsen Leben.«28 So unbestimmt solche Passagen dieses Rundbriefes aus den Anfangszeiten des »Kreises« auch anmuten mçgen, verweisen sie doch darauf, dass das offizielle Judentum den jungen Mitgliedern des »Kreises« nicht bieten konnte, was ihrem Verlangen nach religiçser Bindung entsprochen htte. Dem traditionellen Jîdisch-Sein entfremdet, suchten sie nach einer Gemeinschaft stiftenden ›Idee‹, die nicht nur ihr persçnliches Leben bestimmen, sondern auch den gemeinsamen Standort als Juden begrînden sollte. Anders als zionistische Bînde ging der »Kreis« einen geistig-spirituellen Weg; allerdings sollte dieser in die ›Wirklichkeit‹ fîhren: in eine gemeinsame Lebenspraxis. Im Lesen des Tenach, so Gerson 1930, »wendest du dich an scheinbar Vergangenes, Sprache, geistige Inhalte, Geschichte: aber du tust es mit der gegenwrtigen Frage: was soll ich tun?« Mit dieser persçnlichen Fragehaltung çffne der Mensch sich fîr das »˜berpersçnliche [der] Geschichte und 26 Hermann Gerson: Rechenschaft. Aus dem Bundesblatt vom April 1930. In: Vom Werden des Kreises, 1934, S. 44 – 50, 50 27 Kawanna (hebr.), »neue Ausrichtung«. 28 Hermann Gerson: Rundbrief, der zu Rosch-ha-schana 5690 (September 1929) an einige Menschen des Kreises ging. In: Vom Werden des Kreises 1934, S. 40/41, 40.

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Bestimmung des jîdischen Volkes«.29 Damit erfahre sein Leben jene »Gebundenheit«, durch die er Identitt und Handlungsorientierung gewinne. Diese Ausfîhrungen Gersons finden sich in einem fiktiven Gesprch, in dem er in der Rolle des »Fîhrers« ein Mdchen belehrt, das wie die Mehrheit der »Kameraden« kaum noch jîdisches Wissen besaß: »Die jîdische Geschichte ist mir nicht nher als jede andere Geschichtserzhlung. […] Ich weiß gar nicht, was mein Jude-Sein mir bedeuten soll. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich es îberhaupt bleiben soll.«30 Dieses Problem aufgreifend, wies Hermann Gerson immer wieder auf die Wichtigkeit des »jîdischen Lernens« hin. Neben den wçchentlichen Bibelkursen gehçrten die Abhaltung des Kiddusch31 an den Freitagabenden und das Hebrischlernen dazu. Bald jedoch drngte er, der jîdischen Kultur insgesamt einen zentralen Platz im »Kreis« und im Bundesleben einzurumen: »Wir mîssen jîdisch singen lernen, wir mîssen alle Seder geben32 kçnnen, alle die Luft der Agenda atmen und verspîren. Anschluss [an die jîdische Geschichte] heißt ja nicht: Kenntnis einiger Grundtatsachen jîdischer Geistesgeschichte, sondern eben: jîdisches Leben.«33 Ob »jîdisches Lernen« oder »jîdisches Leben«: In beiden Fllen ging es Hermann Gerson um die Realisierung eines spirituell verstandenen Judentums. Er suchte nach einer »neuen Gestalt der

29 Hermann Gerson: Fîr Ursel. Aus dem Bundesblatt vom Dezember 1930. In: Vom Werden des Kreises 1934, S. 60 – 66, 65. 30 Ebd., S. 60. Es ist nicht klar, ob »Ursel« mit der 1932 verstorbenen »Ulla« identisch ist, die zum Zeitpunkt des fiktiven Gesprchs siebzehn Jahre alt gewesen wre. Dennoch soll hier auf das 1933 von Hermann Gerson verçffentlichte Buch hingewiesen werden, das dem Andenken der frîh verstorbenen Chawerim »Ulla« (gest. 1932) und des russischen Studenten Sergey Racusin (gest. 1933) gewidmet war. Die Vorderseite des ganz in Schwarz gehaltenen Einbandes ziert ein schimmernder silberner Kreis, der wohl fîr die im »Kreis« praktizierte »Unmittelbarkeit« der Beziehungen« stehen sollte. Die Erinnerungstexte und Briefauszîge mit eingeklebten Originalfotos der Verstorbenen sind angereichert mit zwei Gedichten Stefan Georges, »Trauer« und »Erhebung«. Ein weiteres Gedicht ohne Titel widmete Martin Buber den beiden jungen Menschen. Die außergewçhnliche Gestaltung der 52 Seiten umfassenden Verçffentlichung ist Ausdruck fîr den Kult, mit dem der »Kreis« sich selbst und seine Aktivitten umgab. Dem Andenken unserer Chawerim Ulla und Sergey. Leni und Friederich zugeeignet. Ohne Verlagsangabe 1933. 31 Kiddusch (hebr.) kommt von dem hebrischen Wort kadosch, heilig. Kiddusch, ›Segen‹, ›Segensspruch‹ oder ›Heiligung‹. 32 Seder (Ordnung). ›Seder geben‹: Lesung der Haggada, einer volkstîmlichen Erzhlung îber Pessach, mit der an den Auszug aus øgypten erinnert wird. Der Sederabend wird am Vorabend des Pessach-Festes im Kreise der Familie oder mit Freunden abgehalten. Die bei dem gemeinsamen Mahl auf dem Sederteller angerichteten Speisen symbolisieren das biblische Geschehen. 33 Hermann Gerson: Rundbrief an den Kreis, Mitte April 1931. Dem Freunde Rudi gewidmet. In: Vom Werden des Kreises 1934, S. 79 – 83, 81.

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Religion«,34 die im Hinblick auf den sozialen Zusammenhang des »Kreises« als Hinwendung zu einem »glubigen Leben« zu kennzeichnen ist. In dem angestrebten ›Gemeinschaftsbau‹ sollten sowohl die ›Unmittelbarkeit‹ in persçnlichen Beziehungen als auch die gemeinsame ›Gebundenheit‹ an îberpersçnliche Werthaltungen verwirklicht werden. Dazu Hermann Gerson: »Unmittelbarkeit in den Beziehungen: damit soll hingedeutet sein auf das rechte Aufeinanderhçren und Zueinandersprechen; auf nicht ichhafte Beziehung, die dem anderen sich offenhlt, […] wo man sich nicht voreinander verriegelt und sich nur im ›Sachlichen‹ begegnet. […] Die Probe auf die Gemeinschaft ist: ob in einem grçßer gewordenen Kreise die Atmosphre der Unmittelbarkeit so aufrecht erhalten werden kann, dass der Mçglichkeit nach jeder an jeden sich wenden kann.«35 Gersons feste Erwartung war : »Der Kreis wird eine Sttte sein, wo Unmittelbarkeit der Beziehungen verwirklicht ist!«36 Grundlage dafîr seien nicht etwa die Gemeinsamkeiten der Gruppe, sondern die »dialogische Haltung« jedes Einzelnen.37 Der erste Schritt zu dieser Haltung sei die ˜berwindung von »Gewçhnung« und jener »Isolierschicht«, die der »Trgheit des Herzens« geschuldet, den Menschen von den Dingen und anderen Menschen trenne. Der Mensch als »Kreatur« sei nur in Beziehung zu denken, »in Beziehung zu allem, zum Geist, zum Kçrper, zur eigenen Lebensfîhrung, zur Gesellschaft.«38 Dieses zunchst bîndische Leitbild brachte Hermann Gerson mit der ambitionierten Idee einer allgemeinen »Revolution der Beziehungen« in Verbindung. Erreicht werden sollte dieses Ziel, indem die »Kreis«-Mitglieder sich »an Stellen außerhalb des Bundes im gleichen Sinne wie bei uns um Kreisbildung mîhen,«39 34 Hermann Gerson: Sorge, Rundbrief an den Kreis vom 23.7.1931. In: Vom Werden des Kreises 1934, S. 84 – 88, 88. 35 Hermann Gerson: Gemeinschaft. Aus dem Bundesblatt vom Oktober 1930. In: Vom Werden des Kreises 1934, S. Vom Werden des Kreises 1934, S. 66 – 69, 67. 36 Rechenschaft. Aus dem Bundesblatt vom April 1930. In: Vom Werden des Kreises 1934, S. 44 – 55, 54. 37 Rundbrief an die Mittleren des Kreises vom Oktober 1932, In: Vom Werden des Kreises 1934, S. 101 – 105, 104. 38 Sergey Racusin: Um den Weg des Kreises. Bericht îber die von Hermann am 21.6.32 gehaltene Rede. In: Vom Werden des Kreises 1934, S. 93 – 100, 93. 39 Interessant ist, dass nach einem Brief von Norbert Elias an Martin Bandmann (beide dem Breslauer »Blau-Weiß« angehçrend), die kulturelle Bewegung der »Kreisbildung« auch in diesem Bund verfolgt wurde. Im Unterschied zu den deutsch-jîdischen »Kameraden« oder spter den »Werkleuten« ging es allerdings dem zionistisch orientierten »Blau-Weiß« dabei nicht um neue gesellschaftliche Beziehungsweisen, sondern um den Prozess einer »Nationund Gesellschaftwerdung des Judentums«. Siehe Brief vom 14. 6. 1920 von Norbert Elias an Martin Bandmann. In: Jçrg Hackeschmidt: Die Kulturkraft des Kreises. Berliner Journal fîr Soziologie, Heft 2, 1997, S. 147 – 168, 157.

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sei es, dass »der eine im Proletariat kreisbildend wirksam ist, der andere im Rahmen jîdischer sozialer Arbeit.« Eine solche »wirkliche Bewegung, […] die îberall gewandeltes Miteinander der Menschen stiftet«, so schien es Gerson, sei »die getreueste Konsequenz unserer Jugendbewegung.«40 Konkret hieß das fîr die Mitglieder des »Kreises«, entweder in den Gewerkschaften und sozialistischen Parteien (insbesondere der Sozialistischen Arbeiterpartei, SAP) oder in Einrichtungen des jîdischen Sozialwesens ttig zu werden.41 Ein besonderes Interesse richtete sich auf den Aufbau jîdischer Volksheime fîr die mehrheitlich aus Russland geflîchteten ›Ostjuden‹. Und auch damit verband Gerson ehrgeizige Plne, denn sein Ziel war, dass es »nicht bei einem Volksheim bleiben [darf], es muss eine jîdische Volksheimbewegung in Deutschland daraus werden.« Voraussetzung dafîr war nach Gerson weiterhin die Vorrangigkeit des »jîdischen Lernens«, dessen bisherige Intensitt seiner Meinung nach ganz und gar nicht ausreichte.42 In hnlicher Weise kritisierte er auch Nachlssigkeiten beim individuellen Bildungsstreben; Selbstbildung und intellektuelle Horizonterweiterung gehçrten ebenso zu den Zielen des »Kreises« und des Bundes wie persçnliche Charakterbildung und Charakterbewhrung. Wenngleich auch letztere durch innerbîndische Leitideen wie die »adlige Haltung« oder das »Fîhrerprinzip« geprgt sein sollten, enthielten die von Hermann Gerson empfohlenen Bîcher diese Idealisierungen nicht.43 Die Geselligkeitsformen des »Kreises« konzentrierten sich in Berlin, das immer das Zentrum des Zusammenschlusses blieb, weitgehend auf die diversen Arbeitskreise und die Schabbatfeiern an den Freitagabenden. Dazu kamen kîrzere Tagungen mit Nahestehenden und Mitgliedern. Obwohl der »Kreis« formal jedem lteren Bundesmitglied offenstand, galt er doch, wie Ascher Benari in seinen Lebenserinnerungen meint, als eine »elitistische Gesellschaft, der nicht jeder angehçren konnte. Dies elitistische Auftreten gab in der Bewegung Anlass zu nicht wenig Kritik und Gespçtt, aber seine Erscheinung war nicht zufllig, sondern war durch Hermann selbst be40 Rundbrief an den Kreis, Mitte April 1931 (Dem Freund Rudi gewidmet). In: Vom Werden des Kreises 1934, S. 79 – 83, 80. 41 Trotz detailliert ausgearbeiteter Einsatzkonzepte kam es nicht mehr zur Umsetzung dieser Plne. 42 Siehe Hermann Gerson: Rundbrief an den Kreis, Mitte April 1931. (Dem Freunde Rudi gewidmet. In: Vom Werden des Kreises, 1934, S. Vom Werden des Kreises 1934, S. 80 – 83, 80 f. 43 Die breitgefcherten Empfehlungen umfassten Schriften aus dem Bereich der Jugendbewegungsliteratur wie Gustav Wyneken, Siegfried Bernfeld, Elisbeth Busse-Wilson und Alfred Kurella; darîber hinaus wurden unter anderem Bîcher von Hermann Hesse, Leonhard Frank, Stephan Zweig, aber auch von Friedrich Schiller, Arthur Schopenhauer und Georg Simmel zur Lektîre empfohlen. Stefan George, der Schçpfer der ›adligen Haltung‹, wurde in keiner der Bîcherlisten aufgefîhrt.

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stimmt. Die Gestalten, die Hermann beeinflussten, waren einerseits Martin Buber und andererseits Stefan George, der Verkïnder einer ›adligen Haltung und Absonderung von der Masse‹. Dieser Begriff der ›adligen Haltung‹ war einer der Grundzïge des Lebensstils, der von den Mitgliedern des ›Kreis‹ verlangt wurde.«44

Deutschland? Palstina? Die Grîndung des neuen Bundes »Werkleute« machte es fîr Hermann Gerson und die Leute vom »Kreis« unausweichlich, zum Zionismus eine eindeutige Position zu beziehen. Nachdem Gerson schon im Juni 1932 in einer Rede45 seine Entscheidung fîr ein Leben in Deutschland dargelegt hatte, griff er in einem Rundbrief vom Oktober 1932 noch einmal die »immer wieder zu [ihm] dringende Frage« auf: »Warum sind wir nicht Zionisten, d. h.: Warum gehen wir nicht nach Palstina?«46 Nach einigen Anmerkungen îber die unumgngliche Gegebenheit jîdischen Lebens in der ›Galut‹ – »wir wissen ja: weder Palstina noch ein anderer Landstrich kann die Juden in sich konzentrieren« – unterzog Gerson die zionistische Argumentation einer scharfen Kritik: »Jener Palstinozentrismus, der sich in der Betonung der Unfruchtbarkeit der Galut nicht genug tun kann, ist nur von den Notwendigkeiten zionistischer Propaganda her zu verstehen, real gesehen ist er leichtfertig. […] Wir pflegen, aus Unkenntnis, Palstina außerordentlich unreal zu sehen: als Weiß gegen das Schwarze der Galut«. Tatschlich geschehe der Aufbau des Landes »durch private kapitalistische Wirtschaft, die hier noch eine Konjunkturmçglichkeit sieht. […] daneben aber : Zurîckdrngung der Chaluzbewegung als politische Kraft und als menschliches Ideal«, whrend die Orthodoxie an geistigem und gesellschaftlichem Einfluss gewinne. Trotz dieser Entwicklung, so heißt es weiter : »(…) mïssen wir als Juden froh sein, dass es in Palstina wirtschaftlich so schnell vorwrts geht! […] Wren wir ’nur Juden’, wre unsere letzte Verantwortung die zur Erhaltung des jïdischen Volkes, so mïssten wir die Freude und Begeisterung ïber das Palstina-Werk empfinden, wie sie gerade heute weite zionistische Kreise erfïllt. […] Wird mit der Gesichtspunkt des ’Wie’ bei der 44 Asher Benari: Erinnerungen eines Pioniers aus Deutschland, 1999, S. 18. 45 Sergey Racusin: Um den Weg des Kreises. Bericht îber eine von Hermann am 21. 6. 1932 gehaltene Rede. In: Vom Werden des Kreises 1934, S. 101 – 105, 101. 46 Hermann Gerson: Rundbrief an die Mittleren des Kreises vom Oktober 1932, Ebd., S. 101 – 103, 101.

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Betrachtung des Aufbaus trotzdem vordringlich, so ist das ein Zeichen dafïr, dass ich mich noch in einer anderen Verantwortung als der zur Volkserhaltung befinde.«47 Diese »andere« – »letzte Verantwortung«, in der Hermann Gerson sich selbst und die anderen Mitglieder des »Kreises« sah, war die »gegenîber dem Erwachen des dialogischen Lebens«48, dessen »Grundelemente« die »Gebundenheit des Lebens und Unmittelbarkeit im Miteinander« seien: »Unsere Menschen werden als schwere Aufgabe die haben, ihrerseits an jeder Stelle, auf der sie im Leben einmal stehen werden, kreisbildend zu wirken, Menschen zu einem dialogischen, unindividualistischen Leben aufzuschließen.«49 Diese »Lebenslehre« entstammte nach Gerson der spezifisch europischen Situation, sei also auch nur dort zu verwirklichen: »Das jîdische Palstina ist als Gemeinwesen zu jung, um diese Fragen einer innerlich zersetzten und mittelpunktlosen Kultur schon zu spîren.«50 Unter dem Eindruck der antisemitischen Geschftsboykotte in Deutschland am 1. April 1933 wurde diese Perspektive hinfllig. Nach am selben Tag reisten Mitglieder des Berliner »Kreises« zu den verschiedenen Ortsgruppen im Lande, um diese darîber zu informieren, »dass der ›Kreis‹ sich jetzt doch entschieden [habe], nach Palstina zu gehen und dort einen eigenen Kibbuz zu schaffen.«51 Diese Entscheidung stand am Ende intensiver Diskussionen um die Frage der Alija. In einer Rede kurz vorher, am 25. Mrz 1933, hatte Gerson die Argumente fîr und gegen eine Alija scharfsinnig gegeneinander gestellt. Zunchst zur Frage: Was spricht dafîr? Antwort: »Da ist [in Deutschland] das Aufhçren unserer politischen Wirkungsmçglichkeit, […] auch die furchtbare Atmosphre, in der wir zu leben gençtigt sein werden«, das »Auf-Fahrt-Sein wird zerstçrt sein. […] Und noch etwas, eine andere, entscheidende Gefahr: das Zerbrçckeln des ›Kreises‹ […]Schon sind zwei Menschen weg, und mehr werden weggehen mïssen. […] Der entscheidendste Grund ist das Berufsproblem. […] Systematisch wird versucht, Juden die Berufschancen abzuschneiden. […] Ihr wisst, wie es mit der Aussicht auf ein Studium heute bestellt ist, wenn man fïr ùrzte und Anwlte den numerus clausus

47 Ebd., S. 102. 48 Hermann Gersons Rede am 25. Mrz 1933 îber den zukînftigen Weg des Kreises, Typoskript, Archiv Hasorea. Akte 92. 49 Ebd., S. 104 50 Ebd., S. 105. 51 Zitat aus einem maschinenschriftlichen Rundschreiben vom 21.4.1933. Archiv Hasorea, Akte 92.

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einfïhrt, wenn die jïdischen Firmen mit Boykott bedroht werden. […] Alle diese Grïnde sprechen entscheidend fïr eine Alija.« Bei der Frage, welche Argumente gegen eine Alija sprechen, nennt Gerson zuerst »die Hoffnung, dass diese Situation sich wieder verndert«, und »die îberaus belastende Frage der Verantwortung fîr die deutschen Juden.« Des weiteren fîhrt er hier das Berufsproblem an: »Wir mïssen uns darïber klar sein, dass wir nicht hinïbergehen kçnnen als Studenten und Akademiker, als Kaufleute oder Bïroangestellte. […] Der Großteil von uns mïsste in landwirtschaftliche und handwerkliche Berufe gehen. […] Man muss die ganze Hrte und Schwere solcher Berufe in Palstina vor Augen haben. Das, was uns am wenigsten frommen kann, das ist eine romantische Einstellung zu all diesen Dingen. […] Jeder Einzelne wird auf viele uns selbstverstndliche Gewohnheiten, auf viel Bequemlichkeit und Wohlstand verzichten mïssen.« Aber Gerson fragt auch nach den mçglichen Aufgaben in Palstina: »Wir kennen das Land noch nicht. Wir wissen nicht, was ihm nottut. Aber zwei Dinge sind sicher: Einmal werden wir das zu bringen haben, was wir nennen unser menschliches Wollen, unser dialogisches Wollen. […] Wir werden wahrscheinlich wieder neu einzutreten haben in Kmpfe, die hier siegreich beendet waren, […] in Kmpfe fïr die jïdische Aufklrungsgesinnung, in Kmpfe mit einer ungeschichtlichen, unorientierten Gesinnung, in Kmpfe mit dem aufkommenden Kapitalismus. Wir werden neue Aufgaben haben, dort aber alle Waffen in der Hand haben.«52 Neben diesen grundstzlichen ˜berlegungen ging Hermann Gerson auch auf die praktischen Probleme ein, denen sich die »Werkleute« bei einer Entscheidung fîr die Alija stellen mîssten: Ein großer Teil der Bundesmitglieder werde noch in Deutschland bleiben: in den einzelnen Ortsgruppen und in den HachscharaZentren. Damit liege ein Schwerpunkt der Bundesarbeit weiterhin in Deutschland, whrend die zentrale Ausrichtung des Bundes dem Aufbau des Kibbuz gelten solle. Fîr die »Werkleute« solle die Entscheidung, ob ›Alija‹ oder ›Galut‹, »mçglichst unbestochen von der Meinung der anderen, mçglichst konkret aus Situation des Einzelnen gefllt werden.« »Es darf bei uns nicht so sein, wie es in den zionistischen Bînden war und ist, dass eine Parole ausgegeben wird und dass die Menschen in dieses Prokrustesbett gezwngt werden.« Und so erschien 52 Hermanns Rede am 25. Mrz 1933 îber den zukînftigen Weg des Kreises, Typoskript, Archiv Hasorea. Akte 92.

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die Entscheidung zur Alija vielen Mitgliedern der »Werkleute« Ende Mrz 1933 noch als Wahl zwischen Emigration und Heimat. Gerson fîhrte aus, wog ab und ahnte doch, dass hier nichts mehr abzuwgen war. Er sagte: »Wir reden nicht îber ein ›Problem‹, das man dadurch seines Ernstes berauben kann, dass man es abschiebt zu einem anderen ›Problem‹, das eben nur die Innerlichkeit betrifft.« Seine Aussagen standen hart gegeneinander : »Wir kçnnen uns noch nicht vçllig festlegen. Es ist noch nicht die Zeit dazu.« Und dann: »Was mich hier forttreibt, das ist die ˜berzeugung, dass wir fîr diesen Willen, der Gemeinsamkeit bedeuten muss, als Juden hier keinen Raum haben.« – Solche Stze zeigen, in welcher Zerrissenheit die jungen Menschen vom »Kreis« ihre Entscheidung treffen mussten. Gerson ging darauf ein und betonte: »Die Entscheidung, die hier von uns verlangt wird, ist außerordentlich schwer. […] und es handelt sich hier nicht um einen Akt des freien Willens. Allerdings muss sich dieses Hinausgedrngtwerden zu einer inneren Beziehung zum Land (Palstina) wandeln, wir mîssen von einer ›Emigration‹ zur ›Alija‹ kommen.« Die grîndliche und verantwortungsvolle Weise, in der Hermann Gerson sich mit der bedrngenden Lage auseinander setzte, macht seine Rede zu einem erschîtternden Dokument. Nach den ersten ˜bergriffen physischer Gewalt auf die jîdische Bevçlkerung war es dann fîr die Fîhrung der »Werkleute« klar : »Wir gehen nach Palstina.« Ende 1933 machten sich die ersten zehn Chawerim in kleinen Gruppen auf den Weg. Sie waren im Alter zwischen 20 und 27 Jahren. Der lteste, der promovierte Kunsthistoriker Rudi Baer, hatte fîr seine Alija eine angesehene Redakteursstelle im Propylenverlag aufgegeben. Einige andere mussten ebenfalls berufliche Positionen verlassen oder ihr Studium abbrechen, wie etwa Ernst Nehab (Meir Nehab), der im 10. Semester Medizin studierte, oder wie Schaul Ginsberg (Schaul Ginosar), der nach Abschluss seines Anglistik- und Geschichtsstudiums die begonnene Doktorarbeit in den Schrank legte. Sie waren die ›Vorhut‹ der »Werkleute«, dazu bestimmt, erste organisatorische Kontakte zu knîpfen, und sich auf ihr Leben als Landarbeiter im Kibbuz vorzubereiten. Sie fîhlten sich nicht als Olim, die nur wegen einer ußeren Notlage oder aufgrund des politischen Druckes in Nazideutschland nach Palstina auswanderten: Sie reisten als Chaluzim und wussten sich den zukînftigen Anforderungen gewachsen. Wie hieß es bei Hermann Gerson: »Wir werden neue Aufgaben haben, dort aber alle Waffen in der Hand haben.« Zu diesen ›Waffen‹ gehçrte vor allem jenes jîdische Wissen, das sich die Mitglieder der »Werkleute« bei den gemeinsam gefeierten jîdischen Festen, in den Bibel- und Hebrischkursen sowie durch ihre Beschftigung mit der Geschichte der deutschen Juden und der jîdischen Aufklrung neu erworben hatten. Den darin erkannten kulturellen Werten wollten sie in dem jîdischen Gemeinwesen Palstinas eine eigene Gestalt verleihen, wobei ihre Praxis von den

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Grundwerten ihres Bundes bestimmt sein sollte: vom »Willen zur Gemeinsamkeit« und vom »dialogischen Wollen«. Vor dem Hintergrund solcher Vorstellungen war die erste Begegnung mit anderen Zuwanderern ein Schock fîr die Chaluzim der »Werkleute«. Einer von ihnen schrieb: »Es erfîllt mich mit Sorge, wie unvorbereitet, unfreudig, und unwillig die Leute zum Teil (leider zum großen Teil) nach Palstina gehen. […] Leute, die nicht wissen, was ein Kibbuz ist. Und alle mit Zertifikaten vom Hechaluz!«53 – Umso erfreuter waren sie îber die Begegnung mit einigen Chawerim vom ungarischen Hashomer Hazair: »Sie sind richtige Chaluzim mit ordentlicher Hachschara und guten Hebrischkenntnissen, klug, frisch, lebendig, krftig, froh. Auf dem Kongress haben sie schon von uns gehçrt (!) Wir werden ihnen nachher ïber unseren ›Kreis‹ erzhlen und warum wir uns von anderen unterscheiden.«54 Tatschlich zogen die »Werkleute« in der zionistischen wie auch in der chaluzischen Bewegung Interesse auf sich: Die Mitglieder des Bundes galten als die »Besten der jîdischen Jugend in Deutschland.«55 Beide der großen Kibbuzbewegungen wollten sie fîr sich gewinnen. Das aber war auch ein Anlass, aus dem die »Werkleute« kritisch betrachtet wurden, denn es war deren Absicht, nicht nur einen eigenen Kibbuz, sondern eine ganze Kibbuzbewegung zu grînden. Vom »Kibbuz Meuchad« distanzierten sich die »Werkleute«, weil dieser fîr große, allen offen stehende Kibbuzim einstand und damit der Besonderheit der deutschen Alija und dem von dieser kommenden kulturellen Beitrag kein Raum zugesprochen wurde. Vom »Kibbuz Arzi« distanzierten sie sich wegen seines orthodoxen Marxismus. Nach ihrem Willen sollte die eigene Kibbuzbewegung geprgt sein von jenen Werten, die den Bund in Deutschland ausgezeichnet hatten: die partei-unabhngige sozialistische Orientierung, die Pflege jîdischer Religion in einem freien Sinn und das Gemeinschaftsideal der »dialogischpersçnlichen Verwirklichung«.56 Die »Werkleute« praktizierten îbrigens eine Methode, die den Regeln des Nationalfonds Keren Kajemet entgegenstand: Whrend Sammlungen fîr den allgemeinen Bodenankauf in Palstina bestimmt waren, hatte der Bund in Deutschland zu einer Spendenaktion aufgerufen, die speziell fîr den Ankauf des Bodens fîr den »Werkleute«-Kibbuz gedacht war. Obgleich die Sammlung wegen dieser Zielsetzung besonders erfolgreich war, fand das Verfahren doch in den zustndigen Organisationen Kritik. 53 Ernst Nehab in einem Brief vom 11.10.1933. Privatarchiv Familie Nehab, Hasorea. 54 Ernst Nehab in einem Brief vom 12.10.1933. Ebd. 55 Asher Benari: Erinnerungen eines Pioniers aus Deutschland, Eigendruck von der Familie Benari, o. J. etwa 1996, S. 31. 56 Aus einem Brief an Hans Seligmann, 4. Verbindungsbrief Mrz 1934, Archiv Hasorea, S. 1.

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Vom »Bund« zur Gemeinschaft im Kibbuz Die ersten Gruppen der »Werkleute«, die zwischen 1933 und 1935 nach Palstina kamen, hatten noch keine Hachschara durchlaufen: Nur wenige Teilnehmer besaßen eine landwirtschaftliche oder handwerkliche Ausbildung. Um die fîr die Ansiedlung notwendigen Grundkenntnisse zu erwerben und zu lernen, »wie man einen Kibbuz macht«, gingen sie fîr einige Monate in verschiedene Kibbuzim, so nach Gesher und Givat Chajim vom »Kibbuz Meuchad« und nach Mischmar Haemek vom »Kibbuz Arzi«. Im April 1934 siedelten sich etwa dreißig Mitglieder der »Werkleute« als selbstndige »Kolonie« in Chedera an. Nachdem sich diese Gruppe offiziell als »Gesellschaft fîr gemeinschaftliche Ansiedlung« gegrîndet hatte und immer mehr »Werkleute« nach Palstina kamen, waren es zum Ende des Jahres 1935 etwa 75 Chawerim, die auf den gemeinsamen Beginn auf eigenem Grund und Boden warteten. Im Dezember 1935 wurde ein kleiner Teil dieses Bodens im Jezre el Tal, zwischen Haifa und Megiddo gelegen, dem spteren Kibbuz Hasorea (Smann) zugewiesen. Die ersten, die daraufhin Chedera verließen, wohnten in den halb verfallenen Rumlichkeiten einer Karawanserei. Nachdem im April 1936 auf dem Gelnde von Hasorea der Kibbuz offiziell gegrîndet worden war, schlugen etwa sechzig Chawerim dort ihr Lager in neu errichteten Holzhîtten und Zelten auf. In den folgenden Monaten zogen auch die restlichen Werkleute-Chawerim nach Hasorea um. Die Berichte der Pioniere geben einen anschaulichen Eindruck von den Erfahrungen, mit denen sie bei ihrer ›Einordnung‹57 in die palstinensische Lebens- und Arbeitswelt konfrontiert waren. Da war zunchst das neue Leben als »Arbeiter«, das trotz seines hohen chaluzischen Stellenwertes von vielen »Werkleuten« als sehr belastend empfunden wurde. So schreibt z. B. ein Mdchen darîber : »Unser Leben ist im Grunde bestimmt von der Arbeit, die uns sehr mitnimmt und mïde macht. […] Es ist eine heiße, drïckende Luft draußen, Chamsin. Acht Stunden Turia-Arbeit im Pardess, mit Maschgiach [Aufseher] hinter sich. Das ist nicht schçn. Dabei ist die Pardess-Arbeit entsetzlich eintçnig, vçllige Lohnarbeit, oft auch noch in Kablanuth [Akkordarbeit].«58 Ein weiteres Problem ergab sich zunchst fîr die deutsch-jîdischen Pioniere aus ihrem Gstestatus in fremden Kibbuzim. Die Mitglieder dieser Kibbuzim stammten aus Osteuropa und lehnten in Reaktion auf die Konventionen der 57 In allen Texten, in denen es um die Alija geht, wird dem immer wiederkehrenden Begriff der Einordnung eine herausragende Bedeutung gegeben. 58 Lilo am 23. 5. 1934, im 5. Verbindungsbrief, S. 8; Die »Turia«, ein damals îbliches Hackgert, das in den Obstplantagen benutzt wurde. Archiv Hasorea.

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ostjîdischen Erziehung im Schtetl jede jîdische Religiositt und Tradition als orthodoxen Zwang ab. Insofern standen sie dem Interesse der »Werkleute« an jîdisch-religiçsen Formen verstndnislos gegenîber. ˜ber die Konflikte auf der praktischen Ebene heißt es in einem Bericht: »Wir haben deshalb beschlossen, sehr vorsichtig zu sein, z. B. an Freitagabenden auf Lichter und Broche zu verzichten, um nicht Leute vom Kibbuz vor den Kopf zu stoßen. Dies ist keine ïbertriebene Vorsicht, denn sie machen keinen Unterschied zwischen unseren jïdischen Formen und denen der Orthodoxie.«59 Auch an anderer Stelle wird betont: »Am strksten ist wohl der Unterschied zu unseren Freunden in Mischmar Haemek. Wir wurden im Anfang als eigene Gruppe mit ihrem Eigenleben anerkannt und gestalteten unser Leben nach unseren frïheren Maßstben, in frïheren Formen. Aber man wehrte sich gegen jegliches Eigenleben unsererseits, wollte uns gern absorbieren.«60 Dieser Konflikt beschftigte die »Werkleute« auch auf der konzeptionellen Ebene der »jîdischen« Ausrichtung ihres eigenen Kibbuz: »˜berall ist es hier so: Wenn man mit Arbeitern darîber spricht, sind sie befangen und affektgeladen, und die Reaktion ist reflexartig ablehnend. […] Unsere Frage ist nun, wie leben wir jîdisch in unserem Sinne, ohne eine solche reaktive Ablehnung zu erzeugen, die unseren Stand in der Arbeiterschaft sehr erschweren, wenn nicht unmçglich machen wird?«61 Die gewichtigsten Auseinandersetzungen der »Werkleute« betrafen jedoch ihre eigenen Gemeinschaftsbeziehungen. Die Erwartungen daran waren in Deutschland gewachsen: in der Entgegenstellung zu der dortigen feindlichen Umwelt und beim Gemeinschaftsleben des Bundes auf Fahrt, auf Lagern und auf den Heimabenden. Die dabei gewonnenen Gemeinschaftsideale hatten nur wenig øhnlichkeit mit den Anforderungen, die der Aufbau des gemeinsamen Kibbuz jedem und jeder Einzelnen abverlangte. Die dabei auftretenden großen Spannungen und persçnlichen Enttuschungen waren Gegenstand einer Kibbuz-Versammlung, die nur wenige Wochen nach der Ansiedlung auf dem Gelnde von Kibbuz Hasorea im Juni 1936 stattfand. In einer der dort gehaltenen Reden hieß es: 59 Ernst aus Chedera am 3. 2. 1934, im 4. Verbindungsbrief Mrz 1934, S. 14, Archiv Hasorea. 60 Pfffchen am 24. 3. 1934, im 5. Verbindungsbrief, S. 5, Archiv Hasorea, Akte. 61 Ernst aus Chadera am 3. 2. 1934, im Verbindungsbrief Mrz 1934, S. 14, Archiv Hasorea. Akte.

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»Der Gedanke der Gemeinschaft stand im Mittelpunkt unserer Bewegung, wir waren nicht nur Chaluzim. Wir sahen die Gemeinschaftsverwirklichung auch im Zusammenhang der jïdischen Geschichte. Fïr sehr viele unserer Ziele und Gedanken galt das ’Noch nicht’, nicht nur in Bezug auf das Religiçse oder darauf, dass wir keiner großen Bewegung angeschlossen waren. Dennoch war in der Bewegung ein Kern von Verwirklichung des Gemeinschaftslebens. Die Mçglichkeit unmittelbaren Sprechens war da. Wir wussten uns auf einem gemeinsamen Weg und ertrugen das ’Sitzen zwischen den Stïhlen’. Hier im Kibbuz wurde das bald ganz anders. […] Jeder lebt eigentlich in einem kleinen Kreis. […] Feiern gelangen uns nur, wenn es um etwas Negatives ging, das in spaßhafter Weise rezitiert wurde. Gerade in der kulturellen Gestaltung, in Fragen, die uns als Bewegung am Herzen lagen, gelang uns nichts. Trotz des gemeinsamen Aufbaus unseres Mescheks [Wirtschaft], auf den wir so sehr warteten, schloss das die Chawerim des Kibbuz nicht zusammen. Im Gegenteil: ’Wir bauen unseren Meschek mit Znkereien’. In manchen Kibbuzim, wo man Fragen der Gemeinschaft nicht so wichtig nahm, gelang mehr als bei uns. Es gelang uns bisher keine Gestaltung des inneren Lebens, kein Gesetz wirkt ordnend.«62 Hier wird deutlich, wie sehr die Realitt des Lebens im Kibbuz bisherige Ideale verunsicherte. Dennoch wirkte die »Werkleute«-Tradition fort. Was im Laufe der Zeit daraus wurde? Zur geschichtlichen Erfahrung des Kibbuz eine øußerung von Martin Buber, der den »Werkleuten« und dem Kibbuz Hasorea zeitlebens verbunden blieb, geschrieben 1947: »Ich sagte, dass ich im Verlauf dieses verwegenen Unternehmens des jïdischen Volkes [der Kibbuz-Bewegung, I. K.] ein vorbildliches Nicht-Scheitern sehe. Ich darf nicht sagen: ein vorbildliches Gelingen. Damit es das werde, wird noch viel zu tun sein. […] Wenn einmal jedoch ein Versuch unter bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen in einem gewissen Maße gelungen ist, dann kann man daran gehen, ihn unter anderen Voraussetzungen und Bedingungen zu variieren.«63 Die Einschtzung Martin Bubers habe ich einem Text entnommen, den er »Pfade in Utopia« îberschrieben hat. Darin stellt Buber Bedingungen auf, unter denen kommunitre Bewegungen als »gelungen« bezeichnet werden kçnnen. Zu solchen Kennzeichnungen gehçrte, dass die Werke der Pioniere zu »Zentren der Anziehung und Wirkung« werden und »ideelle Motive einen lockeren, plasti62 Schaul (Trçdel): Bericht îber die Unterhaltung im Kibbuz Hasorea am 23. 5. 1936, S. 2 ff., Archiv Hasorea. 63 Martin Buber : Noch ein Experiment, in: ders.: Der Utopische Sozialismus, Kçln 1967, S. 217 – 233, S. 231 f.

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schen Charakter« bewahren sollten. In diesem Sinne sah er in der Siedlungsbewegung der Kibbuzim ein »vorbildliches Nicht-Scheitern«. Ich denke, dass Hasorea, was seine Vergangenheit angeht, ein Beispiel dafîr ist. Ob auf Dauer gesehen Martin Buber zu optimistisch war, darîber wage ich kein Urteil, denn es ist hier nicht der Ort, îber die weitere Entwicklung des Kibbuz-Modells zu spekulieren. Zur Geschichte in den 1930er Jahren und der Folgezeit lsst sich festhalten: Fîr junge Menschen, die aus der deutsch-jîdischen Jugendbewegung in die Kibbuzim gingen, war die Ideenwelt ihres Bundes ein prgendes Element auf diesem Weg. Gleichzeitig brach sich jedoch vieles aus dieser Ideenwelt an den Praxiserfahrungen der neuen Siedlerexistenz: Der Jugendmythos wurde zur biographischen Erinnerung. Glossar : Galut/Gola: hebr. fîr Zerstreuung, Verbannung; Chaluziat: hebr. fîr Pioniertum in Palstina; Schlichim (Pl. von Schaliach): hebr. Bezeichnung fîr Abgesandte der Kibbuzbewegungen, die in Deutschland die Jugendbînde organisatorisch und pdagogisch bei der Vorbereitung auf die Alija unterstîtzten und auf diese Weise neue Mitglieder fîr ihre jeweils eigene Kibbuzbewegung zu gewinnen suchten. Chawerim (Pl. von Chawer/Chawera): hebr. Kamerad, Bezeichnung auch fîr Freunde, Genossen oder Mitglieder der Kibbuzim; Jischuw: hebr. Siedlung, Bezeichnung fîr die jîdische Gemeinschaft in Palstina vor der Staatsgrîndung; Kawana: hebr. fîr neue Ausrichtung.

III. Jïdische Jugend in Europa und im Exil

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Auf der Suche nach der zentraleuropisch-jïdischen Generation des Ersten Weltkrieges: »Weltbïhne« und »Brith Shalom«1

»Das Leben hat uns, die wir heute in unserem siebenten Jahrzehnt stehen, in der Geschichte einen Anschauungsunterricht erteilt, wie ihn nicht viele Generationen gehabt haben. Wir haben gelernt, die Kunstbegriffe, die man uns gelehrt hatte, auf Nïtzliches anzuwenden. Es war Arnold Zweig von frïhester Jugend klar, dass er zum Schriftsteller geboren ist. Eine bessere Lehrzeit aber, eine reichere, als die Umschwïnge, welche ein Deutscher unserer Generation, der noch obendrein Jude ist, hat durchmachen mïssen, kann ein Schriftsteller nicht haben.« (Lion Feuchtwanger)2 »Ihr politischer Standpunkt basierte auf der Verneinung der existierenden politischen und sozialen Ordnung, und orientierte sich an den Idealen einer vollkommenen und totalen Vernderung aller Lebensverhltnisse. Doch das Leben ging weiter, innerhalb einer festen gesellschaftlichen Struktur, deren Verschwinden sich niemand htte ausmalen kçnnen, in Mitteleuropa, an dessen politischer Stabilitt niemand zweifelte. Fïnfzig Jahre danach bleibt nichts von dieser Welt ïbrig als die Erinnerungen einer alternden und aussterbenden Generation. […] Nur selten begegnet man einer Generation, die die totale Zerstçrung der Wirklichkeit, welche ihr Denken und Empfinden geformt hatte, miterlebte, […] eine jïdische Generation in Zentraleuropa, welche die Fehler der Verhltnisse ihres ethischen und politischen Lebens erkannte und den Weg in ein neues Land, das Land Israel suchte, […] aber von einem Strom von Revolutionen und Wandlungen mitgerissen wurde, der von ihrem ursprïnglichen Ziel weit entfernt war.« (Robert Weltsch)3

1 Aus dem Hebrischen von Antje C. Naujoks. 2 Lion Feuchtwanger : Centum opuscula: Eine Auswahl, Rudolstadt: 1956, hier S. 571. 3 Robert Weltsch: Darko u-Tkufato shel Leo Hermann, in: Felix Weltsch (Hg.): Prag ve-Yerushalayim: Sefer le-zikhron Leo Hermann, Jerusalem 1950, S. 125 (Hebr.).

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Einleitung Die klassischen Werke îber Generationen und ihrer geschichtlichen Rollen wurden von Jos¤ Ortega y Gasset und Karl Mannheim im frîhen 20. Jahrhundert verfasst.4 Es scheint, als ob sptere Beitrge zur Generationsforschung weniger in neuen theoretischen Werken als in einem umfassenden Aufgebot generationshistorischer Studien bestanden, die sich mit diversen historischen Schaupltzen befassten und von Sozial- und Kulturhistorikern geschrieben wurden. In den 1970er Jahren, also in den unmittelbaren Jahren nach der Studentenrevolte, kam es zu einem regelrechten Boom solcher Studien; in den letzten Jahren ist eine Art Wiederaufleben der Generationsforschung zu beobachten.5 In meinem Beitrag mçchte ich einen generationellen Ansatz fîr die Analyse von zwei augenscheinlich separaten Phnomenen vorstellen: zum einen die zionistische Vereinigung »Brith Shalom«, die im Palstina der zweiten Hlfte der 1920er Jahre aktiv war, und zum anderen die Wochenschrift »Weltbîhne«, »wohl das wichtigste Organ [der] linken und doch freischwebenden jîdischen Intelligenz« der Weimarer Republik.6 Bei »Brith Shalom« handelt es sich um einen Abschnitt der Geschichte des Zionismus und des Yishuw (vorstaatlich-jîdische Gemeinschaft in Palstina, Anm. der ˜bersetzerin), der auf den ersten Blick nichts mit Zentraleuropa gemein hat, whrend die »Weltbîhne« einen intellektuell-kulturellen Abschnitt in der Geschichte Deutschlands reprsentiert, der wiederum scheinbar nichts mit der jîdischen Geschichte zu tun hat. Tatschlich jedoch sind beide Abschnitte bzw. Phnomene eng mit der intellektuellen Geschichte des zentraleuropischen Judentums verbunden: Aus Zentraleuropa 4 Jos¤ Ortega y Gasset: The Modern Theme, New York 1961 (Originalausgabe: Jos¤ Ortega y Gasset: El tema de nuestro tiempo: El ocaso de las revoluciones, El sentido histûrico de la teor„a de Einstein, Madrid: Calpe 1923); Karl Mannheim: Das Problem der Generationen. In: Kçlner Vierteljahreshefte fîr Soziologie, 7. Jg, Heft 2, Berlin 1928. Einen weiteren wichtigen Beitrag verfasste einer der Schîler von Ortega y Gasset: Julin Mar„as, Generations: A Historical Method, Tuscaloosa, AL 1970. 5 Mary Gluck: Georg Lukcs and his Generation, 1900 – 1918, Cambridge 1985; Jureit, Ulrike/ Wildt, Michael (Hgg.): Generationen: Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005; Jîrgen Reulecke (Hg.): Generationalitt und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. Schriften des Historischen Kollegs (= Kolloquien 58), Mînchen 2003; Mark Roseman (Hg.): Generations in Conflict: Youth Revolt and Generation Formation in Germany, 1770 – 1968, Cambridge/New York 1995; Robert Wohl: The Generation of 1914, Cambridge, Mass. 1979; Michael Wildt: Generation des Unbedingten: Das Fîhrungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002. Zum gegenwrtigen Generationsdiskurs und seinen unterschiedlichen Anstzen siehe die Diskussion bei Smelser, Neil/Paul Baltes (Hgg.): International Encyclopedia of Social and Behavioral Sciences, Amsterdam 2001; sowie Peter N. Stearns (Hg.): Encyclopedia of European Social History : From 1350 to 2000, Bd. 4, New York 2001. 6 Jost Hermand: Juden in der Kultur der Weimarer Republik. In: Grab, Walter/Schoeps Julius H. (Hgg.): Juden in der Weimarer Republik, Stuttgart 1986, S. 22.

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stammende Mitglieder waren in den Kreisen von »Brith Shalom« prominent vertreten, und auch in der »Weltbîhne« stellten Juden die Mehrheit der Autoren und Redakteure. Obwohl die jîdisch-zentraleuropische Dimension von beiden Kreisen heruntergespielt wurde, fuhren die jîdischen Intellektuellen Zentraleuropas dennoch in beiden Foren fort, sich an unterschiedlichen Fronten mit einem Sachverhalt auseinander zu setzen, den man als ›deutsch-jîdische Problematik‹ bezeichnen kann. Dieser Beitrag misst der Tatsache große Bedeutung zu, dass die dominante Gruppe beider Foren einer Generation angehçrte, die man als ›Generation des Ersten Weltkrieges des zentraleuropischen Judentums‹ umschreiben kann. Die Ideen, die beide Kreise formulierten, wurden îberwiegend im Verlauf des Ersten Weltkrieges geprgt. Sie sind meines Erachtens eine Reaktion auf die Kriegserlebnisse dieses Personenkreises im Allgemeinen und auf die jîdischen Kriegserlebnisse im Besonderen. Sie markieren einen entscheidenden Wendepunkt in der Anschauung der Mitglieder dieser beiden Foren bezîglich der Aufgabe der Intellektuellen. Aus Zentraleuropa stammende Juden, die zur Generation des Ersten Weltkrieges zhlten und auf Grund des Krieges eine tiefgreifende Politisierung ihrer Weltanschauung durchgemacht hatten, waren in beiden hier vorgestellten Foren die treibende Kraft. Die »Weltbîhne« war ein Forum fîr junge Literaten und Kritiker, die sich dem politischen Schreiben zuwandten. Sie hatten sich als Schriftsteller und Journalisten an die vorderste Front des Kampfes um die Gestaltung der deutschen Republik gestellt und sich dadurch den rechten, konservativen und militaristischen Krften entgegengestellt. In der »Brith Shalom«-Vereinigung waren Anhnger des Kulturzionismus ttig, die »mit Bedauern« sahen, »dass Regierungen und Vçlker es vorziehen, auch weiterhin ihre Sicherheit lieber der Gewalt der Waffen […] anzuvertrauen und […] grçßeren Wert auf Rîstungen als auf die kulturelle und wirtschaftliche Hebung der Massen legen.« Sie suchten nun nach politischen Lçsungen fîr die Herausforderungen, die nach dem Ersten Weltkrieg an den Zionismus gestellt wurden.7

»Brith Shalom« und die »Weltbïhne« Die »Brith Shalom«-Vereinigung wurde nach dem 14. Zionistenkongress im Jahre 1925 in Jerusalem ins Leben gerufen und war bis Anfang der 1930er Jahre aktiv. In den Statuten der »Brith Shalom«-Vereinigung wurde propagiert, »einen Weg der Verstndigung zwischen Juden und Arabern fîr ein gemeinsames Leben 7 Magnes, Jehudah L./Radler-Feldmann (Rabbi Benjamin)/Rabbi Jesajah Schapiro/Bergmann, Hugo/ Kohn, Hans/Scholem, Gerhard: Erklrung, In: Jîdischer Rundschau (23. 4. 1926), S. 231.

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in Palstina auf der Grundlage einer absoluten Gleichberechtigung der politischen Rechte von zwei kulturell autonomen Vçlkern zu ebnen, die sich im Rahmen ihrer gemeinsamen Arbeit fîr die Entwicklung des Landes einsetzen.« Obwohl îber die »Brith Shalom«-Vereinigung bereits breit publiziert wurde, existiert bisher noch keine entsprechende umfassende Monographie.8 Diese Vereinigung wurde von jungen Menschen aus Zentraleuropa dominiert, die sehr stark vom kulturellen Zionismus Achad Haams und Martin Bubers beeinflusst waren. »Brith Shalom« wird in der Forschung vor allem mit der Idee eines binationalen Staates zur Lçsung des nationalen Konfliktes in Palstina identifiziert, doch es scheint, dass das wesentliche und zentrale Charakteristikum der Vereinigung im Grunde genommen darauf beruhte, die ›Araberfrage‹ als vorrangig jîdische Frage anzusehen. Dieser Ansatz kam in der Vereinigung sehr deutlich zum Ausdruck, hatte jedoch auch schon vor der Grîndung von »Brith Shalom« – insbesondere gegen Ende des Ersten Weltkrieges – Ausdruck gefunden und spielte auch noch viele Jahre nach Auflçsung der Vereinigung eine Rolle. Die Berliner »Weltbîhne«, die fîhrende literarische und politische Zeitschrift der linken Intellektuellen der Weimarer Republik, war weitaus mehr als nur eine Wochenschrift. Es handelte sich um eine herausragende kulturpolitische Institution, die Grundeinstellungen der Weimarer Kultur verkçrperte: kritisch, unablssig provokativ und ewiger Außenseiter. Diese Wochenschrift, fîr die die namhaftesten Autoren der damaligen Zeit schrieben, war weder mit einer politischen Partei affiliiert, noch verschonte sie eine Partei mit ihrer Kritik. Es ist sehr aufschlussreich, dass die meisten Autoren dieser Wochenschrift, die stolz die Fahne des ›anderen Deutschland‹ hochhielt, jîdischer Abstammung waren. Die Idee des ›anderen Deutschland‹, die hufig als Motto der Wochenschrift deklariert wurde, sah im Deutschtum eine offene kulturelle Identitt als Alternative zur vçlkischen Identitt, die der zeitgençssische deutsche Nationalismus propagierte. Im Jahre 1933 wurde die Herausgabe der »Weltbîhne« eingestellt. 8 Zu Brith Shalom siehe u. a.: Susan Lee Hattis: The Bi-National Idea in Palestine during Mandatory Times, Haifa 1970; Hagit Lavsky : Before Catastrophe: The Distinctive Path of German Zionism, Detroit 1995; dies.: The Puzzle of Brit Shalom’s Impact on the Zionist Polemic: During its time and Afterwards, In: Zionism XIX (1995), S. 167 – 181 (Hebr.); dies.: Realpolitik and Moderate Nationalism: German Zionists and the Arab-Jewish Conflict, In: Eisenstadt, S. N. [Shmuel Noah]/Lissak, Moshe (Hg.): Zionism and the Return to History : A Reappraisal, Jerusalem 1999, S. 325 – 332 (Hebr.); Aharon Kedar : On the Ideology of Brith Shalom, In: ders./Yehoshua Ben-Zion (Hg.): Ideological and Political Zionism: Colleted Historical Studies, Jerusalem 1978, S. 97 – 114 (Hebr.); Dimitry Shumsky : Historiography, Nationalism and Bi-Nationalism: Czech-German Jewry, the Prague Zionists, and the Origins of Bi-National Approach of Hugo Bergmann, in: Zion LXIX/1 (2004), S. 45 – 80 (Hebr.); Judith Klein Weinstein: Der deutsche Zionismus und die Araber Palstinas: Eine Untersuchung der deutsch-zionistischen Publikationen, Frankfurt a. M./New York 1982; Shalom Ratzabi: Between Zionism and Judaism: The Radical Circle in Brith Shalom, 1925 – 1933, Boston 2001.

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Die meisten ihrer Autoren emigrierten ins Ausland und îbernahmen als Reprsentanten des ›anderen Deutschland‹ Schlîsselpositionen im sogenannten deutschen Exil. Die linke »Weltbîhne« ging whrend des Ersten Weltkriegs aus der literarischen und wilhelminisch-apolitischen Wochenschrift »Schaubîhne« hervor. Die Namensnderung von »Schaubîhne« zu »Weltbîhne« bezeugt, dass die von der Zeitschrift gesetzten Schwerpunkte einen tiefgreifenden Wandel durchlaufen hatten. Ohne wesentliche Umbesetzungen innerhalb des Autorenstabes wurde der Fokus der Wochenschrift weg vom modernen Theater und der modernen Literatur hin zu politischen Zeitfragen verlagert. Das Spektrum der Zeitschrift, in ihrer Tendenz antimilitaristisch, erstreckte sich îber die thematischen Bereiche Bîrgerrechte und Außenpolitik, Sozial- und Wirtschaftspolitik bis hin zur Kritik am Rechtssystem und an der politischen Kultur. Dies ist nicht auf eine Entscheidung der Redaktion der Wochenschrift zurîckzufîhren, sondern der Ausdruck einer kollektiven Politisierung der Autoren whrend des Ersten Weltkrieges und den Jahren danach.9 Diese Politisierung der Angehçrigen dieses Forums aufgrund ihrer Kriegserlebnisse wurde bereits von HansHelmuth Knîtter ausfîhrlich behandelt.10 Die jeweiligen Mitglieder von »Brith Shalom« und die Autoren der »Weltbîhne« kann man nicht als homogene Gruppe bezeichnen. Dennoch stellte die Generation des Ersten Weltkrieges des zentraleuropischen Judentums den dominanten Mitgliederanteil, d. h. es waren diejenigen tonangebend, die in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zur Welt gekommen und zur Zeit des Ersten Weltkrieges im wehrpflichtigen Alter gewesen waren. Im Hinblick auf die »Brith Shalom«-Vereinigung, die in den 1920er Jahren aktiv war, sind Akiva Ernst Simon, Werner Senator, Gerschom Scholem, Georg Landau, 9 Zur Weltbîhne siehe u. a.: Alf Enseling: Die Weltbîhne: Organ der intellektuellen Linken, Mînster 1962; Heidemarie Hecht: Von der »Schaubîhne« zur »Weltbîhne«: Der Entstehungsprozeß einer politischen Zeitschrift, Jena 1991; Ursula Madrasch-Groschopp: Die Weltbîhne: Portrt einer Zeitschrift, Kçnigstein i. T. 1983; David Midgley : Writing Weimar : Critical Realism in German Literature, 1918 – 1933, Oxford/New York 2000; Gunther Nickel, Die Schaubîhne – die Weltbîhne: Siegfried Jacobsohns Wochenschrift und ihr sthetisches Programm, Opladen 1996; Stefanie Oswalt: Die Weltbîhne: Zur Tradition und Kontinuitt demokratischer Publizistik, St. Ingbert 2003; Elke Suhr : Zwei Wege, ein Ziel: Tucholsky, Ossietzky und die Weltbîhne, Mînchen 1986; W. B. van der Grijn Santen: Die Weltbîhne und das Judentum: Eine Studie îber das Verhltnis der Wochenschrift »Die Weltbîhne« zum Judentum, hauptschlich die Jahre 1918 – 1926 betreffend, Wîrzburg 1994; Sigrid Thielking: Weltbîrgertum: Kosmopolitische Ideen in Literatur und politischer Publizistik seit dem achtzehnten Jahrhundert, Mînchen 2000. 10 Hans-Helmuth Knîtter : Die Juden und die deutsche Linke in der Weimarer Republik: 1918 – 1933, Dîsseldorf 1971, S. 52 – 55. In diesem Beitrag begnîgte sich Knîtter mit der Darstellung des Wendepunktes, versuchte jedoch nicht, ihn im Ersten Weltkrieg als eine wichtige Phase in der Geschichte des deutschen Judentums historisch zu verorten.

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Hans Kohn, Robert Weltsch und Shmuel Hugo Bergmann zu nennen. Darîber hinaus arbeiteten Historiker wie Shalom Ratzabi und Aharon Kedar îber den radikalen Flîgel der »Brith Shalom«-Vereinigung heraus, dass alle seine Anhnger zur gerade erwhnten Generation Zentraleuropas gehçrten und ab Mitte des Jahres 1927 zu deren »Musterreprsentanten« wurden.11 Auch in der »Weltbîhne« waren viele Juden vertreten. Sie machten rund Zweidrittel aller Mitarbeiter aus. Im Hinblick auf die Generation des Ersten Weltkrieges in diesem Kreis sind u. a. Walter Hasenclever, Kurt Pinthus, Arnold Zweig, Julius Bab, Berthold Jacob, Ernst Toller, Egon Erwin Kisch, Manfred George, Walther Mehring, Ludwig Marcuse, Bruno Frei, Lion Feuchtwanger sowie zwei der drei Herausgeber – Siegfried Jacobsohn und Kurt Tucholsky zu nennen. Whrend die zentraleuropischen Hintergrînde und Erfahrungen vor allem in der »Brith Shalom«-Vereinigung eine bedeutende Rolle spielten, so waren es im Hinblick auf die in der »Weltbîhne« vertretenen Anschauungen und ihre Wahrnehmung in der Weimarer Republik gerade die spezifisch jîdischen Hintergrînde und Erfahrungen. Ich mçchte hier besonders darauf hinweisen, dass es das Erlebnis des Ersten Weltkrieges ist, das zum Auslçser fîr das Aufkommen jener politischen ˜berzeugungen wird, auf denen sowohl die »Brith Shalom«-Vereinigung als auch die »Weltbîhne« aufbauten, und zwar durch die Zugehçrigkeit zur Kriegsgeneration und zum zentraleuropischen Judentum.

Generationen und Generationalitt Rund achtzig Jahre nach Karl Mannheims Buch »Das Problem der Generationen« scheint sein Werk nach wie vor einer der zentralen Beitrge zur Thematik zu sein.12 Es entstand im Rahmen von Mannheims Forschungen zur Wissenssoziologie und stellt drei prinzipielle Definitionen vor, die fîr den hier behandelten Kontext von Bedeutung sind: Erstens sind Generationen keine konkreten Gruppen, sondern eine Form von ›sozialer Lagerung‹, die auch auf die gesellschaftliche Stellung zurîckzufîhren ist, wie z. B. im Falle eines Freundeskreises. Somit ist der zu erforschende Begriff die Generationslagerung.13 Diese Generationslagerung weist zweitens – ebenso wie jede andere soziale Lagerung auch – eine Tendenz zu bestimmten Verhaltens-, Gefîhls- und Denkweisen auf. Nach Mannheim ist die Generationslagerung als Potentialitt stets vorhanden und versuche, sich stets zu verwirklichen, in der Zukunft realisiert und dabei 11 Kedar : On the Ideology (siehe Anm. 8), S. 236, 271; Ratzabi, Between Zionism, wie Anm. 8, S. XII–XVII. 12 Mannheim: Das Problem, 1928, hier S. 351 – 395. 13 Ebd., hier S. 363 – 364.

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sichtbar zu werden oder aber verborgen zu bleiben. Die Zukunft dieser Generationslagerungen hnge von ihren zum historischen Prozess bestehenden Wechselbeziehungen oder, mit Mannheims Worten, von ihren »gemeinschaftlichen historischen Schicksalen« ab.14 Drittens hlt Mannheim fest, dass sich die herausbildenden Generationen aus antagonistischen Generationseinheiten zusammensetzen, die trotz aller Differenzen »ein einheitliches Reagieren, ein im verwandten Sinne geformtes Mitschwingen und Gestalten der gerade insofern verbundenen Individuen einer bestimmten Generationslagerung« teilen.15 Whrend der Epoche, die im vorliegenden Band als »Zeitalter der Jugend« bezeichnet wird, wurde der Begriff Generation erst neu entdeckt. In Zentraleuropa – so zeigte bereits Robert Wohl in seinem klassischen Werk »Generation of 1914« – stand der Generationsdiskurs in einer besonders engen Verbindung mit der Idee der Lebenskraft der Jugend und dem Image einer Verjîngung der Nation.16 Wohls Grundaussage scheint sich jedoch darauf zu beziehen, dass sich in allen europischen Nationen am Vorabend des Ersten Weltkrieges und in den ersten Jahren danach ein gesteigertes – vermutlich sogar ein beispiellos gesteigertes – Generationsbewusstseins bemerkbar machte, das darîber hinaus zunehmend virulent wurde. Junge Menschen, die in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts geboren worden waren und daher zur Generation des Ersten Weltkrieges gezhlt werden mîssen, brachten dieses neue Bewusstsein zum Ausdruck. Das Kriegserlebnis verschrfte das neue Generationsbewusstsein, auch wenn es bereits in den Jahren davor etabliert war. In seinem Buch vertritt Wohl die These, dass die historischen Vernderungen, die Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfassten, auch ohne den Weltkrieg das geschrfte Generationsbewusstsein hervorgebracht htten. Bei einem dieser historischen Faktoren handelt es sich um die Vernderung der Vater-Sohn-Beziehung in den modernen, industrialisierten und post-traditionellen europischen Gesellschaften: In diesen Gesellschaften konnten die Erfahrungen und Fhigkeiten der Vter den Sçhnen nichts mehr nîtzen, so dass Sçhne die vterliche Dominanz als besonders drîckend empfanden. Nachdem die innere Logik der traditionellen Autoritt des Vaters verloren gegangen war, erlebten die Angehçrigen der jungen Generation »die Forderung des Vaters nach Gehorsam, Respekt, nach Disziplin und Leistung […] als Ausdrîcke einer unertrglichen Tyrannei, die jegliche Revolte rechtfertigte.«17 Ein weiterer historischer Faktor, der das gesteigerte Generationsbewusstsein 14 15 16 17

Ebd., hier S. 366, 394. Ebd., hier S. 381. Wohl: Generation, 1979, hier S. 48. Ebd., hier S. 206.

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prgte, war die Re-Konzeptualisiierung von Jugend: Whrend bis zum 19. Jahrhundert in erster Linie aristokratische Lebensformen in der Definition zugrunde gelegt waren, fîhrten die Vernderungen in der europischen Gesellschaft whrend der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts dazu, dass der nun zur Norm gewordene sptere Eintritt in die Arbeitswelt und in das Familienleben die Periode der Jugendjahre auch fîr breite Bevçlkerungsgruppen gleichsam verlngerte.18 Das einflussreichste Ereignis – der Erste Weltkrieg – kam somit zu diesen Faktoren hinzu, die schon zuvor zur Ausbildung einer selbstbewussten Generation gefîhrt hatten. Das Kriegserlebnis und die einsetzenden gravierenden historischen Vernderungen intensivierten (oder verstrkten?) die besondere Identitt der Kriegsgeneration und ihre einzigartigen Charakteristika. Das Image dieser Generation, das Wohl zwar herunterspielte, jedoch keineswegs fîr nichtig erklrte, wird literarisch in Erich Maria Remarques Roman »Im Westen nichts Neues« reflektiert: Es war eine Generation, die sich geopfert und von den Erwachsenen – von ihren Lehrern und von den Generlen – verraten fîhlte und nicht auf die Herausforderungen vorbereitet war, die die Geschichte fîr sie bereithielt. Daher waren Angehçrige dieser Generation vielfach durch Zynismus und bittere Ernîchterung gekennzeichnet, und ihre Integration in die Nachkriegsgesellschaft stellte ein schwieriges Unterfangen dar.19 Diese Generation wird hufig als eine Brîcke zwischen der »Welt von Gestern« (Stefan Zweig), die sie hinter sich zurîckgelassen hatten, und dem Inferno des 20. Jahrhunderts, das die Angehçrigen dieser Generation als Erste erlebten, dargestellt. Eine Folge scheint zu sein, dass die Generation von 1914 als erste den allgemeinen ˜bergang zum modernistischen Bewusstsein verkçrperte. Es versteht sich von selbst, dass man einer ganzen Generation nicht verallgemeinernde Eigenschaften wie Zynismus oder Naivitt zuschreiben kann. Die Generationsentelechie, îber die Mannheim schrieb, wollte nicht eine ganze Gemeinschaft verallgemeinernd charakterisieren, sondern sollte vielmehr die Wechselbeziehungen unterschiedlicher Generationen mit einem gemeinschaftlichen historischen Schicksal sowie ihren einzigartigen Empfindungen verdeutlichen, die sich auf Grund eben dieser Wechselbeziehungen ausbildeten. Diese Beobachtungen zur Kriegsgeneration haben auch einen Bezug zur Geschichte des zentraleuropischen Judentums, wie er beispielsweise von Mannheim im Hinblick auf die von ihm vorangetriebene Generationsdiskussion und die in ganz Europa einsetzende Beschftigung mit der generationellen Selbstdefinition herausgearbeitet wurde. Hier sind weitere Forschungen besonders im Hinblick auf 1914 nçtig: Abgesehen von den erwhnten allgemeinen 18 Ebd., hier S. 206 – 207. 19 Paul Fussell: The Great War and Modern Memory, New York 1975.

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und îbergreifenden Charakteristika als Kriegsgeneration wies die jîdische Kriegsgeneration weitere Merkmale auf, die ausschließlich dieser Gruppe zueigen waren. Es handelte sich um eine post-emanzipatorische Generation, deren Identifikation mit der deutschen Kultur augenscheinlich selbstverstndlich war. Daher setzten sich die Angehçrigen dieser Generation in jungen Jahren mit einem Judentum auseinander, das kaum noch Ausdruck in ihrem eigenen Leben fand. Es war eine Identitt, die sich im Wesentlichen in der Erfahrung des Ausschlusses seitens der nicht-jîdischen Gesellschaft manifestierte. Whrend ihrer Jugendjahre thematisierten die spteren Angehçrigen der »Brith Shalom«Vereinigung und der »Weltbîhne« – auf sehr unterschiedlichen Ebenen – Spannungen mit der liberalen Generation ihrer Vter und deren bîrgerlicher Lebensweise. Sie haben ein weiteres Merkmal gemeinsam, das wesentlich deutlicher bei denjenigen zum Ausdruck kam, die sich whrend ihrer Jugend ernsthaft mit Philosophie, Kunst und Literatur beschftigt hatten: Sie verwandelten die Bildung – das primre Integrationssprungbrett des zentraleuropischen Judentums – in ein Instrument der Subversion, der Herausforderung kleinbîrgerlicher Moral, und der freiwilligen Selbstabgrenzung (Dissimilation). Diese Generationscharakteristika bestimmten letztlich, wie die Angehçrigen der jîdischen Generation den Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 aufnahmen und auf welche Art und Weise sie die Herausforderungen des jîdischen Kriegserlebnisses in Deutschland und in §sterreich bewltigten. Diese generationellen Aspekte sind fîr das Verstndnis des Prager zionistischen »Vereins jîdischer Hochschîler Bar Kochba« relevant, in dem die spteren Mitbegrînder und Wortfîhrer der »Brith Shalom«-Vereinigung Shmuel Hugo Bergmann, Robert Weltsch und Hans Kohn ttig waren. Der Sammelband »Vom Judentum«, den dieser Verein im Jahre 1913 verçffentlichte, ist eine ergiebige Quelle fîr das, was Wohl »Generationalismus« nennt, d. h. ein Zurîckgreifen auf Generationskategorien zum Verstndnis von prinzipiellen historischen Prozessen, die typisch fîr die (zukînftige) Kriegsgeneration war. In der Einleitung des Bandes erluterte der sptere Historiker und Wegbereiter der Nationalismusforschung Hans Kohn, der damals als Vorsitzender des Vereins amtierte, dass dieses Buch das Sprachrohr einer neuen, post-liberalen Generation des zentraleuropischen Judentums darstelle. Es komme, so schrieb er, »der Notwendigkeit der Aussprache einer Generation, die in dem Bewusstsein lebt, dass in ihrem Leben und durch ihr Leben das Schicksal des Judentums die entscheidende Wendung erfhrt,« nach. Zudem hielt er fest: »Es ist eine neue Art Jude entstanden.« In Bezug auf die »Jîdische Renaissance« zitierte Kohn einen franzçsischen Intellektuellen folgendermaßen: »Eine Renaissance wird hauptschlich nicht durch vollkommene Werke hervorgerufen, sondern durch die

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Kraft und Einheitlichkeit des Ideals bei einer lebensvollen Generation.«20 Weiter fîhrte er aus: »Leben war stets Kampf. Zionismus ist der Kampf der Jugend, die hçher will, gegen die Alten, die Trgen, die Mîden, die nicht mehr wachsen kçnnen und die kein Sturm der Begeisterung mehr aufrîtteln kann.«21 Und weiter : »Es spricht hier eine neue Generation, die wenigsten haben die frîhere Zeit miterlebt. Dass aber auch in uns das Brausen des Frîhlings und Mut der Jugend herrscht, wissen wir.«22 In seinem Beitrag zum Sammelband schlug Kohn einen aufschlussreichen historischen Vergleich vor : »Und wie vor hundert Jahren die Romantik, die Gefïhlserregung, dem deutschen Volke erst wieder sein nationales Dasein schenkte […] so ist heute in Henri Bergson, Karl JoØl, Martin Buber, Gustav Landauer u. a. eine jïdische Generation herangewachsen, die das jïdische Weltbild der jungen Generation gestaltet, gedeutet hat.«23 Auch Robert Weltschs Beitrag in dem Sammelband »Theodor Herzl und Wir« hat eine hnliche Stoßrichtung, denn auch er richtete sich sehr deutlich gegen die liberale Elterngeneration: »In keinem Menschen triumphiert der liberale Individualismus, so wie im Juden. Seine Interessen erschçpfen sich in einem dauernden Geplnkel um die faktische Durchsetzung der auf dem Papier gewhrten Rechte. Nirgends fließt der Strom des Lebens; der Jude will den Schein des Lebens erwecken. Er wird Schauspieler, Flscher, Lïgner.«24 Er stellte sich selbst und die jungen Angehçrigen der zionistischen Generation, die »die innere Unwahrheit, die Wesenlosigkeit des Judentums unserer Zeit« erkennen, den Eltern gegenîber. »Die Lïge und Kriecherei, eine Folge der Gewçhnung an Unterdrïckung und des aufgezwungenen Erhaltungskampfes, rationalistische ˜berhebung und materialistische Geschftigkeit, eine Folge des Anteils an der europischen Entwicklung, sind die beherrschenden Mchte im Leben des Juden; wir sind verantwortlich, dass das neue Geschlecht von Juden aus dieser Entartung befreit werde […]. Der Weg, den wir Jungen gehen, ist nicht der Weg Theodor Herzls.«25 Weltsch geht davon aus, dass die junge zionistische und post-liberale Generation 20 21 22 23 24 25

Verein jîdischer Hochschîler Bar Kochba in Prag (Hg.): Vom Judentum, Leipzig 1913, S. V. Ebd., hier S. VIII. Ebd., hier S. IX. Ebd., hier S. 12. Ebd., hier S. 157 – 158. Ebd., hier S. 163 – 164.

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sich nicht mehr mit dem Streben nach einer formalen Organisation des jîdischen Volkes begnîgen werde, sondern darauf bedacht sei: »Was in der Vergangenheit von der Triebkraft, dem webenden Geist der Volksphantasie, geschaffen worden ist, muss wieder unser nationales Gut werden: der ungeahnte Reichtum unserer Mythologie, unsere Sagenwelt, unsere Poesie, unsere Weisheit, unsere religiçse Inbrunst, unsere Mystik.«26 Der »Bar Kochba«-Verein war keine Einzelerscheinung. Viele Studien, die sich mit diesem Verein beschftigen, neigen dazu – was bis zu einem gewissen Grad durchaus berechtigt ist –, die einzigartige jîdische Problematik in Prag und Bçhmen hervorzuheben und auf die außergewçhnliche intellektuelle Diskussion hinzuweisen, die in diesen Kreisen gefîhrt wurde. Dennoch halte ich es fîr angebracht, von dieser Interpretation Abstand zu nehmen, denn in vielerlei Hinsicht handelte es sich um eine recht typische Erscheinung der zweiten Generation des zentraleuropischen Zionismus, wie auch das »Bar Kochba«-Mitglied Robert Weltsch betonte. Er vertrat vehement den Standpunkt, dass man den Prager Zionismus im Kontext des zentraleuropischen Zionismus als solchen betrachten mîsse. Als einen Beleg dafîr fîhrte er den Besuch von Kurt Blumenfeld, einem der fîhrenden Leiter der deutschen Zionisten und spterem zeitweiligen Mitglied der »Brith Shalom«-Vereinigung, in Prag an: »Als Blumenfeld uns im Jahre 1910 besuchte, entdeckten wir, zu unserem Erstaunen, das sie [die deutschen Zionisten] sich mit denselben Fragen beschftigten. Unser Zionismus war [auch] eine Suche nach Identitt. [Auch] wir haben unseren Zionismus in der deutschen Kultur, in Fichte, Hçlderlin und Nietzsche gefunden.«27

Das jïdische Kriegserlebnis Am Vorabend des Ersten Weltkrieges erstarkte in Europa das Generationsbewusstsein einer sich zunehmend abgrenzenden Jugend, wie es etwa auch in den Schriften des »Bar Kochba«-Vereins zum Ausdruck kam. Aber die konstituierende Jugenderfahrung sowie die der Angehçrigen ihrer gesamten Generation wurde die jîdische Kriegserfahrung im deutschen oder çsterreichischen Kontext. Sie beinhaltete nicht nur die generelle Kriegserfahrung – sei es an der Front oder im Hinterland –, sondern auch die Ahnung (oder die Erkenntnis), dass es 26 Ebd., hier S. 162. 27 Transkript eines Interviews mit Robert Weltsch vom April 1971, das Yehuda Aloni fîhrte, in: Institute for Contemporary Judaism, Oral History Division, Signatur 41 (56).

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sich beim Krieg um den historischen Prîfstein fîr das zentraleuropische Judentum handelte.28 Die deutsch-jîdische Kriegserfahrung begann mit der Aussicht auf eine umfassende jîdische Integration im Zuge ihrer Beteiligung an den deutschen Kriegsbemîhungen und des Burgfriedens, den Wilhelm II. in seiner berîhmten zweiten Balkonrede proklamierte: »Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr ; wir sind heute alle deutsche Brîder und nur noch deutsche Brîder.« Dies hatte bei deutschen Juden die beispiellose Hoffnung geweckt, ihre Loyalitt gegenîber dem Vaterland durch diese Feuerprobe unter Beweis stellen zu kçnnen, um so die von ihnen ersehnte Integration in die deutsche Nation zu erlangen. In seinen Memoiren blickte der Dramatiker und Autor der »Weltbîhne« Ernst Toller auf diesen Hoffnungsschimmer zurîck, der in ihm den Kampfgeist geweckt und den Wunsch verstrkt hatte, als Deutscher akzeptiert und damit vollstndig in das Deutschtum integriert zu werden: »Ich denke an meine frïhe Jugend, an den Schmerz des Knaben, den die anderen Buben ,Jude‹ schimpften, […] an die schreckliche Freude, die ich empfand, wenn ich nicht als Jude erkannt wurde, an die Tage des Kriegsbeginns, an meinen leidenschaftlichen Wunsch, durch den Einsatz meines Lebens zu beweisen, dass ich Deutscher sei, nichts als Deutscher. Aus dem Feld hatte ich dem Gericht geschrieben, es mçge mich aus den Listen der jïdischen Gemeinschaft streichen.«29 Die Zionisten unterschieden sich in dieser Hinsicht nicht wesentlich von den ›Assimilanten‹, denn auch sie nahmen bereitwillig die Gelegenheit wahr, im Namen der nationalen jîdischen Ehre gegen Pogrom-Russland zu kmpfen. Somit kann es nicht îberraschen, dass sich auch die Mitglieder des »Bar 28 Zum Ersten Weltkrieg als Abschnitt in der Geschichte des zentraleuropischen Judentums siehe u. a.: Werner Mosse (Hg.): Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916 – 1923, Tîbingen 1971; George L. Mosse: Jews and the German War Experience, in: ders. (Hg.): Masses and Man: Nationalist and Fascist Perceptions of Reality, New York 1980; David Engel: Patriotism as a Shield: The Liberal Jewish Defense against Antisemitism in Germany during the First World War, in: Leo Baeck Institute Yearbooks 31 (1986), S. 147 – 171; Bernd Hîppauf: Ende der Hoffnung – Anfang der Illusionen? Der Erste Weltkrieg in den Schriften deutscher Juden, In: Albrecht Schçne (Hg.): Kontroversen, alte und neue 5 (= Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Gçttingen 1985), Tîbingen 1986; Donald L. Niewyk: The German Jews in Revolution and Revolt, 1918 – 1919, In: Studies in Contemporary Jewry 4 (1988), S. 41 – 66; Istvan Deak: Jewish Soldiers in Austro-Hungarian Society, In: Leo Baeck Memorial Lecture 34 (1990); David Rechter : The Jews of Vienna and the First World War, London und Portland 2001; Marsha L. Rozenblitt: Reconstructing a National Identity : The Jews of Habsburg Austria during World War I, Oxford und New York 2001; Ulrich Sieg. Jîdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg: Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuorientierung, Berlin 2001. 29 Ernst Toller : Jugend in Deutschland, Amsterdam 1933, hier S. 276 – 277.

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Kochba«-Vereins freiwillig zum Frontdienst meldeten. In einem vielfach zitierten Brief, den Buber an das mobilisierte »Bar Kochba«-Mitglied Hans Kohn schrieb, hielt er îber den Beginn des Krieges fest: »Nie ist mir der Begriff ›Volk‹ so zur Realitt geworden […] unter den Juden herrscht fast durchweg ein ernstes großes Gefîhl.« Aus dem Johannisevangelium zitierend fuhr er fort: »Wer sein Leben liebt, wird es verlieren. […] dass wir unsern alten Schild ›nicht mit Gewalt, sondern mit Geist‹ nicht mehr brauchen, da Kraft und Geist nun eins werden sollen. Incipit vita nova!«30 Diese gehobene Stimmung und die Erkenntnis, dass es sich um eine »große Zeit« handelt, gehen auch aus einem Frontbrief des »Bar Kochba«-Mitglieds Alfred Kraus hervor. Als er sich im September 1914 an der serbischen Front aufhielt, schrieb er diesen Brief an seinen Vereinskameraden Robert Weltsch: »Lieber Robert! Weißt Du, ich sehe auch daran, dass dieser Krieg, unfassbar noch in Dimension und Weiterwirken, das Eine Grosse und Schçne uns, der Jugend aller Nationen, uns Juden in erster Linie gebracht hat, dass wir wieder den Sinn von activitas erfassen und was lebendiges Erleben ist. […] es ist eine Lust zu leben! […] Ich war leider noch bei keiner ernstlichen Affre […] Hoffe noch immer mich in der mnnermordenden Feldschlacht mit Ruhm bedecken zu kçnnen […]. Dir und Hans Kohn und einigen Bb. [= Bundesbrïder] wird das Soldatenleben zum Heile werden, eine neue Bar Kochbaner-Rasse sehe ich herauskommen. […] Und im Defiliertempo durchs Leben, mein lieber Junge und Kriegskamerad! Auf frohes Wiedersehen, hier oder dort.«31 Eine Woche, nachdem Alfred Kraus diese Zeilen geschrieben hatte, fiel er an der Front. Hans Kohn geriet gleich whrend einer der ersten Schlachten, an denen er teilnahm, in Kriegsgefangenschaft. Ebenso erging es dem »Bar Kochba«-Mitglied Arnost Kolman. Der Fronttod von Freunden sowie die Verletzung bzw. die Kriegsgefangenschaft anderer Freunde verschlechterten die Stimmung gravierend whrend des Sommers 1914. Die Kriegserfahrung zentraleuropischer Juden – die genauso von dem langwierigen Kriegsverlauf betroffen waren wie die Gesamtgesellschaft – wurde darîber hinaus von der nicht erfîllten Hoffnung auf volle Integration geprgt. So groß ihre Erwartungen gewesen waren, so grenzenlos war nun ihre Enttuschung angesichts von Ausgrenzung und Antisemitismus an der Front und im Hinterland einerseits und der Judenzhlung der Behçrden andererseits. In Reaktion auf antisemitische Vorwîrfe, dass Juden sich vor dem Dienst an der Front drîcken und, falls îberhaupt mobilisiert, deser30 Martin Buber : Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, Bd. I, Heidelberg 1972, hier S. 370 – 371. 31 Archives of the Leo Baeck Institute, New York, Robert Weltsch Collection, AR 7185, Box 1, Folder 58.

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tieren wîrden, fîhrten die deutschen Behçrden Ende 1916 eine Erhebung der Juden in Uniform durch. Fîr viele jîdische Soldaten war das ein entscheidender Wendepunkt, denn man kann sich kaum eine deutlichere Ausgrenzung der in der deutschen Armee dienenden jîdischen Soldaten denken: Ausgerechnet der gemeinsame Waffendienst, in den die Juden so große Hoffnung gesetzt hatten, weil Juden und Christen als Kameraden Seite an Seite dienten und kmpften, fçrderte letztlich das Gefîhl der Fremdheit und der Isolation des jîdischen Soldaten als Individuum und der jîdischen Gesellschaft als Kollektiv. Dies fasste vor allem Ernst Simon, der Frontsoldat gewesen war und sich spter der »Brith Shalom«-Vereinigung anschloss, nach dem Krieg in deutliche Worte. In seinem Artikel »Unser Kriegserlebnis« aus dem Jahr 1919 berichtet Simon îber »das berauschende Glîck […] als einer von Millionen und Abermillionen mitschwimmen zu dîrfen in dem großen Strome vaterlndischen Schicksals.«32 Als er jedoch mit dem volkstîmlichen Antisemitismus und mit der Judenzhlung konfrontiert wurde, dauerte es nicht lange, bis in ihm die »gekînstelte Sicherheit zerbrochen« war : »Aller Meinung ging dahin, dass wir fremd waren, dass wir danebenstanden, besonders rubriziert und gezhlt, aufgeschrieben und behandelt werden mïssten. Der Traum von Gemeinsamkeit war dahin, mit einem furchtbaren Schlage tat sich vor uns zum anderen Male die tiefe, nie verschwundene Kluft auf. […] Dies alles traf uns nun mit der vollen Schrfe eines fïrchterlichen Erwachens: Wir waren zum zweiten Male entwurzelt.«33 Simons Reaktion auf diese Ausgrenzung ußerte sich noch whrend der Kriegszeit in Form einer ehrlichen und innigen Bindung an sein Judentum und an seine jîdischen Waffenbrîder. Der Krieg und das Kriegserlebnis waren fîr den Wandel verantwortlich, den die zukînftige Weltanschauung des »assimilierten« Frontsoldaten Ernst Simon durchlief, und formten nachhaltig seine Ansichten, die ihn letztlich dazu veranlassten, in der »Brith Shalom«-Vereinigung aktiv zu werden: »Die Zeit meines Frontdienstes – den ich im Jahre 1916 auf Grund einer Verletzung in den Schlachten vor Verdun zeitweise aussetzen musste und in den Jahren 1917 und 1918 erneut an der Westfront fortgesetzt habe – stellte mich vor drei Fragen. Die Entscheidungen, die ich damals fllte, beeinflussten meine zukïnftige pdagogische und çffentliche Ttigkeit in einem derart umfassenden Maße, dass ich letztlich nur noch meine Schlussfolgerungen, jedoch nicht mehr deren Grundlagen ndern musste. Das sind sie: Erstens, das Verhltnis zwi32 Ernst A. Simon: Brîcken: Gesammelte Aufstze, Heidelberg 1965, hier S. 19. 33 Ebd., hier S. 12.

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schen militrischem Heldentum und Zivilcourage und welche Rolle die Fantasie dabei erfïllt. Zweitens, die Mçglichkeit zwischen einer antimilitaristischen Einstellung und einer prinzipiell pazifistischen Haltung unterscheiden zu kçnnen. Drittens, welche Beziehung zwischen dem Zionismus und dem religiçsen Judentum besteht.«.34 Die Kombination aus dem extremen jîdischen Wunsch, sich im kmpfenden Deutschland assimilieren zu wollen, einerseits und andererseits die dabei erfahrene Ausgrenzung als Jude war auch eine der grundlegenden Erfahrungen des Fronterlebnisses von Arnold Zweig; er war whrend der Kriegsjahre bekennender Zionist und schrieb fîr die »Schaubîhne« (spter fîr die daraus hervorgegangene »Weltbîhne«). Auf diese daraus entstandene Angst, besondere auf die Judenzhlung, ging Zweig in einem Brief ein, den er im Februar 1917 von der Front an Martin Buber schrieb. Darin verkîndete er : »Ich bezeichne mich vor mir selbst als Zivilgefangenen und staatenlosen Auslnder.«35 Weiter schrieb er : »Im August 14 stellte ich mich freiwillig, weil mir die Erhaltung deutscher Kultur mein Leben wert schien«, doch inzwischen war in ihm jede Idealisierung des deutschen Geistes zusammengebrochen: »Aber der [deutsche] Staat und seine Maßnahmen, die widerliche Verlogenheit des çffentlich agierenden Bîrgertums treiben mich in jede Opposition.«36 Was auf den ersten Blick wie eine Ablehnung alles Deutschen aussieht, fîhrte praktisch zur Ausbildung der Idee des ›anderen Deutschland‹, das in Zweigs Nachkriegsschriften eine zentrale Rolle spielte. In einem Brief aus dem Jahre 1917 schwankt er weiterhin zwischen Befîrwortung und Ablehnung politischen Engagements. Als er sich nach und nach von einer apolitischen Anschauung verabschiedete, was ganz wesentlich auf die Revolution in Russland (und die aktive Beteiligung von Juden daran) zurîckzufîhren ist, war die Zuwendung des Schriftstellers Zweig zur Politik eine vollendete Tatsache. Das Kriegserlebnis des zentraleuropischen Judentums fîhrte zu weitreichenden Schlussfolgerungen, vor allem fîr die junge Generation. Die anfngliche Hoffnung auf ihre Integration auf Grund der Teilnahme an den deutschen Kriegsbemîhungen wurde durch eine Welle des Antisemitismus zunichte gemacht, die an der Front ebenso wie im Hinterland zu spîren war. Zahllose jîdische Soldaten hielten in ihren Frontbriefen eigens fest, dass sie nicht in die deutsche bzw. çsterreichische Waffenbrîderschaft ihrer Kameraden aufge34 Ernst Akiba Simon: Pirke Hayim: Binyan betokh Hurban (Hebr.), Tel Aviv, 1986, S. 31. 35 Brief von Arnold Zweig an Martin Buber vom 15. 2. 1917, zitiert bei Wilhelm von Sternburg: Um Deutschland geht es uns: Arnold Zweig – Die Biographie, Berlin 1998, hier S. 98. 36 Brief von Arnold Zweig an August Hesse vom 22. 2. 1917, zitiert nach Georg Wenzel: Arnold Zweig 1887 – 1968: Werk und Leben in Dokumenten und Bildern, Berlin und Weimar 1978, hier S. 75.

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nommen worden seien. Ab 1916 wurde in der deutschen Armee die bereits erwhnte Judenzhlung durchgefîhrt, die ein deutliches Anzeichen der Ausgrenzung der jîdischen Soldaten war ; vor diesem Hintergrund kursierende antisemitische Gerîchte beeinflussten zugleich den Dienst von Juden in der çsterreichischen Armee. Zwar stellte sich die Habsburger Monarchie diesem volkstîmlichen Antisemitismus besser als der deutsche Staat entgegen, doch der Zusammenbruch des çsterreichisch-ungarischen Reiches gegen Ende des Krieges çffnete dem Antisemitismus letztlich doch noch Tîr und Tor. Das Kriegserlebnis der zentraleuropischen Juden wurde weiterhin von den sozialistischen Umsturzversuchen zu Ende des Krieges bestimmt: einerseits durch die auffllige jîdische Beteiligung und andererseits durch die eindeutig antisemitische Dimension ihrer Unterdrîckung. Darîber hinaus umfasste das jîdische Kriegserlebnis ein Zusammentreffen mit dem Judentum Osteuropas sowohl whrend der Kriegshandlungen an der Front im Osten, als auch in Deutschland und §sterreich nach dem Krieg. Im Kreis der Intellektuellen der jungen Generation war die traditionelle Distanzierung von den ›Ostjuden‹ nunmehr durch eine Idealisierung der osteuropischen Juden ersetzt worden. Weitere Ereignisse der Zeit des Weltkrieges, die zu dem beitrugen, was Eva Reichmann bereits vor lngerer Zeit als »Bewusstseinswandel« bezeichnete, spielten sich außerhalb Zentraleuropas ab: Hierzu zhlen vor allem die Revolution in Russland – an der sich Juden beteiligten, um ihre Zukunft und ihre gesellschaftliche Stellung aktiv mitzubestimmen – sowie die Balfour-Erklrung.37 Ein Vergleich dieser bahnbrechenden historischen Ereignisse mit den deprimierenden Erlebnissen der Juden im Zentraleuropa der Kriegsjahre fîhrten zustzlich zu einem Gefîhl der Entfremdung.

Jïdische ›Generationseinheiten‹: »Brith Shalom« und »Weltbïhne« Nach Mannheims Generationstheorie sind »gemeinsame historische Schicksale« fîr die Verwirklichung der »Potentialitt« einer »Generationslagerung« und die Ausbildung einer sich selbst bewussten Generation verantwortlich. Im Hinblick auf den hier behandelten ›Fall‹ mçchte ich die Behauptung aufstellen, dass die Kriegserfahrung die konstitutive Erfahrung darstellte. Wie bereits ausgefîhrt, war Mannheim der Ansicht, dass sich eine Generation aus mehreren Generationseinheiten zusammensetzt, die durchaus einander widersprechen 37 Eva Reichmann: Bewusstseinswandel der deutschen Juden. In: Werner Mosse (Hg.): Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916 – 1923, Tîbingen 1971, hier S. 511 – 612.

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kçnnen, jedoch eine »Tendenz auf bestimmte Verhaltens-, Gefîhls- und Denkweisen« teilen.38 Vor diesem Hintergrund mçchte ich die »Brith Shalom«-Vereinigung und die »Weltbîhne« als Generationseinheiten der jîdischen Kriegsgeneration Zentraleuropas vorstellen. Unter anderem im Hinblick auf ihre Ideologie differierten sie voneinander, wenn es nicht gar zum Teil tiefgreifende Antagonismen gab. Dennoch haben sie whrend der Jahre des Ersten Weltkrieges parallele Entwicklungen durchlaufen: Die Politisierung von geistigen und kulturellen Paradigmen vom Vorabend des Ersten Weltkrieges fîhrte dazu, dass beide Kreise zu einer ideologisch-intellektuellen Opposition wurden: ein Kreis im Kontext der deutschen Linken und der andere innerhalb des Zionismus. Bei dem Einsatz von »Brith Shalom« zu Gunsten einer binationalen Lçsung in Palstina handelt es sich keineswegs, wie sonst zumeist angenommen, um das Vorantreiben utopischer Moralvorstellungen, sondern er steht vielmehr fîr die Suche nach praktischen politischen Mçglichkeiten, diese Ideen und Werte umzusetzen. Die Mitglieder von »Brith Shalom« erforschten historische Przedenzflle, schrieben detaillierte Verfassungsentwîrfe und suchten nach arabischen, britischen und zionistischen Partnern. Die Ideen der »Brith Shalom«Vereinigung unterscheiden sich deutlich von den Einstellungen, die ihre Mitglieder am Vorabend des Ersten Weltkrieges kundgetan hatten. Als Beispiel dafîr soll hier abermals der vom »Bar Kochba«-Verein 1913 verçffentlichte Sammelband »Vom Judentum« angefîhrt werden. Angesichts der Herausforderungen, die der komplexen Nachkriegsrealitt entsprangen und aus Angst vor zukînftigen Entwicklungen versuchten sie, die abstrakten und vagen Ideen des kulturellen und spirituellen Zionismus in handfeste politische Ideen zu îberfîhren. Es ist bekannt, dass die Mitglieder von »Brith Shalom« – sptestens nachdem sie den Schrecken des Krieges real erfahren hatten – ein tiefes Unbehagen hinsichtlich ihrer noch im Sommer 1914 zum Ausdruck gebrachten begeisterten Idealisierung des Krieges verspîrten. So wurde whrend der Kriegsjahre etwa auch Hans Kohn zum Pazifist. Er wurde von den Russen als Kriegsgefangener in Samarkand und an anderen Orten festgehalten und kam dadurch erstmals mit asiatischen Vçlkern in Kontakt, die unter russischer Herrschaft standen. Der Konflikt zwischen zwei so heterogenen Gruppen, zwischen ›Herren und Untertanen‹, beeinflusste seine Sicht auf die Interaktionsmçglichkeiten zwischen Zionisten und arabischer Bevçlkerung. Kohn war dadurch auch zunehmend in Sorge wegen des Bîndnisses, das der Zionismus mit den großen westlichen Staaten eingegangen war, und interessierte sich immer intensiver fîr den orientalischen Nationalismus.39 38 Mannheim: Das Problem, 1928, S. 381. 39 »The realities of colonialism, which I saw in Samarkand for the first time, were unknown in

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Whrend seiner Kriegsgefangenschaft schrieb er den vielbeachteten Artikel »Zur Araberfrage« sowie seinen ersten Aufsatz zum Wesen des Nationalismus. Den Prozess, den er und seine Freunde whrend des Ersten Weltkrieges durchmachten, beschreibt Kohn in seinen Erinnerungen als eine Politisierung ihres Zionismus.40 Diese Politisierung wirkte sich auf sehr unterschiedliche Art und Weise aus. Der zentrale Aspekt besteht jedoch wohl in der Frage, welches Verhltnis die Zionisten zur arabischen Bevçlkerung in Palstina pflegen sollten. Dabei ging es nicht um ein militrisch-sicherheitspolitisches Problem, sondern die Frage nach den moralischen und politischen Werten des Zionismus stand im Mittelpunkt. Robert Weltsch, der Mitglied im »Bar Kochba«-Verein war und spter zur »Brith Shalom«-Vereinigung gehçrte, nannte drei Faktoren, die im Laufe des Krieges einen Wandel des von ihm und seinen Freunden postulierten Zionismus bewirkten: Als ersten Faktor fîhrte er die tiefe Enttuschung bezîglich der Entwicklung im Krieg an, die sie als Bîrger, als Soldaten und auch als Zionisten empfanden; eine Enttuschung, die sich auch gegen sie selbst sowie gegen ihre Hoffnung richtete, die sie einst in ihre Teilnahme am Krieg gesetzt hatten. Der zweite Faktor bezieht sich auf die Hoffnung, die durch die russische Revolution geweckt wurde. Der dritte und weitaus bedeutendste Faktor war jedoch die sich wandelnde internationale Realitt gegen Ende des Krieges: Sie umfasst die Balfour-Deklaration, den arabischen Nationalismus, den westlichen Nationalismus, den Zusammenbruch des çsterreichisch-ungarischen Imperiums und das von Wilson vorgeschlagene Selbstbestimmungsrecht der Vçlker.41 Die Oktoberrevolution hatte einen enormen Einfluss insbesondere auf jene Mitglieder des »Bar Kochba«-Vereins, die in russische Kriegsgefangenschaft geraten waren; sie erlangte die Bedeutung, die diese Intellektuellen einst dem Ersten Weltkrieg zugeschrieben hatten, und so wurde nun die Revolution als historischer Wendepunkt betrachtet. Arnost Kolman wandte sich vom Zionismus ab und wurde Kommunist.42 Auf Hans Kohn hatte dies einen so starken Prague […] they made me sensitive to the difficulties that arise when a people try to govern peoples of another race and culture. In Prague there had been a bitter [national] enmity, but it was one between nationalities that shared a similar racial and cultural background. Now in Samarkand I witnessed the clash of two different civilizations, a relationship not of rival peers, but of master and subject, which expressed itself in countless ways«: Hans Kohn: Living in a World Revolution: My Encounters with History, New York 1964, S. 94 – 95, siehe dazu auch: S. 104 – 106. 40 Ebd., hier S. 50. 41 Transkript eines Interviews mit Robert Weltsch vom April 1971, das Yehuda Aloni fîhrte, in: Institute for Contemporary Judaism, Oral History Division, Signatur 41 (56); Transkript eines Interviews mit Robert Weltsch vom Mai 1972, das Michael Elmez und Yehuda Kaweh fîhrten, in: Institute for Contemporary Judaism, Oral History Division, Signatur 3 (91). 42 Arnost Kolman: Die verirrte Generation: So htten wir nicht leben sollen, Frankfurt/Main 1982.

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Einfluss, dass er einige pro-sowjetische Publikationen verfasste.43 Auch Gerschom Scholem definierte seinen Vorkriegs-Zionismus als »grundstzlich a-politisch« und beschrieb seine Annherung an die politischen Ideen des Sozialanarchismus whrend der Jahre des Krieges.44 Doch sogar Scholem, der von Anbeginn gegen den Krieg gewesen war und keine Hoffnungen und Illusionen daran geknîpft hatte, scheint im Verlauf der Kriegsjahre eine tiefe Enttuschung erfahren zu haben. Dies war wohl nicht auf den Krieg als solchen bezogen, sondern eher auf die Einstellung seiner Kollegen wie z. B. Martin Buber, die als Zionisten den Kriegsausbruch in hçchsten Tçnen gelobt hatten. Hier ist bemerkenswert, dass das Kriegserlebnis Scholems, einer der wenigen zionistischen Kriegsdienstverweigerer, nicht minder ausschlaggebend war, als es fîr seine Kollegen der Dienst an der Front war. Die Namensnderung der »Schaubîhne« in »Weltbîhne« im April 1918 ist signifikanter Ausdruck der Politisierung, die diese Wochenschrift und ihre Mitarbeiter whrend der Kriegsjahre erfuhren. Zu Beginn dieses Prozesses der Politisierung stand die zunehmende, immer schrfer werdende Ablehnung des Krieges. Erst nach und nach gewannen linksorientierte Einstellungen im Hinblick auf Gesellschaft und Wirtschaft sowie auf Innenpolitik und Justiz neben der Ablehnung des Krieges an Bedeutung. Die Enttuschung, die die Autoren der Wochenschrift whrend der Zeit des Ersten Weltkrieges erlebt hatten, generierte allerdings auch neue Erwartungen. Nach der Ernîchterung durch den Krieg schçpften etliche jîdische Angehçrige der Kriegsgeneration in der »Weltbîhne« anfnglich neue Hoffnung aus dem universellen Versprechen der russischen Revolution, so beispielsweise Alfons Goldschmidt: »Am zweiten Mobilmachungstage 1914 fieberte ich ins Feld. […] Mit Leidenschaft, mit Landesbegeisterung, gegen den Krieg, aber fïr diesen Krieg. […] Ich sah den Dreck in Deutschland und suchte die Sauberkeit draußen. Das Zueinander, die Mnnergegenseitigkeit, das Sichverlorengeben fïr das Land und alle auf ihm. Andeutungen, Parlamentsschbigkeit, Lazarettjammer, Studium der Auslandszeitungen, besternte Brutalitt, Minderheitsbedrïckung, Kriegsdauer, Propagandamethoden, Sekt und Krïppel, Trïffel und Armut, Schlussprophezeiungen und ïble Durchhalteaufrufe, vermehrtes Blutzapfen, Distanz, Sadismus, elende Kïhnheiten und gesinnungsposierende Feigheiten, Aussaugen, Aussaugen fïr nichts. Eine Aufforderung zur Lïge gab den Rest. Die Augen wurden klarer, der alte Glaube schwand, ein neuer Glaube kam auf. Vom Osten kam der neue Glaube.«45 43 Der herausragende ist: Hans Kohn: Sinn und Schicksal der Revolution, Leipzig 1923. 44 Gershom Gerhard Scholem: Von Berlin nach Jerusalem: Jugenderinnerungen, Frankfurt/ Main 1977. 45 Alfons Goldschmidt: Ein Lustrum, in: Die Weltbîhne, XV/33 (7. 8. 1919), S. 173.

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Erstaunlich ist, dass die meisten der Autoren der »Weltbîhne«, vielfach der Linken nahestehend, am Vorabend des Ersten Weltkrieges noch a-politische Schriftsteller waren. Zum grçßten Teil waren sie programmatisch a-politische Kînstler, die sich der Idee kreativer Unabhngigkeit und l’art pour l’art verschrieben hatten wie zum Beispiel Siegfried Jacobsohn, Arnold Zweig und Lion Feuchtwanger. Ihre umstîrzlerischen Ambitionen richteten sich ausschließlich auf moderne Kunst und die antibîrgerliche Bohºme. Es scheint, dass diese Ehrfurcht vor Kultur und Kunst sowie der Wunsch, einen autonomen Bereich zu schaffen, der nicht von der Politik vereinnahmt werden konnte, nicht unbedingt von bereits bekannten Mustern abwich, die integrierte zentraleuropische Juden charakterisierten, die in der Kultur ein Sprungbrett fîr ihre Integration und der Verbesserung ihres Ansehens als Juden sahen. Hannah Arendt stellte in ihrer Rezension der Autobiografie von Stefan Zweig »Die Welt von gestern« die Behauptung auf, dass es die Realitt des jîdischen Lebens der postemanzipatorischen Generation war, die, sich ihres Paria-Status in der deutschen Gesellschaft bewusst, den starken Drang zum Ruhm in der deutschen Kulturwelt verspîrte.46 Diese Analyse scheint in nicht geringem Maße auch fîr die Anfnge der literarischen Laufbahnen zuzutreffen, die die jîdischen Angehçrigen der Kriegsgeneration und spteren Mitarbeiter der »Weltbîhne« vor dem Krieg eingeschlagen hatten. Im Zentrum des literarischen Schaffens von Arnold Zweig etwa stand der unvollendete Romanzyklus »Der große Krieg der weißen Mnner«, der sich mit dem Ersten Weltkrieg befasste. Zweig bearbeitete hier intensiv den Ersten Weltkrieg als Wendepunkt, zu dem der Krieg durch seinen Verlauf geworden war.47 Ein weiterer populrer Hinweis auf diese Vernderung in der Wahrnehmung findet sich in den Memoiren von Ernst Toller, in denen er detailliert die politische Wende beschreibt, die er als »Hçlle der Westfront« erfuhr.48 Sowohl whrend und als auch nach dem jîdischen Kriegserlebnis durchliefen beide »Generationseinheiten« – jede Gruppe fîr sich und auf ihre eigene Art und Weise – einen Prozess der Politisierung ihrer gesamten Kultur und ihrer persçnlichen Einstellungen. Im Zuge dieser Vernderungen entstanden die Ideen der »Brith Shalom«-Vereinigung und der »Weltbîhne«, die in den 1920er Jahren, also rund ein Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg, formuliert wurden. Der gemeinsame generationelle Hintergrund der beiden Kreise erklrt die Berîhrungspunkte, die zwischen ihnen auszumachen sind: Hierzu zhlen das Inter46 Hannah Arendt: The Jew as Pariah: Jewish Identity and Politics in the Modern Age, New York 1978, S. 116 – 117. 47 Zur Diskussion dieses Wendepunktes und des diesbezîglichen jîdischen Kontextes siehe: Arie Wolf: Grçße und Tragik Arnold Zweigs: Ein jîdisch-deutsches Dichterschicksal in jîdischer Sicht, London 1991, hier S. 104 – 120. 48 Toller, Jugend in Deutschland, 1933.

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esse von Autoren der »Weltbîhne« an Fragen des Zionismus und Palstina, die Polemik der Pazifisten Kohn und Tucholsky bezîglich der Ausrichtung des internationalen Pazifismus, aber auch die Positionen zum Sozialismus der »Brith Shalom«-Vereinigung sowie die Beitrge, die deren Mitglieder (z. B. Kohn und Weltsch) zu diversen Ausgaben der »Weltbîhne« beisteuerten. Das »gemeinschaftliche historische Schicksal«, das diese Generation formte, entwickelte sich in dramatisch zu nennenden Formen, dies auch und besonders nachdem die Herausgabe der »Weltbîhne« eingestellt worden war und sich die »Brith Shalom«-Vereinigung aufgelçst hatte. Als die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen, war dieser Personenkreis um die vierzig Jahre alt; viele waren bereits in Schlîsselpositionen aufgestiegen. Aufgrund der politischen Entwicklungen kehrten die meisten von ihnen Deutschland den Rîcken und wanderten aus. Als die Angehçrigen dieser Generation etwa fînfzig Jahre alt waren, wurden sie abermals erschîttert durch die Nachrichten îber den Holocaust und seine Ausmaße. Als die Grîndung des Staates Israel erfolgte und im Zuge des beginnenden Kalten Krieges die beiden deutschen Staaten entstanden, waren sie um die sechzig Jahre alt. Von der Welt des zentraleuropischen Judentums, der dieser Personenkreis entstammte und die sie einst zu ndern angestrebt hatten, blieb nichts îbrig als ihre Erinnerungen.

Stefanie Schîler-Springorum

»Dazugehçren«: Junge Jïdische Kommunisten in der Weimarer Republik

Im Frîhjahr 1924 qulte den knapp 15-jhrigen Rudi Arndt, Sohn des Direktors der Berliner Jîdischen Mittelschule fîr Mdchen, seine Sehnsucht nach Bindung und jugendbewegter Wahrhaftigkeit so sehr, dass er sich hilfesuchend an Jakob Kohnstamm, den damaligen Bundesleiter der »Kameraden« wandte, der grçßten nichtzionistischen Jugendbewegung der Weimarer Zeit: »Sag mal, was meintet Ihr damit, es genîge schon, wenn man Willensjude und Willensdeutscher ist? Nehmen wir mal z. B. folgenden hnlichen Fall an, wie bei mir : der Betreffende fîhlt sich nach innerer Wahrhaftigkeit nicht als Jude und nicht als Deutscher. Er mçchte nun gerne im Bund bleiben und sagt deshalb: Ich mçchte allerdings ganz gern deutscher Jude sein (damit ich im Bund bleiben kann), kann aber nach innerer Wahrhaftigkeit nicht dazu kommen. Das genîgt Euch? Ich glaube, ich habe Euch entweder nicht recht verstanden, oder sonst liegt da wohl ein Irrtum. Ich trat dann schließlich aus und gab meine Nadel ab. Man rechnet mich allgemein schon wieder dazu, obgleich ich ußerlich noch nicht dabei bin. Innerlich allerdings bin ich ganz dabei. Ich weiß, dass es inkonsequent ist, ich kann aber nicht anders. Mir fehlten wohl auch vor allen Dingen die persçnlichen Bindungen. Gerade diese sind es, die mich noch immer hinziehen, so sehr ich mich dagegen wehre. Es ist auch kein Wunder, dass es so ist, denn: […] Wie viele Leute habe ich da wirklich so liebgewonnen! Wie schwer ist es mir geworden, mich von ihnen (schon ußerlich) zu trennen. Wenn ich nun nicht bald einen Weg, der mich wieder voll und ganz zum Bund hinfîhrt, [finde] (denn jetzt habe ich immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich zu den K. [Kameraden] gehe, da ich dann immer glaube, ich bin unehrlich vor mir und den anderen, wenn ich hingehe), so wird mir wohl nichts anderes îbrig bleiben, sondern ich werde, so leid es mir tut, in einen anderen Bund gehen mîssen; denn was bin ich allein?«1 Leider ist Kohnstamms Antwortbrief nicht îberliefert, aber Rudi Arndt 1 Rudi Arndt an Jakob Kohnstamm, 10. Mrz 1924, in: Centrum Judaicum-Archiv (= CJA),Berlin, I, 75 C Wa 1, Nr. 4, Bl. 159 – 162.

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scheint seine Zweifel kurz darauf îberwunden zu haben, denn er stieg bis 1927 zum charismatischen Fîhrer einer Berliner »Kameraden«-Gruppe auf. Ein Jahr spter wurde er kommunistischer Jugendfunktionr, lebte von 1932 bis zu seiner Verhaftung im Oktober 1933 illegal und wurde im Mai 1940 im KZ Buchenwald als ›Blockltester‹ des ›jîdischen Blocks‹ ermordet. In der DDR galt Rudi Arndt als eine der Ikonen des kommunistischen Widerstands: Kasernen, Jugendherbergen und Schulen wurden nach ihm benannt und Sonderbriefmarken gedruckt. In Westdeutschland und in Israel kennt ihn jedoch fast niemand.2 Seine Geschichte ist in vielerlei Hinsicht exemplarisch fîr jene zwar relativ kleine, aber dafîr bedeutende Gruppe deutsch-jîdischer Kommunisten, die in der jîdischen Jugendbewegung sozialisiert wurden und dann ihren mehr oder weniger verschlungenen Weg in die Partei fanden. Bis vor kurzem ist die Historiographie ihren komplexen Biographien kaum gerecht geworden. Die Geschichtsschreibung in der DDR wîrdigte sie zwar als Antifaschisten und Widerstandskmpfer, sah aber ihre Aktivitten in der jîdischen Jugendbewegung als »sehr schnell berichtigte Irrweg[e]« an.3 Umgekehrt tauchen sie in den Werken zur deutsch-jîdischen Geschichte meist nur als markante Beispiele fîr die Gefahr einer ›Roten Assimilation‹ auf, deren Ausgrenzung noch radikaler erscheint als die ihres assimilatorischen Pendants auf bîrgerlich-liberaler Seite. Ich mçchte im Folgenden dafîr pldieren, die Geschichten deutsch-jîdischer Kommunisten wieder in die jîdische Geschichte hereinzuholen und sie als eine von vielen mçglichen Antworten auf die jîdisch-jugendlichen Suchbewegungen in der Moderne zu lesen, wie sie in den schriftlich niedergelegten Seelenqualen des jungen Rudi Arndts zum Ausdruck kommen. Weder ist ihre Form der ›Assimilation‹ automatisch gleichzusetzen mit einer vçlligen Trennung von oder Verleugnung der jîdischen Herkunft, noch fîhrten alle Wege der deutsch-jîdischen Jugendgruppen am Ende nach Erez Israel. Die fîr diese Jugendlichen der Weimarer Zeit typische Entwicklung von der jîdischen Jugendbewegung hin zur Kommunistischen Partei mçchte ich am Beispiel einer kleinen Splittergruppe der »Kameraden« – der jîdischen Jugendgruppe »Schwarzer Haufen« – nachvollziehen, mit der ich mich in anderem Zusammenhang ausfîhrlich beschftigt habe,4 die jedoch, wie wir inzwischen 2 Vgl. Stephan Hermlin: Die erste Reihe, Berlin 1957, S. 37 – 43; Stolz weht heute unsere Fahne! Kampfgefhrten Rudi Arndts berichten, Berlin 1970; Torsten Harmsen: Rudi Arndt. Aus seinem Leben, Berlin 1980. 3 Hermlin, S. 38. 4 Stefanie Schîler-Springorum: Jugendbewegung und Politik. Die jîdische Jugendgruppe Schwarzer Haufen, in: Tel Aviver Jahrbuch fîr deutsche Geschichte 28, 1999, S. 159 – 200; Knut Bergbauer/Dies.: »Wir sind jung, die Welt ist offen…« Eine Jîdische Jugendgruppe im 20. Jahrhundert, Ausstellungskatalog Berlin 2002. An dieser Stelle sei der Hinweis erlaubt, dass Knut Bergbauer und ich îber Jahre zusammen fîr dieses Projekt recherchiert haben, so

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aus der eindrucksvollen Studie von Karin Hartewig wissen, in vielem reprsentativ ist fîr die Geschichte der deutsch-jîdischen Kommunisten im 20. Jahrhundert.5 Einer von vielen mçglichen Ausgangspunkten dieser Geschichte ist das berîhmt-berîchtigte Berliner Scheunenviertel, das Wohngebiet der jîdischen Einwanderer aus Osteuropa gleich hinter dem Alexanderplatz. Schon ein zeitgençssischer Beobachter der jugendbewegten Szene der 1920er Jahre hatte vermutet, dass sich vor allem jîngere Juden aus »Orten, wo die soziologische Struktur der Bevçlkerung den Gedanken des Klassenkampfes nahe legte«, zu den linken Gruppen innerhalb der deutsch-jîdischen Jugendbewegung hingezogen fîhlten.6 Dies traf u. a. auf das Ruhrgebiet zu, aber noch strker auf dieses Berliner Viertel mit seiner Enge, Armut und den offensichtlichen Identittskmpfen in den meist noch traditionellen Einwandererfamilien. Auffallend viele sptere Kommunisten stammten aus solchen Familien, und dies gilt auch fîr das hier vorzustellende Beispiel: Fast alle waren im kleinbîrgerlichen bzw. subproletarischen Milieu in Berlin-Mitte aufgewachsen; die Jungen hatten z. T. gemeinsam die Jîdische Mittelschule in der Großen Hamburger Straße besucht. Ihre Vter waren Hausierer, Hndler oder Handwerker, die Familien oftmals nicht mehr intakt und hufig orthodox. Wenn man davon ausgeht, dass der sptere Eintritt in die KPD auch das Ausagieren eines Konfliktes mit den Eltern und dann fast immer einen radikalen Bruch mit der Herkunftsfamilie bedeutete, so liefern die Kindheits- und Jugenderinnerungen reichlich Belege fîr die These, dass dieser Bruch schon viel frîher zu verorten ist: In vielen (auto-)biographischen Berichten ist von autoritren, ja manchmal von schlagenden Vtern die Rede, die ihre Kinder z. B. zu ungeliebten Ausbildungen zwingen wollten. Daher zogen viele Jugendliche frîh radikale Konsequenzen: So lief z. B. Rubin Rosenfeld wegen seines »fanatisch religiçsen« Vaters und der ungeliebten Stiefmutter mit 15 Jahren von zu Hause weg, und auch Nathan Steinberger, der ein gutes Verhltnis zu seinen Eltern hatte, berichtet von einer »wenig erfreulichen Kindheit« voll »religiçser Zwnge«. Der schon erwhnte Rudi Arndt, der aus einer bîrgerlichen Charlottenburger Familie stammte, verließ nach Abschluss der Mittelschule sein Elternhaus, um sich fortan alleine durchzuschlagen.7 Auch wenn dies Extremflle sind, dass auch die hier prsentierten Ergebnisse von uns beiden gemeinsam erarbeitet worden sind. 5 Karin Hartewig: Zurîckgekehrt. Jîdische Kommunisten in der DDR, Kçln 2000. 6 Harry Abt: Jîdische Jugendbewegung, o.O., o. J. (1933), S. 18. 7 Vgl. z. B. Rubin Rosenfeld: Lebenslauf, verfasst ca. 1957, Privatbesitz Arkadi Rosenfeld, Berlin; Nathan Steinberger/Barbara Broggini: Berlin-Moskau-Kolyma und zurîck. Ein biographisches Gesprch îber Stalinismus und Antisemitismus, Berlin 1996, S. 7 f.; Harmsen, S. 10 – 13.

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so verwundert es kaum, dass den ohnehin eine große Anziehungskraft ausîbenden Bînden der Jugendbewegung als Familienersatz fîr viele dieser Kinder eine geradezu existenzielle Bedeutung zukam. Man begab sich also sehr jung auf die Suche nach einem Ort, an den man gehçrte, und durchlief dabei oftmals mehrere Jugendgruppen mit ihren jeweiligen Ideologien, bis man, wie Rudi Arndt, das Gefîhl entwickelte, wirklich »dazuzugehçren«.8 Arndt, wie auch die Jungen-Gruppe aus der Mittelschule in der Großen Hamburger Strasse, hatten sich zunchst dem 1920 gegrîndeten »Jungjîdischen Wanderbund« (JJWB) angeschlossen, einer kleinbîrgerlichen, betont jîdischen, aber nichtzionistischen Gruppe, die jedoch bald in die Positionskmpfe zwischen Sozialisten und Zionisten geriet.9 Eine grçßere Anzahl derjenigen, die einige Jahre spter weder die zionistische Wende des »Jungjîdischen Wanderbunds« mitmachen noch in die Jugendorganisation einer linken Partei eintreten wollten, schlossen sich nun den »Kameraden« an. Nicht zu unrecht hat schon Hermann Meier-Cronemeyer darauf hingewiesen, dass »in keinem anderen Bund, auch dem Blau-Weiss nicht, (…) das intellektuelle Interesse soweit gespannt gewesen zu sein [scheint] wie bei den Kameraden,«10 die im Grunde niemals ein einheitliches Projekt darstellten, sondern eine ganze Bandbreite verschiedener Richtungen von national-deutsch bis linksradikal beherbergten.11 Dort, am ußersten linken Rand der »Kameraden«, hatte sich seit 1925 der sogenannte »Schwarze Haufen« etabliert, der aus der Kçnigsberger Ortsgruppe der »Kameraden« hervorgegangen war und nun auch in anderen Stdten Gefolgsleute anwarb. Die meist aus bîrgerlich-assimilierten Familien stammenden Kçnigsberger hatten sich îber Jahre intensiv mit jîdischer Religion und mit 8 Vgl. dazu auch Hartewig, S. 35 – 38; und die Betonung der »Fluktuation« in den Jugendgruppen in Arnold Pauckers autobiographisch gefrbter Darstellung: Zum Selbstverstndnis jîdischer Jugend in der Weimarer Republik und unter der nationalsozialistischen Diktatur, in: Ders.: Deutsche Juden im Kampf um Recht und Freiheit. Studien zu Abwehr, Selbstbehauptung und Widerstand der deutschen Juden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, Teetz 2003, S. 183 – 204, 185 f. 9 Vgl. Hermann Meier-Cronemeyer : Jîdische Jugendbewegung, Teil 1/2, in: Germania Judaica 8, N.F. 27/28 (1969), S. 59, 66 f. 10 Ebd., S. 78. 11 Zur Geschichte der Kameraden und der aus ihr hervorgegangenen Gruppen vgl. ebd., S. 51 – 56; 78 – 86; Bernhard Trefz: Jugendbewegung und Juden in Deutschland: Eine historische Untersuchung mit besonderer Berîcksichtigung des »Deutsch-jîdischen Wanderbundes ’Kameraden’«, Frankfurt a. M. 1999; Chaim Schatzker : Die »Kameraden«. Geschichte einer jîdischen Jugendbewegung in Deutschland, in: Kasseler Semesterbîcher, Studia Casellana 13 (2004), S. 154 – 165; Eliyahu Maoz: The Werkleute, in: Leo Baeck Institute Year Book IV (1959), 165 – 182; George Gînther Eckstein: The Freie Deutsch-Jîdische Jugend (FDJJ) 1932 – 1933, in: Leo Baeck Institute Yearbook 26 (1981), 231 – 239; Walter B. Godenschweger/ Fritz Vilmar : Die rettende Kraft der Utopie. Deutsche Juden grînden den Kibbuz Hasorea, Frankfurt/Main 1990; Schîler-Springorum, Jugendbewegung und Politik. Siehe auch den Beitrag von Irmgard Klçnne im vorliegenden Band.

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›jîdischen Gegenwartsfragen‹ beschftigt, lehnten jede Form des Nationalismus ab und hatten 1923 fîr sich selbst folgende Formulierung des ›kleinsten gemeinsamen Nenners‹ gefunden: »Wir sind jîdisch kraft unserer Abstammung und wir sprechen deutsch (und auch das nicht immer richtig)«. Hinter dieser harmlos klingenden Feststellung verbarg sich der Wunsch nach grçßtmçglicher Offenheit und jugendbewegter ›Wahrhaftigkeit‹. Auf dem ›Erlebnis‹ als entscheidender Kategorie basierte dann auch die Selbstdefinition der Kçnigsberger als dezidiert jîdische Gruppe: »Wir haben«, so schrieb man, »Platz fîr den ehrlichen Heiden, aber nicht fîr den Religionsjuden, der es nur aus Konvention ist.«12 War dies gewissermaßen die jîdische Variante der berîhmten MeißnerFormel, so postulierten die Kçnigsberger schon 1925 den Weg in die Politik als einzige gangbare Lçsung fîr jene, die ihren jugendbewegten Idealen treu bleiben wollten. Demzufolge lautete dann das ›eigentliche Ziel des Bundes und der Jugendbewegung îberhaupt‹ kurz und bîndig: »Umsturz und Neuordnung unserer Gesellschaftsordnung.«13 Im gleichen Jahr nun, 1925, trafen die bîrgerlichen Verbalradikalen aus Kçnigsberg auf die real existierenden jîdischen Proletarierkinder des Berliner Scheunenviertels, und es war vermutlich gerade diese relativ einzigartige Mischung, die die Attraktivitt des »Schwarzen Haufens« ausmachte, der sich nun als radikalste nichtzionistische Variante der jîdischen Jugendbewegung etablierte. Hinzu kam, dass die Zugehçrigkeit zu ihm ein politisches Engagement in einer anderen Organisation nicht ausschloss. Im Gegenteil, die Gruppe forderte eine bewusste politische Entscheidung von jedem Mitglied, »aber welche Entscheidung er traf, blieb dem Einzelnen îberlassen, er musste sie nur vertreten kçnnen«.14 So fanden auch politisch engagierte Jugendliche anderer Stdte, die sich gleichzeitig jîdisch verorten wollten, hier eine neue Heimat, wie z. B. der 16jhrige Leo Rosenthal, dem in der »Kameraden«-Ortsgruppe in Hamm seine Mitgliedschaft in der »Sozialistischen Arbeiterjugend« (SAJ) und im »Reichsbanner« vorgeworfen worden war.15 Ebenfalls aus dem Ruhrgebiet stammte der Schuster Siegfried Adler, der in den »Kameraden« einen eigenen »Radicalsocialistischen Kreis« grîndete, der dem »Schwarzen Haufen« nahe stand, sich aber ernsthafter als dieser mit marxistischer Theorie beschftigte.16 Auf diese 12 Hans Litten: Antwort an Franz Klter, in: Gau Nordost, Nr. 3 (1924); zur Geschichte des Schwarzen Haufens siehe. Schîler-Springorum: Jugendbewegung und Politik. 13 So Max Fîrst in einem Referat 1926, zitiert in einem Schreiben von Werner Alexander, Mînster, an Julius Freund, 29. September 1926, in: CJA I, 75 C Wa 1, Nr. 15, Bl. 29. 14 Gesprch mit Margot Fîrst, Stuttgart, 2. Oktober 1996. 15 Leo Rosenthal/Hamm an Jakob Kohnstamm und Heinz Rosenbaum/Mînchen, 12. Dezember 1924, in: CJA I, 75 C Wa 1, Nr. 2, Bl. 112. 16 Vgl. die Korrespondenz zwischen Siegfried Adler, Ahlen, und dem Bundesleiter Julius Freund, in: CJA I, 75 C Wa 1, Nr. 15.

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Weise sammelten sich vor allem – aber natîrlich nicht nur – in den Gruppen des »Schwarzen Haufens« innerhalb der »Kameraden« diejenigen jîdischen Jungen und Mdchen, die sich auch bewusst politisch engagieren wollten und die dann andere in diesem Sinne beeinflussten und agitierten. Karin Hartewig hat zu Recht betont, dass die bewusste Verknîpfung von Herkunft und politischem Engagement einen »ideologischen Spagat« und ein »emotionales Doppelleben« bedeutete, was nur wenige Genossen durchhielten, die meist im Erwachsenenalter zur KP gestoßen waren.17 Die Jugendlichen des »Schwarzen Haufens« îbten sich einige Jahre in diesem Spagat, der in der Rîckschau z. B. folgendermaßen formuliert wurde: »Wer Jude sein wollte, sich mit dieser Minoritt und der Mentalitt, die uns eigen war, identifizierte, war uns willkommen, ebenso wie jeder nicht dazugehçrte, der Jude war und sich im Ghetto abkapselte und an die ˜berlegenheit der jîdischen Bourgeoisie glaubte.«18 Daneben pflegten sie eine gekonnte Selbststilisierung, gaben sich gerne bewusst antibîrgerlich und ›wild‹ und provozierten Eltern und Lehrer. Man fîhlte sich im »Schwarzen Haufen« als Elite und begann gleichzeitig und schleichend mystische und ordenshnliche Zîge zu entwickeln, die fîr die Jugendbewegung der 1920er Jahren allgemein als typisch gelten. So fordert beispielsweise ein Text der Gruppe: »Wer einer Idee verfallen ist, ist keine Stunde seines Lebens mehr frei. Klare Entscheidung wird von uns verlangt; Mitlufertum darf es nicht geben […] Gerade wir Menschen der Jugendbewegung sollten endlich jene ïberlebte Weltanschauung scharf ablehnen, die zugunsten der schrankenlosen Freiheit des Individuums jede Bindung verwirft.«19 Derartige Aussagen, die gruppenintern immer wieder an konkreten Beispielen wie dem Verbot des bîrgerlichen Klavierspielens oder des Gesellschaftstanzes diskutiert wurden, charakterisieren die mittlerweile ambivalente Ausstrahlung des Bundes, der faszinieren, aber auch abschrecken konnte. Gleichzeitig machen sie die Prgungen deutlich, die die Jugendlichen hier erhielten: Man war entweder dafîr oder dagegen, drinnen oder draußen – und die endlosen Konflikte, die es aufgrund dieses Absolutheitsanspruches mit den anderen, gemßigten »Kameraden«-Gruppen gab und die schließlich 1927 zum Ausschluss des »Schwarzen Haufens« fîhrten, sollen hier nicht im einzelnen aufgezhlt werden. Ein Streitpunkt von vielen verdient jedoch im Zusammenhang mit der Diskussion um die ›Rote Assimilation‹ Erwhnung, und zwar die wieder aufge17 Hartewig, S. 37. 18 Max Fîrst (Stuttgart) an Erwin Lichtenstein, 31. Dezember 1972, Nachlass Fîrst, Stuttgart. 19 Hans Litten: Was bedeutet uns der Talmud? In: Gau Nordost, Nr. 4 (1924).

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flammte Frage der Haltung zum Judentum. Konkret ging es dabei 1926 um die Frage des Austritts aus der jîdischen Gemeinde – denn schließlich forderte die KPD von ihren Mitgliedern den Austritt aus jeder religiçsen Gemeinschaft. Einige, noch wenige Mitglieder des »Schwarzen Haufens« hatten diesen Schritt vollzogen und in ihren Gruppen propagiert, was von der gemßigt religiçsen Bundesleitung der »Kameraden« strikt abgelehnt wurde. In Briefwechseln mit dem Bundesleiter formulierten die jungen angehenden Kommunisten eine Haltung zum Judentum, die fîr sie auch in den folgenden Jahren ihre Gîltigkeit behalten sollte, wie sptere Texte und vor allem Memoiren nahe legen. So begrîndeten z. B. Jugendliche wie Fritz Sauer aus Hannover, der sich als Marxist verstand, seinen Austritt damit, dass die Religionsgesellschaften Institutionen des bîrgerlichen Staates seien, die man nur bekmpfen kçnne, indem man sich außerhalb ihrer stelle: »Im ïbrigen gilt fïr mich nicht der Satz: Tradition oblige, sondern das, was mir als heutigem Menschen, der durch die Tradition nur zum kleinsten Teil bestimmt ist, not tut, was heute not tut. Sich bei Entscheidungen auf Tradition zu berufen, ist schlimm und auch nur Vorspiegelung, Selbsttuschung. Man handelt nach seinen gegenwrtigen Interessen. Alles andere sind vorgeschobene Grïnde.«20 Selbstverstndlich gehçre er jedoch »soziologisch« weiter zu den Juden, und diese Zugehçrigkeit sei fîr ihn und seine Freunde eine »problemlose Selbstverstndlichkeit«. Der formelle Austritt aus der Gemeinde habe vielmehr mit »Ehrlichkeit« zu tun, und so sei gerade diese Frage ein »sehr gutes Mittel«, um die immer jugendbewegt geforderten »Konsequenzen« auch einmal in die Tat umzusetzen. Andere, wie der »radicale Sozialist« Siegfried Adler gaben sich in dieser Diskussion deutlicher weniger radikal und ußerten sich differenzierter : »Ich halte den Austritt aus der Religionsgemeinde fïr notwendig. Ich leugne nicht, dass der Austritt eine weitgehendere Wirkung hat wie der Austritt irgend eines Menschen aus der evangelischen oder katholischen Kirchengemeinde. Aus diesem Grunde habe ich auch bis heute meinen Austritt noch nicht erklrt, aber ich bin mir darïber klar, dass mein Austritt erfolgen muss. Ich habe natïrlich nicht die Absicht, mich damit vom Judentum zu trennen, denn es ist nicht zu leugnen, dass unsere Gemeinschaft etwas volkhnliches hat. Ich bin ganz bewusster Jude und werde nie mein Judesein verleugnen.«21

20 Fritz Sauer, Frankfurt a. M., an Julius Freund, 9. November 1926, in: CJA I, 75 C Wa 1, Nr. 13, Bl. 138. 21 Siegfried Adler, Ahlen, an Julius Freund, 23. Dezember 1926, ebd., Nr. 15, Bl. 64.

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Jeder, der »einigermaßen dialektisch denkt«, mîsse diesen Standpunkt nachvollziehen kçnnen, fîgte er hinzu, und fîhrte in einem weiteren Schreiben noch einen anderen Grund fîr sein eigenes Zçgern in der praktischen Umsetzung dieser Frage an: »Ich bin bis jetzt deshalb noch nicht ausgetreten, weil ich einen Konflikt mit zu Hause wegen des Religionsaustritts vermeiden will. Der Konflikt wïrde wahrscheinlich derart weitgehend sein, dass ich glaube, dass mit einem Bruch zu rechnen wre u. ich glaube, dies im Augenblick noch nicht verantworten zu kçnnen.«22 Weder wurde die Frage also von allen linksradikalen jîdischen Jugendlichen in gleicher Weise beantwortet, noch war der damit verbundene Bruch mit dem Elternhaus fîr alle problemlos zu vollziehen – und diese frîhen Unterschiede lassen sich auch in den spteren kommunistischen Lebenswegen immer wieder aufzeigen.23 Die Austrittsfrage war jedoch nur einer von mehreren Streitpunkten, die schließlich im Juni 1927 zum Ausschluss des »Schwarzen Haufens« aus den »Kameraden« fîhrte. Danach existierte die Gruppe noch ein Jahr als autonomer »Bund jîdischer Jugend« weiter, aber im Grunde war seine jugendbewegte Basis lngst durch das politische Engagement ins Wanken gekommen: »Wir hatten uns das eigene Grab gegraben, als wir unsere Leute aufforderten, in den Parteien mitzuarbeiten«, urteilte ein Mitglied spter îber dieses letzte Jahr des »Schwarzen Haufens«.24 Man stritt sich nun intern leidenschaftlich und unergiebig îber die Frage, ob der Klassen- oder der Generationenkampf die primre Aufgabe eines wirklich jugendbewegt-revolutionren Bundes zu sein habe. Vor allem diejenigen, die gleichzeitig Mitglied im »Kommunistischen Jugendverband« geworden waren, pldierten wortgewaltig fîr einen geschlossenen ˜bertritt in den KJVD: »Die ganze Jugendbewegung hat bisher den Haken ihrer Leiter an den Mond gehngt, hat entweder vçllig auf die Welt verzichtet oder gnzlich ungenîgende Ziele mit gnzlich unzureichenden Mitteln zu erreichen gesucht. Und wie das prasselnde Feuerwerk der Romantik vor dem Sturm der Revolution von 1848 verlosch, so werden die glnzenden Diamanten der Jugendbewegung heute vor der Sonne der revolutionren Wirklichkeit zu nichts zerfließen. […] Wollt ihr 22 Siegfried Adler, Ahlen, an Julius Freund, 2. Januar 1927, ebd., Bl. 57. 23 Hier weicht meine Interpretation leicht von der Karin Hartewigs ab, die eher die Bedeutung des (durch den Eintritt in die KP inszenierten) Bruchs mit dem Elternhaus betont, vgl. Hartewig, S. 37; weitere Beispiele aus dem »Schwarzen Haufen« neben Sauer und Adler sind Steinberger, S. 17; Ilse Stillmann, in: Wolfgang Herzberg: ˜berleben heißt Erinnern. Lebensgeschichten deutscher Juden, Berlin 1990, S. 142 – 204, S. 149. 24 Max Fîrst: Talisman Scheherezade. Die schwierigen zwanziger Jahre, Mînchen 1976, S. 185.

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beiseite stehen, wenn eine neue Welt gebaut wird? Die heutige Aufgabe der Jugendbewegung ist es, die allgemeine Aufgabe unseres Jahrhunderts miterfîllen zu helfen, d. h. fîr den Sozialismus zu kmpfen, sich in den proletarischen Klassenkampf einreihen!«25 Der jugendbewegte Flîgel, vertreten durch den jungen Referendar Hans Litten, war gegenîber diesen leidenschaftlichen Appellen deutlich in der Defensive: »Der Generationenkampf ist nicht ausschließlich durch den Klassengegensatz bedingt, hier liegt ein Fehler des Marxismus […] so hat z. B. die Unterdrïckung der Jugend durch das Alter auch Ursachen, die nicht im Kapitalismus begrïndet sind und die in der klassenlosen Gesellschaft nicht verschwinden werden. […] Wir haben den notwendigen Schritt getan, in die Politik hineinzugehen, eine Festlegung auf den Sozialismus aber darf nicht erfolgen.« Den Marxismus wollte Litten lediglich als wissenschaftliche Methode und nicht als »Weltanschauung« anerkannt wissen, letzteres sei einfach »Unsinn«, whrend er gleichzeitig auf einem Grundsatz beharrte, den wiederum die jungen Marxisten keinesfalls akzeptieren konnten: »Jugendbewegung ist unmçglich ohne Glauben an eine metaphysische Realitt.«26 Die auf diese Standortbestimmungen folgenden, langwierigen und persçnlich zermîrbenden Diskussionen – Rudi Arndt beklagte sie als »unwîrdiges Manschen in fremden Seelen«27 – fîhrten schließlich im Frîhjahr 1928 zur Auflçsung des »Schwarzen Haufens«. Noch nicht einmal aus Sicht der beobachtenden politischen Polizei, die die Jugendgruppe intern und nicht ganz falsch als »Sekte« charakterisiert hatte, »die zwischen Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus steht«, kam dem eine »grçßere politische Bedeutung« zu.28 Fîr die Jugendlichen jedoch, fîr die der Bund die zentrale Gemeinschaft gewesen war, war die Auflçsung und Trennung oftmals ein traumatisches Erlebnis: Manch einer lief tagelang »durch Berlin voller Selbstvorwîrfe und Selbstmordgedanken«, und ein anderes Mitglied erinnerte sich noch Jahrzehnte

25 Referat von Heinz Pchter auf dem Bundestag des »Schwarzen Haufens« im Sommer 1927, undatiertes Protokoll, in: Staatsarchiv Leipzig, Polizeiprsidium, PP-V 4310, unpag.; vgl auch Pchters sptere, davon abweichende Erinnerungen: Henry Pachter. Weimar Etudes, New York 1982, S. 57 f. 26 Vgl. Protokoll Bundestag 1927; zu Litten siehe auch: Stefanie Schîler-Springorum/Hans Litten: 1903 – 2003: The Public Use of a Biography, in: Leo Baeck Institute Year Book XLVIII, 2003, S. 205 – 219. 27 Arndt stand dabei interessanterweise noch auf Seiten des jugendbewegten Flîgels und bemîhte sich um Vermittlung, vgl. Protokoll Bundestag 1927. 28 Vgl. Anschreiben der Polizei Dresden, 24. November 1927, ebd.

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spter an »unertrglichen Schmerz und Verzweiflung.«29 Fast alle verspîrten das Bedîrfnis, ja die »innere Verpflichtung«, sich mçglichst schnell wieder zu binden, »eine Sache zu finden, eine Gruppe, eine Organisation, die den guten Kampf fortfîhrte.«30 Viele ehemalige Mitglieder schlossen sich den vielen damals noch existierenden sozialistischen und kommunistisch-oppositionellen Splittergruppen an, die Mehrheit jedoch der KPD bzw. ihrer Jugendorganisation, falls sie ihr nicht ohnehin lngst angehçrten. Dabei handelten sie wohl hufig nach dem Motto ›wenn schon, denn schon‹ und fîhlten sich fortan »an den Kraftstrom einer revolutionren Weltbewegung angeschlossen.«31 Denn die KPD war vor allem aufgrund ihres Prestiges als radikalste Partei der Linken mit klaren Identifikationsangeboten und Feindbildern fîr die Jugendlichen attraktiv, und sptestens ab 1930 war sie diejenige Partei, die den strker werdenden Nationalsozialisten am deutlichsten den Kampf angesagt hatte. Zudem fllt auf, dass vergleichsweise viele von ihnen recht schnell hçhere Positionen vor allem im KJVD einnehmen konnten, was wohl nicht nur am chronischen Mitgliedermangel des Jugendverbandes gelegen haben dîrfte, sondern auch an der intellektuellen Schulung in der jîdischen Jugendbewegung. Wie Barbara Kçster kîrzlich nachgewiesen hat, konnte sich jedoch gerade diese Vorprgung auch als Hindernis auf dem Weg zum kommunistischen Kader erweisen, denn die Gutachter fîr Ausbildungsanwrter waren bîrgerlichen und jîdischen Jugendlichen gegenîber »deutlich kritischer« eingestellt.32 Als beispielsweise ein ehemaliges Mitglied des »Schwarzen Haufens«, die Verkuferin Else Proskauer aus Leipzig, zur Aufnahme in die Leninschule vorgeschlagen wurde, legte man »auch bei der Prîfung starken Wert auf die Frage der ˜berwindung bîrgerlicher ideologischer Einstellung und der Erprobung der Verbindung mit dem Leben der Arbeiterschaft.« Proskauer hinterließ jedoch »wider Erwarten« einen guten Eindruck, konnte »aktuelle Probleme« richtig erfassen und ihre »theoretische Fundierung« war »in erforderlichem Maße vorhanden.«33 Konnte man also aufgrund der ideologischen Vorschulung in der Jugendbewegung gewisse antibîrgerliche Vorbehalte ausrumen, so war das Verlassen eines bewusst jîdischen – und damit vertrauten – Zusammenhangs beim ˜bergang in den KJVD keineswegs fîr alle vçllig problemlos, wie z. B. Ilse 29 Fîrst, Talisman, S. 201 – 203; Gisela Konopka: Mit Mut und Liebe. Eine Jugend im Kampf gegen Ungerechtigkeit und Terror, Weinheim 1996, S. 67. 30 Ebd., S. 68. 31 Hartewig, S. 35. 32 Vgl. Barbara Kçster : »Die Junge Garde des Proletariats«. Untersuchungen zum Kommunistischen Jugendverband Deutschlands in der Weimarer Republik, Diss. Bielefeld 2003, S. 70, 90 – 101. 33 Zitiert nach ebd., S. 99.

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Stillmann spter betont hat.34 Erleichtert wurde dieser Schritt den ehemals Jugendbewegten dadurch, dass sie ihre nun kommunistische Anbindung ohnehin als scheinbar bruchlose, nur eben politisch konsequentere Fortsetzung ihres vormals jîdisch-bîndischen Engagements interpretieren konnten: Der KJVD imitierte, hnlich wie die SAJ, bis 1929 Stil und Habitus der Jugendbewegung, auch wenn man sich redlich – aber wohl erfolglos – bemîhte, bestimmte Praktiken politisch korrekt umzudeuten. So sollte statt der Sonnenwende die Oktoberrevolution gefeiert und das Wandern zur Landagitation genutzt werden. Auch das nun kommunistische Gruppenleben unterschied sich kaum vom vorhergehenden: Man las und diskutierte auf den Heimabenden, wanderte zwar insgesamt weniger, sang aber weiterhin die gleichen Lieder.35 Dafîr kamen »richtig politische« Aktivitten hinzu wie Demonstrationen, Straßenkmpfe oder das Verteilen von Zeitschriften; die Schießîbungen im Strausberger Wald, von denen Ilse Stillmann berichtet, werden wohl eher die Ausnahme gewesen sein. Inwieweit die in den frîhen 1930er Jahren immer martialischer werdende Ausstrahlung des KJVD auch auf die ehemals Jugendbewegten eine gewisse Faszination ausîbte, lsst sich anhand der autobiographischen ˜berlieferung nicht mehr feststellen.36 Nicht zuletzt war das Bedîrfnis nach Vertrautheit und Gemeinschaft fîr die jungen Kommunisten am leichtesten zu erfîllen, denn die meisten von ihnen blieben auch nach ihrer jugendbewegten Phase in gemeinsamen, nun eben kommunistischen Gruppen zusammen, wie sich besonders an den Berliner KJVD-Gruppen zeigen lsst. So blieben z. B. Ilse Stillmann, Rosa Hutterer und Siegbert Kahn eng verbunden und trafen in ihrer KJVD-Gruppe »Helmholtzplatz« auf andere Ehemalige aus dem »Schwarzen Haufen«, wie Lothar Cohn und den mittlerweile in der Bezirksleitung Berlin-Brandenburg ttigen Rudi Arndt.37 Waren die Beziehungen innerhalb der Kommunistischen Partei nun der zentrale Dreh- und Angelpunkt, so blieben doch manche alte Freundschaften aus der jîdischen Jugendbewegung îber politische Grenzen hinweg weiter bestehen. Dieser auf gemeinsam verbrachter Jugend fundierenden Vertrautheit sollte ab 34 Vgl. Stillmann bei Herzberg, S. 151. 35 Vgl. Kçster, S. 203 – 214; Zur SAJ Franz Walter: Jungsozialisten in der Weimarer Republik. Zwischen sozialistischer Lebensreform und revolutionrer Kaderpolitik, Kassel 1983; zum ISK, zu dem ebenfalls einige Ehemalige aus dem Schwarzen Haufen fanden: Sabine LemkeMîller : Ethik des Widerstands. Der Kampf des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK) gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1996; bildlich erfassbar wird dieser relative bruchlose ˜bergang auch in den von uns gesammelten Photos: Bergbauer/SchîlerSpringorum, Ausstellungskatalog. 36 Vgl. Kçster, S. 242 – 270; Hartewig, S. 41; Ilse Stillmann bei Herzberg, S. 159; dazu auch: Eve Rosenhaft: Beating the Fascists? The German Communists and political Violence 1929 – 1933, Cambridge 1983. 37 Vgl. Stillmann bei Herzberg, S. 151 – 153; allg. Kçster, S. 191 – 202.

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1933 eine ganz neue Bedeutung zukommen, als man sich quasi von einem Tag auf den anderen in der Illegalitt und Verfolgung wiederfand, worauf die jungen Kommunisten, wenngleich sehr unzureichend, vorbereitet waren: »Plçtzlich, als das allgemeine Vertrauen erschîttert war, griff man auf die Menschen zurîck, deren Loyalitt man sicher sein konnte«, erinnert sich beispielsweise Max Fîrst, der sich keiner Partei angeschlossen hatte, nun aber von KP-Mitgliedern um Hilfe bei illegaler Arbeit gebeten wurde.38 Fîr die Ttigkeit im Widerstand gegen den Nationalsozialismus sollte dies von großer Bedeutung sein, denn gerade die vielfltigen Freundschafts-, Verwandtschafts- und Liebesbeziehungen, die die jungen Leute untereinander verbanden, bildeten nun die Basis fîr jene Konsequenz und vor allem Resistenz gegen Infiltration von außen, die ihre Widerstandsgruppen auszeichnen sollte.39 Fîr diejenigen jedoch, die in den 1930er Jahren in die Sowjetunion flîchteten, sollten die alten Kontakte, und hier gerade die jîdischen, oftmals tçdliche Folgen haben, als whrend der stalinistischen Suberungen nach dem »Prinzip der selbstreferentiellen Kontaktschuld« (R. Mîller) z. B. das jugendlich-jîdische Engagement automatisch mit ›Zionismus‹, ›Trotzkismus‹ oder ›Kosmopolitentum‹ gleichgesetzt wurde.40 Nicht nur der Weg dieser jîdischen Jugendlichen zum Kommunismus, der hier in groben Zîgen nachgezeichnet wurde, sondern auch ihr weiteres Schicksal kann als durchaus typisch gelten fîr das deutsch-jîdischer Kommunisten im 20. Jahrhundert: Als Widerstandskmpfer der ersten Stunde kamen viele schon 1933 in Schutzhaft, blieben damals aber nur fîr vergleichsweise kurze Zeit inhaftiert, so dass ihnen noch vor dem Krieg die Flucht ins Ausland gelang. Dies gilt beispielsweise fîr Siegbert Kahn und seine Frau Rosa Hutterer aus Berlin, die 1938 îber Prag nach Großbritannien entkamen, oder fîr Siegfried Adler aus Ahlen, der 1939 mit seiner Familie nach Bolivien fliehen konnte, wo sie so rmlich lebten, dass die Tochter spter an den Folgen starb. Beide Familien kehrten nach dem Krieg nach Deutschland, in die DDR zurîck. Dies gelang, 38 Fîrst: Talisman, S. 211 f. 39 Dies ist erstmals eindrîcklich herausgearbeitet worden von Michael Kreutzer : Die Suche nach einem Ausweg, der es ermçglicht, in Deutschland als Mensch zu leben. Zur Geschichte der Widerstandgruppen um Herbert Baum, in: Wilfried Lçhken/Werner Vathke: Juden im Widerstand. Drei Gruppen zwischen ˜berlebenskampf und politischer Aktion 1933 – 1945, Berlin 1993, S. 95 – 149; dazu jetzt auch Regina Scheer : Im Schatten der Sterne. Eine jîdische Widerstandsgruppe, Berlin 2004; vgl. allg. zum jîdisch-kommunistischen Widerstand Arnold Paucker : Deutsche Juden im Widerstand 1933 – 1945. Tatsachen und Probleme, in: ders.: Im Kampf um Recht und Freiheit, S. 205 – 289. 40 Vgl. Reinhard Mîller (unter Mitwirkung von Natalja Mussijenko): »Wir kommen alle dran«. Suberungen unter den deutschen Politemigranten in der Sowjetunion (1934 – 1938) in: Hermann Weber/Ulrich Mhlert (Hg.): Terror. Stalinistische Parteisuberungen 1936 – 1953, Paderborn/Mînchen 1998, S. 121 – 159, S. 136.

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wenn auch erst Mitte der 1950er Jahre, auch den SU-Emigranten Else Proskauer aus Leipzig sowie Rubin Rosenfeld und Nathan Steinberger aus dem Scheunenviertel, die beide den stalinistischen Gulag îberlebt hatten. Leo Rosenthal aus Hamm wurde dagegen ebenso wie Fritz Sauer aus Hannover im Jahre 1938 in Butowo, UdSSR erschossen. Lothar Cohn und Ilse Stillmann gehçrten whrend der NS-Zeit zum weiteren Umfeld der Baum-Gruppe: Cohn wurde 1944 im KZ Sachsenhausen erschossen, Stillmann îberlebte im Untergrund in Berlin. Sie war es auch, die 1940 die Beerdigung von dem in Buchenwald ermordeten Rudi Arndt auf dem Jîdischen Friedhof in Weißensee organisierte.41 Sind ihre Lebensgeschichten mit dem Begriff der »Roten Assimilation« wirklich adquat erfasst? Meines Erachtens nach nicht, und da es sich zudem um einen hochaufgeladenen identittspolitischen Kampfbegriff handelt, ist es an der Zeit, ihn endgîltig aus der historiographischen Diskussion zu verabschieden. Dafîr spricht schon die einfache Tatsache, dass ›Identitten‹, Selbstbeschreibungen und -entwîrfe von Menschen immer sehr viel ambivalenter sind, als es dem individuellen und kollektiven, aber auch dem historiographischen Bedîrfnis nach klaren Zuschreibungen und Definitionen entspricht. Zudem unterliegen sie im Laufe eines Lebens vielfachen Vernderungen, sind also historischer Entwicklung unterworfen. Nach Krieg und rassistischer wie politischer Verfolgung waren die îberlebenden Kommunisten z. B. gezwungen, sich zu ihrer Herkunft zu verhalten, und sie taten dies – wie schon in den Jahren zuvor – auf ganz unterschiedliche Weise: Manche traten, wie Nathan Steinberger, aus Solidaritt wieder in die jîdische Gemeinde ein, andere, wie Siegbert Kahn, blieben zwar politisch auf antizionistischer Linie, setzten sich jedoch frîh fîr Reparationen und historische Aufarbeitung ein, und wieder andere, wie Ilse Stillmann, versuchten von allem, sich der jîdischen Gemeinde und den eigenen, stalinistisch verfolgten Verwandten fernzuhalten.42 Aber auch fîr die Zeit vor 1933 ist die ›Rote Assimilation‹, wie ich zu zeigen versucht habe, als analytischer Begriff unbrauchbar : Fîr jîdische Jugendliche in den 1920er Jahren war die Hinwendung zum Kommunismus eine von mehreren Mçglichkeiten auf ihrer alters- und zeittypischen Suche nach eindeutigen politischen Antworten (einem klaren Anti-Nationalismus und Anti-Faschismus 41 Von den hier ebenfalls erwhnten Nichtkommunisten aus dem »Schwarzen Haufen« konnten Heinz Pchter und Gisela Konopka in die USA entkommen, Max Fîrst wanderte mit seiner Familie nach Palstina aus und kehrte in die Bundesrepublik zurîck, Hans Litten wurde 1938 im KZ Dachau in den Tod getrieben; vgl. die îber fînfzig rekonstruierten Lebenswege aus der Gruppe bei Bergbauer/Schîler-Springorum, Biographischer Anhang, S. 118 – 127. 42 Vgl. Steinberger : Berlin-Moskau-Kolyma, S. 97 – 100, 105; Siegbert Kahn: Antisemitismus und Rassenhetze. Eine ˜bersicht îber ihre Entwicklung in Deutschland, Berlin 1948; Ders., Dokumente des Kampfes der revolutionren deutschen Arbeiterbewegung gegen Antisemitismus und Judenverfolgung, in: Beitrge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 2 (1960), S. 552 – 564; zu Stillmann vgl. das Kapitel îber sie bei Scheer, S. 27 – 49.

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z. B.), festen Identitten (das hochromantische Ideal des unbeugsamen Berufsrevolutionrs z. B.) und vor allem nach Gemeinschaft, dem Gefîhl der Zugehçrigkeit. Insofern ist Karin Hartewig zuzustimmen, die diesen Prozess als die »Reduzierung von Komplexitt und als Suche nach Sicherheit und Eindeutigkeit«43 beschrieben hat – als solches bekanntermaßen zunchst kein spezifisch jîdisches Phnomen. Wollte man besonders radikal sein, den in vielen Fllen wohl schon vorher vorhanden Bruch mit dem Elternhause besonders deutlich machen und den Kollektivwechsel besondern radikal vollziehen, so hatte man jedoch als jîdischer Jugendlicher der 1920er Jahren eigentlich nur die Wahl zwischen Zionismus und Kommunismus. Auffallend ist dabei, dass auch diejenigen, die sich schließlich fîr den Kommunismus entschieden, oft eine Art ›Aufwrmphase‹ in der jîdischen Jugendbewegung durchliefen, und zwar meist bei den politisch offeneren »Kameraden«, die hier die gleiche Funktion erfîllt zu haben scheinen wie die Freideutschen in der nichtjîdischen Jugendbewegung.44 Diese Suchbewegung und Orientierungsphase unterschied sie im ˜brigen dann deutlich von der Mehrheit ihrer nichtjîdischen Genossen, die eher îber familire und nachbarschaftliche Zusammenhnge in das kommunistische Milieu gleichsam hineinwuchsen.45 Es war also in der jîdischen Jugendbewegung, in der die meisten von ihnen die erste Phase ihrer politischen Sozialisation erlebten; diese Sozialisation sollte sie fîr ihre spteren politischen Optionen zumindest prdisponieren: Nicht nur beschftigte man sich auch dort mit marxistischer Theorie, sondern man pflegte ein hnliches Elitebewusstsein, eine strenge in-group/out-group-Mentalitt und bekmpfte die jeweiligen ›Gegner‹ leidenschaftlich und wortgewaltig. Gleichzeitig aber verfestigte sich hier das, was die jungen Kommunisten ihr skulares, aber »selbstverstndliches Jude-Sein« nannten und Arnold Paucker spter einmal als das »jîdische Unterbewusstsein« der Linken bezeichnet hat.46 Es war nicht zuletzt îber alte Freundschaften und Verwandtschaftsbeziehungen, vermittelt und sollte ihr gesamtes weiteres Leben in unterschiedlichem Maße zwar, aber durchgehend mitprgen47 – so sie die Verfolgungen der 1930er und 40er Jahre îberlebt hatten. 43 Hartewig, S. 105; dort auch, S. 101 – 106 eine konzise Zusammenfassung der historischen Erfahrung dieser Generation jîdischer Kommunisten. 44 Gudrun Fiedler : »Werdet Fîhrer Eurem Volke«. Politisierung der Freideutschen Jugend 1917 – 1923, in: Wolfgang Krabbe (Hg.): Politische Jugend in der Weimarer Republik, Bochum 1993, S. 13 – 37. Hartewig hat jedoch auch Beispiele fîr »Konversionen« vom Zionismus gefunden, vgl. dies., ebenda S. 35. 45 Vgl. Kçster, S. 184. 46 Paucker : Selbstverstndnis, in: ders.: Im Kampf um Recht und Freiheit, S. 201. 47 Und, wie die Untersuchung von Bettina Vçlter belegt, das ihrer Kinder und Enkelkinder, vgl. dies.: Judentum und Kommunismus. Deutsche Familiengeschichten in drei Generationen, Opladen 2002.

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Lenin oder Jabotinsky? Jïdische Identittssuche in Salzburg nach dem Ersten Weltkrieg

»Ich habe mich immer zum Judentum bekannt, ich habe es nie verschwiegen, aber es gibt und gab fïr mich Dinge, die genauso wichtig sind. (…) Ich war begeisterter deutscher Nationalist und Jude zugleich. Als nach dem Ersten Weltkrieg in Salzburg ïber einen Anschluß an Bayern abgestimmt werden sollte, habe ich auch mitgemacht. Ich htte es wunderbar gefunden, wenn Salzburg zu Bayern gekommen wre. Ich war mit Begeisterung dabei, als die Schïler der hçheren Klasse ersucht wurden, bei den Wahlvorbereitungen zu helfen. Bis mir ein Lehrer sagte: »Sie werden ersucht, den Saal zu verlassen!« Ich bin gegangen, aber ich habe schrecklich darunter gelitten, weil ich ja wirklich hinter der Sache stand«.1 Der Untergang der çsterreichischen Monarchie und der nach dem Ersten Weltkrieg angewachsene Antisemitismus – ab Juli 1920 wurde §sterreich von Parteien regiert, die in ihren Parteiprogrammen antisemitische Positionen vertraten, und Staatsbehçrden erlaubten erstmals auch direkte antisemitische Propaganda und Organisationsttigkeit2 – brachten das Selbstverstndnis çsterreichischer Juden massiv ins Wanken. Fîr die ltere, vielfach kaisertreue und mit einer starken çsterreichischen Identitt ausgestattete Generation ging in der neuen Republik Deutsch-§sterreich der Schutzherr verloren.3 Junge, fîr Mehrfachidentitten offene Juden wie der oben zitierte Hans Jacoby, fanden sich auf ihr Judentum zurîckgeworfen und von der nicht-jîdischen Gesellschaft ausgeschlossen. Eine Enklave bildete das »Rote Wien«, und viele Wiener Juden fanden im Austromarxismus ein Gefîhl von Zugehçrigkeit, auch wenn die So1 Hans Jacoby, in: Ellmauer, Daniela/ Embacher, Helga/ Lichtblau, Albert: Geduldet – verschmht und vertrieben. Salzburger Juden erzhlen, Salzburg 1998, S. 99. 2 Albert Lichtblau: Antisemitismus – Rahmenbedingungen und Wirkungen auf das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden, in: Talos/Dachs/Hanisch/Staudinger (Hg.): Handbuch des politischen Systems §sterreichs. Erste Republik 1918 – 1933, Wien 1995, S. 454 – 471, hier S. 457 ff. 3 Vgl. exemplarisch Marsha L. Rozenblit: Die Juden Wiens 1867 – 1914. Assimilation und Identitt, Wien 1988.

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zialdemokratie trotz ihrer vielen jîdischen Funktionre und ihres îberproportional hohen jîdischen Mitgliederanteiles nicht vçllig frei war von Antisemitismus. Anders, und wie ich hier behaupten mçchte, auch wesentlich schwieriger, gestaltete sich die Suche nach Zugehçrigkeit und Identitt in den konservativ regierten Bundeslndern, deren Landeshauptstdte vielfach die Deutschnationalen dominierten. Mein Blick ist dabei auf die jîdische Jugend, auf die nach 1900 geborene Generation gerichtet, die vom Zerfall der Monarchie wesentlich weniger berîhrt war als ihre Eltern. Whrend diese nach hinten blickten und die Monarchie idealisierten, zeigten sich die Kinder fîr unterschiedliche Ideologien offen. Das Spektrum reichte vom Deutschnationalismus îber den Kommunismus bis hin zum Zionismus. Die Identittsproblematik jîdischer Jugendlicher in Salzburg kann jedoch nur aus dem historischen Kontext und der Problematik der Elterngeneration verstanden werden. Als wesentliche Quellen dienten lebensgeschichtliche Interviews, die 1993 entstanden, als Stadt und Land Salzburg erstmals vertriebene Juden und Jîdinnen zu einem Besuch einluden.4

Die Elterngeneration Nach der 1498 erfolgten Vertreibung der Salzburger jîdischen Gemeinden durften sich Juden in Salzburg erst wieder mit dem Staatsgrundgesetz von 1867, das alle konfessionell begrîndeten Aufenthaltsverbote beseitigte, niederlassen.5 Die neue Gemeinde kann als homogen, wirtschaftlich wohlhabend und in kultureller Hinsicht um Akkulturation bemîht charakterisiert werden. Lebten in Wien rund 200.000 Juden und Jîdinnen (= 9 % der Gesamtbevçlkerung), so machte in Salzburg der jîdische Bevçlkerungsanteil nie mehr als 0,1 % aus; mit 285 Mitgliedern erreichte die Gemeinde 1910 ihren hçchsten Mitgliederstand. Sie stammten vorwiegend aus Bçhmen, Mhren und Westungarn; ein kleinerer, doch auch bereits mit der deutschen Kultur vertrauter Teil wanderte aus Galizien zu. Von ihrer Sozialstruktur her gehçrten die Salzburger Juden dem Mittelstand an.6 Nach außen hin entstand der Eindruck einer um Assimilation bemîhten 4 Vgl. Ellmauer/ Embacher/ Lichtblau. Die Interviews kçnnen am Zentrum fîr Jîdische Kulturgeschichte an der Universitt Salzburg eingesehen werden. Mit einigen ausgewhlten Personen, Nina Lieberman (Woodstock, USA, 2002), Bertha Reichenthal (Tel Aviv 2002) und Hans Pasch (Denver, USA, 2002), konnten Folgeinterviews gefîhrt werden. 5 Zur Geschichte der Juden in Salzburg vgl. Adolf Altmann: Geschichte der Juden in Stadt und Land Salzburg, Salzburg 1990; Haas, Hanns/Koller, Monika: Jîdisches Gemeinschaftsleben in Salzburg. Von der Neuansiedlung zum Ersten Weltkrieg, in: Marko Feingold (Hg.): Ein ewiges Dennoch. 125 Jahre Juden in Salzburg, Wien 1993, S. 31 – 52 sowie S. 171 – 177; Helga Embacher (Hg.): Juden in Salzburg. History, Cultures, Fates, Salzburg 2002. 6 23,1 % galten als Kaufleute, 44,6 % wurden der Kategorie Privat zugeordnet, 8,9 % îbten freie

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Gemeinde; die jîdische Religion wurde als Privatsache angesehen. Am Shabbat wurde gearbeitet, lediglich an hohen jîdischen Feiertagen blieben die Geschfte geschlossen, und die meisten besuchten die Synagoge. Im Unterschied zu Wien lassen sich in Salzburg jedoch kaum Mischehen oder Konversionen feststellen.7 Die Salzburger Juden heirateten vielfach unter sich, auch innerhalb der Familie.8 Selbst einige religiçse Familien hatten zu ihren jîdischen Feiertagen jedoch bereits christliche Feste adaptiert, wobei allerdings deren religiçser Gehalt ignoriert wurde. – »Man war ein bisserl in beiden Gegenden zu Hause«, drîckte es Hans Pasch aus.9 Beruflich erfolgreich, sah die Grîndergeneration in der ˜bernahme des bîrgerlichen Lebensstils eine Strategie zur Akkulturation. Die Tragik dieses Konzeptes lag allerdings darin, dass, den Betroffenen lange unbewusst, Juden bereits Ende des 19. Jahrhunderts, mit der Krise des in §sterreich ohnehin nur schwach ausgeprgten Liberalismus, aus der nicht-jîdischen bîrgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Eroberte in Wien der christlichsoziale Karl Lueger mit Hilfe eines politisch instrumentalisierten Antisemitismus 1897 das Amt des Bîrgermeisters, so regierten in Provinzsttten wie Salzburg, Graz oder Linz deutschnationale Parteien.10 Bereits Ende des 19. Jahrhunderts fîhrten in ganz §sterreich ehemals liberale Vereine,11 denen eine enorme politische und gesellschaftliche Bedeutung zukam, den »Arierparagraphen« ein. Bereits am 26. Mai 1914 konstatierte die christlichsozial orientierte Salzburger Chronik: »Man hat sich im Ausland schon oft gewundert, daß in §sterreich jeder anstndige Mensch Antisemit ist.« Sptestens nach dem Ersten Weltkrieg waren die ohnehin nur sprlich vertretenen jîdischen Mitglieder aus smtlichen Vereinen und somit aus der nicht-jîdischen bîrgerlichen Gesell-

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Berufe aus, hingegen machten Arbeiter und Handwerker nur 2,9 % aus. Vgl. Fellner : Zur Geschichte der Juden in Salzburg von 1911 bis zum Zeiten Weltkrieg, in: Altmann, Geschichte der Juden, S. 373. Vgl. Harriet P. Freidenreich: Jewish Politics in Vienna 1918 – 1938, Bloomington/Indianapolis 1991. So waren z. B. die Familien Sîß, Pollak und Neuwirth oder die Familien Lçwy, Fux, Bonyhadi und Sîß miteinander verwandt; Jack Neuwirth heiratete die Tochter seines Halbbruders und Kompagnons Ludwig Ornstein. So auch die Mitglieder der Familie Schwarz, die als eine der ganz wenigen als Zionisten galten. Vgl. Peter Pulzer : The Rise of Political Antisemitism in Germany and Austria, London 1988. Speziell zu Salzburg vgl. Gînther Fellner : Antisemitismus in Salzburg 1918 – 1938, Wien/ Salzburg 1979, S. 63; Hanns Haas: Vom Liberalismus zum Deutschnationalismus, in: Heinz Dopsch (Hg.): Geschichte Salzburgs, Bd. 2. Teil 2, Salzburg 1988, S. 833 – 906. Zu nennen wren der Deutsche Schulverein, der Salzburger Turnverein, der Verein Sîdmark, die Liedertafel oder der Deutsche und §sterreichische Alpenverein.

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schaft ausgeschlossen.12 Traditioneller christlicher Antisemitismus vermischte sich mit rassischem. Die Christlichsoziale Partei in Salzburg forderte in ihrem Programm von 1918 offen den »Ausschluß jedes Nichtdeutschen von allen çffentlichen Diensten, Aemtern und Vertretungskçrpern«; Juden sollten als nichtdeutsche Bevçlkerung betrachtet werden.13 Durch die Enge der Kleinstadt, in der Juden allgemein bekannt waren, sahen sich diese verbalen und auch bereits ttlichen Angriffen ausgesetzt. Der Eiserne Besen als Salzburger Organ des 1919 çsterreichweit gegrîndeten Deutsch-çsterreichischen Schutzvereins Antisemiten-Bund stand dem Stîrmer keineswegs nach; er denunzierte wiederholt jîdische Geschftsleute und gab sie der Lcherlichkeit preis.14 Ein »Judenkataster« gab einen Vorgeschmack auf den spteren Boykott jîdischer Geschfte.15 Von der bîrgerlichen Gesellschaft weitgehend ausgeschlossen, beschrnkten sich die Kontakte der wirtschaftlich erfolgreichen Juden auf das Berufsleben. Jugendliche bedauerten, dass ihre Eltern zwar gerne das bekannte Cafe Basar besuchten, aber nur an Tischen mit Juden Platz nahmen.16 Zum Teil noch in religiçsen, armen Gemeinden geboren, blickte die Grîndergeneration stolz auf ihre Aufbauleistungen und den erreichten bîrgerlichen Lebensstil zurîck, wofîr sie Antisemitismus und die gesellschaftliche Isolation in Kauf nahm. Viele flîchteten in die Vergangenheit und trumten von der guten, alten Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in der, wie sie ihren Kindern vermittelten, »alles besser war.«17

Generationskonflikte Die nachkommende Generation empfand diese Haltung der Elterngeneration vielfach als ˜berbleibsel einer »Welt von Gestern«, wie der damals in Salzburg lebende Schriftsteller Stefan Zweig seine Autobiographie betitelte.18 Gefangen 12 Der Salzburger Turnverein schloss 1887 das einzige jîdische Mitglied Albert Sîß aus, 1891 wurden drei jîdische Mdchen aus der Frauen-Turnriege verwiesen. Vgl. Haas/Koller, S. 37. 13 Salzburger Chronik, 7. 12. 1918; siehe auch die Salzburger Chronik, 6. 12. 1918, 25. 1. 1919, 31. 1. 1919 sowie 26./27.1.1919. Dazu vgl. außerdem Helga Embacher : Das Frauenwahlrecht als Belohnung fîr die Kriegsarbeit? In: Brigitte Mazohl-Wallnig: Die andere Geschichte. Eine Salzburger Frauengeschichte von der ersten Mdchenschule (1695) bis zum Frauenwahlrecht (1918), Salzburg 1995, S. 311 – 334. 14 Der Eiserne Besen beschimpfte Juden als »Ungeziefer«, das »ausgemistet und vernichtet« werden mîsse. Vgl. exemplarisch Der Eiserne Besen, 10. 9. 1923, 1. 12. 1923, 9.1.1925. 15 Fellner : Antisemitismus, S. 142; vgl. auch Interview mit Hugo Schwarz (Salzburg 1993). 16 Feingold: Ein ewiges Dennoch, S. 75; vgl. auch die Interviews mit Hugo Schwarz, Louis Fox, Paul Neuwirth, Erwin Bonyhadi, Irene Fîrst (alle Salzburg 1993). 17 Dies wurde in vielen Interviews zum Ausdruck gebracht. Vgl. Daniela Ellmauer/Helga Embacher/Albert Lichtblau: Geduldet – verschmht und vertrieben. 18 Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europers, Frankfurt a.M. 1944.

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genommen von der allgemeinen kulturellen Aufbruchstimmung der Nachkriegsjahre, ließen sich jîdische Jugendliche auch in Salzburg vom damaligen Hunger nach Leben, neuer Mode und modernen Tnzen mitreißen und erteilten dem verzopften bîrgerlichen Lebensstil der Eltern eine Absage. Der Kaisernostalgie der Vter, die zumeist als Soldaten im Ersten Weltkrieg gekmpft hatten, und den aus ihrer Sicht altmodischen bîrgerlichen Verhaltensnormen brachten sie nur wenig Verstndnis entgegen.19 Jugendliche bedauerten, dass sie sich von ihren Eltern nicht verstanden fîhlten. Diese wiederum hatten konkrete Plne fîr ihre Kinder ; Tçchter sollten mit jîdischen Geschftspartnern verheiratet werden,20 von den Sçhnen wurde die Weiterfîhrung des Geschftes erwartet. Hans Pasch thematisierte wiederholt den fîr ihn belastenden Autorittskonflikt mit seinem Vater: »Und mein Vater war auch ziemlich streng und wir haben keinen persçnlichen Kontakt gehabt. Dass Vter zum Beispiel mit den Sçhnen zum Fußball gehen oder so, wie heute, das hat es bei uns nicht gegeben. Aber das hat es auch bei den Christen nicht gegeben. Der Vater war die Autoritt, und entweder man hat sich der Autoritt unterworfen oder man hat die Autoritt bekmpft. Und ich war furchtbar! Ich hab mich immer gegen Autoritt gewehrt. […] Aber ich konnte nicht in Salzburg existieren bei meinem Vater. […] Sein Prinzip war: Hçflichkeit dem Kunden gegenïber! Es war wichtig, daß man zum Kunden hçflich ist! Er war noch von der alten Schule, wo man die Kundschaft indirekt angesprochen hat: Was mçchte die Dame, was mçchte der Herr haben? Wir haben die Kundschaft direkt angesprochen. Wir waren auch hçflich, aber wir haben gesagt: Was mçchten Sie haben, was wïnschen Sie? Es war einfach ein anderes Konzept. Wir waren hçflich, aber nicht untertnig.«21 Das Akkulturationskonzept der Eltern, basierend auf der Betonung bîrgerlicher Werte, schien fîr die Kinder nicht mehr angemessen. Sie erwiesen sich auch wesentlich sensibler gegenîber Antisemitismus und wollten im Gegensatz zur Elterngeneration diesen nicht mehr zum Selbstschutz ignorieren.22 In der Erinnerung der ehemaligen jîdischen Jugendlichen hat sich ein Gefîhl der Isolation, Schutzlosigkeit und damit auch Angst festgesetzt: »Es sind immer die jîdischen Freunde zusammen gegangen, und ich kann mich nicht erinnern, dass 19 Vgl. Albert Lichtblau: Als htten wir dazugehçrt. §sterreichisch-jîdische Lebensgeschichten aus der Habsburger Monarchie, Wien/Kçln/Weimar 1999; David Rechter : The Jews of Vienna and the First World War, London 2001. 20 Irma Raffaela Toledo beispielsweise heiratete aus »Trotz gegen den Vater« einen nichtjîdischen Arbeiter. Vgl. Helga Embacher : Doppelt ausgeblendete Frauenerfahrungen. Irma Raffaela Toledo – Biographie einer Salzburger Kînstlerin, in: Salzburger Landessymposium 1990. Schriftenreihe des Landespressebîros. Salzburg 1991, S.205 – 210. 21 Interview mit Hans Pasch (Denver 2002). 22 Interviews mit Paul Neuwirth und Irene Fîrst (Salzburg 1993).

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ich je eingeladen war bei jemandem anderen«, bedauerte beispielsweise Louis Fox.23 Fîr viele ehemalige Salzburger Schîler wurde die Erfahrung des Außenseiterdaseins in der Schule zur prgenden Erinnerung; einige berichteten auch, bereits vor 1938 auf dem Schulweg verspottet worden zu sein. Lassen sich in Salzburg jîdische Kinder in Klassen nur vereinzelt finden, so waren in einigen Wiener Bezirken24 bis zu 60 % der Schîler in einer Klasse jîdischer Herkunft, und mit dem Chajes-Gymnasium (benannt nach dem 1918 ins Amt gekommenen Wiener Oberrabbiner Zwi Perez Chajes) konnte sogar eine jîdische Privatschule besucht werden. Hinsichtlich des Gefîhls der starken Isolation muss allerdings angefîhrt werden, dass jîdische Kinder in Salzburg neben dem starken Antisemitismus auch vom Klassenbewusstsein der Eltern, die Kontakte zu Arbeiterkindern nicht wînschten, in die Isolation getrieben wurden.25 Besonders schwierig gestaltete sich in dieser politischen Situation auch das Erwachsenwerden, denn Juden blieb die Teilnahme am nicht-jîdischen Gesellschaftsleben weitgehend verwehrt. Sie konnten das Theater besuchen; von den sehr beliebten Ballveranstaltungen blieben sie wegen des »Arierparagraphen« jedoch ausgeschlossen. Von deutschnationalen Vereinen organisiert, gehçrten diese Blle zu den gesellschaftlichen Großereignissen der Stadt. Auch der Besuch von Tanzkursen blieb ihnen verwehrt, drohten doch »arische« Eltern damit, ihre Anmeldungen im Falle einer Teilnahme von Juden zu stornieren. Nina Lieberman, von den Eltern als gut bîrgerliche Tochter zum Tennis animiert, wurden am Tennisplatz die vom deutschnationalen Bîrgertum gezogenen Grenzen schmerzhaft bewusst; als Jîdin konnte sie keine Partner finden.26 Der »judenreine« Alpenverein wiederum verwehrte jîdischen Bergsteigern die ˜bernachtung in dessen Berghîtten. Als Ausweg blieben lediglich die Hîtten der sozialdemokratischen Naturfreunde.27 In dieser schwierigen Situation fanden jîdische Kinder und Jugendliche bei ihren Eltern kaum Unterstîtzung. Indem diese das Problem des Antisemitismus weitgehend zu ignorieren und abzuschwchen versuchten, setzten sie letzt23 Interview mit Louis Fox (Salzburg 1993). 24 Marsha Rozenblit: Eine zerstçrte Kultur. Jîdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Wien 2002, S. 231 ff. 25 Es ist interessant, dass Bertha Reichenthal als eine der wenigen Ausnahmen ihre Schulzeit in Salzburg in guter Erinnerung behielt. Obwohl ihre Familie streng religiçs lebte, erinnert sie sich an viele nicht-jîdische Freundinnen. Eine Erklrung dafîr kann darin liegen, daß Bertha Reichenthal aus einer sehr armen Familie stammte und dadurch zumindest die sozialen Schranken zwischen ihr und den Mitschîlern weggefallen sind, whrend sich Kinder von jîdischen Geschftsleuten auch aufgrund ihrer sozialen Herkunft abgelehnt fîhlten. Doch sptestens 1938 wollten auch Berthas Freundinnen nichts mehr von ihr wissen. Vgl. Interview mit Bertha Reichenthal (Tel Aviv 2002). 26 Nina Lieberman: Lost and Found (unverçffentlichte Memoiren), S. 184 und S. 188 f. 27 Interview mit Hans Pasch (Denver 2002) sowie mit Hugo Schwarz (Salzburg 1993).

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endlich die Kinder dem Antisemitismus schutzlos aus. Zudem vermittelten sie der nchsten Generation aufgrund der eigenen skularen Identitt das Judentum als eine Belastung, als etwas, wofîr man sich schmte und das man loswerden wollte. Wie es Hans Jacoby formulierte, litt er an der Situation, »gar nichts zu haben. Denn wenn man das eine nicht hat, ist es notwendig, dass man was anderes dafîr tut. Und fîr mich gab es gar nichts.«28 Wie im Folgenden gezeigt werden soll, hatten Jugendliche von den Eltern zwar hufig ein negatives jîdisches Identittsbewusstsein îbernommen, doch waren sie nicht immer bereit, diese Situation passiv hinzunehmen, und suchten nach neuen, auch nicht-jîdischen Identittsangeboten.

Lenin oder Jabotinsky Hans Pasch, geboren 1906 in Salzburg, verbrachte die Kriegsjahre als Schîler in einer Schule in Krumau im heutigen Tschechien. Vom Nationalittenkonflikt beeinflusst, identifizierte er sich mit der dortigen deutschen Minderheit und kehrte als îberzeugter »Deutschnationaler« oder »Großdeutscher«, wie er sich selbst bezeichnete, ins Nachkriegs-Salzburg zurîck. Als begeisterter Sportler und Bergsteiger war es fîr ihn selbstverstndlich, dem Deutschen Alpenverein beizutreten. Sein Aufnahmegesuch wurde allerdings nur belchelt: Die Salzburger Sektion hatte bereits den »Arierparagraphen« eingefîhrt. In diesem Moment wurde Hans Pasch bewusst, dass »man anders ist, dass man jîdisch ist.«29 Dennoch fand er zu diesem Zeitpunkt im Kommunismus noch eine Ideologie, die ihm îber seinen bitteren Ausschluss aus der »deutschen Volksgemeinschaft« hinweghelfen sollte: »Der Kommunismus hat uns damals imponiert. Der ideale Kommunismus, nicht so sehr die marxistische Idee. Wir haben nicht genau gewußt, was vorgeht in Rußland. Wir waren doch ganz jung, haben geglaubt, da wird die Welt jetzt verbessert werden. Und nachdem man als Jude nicht großdeutsch sein konnte, war man halt kommunistisch.«30 Sein Intermezzo mit der Linken war allerdings nur von kurzer Dauer, was auch auf die besondere Situation in Salzburg zurîckzufîhren ist. Whrend in Wien zahlreiche junge Juden der Kommunistischen Partei angehçrten und die Sozialdemokratische Partei einen îberproportional hohen jîdischen Anteil und auch zahlreiche jîdische Fîhrungspersçnlichkeiten aufwies, konnten sich junge 28 Jacoby, in: Ellmauer u. a., S. 96. 29 Interview mit Hans Pasch (Denver 2002). 30 Interview mit Hans Pasch (Denver 2002).

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Juden in Salzburg nur schwer mit linken Bewegungen identifizieren. Kommunisten waren politisch irrelevant, und die Sozialdemokratie wiederum setzte sich von ihrer Sozialstruktur her hauptschlich aus Arbeitern zusammen. Anstze einer austromarxistischen und auf bîrgerliche Juden anziehend wirkenden Kulturbewegung fehlten. Diese spezifische Salzburger Situation verlieh somit dem Zionismus große Anziehungskraft innerhalb der jîdischen Jugend. Verzeichneten zionistische Vereine in Wien vor 1938 keinen nennenswerten Zulauf,31 so gehçrte fast jeder mnnliche jîdische Jugendliche in Salzburg zionistischen Vereinen, vorwiegend dem »Blau-Weiß«, an. Vereinzelt gab es auch Mitglieder des »Hashomer Hazair«, einige, unter ihnen auch der »Kurzzeitkommunist« Hans Pasch, zeigten sich von Jabotinsky und Betar begeistert. Offensichtlich war es vom Zufall und von persçnlichen Bekanntschaften abhngig, welcher zionistischen Ausrichtung sich wer zugehçrig fîhlte. Zionistische Ideen wurden zumeist von Studenten aus Wien nach Salzburg importiert. Wie ich hier allerdings argumentieren mçchte, hatte die Begeisterung fîr den Zionismus wenig mit dem Bedîrfnis nach einer Auswanderung nach Palstina und der Grîndung eines jîdischen Staates zu tun. Zionismus wurde vielmehr zur letzten Zuflucht fîr das ˜berleben in der Diaspora. Jîdische Jugendliche pickten sich aus der zionistischen Ideologie jene Elemente heraus, die ihnen eine Hilfestellung fîr das ˜ber- und Weiterleben im antisemitischen Salzburg boten. Sie zeigten sich zwar von zionistischen Liedern und Diskussionen îber den Zionismus beeindruckt; ihr primres Bedîrfnis lag allerdings darin, im »Blau-Weiß« der in Salzburg als so erdrîckend erlebten Einsamkeit zu entkommen und in einer – wenn auch »nur« jîdischen – Gruppe aufzugehen. »Ich war eigentlich nur Mitglied, weil ich irgendwo dabei sein wollte«, bekannte Hans Jacoby.32 Auch Hans Pasch konstatierte dazu: »Im ›BlauWeiß‹ hat man sich insofern wohlgefîhlt, weil man eben mitsammen war mit anderen. Das war der zusammenhngende Punkt, sonst wr jeder allein herumgehngt. Es war ja sonst nichts da.«33 Als besonders interessant erweist sich allerdings, dass Salzburger Jugendliche das Konzept des Neuen Juden – von zionistischen Theoretikern dazu erdacht, einen Judenstaat durch jîdische Arbeit aufzubauen und somit als neues Volk im eigenen Staat zu gesunden –, an die Salzburger Realitt anpassten. Sie interessierten sich weniger fîr den arbeitenden Juden in Palstina, sondern suchten im Zionismus eine Anleitung zur Selbstverteidigung und îbertrugen das Modell des neuen, krftigen und mutigen Juden auf die Diaspora. Der Zionismus musste 31 Vgl. Angelika Jensen: Sei stark und mutig! Chasak we’emaz! 50 Jahre jîdische Jugend in §sterreich am Beispiel der Bewegung ›Haschomer Hazair‹ 1903 bis 1943, Wien 1995. 32 Jacoby, in: Ellmauer u. a., S. 97. 33 Interview mit Hans Pasch (Denver 2002).

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den Gebrauch ihrer Fuste legitimieren. »Es war damals keine Zeit der Frçmmigkeit, sondern der Selbstverteidigung«, formulierte Erwin Bonyhadi. Wie er fortfuhr, fîhlte er sich in der Gruppe stark und es kam oft zu Schlgereien. »Wenn uns einer etwa mit ›Jud‹ beschimpft hat, haben wir uns gleich umgedreht, nicht lange gefragt, ihm links und rechts eine runtergehauen und ihn auf den Boden geschmissen. Ja, wir waren sehr aggressiv.«34 In den Erinnerungen seines Freundes Hans Pasch nehmen hnliche Erfahrungen ebenfalls breiten Raum ein: »Ich hab gerauft mit jedem, hab mir nichts gefallen lassen, von niemandem. Das war schon damals so und spter auch. Als Jude hab ich zeigen mïssen, daß ich so gut bin wie jeder christliche Bub. Daß ich mir nichts gefallen laß, daß ich alles tun kann! Daß ich mich nicht untertauchen lass. […] Und wenn sie erkannt haben, dass Juden sich verteidigen kçnnen, dann haben sie Ruhe gegeben.«35 Schlgereien galten als Mittel zur Wiederherstellung der von Antisemiten verletzten jîdischen Wîrde. Jîdische Jugendliche provozierten auch selbst Raufereien, um einmal mehr demonstrieren zu kçnnen, nicht dem antisemitischen Vorurteil des feigen Juden, des Kaffeehausjuden, zu entsprechen.36 Durch den Beweis ihrer Tapferkeit erhofften sich jîdische Jugendliche in Salzburg von ihrer antisemitischen Umwelt ernst genommen zu werden. Tatschlich machten sie die Erfahrung, dass nach gewonnenen Kmpfen ihre nicht-jîdischen Mitschîler zumindest von antisemitischen øußerungen Abstand nahmen.

Das reale Palstina Eine Reihe junger Salzburger besuchte zwar bereits in den 1920er Jahren Palstina, allerdings mehr aus Neugierde und Abenteuerlust als aus Interesse an einer Alija. Trotz des Antisemitismus und aller Generationskonflikte zogen sie ein bîrgerliches Leben der Aufbauarbeit in Palstina vor : »Palstina hat einen ganz guten Eindruck auf uns gemacht. Damals war alles im Aufbau, was jïdisch war. […] Es ist uns zu gut gegangen in §sterreich! Wir waren noch zu sehr Westeuroper und das war doch der Orient irgendwie. Auch Tel Aviv war noch nicht wie heute, es war primitiv. Die Ornsteins haben ein herrliches Geschft in Salzburg gehabt in der Getreidegasse, und wir haben die Schuhgeschfte gehabt. So, warum htte man das aufgeben wollen? Man hat ja nicht gerechnet, daß die Nazi kommen, und wenn die Nazi kommen, daß es so 34 Erwin Bonyhadi, in: Ellmauer u. a., S. 121 f. 35 Interview mit Erwin Bonyhadi (San Francisco 1992). 36 Ebd. sowie Interview mit Hans Pasch (Denver 2002).

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fïrchterlich sein wird! […] Aber es ist einem in §sterreich bis fast zum Schluss zu gut gegangen! Man war sehr fïr einen Judenstaat, aber nicht fïr sich selber.«37 Ernst Pollak gehçrte zu den ganz wenigen, die tatschlich vor 1938 nach Palstina auswanderten.38 Er wechselte vom »Blau-Weiß« zum linken »Hashomer Hazair« und verließ, zum Entsetzen seiner bîrgerlichen Eltern, 1919 das Gymnasium, um eine Umschulung zum Landarbeiter zu absolvieren. 1920 ließ er sich in der Kommune Bittania nieder. In Briefen an seine Familie in Salzburg bringt Ernst Pollak sein großes, fast religiçs anmutendes Bedîrfnis, sich in einen neuen Juden (braungebrannt, kçrperlich stark und mit einer Waffe vertraut) zu verwandeln, zum Ausdruck. Aus den Reaktionen seiner Eltern wiederum lsst sich die Haltung der lteren Generation herauslesen. Diese wollten ihre Hoffnung, dass der Sohn in sein bîrgerliches Leben zurîckkehren und sein Studium wieder aufnehmen wîrde, nicht aufgeben. So brachte der Vater den vom Sohn neu erworbenen Hebrischkenntnissen wenig Begeisterung entgegen und gab vielmehr zu bedenken, dass dieser damit seine Lateinkenntnisse vergessen kçnne. Fîr den Sohn wiederum war die Generation seiner Eltern fîr das Judentum verloren. Enttuscht îber die politische Entwicklung im Yishuw und an Malaria erkrankt, verîbte Ernst Pollak nur wenige Monate nach seiner Alija Selbstmord. Im letzten Brief an die Eltern hielt er fest: »Ich bin Opfer schmutziger kapitalistischer Krfte. Es gibt keinen Ort mehr fîr Liebe und Reinheit. Ich sehe keinen Grund mehr.«39 Doch nicht nur innerhalb der Familie Pollak fîhrte die Hinwendung der jîngeren Generation zum Zionismus zu heftigen Generationenkonflikten. Fîr die Jugendlichen eine Anleitung zur Selbsthilfe gegen Antisemitismus und zur Wiederherstellung der verletzten eigenen Wîrde, sahen die Eltern im Zionimus ihren Wunsch nach Assimilation bedroht und fîrchteten auch um die fîr ihre Kinder geplante Zukunft.40 »Mein Vater htte es normal gefunden, wenn ich nach Amerika gegangen wre, aber es wre schrecklich fîr ihn gewesen, wenn ich nach Palstina gegangen wre«, charakterisierte Hans Jacoby den Genera-

37 Interview mit Hans Pasch (Denver 2002). 38 Vgl. dazu Dina Kraft: Portrait of a Pionier. The Spiritual Odyssey of Ernst Pollak (1901 – 1920), o. J., Senior Thesis, Department of History, University of Wisconsin-Madison (unpubl.). 39 Ebd. 40 Rudolph Ornstein, ein îberzeugter Zionist, versuchte beispielsweise seiner ihm vom Vater auferlegten beruflichen Bestimmung als Kaufmann zu entkommen, indem er sich heimlich bei einem Landwirt in Deutschland auf das Leben in Palstina vorbereitete. Erst nachdem der Vater schwer erkrankte, kehrte er, von einem Loyalittskonflikt geplagt, zurîck. Vgl. Embacher : Exil, S. 451. Vgl. dazu auch die Interviews mit Erwin Bonyhadi, Paul Neuwirth und Hugo Schwarz.

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tionenkonflikt.41 Auch die Salzburger Kultusgemeinde, der wohlhabende Kaufleute vorstanden, zeigte kein Verstndnis fîr die jungen Zionisten. »Die haben von solchen Sachen nichts wissen wollen. Die Jungen sind zum Zionismus gegangen und die Alten sind geblieben.«42 Zionismus wurde somit zum Symbol fîr die Identittssuche der jîdischen Jugend in Salzburg.

Zionismus als »Mnnersache« Dem »Blau-Weiß« gehçrten in Salzburg fast nur mnnliche Jugendliche an. »Es war eine Mnnersache. Man ist gewandert und man hat eine Gemeinschaft gehabt, mit anderen, mit Gleichaltrigen«, drîckte es Hans Pasch aus.43 Und es ging ja letztendlich auch um die Besttigung von Mnnlichkeit, um den Beweis, als Jude den antisemitischen Stereotypen vom verweiblichten jîdischen Mann nicht zu entsprechen. Obwohl Dora Schwarz, Reprsentantin der Grîndergeneration und bekannte Geschftsfrau, als Salzburger »Zionistenanfîhrerin« galt, kommt in den Erinnerungen von weiblichen Jugendlichen dem Zionismus kaum Gewicht zu.44 Edith Meyer beispielsweise war Mitglied im Blau-Weiß, verbindet damit aber nur Ausflîge und ein »bisserl Singen«, wobei ihr vor allem die gemeinsamen Ausflîge mit mnnlichen Jugendlichen in Erinnerung blieben, auf denen manchmal auch Paare zueinander fanden.45 Bertha Reichenthal, die aus einer religiçsen und durch den Tod des Vaters verarmten Familie stammte, besuchte in den 1930er Jahren mit ihrem Bruder Palstina, ohne dass diese Reise einen großen Eindruck auf sie gemacht htte. Sie begab sich nicht auf Alija, um sich in einen ›Neuen Juden‹ zu verwandeln, sondern weil sie von der Mutter dem Bruder mitgegeben wurde, um der Armut in Salzburg zu entkommen. Mit Palstina verband sie weniger ein zionistisches Konzept, sondern eine Art Schlaraffenland, ein Land, in dem Milch und Honig floss. Das reale Palstina erwies sich als große Enttuschung, denn die beiden konnten wirtschaftlich nicht Fuß fassen und kehrten nach Salzburg zurîck.46 Wie ich hier argumentieren mçchte, litten in Salzburg auch weibliche Jugendliche an ihrem Ausschluss vom nicht-jîdischen gesellschaftlichen Leben und an einem sich zunehmend aggressiver gebrdenden Antisemitismus, doch konnte ihnen der Zionismus im Unterschied zu mnnlichen Jugendlichen wesentlich weniger Idenittsangebote vermitteln, da dieser als eine primr an 41 42 43 44 45 46

Jacoby, in: Ellmauer u. a., S. 97. Siehe auch Bonyhadi, in: Ellmauer u. a., S. 127. Interview mit Hans Pasch (Denver 2002). Ebd. Vgl. Edith Meyer, in: Ellmauer u. a., S. 79. Ruth Robbins, in: Ellmauer u. a., S.265. Interview mit Bertha Reichenthal (Tel Aviv 2002).

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Mnner gerichtete Ideologie zu sehen ist. Der vom Zionismus kreierte neue Mensch sollte zwar beide Geschlechter ansprechen, doch richtete er sich im Wesentlichen an junge mnnliche Juden, indem Attribute wie Mnnlichkeit, Wehrhaftigkeit oder Muskelkraft stark betont wurden. øhnlich der ›neuen sozialistischen Frau‹, der Kameradin, wird die ›neue jîdische Frau‹ dem ›neuen jîdischen Mann‹ angeglichen, was beispielsweise in der Kleidung, der Verachtung von Schminke oder bîrgerlicher Mode und somit dem Ausklammern von Erotik zum Ausdruck kommt. Zeigten sich junge Salzburger Juden gerade von der neuen jîdischen Wehrhaftigkeit angesprochen, so lçste dieses Verhalten bei Frauen eher Furcht aus, wie dazu Irene Fîrst festhielt: »Wir gingen sehr oft aus. Ich hatte immer Angst, weil mein Mann jeden gleich anflog, der eine dumme Bemerkung machte.«47 Mdchen und weibliche Jugendliche griffen offensichtlich zu anderen Strategien. Anstatt sich kçrperlich gegen antisemitische Anfeindungen zur Wehr zu setzen, nahmen Nina Liebermann und ihre Schwester Ela Margules auf ihrem Schulweg tglich einen Umweg in Kauf, um der Knabenschule auszuweichen.48 Es fllt auch auf, dass viele aus Salzburg wegheirateten. Andere wieder zeigten sich um besondere schulische Leistungen bemîht und wollten beweisen, dass sie auf dem Gebiet der deutschen Kultur besonders bewandert waren und die deutsche Sprache besser beherrschten als ihre Mitschîlerinnen. Wie Nina Lieberman jedoch erfahren musste, trug sie durch ihre Rolle als Vorzugsschîlerin auch zur Verfestigung antijîdischer Klischees bei.49 Als auffallend erweist sich auch, dass einige jîdische Mdchen katholische Privatschulen besuchten, in denen sie sich selbst nach dem »Anschluss« von 1938 noch aufgehoben fîhlten.50 Zur Problematik der weiblichen jîdischen Jugend und ihrer Identittssuche in der Salzburger Provinz stehen allerdings noch detaillierte Forschungsarbeiten aus. Zusammenfassend kann allerdings festgehalten werden, dass jîdische Jugendliche in Salzburg nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur von der bîrgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen blieben und massiv mit Antisemitismus konfrontiert waren, sondern auch innerhalb der jîdischen Gemeinden ihren Platz behaupten bzw. die fîr ihre Generation spezifische Identitt verteidigen mussten. Viele fîhlten sich damit îberfordert. Auch die begrenzten Mçglichkeiten, in der kleinen Gemeinde einen jîdischen Partner bzw. eine Partnerin zu finden, sowie die geringen Aussichten auf einen Arbeitsplatz fîhrten noch vor 1938 zu einer Abwanderung aus Salzburg. 47 48 49 50

Irene Fîrst, in: Ellmauer u. a., S. 64. Lieberman: Lost and Found. Nina Lieberman: The Salzburg Connection. An Adolescence Remembered, New York 2004. Interviews mit Nina Lieberman und Ela Margules (Woodstock 2002).

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Das Bild der Jugend: Der Prager Kreis zu Beginn des 20. Jahrhunderts1

In diesem Beitrag werden unterschiedliche Aspekte des Jugenderlebens innerhalb des Prager Kreises erçrtert.2 Der Schwerpunkt liegt auf vier Mitgliedern dieser Gruppe: dem Schriftsteller Franz Kafka, seinem Freund, dem Schriftsteller, Dichter und Denker Max Brod, dem Philosophen Hugo Bergmann und Hans Kohn, dem bedeutenden Historiker des Nationalismus. Alle wurden im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in Prag geboren. Zuerst skizziere ich einige zentrale Charakteristika der Jugendkultur in Mitteleuropa, denn vor diesem Hintergrund sind die Erfahrungen und das Bild der Jugend im Prager Kreis zu sehen. Danach werden zwei Merkmale dieser Jugendkultur, die fîr den Prager Kreis charakteristisch sind, nher beschrieben: Das erste Merkmal ist die Tendenz der Mitglieder des Prager Kreises, den Zwiespalt zwischen den Generationen als einen metaphysischen Zusammenbruch der Tradition zu deuten. Das zweite Merkmal ist die herausgehobene Bedeutung, die das Weiterreichen der Fackel der Jugend an die nchste Generation einnimmt, obwohl die Mitglieder des Prager Kreises erst zwischen dreißig und vierzig Jahre alt waren. Die jungen Menschen sind aufgrund ihrer Reinheit die Trger »des Traumes«. Dieser Traum jedoch schçpft seine Kraft aus der Unmçglichkeit seiner Verwirklichung. Mit anderen Worten: die Jugendkultur erklrt sich selbst fîr ohnmchtig.

1 Aus dem Hebrischen von Chani Annemarie Hinker. 2 Der vorliegende Aufsatz basiert auf meiner Dissertation: Mystik, Kreativitt und Rîckkehr zum Judentum: Der Prager Kreis zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Hebr., Dissertation an der Hebrischen Universitt Jerusalem, 2005).

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Die mitteleuropische Jugendkultur gegen Ende des 19. Jahrhunderts Zwei dramatische Wandlungsprozesse formten die besondere Erfahrung und das Bewusstsein der Jugendkultur am Ende des 19. Jahrhunderts: Der erste Prozess bestand in Vernderungen innerhalb der Muster von Arbeit, Ehe und Erziehung als Folge der industriellen Revolution.3 Der zweite Prozess umfasste die Formulierung von Psychologie- und Erziehungstheorien, die der Jugend als Lebensphase eine ganz besondere Daseinsberechtigung zusprachen: Die Jugend wurde als Lebensphase definiert, in der der Gefîhlszustand instabil ist, als eine Zeit der Rebellion gegen die Autoritt der Eltern und als eine permanente Reise zu einer unabhngigen Identitt, whrend die Grenzen, die die Gesellschaft setzt,4 stndig untergraben werden. Jungen Mnnern und manchmal auch jungen Frauen im Alter zwischen fînfzehn und fînfundzwanzig Jahren war zudem das kostbarste Geschenk von allen gewhrt worden: Muße. Sie konnten sich vergnîgen, Zeit verschwenden, und sie hatten genug Freiraum, bevor sie sich den Anforderungen des Lebens, der Arbeit und der Familie stellten. Eine entsprechende Jugendkultur entstand ab dem Ende des 19. Jahrhunderts. Ihr Hçhepunkt liegt in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Diese Kultur entwickelte sich als eines der wichtigsten Elemente innerhalb der Strçmungen aus den Gegenbewegungen zum Rationalismus und der Bourgeoisie. Sie entsprang dem starken Gefîhl einer kulturellen Krise – der Krise der modernen, liberalen Kultur der Bourgeoisie, der Kultur der Elterngeneration. Das Ergebnis war, dass die Kinder die liberale, positivistische und optimistische Weltsicht der Eltern fast nahezu gnzlich zurîckwiesen.5 Die nchste Generation sah sich mit einer mehrdimensionalen kulturellen Krise konfrontiert, denn sie hatte komplexe politische und kulturelle Probleme am eigenen Leib erfahren. Das moderne Großstadtleben fîhrte zu einem Anstieg der Kriminalitt und der Entfremdung und die Jugend musste sich gegenîber der Spannung zwischen liberalen Werten und zunehmendem Nationalismus behaupten.6 Auch die rationalistische und wissenschaftliche Weltsicht wurde als

3 Siehe zum Beispiel John J. Conger/Anne C. Petersen: Adolescence and Youth. Psychological Development in a Changing World, New York 1984, S. 4 – 11; Eric J. Hobsbawm: The Age of Empire 1875 – 1914, New York 1987, S. 169. 4 So wird es zum Beispiel von Weiniken formuliert; siehe dazu Walter Laqueur : Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Kçln 1978, S. 67 – 69. 5 Zum Thema Kulturkrise als Krise der Generationen siehe zum Beispiel Rina Feld: Der ›neue Mensch‹ der zionistischen Revolution (Hebr.), Tel Aviv 2002, S. 22, 35 f, 44 – 46. 6 Der am Ende des 19. Jahrhunderts in Mitteleuropa verbreitete Nationalismus war durch eine Kluft zwischen den Parteien gekennzeichnet. Siehe Oded Heilbronner (Hg.): Das ruhelose Reich. Das zweite deutsche Kaiserreich, Jerusalem 1998, S. 193 – 208; Pieter M. Judson:

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in der Krise befindlich angesehen. Viele junge Menschen spîrten, dass die Aufklrung und ihre beiden großen Errungenschaften, moderne Wissenschaft und Philosophie, in eine Sackgasse geraten waren.7 Die Wissenschaft verzichtete darauf, der Welt einen Sinn zu geben, wie Max Weber in seinem bekannten Artikel »Wissenschaft als Beruf« beklagte.8 Die Philosophie Immanuel Kants, die zu Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland eine prominente Rolle spielte, gab den fundamentalen menschlichen Traum auf, »an etwas um seinetwillen festzuhalten.«9 Neue Vorbilder und neue Perspektiven gewannen unter den jungen Menschen immer mehr an Popularitt: so Nietzsche mit seinem jungen Helden Zarathustra, der nach der ewigen Wiederkehr und einer Umkehr der Werte strebte,10 Bergson und andere Vertreter der Lebensphilosophie, die îber das ewige Fließen des ¤lan vital und die wesentliche Rolle der Intuition sprachen,11 sowie die Vertreter des Pragmatismus, die der Wissenschaft absprachen, allein die Wahrheit erkennen und analysieren zu kçnnen.12 Wie Carl Schorske und William McGrath zeigten,13 war die Psychoanalyse Sigmund Freuds Ausdruck dieser ›neuen Kultur‹. Freud war nicht nur der Ansicht, dass die irrationale Libido allem menschlichen Verhalten zugrunde liege, sondern er begrîndete seine gesamte Theorie zur psychologischen Entwicklung mit dem ›§dipuskomplex‹, also mit dem Bestreben des Sohnes, seinen Vater zu tçten.14 Der deutsche Expressionismus, dessen Blîtezeit in die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts fllt, îbernahm das Bild des Vatermordes und ge-

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Whether Race or Conviction Should be the Standard. National Identity and Liberal Politics in Nineteenth Century Austria, in: Austrian History Yearbook 22 (1991), S. 72 – 82. Siehe: H. Stuart Hughes: Consciousness and Society. The Reorientation of European Social Thought 1890 – 1930, New York 1958, S. 33 – 51 und 63 – 66; Feld, S. 3744; Yotam Hotam: Moderne und Gnostik und der ›Jude‹: Kulturkrise, Lebensphilosophie und der zionistische Gedanke (Hebr.), Diss. Hebrische Universitt Jerusalem, 2004, S. 14 – 30. Max Weber : Wissenschaft als Beruf. Gesammelte Aufstze zur Wissenschaftslehre, Tîbingen 1922, S. 524 und 555. Siehe z. B.: Samuel Hugo Bergmann: Die Philosophie Immanuel Kants, herausgegeben und eingeleitet von N. Rotenstreich (Hebr.), Jerusalem 1940, S. 3542. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch fîr Alle und Keinen, 1883 – 1885. Zur Nietzscherezeption siehe Steven E. Aschheim: Nietzsche und die Deutschen: Karriere eines Kults, Stuttgart 2000. Siehe Samuel Hugo Bergmann: Die philosophische Methode Bergsons (Hebr.), HaSchiloach 1912, S. 195 – 201; Felix Weltsch: Bergson und seine Lehre (Hebr.), hg. von Sch. Perlman, Tel Aviv 1947, S. 68 f; Siehe auch Feld, ebd. S. 113 – 125. Samuel Bergmann: Die Philosophie des ›Als ob‹ (Hebr.), Haschiloach 1914, S. 209 – 216. William J. McGrath: Freud’s Discovery of Psychoanalysis. The Politics of Hysteria, Ithaca/ Cornell University Press 1986; Carl E. Schorske: Fin-de-siºcle Vienna: Politics and Culture, New York 1981, S. 181 – 207. Siehe zum Beispiel Sigmund Freud: Das Ich und das Es (zuerst publiziert 1923), Frankfurt/ M. 1996.

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neralisierte es als Ausdruck der Bestrebungen der Jugend, die bestehenden Lebensformen und ihre Vertreter zu untergraben.15 So vergiftet etwa Walder Nornepygge, der Protagonist des 1908 von Max Brod verfassten Romanes »Schloß Nornepygge«,16 seinen Vater. Karl Duschek, der Held von Franz Werfels 1920 entstandener Erzhlung »Nicht der Mçrder, der Ermordete ist schuldig« benutzt den Prozess, der ihm gemacht wird, um darzulegen, dass seine Taten den Kampf des individualistischen Lebens gegen die mythische, repressive Kraft der Vter symbolisierten.17 Vertreter der Expressionismus versuchten so, der Jugend eine Stimme zu geben. Als »Stimme der Jugend« findet der expressionistisch gestaltete Held den herkçmmlichen Lebensstil unertrglich. Er schreit, verliert seinen Verstand, versteigt sich verzweifelt in mystische Visionen, in denen er vor der bestehenden Ordnung Zuflucht sucht.18 Aber auch eine Reihe von nicht dem Expressionismus zugehçrige Dichter und Schriftsteller wie Hermann Hesse, Stefan George, Richard Dehmel und Rainer Maria Rilke versuchten, die Jugend anzusprechen und ihre Wortfîhrer zu sein. Der Expressionismus war also nur eine der Strçmungen und Bewegungen, die sich mit den Befindlichkeiten, besonders der Erfahrung von ›Schmerz‹ der jungen Generation auseinandersetzten. Zu diesen anderen Bewegungen und Organisationen gehçren Studentenverbindungen und Jugendbewegungen wie der »Wandervogel«, aber auch ›esoterische‹ Gruppen. Vertreter der jungen Generation fîhlten sich offenbar mehr von mystischen und auf Intuition beruhenden Lebensdeutungen angezogen, als an einem rational bestimmten Dialog mit der Elterngeneration Interesse zu zeigen. Nicht Begriffe wie Zurîckhaltung und Ehre, grundlegende Werte der bîrgerlichen Kultur, motivierten ihr Handeln, sondern eine Ausrichtung auf Gefîhle, zuweilen auch geradezu eine Trunkenheit der Sinne, so dass man von einer Ausrichtung fast nur auf immanente, kaum auf transzendente Werte sprechen kann.19 Die zentralen Strçmungen des Zionismus teilten mit der mitteleuropischen Jugendkultur eine Reihe grundlegender Thesen. So waren die Gegner von Achad HaAm als »die Jungen« bekannt; dieser Begriff zeigt auch, dass die zionistische 15 Walter H. Sokel: Der literarische Expressionismus: der Expressionismus in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, Mînchen 1960, S. 56 – 57. 16 Max Brod: Schloß Nornepygge. Der Roman des Indifferenten, Berlin 1908, S. 54 – 57. 17 Franz Werfel: Nicht der Mçrder, der Ermordete ist schuldig, Mînchen 1920. 18 Siehe Sokel S. 8 – 29 und 55 – 82; Stephen E. Bronner: Expressionism and Rebellion in: Douglas Kellner/D. Kellner (Hgg.): Passion and Rebellion: The Expressionist Heritage, New York 1983, S. 3 – 17; Augustinus P. Dierick: The Expressionist Prose. Theory and Practice, Toronto 1987, S. 20 – 29 und 39 – 42. 19 ˜berblick bei George L. Mosse: The Culture of Western Europe: The Nineteenth and Twentieth Centuries, 3. Aufl., Boulder/London 1988, S. 226 – 236; Roy Pascal: From Naturalism to Expressionism. German Literature and Society, 1880 – 1918, London 1973.

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Philosophie der markantesten Vertreter unter seinen Gegnern wie Micha Josef Berdzcyewski, Martin Buber und Saul Tschernichowski von Nietzsche und vom Vitalismus geprgt war.20 Ausdruck dieser Art von Jugendkultur in ihrer jîdischen Interpretation war auch der Prager Kreis.

Der Prager Kreis und die Jugendkultur Die Prager Kafka und Bergmann wurden 1883 geboren, Brod 1884 und Kohn 1891. Alle wuchsen in großbîrgerlichen, der deutschen Kultur zugehçrigen Familien auf. Die großbîrgerlich deutsche Kultur war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die vorherrschende Kultur in Prag, ebenso wie in den anderen Metropolen der §sterreichisch-Ungarischen Monarchie. Alle vier studierten an der deutschen Fakultt der Prager Karls-Universitt. Gemeinsam war ihnen die Rebellion gegen die Ablehnung der tschechischen Kultur, die in ihren Elternhusern Tradition hatte. Zugleich behielten sie ihre Loyalitt gegenîber der deutschen Kultur bei, deren Einfluss in Prag jedoch immer schwcher wurde. Sie hatten gemeinsame Interessen am jîdischen Nationalismus, und zwar sowohl im Zionismus (vor allem durch ihre Aktivitten in der zionistischen Studentenverbindung »Bar Kochba«21) als auch an der Kultur des Ostjudentums.22 Alle Mitglieder des Kreises hatten ihren Anteil an der lokalen Jugendkultur ; Hans Kohn beschreibt 1926 ihr Leben zu Ende der ersten Dekade des Zwanzigsten Jahrhunderts folgendermaßen: »Das Judentum war uns fremd, kaum eine ferne Legende […] wir waren vollkommen assimiliert an die deutsche Kultur jener Tage oder an den Ausschnitt, 20 Zu den ›Jungen‹ in Osteuropa siehe Avner Holzmann: Der Riss durchs Herz. Micha Josef Berdczyewski: Entwicklungsjahre (1887 – 1902, Hebr.), Tel Aviv/Jerusalem 1996, v. a. S. 231 – 296 sowie Jakob Golomb (Hg.): Das Ereignis in der hebrischen Kultur (Hebr.), Jerusalem 2004. Zu Buber, der bei einigen Themen Achad HaAm nahestand, siehe Abraham Schapira: Verschwundene Seelen – Ursprînge des Nationalismus bei Martin Buber in der deutschen Romantik (Hebr.) 1991, S. 77 – 106. Zum Zusammenhang zwischen dem mitteleuropischen Zionismus und der Lebensphilosophie siehe Hotam, S. 100 – 286. 21 Zu dieser Vereinigung siehe v. a. Ruth Geldstein-Kestenberg: Die Anfnge von Bar Kochba, in: Felix Weltsch (Hg.): Prag und Jerusalem. Erinnerungsbuch an Leo Hermann (Hebr.), Jerusalem 1954, S. 86 – 110. Stuart Y. Borman: The Prague Student Zionist Movement 1896 – 1914, Diss. Universitt Chicago 1972. 22 Die wichtigsten Quellen zu den diskutierten Personen bei Klaus Wagenbach: Franz Kafka: Eine Biographie seiner Jugend, Bern 1958; Hartmut Binder : Kafka. Handbuch in zwei Bnden. Band 1 – Der Mensch und seine Zeit, Stuttgart 1979; Hans Kohn: Living in a Word Revolution. My Encounters with History, New York 1964; Samuel Hugo Bergmann: Tagebîcher und Briefe, hg. v. M. Sambursky, Kçnigstein/Ts. 1985, 2 Bnde; Max Brod: Streitbares Leben, Mînchen 1960; Margarita Pazi: Max Brod. Werk und Persçnlichkeit, Bonn 1970.

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der unserem jïdischen Temperament nahe lag: an den Logos- und an den Diedrichs-Verlag23, an die Wiener sïddeutsch-jïdische Mischkultur, an Dehmel und Rilke und Hofmannsthal, an die jïngste Lyrik, die damals in einer Reihe von Zeitschriften ihr schnell verblïhendes Dasein fïhrte. Die Assimilation war fïr uns alle eine Wirklichkeit […]«24 Das Studium der Philosophie in der deutschen Fakultt der Prager Universitt, wo ja alle Mitglieder des Kreises zu Beginn des 20. Jahrhunderts studierten, stand unter dem bestimmenden Einfluss der Anhnger des Philosophen Franz Brentano, dessen philosophische Ausrichtung strikt theistisch, optimistisch und rationalistisch geprgt war.25 Die Mehrzahl seiner Studenten lehnten in ˜bereinstimmung mit ihm den philosophischen Skeptizismus wie auch den Neukantianismus und Pragmatismus ab und bestritten die ontologische Gîltigkeit jedweder mystischer Erfahrungen.26 Die Mitglieder des Kreises wiesen diese philosophische Tradition zurîck. Hans Kohn begeisterte sich fîr Nietzsche, Schopenhauer und Bergson.27 Kafka diskutierte 1903 mit Brod îber dessen Verehrung Schopenhauers, whrend Kafka Nietzsche vorzog.28 Auch Bergmann, der zunchst ein loyaler Anhnger Brentanos gewesen war, verlagerte nach und nach seine philosophischen Interessen auf Fichte, Bergson und Rudolf Steiner.29 Die Tatsache, dass die Mitglieder des Kreises die hervorragendsten Denker der Jugendkultur zu Leitbildern whlten, ist jedoch nur ein Aspekt ihrer Nhe zu dieser Kultur. In diesem Zusammenhang sind v. a. die S¤ancen zu erwhnen, an denen sie gemeinsam teilnahmen,30 ihre gemeinsamen Ausflîge in die Natur, wo 23 Diese Verleger vertraten die Jugendkultur. Siehe Gary D. Stark: Entrepreneurs of Ideology : Neoconservative Publishers in Germany, 1890 – 1933, Chapel Hill/North Carolina University Press 1980. 24 Hans Kohn: Zwanzig Jahre, in: Selbstwehr 20 (29. 3. 1926), S. 13 – 14. 25 Samuel Hugo Bergmann: Franz Brentano, in: Ders.: Menschen und Wege. Philosophische Essays (Hebr.), Jerusalem 1962, S. 195 – 222; siehe auch: Barry Smith: Austrian Philosophy. The Legacy of Franz Brentano, Chicago/La Salle 1994; William M. Johnston: The Austrian Mind: An Intellectual and Social History 1848 – 1938, Berkeley/Los Angeles 1983, S. 290 – 296. 26 Kohn (siehe Anm. 24), S. 57 f. Detaillierte Beschreibungen der Einfîhrungsvortrge der Schîler Brentanos an der Universitt sind im Bergmannarchiv erhalten. Die Gegnerschaft zu Kant und der Antirationalismus sind bemerkenswert; Bergmannarchiv (Nationalbibliothek Jerusalem, Archiv 1502 40), Akten A5 und B5. 27 Kohn (siehe Anm. 24), S. 29 und 60. Siehe auch seinen Brief an Martin Buber, 17. 2. 1912, Buberarchiv (Nationalbibliothek Jerusalem, Archiv Ms. Var. 350), Akte 376, Ordner 2. 28 Buber (siehe Anm.20), S. 134 f. Mit Brods Schopenhauerverehrung beschftigt sich der spte Roman, siehe Max Brod: Die Rosenkoralle. Ein Prager Roman, Witten/Berlin 1961. Zu Kafka und Nietzsche siehe zum Beispiel Wagenbach (siehe Anm. 22). 29 Siehe zum Beispiel die Berichte, die Bergmann an den »Pester Lloyd« und die »Vossische Zeitung« vom internationalen philosophischen Kongress in Bologna (1911) schickte. Die Berichte befinden sich im Bergmannarchiv, Akte: Artikel 1911 – 1914. 30 Werfel zum sozialen Kontext: »˜berdies wînschten wir die Existenz von Geistern. Die

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sie nackt zu schwimmen pflegten,31 sowie ihre permanenten Bemîhungen, Teil der neuen Gesellschaft zu werden und ihr ›Ich und wahres Selbst‹ zu vervollkommnen. Die starke Verbindung zur Jugendkultur erklrt zumindest zum Teil auch den großen Einfluss Martin Bubers auf die Mitglieder des Kreises, wie Hugo Bergmann schreibt: »Alle, die diese Reden hçrten, vergaßen sie nicht und wïrden sie bis an ihr Lebensende nicht vergessen. [ …] Die Stimme des Judentums sprach zu uns durch die Kehle des Sprechers, und es wurde von uns gefordert, ihr in unserem Leben zu entsprechen.«32 Die »Drei Reden îber das Judentum«, die Buber zwischen 1909 und 1911 in Prag hielt und die einen starken Einfluss auf die zionistische Jugend in Mitteleuropa ausîbten, verweisen auf den transitorischen Zustand, in dem sich Buber und seine Anhnger damals befanden. Der national-formale Zionismus allein war ihnen nicht genug, sie suchten auch eine fundierte ideologische Basis fîr ihre zionistische Identitt. Bubers Reden enthielten deutlich religiçs konnotierte Untertçne, waren ansonsten aber der sthetischen und modernen Weltsicht jener Zeit verpflichtet.33 Wie in der Forschung gelegentlich vermerkt, bestand eine enge Verbindung zwischen den Expressionisten und den mitteleuropischen Zionisten jener okkulte Welt war etwas Ungeregeltes, Verbummeltes, Verkommenes in unseren Augen, eine Macht, die dem Reich der erwachsenen Bîrger feindlich entgegenstand. Die spiritistisch ansprechbaren Irr-Seelen bilden gleichsam die Bohºme des Jenseits«. Franz Werfel: Der Abituriententag. Die Geschichte einer Jugendschuld, Berlin/Wien/Leipzig 1928, S. 152. An solchen Ereignissen nahmen auch Buber und Kafka teil. Vgl. dazu die dramatische Schilderung einer S¤ance bei Werfel, ebd., S. 153 – 168, sowie die Beschreibung bei Brod (siehe Anm. 22), S. 4 – 12. Siehe auch Max Brod: Hçhere Welten, in: H. Coch/M. Mîller/M. Pasley (Hgg.): ˜ber die Schçnheit hsslicher Bilder, Leipizig 1913, S. 155 – 160; siehe auch Kafkas Tagebucheintragung vom 4. 8. 1917 in: Franz Kafka: Tagebîcher. Kritische Ausgabe, Frankfurt a.M. 1990, S. 818. 31 Brod (siehe Anm. 22), S. 16. ˜ber diese Gewohnheit in der Jugendkultur und deren Bedeutung siehe George L. Mosse: Nationalism and Sexuality. Respectability and Abnormal Sexuality in Modern Europe, New York 1985, S. 56 – 62. 32 leumaS Bergmann: Das dialogische Denken Martin Bubers, in: ders.: Martin Buber. Das Geheimnis des Gesprchs. ˜ber den Menschen und seinen Standpunkt im Lichte der Erfahrung (Hebr.), Jerusalem 1944, S. 12. 33 Hugo Bergmann: Franz Rosenzweig und sein Weg zum Judentum, In: Franz Rosenzweig, Naharaim: Ausgewhlte Schriften (Hebr.), Jerusalem 1977, S. 16. Siehe auch den folgenden Brief an Buber : »Als junger Gymnasiast las ich mit glîhenden Wangen Ihre ersten Artikel in der ›Welt‹. Ich kannte Sie noch nicht, ich fîhlte nur, dass hier das Wort war, das zu mir sprach. Dann kamen die Zeiten Ihres ersten Aufenthalts in Prag, die Zeiten des Jîdischen Verlags, dann ihre Reden, das Buch vom Judentum. Sie wissen selbst, was jede Rede, jeder Ihrer Besuche in Prag fîr uns bedeutete.« Bergmann an Buber, 31. 1. 1928.

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Epoche. Beide Bewegungen kritisierten das aufklrerisch-liberale Gefîge, beide richteten sich an die Jugend und kritisierten zugleich die Elterngeneration fîr ihren Mangel an Ehrlichkeit und Authentizitt. So fungierte Buber in der Tat als herausragender Sprecher fîr die deutsche Jugendkultur einerseits und den Zionismus andererseits.34 Diese Dualitt fand Ausdruck in Bubers Beschftigung mit dem Chassidismus, die ihrerseits betrchtlichen Widerhall bei den Mitgliedern des Prager Kreises und bei vielen jungen Menschen – Juden wie Nichtjuden – in den deutschsprachigen Gebieten fand. 1908 verçffentlichte Buber die Anthologie »Die Legende des Baalschem« îber den Grînder des Chassidismus. Im Vorwort schrieb Buber, die Wiederentdeckung des Chassidismus sei wesentlich fîr die Erneuerung des Judentums wie sie im Zionismus angestrebt werde.35 In einer der Erzhlungen dieser Sammlung, im »Werwolf«, rebelliert der junge Israel – der Baal Schem Tow – gegen die monotonen Wiederholungen im Cheder. Er fîhrt die Kinder in die Wlder, wo sie einen Einblick in die zionistischen und expressionistischen Werte erhalten sollen: Natursehnsucht und neue Religiositt, Immanentismus und Existenzialismus. In seiner Adaption hebt Buber das lebhafte, îberschumende Potential der Jugend hervor und setzt es in Kontrast zum verknçcherten und erstickenden System der Erwachsenen.36 In den »Drei Reden îber das Judentum« rief Buber zu einem Zionismus der Jugend auf, einem mystischen, anarchistischen Zionismus, der die Selbstbesttigung sucht. Buber legte dem Streben nach Erneuerung drei Prinzipien zugrunde: das »Prinzip der Einheit« als spirituelle und kosmische Dualitt durch mystische Erfahrung; das »Prinzip der Tat«, das auf der Freiheit ihrer Durchfîhrung beruht und aus den Tiefen der Persçnlichkeit des Einzelnen fließt, und schließlich das »Prinzip der Zukunft«: Es beruht auf der messianischen Hoffnung, die die Neuschaffung der Realitt fordert und frei ist von allen ußeren Zwngen.37 Bubers Reden begeisterten und motivierten viele junge Zionisten.38 Die 34 David Biale/Gershom Sholem: Kabbalah and Counter-History, Harvard 1979, S. 5658; Paul Mendes Flor : Orientalismus und Mystik. Jerusalemer Studien zum israelischen Denken (Hebr.), Jerusalem 1984, S. 658 – 671. Siehe auch: Giuliano Baioni: Kafka – Literatur und Judentum, Stuttgart/Weimar 1994, S. 20 – 33. 35 Martin Buber : Die Legende des Baalschem, Frankfurt a.M. 1908, S. 6. Zur Adaption siehe Mendes Flor (siehe Anm. 34), S. 658 – 671. 36 Buber (siehe Anm. 35), S. 48 – 53. 37 Martin Buber : Reden îber das Judentum, Gesamtausgabe, Frankfurt a.M. 1923, S. 1 – 99. ˜ber die Reden siehe zum Beispiel Grete Schaeder: The Hebrew Humanism of Martin Buber, îbersetzt von N. J. Jacobs, Detroit 1973, S. 124 – 142. Zur Aufnahme der Reden bei den Mitgliedern des Prager Kreises siehe Hans Kohn: Martin Bubers ›Drei Reden îber das Judentum‹, in: Selbstwehr 5 (29. 9. 1911), S. 1 – 2. 38 Gerschom Scholem: Zur Persçnlichkeit Martin Bubers, in: A. Schapira (Hg.): Es ist wirklich

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Mitglieder des Prager Kreises whlten ihn zu ihrem Rabbiner. Sogar Kafka, der Buber in seinen Briefen scharf kritisierte,39 orientierte sich letztlich in seinen Ansichten zum Zionismus doch an ihm. Dies geht ausdrîcklich aus Kafkas Briefen an Felice hervor, ist aber auch in einigen seiner Erzhlungen greifbar.40 Eine nhere Analyse der Art und Weise, wie Bergmann, Brod, Kafka und Kohn die Theorien Bubers rezipierten, zeigt, dass sie diese bereits in die Jugendkultur einbrachten, bevor sie Buber îberhaupt persçnlich kennenlernten. Kohn zum Beispiel schrieb an Buber im Jahr 1913, als dieser einen Vortrag fîr »Bar Kochba« vorbereitete: »Ich will und ich kann nichts Neues sagen, ich werde versuchen, die Erkenntnisse, die mir aus Ihren Reden etc. kamen, in der Form zu geben, wie sie sich in mir festgesetzt und – zum Teil unter Einfluss mancher Anderer (Fichte, Hçlderlin, Nordau, Mystiker; von Heutigen Bergson …) – fortentwickelt haben.«41 Daraus ist zu ersehen, wie Kohn Bubers Vorstellungen mit seiner frîheren kulturellen Welt, die keine Verbindung zum Zionismus hatte, zusammenbrachte. Im Mittelpunkt des Buberschen Zionismus standen seine nahezu verzweifelte Suche nach Identitt, seine Infragestellung etablierter Bezugssysteme sowie mystische Tendenzen, die ohnehin die allgemeine Jugendkultur der Zeit charakterisierten und so auch von den Mitgliedern des Prager Kreises îbernommen wurden. In der Einleitung zu einem Sammelwerk îber das Judentum, welches von der Vereinigung »Bar Kochba« herausgegeben wurde – Bergmann, Brod und Kohn trugen Essays dazu bei – und das unter Bubers Einfluss entstand, schrieb Hans Kohn: »Leben war stets Kampf. Zionismus ist der Kampf der Jugend, die hçher will, gegen die Alten, die Trgen, die Mïden, die nicht mehr wachsen kçnnen und die kein Sturm der Begeisterung mehr aufrïtteln kann.«42

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wahr : Tradition und Erneuerung (Hebr.), Tel Aviv 1976, S. 457. Mendes Flor (siehe Anm. 34), S. 636. Siehe auch Baruch Kurzweil: Drei Reden îber das Judentum an M. Buber, in: Abraham Schapira (Hg.): Der Geist der Existenz: Tendenzen des Entwurfes im Denken Martin Bubers (Hebr.), Jerusalem/Tel Aviv 1993, S. 27. Kafka an Felice, 16. 1. 1913, In: Franz Kafka: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hg. v. E. Heller/J. Born, Frankfurt a.M. 1967, S. 252, 260. Siehe zum Beispiel Natan Ofek: Kafkas Schriften als Modell zum Verstndnis des Juden in der Moderne (Hebr.), Diss. Hebrische Universitt Jerusalem 2000, S. 31 – 43; Christoph Stçlzl: Kafkas bçses Bçhmen. Zur Sozialgeschichte eines Prager Juden, Mînchen 1975, S. 112 – 136; Scott Spector : Prague Territories. National Conflict and Cultural Innovation in Franz Kafka’s Fin de Siºcle, Berkeley/California University Press 2002, S. 143 – 147. Buberarchiv, Brief von Kohn an Buber, 4. 1. 1913, Nr. 2, S. 6. Hans Kohn: Geleitwort, in: Bar Kochba in Prag, Leipzig 1913, S. 8.

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Alles bisher Gesagte weist den Prager Kreis somit als eines der vielen Zentren der Jugendkultur im deutschsprachigen Raum aus. Speziell die Prager Jugendkultur besaß besondere Charakteristika, die nun im Folgenden nher beschrieben werden sollen.

Sçhne, Eltern und der Zusammenbruch der Tradition Der »Brief an den Vater«, den Franz Kafka im Jahr 1919 schrieb, enthîllt die schwierige Gefîhlslage des Sohnes gegenîber dem Vater. Es scheint, Kafka, der Sohn, habe alles darangesetzt, um zwischen sich und dem Vater eine Trennlinie zu ziehen: Es gibt keine Kommunikation zwischen Franz Kafka und Hermann Kafka, dem »Idealtyp« des Bourgeois: »Dadurch wurde die Welt fïr mich in drei Teile geteilt, in einen, wo ich, der Sklave, lebte, unter Gesetzen, die nur fïr mich erfunden waren und denen ich ïberdies, ich wußte nicht warum, niemals vçllig entsprechen konnte, dann in eine zweite Welt, die unendlich von meiner entfernt war, in der Du lebtest, beschftigt mit der Regierung, mit dem Ausgeben der Befehle und mit dem ùrger wegen deren Nichtbefolgung, und schließlich in eine dritte Welt, wo die ïbrigen Leute glïcklich und frei von Befehlen und Gehorchen lebten.«43 Aber die Kluft zwischen Vater und Sohn, die das Bild der Jugend im Prager Kreis prgte, verursachte einen Zusammenbruch der Tradition im Erleben der Mitglieder des Kreises. Der Riss zwischen Vater und Sohn bedeutete gleichzeitig den Riss zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wie Kafka an den Vater îber seine Beziehung zum Judentum schreibt: »Noch spter sah ich es aber doch wieder anders an und begriff, warum Du glauben durftest, dass ich Dich auch in dieser Hinsicht bçswillig verrate. Du hattest aus der kleinen ghettoartigen Dorfgemeinde wirklich noch etwas Judentum mitgebracht, es war nicht viel und verlor sich noch ein wenig in der Stadt und beim Militr, immerhin reichten noch die Eindrïcke und Erinnerungen der Jugend knapp zu einer Art jïdischen Lebens aus […] Im Grund bestand der Dein Leben fïhrende Glaube darin, dass Du an die unbedingte Richtigkeit der Meinungen einer bestimmten jïdischen Gesellschaftsklasse glaubtest und eigentlich also, da diese Meinungen zu Deinem Wesen gehçrten, Dir selbst glaubtest. Auch darin lag noch genug Judentum, aber zum Weiter-ïberliefert-werden war 43 Franz Kafka, Brief an den Vater, in: Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, Frankfurt a.M. 1951, S. 162 ff.

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es gegenïber dem Kind zu wenig, es vertropfte zur Gnze, whrend Du es weitergabst.«44 Hier kann ein grundlegendes Paradoxon der Jugendkultur identifiziert werden: Einerseits wird die Vergangenheit vçllig zurîckgewiesen – eine Zurîckweisung, die es der Jugend im ˜brigen ermçglicht, eigene Erfahrungen zu machen –, andererseits existiert die Sehnsucht nach Verwurzelung bei gleichzeitiger Ablehnung des Großstadtlebens. Wie war es mçglich, verwurzelt zu sein, ohne eine Verbindung zu Vergangenheit und Tradition? Dieses Paradoxon spielte auch in den zionistischen Konzepten der Mitglieder des Kreises eine Rolle und wurde zu einem Faktor der Verunsicherung. Es wurde zu einem weiteren Element der Erfahrung von Distanziertheit, die die Mitglieder des Kreises erlebten. Diese Erfahrung verwandelte Kafka in eines seiner berîhmtesten Symbole:45 Er und seine Freunde fîhlten sich nicht nur von der Tradition ihrer Vter abgeschnitten, sondern auch von der Gesellschaft und Kultur, von der sie umgeben waren, von der deutschen ebenso wie von der jîdischen.46 Die Popularitt des Vçlkischen in Mitteleuropa ist vor allem in Verbindung mit der Entfremdung und der Entwurzelung, die von vielen empfunden wurden, zu verstehen. Volksvereinigungen versprachen dem entfremdeten westlichen Individuum eine neue und erneuerte Verbindung sowohl mit der Vergangenheit als auch mit der Zukunft. Auch die Mitglieder des Prager Kreises waren von diesem Versprechen angezogen, besonders zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Der Abgrund war jedoch zu tief, wie Kafka resîmierte: »Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben gefïhrt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jïdischen Gebetmantels noch gefangen wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang.«47 Dennoch verlor Kafka nicht seine Hoffnung auf eine andere, dritte Mçglichkeit: eine erneuerte Verbindung mit der Vergangenheit durch einen geradezu akrobatischen Balanceakt îber die Gegenwart hinweg mit Hilfe der Mystik. Als Kafka 44 Ebd. 45 Dieses Motiv ist das zentrale Bild in Marthe Robert: Franz Kafka’s Loneliness, îbers. v. R. Mannheim, London 1982. 46 Emil Utitz: Acht Jahre auf dem Altstdter Gymnasium, in: Hans-Gerd Koch (Hg.): Als Kafka mir entgegenkam. Erinnerungen an Franz Kafka, Berlin 1996, S. 39 – 42; Pavel Eisner: Kafka and Prague, New York 1950, S. 18 – 22; Kurt Krolop: Hinweis auf eine verschollene Rundfrage: Warum haben Sie Prag verlassen?, in: Germanistica Pragnesia 4 (1966), S. 47 – 64; Dagmar Isenerov: Der Weg aus der Einsamkeit, in Eduard Goldstîcker (Hg.): Weltfreunde: Konferenz îber die Prager deutsche Literatur, Prag 1967, S. 177 – 182. 47 Franz Kafka: Viertes Oktavheft, 25. 2. 1918.

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diesen Teil seines Tagebuches schrieb, zu Beginn des Jahres 1918, war er bereits mit einem umfassenden Studium mystischer Texte beschftigt, zum Teil allein, aber auch gemeinsam mit Max Brod und Jirˇi Langer, einem weiteren Mitglied des Prager Kreises. Wie bereits mehrfach angedeutet, war das Interesse an der Mystik ein wichtiges Element der Jugendkultur. Mystische Texte aus der Antike, dem Mittelalter, von Meister Eckhart, der jîdischen Kabbala, dem Buddhismus und anderen fernçstlichen Kulturen erfreuten sich einer großen Popularitt, wurden jedoch jetzt aus ihrem originalen, religiçsen Kontext herausgelçst.48 In seinem Vorwort zur »Legende des Baalschem« schreibt Buber, seine intensive Bearbeitung alter Legenden, die er den Bedîrfnissen des modernen, westlichen Lesers anpasste, sei gerechtfertigt, denn in seinen Adern fließe das gleiche Blut wie in den Adern der chassidischen Charaktere.49 In seinem Vorwort versucht Buber sowohl, sich einerseits von der mystischen Vergangenheit, mit der er sich beschftigt, zu distanzieren als andererseits auch das Gefîhl der Kontinuitt zu bewahren, das eines der grundlegendsten Elemente der Selbsterfahrung der Mystik darstellt. Auch Kafka strebte nach dem Ziel der gleichzeitigen Durchbrechung und Wiedererrichtung der Tradition. 1922 schrieb er : »Diese ganze Literatur ist Ansturm gegen die Grenze und sie htte sich, wenn nicht der Zionismus dazwischen gekommen wre, leicht zu einer neuen Geheimlehre, einer Kabbala entwickeln kçnnen. Anstze dazu bestehen. Allerdings ein wie unbegreifliches Genie wird hier verlangt, das neu seine Wurzeln in die alten Jahrhunderte treibt oder die alten Jahrhunderte neu erschafft und mit dem allen sich nicht ausgibt, sondern jetzt erst sich auszugeben beginnt.«50 Das paradoxe Streben nach einer neuen Kabbala – ein Paradoxon zumindest fîr den traditionellen Kabbalisten – ist auch das Streben nach einer neuen Konzeption der Tradition. Die neue Mystik (Kabbala) sollte die Verwurzelung in der Vergangenheit vertiefen und dem einsamen und isolierten Sohn Franz Kafka die phantastische Fhigkeit verleihen, die Zeit zu îberwinden, jung zu bleiben, aber 48 J. H. V. Rosteutscher: Die Wiederkunft des Dionysos. Der naturmythische Irrationalismus in Deutschland, Bern 1947; Antoine Faivre: Ancient and Medieval Sources of Modern Esoteric Movement, in: Antoine Faivre/J. Needleman/K. Voss (Hg.): Modern Esoteric Spirituality, New York 1992, S. 1 – 70; Hans D. Zimmermann: Vorwort, in: Ders. (Hg.): Rationalitt und Mystik, Frankfurt a.M. 1981, S. 1531. 49 Buber (siehe Anm. 34), S. 2. ›Blut‹ ist ein volkstîmliches Motiv, das in Bubers Schriften jener Zeit immer wieder erscheint, auch in den Prager Reden. Siehe dazu auch Bubers Brief an Georg Lukcs vom 3. 12. 1911. Lukcs war enttuscht und daran interessiert, authentische jîdische mystische Texte zu verçffentlichen. Siehe den Brief von Lukcs an Buber vom 20. 12. 1911 und Mendes Flor (Anm. 34), S. 654. Zu Buber und der Adaption der ostjîdischen Welt siehe auch Baioni (Anm. 32), S. 30 – 31. 50 Franz Kafka: Tagebuch, 16. 1. 1922.

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dennoch kein »neuer Anfang« zu werden. Kafkas Hoffnung war zum Scheitern verurteilt: Der Zwiespalt zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit war zu groß. Als Kafka eine Erfahrung machte, die wohl als mystisches Erlebnis angesehen werden kann, fasste er sie in Worte als »inneres Gebot«, ohne Zusammenhang, vçllig von ihm losgelçst: »Alles das; – sinnlos, denn nur wenn ich ihr nicht folge, kann ich hier bestehen; ohne Zusammenhang, ich weiß nicht, wer es gebietet und worauf er abzielt.«51 Gerschom Scholem schrieb an seinen Freund Walter Benjamin, dass Kafka eine neue Kabbala entwerfe, die eine total zurîckweisende Mystik sei. Es gebe bei Kafka eine »kaiserliche Botschaft«,52 die allein fîr uns gilt. Sie werde ihr Ziel jedoch nie erreichen. Der große Kaiser, der sie geschickt hat, ist vor langer Zeit gestorben. Die Tradition ist ebenfalls gestorben, die allein das Verstndnis der Botschaft oder der Regeln ermçglicht htte.53 Die Außerkraftsetzung der Mystik beruht genau darauf, dass es eine Botschaft und eine mystische Erfahrung gibt. Die Botschaft und die mystische Erfahrung sind jedoch vçllig leer. Der Grund dafîr ist der Bruch der Tradition, der jegliche Entschlîsselung vereitelt.54 In seinem Roman »Das Schloss« whlte Kafka dafîr ein anderes Bild, und zwar das der totalen Isolation des Menschen gegenîber dem Himmel. Es ist symbolisiert durch die verzweifelten Versuche des Landvermessers K., mit dem Schloss telefonischen Kontakt aufzunehmen. Die Leute im Dorf erklren K., dass es keine bestimmte telefonische Verbindung mit dem Schloss gibt. Gleichzeitig jedoch ist aus dem Telefonhçrer ein summendes Gerusch hçrbar, das K. noch 51 Franz Kafka: Viertes Oktavheft, 7. 2. 1918. Zum Problem der mystischen Konfession siehe zum Beispiel Hans Walther : Franz Kafka. Die Forderung der Transzendenz, Bonn 1977, S. 125 – 127. 52 Ich beziehe mich hier auf die Parabel, die 1919 in der Sammlung »Ein Landarzt« verçffentlicht wurde und ursprînglich zu einem lngeren Fragment gehçrte (»Beim Bau der chinesischen Mauer«). 53 Diese Tradition beschreibt Kafka auch in der Abhandlung »Zur Frage der Gesetze«. 54 Siehe dazu die Korrespondenz zwischen Gerschom Scholem und Walter Benjamin in: Hermann Schweppenhuser (Hg.): Benjamin îber Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, Frankfurt a.M. 1981, S. 72 – 92. Eine Meinungsverschiedenheit ist, dass Benjamin die Erfahrung dieses Bruches bei Kafka als moderne Expression sieht, whrend Scholem darin die Unfhigkeit sieht, das Immanente in der mystischen Erfahrung selbst zu îberwinden. Siehe dazu zum Beispiel auch: Riwka Horwitz: Kafka und die Krise des jîdischen religiçsen Denkens. Die vielen Aspekte des Judentums. Literatur und Denken, (Hebr.) Jerusalem 2003, S. 247 – 261; Bernd Witte: »Feststellung zu Walter Benjamin und Kafka«, In: Die Neue Rundschau 84 (1973), S. 480 – 494; St¤phanie Mosºs: »Zur Frage des Gesetzes: Gerschom Scholems Kafkabild«, In: K. E. Grçzinger/S. Mosºs/H. D. Zimmermann (Hg.): Kafka und das Judentum, Frankfurt a.M. 1987, S. 13 – 34; Robert Alter: Necessary Angels: Tradition and Modernity in Kafka, Benjamin and Scholem, Harvard University Press 1991; Claus E. Brsch: Max Brod im Kampf um das Judentum, Wien 1992, S. 157.

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nie zuvor vernommen hat. Es handelt sich aber eigentlich nicht um ein Summen, sondern um »Rauschen und Gesang«, das »einzig Richtige und Vertrauenswerte […], alles andere ist trîgerisch.«55 Der Gesang vermittelt keine Botschaft und keinen Inhalt. Doch die Entzifferung einer ›Moral der Geschichte‹ ist dennoch mçglich: Es ist die Enthîllung des Nichts. In dieser Weise distanziert sich Kafka und distanziert sich die Jugendkultur vorstzlich von der Vergangenheit. Sie »tçtet den Vater«. Dieser Konflikt mit der Vergangenheit wurde besonders intensiv in Prag wahrgenommen. Mit Hilfe der Mystik wurde der Versuch unternommen, die Tradition neu zu erfinden, aber die Kluft war zu breit. Auf diese Weise wurde eine neue, moderne Mystik geschaffen, eine zurîckweisende Mystik.56 Es ist immer noch vorstellbar, das Schicksal einer Jugend als Isolation sei ausschließlich Kafka vorbehalten, whrend seine zionistischen Freunde Brod und Bergmann eine andere, vçllig unterschiedliche Jugenderfahrung machten. Kafka selbst dachte, dem Zionismus sei es gelungen, den »davonfliegenden Gebetsmantel des Judentums« zu fangen. Aber das galt nicht fîr die anderen. So steht zum Beispiel im Zentrum von Brods theoretischem Hauptwerk »Heidentum, Christentum, Judentum« das intensive Erleben eines Zwiespalts:57 Im Mittelpunkt von Brods Ausfîhrungen steht die moderne Version des Heidentums als immanente Auffassung der absolut gedachten Welt. Im Gegensatz dazu befindet sich bei ihm die christliche Annherung, die besagt, das Gçttliche kçnne in unserer Welt îberhaupt nicht in Erscheinung treten. Obwohl sich Brod zwischen und gegen diese beiden Auffassungen positioniert, steht das Judentum, wie er es prsentiert, dem Christentum nher : Der Mensch ist ein physisches Wesen (endlich und begrenzt) und eine spirituelle Einheit (angemessen endlich und begrenzt), die nur in außergewçhnlichen, ekstatischen Momenten in Beziehung zur unendlichen Essenz des Unendlichen steht.58 Auch Brod erlebte die Kluft zwischen sich und dem Absoluten, und auch er machte geltend, die mystische Erfahrung verbinde ihn damit. Aber seine mangelnde Erfassung des Absoluten lsst das Erlebnis im Bereich der østhetik, und es gelingt nicht, bei der Zusammenkunft selbst gegenwrtig zu sein.59 Als Resultat wurde im Prager Kreis die besondere Formulierung von der »Kabbala ohne Kabbala« geprgt. Die Nhe zwischen Brod und Kafka in diesem 55 Franz Kafka: Das Schloß (1926 hg. von Max Brod). 56 Ich beschreibe hier nur kurz alle Seiten dieses faszinierenden Phnomens, das ich in meiner Dissertation ausfîhrlich behandle. Dort habe ich dargelegt, dass das Erlebnis der Kluft und des Bruches bis zu einem gewissen Grad die Distanz zur transzendenten Dimension und die Begrîndung des Menschen als Quelle seiner Werte unterstîtzt, gemss der Auffassung, die in der Jugendkultur vorherrschte. 57 Max Brod: Heidentum, Christentum, Judentum. Ein Bekenntnisbuch, 2 Bnde, Mînchen 1921. 58 Ebd., S. 28. 59 Ebd., Band 2, S. 142 – 147.

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Zusammenhang deutet darauf hin, dass diese Erfahrung durch die spezielle Prager Situation bedingt war, in der sich die vertikale Isolation (die Rebellion gegen die Generation der Vter) mit der horizontalen Isolation (der Verdrngung der Juden durch die Deutschen und Tschechen) verband.60

Die »alten« Jungen: das vorzeitige Ende der Jugend Als eines der aufflligsten Charakteristika der Jugendkultur kann die weit verbreitete Verwendung utopischer Elemente angesehen werden. Die bestehende politische und soziale Ordnung wurde als unertrglich betrachtet. Die diversen Jugendbewegungen gaben sich folglich nicht damit zufrieden, die vorgefundene Situation zu verbessern, sondern hofften auf eine extreme ønderung, eine alles umfassende Revolution, in deren Rahmen die fundamentalen politischen und sozialen Voraussetzungen durch neue ersetzt wîrden. Die Debatte in der Forschung, ob die Jugendbewegung politisch war oder nicht, ist meines Erachtens genau an diesem Punkt festgemacht.61 Die Utopie dieser Bewegungen in Beziehung zum Bereich der Politik zu sehen, kçnnte zu der Annahme fîhren, sie seien apolitisch gewesen, whrend dieses Gebiet tatschlich am Beginn ihrer Interessen und Bestrebungen stand. Fîhrende Kreise der Jugendbewegung waren der Ansicht, um eine neue Gesellschaft zu schaffen, bedîrfe es einer umfassenden ønderung der Natur des Menschen. Die neue Gesellschaft mîsse auf einer neuen Haltung gegenîber dem Kçrper, der Natur und der Arbeit beruhen. Die politischen Konzepte des »Sonntagskreises« von Georg Lukcs und seinen Freunden in Budapest, der Pernerstorfer Gruppe in Wien, der »Neuen Gesellschaft« der Brîder Hart in Berlin oder der Plne, die in Kurt Hillers Jahrbuch »Das Ziel« erstellt wurden, machen diese Ideen deutlich.62 Der Erste Weltkrieg mit seinen Grueltaten bestrkte die Suche nach einem ›Utopia‹, da die junge Generation den Krieg als letztgîltigen Beweis des moralischen Bankrotts der lteren Generation und der entfremdenden Weltordnung, die sie aufgebaut hatte, betrachtete.63 Im Prager Kreis wurde eine ganze Reihe von Utopien entwickelt, und zwar vor 60 Dieser Prozess wird eingehend bei Christoph Stçlzl (siehe Anm. 40) dargestellt, S. 41. 61 Siehe die Zusammenfassung bei Feld (Anm. 4), S. 67 – 68. 62 Mary Gluck: Georg Lukcs and his Generation, Cambridge, Mass./Harvard University Press 1985; William J. McGrath: Dionysian Art and Populist Politics in Austria, New Haven/Yale University Press 1974; George L. Moss: The Crisis of German Ideology. Intellectual Origins of the Third Reich, New York 1964, S. 52 – 65; Kurt Hiller : Philosophie des Ziels, in: Das Ziel. Aufrufe zu ttigem Geist 1 (1916), S. 189 – 217. 63 Hughes (siehe Anm. 7), S. 338 – 339; Dierick (siehe Anm. 17), S. 68 – 73; Robert Wohl: The Generation of 1914, Cambridge, Mass./Harvard University Press 1979.

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zionistischem wie vor nichtzionistischem Hintergrund. Dazu gehçren »Das Naturtheater von Oklahoma«, 1914 von Franz Kafka verfasst, oder Hans Kohns zionistischer Messianismus, den er whrend seiner Gefangenschaft in Sibirien konzipierte.64 Das utopische Denken des Prager Kreises war komplex: Es hatte eine stark idealistische Tendenz, die das Materielle philosophisch, existentiell und mystisch ablehnte. Damit wurde nicht nur die existierende territoriale Ordnung, sondern jegliche territoriale Ordnung negiert und verworfen. ›Erlçsung‹ wurde nicht zu einem spteren Zeitpunkt erwartet, sondern zu einer Zeit jenseits der Zeit. Das Utopia der Mitglieder des Prager Kreises bestand nicht nur aus ihrer idealistischen und gnostischen Weltanschauung; es beinhaltete auch das Gefîhl einer starken Isolation nicht nur von der Vergangenheit, sondern auch von der Zukunft. Man kann Kafkas Parabel »Vor dem Gesetz« recht eindeutig in diesem Kontext interpretieren: Der Eintritt in das Tor zum Gesetz symbolisiert die Fhigkeit der Menschheit, erlçst zu werden. Der Eintritt in das Gesetz ist nicht verwehrt, sondern nur verschoben – verschoben auf immer.65 Kafka drîckte die Art von messianischer Auffassung so aus: »Der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nçtig sein wird, er wird erst einen Tag nach seiner Ankunft kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen, sondern am allerletzten. An Fortschritt glauben heißt nicht glauben, dass ein Fortschritt schon geschehen ist. Das wre kein Glauben.«66 In Bergmanns Brief an Buber von 1917 ist dieses Verstndnis von Erlçsung, welches immer jenseitig ist, konturiert formuliert: »Der Messianismus meint die absolute Zukunft, das Ziel, das die Erfïllung aller Ziele wre. Dieses Ziel liegt aber außerhalb der Zeit und des Bewusstseins […] Der Messianismus ist eigentlich fïr die irdische Welt eine ganz pessimistische Weltanschauung. Wenn das Reich Gottes außerhalb der Zeit steht, wird das zeitliche Getriebe eigentlich sinnlos.«67 Bergmann entwickelt in diesem Brief eine neue Interpretation der jîdischen Tradition von zwei verschiedenen Messiasgestalten, die am Prozess der Erlçsung 64 Siehe dazu vor allem den Brief Hans Kohns an Martin Buber vom 21. 11. 1917 sowie Kohns Brief an seine Eltern vom 7. 10. 1917, in: Archiv Hans Kohn, Leo Baeck Institute, New York, Schachtel 6, Ordner 18. 65 Franz Kafka: Der Proceß, in: Koch, Hans-Gerd (Hg.): Franz Kafka. Gesammelte Werke in zwçlf Bnden, nach der kritischen Ausgabe von Malcolm Pasley, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1994. Verschiedene Erklrungen dazu siehe: Joo Dong Lee: Taoistische Weltanschauung im Werke Franz Kafkas, Frankfurt a.M./Bern/ New York 1985, S. 250 – 253. 66 Franz Kafka: Drittes Oktavheft, 4. 12. 1917. 67 Bergmann an Buber, 10. 10. 1970, Buberarchiv, Akte 91.

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teilhaben werden: Der eine Messias, Sohn des Josef, ist dazu bestimmt, im Krieg zu sterben, und der andere, Messias, Sohn des David, wird sein Werk vollenden und fîr immer leben. Gemß der Interpretation Bergmanns symbolisiert der Messias, Sohn des Josef, den konkreten Erlçsungstraum der Generation Bergmanns, ein Traum, der dem Schlachtfeld zum Opfer fiel. Der Messias, Sohn des David, ist der Messias der neuen Generation, der kabbalistische »antike Mensch«, den Bergmann als die ewige Idee der Humanitt interpretiert. Dieser Messias lebt ewig, aber er fîhrt sein Leben außerhalb der Realitt in der wir leben. Brod kleidete Bergmanns Ideen in seinem Roman »Das grosse Wagnis« aus dem Jahr 1918 in ein literarisches Gewand.68 Mit dem Roman versucht er, die Grueltaten des Ersten Weltkrieges zu verarbeiten. Es ist eine Geschichte der negierten Utopien und des sterbenden Traumes einer Jugend. Der Held ist ein talentierter Musiker, dessen Leben durch den Antisemitismus zerstçrt wird. Er trifft Ruth, eine schçne Zionistin. Die beiden versumen jedoch die Gelegenheit, die sich ihnen bietet, nach Palstina zu flîchten. Der Krieg bricht aus, und alles, was der Held besitzt, geht in Flammen auf. Er wird im Krieg verwundet und erwacht im ersten Utopia, dem Kçnigreich des Dr. Askonas, das – Folge der gegenseitigen Bombardements – in einem riesigen Krater gelegen ist. Dieser Traum, der zur Realitt wird, heißt Liberia. Brod beschreibt ihn im Geiste der Utopien Kurt Hillers und der jungen Sozialisten. Es ist ein Traum îber eine rationalistische Gesellschaft, welche den ›neuen Menschen‹ schafft, der ein Mensch ohne Ego, fhig zu totaler Zurîckhaltung und eine vollkommene Kombination von »Geist« und »Tat« ist. In dieser neuen Welt haben die Menschen auf ihre persçnliche Welt verzichtet, und ihre Identitt grîndet sich auf ihre Arbeit. Die Utopie von Liberia ist jedoch zum Scheitern verurteilt, denn nach Brods Auffassung kçnnen wahre Beziehungen zwischen Menschen und wahre Hingabe an die Arbeit nicht allein auf Weisheit beruhen. Sie mîssen auf der Liebe und der Gnade Gottes beruhen.69 Da diese fehlen, sind die Fîhrer von Liberia auf Macht und Heuchelei angewiesen, um weiterhin ihren Traum unterstîtzen zu kçnnen. Am Ende wird Liberia durch einen internen Krieg zerstçrt. Der Held trifft in Liberia wieder auf Ruth, die ihm ein neues Utopia bietet: Zion. Zion soll Erfolg haben, wo Liberia scheiterte, denn Zion grîndet nicht auf Einschrnkung und unkontrollierbaren Methoden, sondern auf freier Bestimmung, auf dem »großen Wagnis«. Seine Energie ist gut, wie die Liebe zwischen Ruth und dem Helden. Von diesem Entwurf eines utopischen Zionismus her ist es klar, dass es 68 Max Brod: Das große Wagnis, Leipzig/Wien 1917. 69 Ebd. Siehe auch: Max Brod: Zum Problem der Gemeinschaft, in: Redaktion der Selbstwehr (Hg.): Das jîdische Prag. Eine Sammelschrift, Prag 1917, S. 9 – 10.

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schwierig ist, das »Grosse Wagnis« als zionistischen Roman aufzufassen. Brod wusste, dass die zionistisch-sozialistische Weltanschauung der jungen Pioniere in Palstina dem Traum des Dr. Askonas nher war als seinem eigenen. Absichtlich lsst er die Verbindung zwischen Liberia und Zion anklingen.70 Sein Zion ist ein neuer Ort, ein neues Utopia. Hat Brods Held eine neue Chance? Kann er Zion erreichen? Brods Antwort auf diese Fragen ist negativ. Die Generation des Krieges ist die Generation der Wîstenwanderung. Sie darf das Gelobte Land nicht betreten. Der Held ist zu alt. Seine Mission ist die Erziehung der jungen Generation, damit sie der gçttlichen Gnade wert sei. Das Buch endet mit einer Vision, in der der Held den Platz des Moses einnimmt, der sein Volk an die Grenze zum Gelobten Land fîhrt. Wie Moses wird auch er es nicht betreten. Aber er versucht der jungen Generation zu erklren, was erforderlich ist, um die Erlçsung zu bewirken fîr »[…]eine Jugend, die wahrhaftig in ihrer ersten Wahl ist, wahrhaftig in der Liebe […]. Denn eine solche Jugend hat die Gnade. Die Gnade, das ist: wahrhaftig sein dîrfen und dabei aus dem Herzen hervor gut sein.«71 Diese Verzweiflung an Utopia und die Umwandlung des wahren Zion in Brods Roman in »Die nchste Welt«72 stîtzten sich auf die Umwandlung Utopias, des Traumes der Jugend. In seinem theoretischen Werk »Heidentum, Christentum, Judentum« akzentuiert Brod immer wieder die große Kluft zwischen der Welt des Menschen und dem Himmel. Die Erfahrung dieser Kluft ist die grundlegende Erfahrung des Menschen und auch die Quelle fîr – wie Brod es nennt – das »edle Unglîck«. Um sich von ihm zu befreien, gebe es weder eine politische noch eine soziale Mçglichkeit, denn es stamme aus dieser Kluft und sei dazu bestimmt, die Erfahrung dieser Kluft im Menschen zu begrînden. Nur die gçttliche Gnade, eine mystische Erfahrung, die nur selten erfahrbar sei, erlaube die ˜berwindung der Kluft.73 Nach dem Krieg betonen Bergmann, Brod, Kafka und Kohn immer wieder, wahre Erlçsung sei nur jenseits dieser Welt zu erlangen. Der Traum von Utopia, der Traum von Jugend, wird an eine ebenfall utopische junge Generation weitergegeben, die die Mitglieder des Kreises sich aufbauen – fîr Brods Schîler von der Flîchtlingsschule in Prag,74 fîr Bergmanns junge Pioniere in Eretz Israel,75 70 Brod, Das grosse Wagnis, S. 52 – 54. 71 Brod, Das grosse Wagnis, S. 325. 72 Brod, Das grosse Wagnis, S. 286: »Gemeinsam zu leben, dass man den vollen Blick Gottes nicht zu scheuen braucht. Leben vor dem Angesicht Gottes. Wie unsere Weisen sagen: Die seligen Gerechten sitzen im Paradiese, Kronen auf ihren Huptern, und freuen sich am Anschauen der Schechinah.« 73 Manfred Georg: Max Brod, in: G. Krojanker (Hg.), Juden in der deutschen Literatur, Berlin 1922, S. 327 – 331. 74 Max Brod: Erfahrungen im ostjîdischen Schulwerk (Nach Tagebuchnotizen), in: Der Jude 1 (1916/1917), S. 32 – 36.

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fîr Kafkas »Studenten«, wie Benjamin in seinem bekannten Essay zu Kafka zeigte.76 Diese Haltung wird sicherlich durch die Verzweiflung der Kriegsgeneration genhrt, die sich selbst als »verlorene Generation« betrachtete.77 Aber sie ist auch mit der Erfahrung des Prager Kreises verbunden, einer Erfahrung der Kluft zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Auch die Verbindung zur Zukunft war verloren, und so war es nicht lnger von Bedeutung, »jung« zu sein, denn die Jugendkultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts definierte sich durch den Kampf um die Vergangenheit und den ewigen Kampf um die Zukunft. Die Verzweiflung der Mitglieder des Prager Kreises ist nicht nur in der Dimension der Zeit reflektiert, sondern auch in der Dimension des Raumes, genauer gesagt des Ortes: Wie Bergmann in seiner Konzeption eines idealistischmystischen Messianismus in die Zeit jenseits der Zeit flîchtet, so flîchten Brod und Kafka an einen Ort jenseits des Ortes, in die Wîste,78 wie Kafka schreibt: »Das Wesen des Wïstenwegs. Ein Mensch, der als Volksfïhrer seines Organismus diesen Weg macht […] Die Witterung fïr Kanaan hat er sein Leben lang; dass er das Land erst vor seinem Tode sehen sollte, ist unglaubwïrdig. Diese letzte Aussicht kann nur den Sinn haben, darzustellen, ein wie unvollkommener Augenblick das menschliche Leben ist, unvollkommen, weil diese Art des Lebens endlos dauern kçnnte und doch wieder nichts anderes sich ergeben wïrde als ein Augenblick. Nicht weil sein Leben zu kurz war, kommt Moses nicht nach Kanaan, sondern weil es ein menschliches Leben war.«79 Diese Konzeption hatte einen bedeutenden Einfluss auf die politische Vision von »Brit Schalom«, einer Bewegung in den 1920er Jahren in Palstina. Bergmann und Kohn waren ihre prominentesten Aktivisten.80 Es ist ein Desiderat der Forschung, die politische Metamorphose der Zurîckweisung der Erlçsung zu untersuchen, die sich nach dem Ersten Weltkrieg im Prager Kreis entwickelte: Die Erneuerung des Verwurzelung im Land, ein Traum breiter Kreise unter den 75 Hugo Bergmann: Also sprach die Jugend (Anlsslich des Erscheinens der Anthologie unserer Gemeinschaft, Hebr.), Haaretz, 28. Ijar 1922. 76 Walter Benjamin: Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages, In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.2, Frankfurt a.M. 1977, S. 409 – 438. 77 Vgl. Wohl (Anm. 61). 78 Zur Rezeption des Phnomens Wîste in der israelischen Kultur siehe: Yael Zerubabel: Die Wîste als mythischer Platz und Ort der Erinnerung in der hebrischen Kultur, in: M. Edel/A. Grinold (Hgg.): Der Mythos im Judentum. Geschichte, Denken und Literatur (Hebr.), Jerusalem 2004, S. 223 – 236. 79 Franz Kafka: Tagebucheintrag 19. 10. 1921. Zu Analyse von Kafkas Konzept îber die Generation der Wîstenwanderung siehe: Bluma Goldstein: Moses in the Wilderness as Modern Man/Jew: Heine, Kafka, Schçnberg, in: M. Lazar/R. Gottesman (Hg.): The Dove and the Mole. Kafka’s Journey into Darkness and Creativity, Malibu 1987, S. 78 – 83. 80 Siehe Shalom Razbi: Persçnlichkeiten aus Mitteleuropa in Brit Schalom. Ideologie in der ˜berprîfung der Realitt 1925 – 1948 (Hebr.), Dissertation, Universitt Tel Aviv 1994.

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jungen Menschen im Allgemeinen und der jungen Zionisten im besonderen, ist ein weiterhin ein Ziel, aber das Land selbst entfernt sich ins Unendliche; es wird gleichsam Teil des unerreichbaren Unendlichen. Die hier vorgestellten ˜berlegungen zeigen, dass die Jugendkultur in Mitteleuropa aus einer Kulturkrise erwuchs. Gegenîber der mehrdimensionalen Krise versprach sie Hoffnung auf eine Erneuerung. Die Hoffnung und die neue Welt, die ertrumt wurde, definierten tatschlich die Erfahrung der Jugend zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch der Prager Kreis hatte Anteil an dieser Erfahrung. Auch bei ihm spielten die Erfahrungen und die mystischen Auffassungen eine zentrale Rolle bei der Bewerkstelligung der lang ersehnten Umsetzung in die Realitt. Aber die Intensitt der Krise fîhrte die Auffassungen von Jugend im Prager Kreis in vçllig unterschiedliche Richtungen: Die Rebellion gegen die Eltern, die als Basis diente fîr die sich herausbildende junge Identitt, wurde nicht nur als Fundament fîr den Aufbau einer neuen und »reinen« Kultur aufgefasst, sondern auch als eine metaphysische Krise, da die Mystik ohne Verbindung zur Vergangenheit unmçglich wird. Zudem hatten die Mitglieder des Kreises das Gefîhl, der Bruch in der Realitt sei so stark, dass es nicht mçglich schien, einen Traum von einer neuen und ganzen Welt daraus zu entwickeln. Fîr ihre »Jungen« gab es eine neue Rolle, nmlich nicht auf den neuen Weg zu weisen, sondern auf den Verlust des Weges. Der Prager Kreis erlebte die Ablçsung von Zeit und Ort. Im Gegensatz zu vielen anderen ihrer Generation konzipierten die Mitglieder des Prager Kreises keine neue Zeit und keinen neuen Ort, sondern eine unmçgliche Reise – zu einer Zeit jenseits der Zeit und zu einem Ort jenseits des Ortes.

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Die Jugendbewegung »HaShomer HaZa’ir« in Palstina: Vom nietzscheschen Individualismus zum leninistisch-stalinistischen Kollektivismus1

»Wir wollen nicht die Gesellschaft, sondern uns selbst verbessern. Wir haben den Wert des Einzelnen betont, der nach Palstina einwanderte, und sein Leben aufgebaut. Das hier anwesende Volk erfïllt lediglich seine letzte Bestimmung: Seine Pioniere mit Geld bewaffnen, obwohl es ihren Geist ïberhaupt nicht versteht.«2 Benjamin Dror, der unter den ersten nach Palstina eingewanderten Mitgliedern der Jugendbewegung HaShomer HaZa’ir (Hebrisch: Der junge Wchter) war, schrieb diese Zeilen nur wenige Monate nach seiner Ankunft im Land im Jahre 1921. Auf der Vierten Konferenz der Weltorganisation des HaShomer HaZa’ir, die 1936 im tschechoslowakischen Poprad stattfand, verkîndete das HaShomer HaZa’ir-Mitglied Ya’acov Hazan folgende Maxime: »Unsere Existenz ist richtig und wichtig, wenn wir es verstehen, uns selbst avantgardistische Aufgaben im allgemeinen Kampf der Arbeiter aufzuerlegen. […] Der Kibbuz war fïr uns immer ein eigenstndiges Ziel, das mit unserer zweiten Auffassung verschmilzt, nmlich dass der Kibbuz ein Werkzeug im allgemeinen Kampf der hebrischen Arbeiterklasse ist, um zur sozialen und nationalen Befreiung der jïdischen Massen beizutragen.«3 Diese Aussagen veranschaulichen die Metamorphose, welche die Jugendbewegung HaShomer HaZa’ir in Palstina durchlief: Innerhalb von weniger als 15 Jahren wurde der HaShomer HaZa’ir von einer unabhngigen, neo-romantischen und nietzscheschen Jugendbewegung zu einer politischen Siedlungsbewegung leninistisch-stalinistischer Ausrichtung. Doch einen solchen Wandel 1 Aus dem Hebrischen von Antje C. Naujoks. 2 Benjamin Dror: Unsere Taten sollen offen liegen, in: HaPoel HaZa’ir 8 (30. 12. 1921), S. 19 (Hebr.); ders.: Unsere erste Gruppe, in: Kehilatenu, Jerusalem 1988, S. 26 (Hebr). 3 Ya’acov Hazan: Die Haltung des Ha’Kibbuz Ha’Arzi zur gegenwrtigen Stunde. Bericht îber die 4. Konferenz der Weltorganisation des HaShomer HaZa’ir in: Poprad, Tschechoslowakei, 10. 6. 1935 bis 16. 8. 1935, Warschau 1936, S. 14 (Hebr.).

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machte keineswegs nur der HaShomer HaZa’ir durch, wie Hans Kohn îber Jugendbewegungen im Allgemeinen festhielt: »Die Jugendbewegungen, die frïher der Ausdruck einer Revolte gegen die Gesellschaft waren, haben sich inzwischen in die jeweiligen neuen gesellschaftlichen Rahmen eingeordnet. […] In den Nachkriegsstaaten, in denen sich eine EinPartei-Diktatur entwickelt hat – in der bolschewistischen Sowjetunion, im faschistischen Italien und im nazistischen Deutschland –, haben die jungen Menschen den neuen Machthabern dabei geholfen, den ˜bergang von einer alten zu einer neuen Ordnung zu vollziehen. Die Jugendbewegungen wurden zu offiziellen oder semi-offiziellen Organisationen und zhlen zumeist zu den treuen Befïrwortern dieser neuen Regime.«4 Ein hnlicher Wandel fand auch in den zionistischen Jugendbewegungen statt: Die Bewegungen, die in Europa als Revoltebewegungen entstanden waren, wurden durch die Einwanderung ihrer Mitglieder nach Palstina und unter Verzicht auf ihre Autonomie zu »Pioniersoldaten« der politischen Siedlungsbewegungen. Dennoch charakterisierte den HaShomer HaZa’ir eine andere Dynamik: Die aus Europa stammenden lteren Mitglieder der Bewegung, die Anfang der 1920er Jahre nach Palstina einwanderten, lebten nach außen hin zwar einen ganz besonderen Stil als Ausdruck ihrer Lebensauffassung, waren aber dennoch keiner starr definierten Ideologie verpflichtet. Diese Mitglieder waren die treibenden Krfte, die 1927 die Grîndung der Dachorganisation »Ha’Kibbuz Ha’Arzi« als politische Siedlungsorganisation durchsetzten. Auf Initiative und unter der Schirmherrschaft des Ha’Kibbuz Ha’Arzi wurde drei Jahre spter offiziell die Organisation des HaShomer HaZa’ir in Palstina ins Leben gerufen, deren wichtigstes Ziel die Rekrutierung und Ausbildung von zukînftigen Mitgliedern war, die unter der Schirmherrschaft des Ha’Kibbuz Ha’Arzi weitere Siedlungskommunen grînden sollten. Diese Bewegung war in Europa als autonome Jugendbewegung, angelehnt an das deutsche Modell, entstanden. Die Grînder, die sich selbst damals als kmpfende politische Avantgarde im Stil der Bolschewisten verstanden, spannten die Sprçsslinge ihrer Erziehungsjugendbewegung letztlich gezielt fîr ihren politischen Kampf ein. Die Politisierung dieser Bewegung, die im Grunde genommen die erste zionistische Jugendbewegung der jîdischen Jugend Europas war, vollzog sich als einzigartiger Prozess, der hier aufgezeigt werden soll.

4 Hans Kohn: Youth Movements, in: Encyclopedia of Social Science, New York 1937, S. 519 – 520.

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Der HaShomer HaZa’ir als Jugendbewegung Der HaShomer HaZa’ir wurde whrend des Ersten Weltkrieges in Wien gegrîndet und ist das Ergebnis des Zusammenschlusses von zwei bereits vor dem Krieg in Galizien aktiven Jugendbewegungen: »Za’ire Zion« (Hebrisch: Jugend Zions) und »HaShomer« (Hebrisch: Der Wchter). Die Organisation Za’ire Zion wurde 1902 in Lvov auf Initiative der Zionistischen Organisation gegrîndet. Es handelte sich um einen losen Zusammenschluss von jîdischen Schîlern, die gemeinsam Jiddisch und Hebrisch lernten und jîdische Geschichte und Palstinakunde studierten. Diese polnische und deutsche Bildungsinstitutionen besuchenden Jugendlichen strebten danach, ihr jîdisch-zionistisches Bewusstsein zu strken. Die Bewegung HaShomer wurde zehn Jahre spter in Galizien gegrîndet und umfasste Verbnde der »Zofim«, die unter der Schirmherrschaft der polnischen Pfadfinderbewegung agierten, welche wiederum von der durch Baden-Powell geprgten britischen Pfadfinderbewegung beeinflusst war. Durch den Ersten Weltkrieg wurden die Aktivitten dieser Bewegungen vollstndig lahm gelegt, da viele ihrer Mitglieder mit ihren Familien von Galizien nach Wien flohen. Die Wiederaufnahme der Aktivitten sowie der Versuch, diese beiden Organisationen zu vereinen, fîhrte 1915 zur Grîndung einer gemeinsamen Bewegung, die zunchst »Shomrim Za’ire Zion« (Hebrisch: Wahrer der Jugend Zions) und dann HaShomer HaZa’ir genannt wurde (benannt nach der Organisation HaShomer, deren Mitglieder der Zweiten Alija5 angehçrten). Von Wien breitete sich die Bewegung HaShomer HaZa’ir in die galizischen Stdte aus und nahm zudem auch Einfluss auf die »Hebrische Pfadfinderbewegung« im so genannten Kongresspolen. Whrend der gesamten Jahre des Krieges – genauer gesagt, bis zur Auswanderung der ersten Mitglieder des HaShomer nach Palstina im Jahre 1920 – war Wien das Zentrum der Aktivitten dieser Bewegung. Die Bezeichnung HaShomer HaZa’ir wurde auf der Grîndungsversammlung der polnischen Bewegung in Łûdz´ angenommen, die 1919, also unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, stattfand. Zum Zeitpunkt dieser Versammlung gehçrten der Bewegung im unabhngigen Polen (d. h. in Galizien und Kongresspolen) insgesamt 7.736 Mitglieder in 110 Kenim an

5 Alija bedeutet wçrtlich Aufstieg, womit die Einwanderung nach Palstina gemeint ist. In der Geschichte des modernen Zionismus werden fînf Alija-Wellen unterschieden. Die Erste Alija, die vor dem hier behandelten Zeitabschnitt erfolgte, erstreckte sich îber die Jahre 1883 bis 1903. Mit der Zweiten Alija, 1904 – 1914, kamen vorwiegend Einwanderer aus Russland und Polen ins Land. Die Dritte Alija, mit der Einwanderer aus Russland nach Palstina kamen, setzte 1919 ein und endete 1923. Die Vierte Alija erstreckte sich îber die Jahre 1924 bis 1931. Mit dieser Alija kamen Einwanderer aus Polen und aus der Sowjetunion nach Palstina. Im Zuge der Fînften Alija, 1932 bis 1938, kamen vorwiegend Juden aus Deutschland.

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(Hebrisch: Nester, wie die lokalen Niederlassungen der Bewegung genannt wurden). øhnlich wie viele andere junge Menschen in Europa, die ebenfalls den ›großen Krieg‹, also den Ersten Weltkrieg miterlebt hatten, kçnnen die Grînder und die damaligen Mitglieder des HaShomer HaZa’ir als ›Generation von 1914‹ bezeichnet werden, d. h. junge Menschen, fîr die whrend der Phase ihres Erwachsenwerdens der Krieg das zentrale Erlebnis war. Dennoch waren die Erfahrungen dieses Personenkreises einzigartig, weil sie Juden waren. Sie hatten zumeist nicht an der Front gedient, sondern whrend dieser Zeit ein Dasein als Flîchtlinge gefîhrt. Dadurch waren sie entwurzelt. Die sozioçkonomische Stabilitt ihres Lebens hatten sie allerdings bereits vor dem Krieg eingebîßt. Der Pdagoge und Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld (1892 – 1953) bezeichnete sie als »Kriegswaisen«, wobei er sich nicht unbedingt auf ein konkretes Waisensein bezog, sondern damit eher eine psychologische Konstellation beschrieb. Trotzdem: Es waren gerade diese Jahre ihres Aufenthaltes in Wien, die fîr die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir von kritischer Bedeutung waren und sich sehr deutlich auf ihre sozioçkonomische Stellung auswirkten. Diese Zeit, die in den schriftlichen Quellen des HaShomer HaZa’ir als »Galizien-Wien-Periode« bezeichnet wird, war fîr den organisatorischen Aufbau sowie im Hinblick auf die ideologische Formung der Bewegung eine wichtige Phase. Die galizische Bewegung hatte in den damaligen Jahren einen Einfluss, der îber die Grenzen dieser Region Polens hinausging, und ihre Auswirkungen machten sich noch lange danach in der HaShomer HaZa’ir-Bewegung in Europa sowie in Palstina bemerkbar. In Wien, der kaiserlichen Metropole und einem der wichtigsten Zentren der modernistischen Kultur in Europa, kamen diese jungen Juden mit den bedeutenden intellektuellen Ideen in Kontakt, die die deutsche Kultur damals prgten. Viele waren schon zuvor der deutschen Kultur verbunden gewesen, doch diese Verbundenheit wurde durch den unmittelbaren Kontakt mit der deutsch-jîdischen Elite in Wien intensiviert. Hier lernten sie die Werke von Nietzsche und Freud kennen, hçrten Vortrge von Martin Buber, der die Begriffe der deutschen Neo-Romantik in einen jîdischen Begriffskontext îbertrug und ihnen den anarchistischen Sozialismus Gustav Landauers nher brachte. Hier kamen sie jedoch vor allem mit der freideutschen Jugendbewegung in Kontakt, die die Bewegung des HaShomer HaZa’ir in jeder Hinsicht stark prgte. Dazu ist allerdings anzumerken, dass es sich nicht um direkte Kontakte handelte, sondern die Beziehungen durch ›Vermittler‹ erfolgten. Dies sind zum einen Publikationen der deutschen Jugendbewegung und der çsterreichischen Bewegung »Blau-Weiß«, die eine Art »jîdischer Wandervogel« war, und zum anderen Personen wie namentlich Siegfried Bernfeld. Der dem Pdagogen Gustav Wynekens und der deutschen Jugendbewegung nahe stehende Bernfeld versuchte, der jîdischen

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Jugend die Ideen der deutschen Jugendbewegung zu vermitteln, unter anderem durch die Schriften Wynekens und Hans Blîhers. Diese Impulse entstammten durchweg der deutschen Jugendbewegung und îbten auf die jîdische Jugend Europas insgesamt eine enorme Anziehungskraft aus. øhnlich wie die deutsche Jugendbewegung begann auch die HaShomer HaZa’ir-Bewegung ihren Weg als Jugendrevolte. Der Begriff »Revolte des Sohnes« wurde durch ein Lied von David Shimonowitz geprgt, in dem es heißt: »Mein Sohn, achte nicht die Moral des Vaters, und der Lehre der Mutter hçre nicht zu.« Dieses Lied wurde immer wieder zitiert und abgedruckt und dadurch zu einer Art Motto der Bewegung.6 Die Revolte der jîdischen Jugend war umfassend: Als Angehçrige der Zweiten Generation der Emanzipation und des Zionismus lehnten sie das bîrgerliche Ehrenethos ihrer Eltern sowie den liberal-politischen Zionismus ” la Herzl und Nordau ab. Als jîdische Jugendliche gingen sie zudem in Opposition zur etablierten Kultur des Gettos und waren aus prinzipiellen Erwgungen heraus gegen das Diasporajudentum. Ihre wichtigste Zielsetzung war die Schaffung eines ›neuen Menschen‹ und einer ›neuen Welt‹, die durch eine avantgardistische Renaissancebewegung erreicht werden sollte, allerdings durch den Einsatz apolitischer Mittel: Ebenso wie die Mitglieder der deutschen Jugendbewegung und viele andere radikale Jugendliche lehnten nmlich die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir die politisch-çffentlichen Ttigkeiten ihrer Eltern ab. Sie lehnten nicht nur das allgemein akzeptierte »politische Spiel« zur Erlangung ihrer Ziele ab, sondern stellten sich grundstzlich gegen jede politische Aktivitt. Sie wollten sich von den »skularen Geschften der Erwachsenen« abwenden und einen unabhngigen »Jugendzeitzirkel« als Vorbild fîr die »Welt von morgen« schaffen. Zuweilen hat es den Anschein, dass dieser Jugendzeitzirkel zu einem eigenstndigen Ziel wurde, wie es in einem Beitrag in einem der Mitteilungsbltter der Bewegung von 1919 auch explizit formuliert wurde: »Die Jugendzeit ist fïr uns ein eigenstndiges, fïr sich selbst stehendes Ziel. Unser Leben ist keineswegs der Flur zu einem kommenden Leben. […] Wir leben in einer Gesellschaft von Jugendlichen, und alleine schon diese Tatsache be6 In der Zeitung der erwachsenen Mitglieder der Bewegung, »MiMa’amakim« (Hebr.: Aus der Tiefe), die ab 1922 erschien, wurde dieses Lied zum ersten Mal abgedruckt. Die Darstellung erfolgte in traditioneller jîdischer Kalligrafie, die an die Schrift des Pentateuch erinnert. Daneben wurde eine sehr bekannte Zeichnung von Fidus gestellt. Das »Lichtgebet« zeigt einen nackten jungen Mann, der, mit dem Rîcken zum Betrachter und an einem Abgrund stehend, die Hnde gen Himmel reckt. Sowohl der Text als auch das Bild, das diese Zeitung verçffentlichte, wurden zu regelrechten rituellen Elementen der Publikationen der Bewegung und oftmals auch parallel verçffentlicht. Sie veranschaulichen den Charakter der Bewegung, die sich auf jîdische und nichtjîdische Grundlagen sowie auf deren traditionelle als auch modernistische Werte stîtzte.

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stimmt die Gestalt dieser Gesellschaft. […] Daher schmen wir uns nicht zuzugeben: Wir halten den Geist der Jugendzeit hoch und ziehen ihn allem anderen vor, denn die Werte der Jugendzeit sind die Quintessenz der Kultur.«7 Whrend der Galizien-Wien-Periode bestanden die Aktivitten der Bewegung vorwiegend aus informellen Bildungsmaßnahmen in kleinen Gruppen, die sich nach Alter und Geschlecht zusammenfanden und zuweilen als Ersatz sowohl fîr die Schule als auch das Elternhaus betrachtet wurden. Im Zentrum des sozialen Lebens solcher Gruppen stand der spontane Dialog, dessen wichtigster Aspekt die »persçnliche Beichte« war. Daneben wurden weitere Zeremonien gepflegt, die rituellen Charakter hatten: Wanderungen in der Natur, Zusammenkînfte am Lagerfeuer, çffentliche Liederdarbietungen und das gemeinsame Lesen von Literatur und Prosa. Im Mittelpunkt des Lebens der Gruppen stand das Thema des ›neuen Menschen‹, der als »ein am Himmel fliegender Adler«, als ein »aus dem Paradies vertriebener Mensch« oder als Prometheus imaginiert wurde. Dabei handelte es sich ausschließlich um Figuren aus der Begriffswelt Nietzsches, in denen sich eine individualistische und tragisch-heroische Persçnlichkeit mit einem inbrînstigen Missionsgefîhl verband. Ebenso wie in der deutschen Jugendbewegung wurde auch von HaShomer HaZa’ir das Ideal des neuen Menschen als ein unzweifelhaft mnnliches Ideal hochgehalten. Hans Blîher stellte in seinen Werken, die sowohl in der deutschen Jugendbewegung als auch im HaShomer HaZa’ir sehr populr waren, Vergleiche zwischen den gleichgeschlechtlichen Gruppen des Wandervogels und einem homo-erotischen Mnnerbund her, der sich um einen charismatischen Anfîhrer zusammenfindet, der der »Held aller Mnner« sei.8 Der homo-erotische Charakter drîckte sich u. a. im mnnlichen Schçnheitsideal aus, das der Wandervogel pflegte. Viele Zeichnungen in den Publikationen dieser Bewegung sowie des HaShomer HaZa’ir reflektieren ein solches Ideal, das auch in den Zeichnungen des theosophisch-neo-romantischen Malers Hugo Hçppener, genannt Fidus, wiederkehrt. In beiden Bewegungen herrschte eine stndige Spannung zwischen der Ablehnung der bîrgerlichen Heuchelei bezîglich Kçrper und Sexualitt einerseits und einer grundlegenden Prîderie andererseits, die die »sexuelle Reinheit« heiligte und sich in der gleichgeschlechtlichen Zusammensetzung der Gruppen dieser Bewegungen niederschlug. 7 A. Trepman: Jugendwerte (1919), in: A. Guthelf/A. Cohen (Hg.): Buch der Shomrim. Eine Anthologie zum zweiten Jahrzehnt des HaShomer HaZa’ir, Warschau 1934, S. 44 (Hebr.). 8 Zu den zentralen Werken Blîhers gehçren: Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phnomen (1912) und: Die Rolle der Erotik in der mnnlichen Gesellschaft (1921).

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Von der Jugendzeit zum Kollektivismus: der HaShomer HaZa’ir in Palstina Die durch den Ersten Weltkrieg in Europa und Palstina geschaffenen Bedingungen bereiteten den Boden fîr den Wandel, der HaShomer HaZa’ir von einer Kulturbewegung fîr Jugendliche zu einer aktiven Pionierbewegung der jîdischen Siedlungsbemîhungen in Palstina werden ließ. Viele Mitglieder der Wiener Gruppe kehrten nach Galizien zurîck, nachdem die Region erneut §sterreich angeschlossen worden war. Die sozioçkonomischen Bedingungen hatten sich hier allerdings nicht gendert, und die Situation sollte sich sogar noch weiter verschlechtern, als Galizien nicht mehr zu §sterreich gehçrte und Ende 1918 im çstlichen Galizien die Westukrainische Volksrepublik ausgerufen wurde. Whrend des Krieges war es in diesem Gebiet zu Konfrontationen zwischen der ukrainischen Armee und bewaffneten polnischen Kmpfern gekommen, die sich der ukrainischen Herrschaft widersetzten. Die hier lebenden Juden, die sich darum bemîhten, eine neutrale Haltung zu wahren, wurden von den polnischen Krften verdchtigt, die ukrainische Regierung zu unterstîtzen, so dass es zu einer Welle von antisemitischen ˜bergriffen kam, die von den Polen verîbt wurden. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen in Galizien, aber auch der Vernderungen in Palstina – des britischen Mandats, der BalfourErklrung und der Grîndung des Gdud Ivri (Hebrisch: die hebrische Legion) – begann 1920 die organisierte »Große Alija« der Mitglieder des HaShomer HaZa’ir, deren Ziel die Einwanderung mit 500 bis 600 Mitgliedern der Bewegung nach Palstina war ; die meisten stammten aus Galizien, einige wenige Dutzend kamen aus Kongresspolen. Die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir hofften darauf, auf dem Boden Palstinas – weit weg vom dekadenten Europa und ihren Elternhusern – endlich ihre Jugendrevolte umsetzen zu kçnnen, von der sie als Angehçrige der Generation von 1914 trumten. Sie wollten sie durch die »HaShomer-Ansiedlung« verwirklichen, die von den Mitgliedern als passender gesellschaftlicher Rahmen fîr die Schaffung des neuen Menschen und als Prototyp der angestrebten neuen Gesellschaft angesehen wurde, die zukînftig in Palstina entstehen wîrde. Diese Vision der Mitglieder des HaShomer HaZa’ir geht auf Ideen zurîck, mit denen sie sich noch whrend der Galizien-Wien-Periode befasst hatten: die Unterteilung der Bewegung in kleinere und intimere Gruppen, die organische Gemeinschaft (nach Ferdinand Tçnnies), die sozialistisch-anarchistische Gruppe (nach Gustav Landauer), von der die Mitglieder zumeist durch Buber erfahren hatten, sowie der erotische Mnnerbund nach Blîhers Vorbild. Konkreteres îber die HaShomer-Ansiedlung, so wie sie die Mitglieder noch vor ihrer Einwanderung nach Palstina planten, ist zwei Publikationen zu ent-

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nehmen, die im HaShomer, dem Mitteilungsblatt der Lvov-Warschauer-Gruppe der Bewegung, verçffentlicht wurden. David Horowitz beschrieb im August 1919 die HaShomer-Ansiedlung in seinem gleichnamigen Beitrag. Meir Ya’ari (ehemals Wald) verfasste im Mai 1920 einen Beitrag mit dem Titel »Wir und Palstina«. Horowitz beschreibt die Ansiedlung als ein geradezu orientalisches Paradies: »Junge und schçne Mnner haben trotz schwerster Arbeit ein Lied auf den Lippen […] Mdchen mit Blumenkrnzen auf dem Haupte wild singend und tanzend […] die blinkenden Waffen auf den Schultern der Reiter.«9 In dieser Idylle fllt vor allem die konservativ-traditionelle Aufgabenverteilung zwischen Mnnern und Frauen ins Auge: Mnner arbeiten und kmpfen, whrend Frauen sich dem Tanz hingeben – die Mnner verkçrpern die Zivilisation, die Frauen die unberîhrte Natur. Ya’ari stellte die Ansiedlung in einer realistisch-pragmatischen Art und Weise als »mnnlichere Gruppe« der Jugendbewegung dar. Er war der Ansicht, dass man zunchst »mnnliche Lndereien« grînden sollte, die als eine Art Grenzpolizei (jîdische Saporoger10) in den Regionen Galilas fungieren wîrden. Erst danach sollten Frauen hinzukommen, um kooperative Kommunen zu errichten, in denen es kein Privateigentum und Erbrecht, aber auch keinen familiren Einfluss auf die Bildung mehr geben wîrde. Er brachte damit eine stark anti-feministische und anti-familire Haltung zum Ausdruck, auf die er auch spter immer wieder zurîckgriff, so z. B. 1922: »Wie kann man von der Blutsverwandtschaft abrïcken, von der Gemeinschaft der Familie? […] Hat sich die Frau jemals wirklich fïr die Gemeinschaft eingesetzt? […] Schafft die Gemeinschaft nicht ein wahrhaft reines mnnliches Wesen, das mehrheitlich spirituell ist […]?«11 Doch in Palstina herrschte eine Realitt, wie sie dieser vor der Einwanderung geschîrten Fantasie kaum kontrrer htte entgegenstehen kçnnen. Diese Realitt stellte die romantischen Visionen der jungen Einwanderer auf eine harte Probe, was zu sehr unterschiedlichen, zum Teil sogar widersprîchlichen Reaktionen fîhrte. Ein Teil der Mitglieder des HaShomer HaZa’ir gab sich dem nihilistischen Individualismus hin, der dazu fîhrte, dass sie sich von den Gruppen des HaShomer HaZa’ir und den Wertvorstellungen der Bewegung 9 David Horowitz: Kolonia Szomrowa, in: A. Shadmi (Hg.): Quellen zur Erforschung der Geschichte des HaShomer HaZa’ir, Gibat Haviva 1984 – 1987, Band 2, S. 48 – 50 (Hebr.). 10 Reiterregiment der Kosaken. 11 Meir Ya’ari (Wald): Wir im Land, in: Kehilatenu (siehe Anm. 1), S. 288.

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abwandten. Andere versuchten, sich so schnell wie mçglich in die Reihen der Arbeiterbewegung in Palstina zu integrieren, indem sie sich bereits bestehenden Organisationen anschlossen, darunter »HaGdud HaAvoda« (Hebrisch: Arbeiterregiment), die Parteien »Poalei Zion« (Hebrisch: Arbeiter Zions) und »HaPoel HaZa’ir« (Hebrisch: Der junge Arbeiter). Außerdem schlossen sie sich jenen Kibbuzim an, die von Angehçrigen der Zweiten Alija gegrîndet worden waren. Abgesehen von diesen beiden Gruppen, die sich absplitterten, gab es noch eine weitere Gruppe von rund 200 Mitgliedern, die einen weitaus schwierigeren Weg einschlugen: Sie versuchten zwar, sich in die Gesellschaft der Arbeiter einzuordnen, wollten aber nicht in ihr untergehen. Somit beschlossen sie, das Gruppensystem des HaShomer HaZa’ir beizubehalten (in den Gruppen Bithania und Shomreja), das in vielerlei Hinsicht die Fortsetzung der intimen Gruppenform dieser Bewegung darstellte und in dem weiterhin die eigene Einzigartigkeit gefçrdert und entwickelt wurde. Die Mitglieder dieser Gruppe legten das Fundament fîr die Existenz und die Weiterentwicklung des HaShomer HaZa’ir in Palstina. Die Mitglieder der HaShomer HaZa’ir-Bewegung unterhielten schon vor ihrer Einwanderung nach Palstina Kontakte zu anderen landwirtschaftlichen Ansiedlungen im Land. Der Sammelband »Yiskor« (Hebrisch: Erinnere), der die Geschichte der Ansiedlung und des Heldentums der Mitglieder der Zweiten Alija nachzeichnet, erfreute sich unter den Mitgliedern des HaShomer HaZa’ir großer Beliebtheit. Doch sie lasen darîber hinaus auch Zeitungen, die von den Mitgliedern der Zweiten Alija herausgegeben wurden,12 sowie andere Publikationen aus Palstina. Obschon sich die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir eigentlich von jeder parteipolitischen Aktivitt fernhalten wollten, beabsichtigten einige Mitglieder dennoch, sich nach ihrer Einwanderung der Partei HaPoel HaZa’ir oder der Achdud HaAvoda-Partei (Hebrisch: Vereinigte Arbeiterpartei) anzuschließen. Das Zusammentreffen mit den Angehçrigen der Zweiten Alija sollte fîr die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir allerdings zu einer schweren Enttuschung werden, die in ihnen ein Gefîhl der Fremdheit weckte und zu harscher Kritik von ihrer Seite fîhrte. Diese Enttuschung ließ sie letztlich an ihren alten Anschauungen festhalten und fîhrte zu ihrem Rîckzug auf ihre elitren Gruppen. Yedidya Shoham, die unter den ersten Einwanderern des HaShomer HaZa’ir war, hielt damals in ihrem Tagebuch fest:

12 Darunter die Zeitung HaPoel HaZa’ir und Gordons Botschaften aus Palstina, die in der Zeitschrift ›Der Jude‹ verçffentlicht wurden.

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»Wenn wir nicht verloren gehen wollen, in der wortwçrtlichen Bedeutung, dann mïssen wir ein besonderes Leben aufbauen. Außerhalb unseres Lagers werden wir sterben.«13 Die Angehçrigen der Zweiten und Dritten Alija, mit denen die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir in Kontakt kamen, nahmen ebenfalls den Wunsch dieser Einwanderer wahr, ein ›besonderes Leben‹ fîhren und sich abgrenzen zu wollen: »Beim HaShomer HaZa’ir lauschen sie auf das ›Klingeln der Glocken‹ […] und spïren bei welcher ›Schale‹ sie zerbrechen muss, und bei welcher ›Mittelbarkeit sie scheidet‹. Auf ihren Versammlungen kann man diese zarten jungen Menschen sehen, die sich der Beichte ihres Seelenlebens und dem Leid der Welt hingeben, wie teuerstes Porzellan […], und dennoch sieht man sie entlang der Straßen Felsbrocken meißeln, und auf den Hçfen stechen ihre Hnde mit Hacken zu. […] Diese jungen Menschen haben noch nicht das Rtsel des Erlebnisses entschlïsselt, das der sozialen Gegenwart entspringt, nicht im Hinblick auf die Lehre des Klassenkampfes, nicht bezïglich des ›intellektuellen‹ Messias, der bestehenden Gesellschaft sowie der augenscheinlich gerade auf den alten Grundfesten entstehenden, sich neuformenden Gesellschaft. Mit vereinten Krften suchen sie ihre Erlçsung in ihrer eigenen Gruppe. […] Ein solches inneres Ringen fïhrt zur bekannten Zerstreuung.«14 Dieser Eindruck eines Zionisten der Partei HaPoel HaZa’ir, der einer Zusammenkunft des HaShomer HaZa’ir beiwohnte, ist nur eines von vielen Beispielen fîr das Bild, das die bereits seit lngerer Zeit in Palstina lebenden Menschen von den Neuankçmmlingen hatten. Die Besonderheit der Mitglieder des HaShomer HaZa’ir whrend jener ersten Jahre in Palstina kam, wie sowohl ihre Briefe der damaligen Zeit als auch andere schriftliche Quellen zeigen, ausschließlich auf der Ebene ihrer Einstellungen und im Lebensstil, nicht in politisch-ideologischen øußerungen zum Ausdruck. Auch die Kritik der Mitglieder des HaShomer HaZa’ir an den schon seit lngerer Zeit in Palstina lebenden jîdischen Einwanderern hatte weder ideologische Motive noch politische Themen als Hintergrund. Die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir warfen den Angehçrigen der Zweiten Alija vor, keine ønderungen ihrer leitenden Werte vollzogen und die »Diaspora nach Palstina eingefîhrt« zu haben. Sie fîhrten in Palstina einfach ihr bîrgerlich-provinzielles Leben weiter, das die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir als »Philister-Leben« bezeichneten: In den von ihnen gegrîndeten Kommunen herrsche lediglich eine wirtschaftliche Kooperation, die kein kulturell-soziales Miteinander beinhalte. Außerdem seien 13 Yedidya Shoham: Jugendtagebuch, Givat Haviva 1987, S. 179 (Hebr.). 14 A. Zioni: Die vereinte Arbeitergewerkschaft, in: HaPoel HaZa’ir 12 (24. 12. 1920), S. 6 – 7.

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ihre politischen Parteien durch all jene Makel gekennzeichnet, die etablierten politischen Organisationen anhafteten. Die Gesellschaft der Angehçrigen der Zweiten Alija sei, so schtzten die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir es ein, nicht in der Lage, einen greifbaren Wandel im Leben des Einzelnen sowie eine Vernderung bzw. Verbesserung der Gesellschaft Palstinas zu bewirken. Dieser Antagonismus der Mitglieder des HaShomer HaZa’ir kann meines Erachtens hautschlich auf drei Grînde zurîckgefîhrt werden: erstens eine ethnische Komponente, d. h. die galizischen Wurzeln der Mitglieder des HaShomer HaZa’ir, die in Gegensatz zu der russischen Herkunft der Angehçrigen der damals bereits bestehenden landwirtschaftlichen Siedlungen gerieten; zweitens die Kluft zwischen den Generationen, also Jugend der Mitglieder des HaShomer HaZa’ir gegenîber den bereits lteren, erwachsenen Angehçrigen der Zweiten Alija sowie drittens das Vermchtnis der autonomen Jugendbewegung, das die bereits vor Ort lebenden Personen nicht mit auf den Weg genommen hatten. Es ist îberdies bemerkenswert, dass sich ein guter Teil der Kritik des HaShomer HaZa’ir gegen ihre eigenen jungen Mitglieder richtete, die zu den aus Russland kommenden Pionieren der Dritten Alija gehçrten. Der revolutionre Radikalismus des Gdud HaAvoda, der von diesen Einwanderern gegrîndet worden war, zog zwar auch Mitglieder des HaShomer HaZa’ir an, doch die meisten sahen darin eine zentralistische Massenorganisation mit einem semi-militrischen Charakter, die sich mit dem Einsatz fîr eingeschrnkte sozioçkonomische Ziele begnîgte und keinerlei spirituell-moralischen Inhalte pflegte. Diese Mngel wurden dem russisch-marxistisch-revolutionren Erbe dieser Pioniere zugeschrieben, die dem sozialistisch-humanistischen Anarchismus der Mitglieder des HaShomer HaZa’ir ” la Landauer widersprachen. Die große Enttuschung îber die Gesellschaft der bestehenden Ansiedlungen in Palstina ließ die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir noch fester an ihrer Position, ihrer Rhetorik und ihren Idealen festhalten, die sie aus Europa mitgebracht hatten. In den Briefen, die Meir Ya’ari an seine Freunde im Ausland schrieb, in den Artikeln von David Horowitz und in anderen schriftlichen Quellen der Bewegung whrend der frîhen 1920er Jahre erscheinen immer wieder jene Termini neo-romantischen Ursprungs, die sich die Mitglieder whrend der Galizien-Wien-Periode zu eigen gemacht hatten. Aus der Distanz von nur wenigen Jahren wurde die Zeit der Grîndung der Dachorganisation Ha’Kibbuz Ha’Arzi aus Sicht der Mitglieder des HaShomer HaZa’ir als »Tage des Nietzscheismus und des entwickelten Individualismus des hçchsten Menschen« der Bewegung dargestellt. Nach dieser Auffassung stand der Mensch im Mittelpunkt der Schçpfung, und ihm stand zugleich die ganze Welt offen.15 15 M. Zipor : Die Universitt und der Yishuw, die Philosophie und das Leben, in: HaShomer

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Das reiche eklektische Erbe der Galizien-Wien-Periode, das der ideologische Nhrboden der Mitglieder des HaShomer HaZa’ir whrend der ersten Jahre nach ihrer Einwanderung nach Palstina war, ist deutlich im kollektiven Tagebuch Kehilatenu (Hebrisch: Unsere Gemeinschaft) greifbar. Es wurde Ende 1922 von den HaShomer HaZa’ir-Mitgliedern der Kibbuz Alef genannten Kommune verçffentlicht, also am Vorabend der Grîndung ihrer dauerhaften Niederlassung in der Kommune Kibbuz Beit Alfa. Der Kibbuz Alef wurde im April 1921 durch die Verschmelzung von zwei Gruppen gegrîndet: den Mitgliedern der Kommune Bethania Elite und Gdud Shomreja. Der ersten Gruppe gehçrten insgesamt 26 Personen an, darunter lediglich vier Frauen. Angefîhrt wurde sie von namhaften Persçnlichkeiten wie Meir Ya’ari, David Horowitz, Benjamin Dror, Arieh Alwill und Shlomo Goldstein (Golan). Die zweite Gruppe, zu deren Anfîhrern Mordechai Shinhavi und Abba Shenler (Chushi) gehçrten, zhlte rund 100 Mitglieder. Die Gruppe Bethania Elite, zu deren Mitgliedern die namhaften Leiter der HaShomer HaZa’ir-Bewegung in Galizien gehçrten, die der Bewegung auch in Palstina vorstanden, kam im Juli 1920 ins Land und arbeitete damals am Bau einer Straße von Beit Gan nach Sharona. Anschließend grîndeten die »Auserwhlten«, die durch eine »schmerzliche Operation der eigenen Selektion« bestimmt wurden, die Kommune Bethania Elite, die jedoch nur rund sieben Monate bestehen sollte. Im April 1921, als die landwirtschaftliche Saisonarbeit abgeschlossen war, verließen sie den Hîgel mit Blick auf den See Genezareth und schlossen sich dem Gdud Shomreja an, dessen Mitglieder mit dem Bau der Straße Ramat Yishai-Haifa beschftigt waren. Nachdem diese Straße Ende 1921 fertig gestellt war, brach eine Periode der Arbeitslosigkeit an, die geradezu zu einem Zustand der kollektiven Verzweiflung fîhrte, was u. a. durch den Sammelband Kehilatenu dokumentiert ist. Hinter der Verçffentlichung dieses Bandes, dessen Schreibprozess etwas Rituelles hatte, stand der Wunsch der Mitglieder des HaShomer HaZa’ir, der besonderen Lebensweise des Kibbuz Alef Ausdruck zu verleihen und vor allem auch die Gruppe der Kommune Bethania Elite darzustellen. Dieser Band, der letztlich ein Vorbild fîr weitere derartige Publikationen sein sollte, trug dazu bei, den Mythos der Bethania Elite zu begrînden und zu pflegen. Zudem reflektierte er sowohl inhaltlich als auch im Hinblick auf den besonderen Symbolstil die kulturelle und mentale Welt jener Gruppe, deren Mitglieder damals die Bewegung in Palstina anfîhrten und nachhaltig prgten. Diese Welt stellt sich in Bezug auf eine Reihe von Begrifflichkeiten als Fortsetzung des abgeHaZa’ir – Zeitung des Ha’Kibbuz Ha’Arzi des HaShomer HaZa’ir 6 (15. 12. 1935). Hervorzuheben ist hier, dass die dezidiert nietzschesche Emphase durch einem Unterton geprgt ist, der deutliche Assoziationen zur Thora hervorruft, gleich einer Paraphrase eines Gebetes: »Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heere, von seiner Herrlichkeit ist die ganze Welt erfîllt« (Jesaja 6,3).

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grenzten ›Jugendzeitzirkels‹ dar, den diese jungen Menschen vor ihrer Alija aufgebaut hatten. Der neue Mensch und die von ihm geschaffene Gemeinschaft – die mit der Grîndung der Kommune Bethania Elite verwirklicht werden sollten – sind stark in der neo-romantischen Begriffswelt der deutschen Kultur der Jahrhundertwende verankert und somit vollkommen losgelçst von der Erlebniswelt Palstinas, die als feindselig und bedrohlich empfunden wurde. Nur der Artikel von David Horowitz – »Unsere Stellung in der Arbeiterbewegung« – hebt sich inhaltlich-analytisch von den anderen Beitrgen ab, die sich nicht mit organisatorisch-politischen Themen und Problemen beschftigen. In den ersten vier bis fînf Jahren nach ihrer Einwanderung nach Palstina entwickelten die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir keine formale Organisationsstruktur, so dass die Existenz dieser Bewegung ausschließlich auf dem »Ausdruck des kollektiven Gemeinschaftsbewusstseins« beruhte. Bei einer Zusammenkunft im Kibbuz Beit Alfa im Juni 1924 wurden dann die ersten Versuche unternommen, eine Organisationsform zu finden, was 1927 schließlich zur Grîndung der Dachorganisation Ha’Kibbuz Ha’Arzi fîhrte. An dieser HaShomer HaZa’ir-Zusammenkunft im Kibbuz Beit Alfa, die den Beginn der Politisierung des HaShomer HaZa’ir in Palstina markiert, nahmen zirka 200 Mitglieder teil, die sich auf einige Kommunen verteilten. Zudem waren Reprsentanten der Achdut HaAvoda und des Gdud HaAvoda zugegen. Die Anwesenden diskutierten vorrangig die Identitt der HaShomer HaZa’ir-Bewegung, die Selbstdefinition als autonome Bewegung in Palstina und das Wesen der Beziehungen, die diese Bewegung zu anderen Jugendbewegungen im Ausland unterhielt. Die jîngeren HaShomer HaZa’ir-Mitglieder, die erst kurz zuvor (ab 1924) mit der Vierten Alija aus Polen nach Palstina gekommen waren, wollten auch nach ihrer Einwanderung die Tradition der Jugendbewegung pflegen und fortsetzen, d. h. den Schwerpunkt nach wie vor auf »Individualismus und Wahrung der Selbststndigkeit« legen, wie es ein Mitglied formulierte. Die ltere Generation der Mitglieder des HaShomer HaZa’ir, die bereits einige Jahre Lebenserfahrung im Land gesammelt hatte, war der Auffassung, dass die raison d’Þtre der Bewegung in Palstina nicht nur ausschließlich auf dieses Erbe aufbauen und zurîckgreifen kçnne, da es in der Realitt Palstinas seine Relevanz verloren habe. Dennoch waren nur wenige Mitglieder bereit, tatschlich die daraus folgende offensichtliche Konsequenz zu ziehen und sich einer der bestehenden Organisationen der Arbeiterbewegung anzuschließen. Nur wenige folgten der Aufforderung und dem Beispiel von David Horowitz, der sich dem Gdud HaAvoda anschloss. Die Mehrheit der Mitglieder, die damals noch nicht bereit waren, ihre Identitt als HaShomer HaZa’ir-Mitglieder aufzugeben, suchte weiterhin nach einer neuen Grundlage ihrer Selbstdefinition, anders als der Bewegung in Palstina angehçrige Mitglieder.

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Einige Vertreter der lteren Generation, unter ihnen vor allem Meir Ya’ari, schlugen vor, eine Fçderation der Kommunen der HaShomer HaZa’ir-Bewegung zu grînden, die den Schwerpunkt nicht auf die kulturelle Zusammenarbeit, sondern auf die kommunistisch ausgerichtete çkonomische Kooperation legen sollte. Dieser Vorschlag markierte einen wichtigen programmatischen Wendepunkt, nmlich die Abkehr von Landauers anarchistischem Sozialismus unter gleichzeitiger Hinwendung zum marxistischen Sozialismus. Gleichwohl ging aus diesem Wendepunkt zur damaligen Zeit noch keine endgîltig vernderte und eindeutig formulierte politische Haltung hervor. Die Auseinandersetzung zwischen der jungen und der lteren Generation wurde mit einem Kompromiss beigelegt, den Ya’acov Hazan ausgearbeitet hatte. Im Wortlaut dieses Kompromisses wurde die Fçderation der Kommunen des HaShomer HaZa’ir als eine »wirtschaftlich-kulturelle Fçderation territorial unabhngiger Gemeinschaften« bezeichnet, die durch das »Bîndnis von sozialen Zellen« entsteht, d. h. Kibbuzim oder kleineren Gruppen. »Der Aufbau einer Zelle geht auf den freien Zusammenschluss einer bestimmten Anzahl von Menschen zurïck, die ein gemeinsames Leben auf der Grundlage zwischenmenschlicher Beziehungen sowie gemeinsamer Arbeit und Kreativitt fïhren, und die Grundlagen der inneren Pflicht, der vollkommenen Einheit und der persçnlichen Autonomie eines jeden Individuums teilen.« Die »freie Gemeinschaft« galt als »Pioniereinheit der fçderalen Bewegung der Arbeiterçffentlichkeit.«16 Diese Formulierung fand zum damaligen Zeitpunkt noch keinen praktischen Niederschlag. Die einzige operative Entscheidung, die auf dieser Zusammenkunft im Kibbuz Beit Alfa gefllt wurde, bezog sich auf die Intensivierung der Beziehungen, die die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir in Palstina zu ihren »Reservisten« unterhielten, d. h. den Mitgliedern der Bewegung in Europa. Die Intensivierung dieser Beziehung sollte beiden Seiten zu Gute kommen: Die fortlaufenden Informationen aus Palstina, die die Mitglieder der Bewegung in Europa mittels Briefen und Emissren erhalten wîrden, sollten sie auf die schwierige Realitt vorbereiten, die sie im Land erwartete, und ihnen damit helfen, ihre Vorbereitung auf die Alija zu verbessern. Der fortlaufende Strom der »Reservisten«, die aus den europischen Gruppen der Bewegung nach Palstina gelangen wîrden, sollte sich auf die Gemeinschaft des HaShomer HaZa’ir in Palstina erfrischend auswirken. Auch hier machte sich eine beginnende kollektivistisch orientierte Politisierung bemerkbar : Der Kontakt zu den Mitglie16 HaShomer HaZa’ir Kommune Hadera, Brief an die Leitung in Galizien, 5. des Monats Av 1924 (Hebr.), in: Shadmi, Quellen zur Erforschung der Geschichte des HaShomer HaZa’ir (siehe Anm. 9), Band 3, S. 60 (Hebr.).

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dern der Bewegung in Europa sollte ausschließlich mittels offizieller Schreiben und nicht mehr in Form von privaten Briefen erfolgen. »Wir wollen uns bemîhen, die schriftlichen Kontakte von einer subjektiv-privaten Ebene auf ein objektiv-allgemeines Niveau zu heben. Wir wollen nicht einer nach dem anderen schreiben, sondern als Gesamtheit«, hielten die Mitglieder der Kommune Hadera in einem Schreiben an die galizischen Mitglieder der Bewegung fest.17 Die Tendenz, von einer »subjektiv-privaten Ebene zu einem objektiv-allgemeinen Niveau« zu gelangen, wurde im Laufe der nachfolgenden Jahre immer strker, wobei der Marxismus zunehmend an Einfluss gewann; dies ist das folgenreichste Resultat aus der Intensivierung der Kontakte zwischen den Mitgliedern in Palstina und in der Diaspora. Im Laufe des Jahres 1925 besuchten mehrere Emissre, darunter u. a. Meir Wald, Ya’acov Hazan und Abba Chushi, die Zentren der Bewegung in Europa. Dabei bekamen sie die marxistische Atmosphre zu spîren, die in den lokalen Organisationen der Bewegung – in den Kenim – Einzug gehalten hatte. Die Idee des »ideologisch-marxistischen Kollektivismus«, die zukînftig in den Ha’Kibbuz Ha’Arzi des HaShomer HaZa’ir hineingetragen wurde, geht wahrscheinlich darauf zurîck. Der Grîndung des Ha’Kibbuz Ha’Arzi ging rund ein Jahr von diversen Aktivitten voran, wobei sich der Kibbuzrat des HaShomer HaZa’ir mehrheitlich mit Fragen beschftigte, die mit der Grîndung der Dachorganisation zusammenhingen. Zudem baute dieser Kibbuzrat die Beziehungen zur Jugendbewegung im Ausland auf und zeichnete fîr die Organisation der Aktivitten im Kreise der jungen Menschen des Yishuw (der vorstaatlich-jîdischen Ansiedlung in Palstina) verantwortlich. Aus Sicht der HaShomer HaZa’ir-Bewegung war die Grîndung des Ha’Kibbuz Ha’Arzi letztlich zwingend erforderlich, da sich sowohl in Palstina als auch in Europa einige wichtige Entwicklungen vollzogen hatten. Whrend der Zeit der Vierten Alija kam es in Palstina zu einer schwerwiegenden Wirtschaftskrise und einer enorm hohen Arbeitslosigkeit, von der auch die Mitglieder des HaShomer HaZa’ir betroffen waren. Vor diesem Hintergrund durchlief die Arbeiterbewegung in Palstina einen Prozess der politischen Polarisierung, der von Spannungen und Krisen begleitet war und auf dessen Hçhepunkt es zu einer Spaltung und 1926 zur Auflçsung des Gdud HaAvoda kam. Dieser Prozess ging ebenfalls nicht spurlos am HaShomer HaZa’ir vorbei. Da man von Beginn an keine einheitliche politische Ideologie verfolgt hatte, hatte jede politische Organisation der Arbeiterbewegung versucht, den HaShomer HaZa’ir auf ihre Seite zu ziehen. Dadurch sollte sich der HaShomer HaZa’ir letztlich in verschiedene politische Organisationen aufspalten, wie sich vor allem im Kibbuz Beit Alfa bemerkbar machte. In diesem Kibbuz gab es Reprsentanten jeder politischen Organisation der Arbeiterbe17 Ebd., S. 31.

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wegung in Palstina, was sich insbesondere bei den Wahlen der Dritten Zusammenkunft der Histadrut (Gewerkschaft) niederschlug: Wegen der extremen Divergenz kam es letztlich nicht zum Anschluss des Kibbuz Alfa an die Dachorganisation Ha’Kibbuz Ha’Arzi. Vor diesem Problem standen auch andere Kibbuzim der Bewegung, die vor diesem Hintergrund auseinander zu brechen drohten. Hinzu kamen pragmatische Erwgungen: Eine Dachorganisation, die alle Kibbuzim des HaShomer HaZa’ir im Land reprsentieren wîrde, htte die wirtschaftlichen und siedlungspolitischen Interessen der Organisation besser vorantreiben kçnnen, denn solche Interessen wurden von zwei zentralen Institutionen – dem Keren Kajemet Le’Israel (Jîdischer Nationalfonds, JNF) und der Arbeitergewerkschaft – geregelt. Letztlich htte dies auch eine grçßere Effektivitt bei der Organisation der Alija durch Mitglieder der Bewegung bedeutet. Zugleich kamen die Mitglieder der Bewegung in Europa mehr und mehr mit den unterschiedlichen Strçmungen des Sozialismus in Kontakt, die dort immer populrer wurden: Die HaShomer HaZa’ir-Gruppe in Wien stand unter dem Einfluss der §sterreichischen Sozialdemokratischen Partei, die HaShomer HaZa’ir-Gruppe in Lvov (das LevovKen) war stark von Landauers anarchistischem Sozialismus beeinflusst, und die Warschauer Gruppe erfuhr eine politische Polarisierung, die spter dazu fîhrte, dass 25 marxistisch-anti-zionistisch orientierte Mitglieder aus der Bewegung ausschieden. Diese Krise der Bewegung in Palstina und in Europa zwang sie mithin, nach einem klar formulierten politisch-ideologischen Ausweg fîr die gesamte internationale Bewegung zu suchen und den Mitgliedern, die nach Palstina gehen wollten, einen Rahmen zur Verwirklichung ihrer Vorstellungen anzubieten.

Der Prozess der Politisierung Im Zentrum der Diskussionen, die der Grîndung des Ha’Kibbuz Ha’Arzi vorangingen, standen mehrere Grundsatzfragen, von denen die akuteste die Frage der Politisierung war ; im Jargon des HaShomer HaZa’ir wurde es als »Frage des ideologischen Kollektivismus« bezeichnet. In ihrem Kontext spaltete sich die Bewegung in Lager von Befîrwortern und Gegnern. Die Mitglieder, die eine Politisierung ablehnten – darunter vorwiegend die Mitglieder des Kibbuz Beit Alfa –, waren der Ansicht, dass man sich mit dem apolitischen Zusammenschluss des HaShomer HaZa’ir als Grundlage fîr eine Einheit begnîgen kçnne, denn eine Einheit auf politischer Ebene widerspreche der Tradition der Bewegung und werde der Realitt des HaShomer HaZa’ir in Palstina nicht gerecht. »Gegenwrtig ist der HaShomer HaZa’ir zerstreut, und es gibt noch nicht einmal

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zwei Mitglieder, die ihn auf gleiche Weise charakterisieren wîrden«, so das Mitglied des Kibbuz Beit Alfa, Eliezer Hacohen. Weiter fîhrte er aus: »Wenn man ihm [dem HaShomer HaZa’ir] eine bestimmte Politik aufdrïcken will, aber trotzdem auch nur zwei oder drei Fragen findet, auf die die Antworten unterschiedlich ausfallen, dann ist es tatschlich ein ïbereilter Schritt.«18 Die Gefahren, auf die die Gegner einer Politisierung, darunter u. a. Eliezer Hacohen, Zwi Neumann und Yedidya Shoham, hinwiesen, waren tatschlich enorm: Eine frîhzeitig vollzogene »Zwangspolitisierung« wîrde die Kibbuzim des HaShomer HaZa’ir spalten und das Ende der Bewegung bedeuten, d. h. sie wîrden das gleiche Schicksal ereilen wie den Gdud HaAvoda. Eine Politisierung werde, so die Befîrchtung, der separatistisch geprgten Bewegung organisierte Strukturen aufzwingen und den Ha’Kibbuz Ha’Arzi letztlich in eine politische Partei umwandeln, was ein Ende der Meinungs- und Handlungsfreiheit der Mitglieder der Kibbuzim zur Folge haben kçnne und somit der individualistischen Tradition der Bewegung widerspreche. Die nachfolgenden Jahre sollten zeigen, dass die von den Gegnern der Politisierung befîrchteten Entwicklungen tatschlich eintraten und weitreichende Auswirkungen haben sollten. Zu den Befîrwortern einer Politisierung gehçrten vor allem die Mitglieder der Kibbuzim Ein Ganim und Herzlija, darunter insbesondere Meir Ya’ari, Ya’acov Hazan, Richard Weintrob und Ben-Ami Gordon. Sie waren der Ansicht, dass die Grînde, die die Mitglieder vor einer Politisierung zurîckschrecken ließen, schlussendlich zwangslufig zu einer Politisierung fîhrten, denn gerade die politische Handlungsfreiheit der Kibbuz-Mitglieder werde, so glaubten sie, das Ende der Bewegung besiegeln. Die Skepsis vor dem politischen Aktivismus, durch den die meisten Angehçrigen der Arbeitersiedlungsbewegungen bestimmt waren, wahre zwar den separatistischen Charakter der Bewegung, doch eine politische Verpflichtung stehe, so meinte diese Fraktion, dennoch keineswegs im Widerspruch zur Tradition des HaShomer HaZa’ir, sondern werde ihr vielmehr ein »aktuelles Kolorit« verleihen. »Wir mçchten im Kibbuz die Vollendung des von uns beschrittenen Weges sehen, doch gegenwrtig lsst sich diese Vollendung nicht ohne eine gemeinsame politische Ausrichtung verwirklichen.«19 Oder: »Der Ha’Kibbuz Ha’Arzi entspringt unserer grundlegenden Auffassung [bezïglich des Wesens des] Kibbuz, der alle Lebensbereiche umspannt, wozu nun einmal auch das politi18 Eliezer Hacohen: Protokoll der Ausschusssitzung der Kibbuzim des HaShomer HaZa’ir im Land, die vom 30. 7. 1926 bis 1. 8. 1926 tagte, S. 95 (Hebr.). 19 Ebd.

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sche Leben gehçrt. Wenn wir diese Angelegenheit negieren, dann haben wir den eigentlichen Sinn unseres Lebens im Kibbuz verfehlt.«20 Trotz der politischen Divergenz in diversen Kibbuzim bzw. Kommunen glaubten die Befîrworter des »ideologischen Kollektivismus« an die Mçglichkeit, einen gemeinsamen politischen Nenner finden zu kçnnen, auf den sich tatschlich alle wîrden einen lassen. Gleichwohl waren sie sich durchaus bewusst, dass dieser politische Nenner sehr allgemein gehalten werden mîsse und keine detaillierte Formulierung politischer Grundstze zulasse. Daher schlugen sie mçglichst allgemeine Formulierungen vor, die es erlauben sollten, einen gemeinsamen Rahmen zu schaffen. Die Diskussion îber die Einzelheiten, so meinten sie, kçnne man bis nach der Grîndung des Ha’Kibbuz Ha’Arzi aufschieben. Unter Hervorhebung ihrer Treue zur Anti-Establishment- und der Anti-ParteienTradition der Bewegung erklrten sie immer wieder, sie htten nicht die Absicht, eine Partei zu grînden. Sie wollten vielmehr eine »gedankliche Strçmung« schaffen, eine Art »politischen Ausdruck« oder »eine eigenstndige politische Abteilung«. Ihre Ablehnung des Beitritte zu einer der bestehenden Parteien der Arbeiterbewegung verstanden sie nicht als separatistischen Elitismus oder Sektierertum, sondern sahen darin einen »a-parteipolitischen Pragmatismus«. Diese sprachlichen Manipulationen bzw. Verschleierungen sollten noch mehrere Jahre charakteristisch fîr den HaShomer HaZa’ir bleiben. Die Meinungsverschiedenheiten îber den »ideologischen Kollektivismus« fîhrten zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen im Blick auf den Charakter der Beziehungen zwischen dem Ha’Kibbuz Ha’Arzi und den Jugendbewegungen in Europa. Die Gegner der Politisierung bestanden weiterhin auf einer umfassenden Eigenstndigkeit der Jugendbewegung: »Eine Grundlage muss unbedingt erhalten bleiben – die Anerkennung der Selbstbestimmung in den Jugendbewegungen im Ausland. […] Es steht dem Kibbuz nicht zu, die Jugendlichen im Ausland nach seinen Richtlinien zu erziehen.« Dieser Ansicht von Eliezer Hacohen schlossen sich die Gegner der Politisierung grundstzlich an.21 Die Befîrworter der Politisierung waren hingegen der Auffassung, dass die Jugendbewegungen im Ausland sich dem ideologisch-politischen Weg des Ha’Kibbuz Ha’Arzi unterzuordnen htten. Richard Weintrob, einer der enthusiastischsten Befîrworter der Politisierung, sagte dazu: 20 Pra’i: Kibbuzgesprche 30. 10. 1936 (Hebr.), in: Shadmi, Quellen zur Erforschung der Geschichte des HaShomer HaZa’ir (siehe Anm. 9), Band 5, S. 91. 21 Ebd., S. 107.

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»Ich glaube nicht an Moral. Ich sehe hier Interessen. […] Wir mïssen bestimmen, wie wir Einfluss auf die Jugend nehmen wollen. Im Ausland eine Handlungsfreiheit zuzulassen heißt letztlich, eine politische Freiheit im Ha’Kibbuz Ha’Arzi zu gewhren. Einer Handlungsfreiheit im Ausland kann man einfach nicht zustimmen.«22 Auch Meir Ya’ari unterstrich dies sehr nachdrîcklich: »Mit abstrakten Begriffen wie Freiheit darf man schlichtweg nicht spielen. Auch wenn wir selbst noch vor fïnf Jahren eine freie Jugendbewegung in den Kibbuzim waren, so hat sich dies im Laufe der Zeit allerdings grundstzlich gendert.«23 Und tatschlich hatte sich etwas verndert, denn letztlich fiel die Entscheidung zu Gunsten des »ideologischen Kollektivismus« aus. Anscheinend erlaubte es die Realitt der vorstaatlichen Yishuw-Gesellschaft, in der Politik eine îberaus wichtige Rolle spielte, dieser Jugendbewegung nicht, weiterhin auf einer Grundlage zu insistieren, die ausschließlich auf einer mentalen, sich im Lebensstil ußernden Bindung beruhte. Die »Kultur der Jugendzeit« konnte im Land nicht in Form des HaShomer HaZa’ir umgesetzt werden, und die Grîndervter der europischen Bewegung, die, entsprechend ihren eigenen Kriterien, bereits nicht mehr jung waren, aber dennoch nicht auf diese Kultur verzichten wollten, mussten sich in das »politische Spiel in Palstina« einordnen. Die Politisierung wurde als ›Gebot der Stunde‹ und als Bedingung fîr das Weiterbestehen der Bewegung angesehen. Durch die Grîndung des Ha’Kibbuz Ha’Arzi auf der Grundlage des »ideologischen Kollektivismus« setzte im HaShomer HaZa’ir ein komplizierter Entwicklungsprozess ein, der auf allen Ebenen durch Spannungen und Widersprîche gekennzeichnet war. Wesentliche dieser Widersprîche fanden sich bereits im Parteiprogramm, das man eher als Manifest bezeichnen kann, und zwar im Hinblick auf drei grundlegende Termini und ihre Definitionen: Zionismus, Sozialismus und Kibbuzwesen. Zionismus wurde prinzipiell als »vollstndige Korrektur [sc. des hebrischen Volkes] durch die Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft in Palstina« in zwei Phasen angesehen: zunchst die Errichtung einer nationalen Heimsttte, die in der Lage sein werde, sich wirtschaftlich eigenstndig zu erhalten, und der dann die sozialistische Revolution folgen sollte. Vor diesem Hintergrund wurde der Zionismus als »temporres Gebot« verstanden, das einer Generation îbertragen worden war. In einem 22 Ebd., S. 108. 23 Ebd., S. 109.

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Abschnitt der ideologischen Thesen des Ha’Kibbuz Ha’Arzi mit der ˜berschrift »Sozialitt« heißt es: »Wir sehen in der Arbeiterbewegung in Palstina einen organischen Bestandteil des Lebens der Arbeiter in aller Welt, die ihren Kampf im Namen der Befreiung der arbeitenden Menschheit und der Aufhebung der Klassen fïhren. Die neue soziale Gesellschaft wird durch eine Aufbesserung des Status und der Bildung des Arbeiters zwecks ˜bernahme der Regierung sowie Leitung des Marktes und Bestimmung der Produktion einerseits und der Zerstçrung des bestehenden Regimes andererseits aufgebaut werden.«24 Diesem Manifest gemß sollten die Kibbuzim die »Pionierbedingungen der neuen Gesellschaft« schaffen und »der Rîckhalt des Klassenkampfes sein.«25 Den Widerspruch zwischen Zionismus und marxistischem Sozialismus versuchte man durch eine »Lehre in zwei Phasen« zu îberbrîcken. Es herrschte hier die Ansicht, dass die zionistische Pionierphase von der sozialistisch-revolutionren Phase innerhalb weniger Jahre abgelçst werde. »Der Moment liegt nicht in ferner Zukunft«, ußerte Ya’ari, »es ist lediglich eine Frage von zehn bis fînfzehn Jahren […]. Dann mîssen wir nach ˜bergangsformen von der zionistischen Politik zu einer Politik des Klassenkampfes finden.«26 Der wesentlich schwerer wiegende Widerspruch zwischen marxistischem Sozialismus und Kibbuzwesen erforderte eine enorme sprachliche Akrobatik. Z. Landshot legte im Jahre 1944 eine soziologische Studie zu den Kibbuzim vor. Darin bezog er sich auf eine Spaltung, die in den Kibbuzim des HaShomer HaZa’ir zwischen dem »Wesen des Kibbuz« und dem »marxistischen Inhalt« entstanden war. Auf Grund seines Vergleichs der HaShomer HaZa’ir-Kibbuzim mit Kommunen in anderen Lndern sah Landshot die ˜bernahme des »ideologischen Kollektivismus« als einen gradlinigen und notwendigen Prozess zur Fortsetzung der »freiwilligen Lebensgemeinschaft« des HaShomer HaZa’ir an, wenngleich seiner Ansicht nach der marxistische Inhalt der Bewegung der Lebensform der Kibbuzim widersprach. »Die marxistische Theorie«, so seine Auffassung, »ist nicht der unmittelbare Ausdruck der ideologischen und wirtschaftlichen Situation des zionistischen Pioniers. Zudem ist es unmçglich, sie in eine akzeptable Verbindung ausgerechnet mit jenen Prinzipien zu bringen, die vom Ha’Kibbuz Ha’Arzi fîr das gemeinschaftliche Leben in den Kibbuzim festgelegt wurden.«27 Wenn dies der Wirklichkeit entsprach, kann man fragen, weshalb die Grînder 24 Die ideologischen Thesen des Ha’Kibbuz Ha’Arzi seit der Grîndung des HaShomer HaZa’ir, ebd., S. 156 – 158. 25 Ebd. 26 Meir Ya’ari: Gesprch vom 6. 11. 1926 (Hebr.), ebd., S. 95. 27 Z. Landshot: Die Gruppe – Eine soziologische Studie der Ansiedlung des Ha’Kibbuz Ha’Arzi in Erez Israel, Jerusalem 1944, S. 73 – 79 (Hebr.).

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des Ha’Kibbuz Ha’Arzi dann dennoch auf einem »marxistischen Inhalt« bestanden. Einer der Grînde resultierte aus der »roten Gefahr«, die, wie bereits angedeutet, die Mitglieder der Bewegung in Europa bedrohte. Die Grînder des Ha’Kibbuz Ha’Arzi waren der Ansicht, dass durch die ˜bernahme des Marxismus »der marxistische Wolf gesttigt bleibt, so dass das zionistische Lamm dadurch îberleben kann.« Eine andere Erklrung ist sozial-psychologischer Art: Die Bewegung des HaShomer HaZa’ir konnte nicht auf die Existenz jener »çkologischen Umwelt« verzichten, die sie whrend der Jahre ihres formalen Bestehens selbst geschaffen hatte. Sie konnte sogar dann nicht darauf verzichten, als es die objektiven Umstnde eigentlich erforderlich machten, so dass die ˜bernahme des Marxismus die dafîr erforderliche ideologische Legitimation darstellte. Hier darf man nicht vergessen, dass die ersten Mitglieder des HaShomer HaZa’ir, die nach Palstina kamen, im Land auf Bewegungen und Organisationen stießen, die eine marxistisch-russische Orientierung hatten wie z. B. Achdut HaAvoda, HaPoel HaZa’ir, Gdud HaAvoda, und zu denen der HaShomer HaZa’ir ein stark antagonistisches Verhltnis aufbaute. Ausgerechnet als diese Bewegungen und Organisationen auf einen marxistischen Dogmatismus zu verzichten begannen, um sich der besonderen Realitt im Land anzupassen, îbernahm der HaShomer HaZa’ir mit zunehmender Begeisterung den Marxismus, denn auf diese Art und Weise konnte er weiterhin sein separatistisch-elitres Sektierertum wahren. Der marxistisch-ideologische Kollektivismus widersprach nicht nur der nationalistischen Auffassung der Mitglieder des HaShomer HaZa’ir sowie dem Kibbuzleben, sondern auch zentralen Prinzipien ihres Charakters als »freie Jugendbewegung«. Dies zuzugeben fiel den meisten Mitgliedern allerdings sehr schwer. So gebrauchten sie weiterhin die sprachlichen Termini der Jugendbewegung, um der Tradition der Vergangenheit wenigstens mit einem Lippenbekenntnis Respekt zu zollen. Sie stellten sich weiterhin als eine »Gemeinschaft« dar, die »ihre Arbeit mittels Kreativitt und nicht durch Politik« oder in Form einer Partei vorantreibt, und behaupteten, dass die »ideologische Kreativitt« des Ha’Kibbuz Ha’Arzi auch fîr die Jugendbewegung im Ausland verpflichtend sei, obschon sie weiterhin betonten, dass dies nicht zwangslufig eine parteipolitische Jugendbewegung aus ihr mache. Sie hoben weiterhin den Stellenwert der Freiheit des Individuums hervor, whrend die Akzeptanz des »Urteils der Bewegung« in der Praxis zum »Gebot der Stunde« wurde. Dialektische Spannungen zwischen der alten und der neuen Terminologie, zwischen der Rhetorik und der Realitt, die im Ha’Kibbuz Ha’Arzi seit der Grîndungsstunde bestanden, sollten die Bewegung noch îber viele weitere Jahre begleiten. Vor allem im Hinblick auf die Rolle der Frau hinkte die Realitt des Kibbuz stark hinter der auf Gleichberechtigung ausgerichteten marxistischen Rhetorik hinterher. Dies gilt sowohl fîr das Selbstbild der Frau im Kibbuz als auch fîr die Bezugnahme der

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Mnner auf Frauen, die weiterhin von den bîrgerlich-konservativen Normen geprgt blieb. In einem Artikel, den ein Mitglied des Frauenausschusses des Ha’Kibbuz Ha’Arzi im Jahre 1938 verçffentlichte, heißt es dazu: »So zahlreich wie die Trume, wie wir einst bezïglich der Korrektur des Lebens des Individuums in der Gesellschaft hegten, so zahlreich sind heute in der Realitt auch die Verzichte. […] So ist es auch im Hinblick auf die Lçsung der Frage der Kibbuzgesellschaft geschehen […]. Hier und da dreht sich das Rad zurïck und das typische Bild sticht hervor, dass sich die Frauen des Kibbuz fast ausschließlich zwischen Lagerrumen und Kïche hin und her bewegen. […] Frïher einmal war das Streben nach einer maximalen Gleichberechtigung zwischen mnnlichen und weiblichen Mitgliedern in allen Lebensbereichen eines der grundlegendsten Prinzipien der Bewegung.«28 Der Beitrag endet mit einem Aufruf, dem mnnlichen Monopol in einigen Bereichen ein Ende zu setzen und »sich vom unbewussten Joch der mnnlichen Kultur zu befreien.«29 Der Ha’Kibbuz Ha’Arzi wurde 1927 gegrîndet. Bis zur Grîndung der HaShomer HaZa’ir-Partei im Jahre 1946 vergingen also fast zwei Jahrzehnte, die eine entscheidende Zeit fîr die Formung der Bewegung des HaShomer HaZa’ir im Land waren. Zu Beginn dieser Zeitspanne gab es in Palstina noch keine Erziehungsjugendbewegung, und der Ha’Kibbuz Ha’Arzi umfasste lediglich fînf Kibbuzim bzw. Kommunen mit weniger als 300 Mitgliedern im Alter zwischen 25 und 27 Jahren, die zumeist mit der Dritten und Vierten Alija aus Galizien und Polen ins Land gekommen waren. Die Heterogenitt, die die Mitglieder dieser Kibbuzim im Hinblick auf Alter, Herkunftslnder und soziokulturelles Profil charakterisierte, îbertrug sich zunchst nicht auf die ideologische Ebene, da auch weiterhin unterschiedliche ideologisch-politische Meinungen sowie Meinungsverschiedenheiten îberhaupt zugelassen wurden. Gegen Ende dieser beiden Jahrzehnte gestaltete sich das Bild hingegen vollkommen anders: In Palstina war in den 1950er Jahren bereits eine Erziehungsjugendbewegung aktiv, der 5.500 Mitglieder angehçrten. Der Ha’Kibbuz Ha’Arzi umfasste mehrere Dutzend Kibbuzim mit rund 7.500 Mitgliedern unterschiedlichen Alters, die zumeist mit der Fînften Alija nach Palstina gekommen und unter denen nur sehr wenige im Land geborene Mitglieder waren. Der Ha’Kibbuz Ha’Arzi grîndete Bildungseinrichtungen (die bedeutendste im Kibbuz Mishmar HaEmek), einen eigenen Verlag (Sifriat HaPoalim, hebrisch: Verlag der Arbeiter) sowie eine politische Partei, die Sozialistische Liga genannt wurde. Es handelte 28 Hedim (Hebr.: Echos) – Zu Fragen der Kibbuzgesellschaft, September 1938, S. 18 – 19 (Hebr.). 29 Ebd.

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sich um ein umfassendes und komplexes Netzwerk, das vielfltige Funktionen erfîllte. Die ideologischen Positionen hingegen waren fortan nicht mehr durch Vielfalt gekennzeichnet: Die Bewegung, deren Entwicklung in allen Bereichen durch den Ha’Kibbuz Ha’Arzi vorgegeben wurde, war auf der ideologisch-politischen Ebene zu einer monolithischen Bewegung geworden. In der Grîndungsphase des Ha’Kibbuz Ha’Arzi hatte in der Bewegung ein gewisser Pluralismus geherrscht, wenn auch nur begrenzt, der dann allmhlich durch einen leninistisch-stalinistischen Marxismus ersetzt wurde. Dieser Prozess vollzog sich schrittweise in den 1930er und 40er Jahren und geht einerseits auf die Vernderung des Charakters der Bewegung in Europa zurîck und steht andererseits mit der Realitt in Palstina in Zusammenhang, mit der vor allem die lteren Mitglieder konfrontiert worden waren. Die Mitglieder der Bewegung, die mit der Fînften Alija ins Land kamen, stellten im Grunde genommen eine neue Generation dar, die sich in vielerlei Hinsicht von den Grîndern des Ha’Kibbuz Ha’Arzi unterschied, die mit der Dritten und Vierten Alija nach Palstina gekommen waren. Die Grînder des Ha’Kibbuz Ha’Arzi gehçrten wie bereits gesagt zur »Generation von 1914«, whrend die Angehçrigen der Fînften Alija in den 1920er Jahren sowie zu Beginn der 1930er Jahre herangewachsen waren, so dass ihre Jugendjahre durch die Weltwirtschaftskrise und die ideologische Polarisierung zwischen Faschismus und Kommunismus gekennzeichnet waren. Die Welle der »roten Assimilation«, die damals viele junge Juden der europischen Intelligenz erfasste, beeinflusste auch die neue Generation der Mitglieder des HaShomer HaZa’ir (insbesondere die aus Galizien stammenden), denn sie trafen in Palstina mit bereits gefestigten radikalen Ansichten ein. Die Mitglieder der neuen Generation des HaShomer HaZa’ir gehçrten ebenso wie die lteren Mitglieder der Bewegung in soziokultureller Hinsicht zur jîdisch-bîrgerlichen Intelligenz, die damals jedoch einen wirtschaftlichen Niedergang durchmachte, was sich ebenfalls auf die politischen Haltungen auswirkte. Zudem hatte sich der Integrationsrahmen in Palstina verndert: Zu Beginn der 1920er Jahre hatte man die meisten Neueinwanderer in Kibbuzim untergebracht, in denen sie fest eingebunden waren und in deren Rahmen sie am Aufbau des Straßennetzes im Land mitwirkten. Spter hingegen erfolgte ihre Unterbringung in landwirtschaftlichen Dçrfern. Die schlechten Arbeitsbedingungen und die niedrigen Lçhne fîhrten zu Konfrontationen mit den jîdischen Arbeitgebern, wobei sich die jîdischen mit den arabischen Arbeitern solidarisierten, was ihr radikales Klassenbewusstsein noch weiter schrfte. Die meisten dieser Mitglieder waren nicht mit dem Kompromiss einverstanden, den der Ha’Kibbuz Ha’Arzi bezîglich des ˜berganges der zwei Phasen vorgeschlagen hatte, so dass die Waagschale sich u. a. durch ihren Einfluss mehr und mehr zu Gunsten der im Manifest formulierten sozialistischrevolutionren Phase neigte.

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Auf diese Weise wurde die Haltung von Ya’ari, Weintrob und anderen gestrkt, die sich mit ihrer marxistisch-leninistischen Linie durchgesetzt und an die Spitze der Bewegung gestellt hatten. Im Jahre 1933 fllte der Ausschuss des Ha’Kibbuz Ha’Arzi weitreichende Entscheidungen, deren »wahre« Bedeutungen nach Ansicht von Tzisik, der sowohl Mitglied als auch Erforscher der Bewegung war, folgende waren: »Erstens: Die Verpflichtung fïr den Weg, den die Oktoberevolution vorgibt. […] Zweitens: Die Betrachtung Sowjetrusslands als zentralen Rïckhalt fïr den internationalen Kampf der Arbeiterbewegung gegen das kapitalistische Regime. […] Drittens: Der ideologische Kampf gegen die Verleumdung Sowjetrusslands, ohne dabei die Kritik an jenen Sachverhalten zu unterdrïcken, die zu kritisieren sind. […] Viertens: Die ˜bernahme des Marxismus als ïbergreifende Methode. […] Fïnftens: die politische Orientierung auf das, was man als ›Krfte von morgen‹ bezeichnet, was sich erneut auf Sowjetrussland bezieht.«30 Nach der zwçlften Tagung des Ha’Kibbuz Ha’Arzi-Ausschusses 1935 wurde die Bindung an die Sowjetunion noch strker, denn man beschloss, dem AustroMarxismus den Rîcken zu kehren und stattdessen den Marxismus-Leninismus zu îbernehmen. Die Mngel des sowjetischen Regimes, der offene Antisemitismus, der beispielsweise in den Moskauer Prozessen von 1936 zum Ausdruck kam, von denen auch einige Mitglieder der Bewegung betroffen waren, das Molotow-Ribbentrop-Abkommen von 1939 und das 1940 ratifizierte Wirtschaftsabkommen zwischen der Sowjetunion und Deutschland lçsten in der Bewegung zwar Kritik aus, fîhrten zu Meinungsverschiedenheiten, zu einer schwer wiegenden Frustration und auch zu Verwirrung, sollten letztlich aber nichts daran ndern, dass weiterhin eine Anbindung an die Sowjetunion hochgehalten wurde. Auch als der Bewegung in Palstina durch eingewanderte Mitglieder direkte Zeugenberichte îber die Vorgnge in der Sowjetunion zu Ohren kamen, wurden diese ignoriert oder gar geleugnet.31 Die Bewegung des HaShomer HaZa’ir befîrwortete weiter die Oktoberrevolution und die Diktatur des Proletariates und sah in allen Fehlern und Niederlagen des sowjetischen Regimes lediglich »einige Flecken auf der Oberflche der Sonne«. Nicht nur 30 M. Tzisik: The Attitude of HaShomer HaTzair to Communism and the Soviet Union 1913 – 1948, Tel Aviv 1991, S. 52 – 53 (Hebr.). 31 Dies ist nur eines von vielen Beispielen, die dies belegen: Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges kamen Mitglieder des HaShomer HaZa’ir nach Palstina, die in der polnischen Armee in Russland gedient hatten und der Leitung des HaShomer HaZa’ir îber die dortigen Ereignisse berichteten. Ya’aris Antwort darauf fiel folgendermaßen aus: »Mehr als nur einmal haben wir zu unserem Leidwesen gute Mitglieder angehçrt, die ins Land gekommen sind und uns ein falsches Bild eines gesunden Russland prsentiert haben. Ich weiß, dass sie das Leid des Umherwanderns zu dieser Meinung kommen ließ.«, ebd., S. 237.

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diesbezîglich, sondern auch in anderen Bereichen durfte Kritik nur innerhalb der Familie geußert werden, whrend nach außen hin bedingungslose Einheit zu demonstrieren war. Parallel zu diesem Prozess der ideologischen Radikalisierung durchlief der Ha’Kibbuz Ha’Arzi eine Entwicklung der parteipolitischen Institutionalisierung, denn nach und nach bildete diese Dachorganisation alle Charakteristika aus, die eine politische Partei auszeichnen. Obwohl man sich weiterhin als »eigenstndige politische Strçmung« und nicht als Partei bezeichnete, unterschieden sich die politischen Aktivitten der Mitglieder des Ha’Kibbuz Ha’Arzi nicht von denen anderer Parteien der Arbeiterbewegung, wie ihnen Berl Katznelson vorwarf: »Ihr habt den Parteien den Krieg erklrt und erzieht unsere Mitglieder dazu, sich der ›politischen Strçmung‹ anzuschließen. Das ist nichts anderes als ein rein verbaler Krieg.«32 Als politische Kçrperschaft bezog der Ha’Kibbuz Ha’Arzi Stellung zu allen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Fragen, die auf der Tagesordnung der Arbeiterbewegung, der Zionistischen Organisation und der gesamten Gesellschaft Palstinas standen. Darîber hinaus formulierte diese Dachorganisation auch Haltungen zu internationalen politischen Themen, die weit îber die unmittelbare Realitt Palstinas hinausgingen, und entwickelte zukînftige revolutionre Perspektiven. Um einen wirklichen politischen Einfluss auszuîben, war der Ha’Kibbuz Ha’Arzi jedoch gezwungen, seinen eingeschrnkten politischen Rahmen auszudehnen, der lediglich »eine einzige gesellschaftliche Form der Klasse« umfasste, d. h. Mitglieder der Kibbuzim bzw. Kommunen. Eine solche Expansion ließ sich auf zwei Wegen bewerkstelligen: durch die Vereinigung mit einer der Parteien der Arbeiterbewegung oder die Grîndung einer eigenen Partei, die weit îber den Rahmen des Ha’Kibbuz Ha’Arzi hinausgehen wîrde. Da die Mitglieder des Ha’Kibbuz Ha’Arzi immer noch der Ansicht waren, dass die Grîndung einer Partei den Prinzipien der Bewegung grundlegend widerspreche, schlugen sie zunchst den ersten Weg ein, indem sie sich der Partei Mapai (Hebrisch: Partei der Arbeiter des Landes Israel) anzuschließen versuchten. Erst als diese Option scheiterte, wandten sich die Mitglieder des Ha’Kibbuz Ha’Arzi der Grîndung einer eigenen Partei zu. Die Vereinigungsversuche mit Mapai, die sich îber den gesamten Zeitraum der 1930er Jahre erstreckten, scheiterten 1939; dadurch vertieften sich die Kluft und die Streitigkeiten zwischen Mapai und Ha’Kibbuz Ha’Arzi weiter. Doch schon vor deren Scheitern hatte der Ha’Kibbuz Ha’Arzi Schritte eingeleitet, die ihn zur Partei machen sollten: 1936 wurde die Sozialistische Liga gegrîndet, die eine Art ›urbane Version‹ des Ha’Kibbuz Ha’Arzi war. In der Sozialistischen Liga hatten sich vor allem ehemalige Kibbuz-Mitglieder sowie Personen organisiert, 32 Berl Katznelson: Rede vor dem Ausschuss des Chalutz Danzig, in: Davar (10. 10. 1927, Hebr.).

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die sich mit dem Weg des HaShomer HaZa’ir identifizierten. Die Sozialistische Liga war keine eigenstndige Partei, sondern agierte auf der Grundlage des Manifestes des Ha’Kibbuz Ha’Arzi, der sich die Kontrolle in allen Bereichen vorbehielt. Mit dieser Grîndung wurde im Ha’Kibbuz Ha’Arzi letztlich der Boden fîr die Schaffung einer eigenstndigen Partei vorbereitet. In seiner Rede »Zum Abschluss der fînfzehn Jahre«, die Meir Ya’ari whrend der sechsten Zusammenkunft des Ausschusses des Ha’Kibbuz Ha’Arzi hielt, sagte er : »Seit Grïndung des Ha’Kibbuz Ha’Arzi haben wir, wie uns klar geworden ist, die Verwirklichung der Vision in der breiten §ffentlichkeit verfolgt, denn wir haben uns nicht mit der Verwirklichung von Inhalten des HaShomer begnïgt. Wir wussten, dass wir diese Vision nicht ausschließlich innerhalb der Bewegung des HaShomer HaZa’ir und auch nicht ausschließlich innerhalb der Kibbuz-Bewegung wïrden umsetzen kçnnen. Wir wussten, dass wir die §ffentlichkeit der Arbeiter erreichen mïssen, da sie nun einmal existiert. Prinzipiell htten wir schon in der Vergangenheit den Begriff der Partei nicht mehr abwerten dïrfen.« Zum Abschluss dieser Tagung sagte er dann: »Wir kçnnen nicht davon ausgehen, dass der Kibbuz auf seine Umgebung einzig durch sein bloßes Bestehen und durch das Beispiel seines Lebensweges abfrbt. Die Vision wird nicht gesehen, wenn wir sie nicht umsetzen.«33 Anscheinend glaubte man schon damals im Ha’Kibbuz Ha’Arzi nicht mehr daran, dass die eigene ehemalige Avantgarde dauerhaft Einfluss haben konnte. Deshalb kam man zu dem Schluss, dass eine Parteigrîndung der richtige Weg sei, die Massen zu aktivieren. Und tatschlich erfolgte nur vier Jahre spter die Grîndung der HaShomer HaZa’ir-Partei, die eine Vereinigung des Ha’Kibbuz Ha’Arzi und der Sozialistischen Liga darstellte. Die Leiter der Partei verkîndeten, dass »die Partei die historische Kontinuitt der HaShomer HaZa’ir-Bewegung fortsetzen wird«, whrend die Jugendbewegung, die die Grîndung der Partei vorangetrieben und begrîßt hatte, bekannt gab, dass dies »zu keinerlei Vernderung der Werte der Bewegung« fîhren wîrde. Doch erneut sollte die Realitt anders aussehen und nicht mit diesen Ankîndigungen in Einklang stehen. Der Prozess der Indoktrinierung der Jugendbewegung, die von Anfang an unter der Schirmherrschaft des Ha’Kibbuz Ha’Arzi stand, hatte schon vor Grîndung der Partei eingesetzt und sollte nachfolgend wesentlich an Einfluss gewinnen. Sowohl politische Themen als auch die politischen Aktivitten spielten eine immer wichtigere Rolle im Rahmen der Bewegung, die sich auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene 33 Meir Ya’ari: Abschließende Worte, in: HaShomer HaZa’ir 2, November 1942 (Hebr.).

Die Jugendbewegung »HaShomer HaZa’ir« in Palstina

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mit der Partei identifizierte. Somit wurde aus der Jugendbewegung des HaShomer HaZa’ir in jeder Hinsicht eine politische Jugendbewegung. Dadurch sollten sich allerdings auch die Befîrchtungen der Gegner einer Politisierung bewahrheiten, die davor gewarnt hatten, dass die »Schaffung einer eigenstndigen Partei« dazu fîhre, dass aus der Jugendbewegung eine »Organisation der parteipolitischen Jugend« werde. Das Problem der Autonomie der HaShomer HaZa’ir-Jugendbewegung charakterisierte nicht nur die Beziehungen zwischen der Erziehungsjugendbewegung des HaShomer HaZa’ir und dem Ha’Kibbuz Ha’Arzi, sondern in gleicher Weise alle anderen Pionierjugendbewegungen whrend der Zeit der vorstaatlich-jîdischen Ansiedlung in Palstina. Unter Bezugnahme auf die revolutionren Jugendbewegungen in Europa behauptete Liebenstein 1937, dass alle Bewegungen, die vor dem Ersten Weltkrieg gegrîndet worden waren, lediglich ˜bergangsformen gewesen seien, denen »durch die starke soziologische Gesetzmßigkeit immer ein Ende in Form einer grçßeren Versklavung gesetzt wurde […] als jener Versklavung, unter der sie vor der Revolte der Jugend« standen. Dieses Phnomen machte sich seiner Ansicht nach vor allem in der hebrischen Jugendbewegung bemerkbar : »Der Charakter des Endes unserer Autonomie – Anschluss der Bewegung an Kibbuz-Institutionen, die fïr die organisierten Mitglieder zu einem bindenden Ort der ›Verwirklichung‹ wurden – fïhrte dazu, dass die Verbitterung der Gruppe der lteren Mitglieder […] immer exklusiver und effektiver wurde.«34

34 Zitiert nach Hanoch (Hg.): Weg der Jugend. Band zu den Angelegenheiten der zionistischen Jugend, Jugendabteilung der Zionistischen Leitung, Jerusalem 1937, S. 50 (Hebr.).

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Genealogien des Nationalismus: die Erde von Eretz Israel1

Vom Beginn der Zweiten Alija (Aufstieg = Einwanderung ins Land Israel) in den Jahren 1904/1905 bis zum Ende der Dritten Alija im Jahr 1923 kam eine neue Art von jungen Einwanderern nach Eretz Israel. Sie wurden unter dem Namen Chalutzim (Pioniere) bekannt. Im vorliegenden Beitrag mçchte ich anhand einer Neubewertung des Einwanderungs- und Ansiedlungsprozesses die Verbindung und Verbundenheit dieser Chalutzim zum Land Israel untersuchen. Das Problem der Einwanderung der Pioniere ins Land Israel und ihrer Ansiedlung und damit die Fragen nach ihrer Verbindung und Verbundenheit mit dem Land, wurden in der Historiographie von unterschiedlichen Standpunkten aus behandelt. Man kann sie im Wesentlichen in zwei Kategorien einteilen: zum einen in von Interessen an materiellen Aspekten bestimmte Forschungen und zum anderen in Arbeiten, die sich den geistes- und kulturgeschichtlichen Dimensionen widmen. Die zur ersten Kategorie gehçrigen Arbeiten beschreiben und interpretieren die Verbindung der Pioniere zu Eretz Israel hauptschlich als politischen oder sozioçkonomischen Prozess und gelten entsprechend den politischen Organisationen der Chalutzim, wie besonders Arbeitergewerkschaften und politischen Parteien. Hinzu kommen diverse, aktiv am Aufbau beteiligte zionistische Organisationen in Eretz Israel und außerhalb wie etwa der Keren Kayemet le-Israel (Jîdischer Nationalfonds zum Ankauf von Grundbesitz) und die zionistische Gewerkschaft. Im Hinblick auf die Analyse sozioçkonomischer Strukturen der Chalutzim stehen Kollektive als Ansiedlungsform der Zweiten Alija (erstes Kollektiv 1907 in Sedgera gegrîndet) und nationale Landwirtschaftsgîter (zur Beschftigung jîdischer Landarbeiter) im Mittelpunkt des Interesses, hier besonders im Zusammenhang mit der Frage nach ihren Beziehungen zu anderen sozioçkonomischen Strukturen wie Moshavot (landwirtschaftliche Siedlungen auf privater Basis, im Unterschied zu Kooperativen) und einzelnen Stdten. Die der zweiten Kategorie zuzurechnenden Arbeiten, die geistes- und kul1 Aus dem Hebrischen von Louise Hecht.

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turgeschichtliche Aspekte fokussieren, verstehen die Verbindung der Chalutzim mit dem Land Israel hauptschlich als ideologischen Prozess. Sie thematisieren die verschiedenen Ideologien und Utopien der Pioniere, wie besonders den Zionismus, den Nationalismus und den Sozialismus, aber auch die Konkurrenz dieser Richtungen untereinander und in der Abgrenzung zu kontrren Ideologien, wie vor allem Bundismus (antizionistische, jîdische Arbeiterbewegung in Osteuropa) und Liberalismus. Zu diesen Arbeiten sind auch Untersuchungen zu rechnen, die die neue, von den Chalutzim in Eretz Israel etablierte Kultur zum Thema haben. Wesentliche Bestandteile dieser Kultur sind Konzepte einer selbst bestimmten Identitt, die auch und besonders Sprache und Kçrper (Stichwort: der Neue Jude) gelten. Zur Kategorie der geistesgeschichtlich orientierten Arbeiten rechne ich auch jene, die die Verbindung und Verbundenheit der Chalutzim zu Eretz Israel als Realisierung historischer oder religiçser Bindungen zum Land sehen. Sie nehmen besonders die »natîrliche« Beziehung der Juden zu Eretz Israel in den Blick und interpretieren die Verbundenheit der Chalutzim mit dem Land als Realisierung bzw. Aktualisierung der traditionellen jîdischen Bande zu Eretz Israel, die durch die zionistische Bewegung zum ersten Mal in der jîdischen Geschichte konkrete und erhebliche Bedeutung annahmen. Ein Aspekt wurde hierbei von der Historiographie allerdings nahezu vçllig ignoriert, nmlich das Begehren und die Leidenschaft der Chalutzim fîr Eretz Israel. Die politischen, çkonomischen, ideologischen und historisch-religiçsen Deutungen der Einwanderung nach und die Ansiedlung im Land Israel differieren erheblich voneinander. So unterscheiden sich beispielsweise die politischen Ansichten der Organisation des Poalei Zion (Arbeiter Zions; 1905 in Eretz Israel gegrîndete Partei mit anfangs marxistischer Ausrichtung) von denen des Ha-po’el Ha-tza’ir (Der Junge Arbeiter ; ebenfalls 1905 in Eretz Israel gegrîndete Partei nationaler Sozialisten), die wirtschaftlichen Interessen der Kvutzah (Gruppe; kleine, landwirtschaftliche Ansiedlung mit kollektivem Charakter) von denen des Moshav Ha-ovdim (landwirtschaftliche Siedlungsform der Dritten Alija; Mischform aus kollektiver und Privatwirtschaft) und die Weltanschauung von Aaron David Gordon (1856 – 1922, Grînder von Ha-po’el Hatza’ir) von jener David Ben-Gurions (1886 – 1973). Dennoch gibt es ein Element, das die Erfahrung der Pioniere wie ein Leitmotiv begleitet: die Leidenschaft fîr das Land Israel. Die Lebenserfahrung der Chalutzim kommt in Begriffen wie Anziehung, Sehnsucht, Begeisterung, Begierde, Verlangen und Liebe zum Land Israel zum Ausdruck. Whrend die politischen, çkonomischen, ideologischen und historisch-religiçsen Aspekte des Pionierwerks von der Historiographie ausfîhrlich behandelt wurden, hat man dieser Leidenschaft bisher kaum Beachtung geschenkt. In den wenigen Fllen, in denen sich einzelne Forscher mit der Leidenschaft der Chalutzim als Grund ihrer Verbundenheit mit dem Land Israel auseinan-

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dersetzten, fassten sie diese entweder als naiv oder als zynisch auf. Die vielfach vorherrschende Interpretation als naive Einstellung sieht die Einwanderung der Juden ins Land Israel und ihre Ansiedlung als Ausdruck einer selbstverstndlichen und naturgegebenen Leidenschaft, erscheint es doch natîrlich, dass ein Jude Sehnsucht nach dem Land der Vorvter empfindet. Die Interpretation als zynische Einstellung der Pioniere sieht in der Einwanderung und Ansiedlung der Chalutzim dagegen den Ausdruck vorwiegend çkonomischer, in der Regel kolonialer Interessen. Die Leidenschaft hat hier also, in marxistischen Begriffen gesprochen, die Funktion eines ideologischen ˜berbaus oder gilt als Ausdruck eines romantisch-orientalistischen Bewusstseins.2 In beiden Fllen kommt der Leidenschaft der Pioniere kein eigenstndiger und positiver Wert zu. Im ersten Fall wird sie als etwas Selbstverstndliches angesehen, im zweiten als zuflliges Nebenprodukt materieller Interessen. In einer Ausgabe von Mibifnim (Von Innen), dem Bulletin des Kibbuz Eyn Charod, vom 14. Mai 1925 schrieb eines der Kibbuzmitglieder, dass man beim Aufbau von Eretz Israel zwischen zwei Arten von Pioniergeist unterscheiden mîsse: Einer sei der »erobernde Geist«, der »sein Ziel nicht kennt und hauptschlich einen Weg bahnen, voranstîrmen, sich ausbreiten« will. Der zweite sei der »aufbauende Geist«, der »keine Brîcken verbrennt, nicht mit geschlossenen Augen voran schreitet und bei seinem Aufbauwerk eine klare, ununterbrochene Linie hinterlsst.«3 Hiermit sind letztlich auch die beiden Seiten der Leidenschaft angesprochen, wie ich sie im hier vorstellen mçchte. Denn Leidenschaft hat sowohl eine wilde und anarchische Seite, die Grenzen aufheben will, als auch eine gegenteilige, disziplinierende, die genau diese Grenzen zieht. Die Leidenschaft der Pioniere, so meine These, kennt keine Grenzen, und eben dadurch schafft sie sie. Das Ignorieren von Grenzen findet seinen Ausdruck in der gegenseitigen Durchdringung zwischen den Chalutzim und Eretz Israel, der Erde, dem Raum, der Landschaft. Diese Seite wird im ersten Teil des vorliegenden Essays prsentiert. Im zweiten Teil wird dann Grenzziehung anhand diverser Pionierleistungen, wie insbesondere die landwirtschaftliche Arbeit und das Anlegen von Wegen und Siedlungen dargestellt.

2 Die naive Version ist die in der Literatur vorherrschende. Zur Interpretation als Zynismus vgl. Amir Ben-Porat: Opportunity, Desire and the Break into Palestine (Hebr.), in: Iyunim Bitkumat Israel 4 (1994), S. 278 – 298. 3 Ch. Liebmann: Auszîge aus einem Gesprch (Hebr.), in: Mibifnim (14. Mai 1925), S. 275.

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›Grenzenlos‹: Zum Phnomen der Entgrenzung im Verlangen der Chalutzim Die Erde ist zweifellos das zentrale Objekt der Begierde fîr die Chalutzim. Mit ihrer Ankunft im Land Israel wollten sie sich mit ihr vereinigen, in ihr aufgehen. Nach Eli’ezer Shohat kann nur die Arbeit »die Fden weben, die uns inniglich und wahrhaftig mit dem Land verbinden.«4 Shohat unterschied zwischen zwei Arten der Verbindung zur Erde, und zwar einer ußerlich-mechanischen und einer innerlich-organischen. Die Bearbeitung der Erde, so seine Auffassung, »wird eine ebenso starke seelische Beziehung zwischen uns und dem Land schaffen wie zwischen einem Maler und dem Bild, das er gemalt hat, und nicht eine von außen entstandene Beziehung wie zwischen einem Kufer und dem Bild, das er erworben hat.«5 Unter allen Arbeiten wurde beim Pflîgen, der Pioniersarbeit schlechthin, das Verlangen nach der Erde am ehesten verwirklicht. Whrend seines Aufenthaltes in Sedgra (1899 gegrîndeter Moshav in Galila, Station vieler Einwanderer der Zweiten Alija) beschrieb David BenGurion seine Gefîhle beim Pflîgen in einem Brief an seinen Vater folgendermaßen: »Wie angenehm und leicht ist doch das Pflïgen! Den Sterz des Pfluges in meiner Linken, den Ochsenziemer in meiner Rechten – so gehe ich hinter dem Pflug her und sehe, wie die Scholle aufgeworfen wird und bricht. Und die Ochsen gehen langsam, ruhig und gemessen wie stattliche Hausherrn. Und es bleibt genug Muße, zum Denken, Phantasieren, Trumen. Und ist es denn mçglich, nicht daran zu denken, whrend du gehst und die Erde von Eretz Israel pflïgst und andere Juden siehst, die die Erde ihres Landes pflïgen? Diese Erde, auf die deine Sohlen treten, dieses Land enthïllt sich dir mit all seinem Zauber, seiner ganzen Farbpracht […] Ist denn all dies nicht selbst ein Traum?«6 A.D. Gordon, der ›Philosoph der Leidenschaft‹ der Chalutzim fîr das Land Israel, der er in all seinen Schriften Ausdruck verlieh, sah in der Pionierarbeit in Eretz Israel einen effektiven Weg, um den Chalutz mit seiner natîrlichen Umgebung zu verweben. Seine Arbeit wird Teil der Arbeit der Natur: »In diesen Momenten [der Arbeit] wird das Herz des Menschen von einem allumfassenden Gefïhl der Erhabenheit ergriffen, das in der reinen Blue des Himmels liegt. Abgrïndige Tiefen durchdringen ihn. Und manch einer stellt sich 4 Eli’ezer Shohat: Nationale Schçpfung und Abrechnungen (1911), in: Ders.: Wege der Arbeit: Aufzeichnungen, Reden, Briefe (Hebr.), Tel Aviv 1967, S. 22. 5 Ebd., S. 22 f. 6 Brief von David Ben-Gurion an seinen Vater vom 1. Februar 1908 aus Sedgra, In: David BenGurion: The Letters of David Ben-Gurion (Hebr.), 1. Bd., Tel Aviv 1971, S. 116.

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vor, dass er selbst Wurzeln in jene Erde treibt, die er umgrbt; dass auch er, wie alle Pflanzen um ihn herum, von den Sonnenstrahlen, von der Himmelsnahrung, ernhrt wird; dass auch er dieses Leben teilt mit dem kleinsten aller Kruter, mit jeder Blume, jedem Baum; dass er eintaucht in die Tiefen der Natur, um aus ihnen aufzusteigen und emporzuwachsen in die Weite der großen Welt.«7 Die Leidenschaft der Chalutzim fîr Eretz Israel drîckte sich auch in einer physischen Verbindung mit der Erde aus: »Ein Mensch, der durch die Furchen schreitet, die seiner Hnde Arbeit in die Erde gezogen, fïhlt eine innige Verbundenheit mit der Scholle, mit der Erde. Es ist ein archaisches Gefïhl, welches man nicht beschreiben kann; ein Gefïhl von Wrme und mehr noch von Schutz und Geborgenheit. Nicht nur einmal kam es vor, dass einer der Genossen aufs Feld hinaus ging, die schweren Schollen abschritt, seine Hand hinein bohrte und sich zwischen den Furchen ausstreckte, um die Erde zu fïhlen, seine Erde.«8 Die physische Verbindung mit der Erde wurde nicht nur durch ihre Bearbeitung realisiert. Nach seiner Einwanderung ins Land Israel wurde Josef Weitz von heftigem Heimweh nach seinem Elternhaus geplagt, das er durch die Verbindung mit der Erde zu bekmpfen suchte. »Ich ließ mich auf den taufeuchten Sand sinken und wlzte mich in ihm in Einsamkeit«, schrieb er. »Ich mçchte mich mit der Erde des Landes vereinen, mit der Erde der Heimat, und erhalte keine Antwort.«9 Die Gewohnheit der Chalutzim, die Erde abzuschreiten, barfuss zu arbeiten und Wache zu stehen, sollte das Gefîhl der Verbundenheit mit der Erde des Landes intensivieren.10 Rachel Yana’it schrieb: »Jeder Schritt meiner Fïße erfreut mich, weckt schlummernde Seiten in meinem Kçrper und meiner Seele. Und ich frage mich, wie man jeden Einwanderer dazu bewegen kçnnte, das ganze Land der Lnge und der Breite nach zu durchwandern, um seinen Geist zu absorbieren, sich dem Wind und der Sonne auszusetzen und sich mit der Erde zu vereinen.«11 7 A.D. Gordon: Briefe aus Eretz Israel. Erster Brief vom Beginn des Ersten Weltkrieges, in: A.D. Gordon: Schriften (Hebr.), 1. Bd., Tel Aviv 1926, S. 231 f. 8 Eliyahu Karmiel: Deganya 3 (1947), in: Shmuel Gadon (Hg.): Wege der Kvutzah und des Kibbuz’. Anthologie von Ereignissen und Quellen (Hebr.), Tel Aviv 1958, S. 325. 9 Josef Weitz: Erste Bltter, in: Ders. Erste Bltter (Hebr.), Tel Aviv 1958, S. 125. 10 Ebd., S. 127; Bracha Cheves (Hg.): Buch der Zweiten Alija (Hebr.), Tel Aviv 1947, S. 184, 475, 503, 542 f, 698 f; Yehuda Ya’ari: When the candle was burning (Hebr.), Jerusalem 1969 (Erstausgabe 1937), S. 166 f; Rachel Yanait-Ben Zvi: We Ascend (Hebr.), Tel Aviv 1969, S. 8, 14, 17, 44, 153, 213; Brief von Ami Assaf von 1923, In: Ders.: Ausgewhlte Aufstze, Reden, Briefe (Hebr.), Tel Aviv 1968, S. 18. 11 Yana’it-Ben Zvi, We Ascend (siehe Anm. 10), S. 45.

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Die Beziehung der Chalutzim zur Erde von Eretz Israel ußerte sich auch in romantisch-erotischer Form. Die Chalutzim umarmten die Erde, um dadurch ihre Liebe auszudrîcken und sich mit ihr zu vereinigen; sie kîssten sie.12 Als Josef Fried kurze Zeit nach seiner Alija auf einem Esel zum Weinkeller in Rishon le-Zion (gegrîndet 1882; gemeinsam mit Petach Tikva erste zionistische Siedlung in Eretz Israel) ritt, gestand er folgende Phantasien bezîglich der Erde ein: »In diesen Stunden lechzt man danach, sich auf die Erde niederzuwerfen, sie zu umarmen, ihren Staub zu kîssen. Und dann bist du erregt, denn nur in diesem Land, nur auf dieser Erde kçnnen unsere Brîder wachsen und eine wahrhaftige Erneuerung erleben.«13 Die Chalutzim verlangten geradezu danach, sich mit der Erde zu vereinigen und sie zu kîssen, wie zahlreiche Zeitzeugnisse mit Darstellungen der Verliebtheit und Liebe zum Land Israel zeigen. Die Erde wird immer als weiblich bezeichnet, als eine Jungfrau, Geliebte oder ›Mutter Erde‹. Viele beschrieben ihre ersten Tage im Land als Flitterwochen und gaben ihrer Beziehung zur Erde einen erotischen Anstrich: Die Erde ist eine Jungfrau, der sie die Jungfrulichkeit rauben wollen;14 sie ist eine Geliebte, der sie gefallen, mit der sie sich verloben und die sie gar heiraten wollen. Eliyahu Rapaport aus Betanya berichtete, dass die Erde von Nuris, auf der sich seine Kvutzah angesiedelt hatte, fîr ihn und seine Gefhrten einer Braut glich: »Erde von Nuris! Klingt dies nicht wie der Name einer Braut? Sind wir nicht von der Ehrfurcht eines Brutigams ergriffen, der erkennt, der die Kenntnis seiner eigenen Generation zur Kenntnis der folgenden Generationen erhoben hat? Wie ein Brutigam, der sich selbst und alle Errungenschaften seiner Generation dem Schoß seiner Braut gibt fïr zukïnftige Generationen, so haben wir uns selbst dem Mutterleib der heiligen Erde gegeben.«15 12 A.M. Koler : An einem Festtag in Ben Shemen (Erinnerungen von A.M. Koler), in: Abraham Ya’ari (Hg.): Erinnerungen aus Eretz Israel. 120 Kapitel mit Erinnerungen vom jîdischen Leben im Land vom 17. Jh. bis heute (Hebr.), 2. Bd., Ramat Gan 1983, S. 780; Yehuda Erez (Hg.): Buch der Dritten Alija (Hebr.), 2. Bd., Tel Aviv 1964, S. 705, 810; Nathan Bistrizky : Days and Nights (Hebr.), Tel-Aviv 1978, S. 144, 150 f; Yana’it-Ben Zvi: We Ascend (siehe Anm. 9), S. 64; Me’ir Vilkenski: Aus den Tagen der Alija (1906 – 1911), in: Ders.: Aus den Tagen der Alija (Hebr.), Tel Aviv 1982, S. 117 f; Ziporah Zeid: Mit dem ›Ha-shomer‹ (SheikhAbrik-Gvaot Zeid, 1919 – 1945), in: Cheves, Buch der Zweiten Alija (siehe Anm. 10), S. 530. 13 Brief von Josef Fried an seine Frau vom 4. September 1908, in: Josef Fried: Ein Jahr in Eretz Israel (1908 – 1909): Notizen, Briefe, Tagebîcher von einem Teilnehmer an der Zweiten Alija (Hebr.), Ef ’al 1985, S. 38. 14 Josef Weitz: Ein strahlender Tag, in: Ders.: Erste Bltter (siehe Anm. 9), S. 250; Brief von David Ben-Gurion an seinen Vater vom 13. Mai 1907 aus Kfar Saba, in: Ben-Gurion, The Letters (siehe Anm. 6), S. 106. 15 Eliyahu Rapaport: In einem allgemeinen Gesprch, In: Kehilliyatenu (Hebr.), Jerusalem 1988, S. 33 f.

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R. schrieb in ihr Tagebuch: »[…] Ich bin nun schon ein Jahr im Land! […] Eretz Israel hat mich gut aufgenommen. […] Ohne Zwang und Druck habe ich mein neues Leben begonnen. Ich liebe Eretz Israel, wie ich mir die Liebe zu einer Mutter vorgestellt habe.«16 Und wie es dem Begriff der ›Mutter Erde‹ entspricht, wollten die Chalutzim in ihren Schoß zurîckkehren, suchten bei ihr Heilung und Trost in ihren Nçten: »Es kommt vor, dass ich in der Stille der Nacht im Zelt auf meiner Matte liege und der Schlaf meine Augen flieht. Von Ferne rauscht der See Genezareth und ïber meinem Kopf heulen Schakale […]. In diesen Stunden werde ich von einer unbndigen Lust erfasst, heimlich zu den Grben zu schleichen, mich auszustrecken und meinen Kopf in den Schoß der umgegrabenen Erde zu legen, wie in den Schoß einer barmherzigen, trçstenden Mutter – zusammengerollt zu liegen und stumm zu weinen; Trnen der Scham und des Makels fïr alle Generationen, aber auch Trnen der Freude fïr unsere Generation – der großen Freude darïber, dass die Schande endlich, endlich gesïhnt wird!«17 Die Chalutzim sehnten sich danach, in die Erde einzudringen und sie gleichzeitig in sich aufzunehmen. Immer wieder beschreiben sie das Gefîhl von Hunger und Durst nach dieser Erde, das whrend der langen historischen Periode der Trennung entstanden war.18 Der physiologische und konkrete Zustand gegenseitiger Durchdringung zwischen den Chalutzim und der Erde von Eretz Israel liegt unter anderem im Wasserbedarf begrîndet. Doch er entstand nicht nur aufgrund der physiologischen Bedîrfnisse, sondern befriedigte auch das Verlangen der Chalutzim, mit ihrer neuen Welt gleichsam zu verschmelzen. Wasser trinken ist daher keinesfalls nur ein physiologischer Akt. Die ›Dichterin Rachel‹ (Rachel Blubstein, 1890 – 1931; hebrische Dichterin, Chalutzah der Zweiten Alija) beschrieb das Gefîhl der Befriedigung nach einem Trunk von den Wassern des Sees Genezareth folgendermaßen:

16 R.: Diary (1925), in: Deborah Bernstein: The Struggle for Equality. Urban Women Workers in Prestate Israeli Society, New York/Westport, Connecticut/London 1987, S. 185. 17 Yitzchak Schwieger : An den Bruder in der Diaspora, in: Kuntres 66,3 (28. Januar 1921), S. 22. 18 Shmuel Dayan: Rîckblick auf 25 Jahre Deganya (Hebr.), Tel Aviv 1935, S. 57, 61 f; Israel Chedri: Die Anfnge von Mishmar Ha-emek. Aus den Erinnerungen Israel Chedris (1927), In: Ya’ari, Erinnerungen aus Eretz Israel (siehe Anm. 12), S. 1227 f; Brief von Josef Weitz an einen Freund in der Diaspora (an Johnny, Anfang Januar 1910), in: Ders.: Erste Bltter (siehe Anm. 9), S. 151; Mordechai Shnir : Unzeitgemße Worte, in: Ders.: Aufstze und Aufzeichnungen zur Frage der Nation und der Bewegung (Hebr.), Tel Aviv 1954, 144 f; Shlomo Levitin: Mit der Morgendmmerung, in: Die Arbeiterbrigade Josef Trumpeldor – Ein Sammelband (Hebr.), Tel Aviv 1931, S. 24.

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»Welches Vergnïgen, auf den Kies zu sinken und endlos [von den Wassern des Sees Genezareth] zu trinken, wie ein Tier des Waldes. Das brennende Gesicht ins Wasser einzutauchen, Luft zu holen, um dann erneut zu trinken bis zur Erschçpfung. Wunderbare Eigenschaften werden diesen Wassern zugeschrieben und es heißt: Wer einmal von ihnen getrunken, kehrt wieder und wieder zu ihnen zurïck. Vielleicht sehnen sich die Burschen in der Fremde deshalb nach den stillen Strnden des Sees Genezareth, weil ihre Vter einst hier ihren Durst lçschten.«19 Die physische Berîhrung mit dem Wasser von Eretz Israel weckte in Zvi Schatz Sinnesempfindungen und Triebe, die er bis dahin nicht gekannt hatte. Das Wasser weckte in ihm das Gefîhl, dass er die unmittelbare, natîrliche Beziehung zu seiner Umgebung wieder gefunden hatte. Er beschrieb seine Eindrîcke, als er als Soldat der Hebrischen Brigade (jîdische Einheiten, die whrend des Ersten Weltkriegs an Seite der Briten kmpften, um Eretz Israel von ottomanischer Herrschaft zu befreien) an eine der Quellen des Jordans kam, so: »Oh, welche Wonne, R…h! Wieder ïberfiel mich dasselbe Gefïhl wie damals an der Quelle im Wadi Qelt, nur mit grçßerer Intensitt […]. Die Sterne streichelten mich und ich fïhlte, wie glïcklich ich bin im Schoße der Natur, in meiner Vereinigung mit ihr!20 […] Hier, nur hier in Eretz Israel habe ich zum ersten Mal das Gefïhl, mit der Natur vereinigt zu sein.«21 Der Versuch, sich der Erde zu nhern und sich mçglichst eng mit ihr zu verbinden, beinhaltete auch den Wunsch, in sie einzudringen und in ihr Wasser zu finden. Doch die Chalutzim wollten in den Tiefen der Erde nicht nur Wasser finden, um ihren Durst zu stillen, sondern ebenso sehr sich mit ihr vereinigen, mit ihr verschmelzen. Me’ir Ya’ari erinnert sich an die Grabung des ersten Brunnens in Eretz Israel: »Lasst uns einen Brunnen [im Hebrischen feminin, Anm. der ˜bers.] graben; einen tiefen, tiefen Brunnen. Lasst uns den Schoß der großen Mutter çffnen – der Mutter Erde. Die Mutter wird ihre Brust entblçßen und aus all ihren Adern wird Wasser in den Brunnen strçmen.«22 Ein hnliches Erlebnis hatte Rachel Yana’it, als sie nach Be’er Ya’akov (wçrtlich: Jakobs Brunnen, 1907 gegrîndete Siedlung, benannt nach Rabbi Ya’akov Yitzhaki, dem 19 Rachel: An den Ufern des Sees Genezareth, in: Uri Milstein (Hg.): Gedichte von Rachel. Das Geheimnis ihres Zaubers (Hebr.), Ramat Ef ’al 1997, S. 302. 20 Zvi Schatz: An R…h, an den Ufern des Flusses (Juli 1920), in: ders.: An der Grenze des Schweigens – Schriften (Hebr.), ohne Ort und Jahr, S. 157. 21 Zvi Schatz: An R…h, Lager – Furten des Jordans (Juli 1920), in: Schatz, Schriften (siehe Anm. 20), S. 158. 22 Me’ir Ya’ari: Wir sind im Lande – Gesprch 1921, in: Eli Shedmi (Hg.): Quellen zur Erforschung von Ha-shomer Ha-tza’ir, 1920 – 1923 (Hebr.), Givat Haviva, 1. Heft (Mrz 1984), S. 38.

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Anfîhrer der Grîndungsgruppe) kam. Sie nherte sich einem der Brunnen und bîckte sich îber einen großen Stein am Brunnenrand. »Lange Zeit war ich îber den Brunnen gebeugt und suchte das Geheimnis meines Volkes in seinen Wassern, die Erinnerung an unseren Stammvater Jakob, an die jugendliche Morgenrçte unsres Volkes.«23 Die Chalutzim identifizierten sich mit der Erde und fîhlten ihren Durst. Das Leid der Erde war ihr eigenes Leiden. Moshe Hallenberg schrieb: »Ich war in Poriyah [1912 gegrïndete Siedlung in Galila, Anm. des Verf.], die Erde war ausgetrocknet, weil die Regenflle ausgeblieben waren. Ich fïhlte mit meinem ganzen Wesen den Durst der Erde. Ich bemitleidete sie, wie man ein lebendiges Wesen bemitleidet, das einem nahe steht. Und als der Regen kam – war plçtzlich alles gut, warm und still […].«24 Wasser war jedoch nicht die einzige Flîssigkeit, durch die die Chalutzim ihre Leidenschaft fîr die Erde von Eretz Israel zum Ausdruck brachten. Auch andere Flîssigkeiten, vor allem Kçrpersfte wie beispielsweise Schweiß, spielten eine wesentliche Rolle. Das Schwitzen wird als neue kçrperliche Erfahrung beschrieben, die den Chalutzim aus ihren Herkunftslndern unbekannt war. Sie waren weder an Hitze und Feuchtigkeit gewçhnt noch an die schwere kçrperliche Arbeit, die sie nun zum ersten Mal in ihrem Leben ausfîhrten. Doch ebenso wie beim Wasser ging es nicht nur um eine physiologische Erfahrung. Der Schweiß wurde, wie das Wasser, als Flîssigkeit angesehen, die den Durst der Erde von Eretz Israel lçschen sollte. Der Wunsch, die Erde mit ihrem Schweiß zu trnken, galt als einer der Grînde fîr die Einwanderung der Chalutzim ins Land, und der Schweiß bestimmte die Verbindung zwischen ihnen und ihrer Erde: »Je mehr sich mein Samen in ihrem Schoß vermehrt und der Schweiß meines Angesichts ihren starren Nacken netzt, desto strker verbindet sich meine Seele mit ihr in Ewigkeit.«25 Die Pioniere sahen den Schweiß als nahezu notwendiges Medium, sich die Erde anzueignen. Indem sie die Erde mit ihrem Schweiß benetzten, wurde sie zu ihrem Eigentum, denn »solange die Erde nicht von unsrem Schweiß befeuchtet ist, wird sie uns nicht gehçren!«26 Doch nicht nur die Chalutzim genossen das Gefîhl, die Erde mit ihrem Schweiß zu benetzen, auch die Erde erfreute sich in der Vorstellung der Siedler daran; es war mithin ein beidseitiger Genuss: »Chalutzim îber Chalutzim werden kommen, alte und neue, und sie alle werden sich zu einer Kraft, einem Herzen, einer Seele verei23 Yana’it-Ben Zvi: We Ascend (siehe Anm. 10), S. 49. 24 Moshe Hallenberg: Allgemein gesprochen, in: Kehilliyatenu (siehe Anm. 15), S. 49. 25 Ya’akov Zerubabel: Linien, in: A.Z. Rabinovitz (Hg.): Yiskor. Gedenkstein fîr die gefallenen jîdischen Arbeiter in Eretz Israel (Hebr.), Jaffa 1912, S. 75. 26 Ben-Shemni: Aufzeichnungen îber Ha-po’el Ha-tza’ir (Hebr.), 1. Bd., Tel Aviv 1935, S. 194.

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nigen […]; die heilige Erde spîrt diese vereinte Kraft und gibt sich freudig hin dem jîdischen Schweiße.«27 Auch das Blut spielte eine wesentliche Rolle in der Verbindung zwischen Chalutzim und der Erde von Eretz Israel. So wie sie die Erde mit ihrem Schweiß benetzen wollten, wollten sie sie auch mit ihrem Blut trnken. Wie das Wasser und der Schweiß wurde das Blut – das Blut der Arbeiter und Wachposten – als Flîssigkeit angesehen, die die Erde trnkte und befruchtete.28 Noch vor seiner Einwanderung ins Land schrieb David Horovitz, dass sein Jugendtraum, die Erfîllung des zionistischen Aufbauwerks, diese beiden Flîssigkeiten vereinen mîsse: »Nur durch Schweiß, Blut und zermîrbende Arbeit, durch Hunger und Klte, durch hçchste Anstrengung aller physischen und psychischen Krfte kçnnen wir die Erfîllung unserer Vision erreichen.«29 Menachem Portugali und seine Kameraden vom Verband ›Ha-shomer‹ (der Wchter ; Vereinigung zur Verteidigung der jîdischen Siedlungen in Eretz Israel; gegrîndet 1909) passierten auf ihrem Weg nach Sharona, wo sie eine Siedlung errichten wollten, auch den Ort, an dem ihr Gefhrte Yecheskel Nisanov getçtet worden war. Sie hielten an, um seiner zu gedenken, und einer der Kameraden erklrte çffentlich: »[N]un mîssen wir unseren Schweiß mit dem Blut unsres Gefhrten mischen.«30 Die Chalutzim befanden sich in einem Zustand gegenseitiger Durchdringung mit der Erde von Eretz Israel, seinem Raum, seiner Landschaft und der Gebeine, die in seiner Erde ruhten, oder sie ersehnten diesen Zustand zumindest. Nach hunderten Jahren der Diaspora und der Trennung von Eretz Israel kamen sie nun im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Land in Berîhrung.

Von §dipus zu Anti-§dipus: Ein methodologischer Exkurs Bevor ich mich der Beschreibung des Grenzen ziehenden Aspekts widme, mçchte ich kurz innehalten, um einige der bisher vorgestellten Hypothesen zu prîfen. Dies soll erleichtern, die Leidenschaft der Chalutzim im Folgenden als begrenzendes Moment darzustellen. Da eine ausfîhrliche kritische Auseinandersetzung mit den Hypothesen zu weit fîhren wîrde, sei hier zunchst nur festgehalten, dass ihr gemeinsamer Nenner in dem apologetischen Charakter liegt: Sei es, dass es sich dabei um die nominalistische Theorie handelt, die die Zeugnisse nur als sprachliche Manifestationen ansieht, sei es die psychologis27 Vilkenski: Aus den Tagen der Alija (siehe Anm. 12), S. 130. 28 Israel Betzer : Die Hîtte jenseits des Jordans, in: Ha-shomer. Zeugnisse, Erinnerungen und Lobreden von Veteranen des Shomer (Hebr.), Tel Aviv 1937, S. 97. 29 David Horovitz: Mein Gestern (Hebr.), Jerusalem/Tel Aviv 1970, S. 75. 30 Brief von Mendel Portugali an seine Frau Tova vom 24. Dezember 1913, in: Ha-shomer (siehe Anm. 28), S. 22.

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tisch-subjektivistische Theorie, die sie fîr den Ausdruck eines bestimmten psychischen Zustands der Jugendlichen hlt oder schließlich um die kulturwissenschaftliche Theorie, in der angenommen wird, dass die Wurzeln jenes geradezu ekstatischen Erlebnisses in romantischen, nationalen oder gar religiçsen Anschauungen zu suchen seien: In allen Theorien figuriert das Erlebnis der Chalutzim stets nur als Manifestation von etwas anderem, sei es Sprache, sei es eine bestimmte psychische Struktur oder eine Eigenschaft oder auch ein bestimmter kultureller Zustand.31 Eine der Pioniererfahrung zweifellos empathisch gegenîberstehende Theorie ist die Psychoanalyse.32 Im Gegensatz zu den bereits genannten Theorien stellt sie als einzige sowohl die Leidenschaft der Chalutzim in den Mittelpunkt als auch diejenigen Elemente, aus denen sie besteht. Nach der psychoanalytischen Theorie stellt die Leidenschaft der Chalutzim fîr Eretz Israel eine Regression auf eine frîhere psychische Entwicklungsstufe dar beziehungsweise einen Rîckgriff auf Verhaltensweisen, die dieser Entwicklungsstufe zuzurechnen sind. Wenn sich die Chalutzim als Sçhne der ›Mutter Erde‹ fîhlen oder erleben, in deren Schoß sie zurîckkehren, so regredieren sie nach dieser Theorie auf die frîhkindliche Entwicklungsstufe der symbiotischen Beziehung zur Mutter oder erleben diese Beziehung in der Gegenwart, d. h. in Eretz Israel, wieder. Dazu passt auch die in den Zeugnissen stereotyp wiederkehrende Behauptung der Chalutzim, dass ihre Ankunft im Lande Israel, ihre Ansiedlung darin und die Begrîndung ihrer Existenz auf seiner Erde einer ›Wiedergeburt‹ gleichkomme.33 In der Sprache der Psychoanalyse lsst sich die Regression oder der Rîckgriff 31 Avner Holzmann: Self-Consciousness in the Literature of Eretz Israel During the Second Aliya, in: Israel Bartal (Hg.): The Second Aliya. Studies (Hebr.), Jerusalem 1997, S. 367 – 385; Aviva Ufaz: The World of Symbols in ›Kehilliyatenu‹ (Hebr. mit engl. Zusammenfassung), in: Cathedra. For the History of Eretz Israel and its Yishuv 59 (March 1991), S. 126 – 143; Oz Almog: The Sabra. The Creation of the New Jew (Hebr.), Tel Aviv 1998, S. 35 – 38; Yael Weiler : The Fascinating World of ›Hashomer Hatzair‹ (Hebr.), in: Cathedra 88 (July 1998), S. 73 – 94; Zeev Sternhell: The Founding Myths of Israel. Nationalism, Socialism, and the Making of the Jewish State, Princeton, New Jersey, 1998, S. 15 f; Gershon Shaked: Literary Models and Models of Reality. Some Remarks Concerning the Modern Hebrew Realistic Literature, 1920 – 1940 (Hebr. mit engl. Zusammenfassung), in: Cathedra 28 (June 1983), S. 119 – 132. 32 Fîr eine umfassende Darstellung der Freudschen Theorie vgl. Mitchell, Stephen A./Black, Margaret J.: Freud and Beyond. A history of modern psychoanalytic thought, New York 1995. 33 Amos Elon: The Israelis. Founders and Sons, London 1971 (Deutsch: Die Israelis: Grînder und Sçhne, Wien 1972), S. 109 f.; David Ben-Gurion: In Juda und in Galila (Auszîge aus Erinnerungen, 1916), in: ›Ha-shomer‹ (siehe Anm. 28), S. 261; Josef Weitz: Leuchtende Strahlen (Ein Vorfall aus den Tagen der Zweiten Alija), in: Ders.: Erste Bltter (siehe Anm. 9), S. 227 f; Cheves: Buch der Zweiten Alija (siehe Anm. 10), S. 22; Zvi Sochovolski: Die ersten Redakteure, in: Ders.: Der Mensch und seine Welt (Hebr.), Tel Aviv 1973, S. 73; Ders.: Zwei Aliyot, in: Ebd., S. 90; Shimon Kushnir : Men of Nebo. From the Story of the Second Aliya (Hebr.), Tel Aviv 1968, S. 48, 57; Izhak Ben-Zvi: Essays and Reminiscences (Hebr.), Jerusalem 1966, S. 6.

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auf frîhkindliche Verhaltensmuster, die in der Leidenschaft der Chalutzim zutage treten, auch an den Stufen des psychosexuellen Entwicklungsprozesses festmachen. Man kçnnte die These aufstellen, dass Bereiche der Psyche der Chalutzim in die orale Phase regredieren, in der das Kind auf die Mutterbrust fixiert ist bzw. Chalutzim orale Verhaltensmuster re-inszenieren. Von daher lsst sich die Affinitt der Chalutzim zur ›Mutter Erde‹ ebenso erklren wie die Ausdrîcke, die sie jener Anziehung verliehen, wie beispielsweise Erguss, Verschmelzen, Schlucken, Stillen, Sttigung etc. Wie ein Kleinkind in der oralen Phase saugten die Chalutzim an der Brust von ›Mutter Erde‹ nicht nur, um ihre physisch-metabolischen Bedîrfnisse zu befriedigen, sondern auch zum Lustgewinn. Auf dieser Entwicklungsstufe ist das Kind noch nicht fhig, zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen seinem Kçrper und der Mutterbrust zu unterscheiden. Ferner wre dann anzunehmen, dass Bereiche der Psyche der Chalutzim auch in die anale Phase regredierten bzw. Verhaltensmuster der analen Phase re-inszenierten. Auf dieser Entwicklungsstufe schçpft das Kind seine Befriedigung hauptschlich aus der Beschftigung mit seinen Kçrperausscheidungen, bis es zur Reinheit erzogen wird. Wie wir gesehen haben, spielen in der physischen und gedanklichen Welt der Chalutzim Flîssigkeiten eine große Rolle, unter ihnen auch Kçrpersfte. Das Errichten von Dmmen bzw. das Trockenwerden stellt eine Stufe in der Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft dar. Die Kultur fordert die Verdrngung oder zumindest Kanalisierung von Kçrperflîssigkeiten, wie Schweiß, Blut und Trnen. Die Welt der Chalutzim dagegen ist voller (Kçrper-)Flîssigkeiten, und der Kontakt mit ihnen bringt Lustgewinn. So erweitert sich das Repertoire an regressiven Handlungsweisen der Chalutzim zustzlich zu den oben erwhnten aus der oralen Phase. Diesen sind nun Nssen, Aufsaugen, sich (auf der Erde) Wlzen, Verkuppeln, sich Vereinigen usw. hinzuzufîgen. Die als ›normal‹ angesehene psychosexuelle Entwicklung endet mit der ˜berwindung des §dipuskomplexes. In dieser Phase soll das Kind seine Leidenschaft von der Mutter ab- und anderen Objekten, letztendlich dem anderen Geschlecht oder der Kultur zuwenden. In der Welt der Chalutzim finden wir neben der Anziehung durch das andere Geschlecht und der Schaffung einer neuen Kultur ansehnliche ›˜berreste‹ eines Verlangens nach ›Mutter Erde‹ bzw. eine Wiederholung des Verlangens nach der Mutter. Denn Eretz Israel und im Besonderen seine Erde sind weiblich; sie treten als Jungfrau, Geliebte und Mutter auf. In der Welt der Chalutzim gibt es keinerlei Sanktion, keine Vaterfigur, die es den Chalutzim untersagen wîrde, ihr Verlangen nach diesen Frauen/Mîttern zu realisieren. Die psychoanalytische Erklrung setzt jedoch nur eine begrenzte Regression der Chalutzim voraus. Denn neben den regressiven Elementen kann sind selbstverstndlich die progressiven und kulturellen Charakteristika – in der

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psychoanalytischen Bedeutung des Wortes –, nmlich den Aufbau von Eretz Israel, nicht zu ignorieren. Die regressiven Ereignisse sind dabei mçglicherweise einer ˜bergangsphase von der alten in die neue Welt zuzuschreiben. Die Regression wird somit als verstndliche physische und psychische Reaktion von Menschen interpretiert, die in ein unbekanntes Land kommen. Angesichts der unzhligen Schwierigkeiten beim Immigrationsprozess ziehen sich die Chalutzim zur ›Mutter Erde‹ zurîck, um bei ihr Schutz zu finden. Andererseits sollten wir bedenken, dass die Chalutzim sich in Wahrheit nicht zur ›Mutter Erde‹ zurîck ›zogen‹; der gesamte Prozess der Immigration war vielmehr vom Anfang an von dem Wunsch getrieben, zu ihr heimzukehren. Die hier in Kîrze vorgestellte psychoanalytische Theorie ist jedoch ebenso apologetisch wie die zuvor erwhnten. Die Freudsche Diagnose der Regression geht von der Voraussetzung einer Normalitt aus, deren Existenz zumindest zweifelhaft ist.34 Viele psychoanalytische Theorien verstehen den Prozess der psychischen Reifung als Funktion patriarchalischer Intervention. Dieser Prozess wird mit der Eliminierung der Mutterfigur abgeschlossen. Dagegen behauptete Melanie Klein, die Freuds Theorien sowohl weiterentwickelte und zugleich gegen sie rebellierte, dass die Entwicklung des ˜ber-Ichs bereits vor dem Auftreten der Vaterfigur stattfindet, d. h. in einer Phase, in der die Beziehung des Kindes zur Mutterbrust der entscheidende und die zukînftige Entwicklung seines Gefîhls- und Sexuallebens bestimmende Faktor ist. Folglich grîndet sich das ˜ber-Ich nach Auffassung von Melanie Klein nicht auf feste und starre Abgrenzungen wie von Freud angenommen wurde, sondern hat flexiblere Grenzen – nicht dem Vater sondern der Mutter gegenîber. Die Muttermilch ist die primre Flîssigkeit, die das Kind mit seiner Mutter verbindet, und auch jene, die sie letztlich voneinander trennt. Die symbiotischen Beziehungen bestimmen auch die Qualitt der Beziehungen, die das Kind im Laufe seines Lebens zu anderen Objekten aufbaut. So kann es seine Liebe beispielsweise von der Mutter auf das ›Mutterland‹ umleiten. Nach Klein ist das Kind, das sich in einer symbiotischen Beziehung mit der Mutterbrust im Besonderen und mit ihrem Kçrper im Allgemeinen befindet, als Erforscher des menschlichen Kçrpers anzusehen. Sein Forschergeist entspringt seinem Begehren, mitunter aggressiven sexuellen Leidenschaften, aber auch der Neugierde und der Liebe. Hier entsteht die sptere Motivation des Erwachsenen, neue Lnder zu erforschen. Das neue Land dient 34 Freud definierte psychische Normalitt als Ergebnis einer gelungenen ˜berwindung der çdipalen Phase, d. h. als Funktion der Unterbindung des gegenseitigen Flusses bzw. des diffusen Zustandes zwischen Mutter und Kind. In meiner Kritik der Freudschen Thesen schließe ich mich Klaus Theweleit an, der im Freudschen Projekt einen Versuch sieht, die seelischen Strçme auszutrocknen, indem man sie in das topographische und sektorale Modell der beiden seelischen Strukturen einzwngt, die Freud vorschlgt. Vgl. Klaus Theweleit: Mnnerphantasien, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1978 – 1979.

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als Ersatz fîr den Verlust der Mutter. Dieses neue ›Mutterland‹ ist auch voll von Flîssigkeiten – ›das Land, wo Milch und Honig fließen‹.35 Klein rehabilitiert also gewissermaßen Phnomene, die wir bei den Chalutzim wahrgenommen haben und die als Ausdruck von Regression aufgefasst werden kçnnen. Anders gesagt: Die Leidenschaft der Chalutzim, wie hier dargelegt, wird zum normativen Verhalten. Die Theorien von Klein erlauben es, das ekstatische Erlebnis der Chalutzim, ihren Versuch, die Grenzen zwischen sich selbst und ›Mutter Erde‹ aufzulçsen, als Ausdruck einer normalen Beziehung zu sehen. Wenn die Beziehung zur Mutterbrust die Beziehungen zu allen anderen Objekten bestimmt, so gelten die Erfahrungen der ›Wiedergeburt‹, die oralen wie auch die analen Erlebnisse, nicht mehr als Zeichen eines pathologischen Zustandes. Aus dieser Perspektive ist das Bestreben der Chalutzim, zu ihrer ›Mutter Erde‹ zurîckzukehren, nicht mit Geringschtzung zu beurteilen. Die Chalutzim erleben ihre Leidenschaft fîr Eretz Israel, fîr ihre mîtterliche Erde, angesichts wirklicher Strçme von Wasser, Schweiß, Blut etc. Eli’ezer Yaffe, der Theoretiker des Moshav Ha-ovdim, definierte die adquate Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Erde bzw. zwischen der Erde und ihren Eigentîmern folgendermaßen: »Mehr als der Mensch saugen will – will die Erde ihn sugen […]. Die grçßte aller Sïnden des Menschen auf der Erde ist es, wenn er sich nicht dem Schoß seiner ›Mutter Erde‹ ïberlsst, um von ihrem ˜berfluss zu saugen, der ihr bitter wird, wenn sie ihn nicht abgibt […]. Die zweite Sïnde (und eine unausweichliche Folge der ersten) ist es, wenn er seinem Nchsten das Mark aus den Knochen saugt, anstatt von der Brust der Erde zu saugen […].«36 Kleins ˜berlegungen geben dem Thema der Leidenschaft der Chalutzim eine ganz spezielle Bedeutung. Sie zeigt, dass es keinen Grund gibt, die Leidenschaft zur ›Mutter Erde‹ ebenso wie die damit verbundenen Erlebnisse und symbiotischen Verhaltensweisen apologetisch zu begrînden. Im Unterschied zur Freudschen Theorie sieht sie in diesem Zustand die Norm. Und obwohl sich Klein gegen die Freudsche ›Austrocknung‹ aussprach, akzeptierte sie in formaler Hinsicht seine Axiome, besonders das der unabdingbar notwendigen Anwesenheit eines Elternteils, der Sanktionen erteilt. Die Aufgabe, die nach Freud der Vater in der çdipalen Phase erfîllt, schreibt sie der Mutter in der oralen Phase zu. Anstelle des Vaters setzt sie also die Mutter. Klein folgte auch Freuds prinzipieller Theorie des Codes, der die psychische Struktur und die zukînftigen Verhaltensweisen bestimmt, in der frîhkindlichen Phase festgelegt wird und Er35 Melanie Klein: Love, Guilt and Reparation (1937), in: dies.: Love, Guilt and Reparation and Other Works 1921 – 1945, London 1975, S. 306 – 343. 36 Eli’ezer Yaffe: Betrachtungen, in: ders.: Schriften (Hebr.), 2. Bd., Tel Aviv 1947, S. 305.

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gebnis eines bestimmten Modells der Eltern-Kind Beziehung ist. øhnlich wie Freud spricht auch Klein dem ˜ber-Ich die von innen wirkende Herrschaft îber den Menschen zu. Von diesem Standpunkt aus gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen beiden. Die Sehnsucht der Chalutzim nach Eretz Israel bedeutete fîr beide eine Regression zur Mutter-Kind Beziehung oder zumindest eine Re-Inszenierung derselben. Es mag hier mçglicherweise der Eindruck entstehen, dass ich die spekulativen und in vielerlei Hinsicht simplifizierenden psychoanalytischen Thesen îbertone. Ich bin mir jedoch der Grenzen dieser Hypothesen und ihrer Anwendung auf kollektive Phnomene im Allgemeinen und auf den zionistischen Kontext der Chalutzim im Besonderen durchaus bewusst. Dennoch bin ich der Ansicht, dass sie in Bezug auf andere Deutungsmodelle, die von der Historiographie fîr das israelische Pionierwerk vorgeschlagen wurden, anschlussfhig sind. Schon verschiedentlich haben Forscher das Pionierwerk im Rahmen psychoanalytischer Erklrungen Freudscher Ausrichtung verortet.37 So schrieb etwa David Biale: »In the Zionist case, the tension between sexual liberation and asceticism channeled erotic energies into the tasks of nation building […] The eroticization of labor was closely bound up with images of the land of Israel as a lover, a kind of materialistic transformation of the old allegory of love between God and Israel.«38 øhnliche psychoanalytische Deutungsmuster finden sich nicht nur auf kollektiver sondern auch auf individueller Ebene. So schlug etwa Eli’ezer Schweid vor, die zionistische Lebensphilosophie von A.D. Gordon als Re-Inszenierung der Mutterliebe anzusehen, die er in seiner Kindheit erfahren hatte (seine vier Brîder waren als Kinder gestorben).39 Avner Falk mutmaßte, David Ben-Gurions Hingabe an den Zionismus sei als Kompensation fîr den Tod seiner Mutter anzusehen.40 David Ben-Gurion selbst schrieb spter, dass »er den Traum von Eretz Israel mit der Muttermilch aufgesogen« habe.41 Das psychoanalytische Modell ist also bereits in einigen Deutungen des Themas prsent. Viele Narrative, die Historiker bis heute vorgeschlagen haben, 37 Jay Y. Gonen: A Psychohistory of Zionism, New York/London/Scarborough, Ontario 1975, S. 18 f. 38 David Biale: Eros and Jews. From Biblical Israel to Contemporary America, Los Angeles/ London 1997, S. 177, 183. 39 Eliezer Schweid: The World of A.D. Gordon (Hebr.), Tel Aviv 1970, S. 22. 40 Avner Falk: David King of Israel. Psychoanalytic Biography of David Ben-Gurion (Hebr.), Tel Aviv 1987, S. 30. 41 David Ben-Gurion: Autobiographie (1961; Hebr.), zitiert nach Falk: David King of Israel (siehe Anm. 40), S. 31.

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stîtzen sich dabei auf den von Freud konzipierten §dipus-Komplex. Das çdipale Modell, d. h. die symbiotische Beziehung des Kindes zur Mutter, das vterliche Verbot dieser Beziehung und schließlich die Rebellion gegen den Vater, die îberhaupt erst die Entstehung der Kultur verursacht, kann auch in denjenigen Deutungen ausgemacht werden, die im Pionierwerk eine Rebellion der Sçhne sehen: so etwa in der psychologistischen These als Revolte gegen die Eltern, gefolgt von der Hinwendung der Chalutzim zur ›Mutter Erde‹ und dem ›Land der (Vor-)Vter‹. In der Modernisierungsthese bedeutet das Pionierwerk die Auflehnung gegen die Tradition und die Hinwendung zum Pioniergeist; in der Skularisierungsthese wird es als Rebellion gegen das Judentum und Hinwendung zum Skularen interpretiert. In der Anti-Diaspora-These wird das Pionierwerk erklrt als Negation des Diaspora-Daseins, das die Hinwendung zu Eretz Israel nach sich zieht; im Rahmen der Fortschrittsthese erkennt man darin die Verneinung der Vergangenheit und die Bejahung der Zukunft; durch die soziolinguistische These wird schließlich die Ablehnung der Muttersprache Jiddisch und die Hinwendung zum Hebrischen, der Sprache der (Vor-)Vter betont. Eine Kritik der diversen psychoanalytischen Erklrungen muss daher auch eine Kritik der abgeleiteten Thesen und aller bis dato vorgenommenen Deutungen des Pionierwerks beinhalten. Gerade die Befreiung vom çdipalen Modell in seinen unterschiedlichen Ausformungen erlaubt die Emanzipation von einer Art der Geschichtsschreibung, die der Leidenschaft der Chalutzim eben genau die Fesseln aufzwingt, von denen sie sich zu befreien suchte. Damit mçchte ich zur letzten methodologischen Betrachtung îbergehen, die nun wieder zur Leidenschaft der Chalutzim zurîckfîhrt. Gilles Deleuze und F¤lix Guattari setzen in ihrem Buch »Anti-§dipus« die Argumentation von Melanie Klein in einer Art und Weise fort, die sich meines Erachtens sehr gut zur Klassifizierung der Leidenschaft der Chalutzim sowie ihrer Begriffsbestimmung eignet.42 Sie stellen die çdipale Struktur des Ego und im Besonderen den Begriff des Unbewussten in Frage, den Freud und seine Nachfolger entwickelt hatten. Auf die Frage, was das Unbewusste ist, geben sie scheinbar eine hnliche Antwort wie Freud: Das Unbewusste sei eine Energie, die aus dem ihr zugewiesenen, abgegrenzten Bereich ausbrechen und zu maximaler Entfaltung gelangen wolle. Doch sie lehnen es ab, die schçpferische Kraft des Unbewussten mit spezifischen Begriffen zu identifizieren – sei es mit dem Ego, das aus der Phase des çdipalen Dreiecks zwischen Mutter, Vater und Kind entsteht, wie bei Freud, oder sei es mit der dualen Phase der Beziehung zwischen Kind und Mutterbrust wie bei Klein. Das Unbewusste ist fîr sie ein omnipotentes Medium, jedoch mit keinem bestimmten Objekt zu identifizieren. Als produktives Medium kennt das Unbe42 Deleuze, Gilles/Guattari, F¤lix: Anti-§dipus, Frankfurt a.M. 1984.

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wusste weder Namen noch Personen, wie etwa Vater oder Mutter. Es weiß weder, woher es kommt (etwa von der Mutterbrust) noch wohin es geht (etwa der Schaffung einer Kultur entgegen). Das Unbewusste hat kein Gedchtnis und weiß daher nicht, was man ihm beispielsweise in der Kindheit angetan hat. Die Frage nach der Bestimmung der produktiven Kraft des Unbewussten ist somit irrelevant. Es ist unwesentlich, auf welches Ziel es hinarbeitet; wesentlich ist lediglich, dass es arbeitet. Deleuze und Guattari schlagen vor, den Freudschen Prozess umgekehrt zu betrachten. Sie nehmen an, dass es keines besonderen psychischen Mechanismus bedarf, sei es §dipuskomplex oder Mutterbrust-Komplex, um in dem Kind Lust auf die Welt zu wecken, auf Dinge, die sich außerhalb des familiren Dreiecks befinden. Es gibt keinen Grund, weshalb es das Kind gelîsten sollte, gerade mit seiner eigenen Mutter und nicht mit ›Mutter Erde‹ oder einem anderen Objekt zu schlafen. Die Leidenschaft, die das Kind fîr seine Mutter empfindet, entsteht nach Deleuze und Guattari durch die gesellschaftlichen Umstnde, in denen es lebt. Lebt es in einer monogamen Gesellschaft, die dem Objekt ›Mutter‹ den Vorzug gibt, wird das Kind nach der Mutter verlangen. In dieser Gesellschaft sorgen die Eltern auch dafîr, dass das Kind nichts außerhalb des familiren Rahmens begehrt. Inzest ist daher kein Ausdruck ursprînglicher, biologischer oder ›natîrlicher‹ Begierde des Kindes, sondern die willkîrliche Form eines kulturellen Codes, der dieser Begierde îbergestîlpt wird. Das Kind konnte die Mutter nicht besitzen, so Freud, also begehrt es die Welt. Dem Kind wird die Welt verschlossen, drehen Deleuze und Guattari diese Formel um, und daher begehrt es die Mutter. Deleuze und Guattari also entkleiden Begehren und Leidenschaft jeglicher Eigenart und Bedeutung. Die Begierde kennt nur ein einziges Ziel, nmlich zu begehren. Dies ist meines Erachtens die Leidenschaft der Chalutzim und so kçnnte sie charakterisiert werden – als begehrendes Verlangen ohne Grund und Ziel. Wozu sollte man ihr etwas aufzwingen, etwa den çdipalen Code, den Code der Mutterbrust, den nominalistischen Code, der in der Leidenschaft eine Metapher sieht, die nur von Literaturwissenschaftlern ernst genommen werden muss, den politischen, çkonomischen, ideologischen Code oder einen anderen? Warum kann man die Leidenschaft nicht einfach fließen lassen, wie sie ist und fîr sich selbst zeugt? Warum sollte man annehmen, dass es sich um eine Regression handelt oder um die Re-Inszenierung der Beziehung zwischen den Chalutzim und ihren biologischen Mîttern und Vtern? Anstatt der Leidenschaft der Chalutzim einen jener Codes aufzuzwingen, schlage ich vor, sich einfach von ihr mitreißen zu lassen. Hiermit ist der methodologische Exkurs beendet, und ich kehre zur Leidenschaft der Chalutzim zurîck. Von seinem eigenen Standpunkt aus war der Chalutz ein Sohn der Mutter Eretz Israel, der ›Mutter Erde‹, zuweilen auch ein

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Waise, der zu ihr heimkehrt. Doch die Chalutzim waren nicht nur Sçhne des Landes, zu dem sie zurîckkehrten, sie wurden in ihm auch neu geboren. Vor seiner Auswanderung nach Eretz Israel schrieb Zvi Schatz an Joseph Trumpeldor, dass sie einander in Eretz Israel mçglicherweise wieder treffen wîrden, doch selbst wenn eine solche Begegnung stattfnde, wîrde Trumpeldor nicht ihn, den alten Freund, wiedersehen, denn: »Ich, so wie ich jetzt bin, werde nicht mehr existieren. Ich werde von neuem geboren werden, ich werde ein anderer werden in Eretz Israel. Und eben deshalb fahre ich hin.«43 Als jemand, der in einer neuen Welt neu geboren wird, îbernimmt Schatz die Aufgabe des Vaters und gibt sich selbst einen neuen Namen – Zvi anstelle von Grischa beziehungsweise Gregori. »Seid gegrïßt Ossiya [Trumpeldor]! Von hier schreibt euch Grischa, in dessen Reisepass der Name Gregori eingetragen ist. Jude nur im nominellen Sinne, Mensch nur dem Namen nach, denn er besitzt jede Menge Gebrechen von der schlimmsten Sorte, von den verabscheuungswïrdigsten. Doch von Eretz Israel wird euch ein Bergbewohner, ein Kommunist schreiben, Zvi. Vielleicht werdet ihr ihn nicht wieder erkennen […].«44 Techiya Liberson schreibt, dass sie seit ihrer Einwanderung in Eretz Israel ihren Geburtstag am ersten Tag von Chanukka feiert. Sie gibt folgende Begrîndung: »Ich ging zum ersten Mal aufs Feld. In der Mutter aller Siedlungen, Petach Tikvah [›Tor der Hoffnung‹, erste zionistische Siedlung, gegrïndet 1878], nahm ich die Hacke in meine Hand und begann, die Erde zu bearbeiten, begann, richtig zu arbeiten. Das war am dritten Tag nach meiner Einwanderung ins Land zu Beginn des Jahres 1905, als ich, ein junges Mdchen von 19 Jahren aus der Stadt Dvinsk in Lettland, mir meinen erhabensten Traum erfïllte, nmlich die Erde meiner Heimat zu betreten und zu bearbeiten. Dieser Tag ist wie kein anderer wïrdig, mein Geburtstag zu sein, von dem ab ich meine Jahre auf der Erde zhle.«45 In hnlicher Weise ußerte Rachel Yana’it-Ben Zvi, dass sie das Gefîhl habe, ihre Tage in Eretz Israel seien gleich ihren Lebensjahren.46 Die Annahme, die Wiedergeburt sei ein symbolischer Akt,47 zwingt den Chalutzim genau das auf, wovon sie sich befreien wollten – Eltern, Tradition, 43 Zvi Schatz: Brief an Joseph Trumpeldor (Oktober 1909), in: ders.: An der Grenze des Schweigens (siehe Anm. 20), S. 113. 44 Ebd. 45 Techiya Liberson: Lebensabschnitte (Hebr.), Tel Aviv 1970, S. 9 f. 46 Yana’it-Ben Zvi: We Ascend (siehe Anm. 10), S. 58. 47 Avner Falk: A Psychoanalytic History of the Jews, Madison/Teaneck/London 1996, S. 698.

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Diaspora, Vergangenheit und Muttersprache. In Wirklichkeit hatte dieses Erlebnis keine îber sich selbst hinausweisende Bedeutung. Es war eine von vielen genealogischen Mçglichkeiten, die sich die Leidenschaft der Chalutzim erwhlte. So konnte der Chalutz aus der Erde geboren werden: »Vollkommen ist mein Geist und stark mein Kçrper, einfach bin ich und natîrlich, denn vollkommen und stark, einfach und natîrlich ist die Erde, die mich geboren hat.«48 Eliyahu Rapaport bat seinen Vater mit folgenden Worten, dass er ihn in Ruhe lassen mçge: »Wenn ich dich auch bis heute noch nicht ïberwunden habe, so werde ich dich doch morgen im Schoße meiner neuen Welt begraben. Du wirst fïr mich nicht mehr existieren, denn nicht deinetwegen habe ich das Licht der Welt erblickt. Aus ihrem Schoß bin ich hervorgegangen, aus dem Schoß der Braut, der Frau, aus dem Schoß keiner anderen Mutter.«49 Die Braut, von der Rapaport spricht, ist keine andere als die Erde von Nuris, auf der sich seine Kvutzah angesiedelt hatte.50 Der Chalutz konnte nicht nur aus der Erde, sondern auch aus den Felsen geboren werden. Nachdem er nach Eretz Israel gekommen war, sagte sich Zvi Nadav von seiner Familie und seinen Verwandten los, um sich mit seiner ganzen Seele dem neuen Leben in der Natur von Eretz Israel hinzugeben. Er beantwortete die Briefe nicht, die man ihm schrieb, und erfand folgenden Ursprungsmythos fîr sich: »Ich bin aus einem Felsen zur Welt gekommen, in einer Hçhle. Jedem, der nach meinen Eltern fragte, erzhlte ich diese Geschichte. Ich sagte mir: Htte ein Fels mich geboren, wre mir leichter. […] Und im Laufe der Zeit hatte ich tatschlich das Gefïhl, dass ein Fels mich geboren htte und die Berge mich an ihr Herz drïckten.«51 Wie Nadav ersann auch Ami Assaf eine alternative Genealogie. Er verzehrte sich danach, in den Bergen zu wohnen, denn »die Berge, Bume und kîhlen Bche haben mich aufgezogen. Nach ihnen werde ich mich immer sehnen.«52 Der Akt der Wiedergeburt befreite die Chalutzim nicht nur von ihren Eltern sondern auch von der Diaspora. »Die Hingabe an das Ideal der Erneuerung fîhrte zwangslufig zur radikalen ›Ablehnung der Diaspora‹ […]. Der Chalutz 48 49 50 51

Zerubabel: Linien (siehe Anm. 25). Eliyahu Rapaport: In einem allgemeinen Gesprch (siehe Anm. 15), S. 33. Ebd., S. 33 f. Zvi Nadav : So haben wir begonnen. Von den Anfngen des Arbeitslebens, dem Wachdienst und der Kvutzah (Hebr.), Tel Aviv 1957, S. 103 f. 52 Ami Assaf: Brief (Yavnel, 1924), in: ders.: Ausgewhlte Aufstze (siehe Anm. 10), S. 20.

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musste hier von neuem geboren werden.«53 So gesehen war die zionistische Rîckkehr zur Vergangenheit nichts anderes als eine Neuschçpfung: »Unsere Lage ist eine besondere, denn wir haben das Band verloren, das uns mit der Vergangenheit verband. Wir beginnen daher von einem jungfrulichen Punkt. Weder die Arbeit noch die Lebensweise sind eine Fortsetzung des Gewesenen. Wir haben von Anfang [wçrtlich: ›mit der Genesis‹] angefangen, nachdem wir uns der Vergangenheit entledigt hatten [wçrtlich: ›nach tashlikh‹, dem symbolischen Abschïtteln der Sïnden im Wasser zu Neujahr] in der Zeit, als wir nach Eretz Israel fuhren. Leer sind wir angekommen. Wie ein Neugeborenes.«54 Der Schriftsteller David Shimonovitch beschrieb den Chalutz als Sohn des Landes, als Frucht seiner eigenen Phantasie, der jedes Mal seinen Namen nderte, wenn er an einen neuen Ort kam. An jedem Ort erfand er durch die Namensnderung eine neue Genealogie. An einem Ort war er Ben-Artzi (der Sohn des Landes), an einem anderen Yigal Ha-Glili (Yigal der Galiler) und an einem dritten Harari (der Gebirgsbewohner): »Wenn du mich heute fragst, wie ich mich morgen nennen werde, so weiß ich dir, bei meinem Leben, nichts zu antworten. Wenn morgen beispielsweise die Sonne aufgeht, das heißt, wenn sie in meinem Herzen aufgeht mit einem besonderen Strahlen, so werde ich morgen als Adon-Shimshi (Herr Sonnig) oder Ben-Shemesh (Sonnensohn) oder Charsi (der Sonnentrockene) vor dich hintreten. Und wenn ich etwa den Jordan durchquere […], so werde ich meinen Drang nicht beherrschen kçnnen, ich werde nicht anders kçnnen, als mich an jenem Tage Yardeni (der vom Jordan Kommende) zu nennen.«55 Die Leidenschaft Ben-Artzis ist nicht bereit, den Namen anzunehmen, den ihm sein Vater und seine Mutter gegeben haben. So ist es auch bei den Chalutzim. Techiya Liberson, die 1886 geboren wurde und ein weiteres Mal nach eigener Aussage im Jahr 1905, als sie nach Eretz Israel einwanderte, war nicht bereit, weiterhin den Namen zu tragen, den ihr Vater und Mutter gegeben hatten. Als in Eretz Israel neu Geborene nahm sie auch einen neuen Namen an. Bei ihrer Geburt hatte sie den Namen Chayne erhalten. Ihren neuen Namen, Techiya (Auferstehung, Erneuerung), gaben ihr ihre Freunde nach ihrer Alija. 53 Tel-Yosef Rasnitchenko: Die Grundlagen der Arbeiterbrigade (Hebr.), in: Die Arbeiterbrigade Josef Trumpeldor (siehe Anm. 18), S. 10 f. 54 (Tel-Yosef) Rasnitchenko: Anekdoten aus dem Alltag (Erfahrungen einer Kompanie), in: Die Arbeiterbrigade Josef Trumpeldor (siehe Anm. 18), S. 273. 55 David Shimonovitch: Ben-Artzi (Aus dem Notizbuch eines Wanderers), in: ders.: Heimat. Aufzeichnungen und Erzhlungen (Hebr.), Tel Aviv o. J., S. 172 f.

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»Der neue Name ist an mir haften geblieben, er gehçrt zu mir, als htte ich seit meiner Geburt so geheißen. Und eigentlich ist es tatschlich so. Denn seit meiner Ankunft im Lande, von dem Tag an, als ich, die Hacke in meinen Hnden, die Erde aufzuhacken begonnen habe, bin ich wie neu geboren. Und von diesem Tag an zhle ich meine wahren Lebensjahre.«56 »Die zionistische Leidenschaft fîr neue Namen«, schrieb Amos Elon, drîcke »das intensive Verlangen der Siedler aus, sich durch Kçrper und Namen mit der Landschaft der neuen und erneuerten Heimat zu verbinden, mit ihren Flîssen und Bergen, mit ihren Bumen und Dornen.«57 So wurde aus Rachel Goldin – Rachel Yana’it (nach Alexander Janai bzw. seiner Frau, der Kçnigin Shlomzion, den letzten von Rom unabhngigen Herrschern in Juda, bis 67 v.d.Zt.), aus David Grîn – David Ben-Gurion (nach Josef Ben-Gurion, einem der militrischen Anfîhrer im Aufstand gegen Rom zwischen 66 und 70 in Jerusalem), aus Me’ir Wald – Me’ir Ya’ari (Wald), aus Yitzchak Shimshelevitz – Yitzchak Ben Zvi (Sohn des Hirsches) und aus Levi Shkolnik – Levi Eschkol (Gelehrter).

Grenzziehung Die Leidenschaft der Chalutzim ist in dem verortet, was Deleuze und Guattari einen ›organlosen Kçrper‹ nennen, d. h. einen Kçrper, der im soziologischen oder historischen Sinne noch keine Sozialisierung in der neuen Welt erfahren hat. Die Leidenschaft hat zwei Gesichter. Das eine nennen Deleuze und Guattari ›De-Territorialisierung‹, das andere ›Re-Territorialisierung‹. Die De-Territorialisierung, d. h. die Entgrenzung, ermçglicht das Fließen und erçffnet neue Mçglichkeiten. Die Re-Territorialisierung kanalisiert und diszipliniert den Fluss, zieht Grenzen und passt dem organlosen Kçrper Organe ein. Der grenzenlose Fluss ist es, der in seinem Fließen Grenzen erschafft. Wie aber drîckt sich die Re-Territorialisierung der Leidenschaft der Chalutzim im Raum von Eretz Israel aus? Schon auf den ersten Blick lsst sich der Mechanismus der Leidenschaft der Chalutzim beispielsweise in der architektonischen Struktur des Moshav Haovdim Nahalal ausmachen. Aus der Vogelperspektive (siehe Foto) kann man die alles durchbrechende Leidenschaft erkennen, die in ihrem Fluss in der Struktur der Siedlung sowie ihren Wegen und Feldern ihre Spuren hinterlassen hat. Dieses Bild bezeugt, dass das Verlangen der Chalutzim nach Eretz Israel vor allem das Verlangen nach einem Ort war, an dem sie leben und nach einem Boden, auf den 56 Liberson, Lebensabschnitte (siehe Anm. 45), S. 12. 57 Elon, The Israelis (siehe Anm. 33), S. 125, 127.

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sie ihre Fîße setzen konnten. Dies war die grundstzlichste Rechtfertigung des zionistischen Pionierwerks, das im Diasporajuden einen Herumirrenden, Entwurzelten sah, einen Luftmenschen.

Moshav Ha-ovdim Nahalal (Luftbild)

Das Verlangen der Chalutzim nach einem Ort, nach Boden muss insbesondere vor dem Hintergrund des Diasporaraumes gesehen werden, der ein organloser Raum ist. Die Diaspora war eine Utopie im ursprînglichen, griechischen Sinne des Wortes – ein Ort, der nicht existiert (ou-topos). Vom Raum der Diaspora ausgehend, dem organlosen Raum, suchten die Chalutzim nach einem Ort und nach Boden. Die Diaspora wurde als Raum erlebt, der instabil war und einen zu ertrnken drohte. Ben-Gurion sprach von »mumifizierten Juden, die schon bis zum Hals in den Sîmpfen der Diaspora versunken waren.«58 Und Eli’ezer Jaffe gestand: »Ich fîhle mich in der Diaspora wie ein in einem Sumpf Ertrinkender. Ich muss die letzte Bewegung machen: leben oder sterben, aber nicht ersticken.«59 Die Chalutzim ertrinken nicht nur im Sumpf, sie fîrchten auch, in den Strçmen von Blut und seinen bengstigenden Wellen unterzugehen. Denn die

58 Brief von David Ben-Gurion an seinen Vater vom 7. November 1907 aus Sedgrain, in BenGurion, Letters (siehe Anm. 6), S. 112. 59 Eli’ezer Jaffe: Diskussionen îber die Programmfrage, in: Prager Konferenz des Ha-po’el Hatza’ir aus Israel und der Tze’ire Zion aus dem Ausland, Prag, 20. Mrz 1920, S. 37, Gordonia Archiv, Akte Nr. 1/145.

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Erde der Diaspora trinkt das Blut der Juden wie Wein.60 In den Pogromen wurden die Juden îberschwemmt von Blut: »Strçmen von Blut«, »Wannen von Blut«, einer »Sintflut von Blut«.61 Yosef Aharonovitz bemerkte, dass die jîdische Geschichte in der Diaspora von jîdischem Blut getrnkt sei. Seine Angst vor dem Zustand in der Diaspora und sein Hass auf die Vçlker Europas grîndeten sich auf »das viele Blut, das sie vergossen, [Blut von] Millionen von Erschlagenen, die sie aus unserer Mitte getçtet haben zu allen Zeiten und in allen Lndern, [von] der ungeheuren Versklavung, der sie uns unterworfen und uns zu einem UnVolk, einem Un-Menschen gemacht haben.«62 Doch auch Eretz Israel selbst ist kein definierter Platz oder Boden. Im Erleben der Chalutzim ist auch dies ein organloser Raum. Sie sahen darin ein leeres Land, eine tabula rasa; es war »kahl«, »verdorrt«, »nackt«, »wîst«, »jungfrulich«. Daher empfanden sie sich auch nicht als ›Eroberer‹ im herkçmmlichen Sinn des Wortes. Da sie in ein organloses Land kamen, empfanden sie ihr Pionierwerk nicht als Eroberung, sondern als Aufbau, Schçpfung, Erlçsung. Ein organloses Land kann nicht erobert werden, weil es darin noch nichts zu erobern gibt. Es ist unmçglich, einen ›ou-topos‹ zu erobern, einen Raum, der nicht existiert. In der Sprache der Chalutzim bedeutete »Eroberung«, wie etwa die »Eroberung des Bodens«, »Eroberung der Arbeit«, »Eroberung des Selbst«, in Wahrheit Aufbau, Schçpfung und Erlçsung. David Ben-Gurion war sich der Tatsache bewusst, dass man ein Land nicht bekommt, sondern dass man es erobert. Die Eroberung ist der Akt der Re-Territorialisierung durch Schçpfung und Kreativitt: »Wir erobern das Land, indem wir es aufbauen.«63 Hieraus erçffnet sich ein weiterer wichtiger Problemkreis, nmlich die Beziehung der Chalutzim zur bereits ansssigen, eingeborenen Bevçlkerung. Wie kann eine Bevçlkerung in einem organlosen Land leben, an einem Ort, der noch ein ou-topos ist? »Die wahre Liebe«, schrieb Amos Elon îber das Pionierwerk, »ist immer blind.«64 Und so hat die Leidenschaft der Chalutzim fîr Eretz Israel

60 Itzhak Lamdan: Collected Poems of Itzhak Lamdan (Hebr.), Jerusalem 1973, S. 28 – 30. 61 Ebd.; Ze’ev Levinson in: Ha-Shomer (siehe Anm. 28), S. 291; Me’ir Vilkenski: In den Oktobertagen (1905), in: ders.: Aus den Tagen der Alija (siehe Anm. 12), S. 40, 45; Nadav : So haben wir begonnen (siehe Anm. 51), S. 9; Simcha Ben Zion: Rachel – Vision von den Tagen, in: ders.: Gesammelte Werke (Hebr.), Tel Aviv 1960, S. 157; Aufruf des Zentralrates der Gewerkschaft des Ha-po’el Ha-tza’ir an alle jungen Zionisten in der Diaspora (Dezember/ Januar 1907/08), in: Aufzeichnungen îber Ha-po’el Ha-tza’ir (siehe Anm. 26), 2. Bd., S. 158. 62 Yosef Aharonovitz: Angesichts der Pogrome (1915), in: ders.: Gesammelte Werke (Hebr.), 1. Bd., Tel Aviv 1941, S. 224. 63 David Ben-Gurion: Der Zukunft entgegen (New York, 4. April 1915), in: ders.: Von einem Stand zu einem Volk (Hebr.), Tel Aviv 1955, S. 22 (Hervorhebung des Verfassers). 64 Elon: The Israelis (siehe Anm. 33), S. 178. Der zitierte Satz fehlt in der englischen ˜bersetzung; vgl. denselben Satz bei Moses Hess: Rom und Jerusalem (Hebr.), Jerusalem 1956, S. 85 f.: »[…] die wahre Liebe […] ist wahrhaftig blind; blind, weil sie sich nicht nur auf die

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ihre Augen geblendet. Sie sahen die ansssige Bevçlkerung, ohne sie wahrzunehmen. Sie waren »sichtbar, ohne zu sehen«.65 Die Chalutzim setzten die vorherrschende zionistische Ideologie fort, gemß der Eretz Israel ein »Land ohne Volk« war, das von einem »Volk ohne Land« in Besitz genommen werden sollte. »Der Chalutz kommt, um ein wîstes Land zu besiedeln. Alles geschieht hier zum ersten Mal. Es gibt noch nichts zu zerstçren, es gibt niemanden zu bekmpfen.«66 Die ansssige Bevçlkerung existierte in der Vorstellungswelt der Chalutzim parallel zu den Beschreibungen von Eretz Israel als organloses Land, doch sie widersprach der Darstellung von einem Land ohne Organe – und daher auch ohne Einwohner – nicht. Denn die Chalutzim nahmen diese Bevçlkerung nicht als eine wahr, die Eretz Israel aufbaute, erschuf und erlçste. Sie waren vielmehr îberzeugt, dass die ansssige Bevçlkerung dazu mangels Willens oder Fhigkeiten îberhaupt nicht im Stande sei, entweder aufgrund von Charakterfehlern wie z. B. Faulheit oder aufgrund ihrer Primitivitt, die sich unter anderem im Mangel an Technologie ußerte.67 Aus der Sicht der Chalutzim war die Anwesenheit der ansssigen Bevçlkerung eine unabdingbare Notwendigkeit zur Eroberung des Landes, um es zu schaffen und zu formen, um es zu kultivieren. Eretz Israel war unter anderem deshalb ein organloses Land, weil die ansssige Bevçlkerung kein Verlangen zeigte, jene Organe zu schaffen. Und dieser Umstand verstrkte das Verlangen der Chalutzim nach dem Land. Die Leidenschaft der Chalutzim durchfurchte den organlosen Kçrper von Eretz Israel der Lnge und der Breite nach, drang in ihn ein und baute auf ihm. Sie hinterließ Furchen, Kanle, Staubstraßen, Wege, Brunnen und anderes mehr. Durch ihre Leidenschaft fîr Eretz Israel verwandelten die Chalutzim den Boden in (Acker-)Erde.68 Aus geographisch-anthropologischer Sicht verwandelten die Chalutzim den Raum von Eretz Israel in einen definierten Ort und die Leere in einen Ort, wo das Sein ermçglicht wurde. Die Leidenschaft der Chalutzim wurde

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guten Eigenschaften […] beschrnkt, die das geliebte Wesen besitzt, sondern ihn liebt, wie er ist mit all seinen Vorzîgen und Fehlern [….].« Noach Naftulski: Sie haben uns zusammen auf eine Tragbahre gepackt (Hebr.), in: Tsur, Muki/Israeli, Aharon (Hgg.): Kinneret. Haya and Ben-Zion Israeli, Tel Aviv 1985, S. 99. Rasnitchenko: Die Grundlagen der Arbeiterbrigade (siehe Anm. 53), S. 11. Shmuel Dayan: Geschichten von Nahalal. Die Geschichte von 40 Jahren (Hebr.), Tel Aviv 1961, S. 22 f, 67 f, 72; Die Entwicklung von Deganya. Die 50-jhrige Geschichte der Kvutzah, hg. von der Kvutzah von Deganya A, Tel Aviv 1961, S. 19; M. Zgorodski: Formen der Besiedlung, 1. Teil: Gartenland (Hebr.), Yaffa 1919, S. 14; Izhak Ben-Zvi: Unsere Ausrichtung (Juli/August 1910), in: ders.: Essays and Reminiscences (siehe Anm. 33), S. 362 f; Mordechai Shnir : Unzeitgemße Worte (Ben Shemen, Juni/Juli 1918), in: ders.: Aufstze und Aufzeichnungen (siehe Anm. 18), S. 143 f. Dayan, Geschichten von Nahalal (siehe Anm. 67), S. 107; Me’ir Vilkenski: Nach Galila, in: ders.: Nach Galila, einen Brunnen haben wir gegraben (Hebr.), Tel Aviv 1978, S. 55; Shimon Kushnir : Echo von Gilboa. Die ersten Jahre im Emek Yesrael, Tel Aviv 1955, S. 58.

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dann vornehmlich durch die Arbeit, das Pionierwerk schlechthin, auf Eretz Israel kanalisiert. Die Chalutzim begriffen die Arbeit nicht als Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zwecks. Arbeit hatte auch deutlich ontologische Dimensionen, denn sie schuf Eretz Israel aus dem Nichts. So verstand es beispielsweise auch Yosef Aharonovitz: »Wenn es hier Arbeit gibt, gibt es Erneuerung – wenn es keine Arbeit gibt, gibt es nichts.«69 Die Chalutzim kanalisierten ihre Leidenschaft fîr Eretz Israel in verschiedene Ttigkeiten und Arbeiten, so etwa das Pflîgen, dessen ekstatischer Charakter schon angesprochen wurde. Man sieht nun, dass es sich dabei nicht bloß um die Verwandlung des Bodens in (Acker-)Erde oder um die Definition der Grenzen zwischen unbebautem und bebautem, kultiviertem Land handelte. Es ging ebenso sehr um die Unterscheidung zwischen jîdischem und arabischem Land. Shmuel Dayan beschrieb in einem der Briefe an seinen Sohn Moshe Dayan die eminent politische Bedeutung des Pflîgens: »Wir haben langsam aber sicher den Boden erobert, nicht durch Kriege, sondern durch Pflïgen und Arbeit […]. Wir pflïgen auch auf der Grenzlinie. Sie, die Araber, nur neben ihr. Und so gehçrt die Erde uns. […] Wenn alle Juden und ihre Kinder im ganzen Land es so machen, wird die Erde wieder uns gehçren. Gewiss und in alle Ewigkeit.«70 Durch den Einsatz ihrer Leidenschaft fîr Eretz Israel in der Pionierarbeit bewirkten die Chalutzim die Metamorphose des organlosen Kçrpers in einen Kçrper mit Organen. Sie erschufen den Kçper von Eretz Israel gleichsam und formten ihn. »Sieh, wie die Jugendlichen Israels aus allen Ecken und Enden der Welt [zum Berg Karmel] strçmen. Sie ïberqueren das Meer und kehren ihm den Rïcken. Und wohin wenden sie ihre Energie, wenn nicht zu dir, greiser Riese? Sieh, wie sie sich zerstreuen auf deinem erstarrten Leib und deine ausgetrockneten Wunden mit ihren scharfen Skalpellen operieren, wie sie schlagen und graben […]. Sie bieten die Kraft ihrer Sehnsucht fïr dich auf und ihre nach Befreiung verlangende Seele. Sie behauen deine Nieren – die Steine, sie behauen einen nach dem anderen, sie sprengen und ebnen den Weg zur Erlçsung.«71 Doch Eretz Israel war ein schwacher Kçrper. Durch ihre Leidenschaft verwandelten ihn die Chalutzim in einen starken, muskulçsen Kçrper. Die Einrichtung der Bergbauernwirtschaft in Kiryat Anavim (erster Kibbuz in den Judischen 69 Yosef Aharonovitz: Die Idee der Arbeit, in: ders.: Gesammelte Werke (siehe Anm. 62), S. 57. 70 Brief von Shmuel Dayan an seinen Sohn (Mahalol, 1921), in: Dayan: Geschichten von Nahalal (siehe Anm. 67), S. 61. 71 David Kahana: Im allgemeinen Gesprch (Hebr.), in: Kehilliyatenu (siehe Anm. 15), S. 51.

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Bergen, 12 km von Jerusalem, gegrîndet 1920) erweckte einen der Berge zu neuem Leben, wie es Yitzchak Pelach beschrieb: »Der urzeitliche Berg schïttelte die Staubschicht von Generationen ab und richtete sich nach mehrtausendjhriger, zerstçrerischer Betubung wieder zu seiner vollen Grçße auf. Und auf seinen Stufen grïnen schon die Weinreben wie unzhlige Finger und umfangen den wilden Berg mit großer Kraft.«72 Und in den Steinbrîchen sprengten die Chalutzim Felsen: »Ein befreiender Schlag. Der Felsen entblçßt seine kîhle Brust. Wie Sonnenflecken sind gelbliche Kleckse darauf verteilt, haarige Wurzeln adeln die Brust dieses Felsens mit Mnnlichkeit.«73 Der Kçrper von Eretz Israel ist nackt. Die Leidenschaft der Chalutzim bekleidete ihn und bedeckte seine Blçße. Auf diese Weise beschrieb etwa Israel Chedri, einer der Siedler von Mishmar Ha-Emek (Kibbuz im Westen von Emek Yesrael, in der Nhe Haifas, gegrîndet 1922), die Landnahme der Chalutzim: »Die Erde des Waldes ist gepflïgt und tglich steigen Menschen den Hïgel ïber dem Lager hinauf, um zu messen, zu markieren und Pfosten aufzustellen. Sie spannen Fden und umzunen die Flche […]. Noch ein Monat, und ein Teil der verlassenen und entblçßten Berge von Eretz Israel wird ein herrliches, neues Gewand tragen. Und wir alle werden rufen: Trag es in Gesundheit!«74 Im ersten Teil meiner der hier angestellten ˜berlegungen habe ich vor allem drei Flîssigkeiten erwhnt, und zwar Wasser, Schweiß und Blut in der Dimension ihrer de-territorialen Bedeutung fîr die Leidenschaft der Chalutzim. Diese Flîssigkeiten, die einerseits das ekstatisch-symbiotische Erlebnis der Chalutzim mit Eretz Israel bedingten, erlangten andererseits auch eine re-territoriale Bedeutung, indem sie auf das Land bezogen wurden. Im Folgenden mçchte ich mich auf die Aspekte Schweiß und Blut konzentrieren. Wenn der Schweiß auf Eretz Israel bezogen wird, erhlt er re-territoriale Bedeutung, indem er den organlosen Kçrper des Landes mit Organen versieht. Von diesem Standpunkt aus wird die Obsession der Chalutzim verstndlich, deren Ziel die Eroberung durch jîdische und hebrische Arbeit war. Durch jîdische Arbeit sollte nmlich sicher gestellt werden, dass der Schweiß, der auf Eretz Israel, auf die ›Mutter Erde‹ floss, jîdischer Schweiß war. Die Chalutzim fîrchteten die Benetzung der Erde von Eretz Israel durch arabischen Schweiß. 72 Yitzchak Pelach: Kiryat Anavim (5 Kapitel). Aus dem landwirtschaftlichen Leben auf dem Boden des Keren Kayemet Le-Israel (Hebr.), Jerusalem 1924, S. 4. 73 A. Levin-Talmi: Zur Zeit der Zelte. Kibbuzgeschichte (Hebr.), Merchavya 1949, S. 127. 74 Chedri: Die Anfnge von Mishmar Ha-Emek (siehe Anm. 18), S. 1227 f.

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Shmuel Dayan etwa schrieb, dass das aufgebaute Land Israel keine Hoffnung und Zukunft habe, außer wenn es »durch unsere eigene Kraft [aufgebaut wird] und nicht durch die Kraft und den Schweiß von Fremden.«75 Dass die Leidenschaft der Chalutzim durch die Kanalisierung von jîdischem Schweiß auf die Erde Ausdruck fand, hatte unter anderem zur Folge, dass alle anderen Schweißstrçme abgehalten werden mussten. Somit lsst sich nicht nur die Obsession der Chalutzim bezîglich der Eroberung durch Arbeit verstehen, sondern auch ihre Hinwendung zur kollektiven Ansiedlungsform (Hityashvut shitufit). Nach Franz Oppenheimer ermçglichte die Existenz eines kollektiven hebrischen Siedlungskçrpers die vollstndige Kanalisierung jîdischen Schweißes auf die Erde. In diesem Zusammenhang konstatierte Oppenheimer, dass diejenigen, die ein neues Heim fîr den wandernden Juden suchten, dies nur auf einem einzigen Weg erfolgreich bewerkstelligen konnten: »Nur an einem Ort, an dem die Erde vom Schweiße ihrer Arbeiter gedïngt ist, wird die Erde des Landes zum Erbteil der Nation. Nur an einem Ort, an dem die Kooperative den Boden besitzt, den sie bearbeitet, nur dort ist sicher gestellt, dass kein arabischer Schweiß den Boden dïngt und ihn in Besitz nimmt.«76 Wenn bekannt wurde, dass eine Arbeit – besonders Landarbeit – von Nichtjuden, vor allem von Arabern, ausgefîhrt worden war, beschlichen die Chalutzim unbehagliche Gefîhle, angefangen bei Schmach und Scham îber Zorn, Furcht, Schmerz bis zur Bestîrzung.77 Bei Eli’ezer Shohat riefen diese Dinge wahre Todesangst hervor: »Wenn wir in eine hebrische Siedlung kommen, […] so genïgt es uns zu sehen, dass Nichtjuden dies gemacht haben, dass all dies von anderen geleistet wurde, damit unsere Freude getrïbt ist. Ein bitteres Gefïhl von Enttuschung und Scham erfïllt unser Herz. Ist dies nicht unser memento mori?«78

75 Dayan: Rîckblick auf 25 Jahre Deganya (siehe Anm. 18), S. 20. 76 Franz Oppenheimer : Merchavya. Kollektive Siedlung in Eretz Israel [1914; Hebr.], in: ders.: Kooperative Bewegung auf der Welt und in Eretz Israel – Zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Ausgewhlte Schriften, Tel Aviv 1994, S. 137. 77 A.D. Gordon: Briefe aus Eretz Israel, in: ders.: Briefe (siehe Anm. 7), S. 222; Die arabische Arbeit und ihre Gefahr fîr den Yishuv (Oktober 1908), in Yehoshua Kaniel (Hg.): The Second Aliya. Sources (Hebr.), Jerusalem 1997, S. 359 f; Briefe von Berl Katznelson, in Berl Katznelson: Briefe (1915 – 1918) (Hebr.), 1. Bd., Tel Aviv 1961, S. 118 – 125, 403; Zvi Sochovolski: Grenzen – Zum Gedenken an Me’ir Rotberg, den Freund und teuren Kameraden (Hebr.), in: ders.: Der Mensch und seine Welt, S. 78 – 80; Aufzeichnungen îber Ha-po’el Ha-tza’ir (siehe Anm. 26), S. 91. 78 Shohat: Nationale Schçpfung und Abrechnungen (siehe Anm. 4), S. 22.

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und daher, fhrt Shohat fort, kann Eretz Israel nur dann gesunden, wenn die Leidenschaft der Chalutzim in mçglichst allumfassender Form realisiert wird. Diese Leidenschaft ist jedoch nur durch den unmittelbaren Kontakt mit allen Dingen, die im Raum von Eretz Israel existieren, zu verwirklichen. »Alles, was im Land erzeugt wird, muss durch unsere Hnde erzeugt werden: Jeder Baum, jede Pflanze, jedes Haus, jeder Zaun. Kurz alles, was eine Partnerschaft zwischen Mensch und Natur herstellt. […] Nur mit unsrem Schweiß dïrfen wir unsere Erde benetzen. Und nur unsre Hnde dïrfen ihre Scholle wiederbeleben.«79 Wie der Schweiß war auch das Blut Teil der De-Territorialisierung der Leidenschaft der Chalutzim, aber zugleich auch ein Element der Re-Territorialisierung. Die Losung des Ha-shomer – »In Blut und Asche ist Juda untergegangen und in Blut und Asche wird Juda wieder erstehen« – symbolisiert mehr als alles andere die doppelte Funktion des Blutes. Dasselbe Blut, das Eretz Israel îberschwemmt und zerstçrt hat, wird es wieder neu schaffen und gestalten, indem es auf das Land gelenkt wird. Wie der Schweiß, so drîckt auch das auf die Erde von Eretz Israel geleitete Blut ihr den Stempel des Menschen auf. »Nationale Bestrebungen werden nicht Wirklichkeit, wenn man sich nicht dafïr opfert. Ohne Blutzoll wurde in der menschlichen Geschichte noch keine einzige nationale Hoffnung realisiert. Wir haben unsre Hoffnung bereits mit Blut besiegelt, mit heißem, mit jungem Blut.«80 Jîdisches Blut, das auf die Erde geleitet wurde, verwandelt sie in jîdische Erde. Das Blut, das in den Adern des Chalutz fließt, fließt auf den organlosen Kçrper der Erde von Eretz Israel kanalisiert und ermçglicht damit, dass Organe entstehen: »Blut, Blut. Wie schçn ist seine Farbe, und die Erde, auf die es verstrçmt, wird uns lieb und teuer. Denn wie das Blut fïr den Kçrper nçtig ist und fïr die gesamte Nation, so ist es das auch fïr die Erde. […] und wenn wir dieses Land nicht mit unsrem Blut getrnkt htten, stïnden wir heute nicht hier […]. Wir vergießen unser Blut und leben hier.«81

79 Ebd., S. 23. 80 Yehoshua Ta’han: Aufopferung (Hebr.), in: Rabinovitz: Yiskor (siehe Anm. 25), S. 20. 81 K.L. Silmann: Herzensbetrachtungen, in: Rabinovitz: Yiskor (siehe Anm. 25), S. 50.

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Das Blut der jîdischen Chalutzim heiligt die Erde;82 es schließt einen Bund zwischen dem Chalutz und dem Land und der Erde.83 Durch die »Transfusion jîdischen Blutes«, das der Chalutz der Erde spendet, wird sie zu jîdischer Erde.84 Das jîdische Blut erlçst die Erde des Landes. Ya’akov Zerubabel schreibt: »Es werden sich auf dieser Erde Massen von Hebrern ansiedeln. Sie werden sie bearbeiten, sie werden sie mit ihrem Blut und ihrem Fleisch durchweichen, und dies wird wie von selbst die Erlçsung herbeifïhren. Oder genauer gesagt, dies selbst ist die Erlçsung.«85 Nach den Morden an Moshe Barski in Deganya an Yosef Salzmann in Kinneret und an Feldmann in Segdra schrieb Shmuel Dayan im Namen der Arbeitergewerkschaft fîr Galila (Histadrut Po’ale Ha-galil) îber den Einfluss des Blutes auf die Beziehung zwischen dem Chalutz und seiner Erde: »Unser Land erinnert sich unser nicht, denn wir haben es vergessen. Das Blut unsrer Vter ist lngst vertrocknet und von einer Kruste ïberzogen. Blut und Schweiß von Fremden haben unser Vter Blut von den Feldern Israels hinweggespïlt. […] Und der Boden ist verwïstet, den Boden dïrstet nach dem Blut und Schweiß der Sçhne! […] Mit Blut und Schweiß werden wir ihn erweichen. Wir werden das Land mit dem Tau unsrer Jugend benetzen und es wird sich erneuern und sich unsrer wieder erinnern.«86

82 A. Z. Rabinovitz: Ya’akov Plotnik (Hebr.), in: Rabinovitz: Yiskor (siehe Anm. 25), S. 12; Vorwort der Herausgeber, ebd., S. IV f; Kushnir : Men of Nebo (siehe Anm. 33), S. 75; Rachel Yana’it-Ben Zvi: Von der Plage zur Arbeit, in: Am Rande. Sammelband fîr literarische und Alltagsangelegenheiten (Hebr.), Jerusalem 1918, S. 6. 83 Rabinovitz: Ya’akov Plotnik (siehe Anm. 82), S. 12; Vorwort der Herausgeber, in: Rabinovitz: Yiskor (siehe Anm. 25), S. IVf. 84 Kushnir : Men of Nebo (siehe Anm. 33), S. 69. 85 Ya’akov Zerubabel: Die arabischen Anschlge in den Siedlungen des unteren Galilas (Hebr.), in: Kaniel: The Second Aliya (siehe Anm. 77), S. 376. 86 Shmuel Dayan: In den Tagen von Vision und Belagerung. Aus meinem Tagebuch. Zeugnisse und Dokumente (Hebr.), Tel Aviv 1953, S. 229 f.

Personenregister

Adler, Siegfried 79, 171, 173 f., 178, 218 Aharonovitz, Yosef 263, 265 Alwill, Arieh 224 Angress, Tom 127 Angress, Werner T. 76, 107, 115 Anielewicz, Mordechai 74 Aristoteles 62 Arndt, Rudi 167 – 170, 175, 177, 179 Assaf, Ami 245, 259

Bab, Julius 150 Baer, Rudi 137 Bahr, Hermann 44 f., 48 Barski, Moshe 269 Barta, Rudi 91 Beer-Hofmann, Richard 45, 48 Ben-Ami, Gordon 229 Ben-Gurion, David 242, 244, 246, 251, 255, 261 – 263 Ben-Natan, Asher 108 f. Ben Zvi, Yitzchak (siehe auch: Shimshelevitz, Yitzchak) 245 f., 249, 258, 261, 269 Benari, Ascher 76, 82, 129, 133 f., 138 Benjamin, Walter 12, 38 – 40, 49, 79, 147, 205, 211 Berdzcyewski, Micha Josef 197 Bergmann, Shmuel Hugo 147 f., 150, 153, 193, 195, 197 – 199, 201, 206, 208 – 211 Bergson 154, 195, 198, 201 Bernfeld, Siegfried 117, 133, 216 Betar 188 Biale, David 200, 255 Bloch, Ernst 39 f., 49

Blubstein, Rachel (siehe auch: Rachel, die Dichterin) 247 Blîher, Hans 15, 217 – 219 Blumenfeld, Kurt 30, 155 Bonyhadi, Erwin 183 f., 189 – 191 Brentano, Franz 198 Breuer, Hans 102, 115 Brod, Max 193, 196 – 199, 201, 204 – 206, 209 – 211 Brzozowski, Stanisław 67 f., 73 Buber, Martin 28, 32, 38, 40, 43, 49, 52 f., 75 f., 89, 109, 117, 128 f., 131, 134, 141 f., 148, 154, 157, 159, 163, 197 – 201, 204, 208, 216, 219 Buske, Ernst 104

Calvary, Moses 109 Chedri, Israel 247, 266 Chushi, Abba 224, 227 Cohn, Lothar 15, 177, 179 Cosmoi (Erich Gutkind; Demitrije Mitrinovic) 39

Dubler, Theodor 49 Dayan, Moshe 264 f., 267 Dayan, Shmuel 247, 264 f., 267, 269 Dehmel, Richard 196, 198 Deleuze, Gilles 256 f., 261 Deutschmann, Walter 112 Dror, Benjamin 213, 224 Dîrrenmatt, Friedrich 97 f.

272

Elias, Norbert 99, 107, 129, 132 Elon, Amos 251, 261, 263 Ephraim, Kte 75, 116 Eschkol, Levi (siehe auch: Shkolnik, Levi) 261

Falk, Avner 255, 258 Feuchtwanger, Lion 145, 150, 164 Fichte, Johann Gottlieb 155, 198, 201 Fidus (siehe auch: Hçppener, Hugo) 12, 75, 116, 217 f. Fox, Louis 184, 186 Frei, Bruno 13, 42, 45, 66, 68, 70, 90, 101 f., 107, 114, 122 f., 127, 137 f., 150, 170, 172, 182, 200, 202, 209, 226, 231, 233 Freier, Recha 118 Freud, Sigmund 39, 87, 97 f., 134, 156, 195, 216, 247, 251, 253 – 257, 267 Fried, Josef 246 Fîrst, Irene 171 f., 176, 178, 184 f., 192 Fîrst, Max 77, 115, 126, 171 f., 174, 178 f.

George, Manfred 14 f., 23, 129, 150, 156, 170, 196, 199, 207 George, Stefan 122, 129, 131, 133 f., 196 Gerson, Hermann 8, 115, 118, 121 f., 125 – 137 Gidal, Tim 82 – 84 Ginsberg, Schaul 137 Glaser, Karl 112 f. Goldin, Rachel (siehe auch: Yana’it, Rachel) 261 Goldmann, Lucien 63 – 65, 69 f., 72 f. Goldschmidt, Alfons 163 Goldstein, Shlomo 211, 224 Goral-Sternheim, Arie 77, 114 Gordon, Aaron David 12, 16 f., 35, 145, 221, 229, 242, 244 f., 255, 267 Groß, Jule 66, 75, 113, 115, 127, 157, 205 Grîn, David (siehe auch: Ben-Gurion, David) 261, 266 Guattari, F¤lix 256 f., 261 Gutkind, Erich 12, 35 – 43, 45 – 49, 57 – 59

Personenregister

Haam (HaAm), Achad 148 Hacohen, Eliezer 229 f. Hallenberg, Moshe 249 Hammer, Walter 102 Hannah, Arendt 25, 99 f., 164 Harburger, Fritz 82 Hartewig, Karin 169 f., 172, 174, 176 f., 180 Hasenclever, Walter 150 Hazan, Ya’acov 213, 226 f., 229 Herder, Johann Gottfried 46 Herzl 154, 217 Hesse, Hermann 133, 159, 196 Hillberg, Raul 74 Hiller, Kurt 207, 209 Hçlderlin 155, 201 Hçppener, Hugo (siehe auch: Fidus) 12, 116, 218 Horowitz, David 62, 70 f., 73, 220, 223 – 225 Horowitz, Emy 83 f. Horowitz, Shlomo 71 f. Hutterer, Rosa 177 f.

Ibsen, Henrik

72

Jabotinsky 181, 187 f. Jacob, Berthold 69, 150, 200 Jacobsohn, Siegfried 149 f., 164 Jacoby, Hans 181, 187 f., 190 f. Jaspers, Karl 46 Jonas, Hans 22, 26, 28 f.

Kafka, Franz 193, 197, 197 – 206, 208, 210 f. Kafka, Hermann 202 Kahn, Siegbert 177 – 179 Kandinsky, Wassily 37 – 39, 44 Kant, Immanuel 63, 195, 198 Katznelson, Berl 237, 267 Kedar, Aharon 148, 150 Kisch, Egon Erwin 150 Klatzkin, Jakob 30 Klein, Melanie 83, 90, 98, 101, 103, 122, 137,

273

Personenregister 139, 141, 148, 168, 192, 202, 218, 242, 253 – 256 Koebel, Eberhard (siehe auch: tusk) 104 Kohn, Hans 38, 147, 150, 153 f., 157, 161 – 163, 165, 193, 197 f., 200 f., 208, 210 f., 214 Kohnstamm, Jakob 167, 171 Kolman, Arnost 157, 162 Konopka, Gisela 176, 179 Kraus, Alfred 157

Landau, Georg 40 f., 49, 149, 223 Landauer, Gustav 38, 41, 49, 66, 154, 216, 219, 226, 228 Landshot, Zvi 232 Langer, Jirˇi 204 f. Langer (Meron), Ruth 91 Laqueur, Walter 23, 66, 98, 107, 194 Lavi (siehe auch: Schçn), Ruth 83 Levinas, Emmanuel 15, 35 f., 50 – 59 Liberson, Techiya 258, 260 f. Liebenstein 239 Lieberman(n), Nina 182, 186, 192 Lippmann, Gert 127 Litten, Hans 115, 126, 171 f., 175, 179, 191 Lçwith, Karl 31 Lueger, Karl 183 Lukcs, Georg 63, 65, 69 f., 146, 204, 207

Mannheim, Karl 12, 23, 100, 146, 150 – 152, 160 f., 203 Marcus, Joseph 12, 116 Marcuse, Ludwig 150 Margules, Ela 192 Mau, Hermann 76 f., 122, 205 Mehring, Walther 150 Meister Eckhart 41, 204 Meron, Ruth siehe: Langer, Ruth Meyer, Edith 76, 191 Mitrinovic, Demitrije 39

Nadav, Zvi 259, 263 Nehab, Ernst 137 f. Neumann, Zwi 17, 229, 241

Neuwirth, Jack 183 – 185, 190 Nietzsche, Friedrich 31, 40, 43, 55, 57, 66, 68 f., 155, 195, 197 f., 216, 218 Nisanov, Yecheskel 250 Nordau, Max 44, 55, 201, 217

Oppenheimer, Franz 38, 267 Ornstein, Ludwig 183, 189 Ornstein, Rudolph 190

Paasche (Pasch), Hans 102, 182 f., 185 Pchter, Heinz 175, 179 Pascal, Blaise 63 f., 196 Paucker, Arnold 170, 178, 180 Pelach, Yitzchak 266 Pinthus, Kurt 150 Pollak, Ernst 183, 190 Portugali, Menachem 250 Proskauer, Else 176, 179

R. 13, 39, 49, 112, 178, 203, 211, 247 Rachel, die Dichterin (siehe auch: Blubstein, Rachel) 22, 245, 247 f., 263 Racine, Jean 63 f. Rang, Florens Christian 38, 49 Rapaport, Eliyahu 246, 259 Rathenau, Walter 38 Ratzabi, Shalom 148, 150 Reichenthal, Bertha 182, 186, 191 Reichmann, Eva 160 Remarque, Erich Maria 152 Rilke, Rainer Maria 127, 196, 198 Rolland, Romain 38 Rosen, Pinchas 30 Rosenblit, Felix 30 Rosenfeld, Rubin 169, 179 Rosenstock, Werner 108 Rosenthal, Leo 171, 179 Rosenzweig, Franz 40, 52, 73, 199

Salzmann, Yosef 269 Sauer, Fritz 173 f., 179

274 Savonarola, Girolamo 72 Schatz, Zvi 38, 113, 248, 258 Schatzker, Chaim 30, 76 f., 79, 170 Schiff, Abraham 90, 124 Schnitzler, Arthur 45 Scholem, Gershom 21 f., 25, 28, 30, 32, 38 – 40, 117, 147, 149, 163, 200, 205 Schçn (Lavi), Ruth 52 f., 83, 113, 139, 156 f., 209, 220, 268 Schçnberg, Arnold 39, 44, 211 Schopenhauer, Arthur 133, 198 Schwarz, Dora 68, 78, 104, 115 f., 122, 124, 126 f., 131, 134, 168, 170 – 177, 179, 183 f., 186, 190 f. Schweid, Eli’ezer 255 Seeligmann, Chaim 119 Senator, Werner 149 Shimonowitz, David 217 Shimshelevitz, Yitzchak (siehe auch: Ben Zvi, Yitzchak) 261 Shkolnik, Levi (siehe auch: Eschkol, Levi) 261 Shoham, Yedidya 221 f., 229 Shohat, Eli’ezer 244, 267 f. Simon, Ernst 22, 149, 158 f. Sinclair, Upton 38 Spengler, Oswald 12 Steinbach, Jehuda 113 Steinberg, Sascha 83, 85, 87, 174, 179 Steinberger, Nathan 169, 179 Steiner, Rudolf 48, 198 Stern, Guy 11, 48, 73, 107, 122, 127, 178, 248 Stillmann, Ilse 174, 177, 179 Strauss, Herbert A. 107 Sîß, Albert 183 f.

Tagore, Rabindranath 38, 40 Toller, Ernst 150, 156, 164 Tçnnies, Ferdinand 219 Trumpeldor, Joseph 247, 258, 260 Tschernichowski, Saul 197

Personenregister Tucholsky, Kurt 149 f., 165 Tusk (siehe auch: Koebel, Eberhard) Tzisik, M. 236

104

van Eeden, Frederik 37 Vernant, Jean-Pierre 70 f. Vico, Giambattista 46 von Hofmannsthal, Hugo 45 von Schirach, Baldur 105

Wald, Meir (siehe auch: Ya’ari, Meir) 61 f., 65, 68, 117, 177, 196, 220, 227, 248, 261, 266 Weber, Max 27, 178, 195 Weintrob, Richard 229 f., 236 Weitz, Josef 245 – 247, 251 Weltsch, Robert 145, 150, 153 – 155, 157, 162, 165, 195, 197 Werfel, Franz 196, 198 f. Wilson, Woodrow 133, 162 Wohl, Robert 37, 39, 57, 64, 68, 104, 125, 131, 140, 146, 151 – 153, 162 f., 167, 176 f., 180, 205, 207, 211 Wolff, Ernst 126 Wyneken (Weiniken), Gustav 122 f., 133, 194, 216 f.

Ya’ari, Meir (siehe auch: Wald, Meir) 220, 223 f., 226, 229, 231 f., 236, 238, 245 – 248, 261 Yaffe, Eli’ezer 254 Yana’it, Rachel (siehe auch: Goldin, Rachel) 245 f., 248 f., 258, 261, 269 Yitzhaki, Ya’akov 248

Zertal, Moshe 68 Zerubabel, Ya’akov 211, 249, 259, 269 Zweig, Arnold 114, 145, 150, 159, 164, Zweig, Stefan 35,133, 152, 164, 184

Sachregister

Achdud HaAvoda 221 Akademische Freischar 101 ølterenbund 126

Bar Kochba-Verein (Verein jîdischer Hochschîler Bar Kochba) 153 – 157, 161 – 163, 197, 201 Bithania (Elite), Hçhe Bethania 67, 69, 221, 224 f. Blau-Weiß 16, 21 f., 25, 30, 79, 82 f., 109, 111 – 116, 118, 124, 129, 132, 188, 190 f., 216 Brith Haolim 79, 124 Brith Shalom 145 – 150, 153, 155, 158, 160 – 162, 164 f. Bîndische Jugend 103 – 105 Bund jîdischer Jugend 123, 125, 174

Centralverein 114, 116 Christlichsoziale Partei 184

Deutsche Freischar 104 Deutsche Jungenschaft vom 1.11.1929 104 Deutscher Alpenverein 183, 186 f. Deutscher Schulverein 183 Deutschnationale 182 f., 186 f. Deutsch-çsterreichischer Schutzverein Antisemiten-Bund 184

Edelweißpiraten 105 Eiserner Besen 184 Esra 79 f., 116, 124

Feldwandervogel 102 Forte-Kreis 38 – 41, 49 Freideutsche Jugend(bewegung) 13, 102, 121, 180 Freie deutsch-jîdische Jugend 123 f., 127, 170

Gdud Ivri 219 Großdeutscher Bund

104

Habonim Noar Chaluzi 124 HaGdud HaAvoda 221 HaPoel HaZa’ir 213, 221 f., 233 HaShomer 213 – 236, 238 f. HaShomer HaZa’ir 61 – 63, 65 – 74 Hebrische Brigade 248 Hebrische Pfadfinderbewegung 215 Histadrut Po’ale Ha-galil (Gewerkschaft fîr Galila) 269 Hitler-Jugend 104 Hçhe Bethania, siehe: Bithania Elite

Institut fîr Zeitgeschichte

76

276

Sachregister

Jîdischer Wanderbund Blau-Weiß, siehe: Blau Weiß Jugend-Alija 79, 118 Junges Wien 44 f. Jung Juda 22 Jungjîdischer Wanderbund 16, 79 Jungvolk 105

Kadima 16, 25, 79, 82 – 84, 124 Kameraden 62, 71, 77, 79 f., 82 f., 85, 114 – 118, 121, 123, 125 f., 128 f., 131 f., 158 f., 167 f., 170 – 174, 180, 250, 267 Kartell jîdischer Vereine 22 Keren Kajemet Le’Israel 228 Kibbuz Arzi 128, 138 f., 213 f., 223 – 239 Kibbuz Meuchad 138 f. Kommune Bittania (siehe auch: Bithania Elite) 190 Kommunistische Partei 168, 177, 187 Kommunistischer Jugendverband 174, 176 f. Kreis 13, 22 f., 30, 37 – 39, 41, 43 – 45, 48 f., 62, 67, 72, 84, 92, 98, 100 f., 104, 112, 115, 117, 125 f., 128 – 138, 141, 147, 150, 155, 160 f., 164, 171, 197 – 199, 202 f., 207, 210 – 212, 227 Kreisauer Kreis 105

Liedertafel

Radicalsocialistischer Kreis 171 Reichsbanner 171 Ring. Bund deutsch-jîdischer Jugend (ab 1936: Ring. Bund jîdischer Jugend) 123, 126 f. Rote Kapelle 105

Salzburger Turnverein 183 f. Schwarzer Haufen 78, 115, 122, 126, 168, 170 – 179 Schwarzes Fhnlein 104, 115, 124, 127 Shomreja 221, 224 Shomrim Za’ire Zion 215 Sonntagskreis 207 Sozialdemokratische Partei 187, 228 Sozialistische Arbeiterjugend 171 Sozialistische Arbeiterpartei 133 Sozialistische Liga 234, 237 f. Stîrmer, Der 108, 184

Verein jîdischer Hochschîler Bar Kochba, siehe: Bar Kochba Verein Verein Sîdmark 183 Vortrupp-Bund 102

183

Makkabi Hatzair 79, 83, 87 Mapai 237 Monte Verit” 41

Neue Gesellschaft New Europe 39

Pernerstorfer Gruppe 207 Poalei Zion 221, 242 Prager Kreis 193, 197, 200 – 204, 206 – 208, 211 f.

199, 207, 219, 232

§sterreichischer Alpenverein

183

Wandervogel 13, 15, 22, 25, 66, 75, 101 – 104, 111 f., 115 f., 121, 123, 196, 216, 218 Weiße Rose 105 Werkleute. Bund deutsch-jîdischer Jugend 128

Za’ire Zion 215 Zofim-Bewegung (Pfadfinder)

65