Die informationellen Beziehungen zwischen Meldebehörde und Polizei in Berlin: Historische, verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte der Zusammenarbeit [1 ed.] 9783428482443, 9783428082445

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Die informationellen Beziehungen zwischen Meldebehörde und Polizei in Berlin: Historische, verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte der Zusammenarbeit [1 ed.]
 9783428482443, 9783428082445

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ULRICH MARENBACH

Die informationeilen Beziehungen zwischen Meldebehörde und Polizei in Berlin

Schriften zum Recht des Informationsverkehrs und der Informationstechnik Herausgegeben von Prof. Dr. Horst Ehrnano und Prof. Dr. Rainer Pitschas

Band 10

Die informationeilen Beziehungen zwischen Meldebehörde und Polizei in Berlin Historische, verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte der Zusammenarbeit

Von

Ulrich Marenbach

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Marenbach, Ulrich: Die informationeBen Beziehungen zwischen Meldebehörde und Polizei in Berlin : historische, verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte der Zusammenarbeit I von Ulrich Marenbach. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Schriften zum Recht des Informationsverkehrs und der Informationstechnik ; Bd. I0) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08244-3 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0940-1172 ISBN 3-428-08244-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Norm für Bibliotheken

Vorwort Die Arbeit wurde im WS 1993/94 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechungsnachweise konnten bis Anfang November 1993 eingearbeitet werden. Die am 20. März 1994 in Kraft getretenen Änderungen des Melderechtsrahmengesetzes (BGBI. I S. 529; Bekanntmachung der Neufassung des MRRG v. 24.6.1994, BGBI. I. S. 1430 u. 1452) sind -soweit thematisch relevant - in ihren jeweils letzten, im Ergebnis unverändert gebliebenen Entwurfsfassungen berücksichtigt worden. Mein Dank gilt Herrn Prof Dr. Heinz Wagner für seine Unterstützung und die Erstellung des Erstgutachtens sowie Herrn Prof. Dr. Christoph Müller für die Anfertigung des Zweitgutachtens. Herrn Prof. Dr. Rainer Pitschas und Herrn Prof. Horst Ehmann danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe. Zudem haben - auf zum Teil ganz unterschiedliche Weise Barbara, Victor und Leon, Kay, Anke und Mattbias sowie meine Eltern in entscheidenden Phasen der Arbeit notwendige Hilfen geleistet. Ihnen allen danke ich herzlich. Berlin, im September 1994 Ulrich Marenbach

Inhaltsverzeichnis Erster Teil

Vorbemerkungen A. Einführung .......................... .. .... ................. ...... ..................... ... ....... .. . 15 B. Untersuchungsgegenstand ........................ ................................ .... ...... ... . 22 C . Gang der Untersuchung ... ..... .. .......... .. ..... ..... ....... ................................. 26

Zweiter Teil

Die Beziehungen zwischen "Meldewesen" und Polizei in ihrer historischen Entwicklung A. Ursprünge des Meldewesens .. .............. ......... ................ ....... ..... ...... .... ... 30 I.

Das Recht des "freien Zugs" ............................ .................. ..... ...... ... 30

ll. Die Armenpflege .......... ...... ............................................. .. .. ..... .... . 33

m.

Der Einfluß des französischen Gouvernements ....... ...... .......... .............. 35

B. Institutionalisierung ..... ... .... ... ...................................... .. .. .. ..... ..... .. ... ... . 35 I.

Von der Fremdenkontrolle durch "Dritte" zur Selbstmeldung aller Einwohner ...... ........ ....................... ......... ........ .. ..... .................... ....... ..... 35

II. Die Entwicklung zum Einwohner-Meldeamt .... ............ .. .. ...... .......... .... 38

m.

Rechtliche Anhindung des Meldewesens: Verordnung/Gesetz/Verfassung .. . 41

IV. Datenvolumen und Aufgabenbestimmung des Registers um 1900 .. ............ 43 C. Perfektionierung .. ................................. ......... ... ........................... .... ... . 47 I.

Konzentrations- und Rechtsvereinheitlichungsbestrebungen bis 1930 ......... 47

II.

Zentralisierungsansätze des bestehenden Systems .... .............................. 50 l. Organisatorische Zentralisierungsbestrebungen ................................ 51 2. Materiell-rechtliche Vereinheitlichung .... .... ... ................................. 55

8

Inhaltsverzeichnis

ill. Die quantitativen und qualitativen Änderungen der Reichsmeldeordnung (RMO) v. 6. Jan. 1938 nebst ihrer Runderlasse .................................. .. 57 IV. Datenvolumen und Zweckbestimmung des Registers um 1942 ....... .......... . 59 D. Kontinuität .. ........................................................................... ...... .. .... 62 I.

Entnazifizierung und Entmilitarisierung der RMO ................................. 62

II. Die Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes ..................... ....... ... .. 64

ill. Datenvolumen und Zweckbestimmung des Registers um 1970 ..... ...... ....... 65 IV. Die Einführung der automatisierten Datenverarbeitung in der Verwaltung ... 67

Dritter Teil

Verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte für die Normierung der informationellen Tätigkeiten von Meldebehörde und Polizei A. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als grundrechtlich verbürgter Datenschutz ............................................................................ .... ..... .. 71 I.

Verfassungsdogmatische Grundlagen und Grenzen ................... ....... ..... . 71

II.

Funktion und Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung .......................................... ................. ................... ..... .... ... 72 1. Art. 2 Abs. 1 i. V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ............................. .... ... ....... 72 a) Schutzfunktionen ........................................................ .... ...... . 72 b) Umfang des Schutzbereichs .......................................... ....... ..... 75

2. Art. 21 b VvB .......................................................................... . 77

m.

Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt....... .. .......... ....... .... ... ........ . 78 1. Die beendete Eingriffsdiskussion ....................................... .... ... .. ... 78

2. Dogmatische Konsequenzen ............................................... ... .. ... .. 86 IV. Verbot der Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat. ................. . 89 1. Die Wortsinn-Interpretation ........... ........ ...... .... ... .......... .... ........ .. .. 90 2. Zuordnung zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. ............ .... ... ....... 91 a) Geeignetheit ....... .............. ... ........................................ ......... 93 b) ErforderlichkeiL ..................................... ............... .. .... ... ...... . 94 c) Verhältnismäßigkeit i.e.S ................ ......... ...... ....... ....... ..... ..... .. 95 V. Der Zweckbindungsgrundsatz ........................... ......................... ....... 96 1. Die bereichsspezifische und präzise Bestimmung des Zwecks ............. . 96

a) Der funktionale Zweckverbund ................................... ........ ...... 98 b) Die Sachzuständigkeit der Gesamtbehörde .......... .... .. ... .. .... ......... 100 c) Die Garantenfunktion der Erhebungsnorm ................. ..... ............ 102

Inhaltsverzeichnis

9

d) Stellungnahme ....... ............................. .. ............................... 102 aa) Ableitung des "Zweckes" aus Art. 1 I GG ............................. 102 bb) Bedeutungsgehalt von Bereichsspezifität und Präzision ....... ...... 108 cc) Ergebnis .................................................................... .... 109 2. Die enge und konkrete Zweckbindung .... .... .......................... ......... 112 a) Zweckbindung, -entfremdung, -änderung ................................... 112 b) Absolute und relative Zweckbindung .... .................................... . 114 c) Behördliche "Kooperationspflicht" gern. Art. 35 GG ........ .. .......... . 115 d) Regelungsstandort der Zweckänderungsnorm .............................. 117 VI. Informationelle Gewaltenteilung .... .... ... ..... ............ ......... ....... ... .... .... 119 VII. Sonstige Schranken-Schranken ......................................................... 121 B. Die Bedeutung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung für das Meldewesen .. .. ..................................................... .................................. 121 I.

Anwendbarkeit ....................... ....... ........................ .......... ............ . 121 1. Aufgaben und Rechtfertigung der Statistik ....... .. ....... ......... .... ......... 124

2. Aufgaben und Rechtfertigung des Melderegisters ................... .......... 125 3. Gemeinsamkeiten und Unterschiede ........................................ ...... 127 4. Ergebnis ....................... ............................................. .. ... ... ..... 128 II.

Das Verbot der Datenbevorratung im Melderecht.. .. ...... ................... .... 129 l. "Dispens" aus Art. 75 Nr. 5 GG ..... ..... .. .... .. .............. ......... ......... 130

2. "Dispens" für Register in toto ................... ........................... ........ 131 3. Zuordnung der Melderechtsspezifika zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ....................... ..... ............................................ ........... 132 a) (Grob)Befund .. ......... .. .......... .. .... ........... ....................... ..... .. 132 b) Die "Verwaltungsvollzugsaufgabenferne" meldebehördlicher Grunddatenerfassung ..... ....... ........... .. ............ ................. .. .... ..... .... 134 c) Präzisierungsschema zur Verhältnismäßigkeitsprüfung melderechtlicher Informationsbefugnisse .................................................. 136 ill. Das Gebot der Zweckbindung im Melderecht.. .................... ... ............ . 137 l. Multifunktionalität versus Beliebigkeit ............. ... .... ....................... 137

2. Die Garantenfunktion der Übermittlungsnorm ...................... ... ...... .. 138 3. Der Regelungsstandort der Übermittlungsnorm .................. ..... ........ 140 C. Die Bedeutung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung für das Polizeirecht ............................... ..... ............................................ .. .. ... ..... 141 I.

Bereichsspezifische Zuordnung präventiver und repressiver Polizeifunktionen ............................................................................ ...... .... .. 143

II.

Zweckbindungsprinzip und "Synchronisation" der Eingriffsbefugnisse .... .. 145

10

Inhaltsverzeichnis

m.

Das Verbot der Datensammlung auf Vorrat und die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten .................................. ...................................... 149

1. Die "unendliche Geschichte" des "richtigen Regelungsstandortes" .... .... 149 2. Evidenter Verstoß gegen das Datenbevorratungsverbot? .................... 150 a) Keine unmittelbare Präventionswirkung durch Datensammlung ........ 151 b) Die prinzipielle Unzulässigkeit "mittelbarer Präventionswirkung" durch Datensammlung ............................................... ............ 152 c) Die strukturellen Dilemmata bei der Inkorporation des Datenschutzes in das Polizeirecht und die verfassungsrechtlichen Bedingungen notwendiger Ausnahmen ........... .............. ... ..... ...... ...... ......... .. 153

Vierter Teil Organisatorische und normative Regelungen der interbehördlichen Zusammenarbeit in Berlin A. Das Gesetz über das Meldewesen in Berlin v. 26. Februar 1985 .................... 159 I.

Die organisatorische Ausgliederung der Meldebehörde aus dem Polizeipräsidium ...................................................... ........................... .. 159 1. Das Ordnungsaufgabensplitting ................. ...... ............................. 160 2. Die "Bezirkslösung" ................ .. ......... ........ .............................. 161 3. Die "kleine Lösung" ............................. ..................................... 161 4. Die "große Lösung" .............................. .................................... 161

II.

Aktuelles Datenvolumen des Registers .......... ........ ............................. 163

B. Polizeirechtliche Regelungen/Entwürfe .......... .... ..... .................... ........... .. 165 I.

Präventives Handeln - ASOG v. 14. April 1992 ................................. 165

II.

Repressives Handeln ..................... ...... ..... ..................................... 166 1. Strafprozeßordnung (StPO) ......................................................... 166 2. Regierungsentwurf - Strafverfahrensänderungsgesetz (StVÄG) v. 26. Juni 1989 .................................. ..................................... 167

C . Die verfassungsrechtliche Bewertung des informationeBen Beziehungsgeflechts ... .......... ............. .................... .. ...... ............. ........................... 168 I.

Die normative Grundkonzeption der informationeBen Zusammenarbeit ..... 168 1. Die prinzipielle gesetzliche Trennung meldebehördlicher und vollzugspolizeilicher Handlungspflichten .............. ... .................................. 168 2. Die Regelung der Übermittlungsverantwortung ...................... .... ...... 171 a) Meldegesetzliche Konzeption ......... .... . ...... ............................... 171 b) Polizeigesetzliche Konzeption ........ .......................................... 174

Inhaltsverzeichnis

11

3. Meldebehördliche Übermittlung als partielle Ausnahme vom polizeirechtlichen Grundsatz offener Erhebung beim Betroffenen ................. 175 a) Die kodiftzierten Prinzipien ..................... ................. .......... .... . 175 b) Die Übermittlung als "Erhebung bei Dritten" ............ .................. 175 c) Die datenschutzbedingte "Aufspaltung" der indirekten Informationsbeschaffung und ihre polizeirechtliche Regelungs "Iücke" ...... ......... 178 II.

Melderechtliche Informationsverarbeitungsbefugnisse mit "Polizeirechtsbezug" .................... ........ ... ...................................... .............. ... . 179

1. Meldepflicht in Beherbergungsstätten, § 21 MeldeG Bin .................... 180 a) Gesetzgebungskompetenz ......... ... .......... .............. .. ..... ............ 180 aa) Inhalt der Rahmenkompetenz des Bundes gern. Art. 75 Nr. 5 GG ............... ............... .............................. .. ... ...... 181 bb) Verhältnis zur Landeskompetenz gern Art. 70 GG ................... 187 b) Verstoß gegen Art. 2 I i.V.m. 1 I GG ...... ..................... ........ ..... 189 aa) Schutzbereich und Eingriff ................................................. 189 bb) Bereichsspezifischer Gesetzesvorbehalt/Regelungsstandort ........ 190 (1) Gebot der Rechtsklarheit und Berechenbarkeil (Bestimmtheitsgrundsatz) .. ....................... ... ............ ...... .... ...... ... 190 (a) Bestimmtheit der Norm .............................. ............. 191 (b) Rechtsklarheit der Gesamtkonzeption ............... .. ... ..... . 194 (2) "Gebot" der "Systemgerechtigkeit" .. .................... ..... ..... . 198 cc) Der Zweckbindungsgrundsatz .................................. .. ... .... .. 200 dd) Verbot der Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat ..... 200 (1) Geeignetheil .... ...... .... ...... ..... .... .... ... .. ...... ..... ... .... ...... 201 (2) Erforderlichkeil .. ......................................... ............... 205 (3) Proportionalität .............. .. ... .. ... .... ............... .. ............. 206

2. Meldepflicht in Krankenhäusern und vergleichbaren Einrichtungen, § 22 MeldeG Bin ......................................................... .... .... .... . 208 a) Gesetzgebungskompetenz ............................................ ........... 208 aa) Inhalt der Rahmenkompetenz des Bundes gern. Art. 75 Nr. 5 GG ............ ..... .. ........ ..... .. ........ ..... ... .. ....... ... .... .... . 209 bb) Verhältnis zur Landeskompetenz gern. Art. 70 GG ....... ........... 209 b) Verstoß gegen Art. 2 I i.V.m. 1 I GG .. ..... ........ ...... .... .... ...........209 aa) Schutzbereich und Eingriff........... .. ....... .................... ......... 209 bb) Bereichsspezifischer Gesetzesvorbehalt/Regelungsstandort ........ 210 cc) Der Zweckbindungsgrundsatz ........ .. ................................... 211 dd) Verbot der Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat .. ... 212 (1) Geeignetheil .......... ....... ... ... ....... .. .............................. 212 (2) Erforderlichkeit ...... .......... ... .......... ........ .. ...... ..... .. .. ... . 213 3. Automatisierte Datenübermittlungen an den Polizeipräsidenten, § 26 m MeldeG Bin i.V.m. § 3 Nr. 2 DVO-MeldeG Bin, Anlage 5, lfd. Nr. 4 .. 213 a) Gesetzgebungskompetenz ........ ......... ......... .............................214 b) Verstoß gegen Art. 2 I i.V.m. 1 I GG ................ ........................ 216 aa) Schutzbereich und Eingriff .......... ..... ..... ............................. 216 bb) Bereichsspezifischer Gesetzesvorbehalt/Regelungsstandort ........ 217 (1) Die melderechtliche Einrichtungsregelung ....... .. ............... 217

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Inhaltsverzeichnis (2) Die präventiv-polizeiliche Eingriffsbefugnis ...................... 218 cc) Der Zweckbindungsgrundsatz ......................................... .... 219 dd) Verbot der Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat ..... 219 4. Regelmäßige Datenübermittlungen an den Polizeipräsidenten, § 26 I, ll MeldG Bin i.V.m. § 3 Nr. 1 DVO-MeldeG Bin, Anlage 4, lfd. Nr. 8 und 9 ........................ ... .............................................. ... ......... 220 a) Gesetzgebungskompetenz ............................................ ....... .... 221 b) Verstoß gegen Art. 2 I i.V.m. 1 I GG .................................. ......221 aa) Schutzbereich und Eingriff..................................... .. .......... 221 bb) Bereichsspezifischer Gesetzesvorbehalt/Regelungsstandort .. ..... . 221 cc) Der Zweckbindungsgrundsatz ....................................... ...... 222 dd) Verbot der Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat ..... 222 (1) Geeignetheil .............................. ... ............... .... ... .. ..... 223 (2) Erforderlichkeil ........................... ..................... ... ..... .. 223 5. Datenübermittlung an die Sicherheitsbehörden "in Einzelfällen", § 251V i.V.m. I, ll MeldeG Bin ......................................... ... .... .. 224 a) Gesetzgebungskompetenz ..................... ..... ................. ............ 224 b) Verstoß gegen Art. 2 I i.V.m. 1 I GG ... .. .................. ....... .. ..... ...227 aa) Schutzbereich und Eingriff ........................................ ......... 227 bb) Bereichsspezifischer Gesetzesvorbehalt/Regelungsstandort ........ 227 cc) Der ZWeckbindungsgrundsatz ............................................. 228 dd) Verbot der Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat ..... 230

ill. Präventiv-polizeiliche Informationsverarbeitungsbefugnisse mit "meldeda-

tenverarbeitungsrechtlicher Relevanz" .... ...... .... ............................. ... .230

1. Datenübermittlung innerhalb des öffentlichen Bereichs, § 44 ASOG ..... 232 a) Gesetzgebungskompetenz ....................................................... 233 b) Verstoß gegen Art. 2 I i.V.m. 1 I GG ........................................234 aa) Schutzbereich und Eingriff............ ..................................... 234 bb) Bereichsspezifischer Gesetzesvorbehalt/Regelungsstandort ....... . 234 cc) Der Zweckbindungsgrundsatz .... ........ ....... ........ ...... ........... . 235 2. Exkurs: Allgemeine Regeln über die Datensicherung, -Veränderung und -nutzung, § 42 ASOG .................. ...... ... ... ..... .............. ........ 236 a) Gesetzgebungskompetenz ....................................................... 237 b) Der Zweckbindungsgrundsatz .............. .................................... 237 3. Automatisiertes Abrufverfahren, § 46 ASOG .................................. 240 4. Datenabfragen, Datenabgleich, § 28 ASOG .................. .................. 240 a) Begriffsklärung und datenschutzrechtliche Konsequenzen ...............241 b) Keine polizeiliche Zugriffsermächtigung auf den Meldedatenbestand ................... ... .... ........................ ................................242 5. Besondere Formen des Datenabgleichs, § 47 ASOG ......................... 242 a) Begriffsklärung und datenschutzrechtliche Konsequenzen ...............243 b) Gesetzgebungskompetenz .... ... .... ............................................245 c) Verstoß gegen Art. 2 I i.V.m. 1 I GG ........................................ 247 aa) Schutzbereich und Eingriff ................................................. 247

Inhaltsverzeichnis

13

bb) Bereichspezifischer Gesetzesvorbehalt/Regelungsstandort.......... 247 cc) Der Zweckbindungsgrundsatz ....... .. .................................... 248 dd) Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.. ............ 249

Fünfter Teil Schlußbetrachtung

252

Literaturverzeichnis .............................................................................. 254

Erster Teil

Vorbemerkungen A. Einführung Das Einwohnermeldewesen ist der Kern personenbezogener Grunddatensammlung des Staates. Es hat Tradition. Nicht nur Wilhelm Voigt aus Zuckmayers "Hauptmann von Köpenick" mußte um die Jahrhundertwende die Relevanz meldebehördlicher Erfassung für die menschliche Existenz schlechthin erkennen. Seine individuell-identitätskonstituierende Sicht! fand ihre staats- und verwaltungsorganisationsrechtlichen Entsprechungen vergleichbaren Gewichts: Während Hartmann2 1913 in der Praxis hatte sich das staatlich institutionalisierte Meldewesen bereits Jahrzehnte bewährt - noch bescheiden vermerkte, daß "durch ... Einrichtung und Fortführung dieser Register ... für die Staatsbehörden sowohl wie für das große Publikum Ersprießliches geleistet werden" könne, konstatierte Friedrichs3 1916 pointiert, "die Verpflichtung zur Anmeldung an- und abziehender Personen" habe "für die praktische innere Verwaltung eine größere Bedeutung als die Staatsform und die Grundlage der Staatsverfassung". In einer in nationalsozialistischer Diktion gehaltenen Dissertation aus dem Jahre 1940 resümierte der Verfasser4, "daß ein modernes Staatswesen ohne das Meldewesen einfach nicht denkbar wäre" und dieses "vom nationalsozialistischen Staatsdenken aus gesehen ein besonders wichtiger Teil der staatlichen Ordnung" sei5. Man mag die Beurteilungen der Wertigkeit des Einwohnermeldewesens nicht teilen und nach heutigem Staatsverständnis auch gar nicht in allen EinI "Iek reg mir jamich uff, ick will nur (')n Papier haben. (')n Papier, det is doch mehr wert als de janze menschliche Konstitution, det brauch ick doch neetijer als det tägliche Brot!", Voigt im Gespräch mit dem Bediensteten des Meldeamts Potsdam zwecks Erlangung einer Meldebestätigung in: Zuckmayer, l. Akt, 2. Szene a.E., S. 18. 2 Hartmann in: v. Stengel/Fleischmann: Wörterbuch, Bd . II, S. 833 ff, 834 Ii. Sp. 3 Friedrichs in: Stier-Somlo: Handbuch, Bd. II, I B 2, § 7, S. 30. 4 Haegele, S. 75.

s Ders., S. 104.

Erster Teil: Vorbemerkungen

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zelheiten teilen können; Zweifel an der praktischen Nützlichkeit der Register hatten die Väter des Grundgesetzes ebenfalls nicht: Sie haben die Notwendigkeit eines allgemeinen Meldewesens prinzipiell anerkannt. In Art. 75 Nr. 5 GG ist die Materie - gemeinsam mit dem Ausweiswesen - kompetenzrechtlich verankert und nach höchstrichterlicher Rechtsprechung somit dem Grunde nach verfassungsrechtlich legitimiert6. Das Meldewesen scheint sich daher in der Tat als "zeitlose Staatsaufgabe" - wie es der damalige Bundesbeauftragte für den Datenschutz? im Rahmen der Diskussion um die Kodifizierung eines Bundesmeldegesetzes formulierte - etabliert zu haben. Ob es hingegen noch immer "in seiner historischen Entwicklung ein deutliches Abbild der Zeitströmungen darstellt"B, wird gelegentlich bezweifelt, zumal verwaltungsökonomische Zweckmäßigkeit nicht unbedingt gewandelten rechtsstaatliehen Voraussetzungen an die Datenherrschaft, -Sicherheit und richtigkeit entsprechen muß. Insbesondere wird die Auffassung vertreten, daß spätestens seit dem Urteil des BVerfG zum Volkszählungsgesetz 19839 die Anlegung einer melderechtliehen Sammlung persönlicher Daten auf Vorrat, die keinem hinreichend klar definierten Zweck diene, dem Recht auf informationeHe Selbstbestimmung und - in der bestehenden zentralisierten Form auch dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot widerspreche. Sofern auf ein Meldewesen nicht überhaupt verzichtet werden könne, genüge zumindest die dezentrale Erfassung der Daten bei den Behörden, für deren Aufgabenerfüllung die jeweiligen persönlichen Daten erforderlich seienio. In der Tat scheint das bundesverfassungsgerichtliche Judikat insoweit nicht frei von Widerspruch: Einerseits postuliert es für den Zwang zur Angabe personenbezogener Daten ein - verkürzt - gesetzliches Gebot der bereichsspezifischen und präzisen (Verwendungs)Zweckbestimmung nebst enger und konkreter Zweckbindung sowie ein Verbot der Sammlung personenbezogener Daten auf Vorratll; andererseits konstatiert es im Zusammenhang mit dem Melderegisterabgleich (obwohl das Meldewesen nicht Entscheidungsgegenstand war), daß "infolge der Aufgaben der Meldebehörden, ... nicht vorhersehbar" sei, "zu welchem konkreten Zweck welche Behörden die" weitergegebenen

6 Aber nicht unumstritten: vgl. nur beispielhaft zur Verfassungsmäßigkeit der friedlichen Nutzung der Kernenergie BVerfGE 53, 30, 56 - Mülheim-Kärlich - sowie im einzelnen Dritter Teil, B II I. 7 BfD, Gutachten v. 15.10.1978-1-192 10311, Rz. 22, S. 21.

8 So Haegeles rückblickende Bewertung i.J. 1940, S. I. BVerfGE 65 , I ff. 10 So dezidiert Schwan anläßtich eines Rechtsstreits vor dem VG Berlin, (unveröffentlichtes) Urteil v. 26.2 .1986- VG 1 A 217/84-, S. 3 f; ähnlich Bartsch, DVR 1985, 113. 11 BVerfGE 65, 46 f. 9

A. Einführung

17

"Daten verwenden"l2. Kann demnach der Bürger im Fall des Meldewesens gerade nicht wissen, "wer was wann bei welcher Gelegenheit über (ihn) weiß"i3? Können somit allgemeine Funktionsbestimmung, Aufgabenzuweisung und Befugnisse des Melderechts die zentralen Kategorien des Volkszählungsurteils bereits strukturell nicht erfüllen? Da sich aus ihnen jedoch für den gesamten staatlichen Umgang mit personenbezogenen Daten einheitlich "wesentliche und grundsätzliche Aussagen ableiten", liegt die Untersuchung nahe, "welche Konsequenzen sich für den Bereich des Meldewesens ergeben"I4. Eine höchstrichterliche Entscheidung ist bisher nicht ergangen. Äußerungen im rechtswissenschaftliehen Schrifttum finden sich - ohne vertieft zu werden- nur vereinzeltl5. Demgegenüber gab es in der tatsächlichen (und rechtlichen) Entwicklung des Meldewesens ein unerwartetes Intermezzo: Das zur Diskussion gestellte Maximalpostulat der Abschaffung des gesamten Einwohnermeldesystems wurde vom 3. Oktober 1990 bis zum 31. Dezember 1992 durch eine "Institution" kontrastiert, die die ehemalige DDR in die Vereinigung beider deutscher Staaten einbrachte: das Zentrale Einwohnerregister (ZER) im Ostteil Berlins früher: Personendatenbank der DDR (PDB)16 -, in dem die Meldedaten aller DDR-Bürger gespeichert waren!? und das im genannten Zeitraum mangels funktionsfähiger kommunaler Register wesentlicher Teil des Meldewesens in den fünf neuen Bundesländern war, wobei die aktuellen Aufgaben in Durchsetzung der Bestimmungen des Einigungsvertrages nahezu ungeschmälert warenis. Dies galt insbesondere für die Wahrnehmung der Funktionen des Mel-

12 13 14 15

BVerfGE 65, 64. BVerfGE 65, 43. Die Frage stellt auch Benda, Gutachten, S. 3. Nachweise insbes. im Dritten Teil, B.

16 Paritong-Waldheim u.a., Cilip 38, 1991, S. 56; ausführlich zur faktischen Funktionsweise des Meldewesen in der DDR Mörs u.a., Forschungsberichte des Fachbereichs Informatik der TU Berlin, 1991 , S. 85 ff; Mörs!Mühlbauer u.a., DuD 1991, S. 509. 17 DSB Bin, JB 1990, Ziff. 2.1, S. 23; Vorschriften über den Umfang der erhobenen Daten enthielt die Verordnung über das Meldewesen in der Deutschen Demokratischen Republik Meldeordnung - (MO) v. 15.7.1965 (GBI. II Nr. 109 S. 761) i.d.F. der Bek. v. 10.6.1981 (GBI. I Nr. 23 S. 282) nicht, vgl. dazu aber die umfangreiche Zusammenstellung des Datensatzes aus Quellen über die "Ordnung der PDB" bei Mörs u.a., Forschungsbericht, Anhang B, S. 197 ff. 18 Vgl. Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag - v. 31.8. 1990, Art. 8, Anlage I, Kap. II, C, Abschnitt 111, Nr. 4, in: BGBI. II, S. 885, 918, wonach das als gemeinsame Einrichtung der Länder weitergeführte Zentrale Einwohnerregister spätestens am 31.12.1992 aufzulösen war, Nr. 4 c) aa). 2 Morenbach

18

Erster Teil: Vorbemerkungen

deregisters auf dem Gebiet der Datenübermittlungt9. Auch erwog man- wohl nicht nur rhetorisch -, ob diese auf verwaltungsrechtlichem, aber auch wirtschaftlichem Gebiet nützliche Zentraleinrichtung nicht zur Profilierung der neuen Bundesländer beitragen könnezo. Weitgehend unreflektiert blieben dabei die verfassungs- und datenschutzrechtlichen Fragestellungen, die sich aus der intensiven Einbindung der PDB in die polizeiliche Tätigkeit der DDR ergaben, denn insbesondere diesem Bereich diente das Register als Informationsbasis (polizeilich-repressive Zielsetzung)2t. Inzwischen ist zwar die Überführung der Datenbestände und Aufgaben des ZER in die jeweils eingerichteten Einwohnermeldeämter der neuen Länder termingerecht erfolgt, das Register insofern funktional aufgelöst, jedoch ist der komplette Datenbestand - wie er nach DDR-Systematik geführt wurde - einschließlich der Personenkennziffer (PK) keineswegs gelöscht, sondern dem Bundesarchiv zur Verwaltung überantwortet22. Noch weitgehend ungeklärt sind dabei die rechtlichen Möglichkeiten zukünftiger Nutzung. Daß entsprechende Verwendungsinteressen bestehen, steht indes außer Frage: Nicht nur der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (sog. Gauck-Behörde) und die Zentrale Ermittlungsstelle zur Bekämpfung der Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) in Berlin, sondern auch Polizei und Strafverfolgungsbehörden allgemein fordern z.B. zur Aufdeckung falscher Identitäten ehemaliger MfS-Mitarbeiter, die sich nach Erkenntnissen derErmittler teils in konspirativen Wohnungen angemeldet haben, den Zugriff auf die original erhaltenen ZER-Datenbestände23. Niemand konnte diese Entwicklung prognostizieren, die in den neuen Bundesländern vorübergehend partiell dem entsprach, was als einheitliches Bundesmeldegesetz für die Altbundesländer in den 70er-Jahren diskutiert wurde. Die damaligen legislatorischen Bemühungen um den Aufbau eines Einwohner-Informationssystems als zentralem Informationspool umfassenden Inhalts 19 Krapp!Thaten, RDV 1991, S. 73 ff, 74; Medert/Süßmuth, Melderecht in den neuen Bundesländern, Einf., Rz. 7.2, S. 10 explizit für die Durchführung des Rückmeldeverfahrens (Unterrichtung der Meldebehörden untereinander). 20 Dazu sowie zu den weiteren Datenschutz- und Datensicherheitsaspekten Krapp!Thaten, RDV 1991, S. 73 ff. 21 DSB Bin, JB 1990, Ziff. 2.1., S. 23; Der Spiegel, 8/91 , S. 65-70; Paritong-Waldheim u. a., Cilip 38, 1991, S. 59: online-Anschlüsse an die PDB hatten das MfS und das Berliner VPPräsidium; Medert/Süßmuth u.a., MeldeG, Teil!, Einf. , Rz. 63. 22 Nur das Land Brandenburg hat sich in einem verwaltungsgerichtlichen Vergleich verpflichtet, die Daten nicht an das Bundesministerium des lnnem weiterzuleiten, bevor eine Gesetzesgrundlage geschaffen ist, Der Tagesspiegel v. 20.8.1993, S. 7. 23 Der Tagesspiegel v. 21.2 .1993, S.2, v. 2.3. 1993, S. 6 und v. 27.3.1993, S. 7 sowie die freundlichen Auskünfte der zuständigen Mitarbeiter des Berliner Datenschutzbeauftragten; zum weiteren Schicksal der zwischengelagerten Datenbestände auch DSB Bin, JB 1992, 3.2, S. 37 ff, 42.

A. Einführung

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zur Unterrichtung der öffentlichen Verwaltung24 waren dort jedoch mit der Rücknahme des - nicht als verfassungskonform bewerteten - Gesetzentwurfs im Grundsatz abgelehnt worden; insbesondere von der geplanten Einführung eines allgemeinen, bundeseinheitlichen Personenkennzeichens (PK) hatte man Abstand genommen25. Die zeitlich insoweit parallele Entwicklung in der DDR führte in diesem wesentlichen Teilbereich damals zum gegenteiligen Ergebnis: Die PDB war gerade die "automatisierte Konsequenz" der einheitlich vergebenen Personenkennzahl26 und nicht zuletzt deshalb als lückenlose, zentrale Informationsbasis für die Polizei gedacht. In den alten Bundesländern scheiterte die Einführung einer vergleichbaren Bundeseinwohnerdatenbank27 sodann endgültig mit lokrafttreten des Melderechtsrahmengesetzes (MRRG)28. Die gesamte Debatte hatte aber die Brisanz der Akkumulation personenbezogener Daten in den Melderegistern offenbart. Es wuchs die Einsicht, daß solche Informationen, wenn sie erst einmal in Dateien gespeichert sind, wegen ihrer vielseitigen Verwendungsmöglichkeiten eine permanente Gefahr für die Persönlichkeit der Betroffenen darstellen29. Seither ist das Melderecht aus seinem kaum beachteten Schattendasein, das es zu Beginn der 70er-Jahre noch führte30, herausgetreten und infolge der verfassungsrechtlichen Fortentwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zum Recht auf informationeile Selbstbestimmung3I gemeinsam mit anderen Rechtsmaterien in stetigem legislativem Wandel begriffen32.

Weber, S. I u. 29 ff. Medert/Süßmuth u.a., MeldeG, Teil I, Einf. , Rz. 27, 30 ff; Benda, Gutachten, S. 7; Hoffmann, G.E., Erfaßt, S. 89 f. 26 Krappilhaten, RDV 1991, S. 73; zu den Bemühungen, nach der Einigung ein sofortiges Verwendungsverbot der PK zu erreichen, DSB Bin, JB 1990, Ziff. 2.1., S. 22 f; ParirangWaldheim u.a. , Cilip 38, 1991, S. 58 f, die den Einigungsvertrag, der die Nutzung des PK für eine Übergangszeit zuließ (Anlage I, Kap. II, C, Abschnitt 111, Nr. 4 b), insoweit für verfassungswidrig hielten. 27 Hojfmann,G.E. , Erfaßt, S. 89 f. 28 Vom 16. Aug. 1980, BGBI. I, S. 1429 i.d.F . v. 24. Feh. 1983, BGBI. I, S. 179. 29 Schmitt Glaeser in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI, § 129 Rz. 98; für Medert!Süßmuth u.a., MeldeG, Teil I, Einf., Rz. 62 spiegelt die Fortentwicklung des Melderechts "geradezu exemplarisch ... die Veränderung des Staatsverständnisses vom früheren Obrigkeitsstaat zum demokratisch-freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaat...wider". 30 Lorenz, DÖV 1975, 151; vgl. auch Rietdorf, DÖV 1960, S. 491. 31 Grundlegend: BVerfGE 65, I. 32 DSB Bin, JB 1990, Ziff. 3.5., S. 62 ff nur beispielhaft zum Novellierungsbedarf des Meldegesetzes; ders., S. 59 f zur defizitär geregelten polizeilichen Datenverarbeirung des ASOG 1975. 24 25

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Erster Teil: Vorbemerkungen

Sukzessive haben inzwischen alle alten Bundesländer ihr Meldewesen den Leitlinien des MRRG angepaßt33. Der Aufgabenstellung der jeweiligen Behörden entsprechend bilden auch die geltenden Korliftkationen die Basis vielfältigen Informationsaustauschs34, der - nach wie vor35 - primär die Polizeiund sonstigen Sicherheitsbehörden durch Spezial- und Ausnahmevorschriften privilegiert36. Insoweit war nicht nur die "Notwendigkeit" der- für die neuen Länder noch nicht obsoleten - Übergangsregelung zur Einsichtnahme der Polizei in das Melderegister außerhalb meldebehördlicher Dienststunden (Stichwort: Schlüsselübergabe)37 Indiz für die Exklusivität der Zusammenarbeit beider Behörden. Auch aktuell hat keine andere Fachbehörde einen derart umfassenden Zugriff auf das Register. Beispiele: So werden dem Polizeipräsidenten in Berlin zur Berichtigung und Fortschreibung der Fahndungsunterlagen regelmäßig von allen Einwohnern nicht nur bei Zuzug nach Berlin, sondern bei jeder Anschriftenänderung (also auch dem Umzug innerhalb Berlins sowie dem Fortzug aus Berlin) sowie bei Tod Familienname, Vorname, Tag und Ort der Geburt, Sterbetag und -ort einschließlich der Hinweise übermittelt38. Die Weiterleitung erfolgt grundsätzlich durch Übersendung eines Magnetbandes, hilfsweise durch Überlassung eines EDV-Ausdrucks39. Auf die Häufigkeit der Datenübermittlung kann nur rückgeschlossen werden: Eine entsprechende Anfrage im Abgeordnetenhaus beantwortete der Senator für Inneres mit dem schlichten Hinweis auf den ko-

33 Fundstellen -alphabetisch nach Ländernamen geordnet- bei Medert/Süßmuth u.a., MeldeG, Teil !, B 2 ff, denen auch der Gesetzgebungsstand in den neuen Ländern entnommen werden kann. 34 "Der Terminus 'Informationsaustausch' bezeichnet die Möglichkeit der (elektronischen) Datenübermittlung in beiden Richtungen, läßt aber auch zu, daß die Möglichkeit in nur einer Richtung genutzt wird", Denninger, KJ 1985, S, 240; vgl. im übrigen AK-PolG-Wagner, vor §§ 9-11, Rz. 34; Simitis in: Triffterer u.a., S. 263; ders., NJW 1986, S. 2795 ff, 2799; detaillierter Nachweis (auch) der tatsächlichen Informationsflüsse bei Mörs u.a., Forschungsbericht, S. 52 ff; aufschlußreich (und für die Grundstrukturen der Verwaltungsautomation exemplarisch) die empirische Untersuchung über die Vernetzung im Einwohnerwesen der Freien und Hansestadt Harnburg zusammengefaßt von Barthei/Friedrich, in: Beiträge, Bd. 13, S. 165 ff. 35 Näher zur historischen Entwicklung im Zweiten Teil. 36 Vgl. §§ 16 II-V, 18 III, IV MRRG; §§ 21 VI, 22 IV, 25 II, 26 MeldeG Bin. 37 § 24 MRRG; dazu Medert/Süßmuth u.a., MeldeG, Teil 1, § 24 Rz. 3; Beiz, Meldegesetz, § 39 Rz. 2 ff, der sogar von der fortdauernden Bedeutung der entprechenden baden-württembergischen Norm ausgeht und die Exklusivität der Vorschrift für die Polizeibehörden hervorhebt, § 39 Rz. 5; für die jetzige Situa!ion in den neuen Ländern, deren Polizeidienststellen technisch noch nicht in der Lage sind, online auf die örtlichen Melderegister zuzugreifen, wird das polizeiliche Einsichtsrecht bis Ende 1996 erwogen, Medert/Süßmuth u.a, MeldeG, Teil 1, § 18 Rz. 53, 57. 38 § 2611 MeldeG Bin i.V.m. § 3 Nr. 1 DVO MeldeG Bin, Anlage 4, Lfd.Nr. 9. 39 Senator für Inneres Berlin in: Landespressedienst v. 2.6.1988, S. 4 ff, 6.

A. Einführung

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difizierten Anlaß40. Da stündlich zu-, um- und fortgezogen wird, wird zumindest täglich übermittelt werden, schon um die mit der Regelung intendierte Aktualität der Fahndungsunterlagen zu gewährleisten. Die absoluten Zahlen sind eindrücklich: So sind 1989 allein in Berlin (West) insgesamt 437.764 Außen- und Binnenwanderungen registriert worden, wobei darin Zuzüge aus sowie Fortzüge ins Ausland nicht enthalten sind4t. Bei der damaligen Einwohnerzahl von ca. 2 Millionen42 Bürgern bedeutet dies, daß innerhalb eines Jahres personenbezogene Daten jedes vierten Bewohners der Stadt allein aufgrund der Wahrnehmung seines Freizügigkeitsgrundrechts mit der polizeilichen Fahndungsdatei "abgeglichen" wurden. Ob dies dem seiner Meldepflicht genügenden Bürger beim Gang zum Einwohnermeldeamt in der von einem zu Transparenz verpflichteten Staats- und Behördengefüge geforderten Deutlichkeit bewußt ist, mag bezweifelt werden; ob die rege Übermittlungstätigkeit den verfassungs- und datenschutzrechtlichen Anforderungen genügt, bedarf der Prüfung. Weiterhin sind dem Polizeipräsidenten in Berlin zur Durchführung der Strafverfolgungsaufgaben und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung auf Antrag bei jeder Änderung des Namens, der Anschrift, des Familienstandes, bei Tod sowie Ausstellung eines Personalausweises/Passes nahezu der komplette Grunddatensatz gern. § 2 I MeldeG Bin der von ihm "auserwählten" Einwohner zu übermitteln43. Die Meldebehörde muß einem solchen Begehren ohne Einzelfallprüfung stattgeben, da auch die Einrichtung dieser regelmäßigen Übermittlungsvariante erfolgt ist. Für wieviele Einwohner ein entsprechender Antrag im Jahresdurchschnitt gestellt wird, war nicht in Erfahrung zu bringen. Nicht zuletzt scheinen die meldegesetzlich verlangten Datenerhebungen in Seherbergungsstätten und Krankenhäusern - dem Wortlaut der Normen folgend - ausnahmslos der polizeilichen Aufgabenerfüllung zu dienen44 . Auch technisch-faktisch verfügt die Berliner Polizei (West) mit insgesamt 188 Datensichtgeräten45 über die meisten online-Zugriffsterminals46 der Berli-

40 Ebd., während er die gleichlautende Frage zur Datenübermittlung an öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften gern. § 27 I,II MeldeG Bin präzise beantwortete: " .. . in jeder Woche ein Magnetband .. . ", Senator für Inneres Berlin, S. 8. 41

Statistisches Jahrbuch 1991, S. 17, 97, 103, 114.

Statistisches Jahrbuch 1991, S. 17. § 26 II MeldeG Bin i.V.m. § 3 Nr. I DVO MeldeG Bin, Anlage 4, Lfd.Nr. 8. 44 Jedenfalls nicht anonymisiert, §§ 21 VI, 22 IV MeldeG Bin; Einzelheiten im Vierten Teil. 45 Stand 08/89, vgl. Mörs u.a., Forschungsbericht, S. 33 f . 46 Zum online-Anschluß sogleich im unter B. 42 43

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Erster Teil: Vorbemerkungen

ner Verwaltung auf das zentrale EWW47. Selbst den 31 Meldestellen im Westteil der Stadt steht mit 171 Direktzugriffsgeräten eine geringere Anzahl zur Verfügung48. Die neuen Bundesländer werden in den nächsten Jahren49- soweit nicht bereits erfolgtso - eigene Landesmeldegesetze erlassen, die ebenfalls den Vorgaben des MRRG entsprechen müssen. Sie werden sich dabei -das zeigt die Erfahrung aus anderen Bereichen - im wesentlichen an den Normierungen der alten Bundesländer orientieren. Gleiches gilt für die präventiven polizeilichen Handlungsgrundlagen, deren Novellierung in Erfüllung der im Volkszählungsurteil an die Gesetzgeber gestellten Anforderungen zum Schutz des Rechts auf informationeile Selbstbestimmung selbst in den Altbundesländern und - für den repressiven Bereich - im Bund nur mühsam voranging bzw. -geht5t. Die insgesamt noch nicht abgeschlossene Debatte um die Verrechtlichung des informationeilen Neulandes52 und die anstehenden melde- und polizeirechtlichen Gesetzesvorhaben sind Anlaß zur Bestandsaufnahme der traditionellen Informationsbeziehungen sowie zur verfassungsrechtlichen Analyse der bestehenden (und geplanten) "Modelle" zur grundrechtskonformen "Kanalisierung" der Datenströme zwischen Meldebehörde und Polizei.

B. Untersuchungsgegenstand Die verfassungsrechtliche Bewertung der Gesetzeslage Berlins bildet den Kern der Untersuchung. Insbesondere das MeldeG Bln53 ist aus zwei Gründen zur näheren Analyse des Verhältnisses Meldebehörde/Polizei geeignet: Die Neufassung des Melderechts galt nicht nur der Anpassung an die Leitlinien des MRRG, sondern infolge des Zeitablaufs sah sich der Gesetzgeber in der Lage, die in der Entscheidung des BVerfG zum Volkszählungsgesetz 198354 47 Einwohnerwesen: Bezeichnung der Datenverarbeitungsanlage, in der die beim Landeseinwohneramt Berlin im Melde-, Paß- u. Ausweiswesen geführten Register zentral realisiert sind. 48 Stand 08/89, vgl. Mörs u.a. , Forschungsbericht, S. 33 f. 49 Zum bisher gesetzten Zeitlimit: Einigungsvertrag, Anl. I, Kap. II, Abschn. 111, Nr. 4 0. 50 Vgl. Fn. 33. 51 Vgl. zum aktuellen Stand die alphabetisch nach Ländern geordnete Auflistung der Fundstellen der bisherigen Novellen jüngst bei Lisken/Denninger, Handbuch, S. XI; zum StVÄG Erster Teil, B, Fn. 80. 52 KniesetNahte, Polizeiliche Informationsverarbeitung, S. V. 53 Ges. über das Meldewesen in Berlin (Meldegesetz) v. 26.2.1985, GVBI. 1985, S. 507 ff. 54

BVerfGE 65, I.

B. Untersuchungsgegenstand

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entwickelten Grundpositionen bereits in vollem Umfang zu berücksichtigen. Zudem galt es, ein "preußisches" Spezifikum zu beseitigen und Polizei- und Meldeaufgaben erstmalig in der Geschichte des Berliner Polizeipräsidiums behörden-organisatorisch zu trennen55. Die melderechtlich relevanten Aufgaben werden seit dem 1. April 1986 von dem eigens geschaffenen Landeseinwohneramt (LEA) wahrgenommen56, wobei dadurch nach Einschätzung des damals amtierenden Datenschutzbeauftragten keine Einschränkung der tatsächlich erforderlichen Übermittlungen eingetreten sei57. Für die Konzentration auf das Verhältnis Einwohnermeldewesen/Polizei sprechen ebenfalls sachliche Gründe: Die Melderegister in ihrer Gesamtheit enthalten- verglichen mit allen übrigen amtlichen Registern - schon aufgrund des der Meldepflicht unterliegenden Adressatenkreises das umfangreichste Datenpotential innerhalb der öffentlichen Verwaltungss. Keine wie auch immer geartete fachliche Spezialisierung oder persönliche Eigenschaft löst die Aufnahme ins Register aus, sondern das jedermann gleichermaßen betreffende situative Moment des Wohnungsbezugs als rein tatsächlichem Vorgang59. Die scheinbare Einschränkung nach § 11 I 2 MeldeG Bln60 ist keine, da Neugeborene, die bei ihren Eltern oder der Mutter aufgenommen werden, ohnehin zu dem zu speichernden Grunddatum "minderjährige Kinder/Vor- und Familienname, Tag der Geburt, Sterbetag"61 zählen. Auch ohne Wohnungswechsel der meldepflichtigen Eltern werden die Daten der Neugeborenen durch den Standesbeamten, der das Geburtenbuch führt, zur Komplettierung der Einwohnermelderegister von Amts wegen übermittelt62. Im Gegensatz zu anderen "Großregistern", wie sie beispielsweise von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte oder dem Kraftfahrtbundesamt geführt werden, kann der Einzelne der Datenerhebung nicht auswei55 Insb. Benda, Gutachten, S. 20 ff; immer noch kritisch zur "Aufspaltung" Peitsch, Die Polizei 1987, 101 ff; zum preußischen Modell, die Ordnungsverwaltung durch "Polizeibehörden" wahrnehmen zu lassen, s. Götz in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. V, S. 444 ff.

56

§§ 1 II 1, 35 I 2 MeldeG Bin.

57

DSB Bin, JB 1986, Ziff. 2.1, S . 5.

58

Meden!Süßmuth u.a., MeldeG, Teil!, Einf. , Rz. 23. Medert/Süßmuth u.a. , MeldeG, Teil I, § II Rz . 2 u . 4; zur allgerneinen Meldepflicht:

59

§ II I MRRG, § 11 I 1 MeldeG Bin, wonach als Wohnung jeder umschlossene Raum anzusehen ist, der zum Wohnen oder Schlafen benutzt wird, § 11 IV MRRG, § 16 MeldG Bin. 60 Danach sind "Neugeborene ... nur dann anzumelden, wenn sie in eine andere Wohnung als die der Eltern oder der Mutter aufgenommen werden".

61 § 2 I Nr. 15 MeldeG Bin; die Verknüpfung der Datensätze von Eltern und Kindem bleibt bis zum 18. Lebensjahr des Kindes bestehen, danach wird sie gelöscht. 62 § 70 Nr. ll PStG i.V.rn. § 98, 277 der Dienstanweisung für die Standesbeamten und ihre Aufsichtsbehörde (DA) i.d.F. v. 28.3 .1985 (Bundesanzeiger Nr. 68a), vgl. Medert/Süßmuth u.a., MeldeG, Teil I, E 7; Beiz, Meldegesetz, Anh. 11 (Auszüge); auch DSB Bin, JB 1988, Ziff. 4.5 ., S. 26; Mörs u.a., Forschungsbericht, S. 41 , 56 f.

24

Erster Teil: Vorbemerkungen

eben, etwa - um bei den o.a. Beispielen zu bleiben - durch Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit oder Verzicht auf ein Fahrzeug. Im Ergebnis handelt es sich somit um das einzige Register, in dem ausnahmslos alle natürlichen Personen63 - In-, Ausländer und Staatenlose sowie Minderjährige und Entmündigte64 - erfaßt werden. Die Verknüpfung mit dem Polizeirecht war traditionell - materiell wie institutionell - eng65. Die Polizei galt und gilt als "klassische(r) Klient des Einwohnermeldewesens"66. Das gewandelte und sich wandelnde Verhältnis zwischen Ordnungsverwaltung und (Vollzugs)Polizei - Stichworte: Entpolizeilichung67, informationeile Gewaltenteilung68 - legt daher die Untersuchung gerade dieser Informationsbeziehungen nahe. Zudem haben sich in den letzten Jahrzehnten die technischen Handlungsmöglichkeiten beider "Institutionen" durch die Anwendung der elektronischen Datenverarbeitung69 komfortabilisiert und dadurch bedingt auch qualitativ verändert. In besonderem Maße gilt dies für die Zusammenarbeit untereinander. So besteht derzeit vom Polizeipräsidenten in Berlin nur gegenüber dem Kraftfahrtbundesamt (ZEVIS) und dem hier allein interessierenden Landeseinwohneramt neben den allgemeinen Übermittlungs- und Auskunftsregelungen 63 In der Erfassung eines jeden Einwohners, über den Daten gespeichert und übermittelt werden dürfen, sah auch die amtliche Begründung des Regierungs-Entwurfs zum MRRG die besondere Brisanz für die Gefährdung des Persönlichkeitsrechts, Dt.-BT Drs. 8/3825, S. 12; Weigert, DSWR 1980, S. 232 ff, 233.

64 Medert/Süßmuth u.a., MeldeG, Teil 1, § 11 Rz. 1; die einzige wirkliche Ausnahme enthält- allerdings auch dies nur unter engen Voraussetzungen-§ 14 MRRG rsp. § 19 MeldeG Bin (Befreiung von der Meldepflicht) für Mitglieder ausländischer diplomatischer Missionen u . deren mit ihnen im gemeinsamen Haushalt lebenden Familienmitglieder sowie für Personen, für die diese Befreiung durch Rechtsvorschriften oder in völkerrechtlichen Übereinkünften festgelegt ist. Im Ergebnis nahezu irrelevant, vgl. Beiz, Meldegesetz, Rz. 14 ff; für Entmündigte obliegt die Meldepflicht dem Vormund bzw. Pfleger, § II III 3 MeldeG Bin. 65 Vgl. nur Medert/Süßmuth u.a., MeldeG, Teilt, Rz. 16; Rüfner in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. II, S. 470 ff, wonach sich bis zum Kreuzberg-Urteil (1882) keine klare Trennung zw. Polizei und sonstiger innerer Verwaltung feststellen lasse. Selbst wenn die Polizei faktisch bemüht gewesen sei, schon vorher keine "wohlfahrtstaatliche Gängelei" mehr zu betreiben, so habe es polizeiliche Aktivitäten von Bedeutung doch auf dem Gebiet des Paßwesens, der Fremdenpolizei und des Meldewesens gegeben; ders., Bd. III, S. 703: auch nach dem Kreuzberg-Urteil habe die grundsätzliche Identität von Polizei und innerer Verwaltung zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung als primäre Staatsaufgabe des Liberalismus fortbestanden. 66

Garstka in: Verwaltungsinformatik, S. 51.

Dazu und zur differierenden Begrifflichkeil in den Ländern, AK-Po!G-Wagner, Einl. B, Rz. 4 ff, 9; mit Blick auf die Gesetzgebung in den neuen Ländern, Knemeyer, LKV 1991, 321 ff. 68 Zum Begriff BVerfGE 65, 69. 67

69 Zum polizeilichen Ausbaustand jüngst Bäum/er in: Lisken/Denninger, Handbuch, Kap. J Rz. 147 ff.

B. Untersuchungsgegenstand

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die bereits erwähnte Zugriffsmodalität des Online-Verfahrens70, die es der Polizei im unterbrechungsfreien 24-Stunden Betrieb ermöglicht, mit Ausnahme der "Religionszugehörigkeit" über den gesamten Grunddatensatz des Melderegister, also dem personenbezogenen Kern der meldebehördlichen Erfassung, sekundenschnell zu verfügen?!. Jedes Überschreiten neuer technischer Risikoschwellenn vertieft demzufolge die informationeile Verflechtung und berührt somit die rechtsstaatlich bedeutsamen Grenzlinien zwischen Sicherheitsexekutive, Ordnungsverwaltung und bürgerrechtlichem Freiheitsraum73. Hinsichtlich der polizeirechtlichen Regelungen bildet primär das novellierte Allgemeine Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin (ASOG)74 das zu analysierende normative Pendant zur melderechtliehen Normierung. Mit seinem Inkraftreten sind nunmehr allgemeine und besondere Datenerhebungs- und Datenverarbeitungsbefugnisse kodifiziert, die für den Informationsaustausch mit den Meldebehörden ebenfalls entscheidende Rechtsgrundlagen sind . Die öffentliche Diskussion der Koalitions- und Oppositionsentwürfe des neuen ASOG75 bestätigte bereits das ungeschmälerte Dateninteresse der Polizei. Kein geringerer als der Polizeivizepräsident verlangte den Rückgriff "auf alle vorhandenen Daten, Informationssammlung auf relativ breiter Ebene"76, einen "Informationskuchen" zur polizeilichen (Selbst)Bedienung, mithin tendenziell den Vorrang der Polizei vor dem Datenschutz77. Die Einschätzung wird auf bundespolizeilieber Ebene vom stellvertretenden Leiter des BKA geteilt: Danach atme "unser Datenschutz den Geist frühdemokratischer Zeit, in der sich der Bürger von den übermäßigen Zwängen des Staates" habe "emanzipieren" müssen, während die heutige "Datenschutzlawine" einer effizienten Polizeiarbeit im

70 § 26 III MeldeG Bin i.V.m. § 3 Nr. 2 DVO MeldeG Bin, Anlage 5. Nr. 4; vgl. auch die nicht-amtliche Begründung zu § 46 I ASOG-Entwurf, S. 46. 7t Vgl. § 26 I11 MeldeG Bin i.V.m. § 3 Nr. 2 DVO-MeldeG Bin, Anlage 5, lfd.-Nr. 4

Beyer in: Beiträge, Bd. 13, S. 226. Vgl. Kauß, Der suspendierte Datenschutz, S. 37. 74 Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz v. 14. April 1992, GVBI. v. 25.04.1992, S. 119 ff. 75 Anträge der Fraktionen der CDU u. SPD v. 5.11.1991, Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 12/858; Antrag der Fraktion der F.D.P. v. 19.6.1991, Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 12/477. 76 Der Tagesspiegel v. 26.1.1992, S. 13. 77 Der Tagesspiegel, ebd., zitiert Schenk mit der nicht ganz neuen Argumentation der Polizei, wegen der informationeilen Selbstbestimmung dürfe es auf keinen Fall dazu kommen, daß Bürger schutzlos den Angriffen von Verbrechern ausgesetzt seien (Datenschutz ist Tatenschutz?). 72 73

26

Erster Teil: Vorbemerkungen

Wege stünde, da "klar gesehen werden" müsse, "daß Datenschutz im Kern gesetzlich gewolltes Informationsdefizit der staatlichen Behörden bedeutet"78. Da nach Auskunft der stellvertretenden Berliner Datenschutzbeauftragten auch im Jahre 1992 die meisten Beschwerden an den Datenschutzbeauftragten wiederum Polizei und Meldewesen betrafen79, ist zu prüfen, ob dem Berliner Gesetzgeber ein verfassungsverträglicher Interessenausgleich der Zielkonflikte bei der Gestaltung der informationeilen Infrastruktur gelang. Für die repressiv-polizeiliche Tätigkeit hat der Bundesgesetzgeber die Novellierung der StPO noch nicht abgeschlossen. Abgesehen von der sukzessiven Kodifikation einzelner Ermittlungsmethodenso, fehlt das entscheidende "Achte Informationsbuch", das die Verarbeitung personenbezogener Daten regeln sollSl.

C. Gang der Untersuchung Zum besseren Verständnis der bestehenden Informationsbeziehungen zwischen Meldebehörde und Polizei sowie der spezifischen datenschutzrechtlichen Diskussion soll ein historischer Rückblick (Zweiter Teil) beitragen. Er konzentriert sich auf die Entwicklung des staatlichen Einwohnermeldewesens und vernachlässigt dabei bewußt die allgemeinpolizeilich-gewaltmonopolistische, die bereits mehrfach monographisch behandelt wurde82. Es wird ver-

78 Der Tagesspiegel v. 25 .10.1992, S. 3 zitiert Köhler in einem Bereicht über die Jahrestagung des BKA zum Thema: "Standortbestimmung und Perspektiven der polizeilichen Verbrechensbekämpfung". 79 Der Tagesspiegel v. 1.4.1993, S. 9, im Gespräch mit der stellvertretenden Berliner Datenschutzbeauftragten Schmid. 80 Zuletzt im wesentlichen eingeführt durch Art. 3 des Gesetzes zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG) v. 15. Juli 1992, BGBI. I, S. 1302; siehe unten Fn. 93. 81 Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts - Strafverfahrensänderungsgesetz 1989 - (Std. 26. Juni 1989, unveröffentlicht); vgl. zur Entwikklungsgeschichte die Ausführungen in Cilip 34, 1989, S. 79; der Regierungsentwurf soll im wesentlichen keine inhaltliche, sondern nur eine redaktionelle Überarbeitung des Referentenentwurfs eines StVÄG 1988 (Std. : 22.12.1988) darstellen, der mit Begründung und Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen abgedruckt ist in: Strafverteidigervereinigungen, Köln 1989.

82 Vgl. nur aus jüngerer Zeit: Funk, Polizei- u. Rechtsstaat, Die Entwicklung des staatlichen Gewaltmonopols in Preußen 1848-1918, 1986; Werkentin , Die Restauration der deutschen Polizei, Innere Rüstung von 1945 bis zur Notstandsgesetzgebung, 1984; Busch/Funk/Narr/Werkentin, Die Polizei in der Bundesrepublik, 1985; die instruktiven Darstellungen von v. Unruh, v. der Groeben und Götz in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. I, S. 388 ff, 405 ff, 419 ff; Bd. III, S. 435 ff; Bd. IV, S. 397 ff, 1017 ff; Bd. V, S. 426 ff m.w.N.; zur Polizeiwissenschaft

C. Gang der Untersuchung

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sucht, die über Jahrzehnte hinweg beständig zunehmende Zentralisierung personenbezogener Daten im Melderegister - sowohl dem Umfang als auch der informationeBen Infrastruktur nach- aufzuzeigen. Am Schluß des geschichtlichen Abrisses werden sodann die sich auf juristischer Ebene langsam entwickelnden Tendenzen eines verstärkten Persönlichkeitsschutzbewußtseins hervorgehoben, um unter Berücksichtigung der bundesverfassungsgerichtliehen Judikate83 die Verfassungsverträglichkeit der bestehenden Regelungen im Hinblick auf das Spannungsfeld des Einwohnermeldewesens zwischen der Freiheit des Individuums, staatlicher Daseinsvorsorge und sicherheitspolizeilicher Notwendigkeit zu untersuchen. Der Dritte Teil gilt der geltenden Rechtslage. Vor einer detaillierten Analyse der Aufgaben- und Befugnisnormen, die die besonderen Informationsbeziehungen zwischen Meldebehörde und Polizei regeln, werden die dogmatischen Kategorien, die das BVerfG in seiner Rechtsprechung zum Recht auf informationeHe Selbstbestimmung herausgearbeitet hat, im Mittelpunkt der Darlegungen stehen. Ihre Relevanz für das Melde- wie Polizeirecht war und ist nicht unbestritten84. Durch die Systematisierung des zu den jeweiligen Problernkreisen- insbesondere dem Verbot der Datensammlung auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken und dem Grundsatz der Zweckbindungss - bestehenden Meinungsspektrums wird die Klärung versucht, welche Positionen überhaupt geeignet sind, die konfligierenden Interessen zum Ausgleich zu bringen. Besondere Aufmerksamkeit gilt der konkreten verfassungsrechtlichen Verortung der entwickelten Kategorien, da deren Umfang und Tragweite nur über eine präzisierte Anhindung dem Versuch einer befriedigenden Lösung zugeführt werden kann. Die anschließende Untersuchung des Normbestandes (Vierter Teil) legt die gewonnenen Maßstäbe zu Grunde und beschränkt sich melderechtlich im wesentlichen auf die spezifischen Übermittlungsregelungen an die Sicherheitsbehörden86 sowie die weiteren, primär sicherheitspolizeilich relevanten Datenerhebungs- und Weitergabevorschriften für Beherbergungsstätten, Krankenhäuser und vergleichbare Einrichtungens7. Zugleich sind die polizeirechtlichen Maier, H., Die ältere deutsche Staats- u. Verwaltungslehre, 1980; zum Polizeibegriff: Preu, Polizeibegriff u. Staatszwecklehre, 1983. 83 Insbesondere BVerfGE 27, I ff (Mikrozensus), 65, I ff (Volkszählung) sowie den modifizierend-klärenden Folgeentscheidungen, dazu im einzelnen Dritter Teil, A II. 84 Vgl. die Nachweise bei Medert/Süßmuth u.a., Meldegesetz, Teil I, Einf., Rz. 58; fürs Polizeirecht bei Simitis, NJW 1986, S. 2800 ff, Fn. 60; vgl. auch Schatz, der kriminahst 1988, S. 53 ff. 85 BVerfGE 65, 46, 48. 86 §§ 25, 26 MeldeG Bin i.V.m. den jeweiligen Vorschriften der Meldedaten-Übermittlungsverordnung (DVO-MeldeG Bin). 87 § 16 II-V MRRG, §§ 21 , 22 MeldeG Bin.

28

Erster Teil: Vorbemerkungen

Normierungen zu beleuchten, um das informationeHe Beziehungsgeflecht transparent werden zu lassen. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Datenübermittlung innerhalb des öffentlichen Bereichsss, den allgemeinen Regeln über die Datenspeicherung, -Veränderung und -nutzungs9, dem automatisierten Abrufverfahren90 sowie dem Komplex Datenabfragen, Datenabgleich und besondere Formen des Datenabgleichs91. Die Bestrebungen, nahezu parallele Befugnisnormen für repressives Handeln in der StPQ92 zu verankern, komplettieren das informationeHe Zusammenspiel. Da jedoch insoweit eine gleichermaßen ausführliche Einzelanalyse der verschiedenenunabgestimmten Entwürfe den Untersuchungsumfang übersteigt, wird darauf nur punktuell im Rahmen der Präventivnormprüfung eingegangen93. Vergröbernd lassen sich die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung relevanten Informationsstrukturen aus der Perspektive des Landeseinwohneramts abschließend wie folgt skizzieren: Meldebehörde - Bürger, d.h. welche Daten erlangt die Meldebehörde zu welchen Zwecken vom Bürger bzw. über ihn von Meldebehörden anderer Länder und sonstigen Fachbehörden für die Registeranlegung?; Meldebehörde - Polizei, d.h. welche Daten erlangt die Meldebehörde zu welchen Zwecken von er Polizei? und- entscheidend: Meldebehörde -+ Polizei, d.h. welche und wessen Daten übermittelt die Meldebehörde zu welchen Zwecken an die Polizei? Angesichts des aktuell bestehenden Informationsflusses soll die Arbeit zur Klärung der Fragen beitragen, - ob und ggf. wie das melderechtliche Spannungsverhältnis zu den zentralen Maßstäben, die primär das Volkszählungsurteil gesetzt hat, gelöst werden kann; - ob bzw. inwieweit dem Bürger durch die meldebehördliche Datenerhebung ein melderechtlich verbrämtes "informationelles Sonderopfer" zugunsten der Polizei abverlangt wird und

89

§ 44 ASOG. § 42 ASOG.

90

§ 46 ASOG.

88

§§ 28, 47 ASOG. Siehe Nachweise in Fn. 81. 93 Auf Anfrage teilte das Bundesjustizministerium mit, der StVÄG-E (Std. 26.6.1989) sei noch nicht zur Diskussion freigegeben, da er derzeit in den Ressorts abgestimmt werde, Schreiben des Bundesministers der Justiz v. 19. Jan. 1993 an den Verf. Lediglich Rasterfahndung, § 98 a, b StPO und Datenabgleich zur Aufklärung einer Straftat, § 98 c StPO sind bisher in Kraft gesetzte Normen, die auch für die Zusammenarbeit zwischen Meldebehörde und Polizei Relevanz gewinnen können. 91

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C. Gang der Untersuchung

29

- inwieweit durch die organisatorische Ausgliederung des Einwohnermeldeamtes aus dem Polizeipräsidium die angestrebte "Entpolizeilichung" tatsächlich erreicht wurde oder ob nicht organisationsstrukturelle Verschiebungen (immer öfter) in dem Maße wirkungslos bleiben, in dem der elektronische Datentransfer der Verarbeitung und Verwertung von Informationen neue Dimension verleiht94, so daß im Ergebnis der "informationellen Entpolizeilichung" der Vorrang gebühren müßte. Kann letzteres partiell nicht durchgeführt werden oder fehlt der gesetzgebeTisehe Wille dazu, könnte die alte Behördenstruktur möglicherweise besser geeignet sein, dem "Publikum eine signifikante Grenze der Entpolizeilichung"95 zu demonstrieren, um im Interesse der Transparenz "Etikettenschwindel" vorzubeugen. Der Fünfte Teil beschränkt sich auf eine resümierende Schlußbemerkung.

94 Vgl. Kauß, Der suspendierte Datenschutz, S. 40, zum Verhältnis Polizeiexekutive!Verfassungsschutz; die Tendenz des Zusammenrückens zwischen Meldebehörde und Polizei bei Ausweitung der Automation sehen auch Banhel!Friedrich in: Beiträge, Bd. 13, S. 193. 95 So Götz in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. V, S. 445, zu den Verwaltungsaufgaben der Gefahrenabwehr, die noch in staatlichen Polizeipräsidien angesiedelt sind.

Zweiter Teil

Die Beziehungen zwischen "Meldewesen" und Polizei in ihrer historischen Entwicklung A. Ursprünge des Meldewesens Im wesentlichen sind - ex post - drei sich einander überschneidende Entwicklungslinien hervorzuheben, die, teils exklusiv, teils kumulativ, zu den Wurzeln des staatlichen Einwohnermeldewesens in Preußen! gezählt werden: Freizügigkeit, Armenpflege sowie der Einfluß des französischen Gouvernements während der napoleonischen Besatzungszeit2.

I. Das Recht des "freien Zugs"

Rekurriert man auf die Freizügigkeit im weitesten Sinne, lassen sich die Vorläufer bis in 16. Jahrhundert zurückverfolgenJ. Belegt wird damit jedoch nur rückblickend die erst später herausgearbeitete Kausalität zwischen einer größer werdenden Mobilität der Bevölkerung und ihrer lokalen Registrierung. Einige Autoren sehen zwar den rechtlichen Ursprung bereits in § 1 des Land-

Unter Berücksichtigung der städtischen Besonderheiten Berlins. Da der letztgenannte Aspekt primär bei der lnstitutionalisierung eine Rolle gespielt hat/haben soll, wird er erst in diesem Zusammenhang beleuchtet, s. Zweiter Teil, B ll. 3 Nicht berücksichtigt werden frühere "fach"- bzw. "bürger"spezifische Sammlungen personenbezogener Daten, die auch nur partiell zu den Wurzeln eines jedermann umfassenden Einwohnerwesens gerechnet werden können: Am ehesten noch Bürgerprotokoll-, Bürgerbücher, Neubürgerlisten, obwohl die Bürgerschaft natürlich nie mit der gesamten Einwohnerschaft identisch war (dazu: Kaeber, Bürgerbücher, S. 59; zum Ganzen ebenfalls Kolb, Bürgerbuch, 1971; v. Gebhardt, Berliner Bürgerbuch, 1927); nicht mehr dazu zählen aufgrundihrer Fachspezifität: Kämmereirechnungen, Hausbesitzerlisten, Innungs- u. Katasterakten, Eidbücher, (die Kolb, S. 93 ff als Quellenangaben herangezogen hat); ebensowenig: kirchliche Vorläufer wie Kirchenbücher, Taufverzeichnisse, etc.; zu den Parallelen in der Schweiz: Rüegg, Einwohner- u. Fremdenkontrolle, 1970, der ähnliche Verzeichnisse- wie Zunft-, Steuerrodel- allerdings den Vorläufern zuordnet (S. 7-9), was nur eingeschränkt zutreffen kann. I

2

A. Ursprünge des Meldewesens

31

friedens von 15484 begründet, der für jeden Untertan "das Recht...auf freie Selbstbestimmung des Wohnsitzes, das Recht 'des freien Zugs'" anerkannte; unmittelbar melderechtliche Konsequenzen konnte dieser Programmsatz aber nicht beinhalten, da die gesellschaftlichen Realitäten (nach wie vor gekennzeichnet durch Leibeigenschaft, Frondienst, etc.) zu diesem Zeitpunkt die Wahrnehmung des neuen Rechts faktisch weitgehend ausschlossen. Noch Ende des Jahrhunderts erließ Churfürst Johann Georg indes die erste "Fremdenmeldung" in Preußen. Das Edikt vom 1. Aug. 15905 enthielt nicht nur Bestimmungen über die Fremden, "die in einem Ort Aufenthalt nahmen, um zu übernachten", sondern bezog sich auf "alle zuwandernden Fremden"6. Auch spätere Anordnungen folgten diesem Grundgedanken, dehnten die Meldepflicht jedoch gleichzeitig aus. So regelte das Edikt v. 2. Feb. 17077 die Modalitäten für die in den Residenzien Berlin und Cölln ankommenden Ortsfremden. Alle Einwohner, nicht nur Gastwirtes, waren danach verpflichtet, Fremde und Besucher, die bei ihnen über Nacht oder für längere Zeit blieben, am Morgen nach der Ankunft bis spätestens acht Uhr beim Stadtmagistrat zu melden. Sofortige Anzeige war hingegen erforderlich, wenn an den Fremden etwas Verdächtiges wahrgenommen wurde9. Entgegen der teilweise geäußerten Auffassung, der Übergang von der Fremd- zur Selbstmeldung habe sich erst Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts vollzogento, war bereits im o.a. Edikt erweiternd bestimmt, daß jeder Einwohner nicht nur zur Anmeldung eines Fremden verpflichtet sei, sondern auch die Veränderung seiner Wohnung oder seine Abreise an demselben Tage bis acht Uhr früh anzuzeigen habett. Zumindest die kombinierte Fremd-/Selbstmeldung zur Erfassung aller Einwohner ist somit als Leitgedanke schon in die ersten melderechtlich rele-

4 Zitiert nach Goenner, S. 39; vgl. auch Haegele, S. 75; Hailbronner in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI, § 131 Rz. 2 weist zudem auf den sog. Tübinger Vertrag v. 1514, der einen wirtschaftlich motivierten freien Zug formal garantierte. 5 Vgl. 11. Rönne/Simon, Polizeiwesen, Bd. I, S. 470.

Ebd.; Haegele, S. 78. Zitiert nach den Angaben von Bai/horn, S. 10 f; s. auch Obernaus, S. 35; Weißmann, S. I u. 2, jeweils ohne nähere Angabe des Anordnenden. 8 Daß die Verpflichtung zur Fremdenmeldung bereits in ihren Anfängen auch Privatpersonen betraf, stellen v. Rönne!Simon , Polizeiwesen, Bd. I, S. 470 unter Berufung auf die unabhängig vom Meldepflichtigen gleichgelagerte sicherheitspolizeiliche Notwendigkeit, die Fremden zu kontrollieren, ausdrücklich fest. 6 7

9 Bai/horn, S . 10, Ziff. I und 6. 10 Vgl. nur AL, S. 24; Haegele, S . 82, der den entscheidenden Wandel (primäre Selbstmeldung) erst mit Inkrafttreten des Gesetzes über die Aufnahme neuanziehender Personen v. 31.12. 1842, GS 1843, S. 5, vollzogen sieht. II Bai/horn, S. II, Ziff. 8.

32

Zweiter Teil: Historische Entwicklung der informationellen Beziehungen

vanten Regelungen eingegangen. Zu Recht wird das Edikt daher als Beginn eines Meldewesens bezeichnett2. Neben zahllosen Geboten und Ediktent3 in den einzelnen Provinzen Preußens bestimmte Ende des 18. Jahrhunderts (nur beispielhaft) die Publikation der Königlichen Regierung v. 30. Juni 1781 verschärfend, "daß die Bewohner ... sogar diejenigen, welche bei ihnen einkehren wollen, von ihnen aber nicht aufgenommen, sondern nach dem Kruge gewiesen sind, der Polizei anzeigen sollen"t4. Ähnliche Regelungen der Fremdenmeldung durch andere, d.h. hier zunächst der Gastwirte, enthielt sodann das ALR Pr. von 179415. Die Gastwirte sollten keine Verdächtigen, mit Pässen nicht versehene Personen aufnehmen oder dulden; auch sollten sie verpflichtet sein, die zur Nachtherberge bei ihnen einkehrenden Personen der Polizeibehörde bzw. dem Schulzen anzuzeigent6. Später mußten Fremdenbücher geführt werdent7. Eine den Regeln des ALR Pr. entsprechende Verpflichtung ist gern. § 18 des Paßedikts v. 22. Juni 181718 allen anderen Einwohnern auferlegt worden. Der Inhalt der zitierten Verordnungen verdeutlicht deren ausschließlich sicherheitspolizeiliche Intention, dem das Paßwesen ebenso diente wie das sich entwickelnde Einwohnermeldewesent9. Mit dem Anschwellen der Bevölkerung und deren erhöhter Mobilität galt die - noch primäre - Fremdenbeobachtung als eines der wichtigsten Hilfsmittel kriminalpolizeilicher Tätigkeit20. Alle Einwohner ohne Unterschied waren geeignet und verpflichtet, die Informationsinteressen der Polizei zu befriedigen, damit diese "... von den am Orte befind!. Fremden Wissenschaft und Kenntnis ... " erhielt21. Man folgte damit schlicht dem nach damaliger Beurteilung einzig "richtigen Gedanken" .. . , "daß das Verlassen eines Wohnortes und das Wandern nach einem anderen Ort sowohl erlaubte als unerlaubte Zwecke haben kann, und daß das Tun und TreiObernaus, S. 35. Auszugsweiser Überblick bei v. Rönne!Simon, Polizeiwesen, Bd. I, S. 469 ff. 14 Zitiert nach v. Rönne!Simon, Polizeiwesen, Bd. I, S. 470; s. auch Haegele, S. 78. 15 Teil VIII. Tit. 2, §§ 438-442 sowie Teil II, Tit. 7, § 16. 16 v. Rönne, Staatsrecht, Bd. IV., 2. Abt., S. 116 f . 17 v. Rönne, Staatsrecht, Bd. IV., 2. Abt. , S. 117; R.d.Min.d.lnn. v. 17.01.1844 in: MBiiV 1844, S.10. 18 GS S. 152; v. Rönne, Staatsrecht, Bd. IV., 2. Abt., S. 117. 19 Zur "ideenrnäßigen", "organischen" Verbindung beider Institutionen bereits zutreffend Haegele, S. 112, der insgesamt zur teils parallelen, teils dem Melderecht vorausgehenden Entwicklung des Paßwesens, das hier nicht eigens behandelt werden kann, ausführlich Stellung nimmt, S. 2 ff: während das Paßwesen der Kontrolle an der Grenze diene, beschränke sich das Meldewesen auf die Überwachung der Bevölkerung am Wohn- bzw. Aufenthaltsort, Haegele, S. 2; vgl. auch v. Rönne/Simon: Polizeiwesen, Bd. I, S. 289 ff. 20 Obernaus, S. 35. 21 v.Rönne/Simon, Polizeiwesen, Bd. I , S. 470. 12

13

A. Ursprünge des Meldewesens

33

ben arbeitsscheuer, mittelloser Leute an ihrem Wohnort leichter zu beaufsichtigen" sei22. So hätten die Fremden sehr häufig Unordnung und Exzesse herbeigeführt und seien, weil man ihre Wohnungen nicht kannte, straflos geblieben23. Allgemein wird auf die Auswirkungen des 30-jährigen Krieges für die Städte hingewiesen, "die Ansammlung von Bettlern. .. , die Bildung von Vagabunden, ... ", die den Zwang zu "durchgreifende(n) polizeilichen Sicherheitsmaßnahmen" bedingte, "um sich dieser Elemente erwehren zu können "24. Insoweit sollte die Fremdenmeldung auch den Nachweis über geordneten Lebenswandel und ausreichende Existenzmittel führen25, um den Anstieg der Fürsorgemaßnahmen bei Zuzug im Rahmen zu halten.

0. Die Armenpflege Die vorstehenden Ausführungen weisen tendenziell bereits darauf hin, daß dem Aspekt der - nach heutiger Terminologie - der Leistungsverwaltung zuzurechnenden Armenpflege eher sekundäre26 Bedeutung zukommt. Für die Jahrzehnte nach dem 30-jährigen Krieg lagen allerdings infolge der alltäglichen Wander- und Armutskriminalität deren strafrechtliche Bekämpfung sowie ursachenbeseitigende Maßnahmen gegen die Armut eng zusammen27. Als ältestes öffentliches Reproduktionssystem entstand die Armenfürsorge ebenfalls an den Grenzlinien zerfallender vorbürgerlicher Subsistenzsicherungen, familiärer Reproduktionsdefizite und individueller Reproduktion durch Verwertung der eigenen Arbeitskraft28. Lagen die Maßnahmen gegen Verarmung und Hilfsbedürftigkeit zunächst im wesentlichen bei den Kirchen29, sodann bei den Gilden und Zünften bzw. der Fürsorgepflicht der Lehnsherren30, wurde die Armut schließlich über die die öffentliche Sicherheit gefährdende Bettelei, die gewerbliche Ausmaße annahm, zur

22

Obernaus, S. 35.

23

Ballhorn, S. 10; Weißmann, S. I.

24

Haegele, S. 75 f.

25

AL, S. 17.

26 Andere Prioritätenfolge - ohne nähere Begrundung - offenbar Bartsch, DVR 1985 115; ähnlich Woljf/Bachof, Verwaltungsrecht III, § 146 li b, Rz. 6. 27 Stolleis in: DIE ZEIT Nr. 27 v. 2.7.1993, S. 32.

28 Sachße!Tennstedt, Bd. 1, S. 14. 29 Jedenfalls in der ersten Hälfte des Mittelalters: Peters in: Graf Hue de Grais/Peters, Hdb., 1930, § 380, S . 839; v. Rönne, Staatsrecht, Bd. IV, 2. Abt., S. 148; Ballhorn, S. 55: "christliche Pflicht". 30 v. Rönne, Staatsrecht, Bd. IV, 2. Abt., S. 148; Peters in: Graf Hue de Grais/Peters, Hdb., 1930, S. 840. 3 Marenbach

34

Zweiter Teil: Historische Entwicklung der informationellen Beziehungen

weltlich polizeilichen Angelegenheit3t. Betteln war bei Strafe verboten; jede Kommune hatte ihre Annen selbst zu versorgen. Als tragende Funktionsprinzipien galten: Subsidiarität, Individualisierung und das Heimatprinzip Grundsätze, die bis heute fortleben, wenn auch das Heimatrecht nur noch implizit in der verfassungsrechtlichen Behandlung der Sozialhilfe als (örtliche) Angelegenheit kommunaler Selbstverwaltung anklingt32. Das Einwohner/Heimatrecht wurde ursprünglich durch Geburt, später auch durch Verleihung/Aufnahme erworben. In der vorindustriellen Wirtschaftsstruktur, für die eine mobile Bevölkerung keine Voraussetzung der Entfaltung der Produktivkräfte war, konnte sich als Konstitutiv der Annenfürsorge das Prinzip des ausgeschlossenen Fremden durchsetzen33. Da der Verlust des einmal erlangten Heimatstatus' nicht möglich war, erfolgte die Aufnahme in den Verband mit zunehmender Bevölkerungsmobilität restriktiv. Im 19. Jahrhundert war die Entwicklung der Annenfürsorge vornehmlich dadurch bestimmt, traditionelle Hindernisse für die Freizügigkeit der Arbeitskräfte abzubauen. Das Gesetzesbündel 1842/334 versuchte in Preußen den ganzen Komplex: Einwohnerbestimmungen, Zuzugsbedingungen, Annenhilfe und Bestrafung der Bettelei erstmals gesamtstaatlich zu regeln. Dabei blieb die Armenhilfe primär kommunal, die Freizügigkeit gesamtstaatlich. Beide Materien waren und wirkten aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als die staatlich gesetzten Rahmenbedingungen regionaler Mobilität zur Förderung der lndustrialisierung35. Insbesondere von der traditionellen Heimatgemeinde löste sich der preußische Gesetzgeber und schuf eine eigene Annengemeinde als besonderes Rechtssubjekt. Er organisierte sie auf zwei Staatsverwaltungsebenen: 1. als primär verpflichtete Körperschaften sog. Ortsarmenverbände, in denen man nicht Heimat, sondern durch gewöhnlichen Aufenthalt (unterschiedlicher Dauer36) den sog. Unterstützungswohnsitz erwarb, der nach 3-jähriger Abwesenheit auch wieder erlosch37 und 2. als subsidiär eintretende Landarmenverbände (bei Fehlen von Ortsarmenverbänden)38.

v. Rönne, Staatsrecht, Bd. IV, 2. Abt., S. 148. Sachße/Tennstedt, Bd. I , S. 15. 33 Diess. , Bd. I, S. 195/6. 31

32

Grundlegend das Gesetz über die Aufnahme neuanziehender Personen v. 31.12.1842, GS s. 5 ff. 35 Sachße!Tennstedt, Bd. I, S. 194 f. 36 Z.B. 3 Jahre gern. § I Nr. 3 des ArmenpflegeG v. 1842, GS 1843, S. 5 ff. 37 § 4 ArmenpflegeG v.l842, GS 1843, S. 5 ff. 38 Sachße/Tennstedt, Bd. I, S 199/200. 34

1843,

B. Institutionalisierung

35

Der unmittelbare Konnex zwischen Aufenthalt und Unterstützungsverpflichtung39 mußte verwaltungsorganisatorisch bewältigt werden. Die Notwendigkeit läßt sich rückblickend empirisch leicht veranschaulichen: Der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird die größte Bevölkerungsbewegung der deutschen Geschichte zugeschrieben, die dazu führte, daß 1907 von 60,4 Mio. im Deutschen Reich Geborenen 29 Mio. (=48,8%) außerhalb der Gemeinde ihrer Geburt lebten. Die Großstädte beispielsweise bestanden um 1900 durchschnittlich zu 57% aus Zugezogenen, in Charlottenburg waren es 81 %, in Kiel 66%, in München 64%40. Zur Prüfung der potentiellen Unterstützungsverpflichtung war insbesondere die Dauer des gewöhnlichen Aufenthalts zu registrieren, die ohnehin mit den polizeilichen An- und Abmeldungen bereits festgehalten wurde- eine (Mehrfach)Nutzung dieser Daten daher naheliegend.

ID. Der Einfluß des französischen Gouvernements Der zu den Ursprüngen des Meldewesens zählende Einfluß des französischen Gouvernements während der napoleonischen Besatzungszeit wirkte sich - historisch umstritten - primär im Rahmen der Ausdehnung und Institutionalisierung der Kontrolle auf alle Einwohner aus, so daß der Aspekt im Zweiten Teil unter B. II. näher beleuchtet wird.

B. lnstitutionalisierung I. Von der Fremdenkontrolle durch "Dritte" zur

Selbstmeldung aller Einwohner

1. Der Übergang von der Fremdenmeldung durch "Dritte" zur pnmaren Selbstmeldung aller Einwohner festigte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

39 Vgl. insbes. auch das später erlassene Gesetz über den Unterstützungswohnsitz v. 6.6. 1870, RGBI. S. 360. 40 Angaben bei Sachßetrennstedt, S. 195.

36

Zweiter Teil: Historische Entwicklung der informationellen Beziehungen

Dem Paß-Edikt für die Preußische Monarchie v. 22. Juni 181741 folgte die Generalpaßinstruktion des Königlichen Polizeiministers v. 12. Juli 181742 zur Regelung der Fremdenmeldungen und polizeilicher An- und Abmeldungen. Darin wich das noch vorherrschende Prinzip der "Meldung durch andere" der bereits angelegten Kombination von Selbst- und Fremdmeldung der Fremden, indem § 4 bzgl. der in den größeren Städten sowie Handels- und Festungsstädten der Monarchie bereits eingeführten Aufenthaltskarten43 anordnete, daß alle Nichteinwohner, die sich länger als zwei Tage aufhalten wollten, sich selbst eine solche Karte zu besorgen hatten. Die bisherige Fremdenmeldung verblieb als zusätzliche Kontrolle den Ortseinwohnern, insbesondere Gastwirten und Vermietern,§ 11. Während der entscheidende einheitliche Wandel zur primären Selbstmeldung aller Einwohner im gesamten (!) Staatsgebiet durch das Gesetz über die Aufnahme neuanziehender Personen v. 31. Dezember 184244 abschließend normiert wurde, trugen bereits im Vorfeld zahlreiche lokale Publikationen, Reglements, Zirkularreskripte, Verfügungen und Verordnungen zur Angleichung polizeilicher Meldungen bei stattfindenden Wohnungsveränderungen in Städten, Dörfern und auf dem "platten Land" bei45. Irrfolge der zunehmenden Industrialisierung und des dadurch bedingten Zuzugs von Arbeitern wurden insbesondere die Städte gegenüber den ländlichen Strukturen mit einem explosionsartigen Anschwellen ihrer Bevölkerung konfrontiert46. Dies führte zu einem entsprechend höherem rechtlichen Kanalisierungsbedarf: So gab es für Berlin bereits 30 Jahre zuvor definitive Regelungen, die das An- und Abmelden der Wohnungsveränderungen der "hiesigen" Einwohner neben den bestehenden Fremdenmeldungen zum Gegenstand hatten. Die Verordnung der kgl. Polizei-Intendantur von Berlin v. 13. Januar 181347 bestimmte neben den mittelbaren Meldungen durch Vermieter, Schlafstellenhalter, Eltern und Dienstherrschaften (Ziff. 1) auch die unmittelbare An- und Abmeldung dieser Bewohner selbst hinsichtlich ihrer eigenen Wohnungsveränderungen oder "im Falle der Beziehung eines eigenen Hauses, bei dem betr. Revier-Pol.-Kommissarius"(Ziff. 6). Dies alles galt gleichermaßen bereits für den Wechsel innerhalb desselben Polizeireviers (Ziff. 2), so daß die tatbestandliehe Anknüp41 42

43

GS S. 152. v. Kamptz, Annalen 1817, l. Bd., 3. Heft, Nr. 69, S. 112 ff. § 18 Paß-Edikt.

GS 1843, S. 5; zum frühen Grundgedanken der Selbstmeldung bereits Zweiter Teil, AI. Vgl. nur Reskript des Kgl. Min. d. Innem und der Polizei (v. Rochow) v. 18.12.1837 abgedruckt in: v. Rönne/Simon, Polizeiwesen, Bd. I, S. 472; MBiiV 1846, S. 10. 46AL , S. 4, 17. 47 Abgedruckt in: v. Rönne!Simon, Polizeiwesen, Bd. I, S. 483 f. Sie gehörte zu den existenten lokalen Polizeivorschriften, die trotz des kgl. Vereinheitlichungsreskripts v. 18.1 2. 1837 - s. Fn. 45 - als spezifische Regelungen fortgalten. 44

45

8. Institutionalisierung

37

fung an der konkreten Wohnungsänderung (nicht am Wohnortwechsel) keinewie verschiedentlich behauptet48 - spezifisch nationalsozialistische Variante des Einwohnermeldewesens darstellt. Das Kammergericht Berlin entschied 1915 -über 100 Jahre nach Erlaß der o.a. Verordnung49: "Das Meldewesen, so wie es jetzt in den meisten größeren Städten besteht, entspricht einem allgemeinen Verkehrsbedürfnis. Wenn man die Meldepflicht auf neuanziehende Personen beschränken wollte, würde der Zweck der Einrichtung, jedermann eine schnelle und zuverlässige Auskunft über die Wohnung eines Ortseingeseßenen zu gewähren, vereitelt werden. Denn der Neuangezogene hätte es dann in der Hand, nach der ersten Anmeldung die angemeldete Wohnung sofort zu verlassen und unangemeldet im Gewühl der Großstadt unterzutauchen". 2. Hinsichtlich der sozio-ökonomischen Ursachen der melderechtliehen Erfassung zunächst der Fremden und sodann aller Einwohner gilt die für den Ursprung der Polizei allgemein zutreffende Analyse Maiersso gleichermaßen: Auslöser waren die Ordnungsprobleme der sich auflösenden Ständegesellschaft. Deren Erschütterung, die im späten Mittelalter einsetzte und die Entwicklung zum Territorialstaat der Neuzeit einleitete, forderte im 16. und 17. Jahrhundert die sich stetig mehrenden Polizei(ver)ordnungen - "Gebote( ... ) und Edikte( .. .), Spezial- und Landesordnungen der Territorialfürsten"st - bis "die obrigkeitliche Regier- und Reglementierlust" zur Ausweitung der "guten Polizei" in die Praxis des "Polizeistaats" führte52 .

Insoweit war die vermehrte Verrechtlichung kein deutsches Spezifikum53, sondern als polizeiliche (Normsetzungs)Tätigkeit des Staates zunächst ein charakteristischer Vorgang der neueren europäischen Verfassungsgeschichte54. Der entstehende Beamten- und Anstaltsstaat präsentierte sich zunächst "als unermüdlicher Gesetzgeber und Kontrolleur", wobei die Realitäten - die Bevölkerungsvermehrung der Neuzeit, der Übergang von der Agrar- zur Kapitalwirtschaft, etc. - "die allmähliche Verwandlung der mittelalterlichen Stadt-

48 So beispielsweise Fischer!Gröpper, MRRG, S. II; schon Liebermann!Kääb, RMO, Anm. zu § 2, S. 31 f wiesen indes zu Recht daraufhin, daß zumindest die bayerische Regelung schon vorher eindeutig auf objektive und subjektive Umstände abstellte und daher der RMO insoweit als Vorbild diente. Sie sahen darin die lückenlosere Erfassung gegenüber der auslegungsfähigen Tatbestandsmerkmale Wohnsitz/dauernder Aufenthalt gewährleistet, diess. , RMO, Einf., S. 15; vgl. auch Kääb, RVBI. 59 (1938), S. 156. 49 Urteil v. 12.10.1915 auszugsweise abgedruckt bei Roedenbeck in: Goltd. Arch. 74 (1930), s. 257 ff, 261 f. 50 Maier, insbes. S. 33 ff, 82; s. auch Obernaus, S. 33 ff.

Maier, S. 260. Ders., S. 87 . 53 Bezogen auf das Melderecht mit dieser Akzentuierung aber deutlich AL, S. 4 . 51

52

54

Maier, S. 259.

38

Zweiter Teil: Historische Entwicklung der informationellen Beziehungen

und Landbevölkerung in administrativ beherrschbare 'Untertanen' "55 in gewissem Umfang bedingten. Gleichwohl nimmt Deutschland in dieser Entwicklung, in deren Verlauf der "barocke Staat als ersehnter Ordnungsstifter"56 mit seiner Polizei (d.h. der Lehre von der inneren Ordnung des Gemeinwesens57) infolge der Krise der großen mittelalterlichen Selbstverwaltungskörperschaften Kirche, Städte, Grundherrschaft allmählich das gesamte innere Leben seinem Gebot unterwarf, eine Sonderstellung ein: "Hier, wo die Krise der mittelalterlichen Ordnungen in der Reformation und im Dreißigjährigen Krieg ihren Höhepunkt erreicht und die öffentlichen Verhältnisse tief umgestaltet, findet die neue Ordnungsmacht der rechtsetzenden und verwaltenden Obrigkeit ein besonders umfangreiches Tätigkeitsfeld vor. In den größeren deutschen Territorien, ... ,wird ... die Verwaltung zur primären Staatsaufgabe .... Alle Politik wird gleichsam auf Polizei reduziert. Die peinliche gebotsmäßige Regelung aller Lebensverhältnisse, die minutiös ausgstattete 'gute Ordnung und Policey"' werden zum Selbstzweck und "erscheinen geradezu als Signum des deutschen Territorialstaats der Neuzeit"58, dessen spätere Klassifizierung durch den Liberalismus als "Polizeistaat" Maierzwar nicht für grundlos, aber übertrieben hält59, während (andere) Polizeirechtsautoren60 sich dieser Charakterisierung mit Blick auf den Umfang des materiellen Polizeibegriffs und den Mangel an Rechtsbindungen der Polizeigewalt zu Recht anschließen.

II. Die Entwicklung zum Einwohner-Meldeamt

Dem städtischen Bevölkerungswachstum entsprechend institutionalisierte sich die Einwohnerregistration wiederum zuerst in den Städten. In Berlin wurde aufgrund polizeilicher Anordnung v. April 1807 nach den eingereichten Listen der örtlichen Polizeidienststellen eine alphabetische Hauptkontrolle aller Einwohner im damaligen Polizeidirektorium6I angelegt62. Um die Aktua55 56

Stolleis in: DIE ZEIT Nr. 27 v. 2 .7.1993, S. 32. Ebd.

Maier, S. 1. S. 259 f; Ebel, S. 57 ff, 58. 59 Maier, S. 260 u. Fn. 7 daselbst. 60 Drews u.a., S. 4; ebenso Götz, Rz. 7 f; vgl. auch Stolleis in: DIE ZEIT Nr. 27 v. 2.7. 1993, S. 32: "Der wohlgeordnete Polizeistaat, in dem ohne den fürstlichen Willen kein Sperling vom Dache fällt, ist das ... Ziel". 61 Das Polizeidirektorium existierte seit 65 Jahren. Den ersten Polizeidirektor - Carl David von Kircheisen - setzte Friedrich der Große am 16.1.1742 ein, der in Berlin die "Verstaatlichung" der städtischen Polizei anordnete, s. Feigell, S. 5; Obemaus, S. 34, 37; Funk, S. 25. 57

58 Ders.,

62

Bai/horn, S. 134; Weißmann, S. 2.

B. Institutionalisierung

39

lität der Kartei zu gewährleisten, war zweierlei geregelt: Die örtlichen Polizeikommissariate mußten innerhalb von 24 Stunden alle dort (primär wohl noch von Dritten) eingehenden Zu- bzw. Wegzüge mit Namen, Beruf und Wohnung an die Hauptkontrolle weiterleiten und alle 3 Monate nahmen Polizeibeamte besondere Ortskontrollen (Hausermittlungen) vor, damit nicht gemeldete Wohnungsveränderungen zur Berichtigung der Hauptkontrolle festgestellt werden konnten63. Historisch umstritten ist, inwieweit das herrschende französische Generalgouvernement den Beginn dieser lnstitutionalisierung initiiert hat. Nach damaliger Auffassung ging die Einführung der Meldepflicht aller Einwohner auf die Besatzungsmacht zurück, da deren sofortige Auskünfte, die sie über bestimmte Personen verlangte, ohne Zentralkartei nicht hätten befriedigt werden können. Vorbild der Hauptkontrolle für Berlin und Cölln sei eine entsprechende Einrichtung in Paris gewesen, die damals bereits bestanden habe64. Als Indiz für Oktroyierung wird zudem der Rücktritt des damaligen Polizeidirektors Büsehing aus vorgeblichen Gesundheitsgründen im Mai 1808 gewertet, denn er habe schließlich nach Abzug der napoleonischen Truppen im Dezember 1808 erneut die Polizeileitung übernommen: "Diese Krankheit war damit eine politische Krankheit, ... "65. Andere verweisen pauschal auf die Willkür der französischen Behörden in Berlin insgesamt, die dafür verantwortlich gewesen sei66. Parallelen werden auch zu den französisch verwalteten linksrheinischen Gebieten gezogen, in denen zuerst ein umfassendes Paßund Meldewesen eingeführt worden sei67. Demgegenüber maßen spätere Analysen dem französischen Wirken jedenfalls keine Initialbedeutung zu68. Dem ist sicher insoweit zu folgen, als es wie dargelegt - lange vor 1806 Meldepflichten der Fremden (und Einwohner) gab. Dennoch scheint zumindest der Organisationsgrad der Registrierung mit der zentralen Hauptkontrolle eine neue Qualität erhalten zu haben. Aber auch diesbezüglich wird retrospektiv der französische Einfluß bestritten, denn 1913 seien in allen größeren deutschen Städten Meldeämter eingerichtet gewesen, während die Großstädte des europäischen Auslandes, wie z.B. London und Paris, über kein vergleichbar geordnetes Meldewesen verfügt hätten. In Paris sei die Institution zu dieser Zeit allenfalls "in gewissem Grade" durch die von

63

64

WeißmLlnn, S. 2 f . Ballhorn, S. 134.

Ebd.; WeißmLlnn, S. 3. Beispielsweise Obernaus, S. 63 ff, 66 f . 67 AL, S. 22; vgl. auch Becker, S. 186 f und passim.

65

66

68 So v. Rönne/SimLln, Polizeiwesen, Bd. I, S. 470, der es für "durchaus unbegründet" hält, daß dies von den Franzosen veranlaßt sei.

40

Zweiter Teil: Historische Entwicklung der informationeBen Beziehungen

Hausbesitzern bzw. -meistem unter polizeilicher Aufsicht geführten Hausbücher ersetzt worden69. Ein Vergleich zu den Grenzen der Polizeigewalt im (damaligen) französischen Recht bestätigt diese Tendenz: Ende des 19. Jahrhunderts war zumindest die fremden-polizeiliche Auferlegung der Meldepflicht infolge des "Grundsatzes der Öffentlichkeit" auf die Inhaber von maisons publiques beschränkt; die Aufnahme in Privatwohnungen unterlag, im Gegensatz zum Deutschen Reich, keiner Meldepflicht70. Feststeht zudem, daß die geltende Rechtslage weder in Frankreich noch im anglo-amerikanischen Rechtskreis ein alle Einwohner umfassendes Meldewesen, wie es in der Bundesrepublik Deutschland existiert, kennt7l. Selbst wenn also zu napoleonischer Zeit kriegs-und/oder besatzungsbedingte Registrierungen in dem beschriebenen Umfang auf Veranlassung des Französischen Gouvernements stattgefunden haben, wurden sie zur verwaltungstechnischen Organisation des "Zivillebens" nicht weiterverfolgt und ausgebaut. Anders die Entwicklung in Preußen: Die Einwohnerregistrierung ist nicht nur sachlich, sondern auch institutionell fortgeführt worden. Als eines der "Special-Polizei-Bureaux" wurde das "Einwohner-Controll-Bureau"72 ins inzwischen gegründete königliche Polizeipräsidium73 integriert. Nach dessen Umstrukturierungen und Auflösungserscheinungen in den Jahren 1816-182274 blieb die Abteilung unter der neuen Bezeichnung "Wohnungs-MeldungsAmt"75 unangetastet. Es "hatte die Verzeichnung und Übersicht aller Einwohner Berlins nach den Hauswohnungen oder Schlafstellen und deren Wechsel in 69

Banmann in: v. Stengei/Fieischmann, Wörterbuch, Bd. 2, 1913, S. 834.

Wo/zendorff, AÖR 24, 1909, S. 350. Funk!Kauß/v. Zabern in: Blankenburg, Innere Sicherheit, S. 48 f, die aber zutreffend darauf hinweisen, daß "Surrogate" damit nicht ausgeschlossen sind. So hat das Institut National de Ia Statistique et des Etudes Economique (INSEE) in Frankreich die Aufgabe, demographische, wirtschaftliche und soziale Daten zu sammeln, die mit Hilfe der Wahlverzeichnisse und der numerischen Systeme im Sozialversicherungsbereich (Versicherungsnummer) die Möglichkeit personenbezogener Auswahl der Daten bietet, wobei jedoch eine Personenkennziffer zur Perfektionierung auch dort infolge öffentlichen Protests nicht eingeführt wurde; vgl. aber Thivolet, Der Tagesspiegel v. 27 .4.1992, S. 3 zur Inkompatibilität von Demokratie und staatlicher Registrierung z.B. der Religionszugehörigkeit in Frankreich, Großbritannien und Spanien; zu den Substitutionen in den USA schon Rietdorf, DÖV 1960, S. 488 f. n Bai/horn, S. 148 f. 73 Mit Kabinettsorder des Staatsministers Graf zu Dohna v. 25 .3.1809 gegründet. 74 Dazu Feige//, S. 6; Bai/horn, S. 149 ff; Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 45, der die Schuld an der Krise der staatlichen Polizeiverwaltung der die preußische Regierung und Verwaltung dominierenden adligen Reaktion gab, die die von den Stein' sehen Reformern dekretierten Verstaatlichungen teils wieder rückgängig machten. 75 Polizeireglement v. 18.9.1822 abgedruckt in: Dritter Verwaltungsbericht des kgl. Polizeipräsidiums von Berlin für die Jahre 1891-1900, 1902, S. 854 ff sowie Bai/horn, S. 151 ff; Geschäftsinstruktion v. 19.6.1823, VI, abgedruckt in: Ballhom, S. 170 ff, 175. 70 71

B. Institutionalisierung

41

dazu eingerichteten Büchern nebst alphabetischen Namensregistern zu führen, nach den durch die Polizei-Revierkommissarien eingehenden An- und Abmeldungen die Quartierveränderungen nachzutragen und die von Behörden und Privaten gebrauchten Notizen über zeitige und frühere Wohnung, die Dauer und den successiven Wechsel hinsichts einzelner Individuen zu ertheilen"76. Erst eine ministeriell angeordnete Revision der gesamten Geschäftsführung des Polizeipräsidiums führte auch zu Eingriffen ins zentrale Registraturwesen, als deren Folge das "Wohnungs-Meldungs-Amt" als entbehrlich aufgelöst wurde77. Die Einwohnerregistrierung blieb zunächst (wieder) dezentral auf die Polizeireviere beschränkt. 78 Offenbar hatte sich die Zentralstelle aber in den wenigen Jahren ihrer praktischen Existenz dennoch derart bewährt, daß eine "vollkommene Polizeiverwaltung"79 nicht mehr auf sie verzichten wollte. Unter der Benennung "Königliches Polizeipräsidium, Einwohner-Meldeamt" wurde die Dienststelle mit Wirkung zum 1. Mai 1836 reorganisiertBO. Diese behördenorganisatorische Anhindung des Meldewesens ans Polizeipräsidium blieb bis zum 31. März 1986 erhalten81 .

m. Rechtliche Anhindung des Meldewesens: Verordnung/ Gesetz/ Verfassung

Parallel zur sukzessiven organisatorischen lnstitutionalisierung folgte die normenhierarchische An- und Einbindung des Einwohnermeldewesens. Waren die ersten Fremden- und Einwohnermeldepflichten entsprechend damaliger Rechtssetzungsgepflogenheiten82 in städtische und landespolizeiliche Ordnungen83 gekleidet, fanden die Grundsätze des Meldewesens über Bestimmungen des Allgemeinen Preußischen Landrechts (ALRPr)84, die lokalen Vorschriften

76 Geschäftsinstruktion v. 19.6.1823, VI, ebd.; Geschäftsinstruktion v. 26.7.1830 abgedruckt in: Ballhom, S. 177, zur Beschränkung auf 5 Abteilungen s. im einzelnen S. 180 ff.

Ballhorn, S. 177. Weißmann, S. 4. 79 Ballhom, S. 182. so Allerhöchste Kabinettsordre v. 21.01.1835 - vgl. dazu Weißmann, S. 4 und Ballhorn, S. 182, deren Gründungsangaben um zwei Monate differieren (Juli/Mai). 81 §§ I II 1, 35 I 2 MeldeG Bin; vgl. auch Weißmann, S. 4 seiner Schrift zum 140-jährigen Bestehen des Einwohnermeldeamts im Jahre 1976. 77

78

82 Zur Bedeutung der Polizeiordnungen in der Entwicklung zum modernen Staat und zur Ausbildung eines staatlichen Rechtssetzungsmonopols Maier, S. 96 ff (2. Teil, 111 insb. 1,2,4). 83 Beispielhafte Aufzählung in: v. Rönne!Simon, Polizeiwesen, Bd. I, S. 470; s. auch oben Zweiter Teil, A I, B I 1 u. II. 84 Teil VIII, Tit. 2, §§ 438-442 und Teil II, Tit. 7, § 16.

42

Zweiter Teil: Historische Entwicklung der informationeBen Beziehungen

und die diese vereinheitlichenden Reskripte85 ihre ausdrückliche gesamtstaatlich-gesetzliche Fundierung im Gesetz über die Aufnahme neuanziehender Personen v. 31.12.184286, das die liberalsten Regelungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts enthielt87. Die Konkretisierung blieb weiterhin Polizeiverordnungenss überlassen, denn die Materie gehörte "zu den Gegenständen der ortspolizeiliehen Vorschriften" i.S.d. § 6 i des Gesetzes über die Polizeiverwaltung v. 11.3.185089. Auch die spätere - rechtsqualitativ unterschiedliche - verfassungsrechtliche Verankerung des Rechts auf Freizügigkeit90 änderte an dieser Grundkonzeption nichts, denn "Grundrechte" - soweit überhaupt als solche bezeichnet9t wurden (und mußten) wirksam ohnehin durch Gesetze verwirklicht (werden), die der Sache nach klassische Freiheitsgarantien übernahmen (Freiheit durch Gesetze)92. Als maßgebliche Gesetzesgrundlage zur Regelung der verfassungsgemäß gewährleisteten Freizügigkeit galt nach Gründung des Norddeutschen Bundes das Gesetz über die Freizügigkeit v. 1. November 186793, das im wesentlichen die Bestimmungen des preußischen Gesetzes von 1842 über85 86

Vgl. oben Zweiter Teil, BI. GS 1843, S. 5 ff.

Dürig in: M/D/H/S, GG, Art. II, Rz. 14 Fn. 3; siehe auch unten Fn. 94. Nur beispielhaft: Entwurf einer Polizeiverordnung über das Meldewesen v. 7.3.1902, MBliV., S. 64, abgedruckt in: Grotefend/Gretschmar, Bd. I I, S. 806; Verfügung des Ministers des lnnern betreffend die Regelung des Meldewesens durch Polizeiverordnung v. 16.1.1904, MBliV, S. 40, abgedruckt in: dies., Bd. V, S. 48 ff; Polizeiverordnung über das Meldewesen für die Vororte Berlins v. 21.10.1906, Amtliche Beilage zu Nr. 84 des "General-Anzeiger" Reinickendorf. 89 GS 1850, S. 265; ebenso konnten die Polizeiverordnungen inuner noch auf ALRPr Teil II, Tit.17, § 10 gestützt werden, vgl. Roedenbeck, Goltd. Arch. 74 (1930), S. 260; Fischer/Gröpper, DVBI. 1977, S. 231. 90 Im modernen Sinne erstmals relevant in der Fassung des § 133 der- Progranun gebliebenen - Verfassung des Deutschen Reiches v. 28.3.1849 (unter Einschluß der Teilrechte freie Berufswahl und freier Grundstückserwerb); wieder reduziert auf persönliche Freiheit nach Art. 5 der Verfassungurkunde für den preußischen Staat v. 31.1.1850; deutlich (gemeinsames lndigenat, allerdings nur jeweilige Inländergleichbehandlung) und erweitert um Zulassung "zum Gewerbebetriebe, zu öffentlichen Ämtern, zur Erwerbung von Grundstücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechts und zum Genusse aller sonstigen bürgerlichen Rechte .. . , auch in Betreff der Rechtsverfolgung und des Rechtsschutzes ... " gern. Art. 3 der Verfassung des Norddeutschen Bundes v. 16.4.1867; ebenso Art. 3 der Verfassung des Deutschen Reichs v. 16.4.1871 (RV), jedoch in beiden Fällen ohne Grundrechtscharakter; wiederum unter Einschluß der Teilrechte freie Berufswahl und freier Grundstückserwerb Art. III der Verfassung des Deutschen Reichs v. 11.8.1919 (WRV), allesamt abgedruckt in: Huber (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, S. 304 ff u. 401 ff; Bd. 2, S. 227 ff u. 290 ff; Bd. 3, S. 129 ff. 91 Norddeutscher Bund und Reichsverfassung verzichteten ganz auf einen expliziten Grundrechtskatalog. 92 Insofern galten die Grundrechte reichsgesetzlich als verbürgt, vgl. Anschütz, Verfassung, vor Art. 109, Anm. 3, S. 447. 93 BGBI. 1867, S. 55; ebenfalls abgedruckt in: Huber (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, S. 240 ff. 87 88

B. Institutionalisierung

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nahm und nach Reichsgründung 1871 die erste Gesamtkodifizierung war94. Bis zum Ende der Weimarer Republik galt es als Reichsgesetz fort95, wobei nach § 10 des Freizügigkeitsgesetzes die Vorschriften über die Neuanziehenden den Landesgesetzen mit der Maßgabe vorbehalten blieben, "daß die unterlassene Meldung nur mit einer Polizeistrafe, niemals mit dem Verluste des Aufenthaltsrechts geahndet werden" durfte. Im übrigen blieben aber die landesrechtliehen Bestimmungen über die "Fremdenpolizei" sowie die sonstigen lokalpolizeilichen Aufenthalts- und Melderegelungen zu jeder Zeit unberührt. Auch im Rahmen der noch zu skizzierenden Vereinheitlichungsbetrebungen gab man regelungstechnisch der "beweglichen Polizeiverordnung" den Vorzug gegenüber starren Gesetzen96. Im Ergebnis konnte also die Meldepflicht seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik zwar über die verfassungsmäßige Garantie des Freizügigkeitsgesetzes indirekt auf die jeweiligen Verfassungen zurückgeführt werden, jedoch führten die Meldepolizeiverordnungen allenfalls formell Verfassungsrecht aus. Zu keiner Zeit erhielt das Meldewesen durch diese formale Verankerung selbst Verfassungsrang. Garantiert war nicht die Institution Meldewesen, sondern die individuelle Freizügigkeit. Nur dieser Grundgedanke war das Anliegen der Übernahme des Freizügigkeitsgesetzes in die einzelnen Verfassungen97.

IV. Datenvolumen und Aufgabenbestimmung des Registers um 1900 Aufschlußreiche Angaben über Datenvolumen und Aufgabenbestimmung des institutionalisierten Melderegisters um die Jahrhundertwende enthalten die

94 Es galt mit seinen drei Grundgedanken weiterhin als liberalste Regelung im 19. Jhd.: a) Niederlassungsrecht unabhängig vom Erwerb des Bürgerrechts, b) nur vorhandene -nicht schon zu besorgende - Verarmung hindert die Ansässigmachung, c) nicht Bescholtenheil schlechthin, sondern nur gewisse Vorstrafen sind Untersagungsgründe, wiedergegeben in der Zusammenfassung von Dürig in: M/D/H/S, GG, Art. II Rz. 14 Fn. 3 daselbst. 95 § 111 S. 3 WRV; formale Fortgeltung auch im "Dritten Reich". 96 Roedenbeck in: Goltd. Arch. 74 (1930), S. 257 ff, 260. '11 Im Ergebnis ebenso Bartsch, DVR 1985, S. 116.

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Zweiter Teil: Historische Entwicklung der informationeBen Beziehungen

beiden praxisanleitenden Schriften von Gronau9B und v. Throl99 sowie - exemplarisch- einzelne Polizeiverordnungen rsp. Verfügungentoo. Nach dem polizeilichen Anmeldeformular, das in Berlintot bzw. den Vororten Berlinst02 in Gebrauch war, wurden im wesentlichen die folgenden personenbezogenen Grunddaten erhoben: l. Vor- und Zuname; 2. Familienstand; 3. Namen der Ehefrau (Geburtsname, fliiherer Ehename); 4. Namen der Kinder; 5. Stand oder Gewerbe; 6. Geburtstag, -monat, -jahr; 7 . Geburtsort und Kreis; 8. Staatsangehörigkeit; 9. Religion; 10. Steuemummer; 11. bisherige und gegenwärtige Anschrift; 12. Tag des Ein-/Auszugs; 13. Angabe, ob die neu bezogene Wohnung im eigenen Hause liegt, ob sie vom Haus-Eigentümer gemietet oder von einem Mieter -und welchem- in Untermiete genommen ist, ob sie in einer Schlafstelle besteht oder ob und bei wem in Dienst, ob Vorderhaus, Seitenflügel usw., ob Keller, Parterre, l. Treppe usw.

Der "Zweck"103 des Meldeamtes war es, "über die in der Gemeinde wohnhaften und wohnhaft gewesenen Personen schnell und zuverlässig Auskunft zu geben", sowohl staatlichen Verwaltungszweigen - Beamten - als auch Privatpersonent04. Neben dieser unentbehrlichen "Stütze der Verwaltung"tos, stand das Register insbesondere der Polizei zur Verfügung. Daß der wichtigste Zweig insoweit die polizeiliche Kontrolle der Bevölkerung einschließlich der Überwachung der Reisenden war, war ohnehin vorausgesetztl06. Im einzelnen diente das Register zugleich der Aufstellung von Wähler-, Schöffen- und Geschworenenlisten, dem Impfwesen, der militärischen Kontrolle und der Schulpflicht ebenso wie den Steuern und Abgaben, dem Armenwesen, der Fahndung, den Paßattesten und -arresten. Es enthielt Vermerke über Geburten, Eheschließungen, Todesfälle, Adoptionen, Namensänderungen; Aufnahmen, Naturalisationen und Entlassungen aus dem Staatsverband; Konzessionen zur Errichtung von Privatentbindungs- und Krankenanstalten, Führung von Apo98 Gronau, Meldewesen, 1898, der sich in seinem Vorwort explizit mit seinem Werk an die Polizeiverwaltung sowie speziell an den einzelnen Meldebeamten wendete, da für diesen die "genaue Kenntnis der Vorschriften" angesichtsder hohen Bedeutung der Register für die Staatsverwaltung so wichtig sei.

v. Throl, Meldewesen, 1897. Z.B. Polizeiverordnung über das Meldewesen für die Vororte Berlins v. 21.10.1906, Amtliche Beilage zu Nr. 84 des "General-Anzeiger" Reinickendorf; Verfügung des Ministers des Inneren, betr. die Polizeiverordnung über das Meldewesen (Entwurf) v. 7.3.1902, MBliV., S. 64 ff und Verfügung des Ministers des Inneren v. 16.1.1904, betr. die Regelung des Meldewesen, MBliV., S. 40 ff, beide abgedruckt in: Grotefend/Gretschmar, Bd. I 1, S. 805 f , Bd. V, s. 48 ff. 101 v. Throl, S. 69, Anlage 4. 102 Polizeiverordnung über das Meldewesen für die Vororte Berlins v. 21.10.1906, Amtliche Beilage zu Nr. 84 des "General-Anzeiger" Reinickendorf, S. 2 u. 3. 103 Nach heutiger Terminologie wohl eher die "Aufgabe". 99

100

105

Gronau, S. 2, 4, u. 8; v. Throl, S. 7. Gronau, S. 8.

106

Gronau, S. 2 u. Vorwort; v. Throl, S. 4 ff.

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theken; Ausweisungen aus dem Reichs- und Staatsgebiet, Kontrolle über Dienstbücher und "auf den Blättern der Mitglieder des Reichstages, Herrenhauses und Hauses der Abgeordneten eine hierauf bezügliche Notiz"I07. Zudem wurden die Registerblätter erweitert durch Vermerke über Kirchenaustritte, "behufs Veranlagung zur Kirchensteuer"; durch Kennzeichnung polizeilich bzw. gerichtlich Verfolgter und Vorbestrafter! os. Insgesamt seien die Registerblätter somit zu "wirklichen Familienregistern" geworden, "eine Fundgrube einschlagender Nachrichten"t09. Nach detaillierter Beschreibung des funktionalen Aufbaus des Hauptregisters bis hin zur Mechanik der der Aufbewahrung der losen Blätter dienenden "Pappkästen" gelangt v. Throl im Ergebnis zu einer klassischen Selbstzweckdefinition: "In dieser Einrichtung erfüllt das Einwohner-Meldeamt seinen Zweck, ein möglichst kurrentes Einwohner- und Wohnungsverzeichnis zu schaffen"tto. Zudem wurden ergänzend Nebenregister geführt: Das "reponirte Register" enthielt - lexikalisch geordnet - alle verstorbenen Personen sowie alle weiblichen Personen mit ihrem Mädchennamen, sofern sie diesen durch Verheiratung verloren hatten, um das Hauptregister "von totem Material" zu befreienttt . Das Strafregister enthielt neben den alphabetisch geordneten Straftätern den Tenor der gerichtlichen Erkenntnis (ständige Aktualisierung). Ebenso waren die unter Polizeiaufsicht gestellten Personen registriert, auch wenn die Maßnahmen beendet warentt2. Zur "Straf-Kontrolle", die nur durch das Einwohnermeldeamt erfolgte, legte dieses DuplikatStrafblätter an, die es an die Polizeireviere gab, in deren Bereich die Straftäter wohntentt3. Weiter diente ein Haltefrauen-Registerblatt dem Nachweis über den Verbleib fremder Kinder im Lebensalter von noch nicht 4 Jahren, die gegen Entgelt in Pflege warentt4. Aus der Führung der gesamten Register folgten zusätzliche Nebenaufgaben des Amtes: Ermittlung und Nachforschung bei Erstattung von Aufenthaltsund Ausweisungsanzeige, bei Gesuchen um Erteilung von Führungsattesten, v. Throl, S. 5. Ebd. ; es gab im wesentlichen zwei Kategorien: Strafzeichen für schwere Strafen " wenn das Erkenntnis das Ergebnis einer ehrlosen Handlung war" und Strafzeichen für leichtere Straftaten, " wenn der Bestrafung eine ehrlose Handlung nicht zu Grunde lag". 109 Wie v. Throl, S. 6, anerkennend resümierte. 110 Ebd. 111 Ebd. 112 Ebd. 113 v. Throl, S. 7. 114 Ders., S. 89, Anlage 42. 107

108

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Zweiter Teil: Historische Entwicklung der informationellen Beziehungen

Heimatscheinen, Reichsangehörigkeitsattesten, Jagdscheinen; Angehörigenermittlung; Feststellung der Dauer des Aufenthalts in Berlin zur Beurteilung des Unterstützungs-Wohnsitzes; Anschriftenermittlung auf Ersuchen der Stadtpostbehörde115. Zusammenfassend kann das Selbstverständnis der Meldeämter zumindest hinsichtlich des faktischen Anwendungsbereichs ihrer Register also bereits um 1900 tendenziell i. S. einer multifunktionellen Dienstleistung für öffentliche und private Zwecke charakterisiert werden116, wenn auch die rechtliche Verpflichtung der Meldebehörde zur Mitteilung der in ihrem Register enthaltenen Informationen an andere Behörden für deren Verwaltungszwecke explizit erst unter nationalsozialistischem Einfluß kodifiziert worden ist117. Interessen der Ortspolizeibehörde, über Änderungen der Bevölkerung durch die Meldebehörde unterrichtet zu werden, sofern - und dies war in Berlin der Fall - nicht ohnehin Behördenidentität vorlag, waren auch um die Jahrhundertwende ausreichend vorhanden. Zu deren Befriedigung war "nötigenfalls ... im Aufsichtswege wegen der Weitergabe der Meldungen an die Ortspolizeibehörde Anordnung zu treffen" 11s. Somit konnten auch rechtliche Verpflichtungen zur Einrichtung regelmäßiger Informationsflüsse bei Bedarf geschaffen werden. Im übrigen war - wie dargelegt - die AuskunftseTteilung gerade der Zweck (die Aufgabe) des Registers, Datenübermittlung mithin dessen Rechtfertigung119. Nennenswerte Strömungen, die sich der latenten Gefahren zunehmender Datenakkumulation für die persönliche Freiheit des einzelnen bewußt wurden, waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkennbar. Insoweit wird die Ursache (neben den monarchischen Strukturen) in der Genese des staatlichen Einwohnermeldewesens lokalisiert werden können, das primär mit den aus Bürgersicht positiv zu bewertenden Freizügigkeitsbestrebungen in Verbindung stand. Der weitaus größte Teil der Bevölkerung mußte durch Gewährung des Rechts auf Freizügigkeit einen bis dato nicht gekannten Freiheitsgewinn verspüren, der entsprechende Bedrohungsgefühle durch (ohnehin eher unmerkliche) Katalogisierung fast zwangsläufig ausschloß. Realisiert sich aber Freiheit erstmalig (zumindest auch) in Registrierung, kann das Empfinden dadurch bedingter Ders., S. 7/8. Dies wird überwiegend nur unzureichend erkannt, vgl. nur beispielhaft BtD, Gutachten, Rz. 18, S. 17; Rupprecht, Die Polizei 1973, S. 318. 117 2. Runderlaß v. 10.04.1938 zur RMO, abgedruckt in: Liebermann!Kääb, RMO, S. 96 ff (Abschnitt 1). Nach Hoffmann, G.E., S. 90 f, ist dieser die Benachrichtigungspflicht regelnde Runderlaß explizit zur Schaffung und Ausgestaltung von den geplanten Einwohnerämtern in der Begründung zum BMG-Entwurf"78 herangezogen wurde, näher im Zweiten Teil, C III; vgl. auch Meden!Süßmuth u.a., MeldeG, Teil 1, Ein!. I A Rz. 9, 17; Knieselfl"egtmeyerNahle, Hdb., S. 30, Rz. 67. 118 Verfügung des Ministers des lnnem v. 16.1.1904, betr. die Regelung des Meldewesens, MBliV., S. 40 ff, 43 Anm. zu I d); ebenfalls abgedruckt in: Grotefend!Gretschmar, Bd. V, s. 48 ff, 50. 115

116

C. Perfektionierung

47

Freiheitsgefährdungen noch nicht ausgeprägt sein. Solange Freizügigkeit im Bewußtsein der einzelnen mehr als Teilhabe an staatlich gewährter Leistung denn als Bewahrung einer individuellen Freiheitssphäre gegenüber dem Staat angesehen wurde, konnte Freiheitsstreben jedenfalls nicht in Richtung einer Entstaatlichung wirken, sondern mußte im Gegenteil Ausdehnung und Intensivierung der staatlichen Verwaltung begrüßen, wenigstens akzeptierentzo. Zudem war ein allgemeines Persönlichkeitsrecht als "Abwehrrecht" gegen staatliche (Informations)Maßnahmen nicht existent; lediglich zivilrechtliehen Schutz von Persönlichkeitsrechten begann die reichsgerichtliche Rechtsprechung punktuell in Anlehnung an enumerativ geschützte Rechte zu entwikkeln, ohne jedoch ein allgemeines Persönlichkeitsrecht anzuerkennent2t. Erst die Erfahrungen im NS-Staat beförderten insoweit die "Sensibilisierung des Persönlichkeitsbewußtseins"t22, denn "der Nationalsozialismus" hatte "den Freiheitsbereich der Persönlichkeit stärker eingeengt. .. , als man es vordem für möglich gehalten hatte"t23 . Die im folgenden nur kurz zu skizzierende Entwicklung des Meldewesens in den 30er-Jahren belegt darüber hinaus, daß "zentrale" Datenerfassung und -auswertung selbst ohne moderne elektronische Verarbeitung nicht nur in Freiheitsverlust umschlagen kann.

C. Perfektionierung I. Konzentrations- und Rechtsvereinheitlichungsbestrebungen bis 1930

Die wesentlichen Grundlagen des polizeilichen Meldewesens in Preußen nach der Jahrhundertwende bildeten zwei Runderlasse des Ministers des Inneren v. 16. Januar 1904124 und v. 4. April1930t25. 1. Bereits die Verfügung 16.4.1904 war von dem Betreben getragen, den Regierungs- und Polizeipräsidenten Richtlinien zur möglichst einheitlichen Gestaltung der melderechtliehen Polizeiverordnungen vorzugeben, um v. Ihrol, S. 7; auch Gronau, S. 4, 8. So analysiert Maier, S. 267 f, das Freiheitsstreben des modernen Menschen in weiten Bereichen noch heute. 121 Zur Entwicklung m.w.N. auch auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts Schmitt Glaeser in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI,§ 129 Rz. 7. 122 Ebd. 119 120

BVerfGE 34, 269 ff, 271. MBliV. 1904, S. 40 ff. 125 MBliV. 1930, S. 353 ff.

123 124

48

Zweiter Teil: Historische Entwicklung der informationellen Beziehungen

Rechtsgleichheit in den Minimalanforderungen der Anmeldepflicht "für die hin- und herflutende Bevölkerung"I26 zu erreichen. Die Bestimmungen beschränkten sich auf das "im Interesse einer wirksamen Kontrolle der Bevölkerung ... unbedingt" Erforderlichei27. Da "den lokalen bisherigen Gewohnheiten ... tunlichst Rechnung" getragen werden sollte, blieb es zwar in Berlin dabei, daß die Meldungen bei Wohnungsänderungen weiterhin "an das Beziehen einer Wohnung und das Ausziehen aus einer Wohnung"I28 geknüpft wurden, wenn auch ein entsprechnder Vereinheitlichungsvorschlag für die Meldepflicht bei einem Wohnungswechsel innerhalb einer Gemeinde noch fehlte. Im übrigen gewährte der Runderlaß nach wie vor großzügigen Spielraum bei den Fristen, den Meldepflichtigen, den An- und Abmeldungsmodalitäten (schriftlich/mündlich; obligatorisch/freiwillig), der Ausweispflicht u.a.m.I29. Einheitlich im Aufsichtswege zu regeln war jedoch der Nachrichtenverkehr zwischen den Meldebehörden (Rückmeldeverfahren von der Meldebehörde des Anzugortes zur Meldebehörde des Abzugortes einschließlich der Pflicht zur Fehlermeldung in umgekehrter Richtung)I30. Allerdings nahm man von der Benachrichtigungspflicht in jedem Fall des Zuzugs Abstand und beschränkte sich auf Fälle, "in denen sich den Umständen nach annehmen" ließ, daß die Meldebehörde des Abzugortes "über den Ort, wohin der Abziehende sich begeben hat, nicht unterrichtet" war. Dies lag "jedesmal vor: 1. Wenn sich jemand ohne Vorlegung einer Meldebescheinigung anmeldet. 2. Wenn in der Abmeldebescheinigung entweder ein Ort, wohin die Abmeldung erfolgt ist, überhaupt nicht angegeben ist oder der Angegebene mit dem neuen Aufenthaltsorte nicht übereinstimmt. "131 Dem polizeilichen Interesse an den Meldedaten konnte in Berlin infolge Behördenidentität jederzeit Rechnung getragen werden; in Bezirken, in denen die Meldebehörde nicht mit der Ortspolizeibehörde identisch war, blieben die örtlichen Verhältnisse maßgebend, inwieweit die Polizei bei Änderungen in der Bevölkerung unterrichtet werden mußte, wobei wiederum im Aufsiehstwege jederzeit entsprechende Anordnungen geschaffen werden konnteni32. 126

MBliV. 1904, S. 42.

So schon die lediglich Entwurf gebliebene Polizeiverordnung v. 7 .3.1902, MBiiV ., S. 64, die - inhaltlich nochmals beschränkt- in die weniger verbindliche "Empfehlung" v. 16.1. 1904 mündete; ebenfalls abgedruckt in: Grotefend/Gretschmar, Bd. I, S. 805 f. 128 Deutlich etwa auch § I der Polizeiverordnung über das Meldewesen des Regierungspräsidenten von Potsdam für die Vororte Berlins v. 18.8.1906, veröffentlicht als Amtliche Beilage zu Nr. 84 des "General-Anzeiger" Reinickendorf v. 21.10.1906; nur implizit I b) der Verfügung v. 16.1.1904, MBiiV., S. 40; vgl. auch Roedenbeck in: Goltd. Arch. 74 (1930), S. 272 m.w.N. 127

129 Siehe Verfügung v. 16.1.1904, MBiiV., S. 40 I b) a.E., c), d) sowie S. 41 ff Anm. zu I a)-d); Roedenbeck in: Goltd. Arch. 74 (1930), S. 257. 130 Verfügung v. 16.1.1904, MBliV., S. 40, 41 II a), b). 131 Verfügung v. 16.1.1904, MBiiV., S. 40. 132

Verfügung v. 16.1.1904, MBiiV., S. 43 Anm. zu I d).

C. Perfektionierung

49

2. Die skizzierten Minimalvorgaben erzielten die angestrebte Rechtsgleichheit nicht. Deren Notwendigkeit "auf dem jeden Staatsbürger gleichmäßig berührenden Gebiete der Meldepolizei" 133 blieb indes unbestritten und führte 1928 auf Veranlassung des Reichsministers des Inneren zur Berufung einer Paß- und Fremdenpolizeikonferenz nach Eisenach, auf der Vertreter aller deutschen Länder bezüglich des polizeilichen Meldewesens die sog. "Eisenacher Richtlinien" 134 vereinbarten. Die Vorschläge waren die Grundlage der Musterpolizeiverordnung des Preußischen Ministers des Inneren v. 4.4.1930. Die Regierungspräsidenten in Preußen und der Polizeipräsident in Berlin wurden verpflichtet, einheitliche Polizeiverordnungen zur Regelung des Meldewesens zu erlassen, die im wesentlichen folgendes beinhalten mußten: An-, Ab- und Ummeldung in Anknüpfung an Wohnsitz und dauernden Aufenthalt (§§ 2, 3) sowie den tatsächlichen Wohnungsbezug für In- und Ausländer135 gleichermaßen (§ 4); Mitwirkungspflicht des Hauswirts durch Unterschriftsleistung (§ 5 VI, VII), die ein Minus zur aktiven Zusatzmeldepflicht darstellte; Meldepflicht bei mehrfachem Wohnsitz sowie in Beherbergungsstätten und Krankenhäusern (§§ 6, 7, 10); Besucherprivileg, d.h. keine Meldepflicht für denjenigen, der zu Besuchszwecken vorübergehend ein Unterkommen bis zu drei Monaten ohne Entgelt bezog (§ 9). Hinsichtlich der meldebehördlichen Rückmeldung blieb es bei dem beschriebenen System136, das sich als völlig ausreichende Meldekontrolle erwiesen hatte137. Die multifunktionale Praxis des Registers wurde ebenfalls beibehalten138. Polizeiliche Zugriffsrechte blieben zwar normativ ungeregelt, soweit Behördenidentität bestand; Gastwirte und Leiter von Krankenhäusern waren indes zur Vorlage des jeweiligen Fremden- bzw. Aufnahmebuches bei der Polizeibehörde auf deren Verlangen verpflichtet(§ 8 IV 1; § 10 b)), wobei die Leiter von Krankenhäusern und vergleichbaren Anstalten - wie Kliniken, Entbindungs-, Irren-, Heil-, Verwahranstalten - ohnehin jeden Zu- und Abgang der zur Anstaltsbehandlung aufgenommenen Personen innerhalb von drei Tagen der Meldebehörde zu melden hatten(§ 10 a)).

133

Roedenbeck in: Goltd. Arch. 74 (1930), S. 257.

Abgedruckt bei Roedenbeck in: Goltd. Arch. 74 (1930), S. 257 ff; Konferenz v. 31.5.9.6. 1928. 135 Besondere Meldepolizeivorschriften für Ausländer waren ohnehin erst während des Krieges eingeführt worden, aber in Geltung geblieben, wobei die Gleichstellung in Berlin bereits 1925 wieder erfolgte, vgl. Roedenbeck in: Goltd. Arch. 74 (1930), S. 265 f. 134

136 Vgl. Anlage 2 Nr. 4 zur Musterpolizeiverordnung, MBliV. 1930, S. 357 mit Verweis auf den entsprechenden preußenweiten Runderlaß des Ministers des Inneren v. 9. 12.1927. MBIiV. , S. 1132. 137 Roedenbeck in: Goltd. Arch. 74 (1930), S. 273. 138 Vgl. Urteil des KG v. 12.10.1915, auszugsweise abgedruckt bei Roedenbeck in: Goltd. Arch. 74 (1930), S. 261 f; dazu bereits oben Zweiter Teil, BI I a.E. 4 Morenbach

50

Zweiter Teil: Historische Entwicklung der inforrnationellen Beziehungen

Damit waren im Meldewesen für wenigstens vier Jahrzehnte, mit geringfügigen Abweichungen bis heute, der meldepflichtige Kernbestand einschließlich des Kerndatensatzes (§ 5 III) - auf den im Rahmen der RMO-Ausführungen eingegangen wird - sowie die entscheidende Grundstruktur festgelegt139. In Preußen übernahm die Polizeiverordnung über das Meldewesen vom 22. April 1933140 im wesentlichen diese Regelungen, die in Ausführungsbestimmungen des Ministeriums des lnnern v. 20. Mai 1933141 partiell um einige Mitteilungspflichten (in erster Linie in Staatsangehörigkeitsverhältnissen) an die Meldebehörde erweitert wurden142.

II. Zentralisierungsansätze des bestehenden Systems Die Hoffnung zeitgenössischer Autoren, daß in Anlehnung an die preußische Regelung des Meldewesens von 1930 "in absehbarer Zeit auf diesem so wichtigen Gebiete in Deutschland Rechtsgleichheit herrschen" werde143, erfüllte sich unter anderen staatsrechtlichen Voraussetzungen im NS-Staat. Während keine grundlegende Neuregelung des materiellen Polizeirechts im "Dritten Reich" erfolgte144, wurde die melderechtliche "Verreichlichung", die sich für die Verwaltung des Einheitsstaates als unerläßlich erwies145, konsequent fortgeführt. Eher verharmlosend erscheint in diesem Kontext die Erwägung, durch einheitliche Meldevorschriften und -vordrucke nur dem Reisenden und seinen Wohnort wechselnden Volksgenossen das Bild eines Einheitsstaates vermitteln zu wollen146. Es ging vielmehr entscheidend um die Erfassung der Gesamtbevölkerung "nach mancherlei Richtungen hin", es ging um 139 Ähnlich beurteilt auch Rietdorf, DÖV 1960, S. 487 die prägende Wirkung der Musterpolizeiverordnung. 140 GS., S. 129 ff. 141 MBiiV., S. 603 ff. 142

Ziff. 21 Abs. 2 a)-c) der Ausführungsbestimmungen, MBiiV., S. 606.

143

Roedenbeck in: Goltd. Arch. 74 (1930), S. 274.

144 Vgl. aber die lebhaften Diskussionen um die (Rechts)Grundlagen eines neuen Polizeiverständnisses, nachgezeichnet von Kilching in: Böckenförde, Staatsrecht... , S. 167-175 m.w.N.; siehe auch die polizeirechtliche Gesamtdarstellung mit dem (irreführenden) Titel "Reichspolizeirecht" von Nebinger, 1939, der durch den Polizeibegriff, "wie er sich nach der Machtergreifung entwickelt hat", die materielle Einheit als weitgehend realisiert ansah (Vorwort). In der Sache verwundert dies nicht, galt doch als Kern des nationalsozialistischen Polizeibegriffs, "die Volksgemeinschaft nach dem Willen des Führers und seiner Garde zu formen", Hamel in: Frank, S. 381 ff, 397, so daß es eines formalen Einheitswerkes kaum noch bedurfte. 145 Kääb, RVBI. 59 (1938), S. 156, der als Hauptmangel des bisherigen Meldewesens dessen Uneinheitlichkeit konstatiert; siehe auch Götz in: Jeserich, Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. IV, S. 1028. 146 Liebermann!Kääb, RMO, Einf., S. 7.

C. Perfektionierung

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ein zu sparmendes "Netz", daß "an keiner Stelle Lücken aufweisen" durftet47. Das Ergebnis war die Betonung der sicherheitspolizeiliehen Funktion des Registerst48 und dessen "Vemetzung" unter Beibehaltung des multifunktionalen Charakters. 1. Organisatorische Zentralisierungsbestrebungen

Die für die Neuordnung des Meldewesens im Reichsinnenministerium zuständigen Referenten Liebeernarm von Sonnenberg und Kääb erwogen zunächst primär die organisatorische Zentralisierung des Meldewesens. Erfolgte "der Umbau" zur "Neugestaltung der Polizei nach der Machtergreifung" .... "vom Organisatorischen ... her", da das augenblicklich "Notwendige und Zweckmäßige ... das Streben nach einem rechtlichen System inhaltlicher Sätze" überwog, - denn "in einem politischen Stadium rasch wechselnder Situationen mußte das entschlossene Zugreifen nach situationsgebundenen örtlichen Bedürfnissen wichtiger erscheinen als das peinliche Klammem an sorgsam ausgefeilte Rechtssätze"t49 -, galt diese diktatorischen Herrschaftsformen nicht fremde Vorgehensweisetso für die Erfassung der Bevölkerung im Grunde gleichermaßen. Vorschläge zur Schaffung eines zentralen deutschen Einwohnermeldeamtes gab es marmigfachtst. Unter dem Namen "Deutsche Kartei" beschäftigten sich die späteren Kotomentatoren der RMO 1934 etwa mit einem detaillierten Konzept, dessen Organisationskriterien die Konstanten "Geburtsdatum und Geburtsort, in weiterem Rahmen auch Rasse und Stamm" sein solltents2: "Die Einordnung der täglich einlaufenden Anzeigen" (z.B. Wohnungswechsel, über sechs Wochen dauernde Reise, Berufswechsel, Todesfall, Gebun) könnte sodann in der Weise geschehen, "daß die im gleichen Jahre Geborenen und in zeitlichem Abstand von 25 Jahren Geborenen jeweils zusammengeiaßt werden, wobei dann gleicher Gehunsmonat und gleicher Gehunstag weitere Unterabteilungen bilden. Am übersichtlichsten wäre es, wenn in Berlin ...ein Turm mit 25 Geschossen errichtet würde, von denen jedes Geschoß zwölf kreisförmig angeordnete Räume, für jeden Monat einen enthielte, in welchem dann jeweils 30 bzw. 31 Schränke für jeden Tag des Monats stünden, die die eigentliche Registratur bzw. Kanei dann enthalten würde. Im ersten Geschoß wären dann aufbe147 Dies.,

S. 6. 148Dies., S. 12; Haegele, S. 91. 149 So rechtfenigt Maunz, Gestalt und Recht, S. 53 die zunächst sekundäre Bedeutung mate-

rieller Reichseinheitlichkeit eindrücklich mit den (diktatorischen) Erforderlichkeiten. Der Polizeiapparat war folglich "der erste, der gleichgeschaltet, d.h. in die Reichsgewalt überfühn wurde", Majer in: Dreier/Seilen, S. 136 ff, 139; Pinter in: Böckenförde, Staatsrecht... , S. 178 ff; instruktiv zur Unterwerfung der Polizei unter die Führung der Himmler' sehen SS, Wagner in: Reifner/Sonnen, Strafjustiz im Dritten Reich, S. 161 ff. 150 Vgl. Majer in: Dreier/Seilen, S. 142. 151 l.iebermann/Kääb, RMO, Einf., S. 16. 152 Brieflicher Vorschlag des Freiburger Rechtsanwaltes Cunze v. 22.11.1934, wiedergegeben in: Aly/Roth, S. 36 ff.

52

Zweiter Teil: Historische Entwicklung der informationeBen Beziehungen

wahrt die A-Namen der in den Jahren 1926, 1901, 1876, 1851 und vielleicht 1826 Geborenen. Im dritten Geschoß die Jahrgänge 1828, 1853, 1878, 1903, 1928 usf., im 25. die von 1850, 1875, 1900, 1925 usw. Wenn wir. .. rund 60 Millionen Deutsche annehmen, so würden in jedem Geschoß 2,4 Millionen und in jedem der zwölf Räume also 200 000, in jedem der 30 Karteischränke rund 7000 Namen zu registrieren sein. Bei der Registrierung dieser 7000 Namen erfolgt dann zuerst die Einteilung nach dem Geschlecht, dann nach dem Alphabet und Geburtsort. Diese Karthothek wäre so einzurichten, daß z.B. zu unterst sämtliche am II. Juni 1828, dann die am gleichen Tag, 1853, dann 1878, dann 1903 und schließlich als oberste Lage die von 1928 kämen" .153

Eine Person ausfindig zu machen, auch wenn Geburtsdatumf-ort unbekannt waren, sollte folgende Zusatzeinrichtung ermöglichen: "In jedem der für die im gleichen Monat geborenen vorhandenen insgesamt 300 nämlich 25mal 12 Zimmer, in welchen dann jeweils die 30 bis 31 Karteischränke stehen, sind die sämtlichen Namen in einem rund also 200 000 Namen umfassenden Bande alphabetisch zu ordnen, wobei aber bei den Namen nicht etwa die Adresse anzugeben ist, denn das würde ja eine ständige Berichtigung erfordern, sondern lediglich das Geburtsdatum. Ein solcher Band würde also in einer ein für allemal feststehenden Weise die Namen aller in ein und dem gleichen Monat und ausserdem in demselben oder 25, 50 oder 75 Jahre früher oder später Geborenen umfassen. Es würde wohl von selbst dazukommen, daß man die zwölf Bände je eines Geschosses dann auch zu einem Band mit rund 2,4" (Millionen) "Namen vereinigte, ja daß man zu einem einheitlichen Verzeichnis aller Deutschen käme, wenn man diese 25 Bände dann in einem Bande zusammenfassen würde. Natürlich brauchte dieser ja nicht gedruckt zu werden" .J54

Die Einführung dieses "handbetriebenen Speicher(s) einer nationalen Datenbank", in der jeder Deutsche eine feste Nummer als Index bekommen sollte, - "die ihm und seinen Daten einen lebenslang festen Platz im Datenspeicher zugewiesen hätte (Geschlecht, Geburtsort, Geburtsdatum)" - und in der nach jeder Person mit unterschiedlichen Angaben in verschieden strukturierten Verzeichnissen reichsweit hätte gesucht werden könnentss, scheiterte an der geeigneten papierlosen Technik, denn nach Auffassung der Planer stand alsbald fest, daß "ein im fernen Olymp thronendes zentrales Meldeamt ... alsbald in seiner eigenen Papierfülle zu ersticken drohe"t56. Da die Einwohnermeldebehörde primär für behördliche Zwecke arbeite und laufend dezentralen und lokalen Fachregistern Änderungen mitteilen müsse, könnten dies ohne zusätzliche Arbeitsgänge "rasch und fließend" nur die örtlichen Meldeämter, die somit in jedem Fall alle bisherigen Funktionen neben einem zentralen Reichsmeldeamt beibehalten müßten, zumal "wirksame Kontrolle der gewissenhaften Erfüllung der Meldepflicht nur an Ort und Stelle" möglich sei. Teils doppelte Arbeit, eine Fülle zusätzlicher Schreibdienste sowie neue Personal- und Sachkosten stünden dem Vorteil, daß "jeder die Wohnung eines 153

Cunze in: Aly/Roth, S. 37.

154

Cunze in: Aly/Roth, S. 38.

155

A/y!Roth, S. 38.

156

Liebermann!Kääb, RMO, Einf., S. 16.

C. Perfektionierung

53

jeden Einwohners erfragen" könne, gegenüber. Da letzteres durch obligatorische Rückmeldungen zwischen den jeweils beteiligten Meldebehörden im wesentlichen - wenn auch mühevoller und nicht lückenlos - erzielt werden könne, nahm man wegen des noch(!) zu "geringen Nutzeffekt(s)" vom deutschen Turm Abstand I57. Es blieb somit bei den dezentralen Einwohnermeldeämtern (und den örtlichen Meldestellen), die wie bisher ein alphabetisch geordnetes Personenregister sowie ein nach Straßen und Hausnummern katalogisiertes Hausregister führten, das die Anschrift des Eigentümers/Verwalters sowie Namen und Beruf aller Mieter mit genauer Wohnungslage in der Reihenfolge ihres Zuzuges verzeichnete, wobei sämtliche dort gemeldeten Personen unter Kennzeichnung ihrer Stellung zum Wohnungsinhaber mit ihren Geburtsdaten eingetragen wurdeni58. Die Hausbücher sollten die sicherheitsbehördliche Ermittlungstätigkeit und die Organisation des Luftschutzes unterstützenl59. Personen- und Hausregister bildeten das Hauptregister; eine gleichartige Sammlung enthielt das Nebenregister, das aus Verstorbenen und Verzogenen Meldepflichtigen bestandl60. Im übrigen kompensierte alsbald die im Interesse der Landesverteidigung und des Heimatschutzes "dringend notwendig( ... )" gewordene Volkskartei, die "eine Ergänzung der im wesentlichen abecelich geordneten polizeilichen Melderegister durch eine nach Geburtsjahrgängen aufgestellte Einwohnerkartei"I61 darstellte, weitere (Suchsystem)Defizite, denn die zusätzliche Katalogisierung aller deutschen Staatsangehörigen nach der im Rahmen der organisatorischen Zentralisierung erwogenen Konstante "Geburtsjahrgang" gewährleistete die zuverlässige Erfassung bestimmter Personengruppen, die ohne dieses Kriterium nur "in langwieriger Arbeit einzeln aus den Melderegistern" hätten "herausgesucht werden"l62 müssen. Anläßlich der obligatorischen meldebhördlichen Rückmeldung, die dem Karteiführer der Volkskartei "unter allen Umständen" zur Kenntnis zu bringen warl63, wurde die Volks-

157

So Liebermann!Kääb, RMO, Einf., S. 16 und 17.

158

Ziff. II 2 u. 3 des 3. Runderlasses v. 26.8.1938, MBiiV., S. 1371 ff.

159

Ziff. II 4 des 3. Runderlasses v. 26.8.1938, MBiiV., S. 1371 ff.

Ziff. II 5 des 3. Runderlasses v. 26.8.1938. MBiiV., S. 1371 ff. I des Runderlasses v. 15.2.1939, MBiiV. , S. 321 ff; im wesentlichen wiedergegeben in: Schulze, S. 192 ff einschließ!. der Verordnung über die Errichtung einer Volkskartei sowie diverse weitere Runderlasse über Anlegung, Verwendung und Führung; alle die Volkskartei betreffenden Vorschriften enthält Liebermann!Kääb, Volkskartei, S. 83 ff. 160

161 Absatz

162 Ziff. I des Runderlasses v. 15.2.1939, zitiert nach Schulze, S. 193 f; zum Inhalt der von jedermann handschriftlich auszufüllenden Karteikarte, ihrer Funktion und der Organisationsweise der Kartei im einzelnen Aly!Roth, S. 44 ff; umfassend: Liebermann!Kääb , Volkskartei, S. 42 ff, 71 ff. 163 Nr. 4 (4) des Runderlasses des RFSSuChdDtPol. im RMdl über Auswertung der Volkskartei v. 14.3.1940, MBiiV., S. 497 ff, wiedergegeben bei Schulze, S. 216 ff, 223.

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Zweiter Teil: Historische Entwicklung der informationeBen Beziehungen

karteikarte von der Ab- an die Zuzugsgemeinde weitergeleitett64. So begleitete die um - gegenüber den Meldeangaben - individiuelle Fähigkeiten und Kenntnisse (z.B. Schul-/Hochschul-, Spezialberufsausbildung, Fremdsprachen, besondere Fertigkeiten wie Reiten, Fliegen, Kurzschrift, Maschineschreiben etc.)t65 angereicherte und um rassendiagnostische Vermerket66 erweiterte Volkskarteikarte jeden Deutschen unauffällig bei jedem Wohnortwechsel. Dabei war die jederzeitige merkmalsbezogene Auswertung der Kartei durch ein verschiedenfarbiges und -formatigest67 Karteikartenreitersystem gesichert: Jede Karte war an vorgeschriebenen numerierten Positionen am oberen Kartenrand mit einem jeweils nur einem bestimmten Kriterium zugeordneten Reiter zu versehen. So mußte z.B. aufKartenjüdischer Personen zum Zwecke rationeller Selektion über der Zahl 14 ein schwarzer viereckiger Karteireiter angebracht und bei Versand belassen werden, um allzeitigen Zugriff zu gewährleistent68. Zur Vorbereitung der Deportationen galt das derart erweiterte Meldewesen als wichtiges Hilfsmittel. Im Bewußtsein, daß sich Widerstand aus der Bevölkerung "immer an den kleinen Fehlgriffen ... entzündet", galt dem klassischen verwaltungstechnischen Konzept, das "ganz auf den normalen, verdichteten bürokratischen Ablauf... (Präzision .. .durch hermetische Systematik beim tatsächlichen Zugriff) ... setzte", gezielte Förderungt69. Der polizeiliche Zugriff war ebenfalls garantiert: Die Kreispolizeibehörden in Landkreisen ohne staatliche Polizeiverwaltung führten ein informationsidentisches Doppel und waren von Personenstands- und Wohnungsänderungen regelmäßig zu unterrichten; im übrigen unterlag ihnen ohnehin die Karteiführung bzw. die Aufsicht und die Verantwortung für ordnungsgemäße Errichtung und Funktionsweiset7o.

III. Ziff. I Abs. 5 des Runderlasses v. 15.2.1939, zitien nach Schulze, S. 200. Vgl. zu den für männliche und weibliche Personen unterschiedlichen Fragen die jeweilige Volkskaneikarte, Anlage I u. 2 des Runderlasses v. 15.2.1939 in: Schulze, S. 205-208. 166 Siehe die Beispiele einschl. der Darstellung der "Karteireiter"-Technik bei Aly!Roth, S. 49 f sowie Runderlaß des RFSSuChdDtPol. im RMdi über Auswertung der Volkskartei v. 14.3.1940, MBiiV., S. 497 ff, wiedergegeben bei Schulze, S. 216 ff. 167 Obwohl insoweit "die Verwendung von viereckigen Reitern mit einem in die Verlochung der Volkskaneikarten eingreifenden Zapfen (Haken, Griff, Dom)" einheitlich anzustreben war, vgl. Nr. 5. (I) des Runderlasses des RFSSuChdDtPol., wiedergegeben bei Schulze, S. 216 ff, 225. 168 Nr. 4. (4) des Runderlasses des RFSSuChdDtPol., wiedergegeben bei Schulze, S. 216 ff, 223. 169 Aly/Roth, S. 52. 170 § 2 der Verordnung über die Errichtung einer Volkskanei v. 21.4.1939 (RGBI. I, S. 823), wiedergegeben in: Schulze, S. 192 f; vgl. auch II 2 u. III 2 des Runderlasses v. 15.2. 1939 in: Schulze, S. 196, 199. 164 165

C. Perfektionierung

55

Angesichts des dezentral anvisierten und Ende der 30-iger Jahre erreichten Organisationsgrades verschieden kombinierbarer Suchsysteme mit der Verzahnung unterschiedlicher Registrierverfahren (RMO, Volkskartei, Kennkartenund Ausweispflicht171), beschränkte sich das Einwohnermelderecht i.e.S. auf die weitere, zeitgleich vorangetriebene materiell-rechtliche Perfektionierung, die ebenfalls als Beginn der angestrebten Optimierung, nicht als deren Ende gedacht warm. Es galt, das polizeiliche Meldewesen normativ als lückenloses "Erfassungsmittel" zu etablieren, wobei zunächst versucht wurde, etwaigen Empfindlichkeiten der Bürger mit terminologischer Verbrämung zu begegnen, ohne jedoch für die "gewiß nicht schön(en) ... Ausdrücke 'erfassen' und gar 'Erfassung' ... " im Ergebnis "ein besseres Wort" zu findent73. 2. MaterieU-rechtliche Vereinheitlichung

Wie dargelegti74, war das Meldewesen in seinen Ursprüngen primär die ordnungsrechtliche Reaktion des Staates auf die sich entwickelnden Freizügigkeitsbestrebungen sowie die sicherheitspolizeiliehen und sozialen Folgen der Bevölkerungsmobilität. Der Freizügigkeit - unterdessen als individuelles Freiheitsgrundrecht garantiert - war in den 20-ziger Jahren über das zunehmend anerkannte richterliche Prüfungsrecht verstärkte Geltungskraft zuteil gewordeni75. Obwohl das Freizügigkeitsgesetz vom 1. Nov. 1867, das als Reichsgesetz auch unter dem Schutz des Art. 111 der Weimarer Reichsverfassung stand (ohne selbst verfassungsrechtlich eine institutionelle Garantie des Meldewesens darzustelleni76) und somit nicht mit den übrigen Grundrechtsartikeln außer Kraft gesetzt wurdem, auch nach 1933 fortgalt, löste sich das Meldewesen im NS-Staat sukzessive aus dieser traditionellen Anbindung, denn der Nationalsozialismus verstand sich als "Gegner der Freizügigkeit"t78. Die grundsätzliche und restlose Aberkennung dieses Rechts bedeutete aus damaliger Sicht "eine Vorbedingung für unser gesamtes zukünftiges Leben und muß deshalb durchgesetzt werden"t79. In der Verfassung des Völkischen Reiches könne es keine persönliche, vorstaatliche und außerstaatliche Freiheit des 171

Dazu m. w .N. Aly/Roth, S. 52 ff.

172 Liebermann/Kääb, 173 Liebermann!Kääb,

RMO, Einf., S. 18. Volkskartei, S. 3, Fn. I .

Zweiter Teil, A. Noch skeptisch bis ablehnend, aber die Tendenzen aufzeigend Anschütz, Verfassung, Art. 102, Anm. 4, S . 417 fm.w.N. 174 175

Siehe bereits Zweiter Teil, B III a.E. Dies erfolgte durch die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat v. 28.2.1933, RGBI. I S. 83 sowie das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich v. 24.3.1933, RGBI. I S. 141. 178 Haegele, S. 104. 179 Ebd. 176

177

56

Zweiter Teil: Historische Entwicklung der informationeilen Beziehungen

einzelnen mehr geben, die vom Staat zu respektieren sei180. Der Grundsatz der Totalität verlangte, die um des einzelnen willen schlechthin geschützten Freiheitsbereiche zu eliminieren, die zu bekämpfende "staatsfremde Gesellschaft freier Individuen" zu beseitigen181. Mit dem Gesetz über den Neuaufbau des Reiches v. 30.1.1934182 gingen zunächst die Hoheitsrechte der Länder und damit auch die Polizeihoheit formal auf das Reich über, wobei die zuständigen Landesbehörden die Rechte weiterhin im Auftrag und im Namen des Reiches ausübten183. In einer sachlich fremden Materie - der Reichsabgabenordnung i.d.F. des Steueranpassungsgesetzes184 - versteckt, wurde sodann der Reichsminister des Innern im Einvernehmen mit dem Reichsminister der Finanzen zur Neuregelung des Meldewesens ermächtigt. Als zweite (zusätzliche) Ermächtigungsgrundlage enthielt das Gesetz über das Paß-, Ausländerpolizei- und Meldewesen v. 11. 5.1937185 die Blankettbestimmung - gerichtet an den Reichsminister des Innern -, das Melderecht nach der damaligen Aufgabenstellung der Polizei "reichspolizeimäßig" zu regeln186, und das hieß, "die Volksgemeinschaft nach dem Willen des Führers und seiner Garde zu formen" 187. Der umständliche Ermächtigungsvorgang war der noch fehlenden Kompetenz der Reichsminister geschuldet, unmittelbar Polizeiverordnungen für das Reichsgebiet zu erlassen188. Die Reichsmeldeordnung v. 6.1.1938 (RM0)189 wurde daher formalrechtlich nicht als Polizei(!)verordnung erlassen, galt sachlich aber als solche190 und knüpfte inhaltlich - trotz des umfassenden Ansatzes - im Kern an die preußische Polizeiverordnung v. 22.4.1933 an.

180 Huber 181

in: ZgS 96 (1936), S. 438 ff, 440.

Hamel in: Frank, S. 381 ff, 383.

RGBI. I, S. 75. Art. 2 I des NeuaufbauG. 184 § 165 c II ReichsabgabenG i.d.F.d. SteueranpassungsG v. 16.10.1934, RGBI. I, S. 925. 185 RGBI. I, S. 589, §§ I i.V.m. 3 u. 4. 186 Fischer! Gröpper, MRRG, S. II. 187 So Hamel in: Frank, S. 381 ff, 397 zur Polizeiaufgabe. 188 Die Kompetenz wurde erst mit der Verordnung über die Polizeiverordnungen der Reichsminister v. 14.9.1938 (RGBI. I, S. 1582) erlassen, vgl. Liebermann!Kääb, RMO, vor §I, Anm. I, S. 30. 189 RGBI. I, S. 13. 190 Liebermann!Kääb, RMO, vor § I, Anm. I, S. 30. 182 183

C. Perfektionierung

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m. Die quantitativen und qualitativen Änderungen der Reichsmeldeordnung (RMO) v. 6. Jan. 1938 nebst ihrer Runderlasse Infolge dieser weitgehenden Anlehnung waren die von zeitgenössischen Kornrnentatorenl91 gepriesenen melderechtliehen Novitäten nationalsozialistischer Prägung nicht durchweg solche, sondern überwiegend bloß behauptete "Errungenschaften", die Kontinuität aufwiesen: Daß der Hauseigentümer neben dem Wohnungsgeber/-nehmer der Meldepflicht unterlagl92, galt zumindest in Berlin bereits um die Jahrhundertwendel93 (wenn auch vorübergehend gelockert). Ebensowenig sind das Beziehen einer Wohnung und das Ausziehen aus dieser als die entscheidenden, auch heute noch die Meldepflicht auslösenden Tatbestände, ausschließlich nationalsozialistisches Gedankengutl94. Zu melden war die konkrete Wohnungsänderung in Berlin bereits 1813, spätestens 1876195; die Eisenacher Richtlinienl96 sowie die Musterpolizeiverordnung v. 4.4.1930197 hatten diese Kriterien übernommen. Selbst die Krankenhausmeldepflicht ist - entgegen der Auffassung Schwans - nicht dem "perfektionistischen Geist" der Nationalsozialisten geschuldet und mit der RMO eingeführt wordenl98, sondern bereits in der Musterpolizeiverordnung v. 4.4. 1930199 verankert. Daß die Machthaber die Norm inhaltlich aufnahmen und durch unverzügliche Meldepflichten bei Personen, die mit Schuß-, Stich- oder Hiebverletzungen oder in einem sonstigen auf eine strafbare Handlung hindeutenden Zustand ein Krankenhaus aufsuchten(§ 23 IV RMO), verschärften, um "eine unerträgliche Lücke im sicherheitspolizeiliehen Fahndungswesen" zu vermeiden200, ändert nichts an der nicht-nationalsozialistischen Herkunft. Die Meldepflicht kam vielmehr den nationalsozialistischen Bevölkerungskontroll- und Erfassungsstrategien entgegen, niemandem z.B. durch den Rückzug in ein Sanatorium zu ermöglichen, sich dem Meldewesen zu entziehen und damit "aus den Augen der Polizei verschwunden zu sein"20I.

192

Insb. Liebermann!Kääb, RMO, passim. Dies., RMO, Einf., S. 14.

193

Siehe von 1hrol, S. 16.

191

Vgl. Zweiter Teil, BI I und Fn. 48. Vgl. Zweiter Teil, BI I sowie von 1hrol, S. 16. 196 Wiedergegeben von Roedenbeck in: Goltd. Arch. 74 (1930), S. 257-260. 194 195

197 MBliV 1930, S. 353 f, § 4, dem zumindest die Differenzierung zwischen Wohnsitz/dauernder Aufenthalt/Wohnung entnommen werden kann.

So aber Schwan explizit in: Hohmann, S. 289. 10 der Verordnung, MBliV., S.356; vgl. auch das dazu gehörige Formular (Mustere) mit den der Polizei innerhalb von drei Tagen zu übermittelnden Angaben, S. 364. 200 Liebermann!Kääb, RMO, Einf., S. 9. 201 Ebd. 198

199 §

58

Zweiter Teil: Historische Entwicklung der informationeilen Beziehungen

Qualitativ neu waren hingegen die Reichseinheitlichkeit sowie insbesondere - und für diese rechtliche Vernetzung steht die Gesetzgebung des "Dritten Reichs" - die umfassend normierten Datenauskunfts- und Übermittlungsregelungen202, die die Meldeämter zur Unterrichtung anderer öffentlicher und nicht-öffentlicher Stellen verpflichteten (!). Erste gedankliche Vorarbeiten für das Meldewesen in "seine(r) heutige(n) Grundstruktur"203 unter Einschluß eines "internen" meldebehördlichen Rückmeldeverfahrens, wonach das Meldeamt des Zuzugsortes der Meldebehörde des Abzugsortes ausnahmslos jede Neuanmeldung mitzuteilen hat, leisteten in Ansätzen aber auch insoweit bereits die Autoren der Eisenacher Richtlinien. Von der allgemeinen Einführung der obligatorischen Rückmeldung wurde - wie schon angesprochen - in der aus den Richtlinien hervorgegangenen Musterpolizeiverordnung vom 4.4. 1930204 abgesehen, da man Rückkontrollmeldungen in bestimmten Verdachtsfällenzos für ausreichend erachtete206. Der nationalsozialistische Verordnungsgeber wertete demgegenüber den Nachrichtenaustausch der Meldebehörden untereinander als das "Rückgrat des Meldewesens"207, ohne daß das von der RMO verfolgte Ziel, den Verbleib Verzogener stets feststellen zu können, nicht erreichbar sei. Der Reichsminister des Inneren legte demzufolge die Rückmeldung im ersten Runderlaß zur RMO fest - verbunden mit der Anfrage nach einer etwaigen kriminellen Belastung des Verzogenenzos. Den Kern der informationeilen Verflechtung mit anderen Behörden und öffentlichen Stellen sowie der NSDAP bildete sodann der zweite Runderlaß im April 1938209. Danach bestand eine Benachrichtigungspflicht - teils durch Überlassung eines Stückes der An- und Abmeldescheine, teils durch eine besondere Mitteilung an folgende Behörden: Finanzämter, Statistisches Reichsamt, Gemeindeverwaltung, Ausländeramt, Sicherheits- und Ordnungspolizei, NSDAP-Ortsgruppenleiter, Kraftfahrzeugzulassungsstelle bei Kfz-Besitzern, zivile Luftschutzstelle, Geheime

202

Übersicht bei Schulze, S. 100 ff.

203 BtD, Gutachten, Rz.

7, S. 8.

MBliV. 1930, S. 353 ff. 205 Z.B. fehlende Abmeldebescheinigung oder widersprüchliche Wohnungsangaben. 206 Roedenbeck in: Goltd. Arch. 74 (1930), S. 273 . 204

2fJ7 l. Runderlaß v. 24.1. 1938, MBliV., S. 191 abgedruckt in: Liebemwnn/Kääb, RMO, S. 97 ff, 102 (Nr. 18 Abs. 2); dies., Einf., S. 15; weitere die Rückmeldung betreffende Runderlasse wiedergegeben von Schulze, S. 97 f, 232 f; mit den gleichen Worten charakterisieren Meden/ Süßmuth, Melderecht in den neuen Bundesländern, Einf., Rz. 7.2., S.10 noch heute die Bedeutung des Rückmeldeverfahrens als Garant für die Richtigkeit des Registers. 208 1. Runderlaß, Nr. 18 Abs. 4. 209 2. Runderlaß v. 10.4.1938, MBliV., S. 689, abgedruckt in: Liebermann!Kääb, RMO, S. 104 ff.

C . Perfektionierung

59

Staatspolizei bei Zuzug eines Rückwanderers, Reichsbankanstalt bei Einwanderung aus dem Ausland2to. Diesen Behörden und Dienststellen konnten nicht nur Einzelauskünfte mitgeteilt werden, sondern ihnen wurden laufende Nachweise und zusammenfassende Übersichten der und über die Meldevorgänge übermittelt2tt. Mit anderen Formen der Zusammenarbeit - unentgeltliches Auskunfts- und Einsichtsrecht212/Hinweispflicht gegenüber den Meldepflichtigen bezüglich anderweitiger Rechtspflichten2t3 - waren weitere Behörden und Dienststellen in den "Serviceverbund" integriert: Wehrmacht und SS-Verfügungstruppe, Auswärtiges Amt, Standesämter, Gefangenenanstalten, Gesundheitsämter2t4 sowie NSDAP und ihre Gliederungen, denen ebenso wie insgesamt allen Behörden und öffentlichen Beamten das Recht "auf unentgeltliche Erteilung von Auskunft in Angelegenheiten ihrer Geschäfte" zustand2t5; Reichsstelle für Sippenforschung und Amt für Sippenforschung der NSDAP, Vereinigung der Berufssippenforscher (VBS), erbbiologische Forschungsstellen bei Heil- und Pflegeanstalten, Ersatzkassen der Krankenversicherungen, NS-Volkswohlfahrt, den mit der Durchführung der Umsiedlung betrauten Stellen (wie Deutsche Umsiedlungs-Treuhand-GmbH), Reichsfachschaft für das Dolmetscherwesen in der Deutschen Rechtsfront, Arbeitsdienst2t6.

IV. Datenvolumen und Zweckbestimmung des Registers um 1942 Der Datenumfang folgt aus § 10 II RMO i. V .m. den folgenden Runderlassen, wobei sich der Umfang an § 7 der Polizeiverordnung v. 22.4.1933217 erweitert um die Angaben unter Nr. 7 sowie Nr. 13-15- orientiert:

210 2. Runderlaß, I Nr. I u. 2 sowie Runderlaß v. 26.3.1936, MBiiV., S. 405, abgedruckt in: Schulze, S. 104. 211 Liebermann/Kääb, RMO, S. 115, Fn. II. 212 Z.B. der Gesundheitsämter, 2 . Runderlaß, II Nr. 4. 213 So waren wehrpflichtige Personen auf die Folgen der Wehrüberwachung hinzuweisen, 2. Runderlaß, II Nr. 1 Abs. 2.; zudem hatten sie der Meldebehörde den Gestellungsbefehl persönlich vorzulegen zur Verhinderung (Verhütung) vorgetäuschter Abmeldungen. 214 2. Runderlaß, II Nr. 1-4.

2. Runderlaß, II Nr. 8. 2. Runderlaß, III; Haegele, S. 99; Schulze, S. 109 ff, der zudem weitere, die Auskunft aus dem Melderegister betreffende Runderlasse wiedergibt, S. 112 ff. 217 GS., S. 129 ff; dieser Datensatz läßt sich im wesentlichen wiederum auf§ 5 III der Musterpolizeiverordnung v. 4 .4 .1930 zurückführen, MBiiV., S. 353 ff. 215

216

60

Zweiter Teil: Historische Entwicklung der informationellen Beziehungen

Familiennamen (Geburtsnamen; Namen aus letzter Ehe; Ordens-, Kloster-, Künstlernamen); 2. Vornamen; 3. Familienstand ; 4. Angabe der neuen und der letzten Wohnung; 5. Wohnung (Ort, Kreis, Straße, Hausnummer) bei der letzten Personenstandsaufnahme bzw. am letzten vor der Anmeldung liegenden 10. Oktober; 6. bei Zuzug aus einer anderen Gemeinde: die Angabe, ob der Zuziehende schon früher in der neuen Gemeinde gewohnt hat und bejahendenfalls wo und wann; 7. für den Fall, daß neben der neuen die letzte Wohnung beibehalten wird: Angabe des Zwecks und der voraussichtlichen Dauer des Aufenthalts in der neuen Gemeinde; 8. bei Zuzug aus dem Ausland, von Reise, Wanderschaft oder Schiffahn sowie vom Reichsarbeitsoder Wehrdienst Angabe, wann und wo der Gemeldete zuletzt im Inland polizeilich gemeldet war (Ort, Straße, Hausnummer, Kreis); 9. Beruf (genaue Bezeichnung der Berufstätigkeit und Angabe, ob selbständig oder Angestellter, Arbeiter, etc.); 10. Geburtstag und -ort, Kreis (bei Auslandsgeburt auch den Staat); II. Staatsangehörigkeit (bei mehrfacher Staatsangehörigkeit sämtliche; wenn staatenlos: staatenlos und letzte Staatangehörigkeit); 12. Bezeichnung des religiösen Bekenntnisses (ob Angehöriger einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft, gottgläubig oder glaubenslos); 13. Wehrdienstverhältnis, Wehrnummer, zuletzt zuständige Wehrersatzdienststelle; 14. Verwendung im zivilen Luftschutz; 15. bei Ausländern die Angabe, welche amtlichen Ausweise (Paß, Paßersatz; Nummer des Ausweises, ausstellende Behörde, Datum der Ausstellung) sie besitzen.

Nicht verlangt wurde dagegen die Angabe, ob die zu meldenden Personen im neuen Wohnort eigene Wohnung beziehen oder bei wem sie in Untermiete, Schlafstellen, Dienst oder zu Besuch wohnen, somit Informationen, die irrfolge der Wohnungsgeber/Hauseigentümer-Mitwirkungs- bzw. Anzeigepflicht gern. § 6 RMO ohnehin offenkundig waren. Eine der wesentlichen Aufgaben des reichseinheitlichen Meldewesens war es, "stärker als je zuvor in einer Meldeordnung der Länder oder Gemeinden ... zum Schutz der Volksgenossen vor Rechtsbrechern beizutragen und der Sicherheitspolizei ihren Kampf gegen diese Rechtsbrecher zu erleichtern"2I8. So zeigte sich die polizeiliche Überwachungsfunktion des Meldewesens für den Personenverkehr etwa in der Verschärfung der Meldepflicht in Beherbergungsstätten: Allgemein eingeführt wurde die Ausweispflicht des Beherbergten durch Übergabe der Papiere an den Verantwortlichen der Seherbergungsstätte für die Nacht nach der Ankunft zur Aufbewahrung2I9 sowie die Gleichstellung aller Privatpersonen mit Beherbergungsstättenleitern, indem sie zur entsprechenden Meldung von Gästen (denen sie kurzfristig entgeltlich oder unentgeltlich Unterkunft gewährten) einschließlich der Führung eines Fremdenverzeichnisses verpflichtet wurden220. Es war ebenso wie das von den Krankenhäusern und vergleichbaren Anstalten zu führende Verzeichnis und das von Sportheimen, Jugendherbergen, etc. anzulegende Herbergsbuch der Polizeibehörde auf Verlangen vorzulegen221 . Gleichzeitig konnten die ohnehin erstellten Meldescheine der Seherbergungsstätten und Krankenhäuser, etc., Liebermann!Kääb, RMO, Geleitwort zur I. A., S. III. Artikel 7 der Verordnung über zusätzliche Bestimmungen zur Reichsmeldeordnung v. 6.9.1939 (RGBI. I, S. 1688), wiedergegeben in: Schulze, S. 71 ff. 220 Artikel 6 II u. III der Verordnung über zusätzliche Bestimmungen zur Reichsmeldeordnung v. 6.9.1939 (RGBI. I, S. 1688), wiedergegeben in: Schulze, S. 71 ff. 221 §§ 19 II, 22 III und 23 III S. 2 RMO. 218 219

C . Perfektionierung

61

mit denen beherbergte Personen binnen 24 Stunden nach Eintreffen222, Patienten innerhalb von drei Tagen223 anzumelden waren, der Sicherheitspolizei endgültig überlassen werden, da andere Stellen sie nicht benötigten224. Außerdem waren die bereits angesprochenen Schuß-, Stich- oder Hiebverletzungen bzw. sonstige auf eine strafbare Handlung hindeutende Zustände sofort (!), "gegebenenfalls zunächst fernmündlich, der Polizeibehörde zu melden"225. Im übrigen blieb das Register unverändert multifunktional226: Einerseits bestanden die skizzierten Benachrichtigungspflichten; andererseits enthielt die im Personenregister eigens anzulegende Melderegisterkarte (wie um 1900, jedoch teils erweiterte) Mitteilungen anderer Behörden und Stellen, z.B. Vorstrafenhinweise, Fahndungssuchvermerke, Kirchenaustritte, Änderung der Staatsangehörigkeitsverhältnisse, Ausstellung von Waffenscheinen und Reisepässen, Berufsverbote, Unterbringung in Untersuchungs-, Straf- oder Schutzhaft, rassenbiologische Begutachtungsbezeichnungen - wie Z (Zigeuner), ZM (Zigeunermischling) usw. - der Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens227. Es galt im zwischenbehördlichen Informationsverkehr der Grundsatz, der für das Verfahren zwischen den Meldekarteien der Auslandsorganisation der NSDAP, der Seeberufsgenossenschaft und dem polizeilichen Meldewesen, das sich der bezeichneten Karteien für seine eigenen Zwecke bediente, exemplarisch beschrieben wurde: Die Zusammenarbeit war ein Beispiel dafür, "wie völlig voneinander verschiedene Behörden oder Stellen sich gemeinsam ein und derselben und nur bei einer von ihnen bestehenden Einrichtung bedienen und damit Kosten und Personal sparen können"228 . Folgerichtig bestimmte der Dritte Runderlaß zur RMO explizit, daß es den Meldebehörden unbenommen bleibe, "für besondere örtliche Bedürfnisse den Melderegisterkarten weitere als in der Einheitsmelderegisterkarte vorgesehene Fragespalten hinzuzufügen ... ", um "das Melderegister gleichzeitig für besondere gemeindliche, polizeiliche und andere Zwecke nutzbar zu machen und damit andere Karteien oder Listen, wie Wähler-, Schöffenverzeichnisse, Steuerlisten (Hundesteuerli-

222

§ 15 I RMO .

223

§ 23 I RMO.

224

2. Runderlaß, I Nr. I d) (2).

225

§ 23 IV RMO; siehe Zweiter Teil, C III.

RMO, Einf., S. 18. Vgl. II Nr. 9-11 der Richtlinien für die Führung der Melderegister sowie Runderlaß des RFSSuChdDtPol. im RMdi v. 3.10.1941, beides wiedergegeben in: Schulze. S. 85 ff, 90 f, 95 ; s. auch BfD, Gutachten, Rz. 12, S. 12; Aly/Roth , S. 49 f . 228 Liebermann/Kääb, RMO, S. 17. 226 Liebermann/Kääb, 227

62

Zweiter Teil: Historische Entwicklung der informationeBen Beziehungen

sten) einzusparen "229. Das Melderegister war somit rechtlich und tatsächlich als Informationssystem für vielfältige Staatsaufgaben etabliert230.

D. Kontinuität I. Entnazifizierung und Entmilitarisierung der RMO

Die einfach-rechtliche (Re)Kanalisierung der meldebehördlichen Informationsbeziehungen erschöpfte sich zunächst in der Streichung spezifisch nationalsozialistischer und kriegsbedingter Regelungen. Grundlage dafür waren Kontrollratsbestimmungen, wonach primär entsprechendes "Gedankengut" wo es deutlich zu erkennen war231 - aus den deutschen Rechtsordnungen insgesamt zu verbannen sowie Verständnis und Auslegung der Normen im "nationalsozialistischen Geiste" zu unterbinden waren232. Mit diesen - eher pauschalen Direktiven- galt die RMO in den Ländern bis 1949 fort. Die Bereinigung beschränkte sich also im wesentlichen auf den Fortfall der Vernetzung mit den ohnehin aufgelösten (Partei-)Organisationen und Behörden, den Wehrdienststellen sowie die gewandelte Norminterpretation. Die erste förderate Neuordnung der Materie orientierte sich sodann an einem Entwurf einer einheitlichen Meldeordnung, den die Innenminister der Länder und eine von der britischen Militärregierung eingesetzte Planungsbehörde erarbeitet hatten233, um eine materiell möglichst inhaltsgleiche Gestaltung zu erreichen. Vorbild blieben - bis auf verschiedene organisatorische Änderungen - die Regelungen der RMO, Fassung 1938, denen die ersten Meldegesetze und -Verordnungen noch fast wörtlich entsprachen234. Auch ihre Zuständigkeit leiteten die Länder nicht mehr aus der Ermächtigung des § 10 FreizügigkeitsG ab, was insgesamt die Bindung an das noch geltende Gesetz zur Folge gehabt hätte, sondern die Neuregelungen erfolgten aufgrund des Gesetzes vom 11.5. 1937, der nationalsozialistischen Blankettvorschrift235. 229 3. Runderlaß v. 26.8. 1938, RMBliV., S. 1371, IV Nr. 4 , abgedruckt in: Liebermannl Kääb , RMO, S. 117 ff. 230

231

Ebenso Meden!Süßmuth u.a. , MeldeG, Teil! , Einf. I A, Rz. 17. Fischer/Gröpper, MRRG, Einf., S. 13, Ziff. 4.

232 Vgl. nur beispielhaft für entsprechende Kontrollratsgesetzesfassungen Art. I des Gesetzes Nr. 12 v. 11.2.1946 (bzgl. der Steuergesetzgebungsänderung), ABI. KR Nr. 4 v. 28.2.1946, S. 24; BtD, Gutachten, Rz. 14, S. 13. 233

Vgl. Meyer-Westphalen, DVBI. 1950, S. 777 ff, 778.

234

BtD, Gutachten, Rz. 14, S. 13.

235

RGBI. I, S. 589; vgl. Fischer!Gröpper, MRRG, Einf., S. 13, Ziff. 5.

D. Kontinuität

63

Nachdem die ersten Normierungen noch im Verordnungswege erlassen wurden, war vom Zusammentritt des Bundestages an ein formelles Gesetz erforderlich236. Dennoch blieben in Berlin (u. Bayern) die geänderten RMO-Bestimmungen bis 1959 in Kraft237. Die danach angestrebte Modernisierung gründete auf einem Musterentwurf eines AusschuBes der Arbeitsgemeinschaft der Innenminister/senatoren für Inneres der Bundesländer und stellte erste Weichen, den Rechtscharakter der Materie insgesamt neu zu definieren und materielles sowie (immer noch) formelles Polizeirecht zugunsten eines selbständigen Rechtsgebiets mit eigenständigem Aufgabenbereich nichtpolizeilicher Art zu verlassen238. Dennoch war das Bundeskriminalamt (wie auch andere Bundesbehörden) an den Beratungen beteiligt, um den Bund durch einen auf diese Weise konsentierten "freiwilligen Rahmen" von seiner Kompetenz, Rahmenvorschriften zu erlassen, zu entlasten239. Inhaltlich blieb der melderechtliche Kernbestand in Berlin weitgehend unverändert; offenkundig war lediglich der Fortfall der Ausweisungspflicht der Gäste in Beherbergungsstätten, der Angaben zum Wehrdienstverhältnis/zivilen Luftschutz und der Verpflichtung, Schuß-, Stich- oder Hiebverletzungen zu melden, sowie die neu aufgenommene Meldepflicht für Seeleute und Binnenschiffer240. Selbst die seit der Musterpolizeiverordnung 1930 bestehende Pflicht der Kranken- und Erziehungsanstaltsleiter, jede aufgenommene Person (neben der obligatorischen Führung des Fremdenverzeichnisses) innerhalb von drei Tagen der Meldebehörde anzuzeigen, galt sachlich bis 1970 fort24t. Rechtsqualitativ blieb es dabei, daß die Entgegennahme der Meldungen und die anschließenden Registrierungen nach wie vor als "rein tatsächliche innerbehördliche Vorgänge" ohne Außenwirkung (kein Verwaltungsakt) beurteilt wurden242.

236

Art. 122 I, 129 II, III GG.

237

§ 24 MeldeG Bin v. 16. 10. 1958, GVBI., S. 1022 ff.

238 Meden/Süßmuth 239

u.a., MeldeG, Teil I, Einf. I A, Rz. 14, 21.

Rietdorf, DÖV 1960, S. 486.

240 §§ 10, 12, 13, 16 MeldeG Bin v. 16.10.1958, GVBI., S. 1022 ff. Auf darüber hinausgehende Änderungen in anderen Landesmeldegesetzen weist BfD. Gutachten, Rz. 15, S. 14 hin; zu den zusätzlich erfaßten Angaben im Zweiten Teil, D III. 241 Vgl. § 13 MeldeG Bin v. 16.10.1958, GVBI.. S. 1022 ff gegenüber § 14 MeldeG Bin v. 1.7.1970, GVBI., S. 996 ff. 242

Rietdorf, DÖV 1960, S. 487 f.

64

Zweiter Teil: Historische Entwicklung der informationellen Beziehungen

II. Die Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes

Mit Inkrafttreten des Grundgesetzes hatte das Meldewesen erstmals explizit eine "autonome" verfassungsrechtliche Anhindung als Rahmenkompetenz des Bundes in Art. 75 Nr. 5 GG. Rechtlich vom Freizügigkeitspostulat emanzipiert war es dem Grunde nach begrifflich und sachlich als "Meldewesen" legitimiert, ohne daß dies die Ausgestaltung der Rechtsmaterie im einzelnen zu determinieren geeignet ist243. Ebensowenig sollte und konnte "das Meldewesen" als Einrichtung institutionell garantiert werden. Zwar war die Materie mit ihrem Register eine "formierte und organisierte und daher umgrenzbare und unterscheidbare Einrichtung( ... ) öffentlich-rechtlichen Charakters "244, auf deren Normenkomplexe und tatsächliches Wirken245 die Garantiefunktion sich hätte beziehen können. Auch scheint die Argumentation zu kurz zu greifen, das Meldewesen sei als Eingriffsrecht keiner institutionellen Garantie fähig, da sich sämtliche Einrichtungsgarantien auf Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat bezögen246. Insoweit sei nur beispielhaft die Gewährleistung des unabhängigen Richtertums, Art. 92, 97 GG, als anerkannte institutionelle Garantie genannt247, obwohl zuzugeben ist, daß die klassische Weimarer Lehre von den Einrichtungsgarantien in der Tat lediglich das (Grundrechts-) "Komplementäre", die Verstärkung der subjektiven Freiheitsrechte durch die institutionelle Garantie, betonte248. Entscheidend für die Beurteilung nach dem Grundgesetz sind indes primär Ausgestaltung und Entstehungsgeschichte des die "Institution" vermeintlich gewährleistenden Verfassungsrechtssatzes selbst. Er muß erkennen lassen, daß die Einrichtung "auf Grund ihrer historischen Verwurzelung und ihres Eigenwerts auch für die Zukunft des Gemeinschaftslebens besondere Stabilität und Kontinuität erhalten soll( ... )"249. Entsprechendes ist weder der Rechtsqualität des Art. 75 Nr. 5 GG als Kompetenznorm250 noch den Intentionen des Parlamentarischen Rates zu entnehmen. Der Beratungsgegenstand "Meldewesen" wurde nur im Kontext der Kompetenzen - Vorranggesetzgebung ( = konkurrierende251) oder Rahmenkompetenz- näher behandelt252. Dabei wurde lediglich 243

Ausführlicher dazu im Dritten Teil, B. II I. und 2 .

244

Schmin in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 140 ff, 149.

245

Vgl. Stern , Staatsrecht, Bd. III I , § 68 II 4 c) alpha, S. 791.

246

Bartsch, DVR 1985, S. 118.

247

Vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. III I, § 68 I 5 d), S. 768.

248

Vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. III I , § 68 III I, S. 793 m.w.N.

249

Stern, Staatsrecht, Bd. III I, § 68 II 4 c) alpha, S. 791 .

250

Zu deren Begriffs- und Garantiegehalt näher im Dritten Teil, B II I. und 2.

251 Zur ursprünglichen Terminologie des Verfassungskonvents Maunz in: M/D/H/S, GG, Art. 72 Rz. 6.

D. Kontinuität

65

das Bedürfnis bundeseinheitlicher Regelung infolge der kriegs- und nachkriegsbedingten Wanderungsbewegungen begründet. Weitergehendes ist nicht im Ansatz erkennbar und findet folgerichtig im Wortlaut der Norm keinen Anhalt. Willkürliches Herausgreifen eines Regelungsgebietes mit der Konsequenz, es erhöhtem verfassungsrechtlichen Schutz i.S. einer institutionellen Garantie zu unterstellen, führt vielmehr zu sachwidrigen Ergebnissen und der Entwertung der Rechtsfigur, da unterschiedslos jede einmal aufgeführte Materie in diesem Sinne diskussionswürdig erschiene (z.B. Jagdwesen, Art. 75 Nr. 3 GG, Wetterdienst, Art. 74 Nr. 21, etc.). Kompetenznormen sind hingegen in erster Linie Ermächtigungen zum Tätigwerden, keine (Schutz)Verpflichtung. In der Praxis folgt dem auch der Bundesgesetzgeber, der erst 1980 mit Erlaß des MRRG von seiner Zuständigkeit Gebrauch gemacht hat, nachdem das Meldewesen im Zuge der in den 60er Jahren entstandenen Konzepte der integrierten Datenverarbeitung zur Nutzung der durch DV-Einsatz erweiterten (Mehrfach)Verwendungsmöglichkeiten einmal erhobener Daten überhaupt Gegenstand bundesparlamentarischer Diskussionen geworden war. Bevor jedoch die Bestrebungen automationsgerechter Gestaltung des Melderechts253 skizziert werden, gilt es für die letzte Phase manueller Registratur resümierend Datenvolumen und Registerzweck festzuhalten, um insoweit Kontinuität rsp. Diskontinuität für die Zeit nach der faktisch und rechtlich bedeutsamen technischen Zäsur verdeutlichen zu können.

111. Datenvolumen und Zweckbestimmung des Registers um 1970 Gegenüber dem - wie geschildert bereinigten - Datensatz der RMO konnten erstmals im wesentlichen folgende zusätzliche(!) Daten erhoben werden: - bei der Anmeldung: die Bestimmung der Hauptwohnung; - Geschlecht; - Ort und Tag der Eheschließung; - Namen und Geburtstag der Eltern und des Ehegatten; - für alle: Nummer des Personalausweises oder Reisepasses, ausstellende Behörde und Tag der Ausstellung (so MeldeG Bin 1958; wieder beschränkt auf Ausländer durch MeldeG Bin 1970); - Buchstabe des Bundesvertriebenenausweises; - bei Verzug ins Ausland: die Angabe der Dauer des Aufenthalts im Inland, die beabsichtigte Dauer des Aufenthalts im Ausland (nur bei der Abmeldung)254. 252 Drs. Nr. 546 des Parlamentarischen Rats v. 19.1.1949, Antrag Dr. Menzel für "Vorrang". 253 Beyer in: Grimmer, S. 122 ff, S. 136 ff; Rupprecht, Die Polizei 1973, S. 318 f; Föcker, ÖVD 1973, S. 117 spricht von der Notwendigkeit "automationsgerechte(r) Rechtsnormen". 254 § 10 li u . III MeldeG Bin 1970 sowie§ 10 II k MeldeG Bin 1958. 5 Morenbach

66

Zweiter Teil: Historische Entwicklung der informationeilen Beziehungen

Die übrigen Meldepflichten in Seherbergungsstätten und Krankenhäusern sowie die des Hauseigentümers/Wohnungsgebers blieben im Kern bestehen. Lediglich Krankenanstalten konnten sich - wie bereits angesprochen - auf die Führung eines Fremdenverzeichnisses beschränken(§ 14 MeldeG Bln 1970). Über die Aufgabe der Meldebehörden schweigen die MeldeG Bln 1958/70. Insbesondere fehlen gesetzliche Regelungen über den Nachrichtenaustausch, die informationeHe Zusammenarbeit der Meldebehörden mit anderen Behörden sowie die Auskunftserteilung allgemein. Die Notwendigkeit eines insoweit ebenfalls "im traditionellen Rahmen geordneten Meldewesens"255 stand indes außer Zweifel. Das Register diente der "Bewältigung der den staatlichen und kommunalen Behörden obliegenden Aufgaben" sowie "Feststellungs-, Überwachungs und Fahndungszwecken"256. Es war Grundlage für die Ausstellung von Lohnsteuerkarten, Pässen und Personalausweisen, die Feststellung der Wahlberechtigung, die Erfüllung statistischer Aufgaben einschließlich der Fremdenverkehrsstatistik, die Heranziehung zur Impf-, Schul- und Wehrpflicht257 und es bildete "vor allem nach wie vor das unentbehrliche Material für die kriminalpolizeiliche Fahndung nach Vermißten und Rechtsbrechern"258. Der faktisch uneingeschränkt bestehende zwischenbehördliche Dar tenverkehr259 galt als verwaltungsinterner Vorgang, der allenfalls in Verwaltungsvorschriften zu regeln war260, obwohl inzwischen bereits anerkannt war, daß der Umgang mit personenbezogenen Daten durchaus schutzwürdige individuelle Freiheitsverbürgungen tangieren konnte - und zwar das nunmehr auch verfassungsrechtlich gern. Art. 2 I i.V.m. 1 I GG entwickelte allgemeine Persönlichkeitsrecht26t. Hinsichtlich des polizeilichen Zugriffs auf das Register gab es in Berlin ohnehin keine Zugangsprobleme, da Meldebehörde nach wie vor der Polizeipräsident war262.

Rietdoif, DÖV 1960, S. 488. Rietdoif, DÖV 1960, S. 488. 257 Letzteres galt auf Grund alliierter Vorbehaltsrechte bis zum 2.10.1990 nicht für Berlin. 258 Vgl. exemplarisch zum nordrhein-westfälischen Aufgabenumfang Rietdoif, DÖV 1960, S. 488; unter Hervorhebung des polizeilichen Fahndungsdienstes Lorenz, DÖV 1975, S. !51. 259 Vgl. exemplarisch nur die nordrhein-westfälischen Informationsbeziehungen zwischen Meldebehörde, Datenempfänger und -Iieferant bei BfD, Gutachten, Rz. 16/17, S. 14-17; für Berlin: Senator für Inneres: Organisationsgutachten 1966. 260 Lorenz, DÖV 1975, S. 151. 261 BVerfGE 27, I ff, 6; einen kurzen Überblick der Entwicklung im Zivilrecht und im öffentlichen Recht gibt Schmitt G/aeser in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI, § 129 Rz. 7 ff. 262 § 8 I MeldeG Bin 1970. 255

256

D. Kontinuität

67

IV. Die Einführung der automatisierten Datenverarbeitung in der Verwaltung

Mit der Zunahme der Verwaltungsaufgaben des "modernen" Sozialstaats verstärkte sich der Rationalisierungsdruck. Die ersten Schritte der Maschinisierung waren durch konkrete Probleme der Aufgabenerledigung bestimmt. Im Einwohnerwesen waren dies zunächst die Massenarbeiten (Ausstellen von Lohnsteuerkarten; Erstellen von Wahlunterlagen), die durch den Einsatz von Lochkarten- und Adressiermaschinen (Adrema) bewältigt wurden263 . Im übrigen beruhte die Führung des Melderegisters (Einwohner- und Straßenkarteikarten) einschließlich der sich daraus ergebenden Datenübermittlungen (primär durch Meldeformulare - Meldeschein und Meldebestätigung - im dreiteiligen Durchschreibesatz) bis zur Mitte der 60er Jahre auf '"Handarbeit' mit papierenen Dokumenten"264. Computer steigerten die technische Leistungsfähigkeit dieser internen Informationsverarbeitung, ohne daß zunächst "die Prozesse des Datenaustauschs mit der Außenwelt umfassend in die Automation" einbezogen wurden265 . Als effizienter Ausweg, der Informationsflut und dem Informationsbedarf Herr zu werden, galt ab der zweiten Hälfte der 60er Jahre das Konzept der "Integrierten Datenverarbeitung", das vorsah, die Mehrfachführung von Datenbeständen in verschiedenen Verwaltungszweigen durch die zentrale Speicherung auf einer Datenverarbeitungsanlage zu ersetzen, auf die alle betroffenen Verwaltungsabteilungen Zugriff haben sollten266. Der zu diesem Zeitpunkt erreichte Stand der Computertechnik (und die offenbar zunehmend verblassende "Erinnerung an die NS-Zeit"267) beflügelte die Überlegungen, denn die Entwicklung von Direktzugriffsspeichern (Magnetplatten) sowie Techniken zur Datenfernübertragung eröffnete erst eine entsprechende Nutzung268. Den Einschnitt markiert somit entscheidend die Orientierung weg von der Einzelaufgabe hin zu einem einheitlich automatisierten Informationsnetz der Gesamtverwaltung. Kern der Integrationskonzepte war die Idealforderung nach einmaliger Ermittlung und Erfassung der Daten sowie ihrer beliebigen Verknüpfbarkeit269. Neben der (Verwaltungs)Rationalisierung war zugleich 263

Beyer in: Beiträge, Bd. 13, S. 208; ausführlich dazu ders. , in: Grimmer, S. 122 ff,

264

Beyer in: Grimmer, S. 122 ff, S. 153 f.

265

Beyer in: Beiträge, Bd. 13, S. 208.

s. 155 ff.

Die Stufen der Maschinisierungsentwicklung im ausführlichen Überblick bei Beyer in: Grimmer, S. 122 ff, S. 145 ff; Mörs u.a., Forschungsbericht, S. 9. 267 Bull, Datenschutz, S. 194. 268 Mörs u.a., Forschungsberichte, S. 9. 269 Beyer in: Grimmer, S. 122 ff, S. 163; ausführlich zum geplanten "Informationshaushalt" Weber, S. 22 ff. 266

68

Zweiter Teil: Historische Entwicklung der informationeBen Beziehungen

Bürgerfreundlichkeit intendiert: "Die Daten sollen laufen, nicht der Bürger"270. Im Mittelpunkt der Integrationsüberlegungen stand - ausgehend von der Feststellung, daß es nur wenige Verwaltungshandlungen gibt, für die keine Personendaten benötigt werden - naturgemäß das Einwohner(melde)wesen27I, das geeignet schien, "interdisziplinäre( ... ) Stabsfunktion"272 selbst für die "vertikale Integration", d.h. die Verbindung verschiedener Verwaltungsebenen zu übemehmen273. Es galt als ausgemacht, daß institutionelle Schranken einer funktionellen Betrachtungsweise zu weichen hatten. Leitende Beurteilungskriterien bei der Zusammenfassung bisher getrennter, nach verschiedenen Zwecken orientierter Verwaltungsaufgaben bei der Meldebehörde waren Zweckmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit und Verwaltungsvereinfachung274. Der Schutz von Persönlichkeitsrechten spielte im Rahmen dieser Konzepte keine erkennbare Rolle. Im Vergleich zu anderen Behörden mit in Teilen vergleichbaren Datenbeständen (Personenstandswesen/Standesämter) beschleunigten insbesondere die externen Interessen der Sicherheitsbehörden die frühe Automationsentwicklung im Einwohnermeldewesen275. Die terminologische Reduktion der Materie auf die Servicefunktion "Einwohnerwesen"276 bedeutete materiell eine Erweiterung, die in einer Art "Informationsverwaltung für personenbezogene Daten" bestehen sollte, die als eigenständiger Verwaltungszweig "die für zahlreiche Verwaltungsaufgaben notwendigen Daten konzentriert, verwaltet und den Bedarfsträgern verfügbar" machen sollte277. Um den Datenaustausch bundesweit zu erschließen und die Zusammenführung der im Melderegister gespeicherten Daten mit denen anderer Verwaltungen zu ermöglichen, wurde die Einführung einer 'sprechenden Nummer', eines 12-stelligen Personenkennzeichens (PK) zur unverwechselbaren Kennzeichnung eines jeden Bürgers bestimmt278. Auf der Grundlage dieser ersten Bundesmeldegesetzentwürfe begann Berlin (West) bereits 1972 mit der Errichtung seiner automatisierten Einwohnerdatenbank, um die Durchführung der geplanten PK-Vergabe zu er270 Bull, 271

Datenschutz, S. 194.

Vgl. Beyer in: Grimmer, S. 122 ff, 163; Rupprecht, Die Polizei 1973, S. 318 f.

ÖVD 1973, S. 111. in: Grimmer, S. 122 ff, S. 162, der als weniger umfangreiche Integrationsentwicklungsstufen die "interne Integration" (=Datenverbund eines Aufgabenbereichs) und die "horizontale Intergration" (= Verknüpfung verschiedener Aufgabenbereiche einer Verwaltungsebene) anführt. 214Föcker, ÖVD 1973, S. 111 f, 121. 272 Föcker, 273 Beyer

275 Beyer

in: Grimmer, S. 122 ff, 153; s. auch Föcker, ÖVD 1973, S. 114.

Zur EDV und Integration im Einwohnerwesen ausführlich Weber, S. 21 ff. 277 BfD, Gutachten, Rz. 23, S. 22; Föcker, ÖVD 1973, S. 111. 276

278 M örs u .a. ,

S. 89 f.

Forschungsberichte, S. 10, zum Aufbau des PK, S. 59 f; Hojfmann, G.E.,

D. Kontinuität

69

leichtern279. Die infolge der damaligen Berliner Behördenorganisation (melderelevante Vorgänge fanden sowohl in den 12 Bezirkseinwohnerämtern, den 118 Meldestellen bei den Polizeirevieren als auch im zentralen Einwohnermeldeamt beim Polizeipräsidenten statt) immer wieder auftretenden Informationsdifferenzen und Abstimmungsschwierigkeiten zwischen den verschiedenen Registern beförderten die frühzeitigen lntegrationsbemühungen280. Die technische Realisation erfolgte beim Landesamt für elektronische Datenverarbeitung (LED), das unter der Rechts- und Fachaufsicht des Innensenators als zentraler Dienstleistungsbetrieb für die gesamte Berliner Verwaltung ausgelegt ist281. Auch nach Rücknahme des BMG-Entwurfs und dem Absehen von bundeseinheitlicher Bevölkerungsnumerierung wurde der Datenbankaufbau fortgesetzt, obwohl ohne allgemein eingeführtes PK wesentliche Zielsetzungen nicht mehr erreicht werden konnten, "insbesondere nicht eine Integration mit Informationssystemen anderer Behörden im angestrebten Umfang"282. Zum Scheitern der großangelegten zentralen Verwaltungsinformationssysteme trugen in erster Linie technische, organisatorische und datenschutzrechtliche Gründe bei2B3: Die rasant zunehmende Verfügbarkeil dezentral einsetzbarer Datenverarbeitungsgeräte (infolge günstigerer Preisgestaltung) minderte den Zentalisierungsdruck, verringerte die unterschätzten organisatorischen Folgekosten der Integration und erhöhte die Flexibilität. Da verschiedene Datenbanken durch sekundenschnellen Zugriff über Standleitungen, Mobilfunkgeräte oder Telefon in kurzer Zeit abgefragt werden konnten (und können), erübrigte sich aufwendige Zentralisierung. Parallel dazu schärfte die Diskussion um Bundesdatenschutz- und Bundesmeldegesetz das Bewußtsein um die Brisanz zentraler Datenakkumulation bei gleichzeitigem Absenken der Zugriffs- und somit Mißbrauchsrisikoschwelle mittels der Technik. Der damalige Bundesdatenschutzbeauftragte führte die mit der Automationsdebatte eingeleitete Determinierung des Rechts durch die Technik284 zurück auf die 279 Garstka in: Verwaltungsinformatik, S. 46; ausführlich zu den einzelnen Ausbaustufen in Berlin mit technischen Angaben zur Anlagenkonfiguration, Mörs u.a., Forschungsberichte, S. 12 ffm.w.N. 280 Beyer in: Grimmer, S. 122 ff, 176.

281 Garstka in: Verwaltungsinformatik, S. 47; neben dem DV- Verfahren "Einwohnerwesen" (EWW) werden in dem Service-Rechenzentrum u.a. die DV-Verfahren der Kfz-Zulassungsstelle sowie das trifunktionale "Informationssystem Verbrechensbekämpfung" (ISVB) der Berliner Polizei zur Gefahrenabwehr, Strafverfolgung und Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten betrieben, dazu Mörs u.a. , Forschungsberichte, S. 32. 282 Garstka in: Verwaltungsinformatik, S. 46, 49: Keine online-Verknüpfung mit zentralen Einwohnersystemen der Bundesländer; keine erleichterte Koppelung mehrerer Datenbänke der Berliner Verwaltung. 283 Vgl. die Zusammenfassung von Beyer in: Beiträge, Bd. 13, S. 213 ff; ausführlich ders., in: Grimmer, S . 122 ff, 199 ff. 284 Vgl. nur Motivation und Zielsetzung des ersten Entwurfs eines einheitlichen Bundesmeldegesetzes v. 4 .10.1971, BT-Drs. 6/2654, Vorblatt: "Der Entwurf bezweckt die Anpassung des

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Zweiter Teil: Historische Entwicklung der informationeBen Beziehungen

steuernde Kraft des Rechts und die ungeschriebene rechtsstaatliche Errungenschaft der begrenzten Möglichkeiten des Machbaren, indem er formulierte: "Gewiß ist die Intensivierung der Verwaltungstätigkeit in einem Rechtsstaat grundsätzlich unbedenklich, doch darf nicht übersehen werden, daß alle bisherige Rechtssetzung auf der unausgesprochenen (weil selbstverständlichen) Prämisse aufbaute, daß die Durchführung der Gesetze mangels technischer Möglichkeiten niemals vollständig möglich war. Die Lückenhaftigkeit der Gesetzesdurchführung erweist sich heute zunehmend als Element von Rechtsstaatlichkeil im richtig verstandenen Sinne; 'hundertprozentige' Durchsetzung von Gesetzen wäre, weil dazu 'hundertprozentige' Verwaltung notwendig wäre, ein wesentlicher Rückschritt, eine Verwandlung des freiheitlichen Staates in eine Zwangsordnung. Der höhere Informationsgrad der Bürokratie bedeutet stets auch einen Verlust an Freiheit des Einzelnen. "285

Melderechtsrahmengesetz und Berliner Meldegesetz verzichteten im Ergebnis auf PK und offensive Integrationsziele. Am traditionellen Bild der Einwohnermelderegistration änderte sich jedoch nichts286. Sie erfolgt explizit zur Feststellung und zum Nachweis der zur rechtmäßigen Aufgabenerfüllung öffentlicher Stellen erforderlichen Grunddaten, § 1 I a) MeldeG Bin, sowie ebenfalls zur AuskunftseTteilung an nicht-öffentliche Stellen, § 1 I c). Datenübermittlungen gehören somit auch nach dem gegenwärtigen Erscheinungsbild des Meldewesens zum substantiellen Inhalt dieses Verwaltungsbereichs287, zu seiner eigenen Aufgabe288. Es bleibt daher die Frage, ob die zugelassenen Informationstransfers und Vemetzungen dezentraler Einheiten in ihrer konkreten normativen Ausgestaltung geeignet sind, dem Recht auf informationeile Selbstbestimmung ausreichenden Schutz zu gewährleisten, oder ob durch die Verknüpfungen die Erhebungen nicht doch partiell ein unter den geltenden verfassungsrechtlichen Bedingungen kaum noch rechtfertigungsfähiges informationelles Sonderopfer zugunsten der Sicherheitsbehörden darstellen. Inwieweit die Meldebehörde in Berlin die Polizei mit Daten versorgt bzw. versorgen darf und in welchem Umfang sie die polizeilichen Informationsbegehren prüfen können muß, darüber soll die Bewertung der bestehenden informationeilen Beziehungen Aufschluß geben (Vierter Teil). Die Untersuchung erfolgt anband der zunächst verfassungsrechtlich zu präzisierenden Kategorien für den (inter)behördlichen Umgang mit personenbezogenen Daten (Dritter Teil, A) unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung des informationeilen Selbstbestimmungsrechts für das Meldewesen (Dritter Teil, B) und die Polizei (Dritter Teil, C).

Melderechts an die fortschreitende Automation im Einwohnerwesen und in anderen Verwaltungen mit personenbezogenen Aufgaben." 285 BID, Gutachten, Rz. 23, S. 22. 286 Zum aktuellen Datenumfang im Vierten Teil, A II. 287 BID, Gutachten, Rz 30, S. 27. 288 Beyer in: Beträge, Bd. 13, S. 219.

Dritter Teil

Verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte für die Normierung der informationeilen Tätigkeiten von Meldebehörde und Polizei A. Das Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung als grundrechtlich verbürgter Datenschutz I. Verfassungsdogmatische Grundlagen und Grenzen In der Entscheidung zum Volkszählungsgesetz 19831 entwickelte das BVerfG, teils anband der in der Literatur erkennbaren Tendenzen und Forderungen2, teils in Fortschreibung seiner eigenen Rechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht3, als weitere eigenständige Ausprägung des Art. 2 I i.V.m. 1 I GG das Recht auf informationeile Selbstbestimmung. Damit war einzelnen Bestrebungen in der Literatur, ein Recht des Bürgers auf informationeile Enthaltsamkeit des Staates aus Art. 5 I GG abzuleiten4 oder den spezialgrundrechtliehen Schutz bestimmter Lebensbereiche auch auf die Informationen auszudehnen, die sachlich dem jeweiligen Bereich zuzuordnen sindS, höchstrichterlich eine Absage erteilt. Inhaltlich betraf diese "konkretisierte ... Grundrechtsinterpretation bei veränderter Lebenswirklichkeit"6 primär die Zulässigkeil und Ausgestaltung der Datenerhebung und -Verarbeitung zu statistischen Zwecken. Die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit melderechtlicher bzw. sonstiger personenbezogener BVerfGE 65, 1 ff. Wegweisend (nur beispielhaft) Steinmüller u. a., Grundfragen des Datenschutzes, Dt. -BT Drs. VI/3826 (1971), S. 5 ff insbes. S. 81 ff; Podlech in: Hojfmann, G.E. u.a. , Numerierte Bürger, S. 27 ff; Schwan, VerwArch 1975, S. 120 ff. 3 Nur beispielhaft: BVerfGE 27, I; 27, 344; 32, 373; 34, 238; 44, 353; 54, 148; vgl. zu den Hauptfallgruppen den Überblick bei Jarass , NJW 1989, S. 857 ff. 4 Eberle, DÖV 1977, S. 306 ff, 308 f, wonach die negative Meinungsfreiheit bereits staatliche Informationsbeschaffung ohne Wissen und Wollen des Betroffenen verbiete. s Gallwas, Der Staat 1979, S. 507 ff, 514. 6 Heußner in: Beiträge, Bd. 13, S. 14. I

2

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Dritter Teil: Verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte

Datensammlungen war nicht Prüfungsgegenstand7, obwohl das Melderecht infolge des im Volkszählungsgesetz vorgesehenen und für verfassungswidrig erklärten Melderegisterabgleichs8 explizit angesprochen wurde. Dennoch enthält das Urteil - dies ist inzwischen unstreitig und nicht zuletzt durch die zahlreichen gesetzgeberischen Aktivitäten unter Berufung auf Erfüllung der Anforderungen des Volkszählungsurteils in der Praxis ebenfalls allgemein anerkannt - verfassungsrechtlich Grundsätzliches zum Recht auf informationeile Selbstbestimmung9, dessen entscheidende Konturierungen methodisch gerade in Abgrenzung zu den anonymen ( = statistischen = nicht personenbezogenen) Datensammlungen entwickelt wurden. Die verfassungsdogmatische Essenz des Judikats sowie der weiteren bundesverfassungsgerichtliehen Fortentwicklung des Rechts auf informationeile Selbstbestimmung läßt sich mit fünf (Rechts)Kategorien, die zugleich Grundlagen und Grenzen staatlicher Informationstätigkeit beleuchten, schlaglichtartig zusammenfassen: Freiheitsrecht (II) - Gesetzesvorbehalt (III) - Datenbevorratungsverbot (IV) - Zweckbindungsprinzip (V) und informationeile Gewaltenteilung (VI), wobei sich auch "Datenbevorratungsverbot", "Zweckbindungsprinzip" und "informationeile Gewaltenteilung" als terminologische Spezifizierungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Bestimmtheilsgrundsatzes sowie als Ausdruck der Menschenwürdegarantie des Art. 1 I 1 GG auf verfassungsrechtlich Vertrautes zurückführen lassento.

ß. Funktion und Schutzbereich des Rechts auf infonnationelle Selbstbestimmung 1. Art. 2 Abs. 1 i. V.m. Art. 1 Abs. 1 GG

a) Schutl,{unktionen

Abgeleitet aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG, ist das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung -wie jedes Freiheitsrecht - primär Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe (status negati7 8

Vgl. nur Benda, Gutachten, S. 5. BVerfGE 65, 2 (Ls. 5).

9 Anfänglich durchaus vehement in Abrede gestellt: Krause, JuS 1984, S. 268 f, der es als "schlechterdings falsch" bezeichnete, das BVerfG habe durchweg Anforderungen formuliert, die sich an jede Datenverarbeitung richten; eine entsprechend restriktive Interpretation verlangte auch Roga/1, GA 1985, S. 13, 15; schon damals dezidiert a.A. statt vieler: Simitis, NJW 1984, 398 ff; zur höchstrichterlichen Fortentwicklung s. im weiteren Text. 10 BVerfGE 65, 45 ff sowie im weiteren Text.

A. Das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung als Grundrecht

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vus)II. Es fügt sich damit in die vom Grundgesetzgeber vorgegebene Staat/ Bürger-Struktur und bestätigt dogmatisch, daß es im Rahmen der Datenschutzdiskussion, insbesondere im Umgang mit personenbezogenen Daten, nicht darauf ankommt, ob jemand etwas zu verbergen hat, sondern darauf, ob er etwas verbergen darft2. Wie bei allen anderen klassischen Freiheitsrechten des Grundgesetzes besteht in diesem Lebensbereich ebenfalls eine Ausgangsvermutung zugunsten des Individualschutzes, für die Freiheit!), denn "das Abwehrrecht setzt die Freiheit des Bürgers als dem Staat vorgegeben voraus"t4. Es geht demzufolge um das Recht des einzelnen auf Wahrung seiner Anonymität zur Gewährleistung selbstverantwortlicher (autonomer) Verhaltens- und Selbstdarstellungsfreiheit, mit der "eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar" wären, "in der Bürger nicht mehr wissen können wer was wann bei welcher Gelegenheit über sie weiß"t5. Staatstheoretisch ist das BVerfG mit dieser Konzeption im Grundsatz der individualistischen Position der Freiheit vor staatlicher lnformationsbeschaffung, -sammlung und -weitergabet6 als elementarer Funktionsbedingung des liberalen Rechtsstaats gefolgt und hat damit die Pflicht "genuiner" staatlicher Informationsvorsorge (Staatsaufgabe)t7 als unverzichtbarer Funktionsbedingung öffentlicher Verwaltungstätigkeit auf die dogmatische Ebene der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung informationeiler Maßnahmen verbanntt8. II BVerGE 7, 198 ff, 204: " .. . in erster Linie ... ", st. Rspr.; Isensee in: Isensee/Kirchhof, Bd. V, § 111 Rz. 1 ff, 9, 37 ff; zum Ganzen mit Kritik der jeweiligen Ansätze: Böckenförde, NJW 1974, S. 1529 ffund 1976, S. 2089 ff. 12

Lisken, KritV 1988, S. 314 ff, 323 .

Von der h.A. zwar nicht als allgemeines Prinzip der Verfassungsinterpretation anerkanntvgl. Hesse, Verfassungsrecht, Rz 72; v. Münch in: v. Münch/Kunig, GG, Vorb. An. 1-19 Rz. 51, der dem "Grundsatz der größtmöglichen Grundrechtseffektivität" die entscheidende Bedeutung beimißt, ähnlich schon BVerfGE 6, 55 ff, 72 -, so beschreibt es nach liberal-rechtsstaatlichem Grundrechtsverständnis die Verknüpfung Staat und Individuum unter Berücksichtigung der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 I GG als Hauptfreiheitsgrundrecht in der Tendenz doch zutreffend: jüngst nochmals Gallwas, NJW 1992, S. 2787; speziell zu Art. 2 I i.V.m. I I GG Dürig in: M/D/H/S, GG, Art. 2 I Rz. 72; ähnlich BVerfGE 6, 32 ff, 42; auch E 13, 97 ff, 105 spricht im Rahmen von Art. 12 I GG als besonderer Ausprägung des Art. 2 I GG "von der grundsätzlichen Freiheitsvermutung .. . "; grundlegend für die Anerkennung einer allgemeinen Auslegungsregel "in dubio pro libertate" Schneider, P., Recht und Macht, S. 96 ff, 238 ff; ders. , KritV 1988, S. 294 ff; AK-GG-Denninger, vor Art. I Rz. 12. Ob das Optimierungsgebot der h.M. im praktischen Ergebnis zu signifikanten Unterschieden führt, ist - soweit ersichtlich nicht untersucht. 14 Isensee in: Isensee/Kirchhof, Bd. V, § III Rz. 2; insoweit steht die Zuordnung der Freiheitsvermutung zum status negativus außer Zweifel. 15 BVerfGE 65, 43. 13

16 Schwan, VerwArch 1975, S. 121, insb. S. 130 ff; ders., Amtsgeheimnis, S. 76 ff; ders., in: Hoffmann, G.E. u.a., Numerierle Bürger, S. 36 ff. 17 Dafür dezidiert Scholz/Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung, S. 103 ff. 18 Dagegen immer noch vehement Vogelgesang, insb. S. 162 ff, der im Rahmen einer Güterabwägung mit anderen Verfassungsgütern bereits den Schutzbereich - in Verkennung der Struk-

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Dritter Teil: Verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte

Neben dieser Funktion als subjektiv-öffentliches Recht enthalten Art. 2 I i.V.m. 1 I GG ebenfalls Elemente einer objektiven Wertordnung als Grundlage der rechtlichen Ordnung eines freien staatlichen Gemeinwesens, die die subjektive Grundrechtswirkung ergänzen und prinzipiell verstärkeni9. Das BVerfG läßt die "objektive Seite" in der Entscheidung zum Volkszählungsgesetz 1983 nochmals explizit anklingen: Danach beeinträchtige die Verletzung genereller Verhaltens- und Selbstdarstellungsfreiheit des einzelnen durch unzulässige Datenverarbeitung nicht nur dessen individuelle Entfaltungschancen, "sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens" sei20, Somit ist das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung von den Organen der Staatsgewalt2t durchgehend bei allen potentiellen Gesetzesvorhaben und Einzelakten zu berücksichtigen, die den Schutzbereich des Grundrechts tangieren. Exkurs: Sind die Grundrechte Ausdruck einer objektiven Wertordnung, folgt zugleich aus dem jeweiligen Einzelgrundrecht die staatliche Pflicht, das durch dieses geschützte Rechtsgut (hier die informationeHe Selbstbestimmung) vor rechtswidrigen Gefährdungen durch andere (Private oder sonstige Mächte) zu bewahren22. Insoweit ist es nicht nur Schranke staatlicher Gewalt, sondern zwingt als Grundlage einer Schutzpflicht zu positivem Tätigwerden des Staates23. Abwehrrecht und staatliche Schutzpflicht sind daher gegenläufige Funktionen desselben Freiheitsrechts. Das BVerfG hat die Weichen zu dieser sich vom herkömmlichen Grundrechtsverständnis weiter entfernenden Grundrechtsdeutung in mehreren Entscheidungen aufbauend - primär zu den Rechtsgütern Leben und Gesundheit - gestellt24. Zur grundrechtsimmanenten Deduktion der Schutzpflicht hat es dabei immer Art. I I S. I und insb. S. 2 GG herangezogen25 bis sich ein Kern gefestigter Schutzpflich~udikatur als "anerkannte Rechtsprechung" herausgebildet hatte26, Die explizite Rückkopplung an Art. I I GG schließt den Kreis zu Gefahren, die der Würde des

tur des Grundrechts - aus- und begrenzen will; ebensowenig hat diese verfassungsdogmatische Konsequenz etwas mit einer "Privilegierung" des informationeBen Selbstbestimmungsrechts gegenüber den Allgemeininteressen zu tun, Poppenhäger, NVwZ 1992, S. 149 ff, 149. 19 St. Rspr., beispielhaft BVerfGE 7, 198 ff, 205; Schmitt Glaeser in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI, § 129 Rz. 87; insgesamt zum Doppelcharakter der Grundrechte Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 279 ff, 299 ff; jüngst Böckenförde, Der Staat 1990, S. 1 ff u. Alexy, Der Staat 1990, S. 49 ff. 20 BVerfGE 65, 43. 21 Im Sinne der Art. I 111, 20 II, 111 GG. 22 Statt vieler Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 349 ff, 350; AK-GG-Denninger, vor Art. I Rz. 33 f; ausführlich Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, § 67 V, S. 728 ff jeweils m.w.N. 23 Aktueller Überblick zu den verschiedenen Ansätzen der Ableitung dieser traditionellen Staatsaufgabe als Grundrechtsfolge bei Klein, NJW 1989, S. 1633 ff, der auch auf den engen Zusammenhang mit der Drittwirkungsfrage hinweist, S. 1639 f; vgl. ebenfalls lsensee in: Isensee/Kirchhof, Bd. V, § 111 Rz. 86 ff, 103, 134. 24 BVerfGE 39, I ff (Schwangerschaftsabbruch); 46, 160 ff (Schleyer-Beschluß); 49, 89 ff (Kalkar); 56, 54 ff (Fluglärm). 25 BVerfGE 39, 41; 46, 164; 49, 142. 26 BVerfGE 56, 73 .

A. Das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung als Grundrecht

75

Menschen von dritter Seite durch Objektdegradierung drohen27, sofern das gefährdete Rechtsgut am Menschenwürdeschutz partizipiert. Tendenziell intendiert die grundrechtliche Schutzpflicht damit Geltung für alle Freiheitsrechte28. In jedem Fall gilt dies für die ausdrücklich aus der Menschenwürde und der allgemeinen Handlungsfreiheit abgeleiteten Persönlichkeitsgrundrechte, so daß aus dem Recht auf informationeHe Selbstbestimmung eine entsprechende staatliche Schutzpflicht - praktisch wohl primär hinsichtlich des Datenschutzes zwischen Privaten - folgt. So kann das Recht an den eigenen Daten beispielsweise durch die Sammlung und Verarbeitung personenbezogener Informationen durch die Presse gefährdet werden "und die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates auf den Plan rufen"29. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung kann diese Grundrechtsfunktion des Selbstbestimmungrechts vernachlässigt werden, da die informationellen Beziehungen zwischen Hoheitsträgem und deren Auswirkungen auf den Bürger nicht Gegenstand privater Übergriffe auf das grundrechtliche Schutzgut sind.

Hinzuweisen ist schließlich auf die inzwischen allgemein anerkannte Funktion der Grundrechte als Organisationsmaxime und Verfahrengarantie, die ebenfalls dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte zugeordnet wird30. Grundrechtsverwirklichung und -Sicherung bedürfen in weitem Maß organisations- und verfahrensrechtlicher Regelungen, wobei der materiale Grundrechtsgehalt seinerseits bereits auf die Ausgestaltung dieser Normierungen einwirkt. Grundrechte, Organisation und Verfahren stehen insoweit in einem Verhältnis wechselseitiger Durchdringung3t. Zur wirksamen Sicherung und Verwirklichung des Rechts auf informationeile Selbstbestimmung fordert das BVerfG vom Gesetzgeber explizit noch "mehr als früher auch organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen zu treffen, welche der Gefahr einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts entgegenwirken "32.

b) Umfang des Schutzbereichs Der Umfang des Schutzbereichs der informationeilen Selbstbestimmung war lange umstritten, jedoch haben Folgeentscheidungen des BVerfG33 allen restriktiven lnterpretationsversuchen, enge Schutzbereichsgrenzen zu ziehen und die Bedeutung des Rechts auf die Verarbeitung von Einzeldaten im Zeit27 Isensee in: Isensee/Kirchhof, Bd. V, § 111 Rz. 104, der zur Begründung zudem auf das Neminem-laedere-Gebot rekurriert. 28 So Isensee in: Isensee/Kirchhof, Bd. V, § 111 Rz. 86, 96; ähnlich Pieroth!Schlink, Grundrechte, Rz. 110. 29 Isensee in: Isensee/Kirchhof, Bd . V, § 111 Rz. 104. 30

Ausführlich zu den verschiedenen Herleitungsversuchen des prozeduralen Schutzkonzepts

Stern, Staatsrecht, Bd. III/1 , § 69 V 6 , 7, S. 965 ff, 970 ff m.w.N.; Bethge, NJW 1982, S. I ff. 31 Vgl. v. Münch in: v. Münch/Kunig, GG, Vorb. Art. 1-19 Rz. 25 f; AK-GG-Denninger, vor Art. I Rz. 15 ff.

32 BVerfGE 65, 44 und 69, wobei der enge Zusammenhang zur informationellen Gewaltenteilung deutlich wird, dazu noch Dritter Teil, A VI. 33 Insbesondere BVerfGE 78, 77 ff zu § 687 ZPO - Unvereinbarkeit der öffentlichen Bekanntmachung der Entmündigung wegen Verschwendung oder Trunksucht mit dem RIS- sowie im weiteren Text; nur beispielhaft zu Entscheidungen der Instanzgerichte in den Jahren 1987/88, Gola NJW 1988, S. 1637 ff u. NJW 1989, S. 2595 ff jeweils m.w.N.

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Dritter Teil: Verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte

alter des Computers, also auf die elektronische Datenverarbeitung, zu beschränken34, irreversibel die Basis entzogen: Möglichkeiten und Gefahren der automatischen Datenverarbeitung hätten zwar die Notwendigkeit eines Schutzes persönlicher Daten deutlicher hervortreten lassen, seien aber nicht Grund und Ursache ihrer SchutzbedürftigkeiL Das Recht auf informationeile Selbstbestimmung schütze vielmehr wegen seiner persönlichkeitsrechtlichen Grundlage generell vor staatlicher Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten und sei nicht auf den jeweiligen Anwendungsbereich der Datenschutzgesetze des Bundes und der Länder oder datenschutzrelevanter gesetzlicher Sonderregelungen beschränkt35 . Aus der notwendigen und zutreffenden Präzisierung haben sowohl Bundesdatenschutz-36 als auch Berliner Datenschutzgesetzgeber37 ihre Konsequenzen gezogen und die Verarbeitung personenbezogener Daten in Akten ebenfalls dem Anwendungsbereich der Datenschutzkodifikationen unterstellt38. Im Ergebnis gibt es somit keine datenschutzrechtliche Grauzone, kein "belangloses" Datum39 mehr: Jede Erhebung, Speicherung, Verwendung (und somit auch die Weitergabe) individualisierter oder individualisierbarer Daten berührt den Schutzbereich des Art. 2 I i.V.m. 1 I GG, der- zusammengefaßt- daher "die Befugnis jedes Einzelnen gewährleistet, über Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten selbst zu bestimmen (Recht auf informationeile Selbstbestimmung)40, denn er muß wissen können, wer was wann bei welcher Gelegenheit über ihn weiß4I. Negativ abgegrenzt berührt daher lediglich Datenma34 Krause, Jus 1984, S. 268 f; Scholz/Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung, S. 12; Rogall, GA 1985, S. 13- jeweils unter Berufung auf den 1. Leitsatz des BVerfG in E 65, 1: "Unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung .. . "; immer noch für entsprechendenge Begrenzung Wolters, S. 16 f; überhaupt gegen die Anerkennung eines umfassenden informationeilen Selbstbestimmungsrechts dezidiert Vogelgesang, S. 154 ff, 162 ff; im praktischen Ergebnis ebenso, wenn auch differenzierend, Heinzelmann, S. 85, 87 sowie jüngst nochmals Rogall, Informationseingriff, S. 41 ff, 57 f, der nunmehr insgesamt die Grenzen der Rechtsfortbildung durch die Extrapolation des informationeilen Selbstbestimmungsrechts aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrechts verletzt sieht. 35 BVerfGE, 78, 84; deutlich jüngst Gallwas, NJW 1992, S. 2787.

36 BDSG v. 20.12.1990, BGBI. I S. 2954. 37 DSG Bin v. 17.12.1990, GVBI. 1991, S. 16. 38 § 3 Abs. 3 BDSG; § 4 Abs. 3 Nr. 4 BlnDSG. 39 So schon BVerfGE 65, 45 unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung; Heußner in: Beiträge, Bd. 13, S. 16 weist auf die Gefahren kontextloser Verselbständigung von Informationen hin, so daß "die einzelne personenbezogene Angabe weder 'belanglos' noch 'sensibel' sein" könne. Daß es wegen angeblich fehlenden Schutzbedürfnisses des Betroffenen sog. "freie Daten" (wie Name, Titel, akademische Grade, Geburtsdatum, Beruf, Branchen- und Geschäftsbezeichnung, Anschrift, Rufnummer) gebe, die nicht dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegen, war rechtsdogmatisch ohnehin nie zu rechtfertigen, vgl. in diesem Sinne bereits Schwan, VerwArch 1975, S. 144 f. 40 So BVerfGE 78, 84; 67, 100 ff, 143 -Flick-Ausschuß -; 65, 43 . 41

BVerfGE 65, 43.

A. Das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung als Grundrecht

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terial den Schutzbereich des informationeilen Selbstbestimmungsrechts nicht, soweit und solange es anonym ist bzw. fällt aus dem Schutzbereich heraus, sobald und solange es anonymisiert ist42. Damit endet die grundrechtliche Entscheidungsbefugnis des einzelnen über seine Daten, wenn diese keinen Zusammenhang mehr mit seiner Person erkennen lassen43.

2. Art. 21 b VvB

In der Berliner Landesverfassung hat das Recht auf informationeile Selbstbestimmung im Grundrechtskatalog explizit als "Datenschutz"-Artikel44 seine Ausprägung gefunden: "Das Recht des einzelnen, grundsätzlich selbst über Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen, wird gewährleistet. Einschränkungen dieses Rechts bedürfen eines Gesetzes. Sie sind nur im überwiegenden Allgemeininteresse zulässig." Materiell ist mit der Fassung kein anderer Inhalt als der zum Schutzbereich des Art. 2 I i.V.m. 1 I GG festgestellte intendiert: Der Wortlaut (S. 1) ist eng am zweiten Satz des ersten Leitsatzes des Volkszählungsurteils orientiert; die Schrankenregelung (S. 2 u. 3) entspricht dem im zweiten Leitsatz der Entscheidung niedergelegten Ergebnis45. Nicht nur diese Parallelität im Wortlaut des Datenschutzgrundrechts der VvB und des Rechts auf informationeile Selbstbestimmung ist Indiz dafür, daß das BVerfG mit seinem damaligen Urteil zum Volkszählungsgesetz 1983 materiell ein solches Grundrecht auf Datenschutz geschaffen hat46. Vielmehr 42 Zur grundlegenden Bedeurung der Begriffspaares Anonymität/Individualität BVerfGE 65, 47-52 unter Bezug aufS. 4516 sowie unten Dritter Teil, B I; schon fiiher Dammann in: S/D/ MIR, BDSG, § 2, Rz. 38; nach der geltenden Legaldefinition des § 3 Abs. 7 BDSG ist anonymisieren "das Verändern personenbezogener Daten deran, daß die Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse nicht mehr oder nur mit einem unverhältnismäßig großen Aufwand an Zeit, Kosten und Arbeitskraft einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person zugeordnet werden können", d.h. zur Bestimmung der Anonymiät ist weder der frühere sozialwissenschaftliche Anonymisierungsbegriff (Daten, deren Identifikationsteil - Name. Adresse, o. ä. - enrfernt wurden) maßgebend, da er den modernen Möglichkeiten der Datenverarbeirung nicht mehr gewachsen ist, noch der mathematische, der in seiner logischen Stringenz weit überzogene Anforderungen an die Praxis stellt (denn mit entsprechend hohem Aufwand ist praktisch jedes Darum deanonymisierbar), so schon Steinmüller, Leviathan 1984, S. 183, Fn 17: "Anonym" heißt... daher infolge Weglassens von Name und Anschrift und von Zusatzwissen (wie z. B. Personenkennzeichen) nicht auf Personen beziehbar. 43 Ebenso Bizer, S. 152.

An. 21 b VvB i.d.F. v. 3.9.1990, GVBI. 1990, S. 1877. BVerfGE 65, 1 (Ls. 1 Satz 2; Ls. 2). 46 Im Ergebnis ebenso der Berliner Datenschutzbeauftragte, DSB Bin, JB 1992, 1.3., S. 19 f; zudem treten die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder dafür ein, das Grundgesetz um ein ausdrückliches Grundrecht auf den Schutz personenbezogener Daten zu ergänzen, vgl. Ziff. 1 der Entschließung der Sonderkonferenz am 28.4.1992- gegen die Stimme 44 45

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Dritter Teil: Verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte

wird dies - entgegen anderslautenden Einschätzungen in der Literatur47- nunmehr im Urteil zur Besteuerung von Einkünften aus Kapitalvermögen (sog. Zinsurteil)48 höchstrichterlich klargestellt und bestätigt: Steuerliche Kontrollmitteilungen und Auskunftspflichten seien zwar Informationseingriffe, jedoch sei die Offenlegung steuerlich erheblicher Angaben durch überwiegendes Allgemeininteresse gerechtfertigt, die Beschränkung des in Art. 2 I i. V .m. 1 I GG "verbürgte(n) grundrechtliche(n) Datenschutz(es)" somit verfassungsgemäß49.

Alle gegen eine entsprechende Interpretation gerichteten Unterstellungen und Vorwürfe, daß "von interessierter Seite" bei Auslegung der bisherigen Judikate "allzu häufig 'verwechselt'" worden sei, "was das ... Gericht tatsächlich entschieden hat und was es hätte entscheiden sollen"so, haben sich danach im Ergebnis als haltlos erwiesen.

m. Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt 1. Die beendete Eingriffsdiskussion

Es kann inzwischen als klargestellt gelten, daß der langjährige Streit um die Rechtsqualität informationeHer Maßnahmen jedenfalls für die Praxis entschieden ist: Die wesentlichen - nicht lediglich begünstigend (wie Sperren, Löschen) wirkenden - Phasen personenbezogener Informationstätigkeit von Behörden sind EingriffeSt in den Schutzbereich des Rechts auf informationeile Selbstbestimmung. Im Kern hat sich daher die in der Literatur vertretene Theorie vom Informationseingriff52 gegen die Theorie der VerwaltungsinterBayerns - zum Grundrecht auf Datenschutz, abgedruckt in: DSB Bin, JB 1992, Anl. 2.2, s. 155 f. 47 Krause, Jus 1984, S. 268 ff; Scholz/Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung, S. 12; von Beginn an a.A.: Mückenberger, KJ 1984, S. I ff; Denninger, KJ 1985, S. 215 ff; Simitis, NJW 1984, S. 398 ff. 48 BVerfGE 84, 239 ff. 49 BVerfGE 84, 279. 50 So noch teils inderneueren Literatur, Heinzelmann, S. 87 (Fn 52). 51 Zur Entwicklung des Begriffs, der semantischen Schwierigkeit bei der Umsetzung im Rahmen der Informationsgewinnung sowie der weiteren Vergeistigung, AK-PolG-Wag11er, vor§§ 2 und 3 Rz. 63 ff; Ahlf, Die Polizei 1983, S. 44 ff; allgemein zu den aufgelösten Kriterien des klassischen Eingriffsbegriffs Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 271 ff sowie im weiteren Text. 52 Schwan, VerwArch 1975, S. 120 ff, 130 ff; Schlink, Amtshilfe, S. 188 ff; Riegel, Datenschutz, I. A., S. 5; Simon!Taeger, JZ 1982, S. 141; KnieseiNahle nehmen dies in DÖV 1987, S. 953 ff, 956 bedauernd zur Kenntnis, wenn sie davon sprechen, mit § 8a VE ME PolG habe die "Lehre vom Informationseingriff unter der Hand Eingang ins Polizeirecht gefunden", obwohl sie die "Theorie", die sie "an der Grenze der Simplizität des Zirkelschlusses" orteten, be-

A. Das Recht auf informationeile Selbstbestimmung als Grundrecht

79

nalität53 sowie die Sphären-/Rollen-54 und Schwellentheorie55 durchgesetzt56. Insbesondere hinsichtlich der für die informationeile Zusammenarbeit relevanten Phasen, die in den novellierten allgemeinen Datenschutzgesetzen legaldefinitorisch bestimmt sind57, ist die Eingriffsqualität im Grunde unstreitig5s. Dies gilt zumindest für die im vorliegenden Kontext interessierenden Maßnahmen: Erheben, Speichern und Übermitteln: a) Erheben (Kenntnisnahme) ist das Beschaffen von Daten über den Betroffenen59, wobei es sich um ein aktives, zielgerichtetes Beschaffen handeln muß, da andernfalls jede zufallige Beobachtung anderer Personen unter das generelle Erhebungsverbot (mit Erlaubnisvorbehalt) fiele60. Ohne Bedeutung

reits als rein rechtspolitische Forderung entlarvt zu haben glaubten, siehe Knieselfregtmeyerl Vahle, Handbuch, Rz. 487; schon Kloepfer, Datenschutz, S. 23. 53 Steinke, DVB11980, S. 433 ff; ders. , MDR 1980, S. 456 ff, wonach Maßnahmen der Datenerhebung und -Verarbeitung als verwaltungsaktsvorbereitende behördliche Willensbildung keine Außenwirkung (Verwaltungsintemum) entfalten würden und ihnen damit kein Eingriffscharakter zukommen könne, S. 457. 54 Grundlegend für die lange h.A. Evers, Privatsphäre, S. 38 ff, der davon ausgeht, daß hinsichtlich des informationellen Schutzes verschiedene Lebensbereiche - "Sphären": Intim-, Geheim-, Privat-, Sozial-, Berufs-, Öffentlichkeitsspäre - unterschieden werden müßten, die sodann verschieden schutzbedürftige Abstufungen vor staatlicher Informationssammlung - vom absoluten "Eingriffsausschluß" bei Intimdaten bis hin zur Schutzlosigkeit der Öffentlichkeitssphäre rechtfertigen könnten; nochmals umfassend mit partiell anderen Abstufungen Roh/f. Privatsphäre, 1980, S. 195 ff, der Aspekte der Rollentheorie bemüht, wonach der Mensch je nach der Rolle, die er gerade ausführt, seine Persönlichkeit unterschiedlich zur Geltung bringe, da er personenbezogene Daten nur insoweit preisgebe, als dies zur jeweiligen Rollenausführung erforderlich sei; das Persönlichkeitsrecht sei bei Zusammenführung verschiedener Rollenlebensbereiche tangiert.

ss Danach sollen repressiv jedenfalls solche Eingriffsmaßnahmen zulässig sein, die bei einer Gesamtbetrachtung der in der StPO geregelten besonderen Eingriffsbefugnisse unterhalb der Schwelle des Zwangscharakters liegen, jenseits derer der Gesetzgeber differenziertere Vorschriften als die§§ 160, 161, 163 StPO für notwendig erachtet hatte; vgl. nur Ah/f. Die Polizei 1983, S. 51 ff; Kubica/Leineweber, NJW 1984, S. 2071 f m.w.N.; Schoreit, DRiZ 1987, S. 82, der ebenfalls alle derartigen Versuche nach Anerkennung des informationellen Selbstbestimmungsrechts als gescheitert betrachtet. 56

Ebenso - statt vieler- Sch/ink, Der Staat 1986, S. 241.

Sofern im jeweiligen bereichsspezifischen Recht keine ausdrücklichen Besonderheiten geregelt sind, sind die Begriffsdefinitionen des allgemeinen Datenschutzrechts verbindlich, vgl. Bäum/er in: Lisken/Denninger, Handbuch, Kap. J Rz. 71 explizit zur Geltung im Polizeirecht. 57

58 Schon Riegel, Datenschutz, I. A., S. 5; AK-PolG-Wagner, vor § 1 Rz. 28; Knemeyer, NVwZ 1988, S. 195; Kowalczyk, S. 65 stellt dies auch für die "Übermittlung" als herrschende Meinung seit dem Erlaß des Volkszählungsurteils fest; vgl. zu denkbaren Grenzfällen AK-GGBu/1, Art 35 Abs. I Rz. 38.

59§ 3 Abs. 4 BDSG; § 4 Abs. 2 Nr. I BlnDSG. 60 Dörr/Schmidt, BDSG, § 3 Rz. 12; Dammann in: S/D/G/M/W, BDSG, § 3 Rz. 108 spricht von aktivem Handeln, das von einem zurechenbaren Willen getragen ist; bereichsspezifisch fürs Polizeirecht Peitsch, ZRP 1992, S. 127; Bäum/er in: Lisken/Denninger, Handbuch, Kap. J Rz. 72 f.

80

Dritter Teil: Verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte

ist indes, ob sie unmittelbar bei dem Betroffenen oder einem Dritten beschafft werden6t. Es fallt auf, daß sich die (erläuternde) Definition des Finalitätskriteriums bedient, das nach herrschendem Grundrechtsverständnis ebensowenig noch Voraussetzung des erweiterten Eingriffsbegriffs ist wie die klassischen Eckwerte Unmittelbarkeit, Rechtsförmlichkeit des Vorgehens mit rechtsregelnder Wirkung und obrigkeitliche Befehls-/Zwangsanordnung bzw. -durchsetzung62. Im Polizeirecht (beispielhaft) komme es sogar entscheidend auf die Zielgerichtetheit der Kenntnisnahme an, denn der Polizeibeamte, der "wachen Auges" durch die Straßen gehe, "erhebe" nicht alle Informationen, deren er gewahr werde, sondern nur diejenigen, die er zum Zwecke der Weiterverwendung bewußt wahrnehme63. Daß die bloße objektive Begründung der Verfügung über Daten (ohne vorherige aktiv-subjektive Elemente) nicht ausreicht, wird bundesdatenschutzrechtlich lediglich gesetzesimmanent aus § 14 I 2 BDSG gefolgert, der fernab der Erhebung "Fälle der Speicherung von Daten und damit eine Verfügung über diese Daten" voraussetze64. Es drängt sich daher die Überlegung auf, ob der Gesetzgeber der grundrechtsdogmatischen Kategorie des dem Gesetzesvorbehalt unterliegenden "Eingriffs" durch die Ausgrenzung nicht-finaler Beschaffung personenbezogener Informationen in verfassungskonformer Weise Rechnung getragen hat. Die Fragestellung berührt eine grundrechtsdogmatische Problematik, die sich insbesondere im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 I GG, der als Auffanggrundrecht praktisch jede nicht spezialgrundrechtlich geschützte Form menschlichen Handeins umfaßt65, irrfolge des ebenfalls konturenlos erweiterten Eingriffsbegriffs stellt: die Abgrenzung der Beeinträchtigung als Eingriff von der Belästigung, die noch nicht eingreift66. Die Schwierigkeiten der doppelten Entgrenzung sind bisher nicht befriedigend gelöst67. Auch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG, wonach der Gesetzgeber in allen grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen hat68, hilft insoweit nicht. Selbst wenn "wesentlich" im grundrechtsrelevanten Bereich "wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte" 69 bedeutet, bleibt 61

Ebenso Bizer, S. 156.

lsensee in: Isensee/Kirchhof, Bd. V, § 111 Rz. 61; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 271. 62

63

Explizit Bäum/er in: Lisken/Denninger, Handbuch, Kap. J Rz. 73.

64

Dammann in: S/D/G/M/W, BDSG, § 3 Rz. 108.

65 Vgl. nur BVerfGE 80, 137 ff, !54- Reiten im Wald-. 66

Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 278, 436.

Erichsen in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI, § 152 Rz. 75 ff 78 ff. 68 Ständige Rspr. , nur beispielhaft BVerfG E 40, 237 ff, 249; 47, 46 ff, 78 f; 49, 89 ff, 126; 58, 257 ff, 268; 61, 260 ff, 275. 67

69 Statt vieler BVerfGE 47, 46 ff, 79.

A. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Grundrecht

81

die Frage, was im Bereich der Grundrechtsausübung wesentlich ist7D. Es ist abstrakt definitorisch nicht klärbar; die Begrifflichkeit bleibt - obwohl strukturbestimmend -vage und ähnelt der Frage, "wieviel Steine einen Haufen bilden "71. Die zweifache Ausweitung zieht also die Notwendigkeit nach sich, neue Begrenzungskriterien zu finden bzw. alte erneut fruchtbar ·zu machen. Restriktionen könnten eingeführt werden über einen sog. Bagatellvorbehalt72, der als letztlich quantitatives Kriterium7J kaum Präzisierungsgewinn bringt oder - erwägenswerter - durch Differenzierung nach der Eigenart der jeweils betroffenen Schutzbereiche, so daß die Eingriffsschwelle nicht für jedes Grundrecht nach denselben Kriterien zu bestimmen wäre74. Für das konturenlose Auffanggrundrecht des Art. 2 I GG könnte als Eingriffsbegrenzungstopos die Finalität nach wie vor unverzichtbar sein, während die im Schutzbereich bereits enger gefaßten Spezialgrundrechte auch bei unbeabsichtigten Folgen staatlichen Handeins zum Zwecke effizienten Rechtsgutschutzes ihre Wirkung entfalten müßten. Dieser sachgerecht anmutende Lösungsversuch läßt sich schon damit begründen und rechtfertigen, daß andernfalls (bei Absehen jeglicher Finalität) schlicht jedes Mitansehen und Ertragen vermeintlich staatlichen Unrechts, ja selbst ein Regierungswechsel75 die freie Entfaltung der Persönlichkeit beeinträchtigen und zur Anrufung der Gerichte (zur justiziellen Überprütbarkeit) führen kann. Die Vertretbarkeil des Ansatzes unterstellt, bleibt die Frage, wie der Eingriff bei den von der Rechtsprechung aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art. 2 I i.V.m. 1 I GG entwickelten Einzelverbürgungen76, bei denen "die tatbestandliehen Voraussetzungen ... enger gezogen werden als diejenigen der allgemeinen Handlungsfreiheit "77, zu fassen ist. Möglicherweise steht das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung der allgemeinen Handlungsfreiheit strukturell näher als den Spezialgrundrechten, da sein Schutzbereich infolge der Rechtsgutspezifik (autonome Selbstdarstellung und -Verwirklichung sowie Entscheidungsfreiheit über die Preisgabe und Verwendung jedweden personenbezogenen Datums einschließlich der Kommunikationspartnerwahl) für den informationeilen Bereich kaum als enger begrenzt aufgefaßt werden kann. Im Ergebnis ist - insofern vergleichbar der allPieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 307. Treffend Schwabe, Grundkurs, S. 24. 72 Bejahend Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 286, wonach mit Beispielen belegte alltägliche Lästigkeilen und subjektive Empfindlichkeilen eingriffslose Bagatellen seien. 73 So die zutreffende Kritik bei lsensee in: Isensee/Kirchhof, Bd. V, § 111 Rz. 66. 70

71

74 In diesem Sinne BVerwGE 71, 183 ff, 192; insgesamt zu den neuen Tendenzen der Begrenzung der kurze Überblick bei lsensee in: Isensee/ Kirchhof, Bd. V, § 111 Rz. 65 ff. 75 Beispiele bei Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 436. 76 Zu den anerkannten Inhalten Beispiele bei Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 431 f; Kunig in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rz 32 ff. 77 BVerfGE 54, 148 ff, 153 - Arzneimittel-Transparenzlisten -.

6 Morenbach

82

Dritter Teil: Verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte

gemeinen Handlungsfreiheit - jede Form menschlichen Informationsverhaltens, sobald und solange es personenbeziehbar ist, geschützt, so daß auch hier die Finalität des Eingriffs begründet zur Begrenzung herangezogen werden könnte und der Gesetzgeber "Erheben" verfassungskonform umschrieben hätte. Faßt man hingegen die Einzelverbürgung der informationeBen Selbstbestimmung als den engeren Tatbestandsvoraussetzungen der Spezialgrundrechte nahestehend auf, ist das Resultat der Begrenzung auf gezielte Maßnahmen kaum noch vertretbar. Der Problernkreis bedarf indes keiner abschließenden Entscheidung, da die informationeHe Zusammenarbeit von Meldebehörde und Polizei ohnehin nicht auf "ungezielten Erhebungen" beruht, "beiläufige Wahrnehmung" insoweit ausscheidet. b) Speichern (Eingabe) ist das Erfassen, Aufnehmen oder Aufbewahren personenbezogener Daten auf einem Datenträger zum Zwecke ihrer weiteren Verarbeitung oder Nutzung?S. c) Übermitteln (Weitergabe) ist das Bekanntwerden gespeicherter oder durch Datenverarbeitung gewonnener personenbezogener Daten an einen Dritten (Empfänger) in der Weise, daß die Daten durch die speichernde Stelle an den Ernpfarrger weitergegeben werden oder der Empfanger von der speichernden Stelle zur Einsicht/zum Abruf bereitgehaltene Daten einsieht/abruft79. Gerade bei dieser "indirekten Informationsbeschaffung" über einen "Mittelsmann"SO verkannten diejenigen, die darin ein geringeres Gefahrdungspotential gegenüber Erhebung/Speicherung sahen (- und deshalb die Eingriffsqualität verneinten, da der Verlust an Privatheit bereits bei Erhebung durch Entfremdung der Information von ihrem Träger eingetreten seiSI -), die recht einfach zu realisierende technische Möglichkeit dysfunktionaler Nutzung von Daten82 infolge beliebiger Kombinierbarkeit durch Weitergabe. Dabei war und ist es keine neue Einsicht, daß die Verknüpfung von Einzelinformationen 78 § 3 Abs. 5 Nr. I BDSG; sachlich identisch, aber ohne "Zwecke" § 4 Abs. 2 Nr. 2 BlnDSG. Die Art des Datenträgers ist gleichgültig. 79 § 3 Abs. 5 Nr. 3 BDSG/sachlich identisch § 4 Abs. 2 Nr. 5 BlnDSG; die Neudefinition der Übermittlung war nach den Praxiserfahrungen notwendig, "um die Übermittlungsregelungen" insbesondere im Daten-online-Verkehr "sinnvoll anwenden zu können", so jedenfalls die Begr. des RegE, abgedruckt in: Auernhammer, BDSG, § 3 Rz. 9, 12. Die alte Regelung, die das Bereithalten als vollendete Übermittlung qualifizierte, hätte sich nach der h.A. faktisch als Verbot des online-Verkehrs ausgewirkt. Riegel, Datenschutz, 2. A., S. 137, 145 sieht deshalb in der Änderung der Legaldefinition für die Fälle des automatisierten Abrufs zugleich "ein Beispiel für rechtliche Anpassung an technische Sachzwänge bzw. Vorgaben", ablehnend zur Neufassung: Heinzelmann, S. 99 ff; Ringwald in: Beiträge, Bd. 13, S. 243 ff; vgl. näher Vierter Teil, C II 3. 80 Im Gegensatz zur direkten Informationsbeschaffung "bei dem, den es angeht" (dem Betroffenen), Heinz.e/mann, S. 3 f. 81 Vgl. Kniesel!Tegtmeyer!Vahle, Handbuch, Rz. 580.

82

Schon Benda in: FS Geiger, S. 23 ff, 37.

A. Das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung als Grundrecht

83

ein Mehr als die bloße Summe der Einzelteile ist83 und daher durch Zusammenfügen einzelner zu bestimmten Zwecken preisgegebener Daten Informationen entstehen, die der Verfügungsberechtigte so möglicherweise weder abgeben wollte noch mußte (Mosaiktheorie)S4. Auch die sachlich identische, jedoch anders formulierte Argumentationslinie, die Datenübermittlung sei für den Betroffenen schonender, "als wenn in seinem Umfeld die Daten, die die andere Behörde bereits verfügbar hat, erneut erhoben würden - Prinzip der Einfacherhebung und Mehrfachübermittlung-"85, geht im Ergebnis deshalb fehl. Vielmehr eröffnet die direkte Befragung des Bürgers diesem die Chance, die Auskunft zu verweigern, jedenfalls aber - und das ist entscheidend - von dem Bearbeitungsvorgang Kenntnis zu nehmen. Das kann den einzelnen im Ergebnis sogar "weniger belasten als die Beschaffung und Verwertung von Informationen, wo immer man sie vorfindet, ohne daß der Bürger davon erfährt"86. Aber selbst wer das Spezifikum der Datenübermittlung in der Möglichkeit des Ausbrechens aus der Zweckbindung sah und sieht87, erfaßt das erhöhte Gefährdungspotential nur unzureichend, denn der Aspekt der Erweiterung des Empfängerkreises bleibt ausgespart. Das BVerfG hat jedoch nicht nur gefordert Transparenz zu schaffen, WAS wann bei welcher Gelegenheit gewußt wird, sondern gleichberechtigt den personalen Bezugspunkt hervorgehoben, indem es eine mit der informationeilen Selbstbestimmung vereinbare Gesellschafts- und Rechtsordnung nur gewährleistet sieht, wenn klar ist, WER über welches Wissen verfügt88. Das "Wissen möglicher Kommunikationspartner" müsse einigermaßen abschätzbar sein89. Schon lange vor dieser Rechtsprechung war man sich der Problematik bewußt, daß jede Erweiterung des "Kreises der Wissenden"90 einen zusätzlichen Informationseingriff darstellt, denn die eigentliche Bedrohung liege nicht nur darin, daß der einzelne die Verfügung darüber verliere, zu welchen Zwecken er Informationen preisgebe, sondern auch an wen er sie vermittele9t, rsp. an wen sie weitervermittelt werden. Da personenbezogene Daten bei Übermittlung aus dem Bereich der speichernden Stelle in die Einfluß- und Handlungssphäre "Dritter" gelangen, nehme die Schwan, VerwArch 1975. S. 133; ebenso BVerfGE 65, 42. Schmidt, JZ 1974, S. 242 m.w.N. 85 Knieselfregtmeyer!Vahle, Handbuch, Rz. 316. 86 So bereits BfD, Gutachten, Rz. 26, S. 24. 83 84

87 Knieselfregtmeyer/Vahle, Handbuch, Rz. 584. 88 BVerfGE 65, 43 ; die personelle und sachliche Differenzierung sieht im Ergebnis ebenfalls Bizer, S. 263 f, 265 f. 89 BVerfGE 65, 43 . 90 Schwan in: Burhenne/Perband, § 10 Rz. 7; ders. , VerwArch 1975, S. 135. 91 Bereits Benda in: FS Geiger, S. 23 ff, 37.

84

Dritter Teil: Verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte

Verletzbarkeit des Betroffenen schließlich mit wachsendem Verarbeitungsgrad

zun. Zudem wird die lntransparenz der Datenflüsse befördert, da die Über-

mittlung jedenfalls aus Sicht des Datenempfängers meist als ein Akt "heimlicher" Datenerhebung qualifiziert werden kann93. Überlegungen zur geminderten Intensität der Maßnahme sind damit kaum noch begründbar. Daß die hier vertretene Position inhaltlich die Sichtweise des Gerichts widerspiegelt, hat der Zweite Senat in seinem Urteil zum Flick-Ausschuß sowie in späteren Entscheidungen nochmals bestätigend anklingen lassen. Danach bestehen die grundrechtliehen Verbürgungen auch im Hinblick auf die Weitergabe einmal erlangter Daten94, wobei die öffentliche Bekanntmachung als Weitergabe an (potentiell) jedermann sogar die "intensivste Form einer Übermittlung" darstelle95. Die Diskussion um das Gefährdungspotential verdeutlicht jedoch, daß die Eingriffsintensität( -tiefe), die sowohl von der zu beurteilenden informationeilen Maßnahme als auch der Datenart abhängen kann, nach wie vor unterschiedlich zu bewerten ist. Zumindest als Argumentationshilfen wird insoweit auch weiterhin nicht vollständig auf dietopoider Sphärentheorie- wie Privatsphäre, Intimsphäre- verzichtet werden können96. Während die Erhebung von Daten die informationeile Selbstbestimmung tendenziell noch mehr in ihrem Handlungsfreiheitsaspekt nach Art. 2 I GG betrifft, berührt die Verwendung durch Speicherung infolge der verlängerten Verfügungsmöglichkeit und namentlich durch Übermittlung infolge der potentiellen (kontextaufhebenden) Verknüptbarkeit mit anderen Daten sowie des erweiterten Rezipientenkreises, kurz: der erhöhten Mißbrauchsgefahr im Umgang mit personenbezogenen Informationen, primär den von Art. 1 I GG (mit)geschützten Persönlichkeitskern. Insoweit geht es in erster Linie um Wert und Würde der Person, die in freier Selbstbestimmung als Glied einer freien Gesellschaft wirkt, wobei die 92 So schon Simitis im Jahre 1978 in: FS Mallmann, S. 259 ff, 267 f; für die heutige (polizeiliche) Datenverarbeitung Dammann in: S/D/G/M/W, BDSG, § 3 Rz. 151; Bäumler in: Lisken/Denninger, Handbuch, Kap. J Rz. 78. 93 Der Aspekt wird selten so deutlich angesprochen wie von Riegel, Datenschutz, 2. A., S. 109, der neben den "klassischen" heimlichen Maßnahmen (wie V-Mann; Verdeckter Ermittler; etc.) auch die "gewöhnlichen" Datenübermittlungen als solche bezeichnet (z.B. Online-Anschlüsse, Einsichtsrechte, Suchvermerke der Sicherheitsbehörden bei anderen Stellen). Zu dem Ergebnis kann er freilich nur gelangen, indem er den Grundsatz "offener" Erhebung nicht im polizeitechnischen Sinne interpretien. näher dazu Viener Teil, C I 3 b). 94 BVerfGE 67, 100, 142 f: " ... ständige Abrufbarkeil ermöglichen ... demjenigen, der über diese Daten verfügt, ein Wissen ... , das ... in ...Macht über den Betroffenen umschlagen kann". Daher verbürge An. 2 I, I I GG Schutz gegen "unbegrenzte .. .Weitergabe". 95 So e!lplizit der Beschluß des BVerfG v. 24.7.1990 zum Datenschutz im Planfeststellungsverfahren, CR 1990, S. 798 ff, 799. 96 So auch AK-GG-Bull, § 35 Abs. I Rz. 34; wohl ebenfalls Jarass, NJW 1989, S. 859; Weichen in: Computerrechts-Hdb .. Nr. 130 Rz. 29.

A. Das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung als Grundrecht

85

allgemeine Handlungsfreiheit nur das Strukturmodell für das informationeile Selbstbestimmungsrecht liefert97. Entsprechend nennt auch das BVerfG als Maßstäbe für Regelungsinhalt und -dichte Art, Umfang und denkbare Verwendungen der erhobenen Daten sowie die Gefahr ihres Mißbrauchs98. Thematisiert wird die unterschiedliche Sensibilität von Informationsmaßnahme und/oder Datenart aber deutlich - und das ist entscheidend - unter dem Aspekt verhältnismäßiger Rechtfertigung99, nicht als Schutzbereichsausgrenzung und damit Eingriffsverneinungtoo. Dagegen spricht auch nicht der Beschluß des BVerfG zur Verwertbarkeit tagebuchartiger Aufzeichnungen des Beschuldigten im Strafverfahren!Ol, wenn er auch den Grundgedanken der Sphärentheorie aufnimmt: Der Schutzbereich von Art. 2 I i.V.m. 1 I GG verbürge "einen letzten unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung ... , der der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogen" sei. "Selbst schwerwiegende Interessen der Allgemeinheit" könnten "Eingriffe in diesen Bereich nicht rechtfertigen"I02 . Im Schrifttum wird anläßlich dieser Entscheidung bereits die Umkehr der Rechtsprechung des BVerfG zum informationeilen Selbstbestimmungsrecht konstatiert, nur weil das Gericht dieses nicht explizit als solches benannt, sondern lediglich dessen Schutzbereichsbestimmung mit bloßem Hinweis auf die wesentlichen Passagen des Volkszählungsurteils zu Grunde gelegt und im übrigen auf Intimssphäre rekurriert habe103. Die Ansicht verkennt, daß nicht Schutzbereichsausgrenzung durch Heranziehung der Sphärenbegrifflichkeit, sondern Schutzbereichs"vertiefung" um einen abwägungsresistenten Kern - begründet aus der Garantie des Wesensgehalts (Art. 19 II GG) und dem Schutz der Menschenwürde (Art. 1 I GG)I04- das entscheidende Element des Beschlusses ist.

Zu dieser Rangordnung in anderem Zusammenhang auch Gallwas, NJW 1992, S. 2785/6. BVerfGE 65, 46. 99 Vgl. BVerfGE 65, 45 f, 48; schon fliihzeitig Schwan, VerwArch 1975, S. 149 f sowie unten Dritter Teil, A IV 2. 100 Mit den Versuchen Vogelgesangs, insb. S. 162 ff, die Sphärentheorie zur Schutzbereichsbegrenzung zu reaktivieren, hat die im Rahmen der rechtfenigenden Abwägung zu beliicksichtigende unterschiedliche Sensibilität von Daten bzw. die Tatsache der unterschiedlich mißbrauchsgefährdeten Informationsmaßnahmen nichts zu tun. 101 BVerfGE 80, 367 ff. 102 BVerfGE 80, 373 . 103 Roga/1, Informationseingriff, S. 48. 104 BVerfGE 80, 373 f. 97

98

86

Dritter Teil: Verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte 2. Dogmatische Konsequenzen

Im Ergebnis geht es also "nur" noch um die Relation zwischen der Intensität des Eingriffs und dessen verfassungsrechtlicher Rechtfertigung. Diese hat, da das Recht auf informationeile Selbstbestimmung das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I i.V.m. l I GG spezifiziert, der weiteren Systematik der grundrechtliehen Ableitung zu folgen. Danach sind die vom BVerfG im überwiegenden Allgemeininteresse zulässigen BeschränkungenlOS prinzipiell unter dem Vorbehalt einer gesetzlichen Grundlage gestellt, es sei denn, der Betroffene hat in Erhebung und Verarbeitung eingewilligtt06. Es gilt die Schrankentrias des Art. 2 I GG, inbesondere die Schranke der "verfassungsmäßigen Ordnung" im Sinne aller formell und materiell mit der Verfassung in Einklang stehenden Rechtsnormen, wobei die Konfliktlösung - informationeile Selbstbestimmung/überwiegende Allgemeininteressen - (primär) die Aufgabe des demokratisch legitimierten Gesetzgebers istt07. In seiner jüngsten Entscheidung zur Reichweite des Fernmeldegeheimnisses hat das BVerfG nochmals verdeutlicht, daß der Sinn des Gesetzesvorbehalts sich nicht in einer förmlichen Kompetenzverteilung zwischen den Staatsorganen erschöpft: "Wenn das Grundgesetz die Einschränkung von grundrechtliehen Freiheiten und den Ausgleich zwischen kollidierenden Grundrechten dem Parlament vorbehält, so will es damit sichern, daß Entscheidungen von solcher Tragweite aus einem Verfahren hervorgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und die Volksvertretung anhält, Notwendigkeiten und Ausmaß von Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären. Diese Funktion kann der Gesetzesvorbehalt aber nur erfül105 BVerfGE 65, I (Ls. 2), 44, denn der einzelne ist "eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit. Das Grundgesetz hat. .. die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheil und Gemeinschaftsgebundenheil der Person entschieden." 106 Vgl. nur §§ 6 I, 10 I, 111 BlnDSG; inwieweit der Einwilligung verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt sind, ist streitig. Die Problematik wird meist unter dem topos "Grundrechtsverzicht" diskutiert und je nach Grundrechtsgehalt und vertretener Grundrechtsfunktion differenziert beurteilt: Wer die Grundrechte primär als Freiheitsrechte begreift, sieht im Grundrechtsverzicht als Akt der Freiheitsausübung eine Form des Grundrechtsgebrauchs; wer in ihnen - wie das BVerfG - gleichberechtigt Elemente der objektiven Wertordnung für das Gesamtrechtssystem sieht, muß die individuelle Dispositionsbefugnis enger fassen. Aber auch die Befürworter weitgehender Verfügbarkeil konzedieren mit wachsender Nähe des Schutzguts zu Art. I I GG die Notwendigkeit intensiverer Einschränkbarkeil der Verzichtsmöglichkeit, so daß das Recht auf informationelle Selbstbestimmung - entgegen Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 165 - keineswegs unbegrenzt verzichtbar ist; zum ganzen Pietzcker, Der Staat 1978, S. 527 ff m.w.N.; kursorisch Geiger, NVwZ 1989, S. 35 ff. 107 Deutlich bereits BVerfGE 65, I (Ls. 2, Satz 2) u. 44; Schmitt Glaeser in: Isensee/K.irchhof, Bd. VI, § 129 Rz. 103; Gallwas, NJW 1992, S. 2786, der zu Recht darauf hinweist, daß es einzelfallbezogen der Richter ist; a.A. Scholz/Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung, S. 125 ff, die die Verwendung von Informationen in erheblich größerem Umfang der Verwaltung überantworten.

A. Das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung als Grundrecht

87

len, wenn die Ermächtigung zum Freiheitseingriff im Gesetz nicht bloß unausgesprochen vorausgesetzt, sondern ausdrucklieh offengelegt wird"JOS. Den Ausführungen kommt grundsätzliche Bedeutung auch für Eingriffe in das informationeile Selbstbestimmungsrecht außerhalb des Telekommunikationsbereichs zu109. Inhaltlich nehmen sie die Wesentlichkeitsrechtsprechung auf, wonach der Gesetzgeber Eingriffe in Grundrechte Dritter prinzipiell selbst zu regeln hatiiO. Nach Auffassung mancher Autoren unterliegt Datenverarbeitung damit "einem generellen präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt"Ill. Die dogmatische Konsequenz differiert je nach Übermittlungskonstellation. Unter dem Aspekt des Befugnisnormerfordernisses (Eingriffsvorbehalt) sind zwei Fallgruppen zu trennen: - Ist das Ersuchen um Übermittlung selbst bereits mit der Weitergabe personenbezogener Daten verbunden (immer Voraussetzung, wenn andernfalls die Anfrage nicht bearbeitet werden kann, sog. Anfragedaten), ist verfassungsrechtlich die Notwendigkeit "doppelter" Befugnisnormierung gefordert: Sowohl die ersuchende als auch die ersuchte Behörde (beide sind Sender und Empfänger gleichermaßen) benötigen entsprechende Übermittlungsbefugnisnormen, da zweifach in das informationeile Selbstbestimmungsrecht eingegriffen wird. - Ist das Ersuchen um Übermittlung nicht mit der Weitergabe personenbezogener Daten an die ersuchte Behörde (Sender) verbunden, liegt nur ein Eingriff in den Schutzbereich des Rechts auf informationeile Selbstbestimmung vor, nämlich die Beantwortung der Anfrage bzw. die Datenweitergabe durch Übermittlung. Insoweit sind für die ersuchende Behörde (Empfänger) verfassungsrechtlich lediglich im Falle weiterer Verarbeitung der erlangten Daten "Folgeinformationsbefugnisnormen"II2 zur Speicher-, Veränderung oder Nut108

KOM.

BVerfGE 85, 386 ff, 403 f - Fangschaltungen durch die Deutsche Bundespost TELE-

109 Auch der Berliner Datenschutzbeauftragte sieht darin die konsequente Weiterentwicklung der bundesverfassungsgerichtliehen Rechtsprechung seit E 65, 1 ff, DSB Bin, JB 1992, 1.1 , S. 7; zu weitgehend allerdings Weichen in: Computerrechts-Hdb., Nr. 130 Rz. 21 , der daraus für den informationellen Bereich offenbar einen generellen Ausschluß der Delegationsbefugnis folgert, konkretisierende Regelungen auch durch Rechtsverordnung erlassen zu können.

110 Ständige Rspr., siehe die Nachweise in Fn 68; zu den Möglichkeiten, das informationelle Selbstbestimmungsrecht durch Gesetze im materiellen Sinn einzuschränken, im einzelnen Bizer, S. 163 ff; nach BayVerfGHE 40, 7 ff, 11 und BayVerfGH NVwZ 1989, S. 748 f muß nicht jede Datenübermittlung ohne weiteres in allen Einzelheiten gesetzlich geregelt werden. 111 So Weichen in: Computerrechts-Hdb., Nr. 132 Rz. 84. Freilich ist die Rechtsfigur i.e.S. für die hier interessierende Zulässigkeil behördlichen(!) Handeins nicht heranzuziehen.

112 Die hier verwandte Begrifflichkeil entspricht nur scheinbar der Schwans in: VerwArch 1975, S. 129; inhaltlich ist anderes gemeint: Während bei Schwan Begleiteingriff, Informations-

88

Dritter Teil: Verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte

zung gefordert. Gleiches gilt für Fälle, in denen ohne Ersuchen übermittelt wird (Spontanübermittlungen, online-Verfahren). Verfassungsrechtlich ist damit nicht bloße Normierungsduplizität verlangt. Notwendig ist vielmehr ein zwischen und innerhalb der jeweiligen Rechtsmaterien korrelierendes Befugnisnorminstrumentarium zur Vermeidung kontextaufhebender Übermittlungen, um den Schutz der informationellen Selbstbestimmung effizient gewährleisten zu können. Diese Anforderungen verkennt das BVerwG in seiner Entscheidung zur polizeilichen Informationsverarbeitungii3 gleich zweifach: Zwar könne(!) die Beschaffung personenbezogener Daten bei anderen Behörden als Eingriff(!) gewertet werden, als Rechtsgrundlage bedürfe es jedoch nicht zwingend einer(!) polizeilichen Befugnisnorm. Ausreichend für die Datensammlung sei vielmehr die allgemeine polizeiliche Aufgabennorm, die auch dem Bestimmtheitsgrundsatz genüge, denn sie habe "herkömmlicherweise in hinreichend konkreter Form gestattet, ... personenbezogene Daten zu erheben, aufzubewahren und zu verwenden"II4. Solch rein pragmatische Erwägungen, die mittels inkonsistenter Argumentation dogmatisch bereits zutreffend erkannte Anforderungen zum Zwecke der Aufrechterhaltung faktisch bestehenden "Informationsgebarens" überspielen, sind aus den o.a. Gründen verfassungs- und rechtsdogmatisch unhaltbarii5 und verkennen zudem gerade im Polizeibereich die Erweiterung der "herkömmlichen" Aufgaben um die vorbeugende Bekämpfung von Straftatenii6, zu der noch keine konkretisierende Rechtsprechung vorliegt. Die notwendig gewordene "Verrechtlichung" fordert die Legislative somit in besonderem Maße: Der Ansatz des BVerfG verlangt nicht weniger als die bereichsspezifische Vergesetzlichung des staatlichen Umgangs mit persönlichen Daten - ein Ergebnis wie die Vergesetzlichung der besonderen Gewaltoder Sonderechtsverhältnisse (z.B. Schule, Hochschule) oder des Sozial-, Eneingriff und Folgeeingriff Eingriffe in jeweils verschiedene Rechtsgüter bezeichnen (Beispiel: Blutentnahme zur Feststellung des Alkoholspiegels - der Begleiteingriff in die körperliche Unversehnheit dient dem Informationseingriff Blutalkoholfeststellung, der wiederum Voraussetzung des möglichen Folgeeingriffs Bestrafung oder Führerscheinentzug ist), bezeichnen alle hier behandelten Eingriffe ausschließlich solche ins informationeile Selbstbestimmungsrecht. 113 BVerwG NJW 1990, S. 2765 ff u. S. 2768 ff (Polizei); NJW 1990, S. 2761 ff= BVerwG E 84, 375 ff (Verfassungsschutz). 114 BVerwG NJW 1992, S. 2767 zu§ I I ASOG a.F. 115 Ablehnend ebenfalls Simitis/Fuckner, NJW 1990, S. 2713 ff, 2715; Peitsch, Die Polizei 1991 , S. 66 ff, 67; zutreffend die Kritik von Paeffgen, JZ 1991, S. 437 ff, 446; auch Kunig in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rz. 42; Bäumler in: Lisken/Denninger, Handbuch, Kap. J Rz 28, der von "grundrechtsverkehrender Argumentation" (so in Fn 33) des BVerwG spricht. 116 In Berlin § I III ASOG; zur Problematik umfassend monographisch m.w.N.: Weßlau , Vorfeldermittlungen, 1989; näher dazu im Dritten Teil, C III.

A. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Grundrecht

89

ergie- und Umweltrechtstt7. Er ist damit Teil einer größeren Entwicklung, "die den Gesetzgeber in die Pflicht und der Verwaltung von ihrer Macht" nimmt und deshalb zwangsläufig Widerstände hervorrufttts. Jener muß sich aber, "nimmt" er das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung "in seinem substantiellen Gehalt. .. ernst", entgegen der bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung "einzelfallbezogene, wenngleich typisierende Abwägungen und konkrete Zweckbestimmungen für Befugnisnormen abfordern" tt9. Ihm ist in erster Linie unter Berücksichtigung der unter A II 1 herausgearbeiteten Prämissen die Herstellung "praktischer Konkordanz" zwischen dem Interesse des Bürgers, unbehelligt zu bleiben, und den Effizienzinteressen der Verwaltung mit dem Ziel "verhältnismäßige(r)" Zuordnung von Grundrechten und grundrechtsbegrenzenden Rechtsgütern anvertraut, um beide zu möglichst optimaler Wirksamkeit gelangen zu lassent2o. Dabei ist jede Einschränkung stets im Lichte der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts zu sehent2t. Als Frage nach der "Voraussetzungshöhe" ist die Relation zwischen der Intensität des Eingriffs und seiner verfassungsrechtlichen Rechtfertigung im Kern daher nur im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzest22 adäquat bestimmbar, der somit materiell zur entscheidenden verfassungsrechtlichen Kategorie staatlicher Informationstätigkeit wird.

IV. Verbot der Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat Zur verfassungsrechtlichen Begrenzung der grundsätzlich zulässigen gesetzlichen Beschränkung der informationeBen Selbstbestimmung (SchrankenSchranken) hat das BVerfG dem Gesetzgeber daher weitere wesentliche "Rahmengrundsätze"t23 vorgegeben, die - auf unterschiedlichen Stufen - den im

117

Schlink, Der Staat 1986, S. 249; ders., NVwZ 1986, S. 254.

Schlink, NVwZ 1986, S. 254, der zutreffend darauf hinweist, daß solche lgnorierungen auch bei den früheren Vergesetzlichungsverlangen auftraten. 119 So zutreffend Denninger in: Hohmann, Freiheitssicherung, S. 148; damit bewahrheitet sich abermals die bereits 1978 zutreffend geäußerte Erkenntnis Denningers in: Denninger/Lüderssen, S. 309, daß nicht nur der Teufel, sondern auch die Rechtsstaatlichkeil im Detail stecke. 118

120 Vgl. zum "richtigen Bewußtsein" Bult in: Bull, Sicherheit, S. 20; grundlegend Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 317 f.

Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 319 m.w.N. auf die st. Rechtspr. des BVerfG. Zu den strukturellen Problemen seiner Anwenbarkeit im Sicherheitsbereich im weiteren Text, insbesondere Dritter Teil, C III. 123 Schmin Glaeser in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI, § 129 Rz. 103; Kunig spricht von schrankenseiliger Modifikation der bisherigen Dogmatik, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rz. 38. 121

122

90

Dritter Teil: Verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte

Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Grundsatz der Verhältnismäßigkeitt24 spezifizieren\25: Insbesondere sei damit eine "Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken nicht zu vereinbaren" 126. Bedeutung und Tragweite des Datenbevorratungsverbots sind indes nicht einfach zu erfassen. Das BVerfG selbst hat zudem keine differenzierte Stufenzuordnung - Geeignetheit, Erforderlichkeit, Verhältnismäßigkeit i.e.S.( = Zumutbarkeit, Proportionalität) - versucht. Überhaupt hat das Gericht bei der Wahl seiner die Entscheidung prägenden Begrifflichkeil zwar einerseits klar Position bezogen, seinen Standpunkt jedoch kaum ernsthaft verfassungsrechtlich fundiert zu begründen versucht127.

1. Die Wortsinn-Interpretation

Ausgehend vom (engen) Wortsinn "Vorrat", erscheinen Anlage und Betrieb jedweden Registers bereits im Ansatz fraglich, denn semantisch entsprechen die Umschreibungen "einen Vorrat bilden"= "aufbewahren"= "aufstauen" dem Bedeutungsgehalt des Begriffes "speichern"128. Jeder Sammlung ist insofern ein "Hortungseffekt immanent"t29. Gerade die Speicherung ist jedoch eine der wesentlichen (datenschutzrechtlich relevanten) Grundfunktionen des Registerwesens, wie es insbesondere bei Behörden, die öffentliche, beschränkt öffentliche oder behördeninterne Registert3o führen, betrieben wirdt3t. Nach dieser Auslegung wäre somit jede Datenspeicherung immer

124 So die Rspr. des BVerfG und die h.L.; partiell a.A. Kunig, dessen Differenzierungen unter Berücksichtigung der besonderen Freiheitsrechte im Rahmen von Art. 2 I GG aber gerade nicht greifen, vgl.- m.w.N.- Kunig in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rz.24. 125 Bizer leitet das Verbot indes primär aus dem Bestimmtheilsgrundsatz ab, S. 175 ff, berücksichtigt dabei jedoch nicht hinreichend, daß mit der Präzisierung des Verwendungszwecks zumindest eine wesentliche "Bezugsgröße" des Verhältnismäßigkeilsgrundsatzes angesprochen ist, dazu näher Dritter Teil, A V. 126 BVerfGE 65, 46. 127 Vgl. Groß, AÖR 1988, S. 161 ff, 164; Mückenberger, KJ 1984, S. 21 f, der deshalb über die Konsensbreite im Senat spekuliert. 128

Duden, Bd. 8, (Sinn- und sachverwandte Wörter), Stichwort: speichern; vgl. auch Den-

ninger zu den Funktionen des BKA als Zentralstelle, CR 1988, S. 59. 129 Kniesel, ZRP 1987, S. 379.

130 Zur Differenzierung bei Zugrundelegung des Kriteriums "Zugang" vgl. Beiz, Meldegesetz, § I Rz. 39 ff. 131 Baumann,

DVBI. 1984, S. 616 f.

A. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Grundrecht

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unzulässige Vorratshaltung132. Da es aber im Grunde der Sinn jeder Art von Informationsspeicherung - auf Listen, in Karteien, Akten oder Dateien - ist, daß man die Daten für zukünftige Gebrauchsfälle rasch verfügbar, also in diesem Sinne vorrätig hält m, bedarf die (vermeintliche) höchstrichterliche Spezifizierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verfassungskonformer (Nach)Konturierung, wobei sich der Versuch einer Zuordnung zu dessen klassischer Konkretion anbietet.

2. Zuordnung zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

Aufschluß verspricht zunächst die nochmalige Hervorhebung des Entscheidungskontextes: Das BVerfG hat das Datenbevorratungsverbot nicht isoliert postuliert - wie es meist verstanden wird -, sondern dessen Inhalt durch den Zweckbezugt34 schon selbst vorstrukturiert. Die Zweckkonnexität erklärt sich aus der verfassungsrechtlichen Deduktion der Kategorie, denn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird durch die Zweck/Mittel-Relation definiert135. Die Verhältnismäßigkeit läßt sich aber nur als Maßstab anlegen, wenn Bezugsgrößen zum "Anlegen" existieren; nur dann ist die vom Übermaßverbot geforderte "Dosierung der Gegenenergie" möglich.!36 Einige Autoren, die sich um Präzisierung bemühen, scheinen dies -zumindest im Ansatz- berücksichtigen zu wollen: So betreffe das Verbot der Vorratsspeicherung "die Beziehung zwischen Datenspeicherung über einen Bürger und dem hoheitlichen Einschreiten in Bezug auf diesen"t37. Verhindert werden solle schließlich nur, daß personenbezogene Daten "einfach drauflos" und "für alle Fälle" gespeichert werden, ohne daß ein aktueller oder künftiger Bedarfsfall gesetzlich klar umschrieben wäre!38. Die Speicherung soll somit offenbar personell (bestimmter Bürger, gegen den Hoheitsakt ergehen soll) als auch situativ (konkretes Ereignis: Attentat wird erwartet; flüchtiger Bankräuber vor Grenzüber132 So - freilich mit unterschiedlichen Konsequenzen - Vogelgesang, S. 68; Denninger in: Hohmann, Freiheitssicherung, S. 139; Baumann, DVBI. 1984, S. 616 f; Hanleb, DVR 1984,

s. 107. 133

So auch Denninger in: Hohmann, Freiheitssicherung, S. 139.

BVerfGE 65, 46: Danach ist nur eine "Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken" mit der Verfassung unvereinbar. 134

135 So hat das BVerfG (E 65, 66) selbst die Notwendigkeit konkreter, klar definierter Zweckbestimmungen als unabdingbar zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit angesehen. 136 Wagner, DuR 1989, S. 165 ff, 173/4 zu den partiell "nicht normierenden Normen" der Polizeigesetznovellierungsentwürfe, näher dazu noch im Dritten Teil, C III; zur Geltung für den Gesetzgeber: Maunz in: M/D/H/S, GG, Art. 70 Rz. 23; zur Klarheit des Verwendungszwecks Simitis in: FS Mallmann, S. 259 ff, 264. 137

Hanleb, DVR 1984, S. 107. in: Hohmann, Freiheitssicherung, S. 139.

138 Denninger

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Dritter Teil: Verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte

tritt)l39 ausgelöst werden können. Fehle es hingegen an einem konkreten Handlungsanlaß, dürften zur bloßen Verbesserung des Informationshintergrundes für den Fall des späteren Eintritts eines Handlungsanlasses personenbezogene Daten nicht erfaßt werdent40. Unzulässig sei es jedenfalls, wenn rein prophylaktisch personenbezogene Daten eines jeden Bürgers in polizeilichen Dateien festgehalten würden, um für mögliche spätere Straffälligkeit gerüstet zu seint4t. Der personell/situative Begrenzungsversuch stellt zwar durchaus eine zutreffende Ausgangsbasis dar, umfaßt indes nicht alle Aspekte des Vorratsbegriffs und bleibt in der verfassungsrechtlichen Anhindung nebulös. Im Grunde bemüht er lediglich Markierungen, die insbesondere im Rahmen von Prävention (Gefahrenabwehr) wie Repression (Strafverfolgung) als liberalrechtsstaatliche Zugriffsschranken galten und gelten (Störer/konkrete Gefahr bzw. Verdächtiger/Straftatverdacht), bevor über Aufgabenklausel und Befugnisnormierung das Feld vor den Markierungen durch deren partielle Auflösung (Straftatenverhinderung/-hütung und Vorsorge für die Verfolgung künftiger Straftatent42) seine sichere Eingriffsresistenz verlort43. Dabei sind Zugriffsschranken nach höchstrichterlicher Rechtsprechung im Prinzip eine dem Menschenbild des Grundgesetzes inhärente Selbstverständlichkeit, denn der einzelne hat einen Anspruch, ohne eingriffsauslösenden Handlungsanlaß vom Staat "in Ruhe gelassen" zu werdent44. Keinesfalls darf jedermann als potentieller Rechtsbrecher/Störer behandelt werdent45. Das Individuum muß den Staat "durch legales Betragen auf Distanz halten" könnent46. Als Grundmuster der Bürger-Staat-Beziehung gilt insoweit die Vermutung der Redlichkeitt47 zugunsten des einzelnen. Die Verhältnismäßigkeitsuntersuchung verlangt daher im Grunde vor der Relationsprüfung nicht nur, die Legitimität des vom Staat verfolgten Zweckes und die des eingesetzten Mittels zu beleuchtent48, sondern zu eruieren ist gleichermaßen die Legitimität des Handlungsanlasses. 139

140

Beispiele bei Hanleb, DVR 1984, S. 107. Ebd.

141

Vogelgesang, S. 68 f.

142

§ I III ASOG.

143 Grundlegend analysiert in AK-PolG-Wagner, Eint. A Rz. 2 ff und passim; siehe auch Kniesei/Vahle, Polizeiliche lnformationsverarbeitung, Rz. 160, 165 f; näher dazu noch im Dritten Teil, C III. 144 So bereits das BVerfG in seinem Mikrozensusbeschluß E 27, I ff, 6. 145 BVerwGE 26, 169 ff, 170; ausführlich Schwan, DVR 1985, S. 255 ff, 283 ff, 287.

Grimm, NJW 1989, S. 1311. Denninger spricht von der "Vermutung für die Verfassungstreue des Bürgers" und "für seine Rechtstreue": "Dem favor legis entspricht der favor civis, ... ", Leviathan, S. 292 sowie ders. in: Lisken/Denninger, Handbuch, Kap. E Rz. 163; ähnlich Schneider, P. , Recht und Macht, S. 246. 146 147

A. Das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung als Grundrecht

93

Daß dieses den Gesamtcharakter der Maßnahme prägende Moment herkömmlich keine eigenständige Bezugsgröße ist, liegt an deren "versteckter Integration" in der üblichen dreistufigen Konkretion. a) Geeignetheit

Eine Maßnahme ist geeignet, wenn sie zur beabsichtigten Erfolgserzielung tauglich istl49. Erst dann ist sie Mittel im eigentlichen Sinne. Bezogen auf die zu analysierenden Informationseingriffe stellt das Kriterium der Geeignetheit also auf eine funktionale Bindung zwischen Informationsmaßnahme und gesetztem Zweck abt5o. Da jedoch die Maßnahme der Datenerhebung nicht isoliert werden kann von den betroffenen Informationsträgem, denen die Daten abverlangt werden, fließen die notwendigen personell/situativen Beurteilungsmaßstäbe i.d.R. über den Mittel"adressaten" bzw. - allgemeiner formuliert über den zu beurteilenden Lebenssachverhalt (Sozialkontext) in die Bewertung der Zwecktauglichkeit ebenso ein wie in die Suche nach milderen Maßnahmen im Rahmen der ErforderlichkeiL Ohne Einbeziehung der durch den Lebenssachverhalt vorgegebenen "Koordinaten" ist die Relation nicht bestimmbar. Wird also die unzulässige Vorratshaltung durch die fehlende Beziehung zwischen der Erhebung/-Speicherung personenbezogener Daten eines bestimmten Bürgers und dem hinreichend konkreten Einschreiten in Bezug auf diesen definiert, kann eine Informationsmaßnahme bereits durchaus irrfolge Zweckuntauglichkeit ungeeignet sein. Meist werden die personell/situativen "Handlungsanlässe" bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung von Rechtsnormen aber erst unter dem Erforderlichkeitsaspekt zum Tragen kommen, denn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt zwar für Verwaltung und Gesetzgeber gleichermaßen, jedoch ist die Legislative bei der Frage, welche Zwecke sie verfolgen und welche Mittel sie einsetzen darf, erheblich freier als die Verwaltung (gesetzgeberische Einschätzungsprärogative), da anerkannte Maßstäbe für das Überwiegen des einen oder anderen Zwecks oftmals noch fehlen oder vom Gesetzgeber selbst erst entwickelt werden müssent5l. Das hat zur Folge, daß Zweifel an der Verfassungslegitimität der Zweck/Mittel-Wahl zugunsten des Gesetzgebers gehen. So ist die Frage der Zwecktauglichkeit danach zu beurteilen, ob der Gesetzgeber bei Erlaß einer Norm davon ausgehen konnte, mit deren Hilfe die Erreichung des gesetzten Ziels zu fördern. Seine Prognose muß daher ledig-

Statt vieler Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 318. Staatsrecht, § 10, Rz. 206. 150 Ebenso Kowalczyk, S. 34. 151 Maunz in: M/D/H/S, GG, Art. 70 Rz. 23; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 319, 326. 148

149 Katz,

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Dritter Teil: Verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte

lieh ex ante sachgerecht und vertretbar seint52. Selbst eine Fehlprognose muß nicht zwangsläufig zur Verfassungswidrigkeit führents3. Die Maßnahme muß nur einen Beitrag zum gewünschten Erfolg leisten, das erstrebte Ziel aber nicht voll erreichent54. b) Erforderlichkeil

Ausreichenderfaßt ist der Begriff "Vorrat" damit noch nicht. Er beinhaltet zwei weitere Faktoren, die als Charakteristika von Datensammlungen bezeichnet werden können: Menge und Zeit. Verfassungsdogmatisch sind diese beiden Dimensionen primäriss mit demtoposder "Erforderlichkeit" meßbar, der nach allgemeiner Definition das Kriterium des "schonendsten Eingriffs" zum Gegenstand hat und somit die Zweck/Mittel-Relation an der Prüfung milderer Mittel mit gleich effizienter Erfolgserreichung mißtts6. Erforderlichkeit bedeutet demnach, "daß es keinen anderen Zustand gibt, den der Staat ohne großen Aufwand ebenfalls schaffen kann, der für den Bürger weniger belastend ist und der mit dem Zustand, in dem der verfolgte Zweck als verwirklicht zu betrachten ist, .. .in einem durch bewährte Hypothesen über die Wirklichkeit vermittelten Zusammenhang steht"ts7. Die daran zu beurteilenden Informationseingriffe sind zunächst die Phasen der Erhebung und der Speicherung, da sie erst die Grundlage der weiteren Verwendung (auch der Übermittlung) bilden. Ist eine Norm also - ex ante - geeignet, sind erhobene/gespeicherte "personelle" und "sachliche" Datenmenge sowie der Zeitpunkt konkret-administrativer Umsetzung von der schlichten Informationshintergrundverbesserung abzugrenzen, indem mildere Mittel gleicher Effizienz untersucht werden (Altemativenprüfung)tss. Hinsichtlich der erhobenen/gespeicherten Datenmenge hat sich die Prüfung folglich am zur Vollzugserreichung unabdingbaren Minimumt59 und hinsichtlich des Zeitfaktors an der Unmittelbarkeit administrativer Umsetzung zu orientieren, wobei das möglicherweise auftretende "Vollzugsvakuum" ins Verhältnis zur Effizienz zeitnäherer Erhebung/Speicherung 152

BVerfGE 30, 250 ff, 263.

Maunz in: M/D/H/S, GG, Art. 70, Rz. 23. 154 Vgl. Katz, Staatsrecht,§ 10 Rz. 206 m.w.N. zur st. Verfassungsrechtsprechung. 153

155 Daß ein Einzeldatum aus einer bestimmten Menge sich auch bereits als ungeeignet erweisen kann, ist damit natürlich nicht ausgeschlossen, da die Kriterien der Verhälmismäßigkeit bei komplexen Normen, insbes. solchen mit "Merkmalsketten", mehrfach verschachtelt Anwendung finden können. 156 Katz, Staatsrecht, § 10, Rz. 207. 158

Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 324. So suchte das BVerfG nach "Alternativen zu einer Totalerhebung", E 65, 55 f.

159

BVerfGE 65, 46.

157

A.

Das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung als Grundrecht

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des benötigten Datenpotentials zu setzen ist. Teils wird insoweit von "aktuelle(r) Verarbeitungsnotwendigkeit"160, teils etwas nebulöser vom "Grundsatz der Zeitgebundenheit"161 gesprochen. Jedenfalls ist im Ergebnis das Zeitmoment im Rahmen der Erforderlichkeil der entscheidende Faktor, die möglicherweise fehlende Beziehung zwischen der Datenerhebung über einen bestimmten Bürger und dem hinreichend konkreten hoheitlichen Einschreiten in Bezug auf diesen festzustellen. Die Kriterien gelten für die Übermittlung gleichermaßen. Zudem ist unter dem Aspekt der geringstmöglichen Eingriffsmaßnahme zu beurteilen, ob die Information, die bereits bei anderen Behörden vorhanden ist, bei dieser beschafft werden kann/muß oder ob sie erneut beim Bürger zu erheben ist. c) Verhältnismäßigkeit i.e.S.

Prüfungsgegenstand der "Proportionalität" ist die Einzelfallgüterabwägung, die die durch die jeweilige Eingriffsmaßnahme ausgelösten Nachteile ins Verhältnis zu dem konkret zu schützenden öffentlichen Zweck (Gemeinwohlinteresse) setztl62. Aus der Relation der Intensität des Grundrechtseingriffs und der Wertigkeit des kollidierenden Schutzaspektes ist die Beurteilung der Zumutbarkeit zu gewinnen: Je intensiver der Eingriff, desto höher die Anforderungen an die Bedeutung des zu schützenden Rechtsguts. Dabei muß nach "einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze des Zurnutbaren noch gewahrt" sein163. Für das Verbot der Datensammlung auf Vorrat bedeutet dies, daß der Preis der Rechtsverschaffung - also der Eingriff in das Recht auf informationeile Selbstbestimmung durch Registration einer bestimmten Menge personenbezogener Datentrotz fehlender Unmittelbarkeit ihrer konkret-administrativen Verwendung - nicht im umgekehrten Verhältnis zum Wert des gefährdeten Rechtsgutes steht. In diesem Kontext gewinnt hinsichtlich der Sensibilität der erfaßten Daten der Rückgriff auf das Phasenmodell zur Beurteilung der EiDgriffsintensität aller Informationsmaßnahmen - je nach Empfindlichkeit und

160

104.

Simitis im Zusammenhang mit dem Vorratsverbot, in: Waehler, Kolloquium, S. 87 ff,

Dammann in: S/D/M/R, BDSG, § 9 Rz. 22. Ganz h.M. in Rspr. und Lehre, statt vieler Katz, Staatsrecht, § 10, Rz. 208 m.w.N.; a.A. Pieroth!Schlink, Grundrechte, Rz. 332, die im derartigen Gewichten und Abwägen mangels rational und verbindlich aufweisbarer Maßstäbe die Gefahr sehen, daß kaum mehr als die subjekti· ven Urteile und Vorurteile des Piiifenden zur Geltung gebracht werden und deshalb die Sachdienlichkeil der Verhältnismäßigkeit i.e.S. als eigenständige Piiifungsstufe bezweifeln; grundlegend Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 127 ff. 163 BVerfGE 78, 77 ff, 85. 161

162

96

Dritter Teil: Verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte

Schutzbedürfnis der Datenart: Intim-, Sozialbezug, etc. -nochmals an Bedeutungt64.

V. Der Zweckbindungsgrundsatz Das zweite zentrale Postulat des BVerfG ist dogmatisch ebenfalls als Schranken-Schranken-Spezifizierung einzuordnen, betrifft also die verfassungsrechtlichen Grenzen, die für den Gesetzgeber gelten, der den Grundrechtsgebrauch einschränkt. Das Gebot der bereichsspezifisch und präzisen (Verwendungs)Zweckbestimmungt65 sowie der engen und konkreten Zweckbindungt66 - negativ gewendet auch als Verbot der Zweckentfremdung bezeichnett67 -stellt Anforderungen an verschiedene Stufen und Funktionen eines Informationseingriffe regelnden Gesetzes und bündelt dabei mehrere miteinander verwobene Verfassungsprinzipient68. Den notwendigen Beurteilungsmaßstab liefert primär das Gebot der Normenklarheit und -bestimmtheitt69, das selbst wiederum als wesentlicher Faktor zur Realisierung der Rechtssicherheit auf das Rechtsstaatsprinzip rückführbar istt7o. Die untrennbare Querverbindung zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist qua definitionemt7t hergestellt. Eine darüber hinausgehende verfassungsrechtliche Verortung hinsichtlich der zulässigen "Weite" des Zwecks sowie der "Intensität" der Bindung ist bisher nicht erfolgt.

1. Die bereichsspeziftsche und präzise Bestimmung des Zwecks

Allerdings herrscht, seit im Volkszählungsurteil 1983 das Zweckbindungsprinzip explizit als Maßstab für eine zulässige (Weiter)Verwendung personenbezogener Daten gefordert ist, Streit über dessen (einfachrechtliche) Bedeu164 Siehe bereits Dritter Teil, A 111 bezogen auf die verschiedenen Eingriffsmaßnahmen. 165 BVerfGE 65, 46.

BVerfGE 65, I (LS. 3), 47. BVerfGE 65, 46. 168 En detail ausdifferenziert bei Rachor, S. 221 ff: Gewaltenteilung; Transparenz als Säule des Demokratieprinzips; Rechtssicherheit; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; informationeHe Gewaltenteilung innerhalb der Exekutive sowie Nonnenklarheit und -bestimmtheit. 166

167

169 Ähnlich Knieselfregtmeyer/Vahle, Handbuch, Rz. 441; nochmals zwischen Nonnenklarheit und Bestimmtheit differenzierend Bizer, S. 174 ff. 170 Schnapp in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 20 Rz. 25; Katz, Staatsrecht, Rz. 199. 171 Zweck und Mittel dürfen nicht außer Verhältnis zueinander stehen, siehe Dritter Teil, A IV 2.

A. Das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung als Grundrecht

97

tung. Die Auffassungen reichen von der Überzeugung, daß sich der Schutz des Rechts auf informationeile Selbstbestimmung im Rahmen der Verarbeitung, insbesondere bei der Übermittlung, überhaupt nur durch das Mittel durchgehender Zweckbindung der Information realisieren lassem, (das wesentliche "Sicherungsinstrument. .. , mit dem der Betroffene seine Entscheidungsbefugnis über seine Daten ausübt"t73), bis hin zur Ablehnung bereits der diesbezüglichen Prämissen des BVerfG. Die generelle Zweckbindung vergewaltige den Organwaller geistig, da sie eine "angeordnete Bewußtseinsspaltung" des vielfunktional tätigen Beamten bedeutet74. Die Uninformiertheit des Bürgers, nicht zu wissen, wer was wann bei welcher Gelegenheit über ihn wisse, "sei nicht" etwa "beklagenswert, sondern ein wichtiges Motiv, sich mitmenschenfreundlich und nicht betrügerisch zu verhalten" t75. Abgesehen davon, daß die letztgenannte Auffassung die in der Rechtsordnung allenthalben geforderte, nachweisbare sowie verfassungskonforme Rollendifferenzierung (z.B. Entsendung von Interessengruppenvertreter in Kontrollgremien als Sachwalter des Interesses der Allgemeinheitt76; Polizeibeamte im "doppelfunktionalen Einsatz"t77) offenbar nicht zur Kenntnis nehmen will, bedarf die Frage nach den Mindestbedingungen der Zweckbindung rsp. dem Beginn der unzulässigen Schwelle der Zweckentfremdung angesichts ihrer kontextsichemden Schlüsselfunktion der Klärung. Sie hängt entscheidend von der Bestimmung des Zwecks ab, da andernfalls nicht feststellbar ist, an was zu binden ist bzw. von was entfremdet wird. Zwar wird teils kontrovers beurteilt, wie sich der Zweck zur Aufgabenerfüllung verhält, aber auch nur zu sagen, was ein Zweck ist, scheint noch niemandem abschließend gelungent78. In der Literatur ist dieser Aspekt - obwohl denknotwendige Voraussetzung

Dammann, NVwZ 1991, S. 641. Bizer, S. 140 m.w.N. 174 Hanleb, DVR 1984, S. 106. 175 Hanleb, DVR 1984, S. 107, der damit offenbar weder dem Menschenbild noch dem Staatsverständnis des Grundgesetzes folgt (s. dazu bereits Dritter Teil, A li I sowie Driner Teil, A V I d). 176 Das BVerfGE 83, 238 ff, 333 ff verlangt in seinem nordrhein-westfalischen Rundfunkurteil zur Sicherung der Meinungsvielfalt im Rundfunk ein aus den maßgeblichen gesellschaftlichen Interessengruppen zusammengesetztes Kontrollgremium, das trotz der Partikularinteressenverbundenheit seiner Mitglieder "Sachwalter des Interesses der Allgemeinheit" ist. Das Gericht erkennt in diesem Zusammenhang ausdrucklich, daß "das gewählte Rekrutierungsprinzip und die auferlegten Amtspflichten ... tendenziell in Widerspruch" stehen und "von den Personen, die als Vertreter ihrer Interessenverbände" Pluralität sichern müssen, eine unverzichtbare und "schwierige Rollendifferenzierung verlangt" wird. 177 Jendro, S. 152 spricht nicht zu Unrecht vom Polizisten als "gespaltene(r) Persönlichkeit", die ihm "von der Anlage seiner Befugnisse her abverlangt" wird. 178 Heinzelmann, S. 115 (Fn 131); Kathke, S. 57. 172 173

7 Morenbach

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Dritter Teil: Verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte

der Bindung - explizit nur selten179 oder nebulös ("Zwecke" sind "schillernd"l80) behandelt. Implizit lassen sich den zahlreichen Ausführungen zum Zweckbindungsgebot/-entfremdungsverbot allerdings die jeweils zu Grunde liegenden Positionen - wenn auch nicht immer widerspruchsfrei - zumindest in ihrer Tendenz entnehmen. Einigkeit wird allenfalls insoweit konstatiert werden können, daß der bloße "Zweck als Hilfsmittel zur Normauslegung", d.h. das nicht in, sondern hinter der Norm liegende gesetzgeberische und zur Interpretation heranzuziehende Ziel nicht ausreicht, um der Bestimmung des Zwecks i.S.d. BVerfG Rechnung zu tragenl81. Dieser Konsens sollte bereits deshalb unterstellt werden können, weil die Argumentation aus dem Zweck einer Norm nicht selten "zur Rechtssatzkorrektur" dient, "die die Möglichkeit zu einem freieren Umgang mit dem Normtext" eröffnetl82, was der Bemühung des BVerfG um Limitation tendenziell zuwiderläuft. Nur wenig unterhalb dieser Auslegungsregel beginnen jedoch die Versuche, den Zweck für Erhebung/Speicherung/Übermittlung von personenbezogenen Daten zu bestimmen. Die Systematisierung der Stellungnahmen, die eine Annäherung an das bisher in seinen Grenzen nicht abschließend geklärte Kriterium versuchen, mündet im wesentlichen in drei vertretene Ansätze:

a) Der funktionale Zweckverbund Rhetorisch geschickt übernehmen einige Autoren die Begrifflichkeit der entscheidenden Aussagen des BVerfG vollständig und bejahen sie zunächst abstrakt "ohne Abstriche". Das Gebot der strikten Zweckbindung erkennen sie verbal ebenso an wie sie die öffentliche Verwaltung als generelle "Informationseinheit" ablehnenl83. Unter Rückgriff auf den im Datenschutzrecht entwickelten funktionalen Behörden- bzw. Stellenbegriffi84, der in Abgren-

179 Erstmalig wagt ein Wirtschaftsinformatiker einen ernsthaften Versuch sich aus systemtheoretischer Sicht der Datenschutzgeeignetheil von Zwecken mit dem Ziel anzunähern. Informatikern Transformationsvorschläge für rechnerunterstützte Informationssysteme zu unterbreiten, Ho.ffmann, B., S. 28 ff, 127 ff. Eine verfassungsrechtliche Fundierung läßt er aber nur in Ansätzen erkennen. 180 Kniesel!Tegtmeyer/Vahle, Handbuch, Rz. 584. 181 Insgesamt zur "Bedeutung von Zweckbestimmungen in der Gesetzgebung der Bundesrepublik": Höger, 1976; allgemein zur Auslegung von Gesetzen im Hinblick auf ihre Zwecke Larenz, Methodenlehre, Kap. 4, 2 c) u. d), S. 313 ff. 182 So Haverkate, Rechtsfragen, S. 120; natürlich kann teleologische Auslegung auch restriktiv sein, jedoch widersprechen bereits die Möglichkeiten extensiver Interpretation den Präzisionsanforderungen des BVerfG. 183 Scholz/Pitschas, AÖR 1985, S. 509; dies. , Informationelle Selbstbestimmung, S. 122. 184 Ordemann!Schomerus, BDSG, § 2 Rz.3; Dammann in: S/0/M/R, BDSG, § 7 Rz. 19 ff.

A. Das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung als Grundrecht

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zung zum organisatorischen BehördenbegriffiSS dem Schutz personenbezogener Daten durch größere informationeile Parzeliierung Rechnung tragen soll, wird als "gesetzlose" Rechtfertigung der Weitergabe sodann auf einen "Grundsatz der Zweckidentität und Funktionsgleichheit" abgestellt186, dogmatisch nach dieser Auffassung somit die Eingriffsqualität verneint. Die Weitergabe von Informationen an alle Behörden und Stellen sei zulässig, "soweit diese die Informationen zur Erfüllung derselben Verwaltungsaufgabe oder doch einer im wesentlichen zweckgleichen Verwaltungsaufgabe benötigen" 187. Auch divergierende, vom Gesetzgeber festgelegte Zuständigkeiten unterschiedlicher Hoheitsträger können eine so verstandene Informationseinheit bilden, sofern sie in der "Grundaufgabe" miteinander verbunden oder verwandt seienl88 bzw. "soweit die einzelnen Befugnisse und Berechtigungen jedenfalls in ihrer Zusammenordnung zu einem gemeinsamen Wirkungszusammenhang auf dasselbe "Grundvorhaben"" bezogen bliebenl89. Beispielhaft bestimmt wird der "einheitliche Handlungszweck" etwa durch "Rechtssicherheit", "soziale Sicherung"190, dem "Grundrecht auf Sicherheit"I9I, der "polizeiliche(n) Informationsverarbeitung"l92 oder dem mit "verfassungsrechtliche(r) Legitimation" versehenen "materiellen" Schutzgut "der Verwaltungseffizienz" 193. Der Irrtum der skizzierten Auffassung besteht im Ergebnis in der Negation der Eingriffsqualität jeglicher Datenübermittlungen nach Bejahung einer "verwandten Grundaufgabe". Die Autoren verkennen, daß Empfanger- und Zweckidentität kumulativ vorliegen müssen, um auf das Erfordernis des Gesetzesvorbehalts bei Weitergabe verzichten zu könnenl94. Zudem ignoriert der Versuch, über die "Uferlosigkeit" der Zweckbestimmung, die letztlich im bonum communel95 kulminiert und den Staat in seiner Abstraktion zur potentiel185 Dazu allgemein Rudolf in: Erichsen/Martens, Allg. VerwR, §56 111, Rz. 28 ff, S. 706 ff; zu den traditionell (unterschiedlichen) Behördenbegriffen, Woljf/Bachof, VerwR II, § 76 I, s. 81 ff. 186 Scholz/Pitschas, AÖR 1985, S. 511; dies. , Informationellle Selbstbestimmung, S. 122.

Informationelle Selbstbestimmung, S. 119, 121. Dies., AÖR 1985, S. 511; ähnlich Kubica!Leineweber, NJW 1984, S. 2071, die immerhin bereits eine gesetzliche Grundlage fordern, wenn die sachlichen Zuständigkeiten der übermittelnden und der empfangenden Stelle auseinanderfallen. 189 Scholz!Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung, S. 122 f 190Ebd.; dies., AÖR 1985, S. 511. 191 Scholz/Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung, S. 123; zur juristischen Gestalt dieses "Grundrechts" insbes. Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, S. 34 ff; aber auch Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 121 ff. 192 Scho/z, der kriminaHst 1988, S. 55. 193 Scholz/Pitschas, AÖR 1985, S. 527. 194 Vgl. oben Dritter Teil, A III I c). 195 Schlink, NVwZ 1986, S. 255. 187 Dies., 188

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Dritter Teil: Verfassungsrechtliche und dogmatische Aspekte

len Entgegennahme jedweder personenbezogener Information für berechtigt hält, daß "durch die Brille des Betroffenen" gesehen immer nur die zuständige rsp. konkret befaßte Organisationseinheit ( - praktisch die Abteilung, der der Sachbearbeiter angehört - ) "den Staat" verkörperti96. Zweckbestimmung und -bindung verfehlen dabei ihren Sinn, je höher die Abstraktionsstufe des Zwecks isti97. Insbesondere wird die ursprüngliche Intention des funktionalen Stellenbegriffs, Datenverfügungsgewalt zu parzellieren, mittels der Punktionseinheit in ihr Gegenteil verkehrt, indem sie sich in Erweiterung der organisationsrechtlichen Behördengrenze und der vom Gesetzgeber festgelegten Zuständigkeiten unterschiedlicher Hoheitsträger an den Möglichkeiten eines "Zweckverbundes" orientierti98, der sodann lediglich eine andere als die zuvor in Übereinstimmung mit dem BVerfG abgelehnte Informationseinheit konstituiert, innerhalb derer es keiner gesetzlichen Grundlage für die Übermittlung bedarf, da eine solche mangels Zweckentfremdung qua definitionem (kein Eingriff) nicht vorliegt. So wird beispielsweise von der vorgeschlagenen Zweckbestimmung "Sicherheit" allenfalls die Daseinsvorsorge ausgeklammert werden können -und selbst das ist nicht zwingend. Denn "Sicherheit" ist kein juristisch konturierter und handhabbarer Begriff. Wer- wie beispielsweise der Berliner Polizeivizepräsident - fordert, daß Sicherheit vor Datenschutz gehen muß, fordert in Wirklichkeit, daß das Recht einer Politik der (inneren) Sicherheit zu weichen hati99. b) Die Sackzuständigkeit der Gesamtbehörde

Gegenüber dem ressortübergreifend-funktionalen Ansatz stellt die Auffassung, eine Zweckbindung nur dann als sinnvoll anzusehen, wenn der Zweck auf die Gesamtaufgabenstellung der Institution bezogen werde, welche die Daten erhalten habe2oo, den Versuch einer Eingrenzung dar. Allen darüber hinausgehenden Forderungen nach massenhafter bereichsspezifischer Detailregelung könne hingegen nicht nachgekommen werden; mit solchem Ansinnen werde die Funktionsfähigkeit öffentlicher Verwaltung lahmgelegt und zudem der Grundsatz der Gewaltenteilung verletzt20I.

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Kniesel/Tegtmeyer!Vahle, Handbuch, Rz. 444.

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Rachor, S. 238.

Scholz/Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung, S. 119, 121. So Backes, KritV 1986, S. 315 ff, 339. 200 Hartleb, DVR 1984, S. 104. 201 Hartleb, DVR 1984, S. 105. 198

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Zu vergleichbaren Ergebnissen gelangen diejenigen, die den Zweck mit der sachlichen Zuständigkeit gleichsetzenzoz, wenn auch diese Zweckbestimmung partiell enger ausf