Die Hinterziehung rechtswidriger Steuern durch Fristerschleichung: Zugleich ein Beitrag zur Dogmatisierung der Steuerhinterziehung [1 ed.] 9783428545513, 9783428145515

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Die Hinterziehung rechtswidriger Steuern durch Fristerschleichung: Zugleich ein Beitrag zur Dogmatisierung der Steuerhinterziehung [1 ed.]
 9783428545513, 9783428145515

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Schriften zum Steuerrecht Band 121

Die Hinterziehung rechtswidriger Steuern durch Fristerschleichung Zugleich ein Beitrag zur Dogmatisierung der Steuerhinterziehung

Von Marcel Lemmer

Duncker & Humblot · Berlin

MARCEL LEMMER

Die Hinterziehung rechtswidriger Steuern durch Fristerschleichung

S c h r i f t e n z u m St e u e r r e c ht Band 121

Die Hinterziehung rechtswidriger Steuern durch Fristerschleichung Zugleich ein Beitrag zur Dogmatisierung der Steuerhinterziehung

Von Marcel Lemmer

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat diese Arbeit im Sommersemester 2014 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: Buch Bücher de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0235 ISBN 978-3-428-14551-5 (Print) ISBN 978-3-428-54551-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-84551-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

„On the next turn, he nearly had him. But again the fish righted himself and swam slowly away. You are killing me, fish, the old man thought. But you have a right to. Never have I seen a greater, or more beautiful, or a calmer or more noble thing than you, brother. Come on and kill me. I do not care who kills who.“ Ernest Hemingway, The Old Man and the Sea

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Sommersemester 2014 als Dissertation angenommen. An dieser Stelle möchte ich mich bei meinem Doktorvater und akademischen Lehrer Herrn Prof. Dr. Jan Zopfs für die jahrelange Förderung in mannigfaltiger Weise bedanken, die er mir als Student, Hilfskraft und später als Wissenschaftlicher Mitarbeiter zukommen ließ. Er hat die wesentlichen Rahmenbedingungen zum Gelingen des vorliegenden Werkes zurechenbar gesetzt und stand mir bei dem dafür notwendigen „Blick über den strafrechtlichen Tellerrand“ stets zur Seite. Herrn Prof. Dr. Hanno Kube, LL. M. gebührt für den mir gewährten steuerrechtlichen „Flankenschutz“ und die Erstellung des Zweitgutachtens ebenfalls besonderer Dank. Ferner zeichnen sich für das Gelingen der vorliegenden Arbeit weitere Personen verantwortlich, denen ich nicht minder Dank schulde: Herrn Privatdozent Dr. Jörg Scheinfeld und meinem ehemaligen Lehrstuhlkollegen Herrn Rechtsanwalt Dr. Sven Henseler für die vielen fachlichen Gespräche, meinem Freund und Seilschaftskameraden Herrn Regierungsrat Matthias Doetsch für die Unterstützung in steuerrechtlicher Hinsicht und meiner Freundin Frau Sarah Bonneik für die persönliche Unterstützung und die fast schon grenzenlose Nachsicht. Sie alle haben die Arbeit zu dem gemacht, was sie heute ist. Schließlich möchte ich mich bei meiner Mutter bedanken – für alles. Ihr ist diese Arbeit aus tiefster Dankbarkeit gewidmet. Wiesbaden, im Herbst 2014

Marcel Lemmer

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

1. Teil



Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 16 1. Abschnitt



Die Verfahrensabschnitte im Steuerrecht 17

A. Das Ermittlungs- und Festsetzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I. Das Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1. Der Beginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2. Die Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3. Die Beweislast im Steuerverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 4. Das Ermittlungsverfahren aufgrund einer unrichtigen Steuererklärung . . . . 27 II. Das Festsetzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1. Die endgültige und vorbehaltsversehene Steuerfestsetzung . . . . . . . . . . . . . 31 2. Die behördliche Veranlagung und Steueranmeldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 a) Die Veranlagungssteuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 aa) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 bb) Die Bekanntgabe des Steuerbescheides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 cc) Der Streit um die Bekanntgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 b) Die Anmeldungssteuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3. Die steuerliche Wirkung einer zu hohen – unrichtigen – Steuerfestsetzung . 40 a) Der Rechtsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 aa) Materielle Rechtsgrundtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 bb) Formelle Rechtsgrundtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 b) Die Regelungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 c) Auswirkungen auf die Fälle der „Fristerschleichung“ . . . . . . . . . . . . . . . 47 B. Das Erhebungs- und Vollstreckungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 I. Das Erhebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 II. Das Vollstreckungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

8

Inhaltsverzeichnis 2. Abschnitt



Die Änderung einer endgültigen Steuerfestsetzung 52

A. Die Bestandskraft von Steuerbescheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 I. Formelle Bestandskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 1. Die Wirkung der formellen Bestandskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2. Durchbrechung der formellen Bestandskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 II. Materielle Bestandskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1. Die Wirkung der materiellen Bestandskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 b) Bindung der Strafgerichte an den bestandskräftigen Steuerbescheid? . . . 56 aa) Die typischen Fälle der Steuerhinterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 bb) Die Fälle der „Fristerschleichung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 (1) Die atypischen Fälle der Steuerhinterziehung . . . . . . . . . . . . . . . 65 (2) Die anerkannten Abweichungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2. Durchbrechung der materiellen Bestandskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 B. Die Aufhebung und Änderung durch das Einspruchsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 I. Reichweite des Einspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 II. Der rechtzeitige Einspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 1. Einspruchsfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 C. Die Aufhebung und Änderung innerhalb des Festsetzungsverfahrens . . . . . . . . . . . . 81 I. Sinn und Zweck der Änderungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 II. Die allgemeinen Änderungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 III. Die besonderen Änderungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 1. Korrektur gemäß § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2a) AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2. Korrektur gemäß § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2c) AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 a) Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 b) Die „Fristerschleichung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 aa) Der Grundfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 bb) Die „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3. Korrektur gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 a) Das nachträgliche Bekanntwerden von Tatsachen oder Beweismitteln . . 94 b) Das Führen zu einer niedrigeren Steuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 c) Kein grobes Verschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 aa) Verstoß gegen Mitwirkungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 bb) Grobe Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 (1) Das Vergessen von Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 (2) Die sonstigen Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

Inhaltsverzeichnis

9

cc) Unbeachtlichkeit des groben Verschuldens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 dd) Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 d) Die „Fristerschleichung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 aa) Der Grundfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 bb) Die „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 IV. Berichtigung offenbarer Unrichtigkeiten gemäß § 129 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 D. Erlass aus Billigkeitsgründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 I. Die sachliche Unbilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 II. Die persönliche Unbilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 E. Die „Fristerschleichung“ aufgrund vergessener Minderungsgründe  – steuerliche Ausgangslage (bisheriges Ergebnis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

3. Abschnitt

Weitere Anlässe zur Begehung einer „Fristerschleichung“ 122

A. Schuldhaftes Verstreichenlassen der Einspruchsfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 B. Die „Fristerschleichung“ im finanzgerichtlichen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 I. Identische Fallgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 II. Präklusion gemäß §§ 76 Abs. 3, 79b Abs. 3 FGO i. V. m. § 364b AO . . . . . . . . . 127 III. Nachträgliche Änderung der durch die „Fristerschleichung“ hervorgerufenen Steuerrechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1. Der Grundfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Die „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 IV. OLG Hamm v. 14.10.2008 – 4 Ss 345/08 (steuerrechtliche Seite) . . . . . . . . . . . 134

2. Teil



Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“

138

1. Abschnitt

Der strafrechtliche Charakter der Steuerhinterziehung 139

A. Das Rechtsgut der Steuerhinterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 I. Die Funktionsweisen des Rechtsguts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1. Der systemkritische Rechtsgutsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2. Der methodologische Rechtsgutsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 II. Die Steuerhinterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. Der „Steuerbetrug“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2. Das Meinungsspektrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

10

Inhaltsverzeichnis a) Die überwiegende Ansicht in Rechtsprechung und Lehre . . . . . . . . . . . . 152 aa) Die Herleitung der heutigen Ansicht – zugleich: Abgrenzung von den Tatobjekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 bb) Das Steueraufkommen als konkreter Vermögensbestandteil . . . . . . . 159 b) Schutz von Offenbarungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 c) Sonstige Rechtsgutsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 3. Der überzeugende Rechtsgutsansatz der Rechtsprechung und herrschenden Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

B. Deliktsnatur der Steuerhinterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 I. Erfolgsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 II. Gefährdungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 1. Verletzung oder Gefährdung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2. Abstrakte oder konkrete Gefahr? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 a) Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 b) Unberechtigte Systemkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 3. Folgen für die Tatbestandsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 a) Allgemeine Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 b) Konsequenzen für die Steuerhinterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 aa) Objektiver Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 bb) Subjektiver Tatbestand  – zugleich: Ist die Steuerhinterziehung ein Blankett? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 (1) Keine überschießende Innentendenz, sondern Vorsatz bezüglich der gefährlichen Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 (2) Richtigkeit der Steueranspruchstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 (3) Ist die Steuerhinterziehung ein Blankett? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 (4) Die Steueranspruchstheorie und das Kompensationsverbot . . . . 216 cc) Exkurs: Steuerhinterziehung trotz geleisteter Steueranrechnungsbeträge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

2. Abschnitt

Rechtsgutsbeeinträchtigung durch „Fristerschleichung“ 223

A. Die Unbeachtlichkeit der Erfolgseinordnung – zugleich: Das Meinungsspektrum der „Fristerschleichung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 I. Die „Fristerschleichung“ als unproblematischer Fall der Vorteilserlangung? . . . 224 II. Lösung über BGHSt 53, S. 99? (Schützeberg und Weidemann) . . . . . . . . . . . . . 226 III. Die übrigen Ansichten zur „Fristerschleichung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 1. Rolletschke und Weyand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 2. Joecks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Inhaltsverzeichnis

11

3. OLG Hamm v. 14.10.2008 – 4 Ss 345/08 (steuerstrafrechtliche Seite) . . . . . 232 a) Die Entscheidungen zur „Fristerschleichung“ (AG Münster, LG Münster, OLG Hamm) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 b) Die Auseinandersetzung mit den von den Strafgerichten vorgebrachten Argumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 aa) Keine steuerlich erheblichen Tatsachen und kein steuerrechtlicher Vorteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 bb) Die „Fristerschleichung“ als artverwandter Fall des Prozessbetruges 236 (1) Der „atypische“ Prozessbetrug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 (2) BayObLG v. 28.11.1989 – RReg 4 St 188/89 und RGSt 20, S. 56 240 (3) Schlussfolgerung für die „Fristerschleichung“ . . . . . . . . . . . . . . 246 cc) BGH v. 08.03.1983 – 5 StR 7/83 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 B. Steuern im Sinne des § 3 Abs. 1 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 I. Geldleistung zur staatlichen Einnahmeerzielung auferlegt . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 1. Staatliche Einnahmeerzielung durch Unteilbarkeit der Steuerforderung . . . . 248 a) Der Wandel von der rechtswidrigen zur einheitlich bestandskräftigen Steuerforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 b) Unbeachtlichkeit der Rechtsgrundtheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 2. Auferlegt von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen . . . . . . . . . . . . . . 253 3. Kein unmittelbarer Sanktionscharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 II. Entstehung der Leistungspflicht durch Tatbestandserfüllung . . . . . . . . . . . . . . . 257 1. Die Fälle der „Fristerschleichung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 2. Tatbestandsmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung  – keine die Steuer begründenden Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 3. Verfassungsrechtliche Überlegungen zu den Wirkungen der Bestandskraft . 263 a) Vorrang des Rechtsschutzes durch die Fachgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . 264 b) Der Rechtsgedanke des § 79 BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 c) Die logischen Folgen – ius viligantibus scriptum est . . . . . . . . . . . . . . . . 269 III. Das steuerrechtliche Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 C. Die Wirkungen für die Steuerhinterziehung – Übertragung der steuerrechtlichen Ergebnisse auf das Rechtsgut der Steuerhinterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 I. Kein entgegenstehender Wille des Gesetzgebers (historische Auslegung) . . . . . 272 1. Das Bedürfnis zu einer Klarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 2. Keine Äußerung des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 3. Schlussfolgerungen für die historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 II. Die Fälle der „Fristerschleichung“  – Steuerhinterziehung ohne gesetzlichen Steueranspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 1. Nochmals zu den typischen Fällen der Steuerhinterziehung . . . . . . . . . . . . . 277 2. Die „Fristerschleichung“ als ungerechtfertigter Steuervorteil . . . . . . . . . . . . 279

12

Inhaltsverzeichnis a) Die Abgrenzung der Steuerverkürzung von der ungerechtfertigten Vorteils­ erlangung und die scheinbaren Folgen für die „Fristerschleichung“ . . . . 280 b) Die Unbeachtlichkeit des materiellen Steueranspruchs für den Erfolg der ungerechtfertigten Vorteilserlangung – BGHSt 40, S. 109 . . . . . . . . . . . . 283 3. Die strafrechtsdogmatische Herleitung  – die Gestaltungswirkung als das maßgebliche Abweichungsverbot in den Fällen der „Fristerschleichung“ . . . 285

3. Abschnitt

Die Subsumtion der „Fristerschleichung“ unter den Tatbestand der Steuerhinterziehung – zugleich: Zusammenfassung der Ergebnisse 288

A. Die Tathandlung des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 I. Das Machen unrichtiger oder unvollständiger Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen gegenüber einer Finanzbehörde oder einer anderen Behörde . . 290 1. Das Machen unrichtiger oder unvollständiger Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 2. Das Angabenmachen gegenüber der Finanzbehörde oder einer anderen Behörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 II. Das unrichtige oder unvollständige Angabenmachen in den Fällen der „Fristerschleichung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 1. Der Grundfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 2. Die „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 B. Die Erlangung eines ungerechtfertigten Steuervorteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 I. Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 II. Erfolgseintritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 1. Der Grundfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 2. Die „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 3. Keine Änderung der Steuerfestsetzung erforderlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 C. Ursachen- und Zurechnungszusammenhang zwischen Tathandlung und Taterfolg . 304 I. Allgemein zum Erfordernis eines Ursachen- und Zurechnungszusammenhangs 304 II. Die Fälle der „Fristerschleichung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 D. Tatvorsatz und kein Verbotsirrtum in den Fällen der „Fristerschleichung“ . . . . . . . . 307 E. Endergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

Einleitung Das Steuerstrafrecht ist seit einigen Jahren in aller Munde.1 Dafür sorgten mehrere aufsehenerregende Strafverfahren, die meist mit dem „Kauf“ eines elektronischen Datensatzes, ursprünglich aus dem Hause eines ausländischen Kreditinstitutes, ihren Anfang nahmen.2 Weiter befeuert wurde die öffentliche Diskussion ferner mit zahlreichen Entscheidungen des seit Juni 2008 für diesen Bereich ausschließlich zuständigen 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs. Seine Urteile zur Strafzumessung in Steuerstrafsachen und zur Selbstanzeige sprechen eine klare Sprache – in ­Zeiten knapper Haushalte, Finanzkrisen und drohender Staatspleiten wird auch der Ton gegenüber Steuerhinterziehern deutlich rauer!3 Im Gegensatz zu dem öffentlichen Bewusstsein, in welches das Steuerstrafrecht unzweifelhaft gerückt ist, scheint sich die Strafrechtswissenschaft – von Vorreitern abgesehen4  – mit dieser Disziplin nur langsam anzufreunden. Denn wer glaubt, dem steuerstrafrechtlichen Tagesgeschehen steht eine gefestigte und um eine einheitliche Dogmatik bemühte Strafrechtswissenschaft gegenüber, der irrt. Nach den Gründen muss nicht lange gesucht werden. Das Steuerstrafrecht – allen voran der Tatbestand der Steuerhinterziehung – ist vollständig getränkt mit dem Steuerrecht. Man wird wohl konstatieren müssen, dass kaum eine andere Strafrechtsdisziplin so von einer außerstrafrechtlichen Rechtsmaterie abhängig ist, geradezu in ihr lebt und aufgeht, wie das Steuerstrafrecht. Es kommt daher nicht selten vor, dass sich strafrechtliche Probleme und ihr Lösungsansatz erst aus einem genauen Blick auf die Steuerrechtslage ergeben. Erst nachdem dieser getan ist, kann die Strafrechtswissenschaft ihre Arbeit aufnehmen und sich ihrem ureigensten Topos widmen: Liegt einer Tatbestandsverwirklichung wirklich eine Sozialschädlichkeit und somit überhaupt ein strafwürdiges Verhalten zugrunde? Diesem Brückenschlag vom Steuerrecht zum Strafrecht widmet sich die vorlie­ gende Arbeit. Sie versucht das erst kürzlich in einer letztinstanzlichen Entschei­dung des Oberlandesgerichts Hamm aufgeworfene Problem der „Fristerschleichung“ zu 1

Vgl. zu dieser Einschätzung auch Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, Vorwort zur 7. Aufl. Zur „Liechtenstein-Steueraffäre“ siehe insbesondere das Urteil des LG Bochum v. 26.01.2009 – 12 KLs 350 Js 1/08 (Fall Zumwinkel); BVerfG v. 09.11.2010 – 2 BvR 2101/09; aus der Literatur Hilgers-Klautzsch, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 385 Rn. 608 ff. 3 Siehe allein zur Strafzumessung das Grundsatzurteil des BGH v. 02.12.2008, BGHSt 53, S. 71 und zur (Teil)Selbstanzeige das Urteil des BGH v. 20.05.2010, BGHSt 55, S. 180. 4 Hierzu zählen sicherlich die Werke: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht; Kohlmann, Steuerstrafrecht; Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen; als auch die Kommentierungen zur Steuerhinterziehung von Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 und neuerdings auch Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370. 2

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Einleitung

lösen, in der beide Rechtsmaterien unauflöslich ineinander zu verschwimmen scheinen.5 Ganz konkret geht es hierbei um die Frage, ob eine Strafbarkeit wegen Steuer­ hinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO auch in Fällen angenommen werden kann, in denen der Adressat eines rechtswidrigen Steuerbescheides versucht, durch das Erklären unwahrer Tatsachen eine von ihm versäumte Korrektur rückwirkend nachzuholen. Dieses Problem darf – wie vieles im Steuerstrafrecht – als weitestgehend ungeklärt angesehen werden.6 Die steuerrechtliche Ausgangslage soll folgender Fall der „Fristerschleichung“ verdeutlichen: Ein Steuerpflichtiger hat seine Steuererklärung pflichtgemäß bei seinem zuständigen Wohnsitzfinanzamt abgegeben. Daraufhin wird die Einkommensteuer entsprechend seiner Erklärung endgültig festgesetzt und ihm durch Steuerbescheid mittels einfachen Briefs bekannt gegeben. Nach Ablauf der Einspruchsfrist findet der Steuerpflichtige in seinen Steuerunterlagen weitere Rechnungen, die zusätzliche Werbungskosten belegen, aber fälschlicherweise in der betreffenden Erklärung nicht angegeben wurden und demzufolge auch nicht Eingang in den Einkommensteuerbescheid gefunden haben. Der Steuerpflichtige ruft nun das Finanzamt an und erkundigt sich nach dem Bearbeitungsstand seiner Steuer­ erklärung. Nachdem er dem dortigen Veranlagungsbeamten wahrheitswidrig erklärt hat, er habe den versandten Steuerbescheid nicht bekommen, wird ihm ein neuer (inhaltsgleicher) Steuerbescheid bekannt gegeben. Gegen diesen erhebt der Steuerpflichtige sodann fristgerecht Einspruch und erwirkt im Rahmen der dort vorgenommenen Gesamtaufrollung der Steuerfestsetzung, dass die vergessenen Werbungskosten berücksichtigt werden. Die Einkommensteuer wird letztlich in der Abhilfe- oder Einspruchsentscheidung durch neuen Steuerbescheid vermindert festgesetzt. Dieser Beispielsfall wird in dieser Arbeit als „Grundfall der Frist­ erschleichung“ behandelt.7 Damit sind die in Betracht kommenden Fälle der „Fristerschleichung“ aber noch nicht abschließend beschrieben. Es wäre dem Steuerpflichtigen auch möglich, nicht den Bestand des Steuerbescheides selbst vor der Finanzbehörde zu verheimlichen, sondern Umstände vorzugeben, die eine in Wirklichkeit nicht gegebene Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ermöglichen. Denn auch dadurch wird das Einspruchsverfahren erfolgreich betrieben, obwohl bereits tatsächlich ein „rechtsbehelfsfester“ Steuerbescheid vorgelegen hat. Dieser insbesondere vom Oberlandesgericht Hamm beschriebenen Sachverhaltskonstellation soll im Folgenden als „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ näher nachgegangen werden.8

5 OLG Hamm v. 14.10.2008 – 4 Ss 345/08 = wistra 2009, S. 80 (Vorinstanzen: AG Münster v. 22.02.2007 – 114 Cs 68/06; LG Münster v. 30.04.2008 – 4 Ns 110/07). 6 Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 119, spricht von „noch nicht abschließend geklärt“. 7 So auch der Beispielsfall 1 bei Rolletschke, PStR 2006, S. 163; ders., in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 117a; und der Beispielsfall 2 bei Weyand, PStR 2007, S. 134. 8 Siehe hierzu auch Schützeberg, PStR 2010, S. 91 ff.

Einleitung

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In allen Fällen der „Fristerschleichung“ gründet sich das steuerstrafrechtliche Problem in dem Umstand, dass der Steuerpflichtige gegen eine Steuerforderung vorgeht, die sich allein aus dem Steuerbescheid, aber eben nicht aus den Steuer­ gesetzen ergibt. Denn der Steuerpflichtige versucht mittels unrichtiger Tatsachen immer nur eine Korrektur seiner bereits unanfechtbar gewordenen Steuerfestsetzung zu bewirken, so dass schließlich diejenige Steuer festgesetzt wird, die er auch materiell-rechtlich schuldet. Zu einem solchen trickreichen Verhalten wird der Steuerpflichtige regelmäßig ab Versäumung seiner ihm eingeräumten Einspruchsfrist gezwungen, weil der Steuerbescheid von da an in Bestandskraft erwächst und nur noch ausnahmsweise korrigiert werden kann. Reduziert man die „Frist­ erschleichung“ auf den maßgeblichen steuerrechtlichen Sachverhalt, so erlangt der Steuerpflichtige durch sein täuschendes Verhalten gegenüber der Finanzbehörde zwar nur eine materiell-rechtlich zutreffende Steuerfestsetzung, die er aber nach Ablauf der Einspruchsfrist in dieser Form überhaupt nicht mehr beanspruchen dürfte. Für eine Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO steht ganz wesentlich die Beantwortung der Frage an, ob eine Forderung hinter­ zogen werden kann, die sich originär nur aus einem Steuerbescheid ergibt und gerade nicht als materieller Steueranspruch der Verwirklichung eines Steuertatbestandes entspringt. Die Reduzierung eines solchen „formellen“ Steueranspruchs muss daher entweder unter den tatbestandlichen Erfolg der Steuerverkürzung oder der Erlangung eines nicht gerechtfertigten Steuervorteils subsumiert werden können. Letztlich wird hierfür ein genauer Blick auf das Rechtsgut der Steuerhinterziehung und sein Verhältnis zur konkreten Tatbestandsausgestaltung unumgänglich sein.

1. Teil

Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung Vor der Beantwortung der strafrechtlichen Fragestellung ist es erforderlich, die geschilderten Fallkonstellationen steuerrechtlich zu erfassen. Zum einen können nur aus einem steuerverfahrensrechtlichen Grundverständnis weitergehende strafrechtliche Schlussfolgerungen abgeleitet werden. Zum anderen ergibt sich die­ Motivation des Steuerpflichtigen, ein eher „unkonventionelles“ Verfahren zu betreiben, erst aus den strengen steuerrechtlichen Vorschriften, die eine nachträgliche Geltendmachung steuermindernder Gründe nicht selten ausschließen. Ausgangspunkt der folgenden Betrachtung soll dabei die Tatsache sein, dass der bereits in der Einleitung dieser Arbeit erwähnte Steuerpflichtige nichtselbständige Einkünfte gemäß den §§ 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, 19 Abs. 1 EStG im Kalenderjahr erzielt hat. Im Folgejahr hat er daraufhin seine Steuererklärung fristgerecht bei dem für ihn zuständigen Wohnsitzfinanzamt abgegeben, jedoch vergessen, einen nicht unerheblichen Teil  seiner tatsächlich angefallenen Werbungskosten gemäß § 9 EStG anzugeben. Der steuerrechtliche Teil beginnt im 1. Abschnitt dieser Arbeit (Die Verfahrensabschnitte im Steuerrecht) mit einem chronologischen Ablauf des Besteuerungsverfahrens. Es soll dadurch näher geklärt werden, ob Fehler bei der Erstellung der Steuererklärung durch den Steuerpflichtigen im Laufe des Steuerverfahrens von der Finanzbehörde selbständig aufgedeckt und daraufhin von Amts wegen berücksichtigt werden. Sollte sich hingegen die Befürchtung bewahrheiten, dass steuermindernde Tatsachen im Laufe des Verfahrens nicht aufgedeckt werden, so schließt sich die Frage nach dem Regelungsinhalt des aufgrund einer unrichtigen Sachverhaltsfeststellung ergangenen Steuerbescheides an. Darf (oder muss) die Finanzbehörde eine Steuer auch aus einem – gemessen am tatsächlich ereigneten Sachverhalt – zu hohen Steuerbescheid verlangen? Im 2. Abschnitt (Die Änderung einer endgültigen Steuerfestsetzung) wird sodann die weitere Frage beantwortet, unter welchen Voraussetzungen ein solcher überschießender Steuerbescheid von der Finanzbehörde beachtet werden muss oder (anderenfalls) noch korrigiert bzw. (aus Billigkeitsgesichtspunkten) erlassen werden darf. Denn eine Zwangssituation des Steuerpflichtigen kann sich erst ergeben, wenn er sich einem zu hohen Steuerbescheid gegenüber sieht, den er auch für die Zukunft unwidersprochen hinnehmen muss. Damit ist zugleich das Problem aufgeworfen, ob andere öffentliche Stellen – insbesondere der Strafrichter –

1. Abschn.: Die Verfahrensabschnitte im Steuerrecht

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die Existenz eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes ebenfalls zu berücksichtigen hat, weil von ihm eine direkte Bindungswirkung ausgeht. Im Zuge dieser Betrachtungen wird sich die steuerliche Begutachtung zugleich mit der vom Steuerpflichtigen durch unwahre Tatsachen herbeigeführten Lage beschäftigen müssen. Hat sich der Steuerpflichtige für eine „Fristerschleichung“ durch Leugnen der Bekanntgabe des Steuerbescheides (Grundfall) oder Erfinden tatsächlich nicht gegebener Wiedereinsetzungsgründe (sog. „Erschleichung der Wiedereinsetzung“) entschieden, so ist fraglich, ob die vom Steuerpflichtigen durch eine List herbeigeführte Korrektur wiederum – diesmal zu seinem Nachteil – rückgängig gemacht werden kann. Ist die in der Einleitung aufgeworfene Problematik in all ihren steuerverfahrensrechtlichen Facetten begutachtet, so schließt der 1. Teil im 3. Abschnitt (Weitere Anlässe zur Begehung einer „Fristerschleichung“) mit der Beantwortung der Frage nach dem weiteren Anwendungsbereich der „Fristerschleichung“. Gilt sie etwa nur bei vergessenen Minderungsgründen oder selbst dann, wenn die Korrekturbedürftigkeit der Steuerfestsetzung letztlich auf einem Rechtsanwendungsfehler der Finanzbe­ hörde beruht? Ferner wird der Frage nachzugehen sein, ob eine „Fristerschleichung“ sogar vor den Finanzgerichten möglich ist. Als exemplarisches Beispiel wird die steuerrechtliche Ausgangslage des vom Oberlandesgericht Hamm entschiedenen Falles dienen. Zur steuerrechtlichen Darstellungsweise und Terminologie: Die steuerverfahrensrechtlichen Ausführungen sind trotz des konkreten Beispielsfalles hinsichtlich der steuerrechtlichen Terminologie bewusst allgemeingültig gehalten, um eine einfachere Übertragbarkeit auf gleichgelagerte Fälle außerhalb des Einkommensteuerrechts zu ermöglichen. Soweit dies aus steuerverfahrensrechtlichen Gründen erforderlich ist, wird im Einzelnen auf die materiellen Steuergesetze Bezug genommen.

1. Abschnitt

Die Verfahrensabschnitte im Steuerrecht A. Das Ermittlungs- und Festsetzungsverfahren Der Dritte (§§ 78–133) und der Vierte Teil der Abgabenordnung (§§ 134–217) ebnen dem Steuerbescheid den Weg von der Ermittlung des für die Besteuerung notwendigen Sachverhaltes bis hin zu seiner schriftlichen Abfassung und Übermittlung. I. Das Ermittlungsverfahren Am Anfang der Steuerfestsetzung steht die Ermittlung desjenigen eingetretenen Sachverhaltes, der unter die steuerrechtlichen Tatbestände zu subsumieren ist. Entsprechend dem in § 88 Abs. 1 S. 1 AO zugrunde liegenden Untersuchungsgrund-

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

satz hat die Finanzbehörde die Letztverantwortung für die materielle Richtigkeit der Sachaufklärung.9 Sie ist damit „Herrin des Ermittlungsverfahrens“.10 1. Der Beginn Gemäß § 86 S.  1 AO beginnt das steuerrechtliche Verwaltungsverfahren nach eigenem pflichtgemäßem Ermessen der Finanzbehörde. Diese Formulierung ist allerdings trügerisch und vermittelt ein falsches Bild vom Besteuerungsverfahren. Denn dieser behördliche Entscheidungsspielraum wird in erheblichem Maße durch das in § 85 AO verankerte Legalitätsprinzip und dem darin enthaltenen Sicherstellungsgrundsatz eingeschränkt.11 Mit dieser Aufgabenzuweisungsnorm soll die verfassungsrechtliche Verpflichtung der Finanzbehörden zur gleichmäßigen und gesetzmäßigen Besteuerung ausdrücklich hervorgehoben werden.12 Dementsprechend sieht § 86 S. 2 Nr. 1 AO vor, dass das in S. 1 großzügig eingeräumte Ermessen jedenfalls dann eingeschränkt wird, wenn eine Rechtsvorschrift das Tätigwerden von Amts wegen gebietet. Indem die Finanzbehörden insofern schon gemäß § 85 AO nach Maßgabe der Gesetze für eine „gerechte“ Besteuerung zu sorgen haben, handelt es sich dabei um eine Rechtsvorschrift im vorbenannten Sinne.13 Die Entscheidung über den Beginn des Steuerverfahrens ist somit richtigerweise – über Umwege – eine gebundene Entscheidung. Das steuerrechtliche Ermittlungsverfahren beginnt demnach zwingend in dem Zeitpunkt, in dem die Finanzbehörde Kenntnis von Tatsachen erhält, die eine hinreichende Wahrscheinlichkeit14 begründen oder (anders formuliert) nach allgemeiner Erfahrung der Finanzbehörde Anhaltsgründe15 dafür vorliegen, dass ein steuerrechtlicher Tatbestand verwirklicht worden ist. Es bedarf daher stets eines hinreichenden An­ lasses, der sich aber auch aus abstrakten Anhaltspunkten ergeben kann und der aus der Sicht der Finanzbehörde nach den Verhältnissen im Zeitpunkt des Verfahrensbeginns (ex ante) zu beurteilen ist.16 Demgegenüber ist es der Finanzbehörde verwehrt, ein Ermittlungsverfahren „ins Blaue hinein“ zu führen.17 9

Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 170. Vgl. Jakob, Abgabenordnung, Rn. 116. 11 Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 86 Rn. 1. 12 Denn Art. 3 Abs. 1 GG fordert sowohl eine rechtliche wie auch tatsächliche Besteuerungsgleichheit, BVerfGE  84, S.  239 (sog.  Zinsurteil). Allgemein zum Zusammenspiel zwischen Gleichheit und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung Birk, StuW 1989, S. 212 ff. 13 Brockmeyer, in: Klein, AO, § 86; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 86 Rn. 20. 14 Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 86 Rn. 46. 15 Seer, in: Tipke/Kruse, AO § 86 Rn. 6. 16 Zur Erforschungskompetenz der Steuerfahndung nach bisher unbekannten Steuerfällen gemäß § 208 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO BFH, BStBl. II 1988, S. 359; BFH (GrS), BStBl. II 1968, S. 365 [369]. Einen Verdacht im strafprozessualen Sinn – wie es § 152 Abs. 2 StPO vorschreibt – bedarf es demgegenüber im Steuerverfahren nicht, so Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 86 Rn. 6. 17 Stetige Rechtsprechung, z. B. aus neuerer Zeit: BFH, BStBl. II 2007, S. 155. Hinsichtlich der Inpflichtnahme Beteiligter oder Dritter fehlt es im Falle der „Ermittlung ins Blaue hinein“ 10

1. Abschn.: Die Verfahrensabschnitte im Steuerrecht

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Diese den steuerlichen Anfangsverdacht begründende Tatsachenkenntnis wird regelmäßig (insbesondere bei den Steuerarten mit dem größten Anteil am Steuer­ aufkommen – Einkommensteuer, Körperschaftsteuer und Umsatzsteuer) durch die Abgabe der jeweiligen Steuererklärung vermittelt. Dem Steuerpflichtigen18 ist demnach gerade im Anfangsstadium der Veranlagung eine zentrale Mitwirkungspflicht im Sinne des § 90 Abs. 1 AO auferlegt. Darüber hinaus hat der Steuerpflichtige nicht nur nach dem Ablauf des jeweiligen Veranlagungszeitraumes die gesetzlich vorgeschriebene Erklärung abzugeben, sondern ihm obliegt auch bereits bei Aufnahme bestimmter Erwerbstätigkeiten eine Anzeigepflicht gemäß §§ 137 ff. AO. Sie soll sowohl eine spätere Erfassung des Steuerpflichtigen gewährleisten, als auch eine gesetzlich vorgesehene Festsetzung von Vorauszahlungen ermöglichen.19 Der Steuerpflichtige ist daher in vielen Fällen selbst der Initiator seiner eigenen Veranlagung; er ist – überspitzt ausgedrückt – Beweismittel gegen sich selbst. 2. Die Durchführung Liegt aus der Sicht der zuständigen Finanzbehörde ein genügender Anlass zum Beginn des Steuerverfahrens vor, so ermittelt die Finanzbehörde den Sachverhalt gemäß § 88 Abs. 1 S. 1 AO von Amts wegen. Sie ist dabei an das Prinzip der mate­ riellen Wahrheit gebunden und dazu verpflichtet, den gesamten für die Aufklärung eines Sachverhaltes erforderlichen und erreichbaren Tatsachenstoff zu ermitteln, um schließlich den wahrheitsgemäßen Sachverhalt festzustellen.20 Dies muss schon aus dem in § 85 AO enthaltenen Legalitätsprinzip gefolgert werden, das eine von den Parteien abhängige Sachaufklärung, insbesondere aufgrund des in ihm enthaltenen Postulates der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, verbietet.21 Demzufolge hat die Finanzbehörde die steuererheblichen Tatsachen zu ermitteln; also alle verganan einem angemessenen Verhältnis zwischen Anlass und Zweck des finanzbehördlichen Handelns, vgl. Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 86 Rn. 45. 18 Steuerpflichtiger ist gemäß § 33 Abs. 1 AO derjenige, der eine ihm durch die Steuergesetze auferlegte (eigene) Verpflichtung zu erfüllen hat. Gemäß § 33 Abs. 2 AO gehört jedoch nicht derjenige dazu, dem in einer fremden Steuersache Pflichten auferlegt werden. Der Steuer­ schuldner – also derjenige, der eine Steuerschuld gemäß den §§ 37 ff. AO in Verbindung mit den Einzelsteuergesetzen zu begleichen hat – ist daher zugleich Steuerpflichtiger. 19 Cöster, in: Pahlke/Koenig, AO, § 138 Rn. 2. 20 Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn. 13. Nicht zur Wahrheitserforschungspflicht scheint dagegen die tatsächliche Verständigung zu passen. Sie ermöglicht es, schwer aufklärbare Sachverhalte in die beidseitige Disposition von Finanzbehörde und Steuerpflichtigem zu stellen. Der Anwendungsbereich dieser Verständigung in der Rechtsnatur eines öffentlich-rechtlichen Vertrages soll dann eröffnet sein, wenn das für die Sachverhaltsfeststellung erforderliche Beweismaß reduziert ist und daher der Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen ein erhöhtes Gewicht beigemessen wird, dazu Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 20 ff.; zur Rechtsnatur auch Rätke, in: Klein, AO, § 78 Rn.  5. Zur praktischen Handhabung: BFH, BStBl. II 1985 S. 354; BMF-Schreiben v. 30.07.2008, BStBl. I 2008, S. 831. 21 Zum § 204 AO a. F. (Vorgänger des heutigen § 88 AO) BFH, BStBl. II 1976, S. 767; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 88 Rn. 1.

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

genen oder gegenwärtigen Geschehnisse oder Zustände der Außenwelt und Vorgänge des Seelenlebens, die den Tatbestand eines anzuwendenden Steuergesetzes erfüllen und damit (potentiell) geeignet sind, eine konkrete finanzbehördliche Entscheidung zu beeinflussen.22 Die Art der Ermittlungen wählt die Finanzbehörde nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen. Sie ist dabei insbesondere gemäß § 88 Abs. 1 S. 2 – 2. Hs. AO nicht an Beweisanträge der Beteiligten23 gebunden und kann sich jeder ihr zur Verfügung stehenden Aufklärungsmittel bedienen.24 Auch die in der Abgabenordnung ausdrücklich geregelten Beweismittel25 sind schon aufgrund der in § 92 S. 2 AO enthaltenen Aufzählung (eingeleitet durch „insbesondere“) nicht als abschließend zu betrachten.26 Allerdings stellt allein die gesetzliche Normierung des Untersuchungs­ grundsatzes in § 88 AO als sog. Aufgabenzuweisungsnorm keine ausreichende Eingriffsgrundlage in grundrechtlich geschützte Rechte der Beteiligten dar, so dass es für Ermittlungsmaßnahmen mit Eingriffscharakter stets einer besonderen Befugnisnorm bedarf.27 Aus der aufgezeigten Ermittlungspflicht der Finanzbehörde ist hingegen nicht zu folgern, dass dem Steuerpflichtigen in diesem Stadium eine rein passive Rolle zukommt. Insofern steht der aus dem Legalitätsprinzip folgenden Pflicht zur behördlichen Sachverhaltsaufklärung die bereits genannte Pflicht (und auch das Recht) des Steuerpflichtigen zur Mitwirkung gegenüber. Gerade wegen seiner besonderen Sachnähe wird meist nur er die erforderlichen Angaben über seine persönlichen Verhältnisse machen können. Den Steuerpflichtigen trifft daher eine sphärenorientierte Mitverantwortung28 an der Aufklärung des von ihm verwirk 22

Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn. 31, 37. Die Beteiligteneigenschaft ergibt sich aus § 78 AO (sog.  formeller Beteiligtenbegriff). Hauptanwendungsfall ist Nr. 2 der vorbenannten Vorschrift, wonach ein Beteiligter derjenige ist, an den die Finanzbehörde den Verwaltungsakt richten will oder gerichtet hat. Mithin der­ jenige, dessen Steuer durch förmlichen Bescheid festzusetzen ist. 24 Wobei eine Ablehnung eines Beweisantrages des Steuerpflichtigen ebenfalls im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde liegt und daher einer schlüssigen Begründung bedarf, Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn. 106. 25 Gemäß §§ 93 ff. AO die Auskünfte von Beteiligten und Dritten; gemäß § 94 AO die eidliche Vernehmung durch das Finanzgericht; gemäß § 95 AO die Versicherung an Eides Statt; § 96 AO das Sachverständigengutachten; gemäß § 97 AO Urkunden; gemäß § 98 AO die Augenscheinseinnahme; gemäß § 99 AO das Betreten von Grundstücken und Räumen. 26 Grundsatz der Unbeschränktheit der Aufklärungsmittel, vgl. Söhn, in: Hübschmann/Hepp/ Spitaler, AO, § 88 Rn. 81. 27 Schmitz, in: Schwarz, AO, § 88 Rn. 4a; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 88 Rn. 1; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn.  83 f.; Spezielle Eingriffsnormen sind z. B. die in §§ 93 ff. AO genannten Beweismittel, als auch die Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung gemäß §§ 149 ff. AO und gemäß § 200 AO die Mitwirkungspflicht im Rahmen der Außenprüfung. 28 Sog. Kooperationsmaxime, dazu Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, AO, § 21 Rn. 170 ff.; ders., in: Tipke/Kruse, AO, § 90 Rn.  1 ff.; Schmitz, in: Schwarz, AO, § 88 Rn.  19 f.; Brockmeyer, in: Klein, AO, § 88 Rn. 3; Isensee, Die typisierende Verwaltung, S. 103 f. A. A. Söhn, in: Hübsch­mann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn. 92 ff., der dem Steuerpflichtigen keine rechtliche 23

1. Abschn.: Die Verfahrensabschnitte im Steuerrecht

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lichten Sachverhaltes. Dies lässt allerdings nicht den weitergehenden Schluss zu, dass dort, wo die Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen anfängt, die Ermittlungspflicht der Finanzbehörde ihr Ende finden muss.29 Vielmehr wird der Untersuchungsgrundsatz durch die Kooperationsmaxime dergestalt effektuiert, dass der Sachverhalt im Rahmen einer Verantwortungsgemeinschaft aufzuklären ist.30 Als Generalnorm sieht § 90 Abs.  1 AO eine umfassende Mitwirkungsverpflichtung des Steuerpflichtigen vor, die erfüllt wird durch eine vollständige und wahrheitsgetreue Offenlegung aller für die Besteuerung erheblichen Tatsachen und die Angabe aller bekannten Beweismittel. Jedoch kann auch sie – ähnlich dem § 88 AO  – keine Rechtsgrundlage für Mitwirkungen mit Eingriffscharakter liefern.31 Aus diesem Grund finden sich in der Abgabenordnung Spezialermächtigungen, die sich im Wesentlichen mit den spezialgesetzlichen Ermittlungsmaßnahmen der Finanzbehörde decken.32 Die genannten Eingriffsbefugnisse besitzen somit eine Doppelnatur. Sie enthalten originär eine Ermittlungsfunktion und konkretisieren gleichzeitig die den Beteiligten auferlegte Mitwirkungspflicht. Ziel dieser gesetzlichen Kooperationsgemeinschaft zwischen Finanzbehörde und Beteiligtem ist es, den steuererheblichen „tatsächlichen“ Sachverhalt vollständig aufzuklären. Die dahingehende Entscheidungskompetenz, welcher (meist vergangene) Sachverhalt sich ereignet hat und als Grundlage der späteren Steuer­ festsetzung dienen soll, kommt der Finanzbehörde zu.33 Entsprechend dem finanzgerichtlichen Verfahren gemäß § 96 FGO ist auch im Besteuerungsverfahren Mitverantwortung an der Sachaufklärung aufbürden will. Nach Söhn (a. a. O.) sei er lediglich „Erforschungsgehilfe“ der Finanzbehörde. Unterschiedliche Rechtsfolgen werden aber durch die verschiedenartigen Mitwirkungskonstruktionen m. E. nicht ausgelöst. 29 So die früher weit verbreitete Auffassung. Zum Meinungsstand Schmidt, Die Problematik der objektiven Beweislast im Steuerrecht, S. 131 ff. [133]. Wobei aber die Rechtsprechung und auch ein Teil der Kommentarliteratur heute noch von einer „Begrenzung“ der Ermittlungspflicht spricht, so BFH, BStBl. II 1989, S. 462; Wünsch, in: Pahlke/Koenig, AO, § 88 Rn. 31; Schmitz, in: Schwarz, AO, § 88 Rn. 19a; Brockmeyer, in: Klein, AO, § 88 Rn. 9, 13; a. A. Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn. 98 ff.; und auch Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 88 Rn. 2, § 162 Rn. 32, der zwar von einer „sphärenorientierten Mitverantwortung“ spricht, aber davon ausgeht, dass der Finanzbehörde „als Treuhänderin der Gemeinwohlinteressen die Letztverantwortung“ obliegt. Entscheidend wird diese Fragestellung aber erst dann, wenn der Steuerpflichtige seinen Pflichten nicht nachkommt (siehe dazu die folgenden Erläuterungen). 30 Zur beidseitigen Sachverhaltsaufklärung BFH, BStBl.  II  1989, S.  462; Seer, in: Tipke/ Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 170; a. A. Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn. 94. 31 BFH, BStBl. II 1990, S. 280; Schmitz, in: Schwarz, AO, § 90 Rn. 7; Söhn, in: Hübsch­ mann/Hepp/Spitaler, AO, § 90 Rn. 15, 41. 32 Siehe zu den mit Zwangsmitteln gemäß §§ 328 ff. AO vollstreckbaren Ermittlungsmaßnahmen Fn. 25 u. 27. 33 Die materielle Wahrheit über einen vergangenen Sachverhalt wird in der Regel nur schwer zu erreichen sein. Insofern bedarf es schließlich einer Überzeugungsbildung seitens einer Person, die selbst das Ereignis nicht sinnlich wahrgenommen hat; die daher selbst nur aus einem Fundus an Beweismittel schöpfen kann. Soweit von Wahrheit in diesem Zusammenhang gesprochen wird, kann nur eine „subjektive“ Wahrheit gemeint sein, die sich im Idealfall mit dem objektiven Geschehen deckt; so mit weiteren Nachweisen Schmidt, Die Problematik der objektiven Beweislast im Steuerrecht, S. 29 f.

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vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung auszugehen.34 Grundlage der Sachverhaltsfeststellung bilden mithin die gesamten relevanten und zulässigen Aufklärungsmittel.35 Aus ihnen muss die Finanzbehörde eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen oder Nichtvorliegen von vergangenen Tatsachen erlangen. Für dieses Beweismaß wird man, soweit nicht spezielle Regelungen vorgesehen sind36, eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit fordern müssen, um der materiellen Wahrheit zu genügen.37 Da sich dieses „Idealbild“ allerdings nicht mit der im Steuerrecht tatsächlich vorherrschenden Massenverwaltung vereinbaren lässt, werden die Anforderungen nach ganz einhelliger Ansicht dann aber in einem weiteren Schritt auf eine (verträglichere) „größtmögliche“ Wahrscheinlichkeit jedenfalls solange heruntergeschraubt, wie zwischen dem Steuerpflichtigen und der Finanzbehörde keine Zweifel an den jeweils getroffenen Feststellungen und Erklärungen bestehen.38 Kommen somit die am Steuerverfahren Beteiligten ihrer Mitwirkungspflicht nach, so hat die Finanzbehörde die sich daraus ergebenden Angaben zwar grundsätzlich auf Richtigkeit und Vollständigkeit hin zu überprüfen. Dies gebietet letztlich schon der Untersuchungsgrundsatz. Eine solche Verpflichtung zur Wahrheitserforschung ist allerdings im Rahmen des der Finanzbehörde zustehenden Ermessens, das sich gemäß § 88 Abs. 1 S. 3 AO nach den Umständen des Einzelfalles richtet, nur dann angezeigt, wenn ein hinreichender Anlass zur weitergehenden Ermittlung besteht.39 Insofern kehrt die schon für den Beginn des Steuerverfahrens notwendige Veranlassung im Rahmen des Umfanges der Ermittlungen wieder. An dieser Stelle erfüllt sie hingegen nicht eine das Ermittlungsverfahren eröffnende, sondern fortführende Wirkung. Die Notwendigkeit einer Veranlassung ergibt sich zum einen aus der Tatsache, dass jede Ermittlungsmaßnahme, die in die Grundrechte eines 34

Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn. 210; Schmitz, in: Schwarz, AO, § 88 Rn. 25; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 88 Rn. 24. 35 Dazu zählen insbesondere die in § 92 S. 2 AO aufgezählten Beweismittel und sonstigen Erklärungen; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn. 212 ff. 36 So etwa § 158 AO und die §§ 160–162 AO. 37 Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn.  222 m. w. N. A. A. Seer, in: Tipke/ Kruse, AO, § 88 Rn. 30, der in diesem Stadium nicht auf ein konkretes Beweismaß im Einzelfall abstellen will, sondern der Finanzbehörde im Massenverfahren einen „strukturellen Verifikationsauftrag“ nach dem jeweiligen Kontrollbedürfnis zuschreibt. Die Betrachtung der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung habe sich daher im Massenverfahren an dem Gesamtvollzug aller zu erledigender Einzelfälle zu orientieren. Zustimmend Schmitz, in: Schwarz, AO, § 88 Rn. 16a; Wünsch, in: Pahlke/Koenig, AO, § 88 Rn. 21. Eine unterschiedliche Beurteilung ist aber mit diesen verschiedenartigen Beweismaßstäben nicht verbunden. Denn auch Söhn (a. a. O., Rn. 223) relativiert dieses von ihm verwandte strengere Beweismaß; siehe dazu die weiteren Ausführungen. 38 So u. a. Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn. 223, 230 ff., wobei die „größtmögliche Wahrscheinlichkeit“ definiert wird als diejenige Wahrheitsermittlung, die mit verhältnismäßigen und zumutbaren Mitteln errreichbar ist; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 88 Rn. 29 f. (insbesondere Rn. 31); Schmitz, in: Schwarz, AO, § 88 Rn. 16 ff. 39 Instruktiv Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn. 144 ff.; Schmitz, in: Schwarz, AO, § 88 Rn. 16 ff.

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Steuerpflichtigen eingreift, dem Übermaßverbot genügen und mithin verhältnismäßig sein muss.40 Zum anderen gebietet auch das geltende Beweismaß der größtmöglichen Wahrscheinlichkeit keine Beweiserhebung um jeden Preis. Soweit der Steuer­pflichtige seine Erklärung abgegeben hat, kann die Finanzbehörde von einer ordnungsgemäßen Erklärung solange ausgehen, bis sie anderweitige Anhaltspunkte findet.41 Der Steuerpflichtige genießt im Hinblick auf seine Erklärungen gegenüber der Finanzbehörde einen „Glaubwürdigkeitsvorschuss“.42 Natürlich kann ein solches Vertrauen dem Bürger gegenüber nicht unbeschränkt gelten. Um eine ernsthafte Mitwirkung des Steuerpflichtigen auch im Rahmen einer oftmals unkritischen Entgegennahme seiner Steuererklärung zu gewährleisten, wird ein verwaltungsinternes Kontrollverfahren eingesetzt. Der Steuerpflichtige muss bei Abgabe seiner Steuererklärung also immer damit rechnen, dass im Rahmen einer stichprobenartigen Kontrolle gerade seine Erklärung auf eventuelle Fehler untersucht wird.43 Erst wenn Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Erklärungen des Steuerpflichtigen aufkommen oder eine Zufallskontrolle vorgesehen ist, tritt die Finanzbehörde von dem bisherigen Massenverfahren in eine genaue Einzelfallprüfung ein, bei der das Beweismaß der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit erreicht werden muss.44 Es gelten nun die identischen Beweismaßregeln wie im finanzgerichtlichen Klageverfahren gemäß § 96 FGO. Allerdings wird dieses Beweismaß wiederum dann modifiziert, wenn aus Sicht der Finanzbehörde feststeht, dass der Steuerpflichtige gegen seine Mitwirkungspflichten verstoßen hat. In diesen Fällen kommt es zu einer teilweisen Beweismaßreduzierung zugunsten der Finanzbehörde und zulasten des die Beweise verderbenden Steuerpflichtigen. Denn die Finanzbehörde kann hinsichtlich steuerbegründender oder -erhöhender Tatsachen nun von demjenigen Sachverhalt ausgehen, für den die größte Wahrscheinlichkeit spricht.45 Dagegen bleibt es für steuerentlastende oder -mindernde 40 Ausdrücklich zum Übermaßverbot Schmitz, in: Schwarz, AO, § 88 Rn. 16. Es kann also nichts anderes gelten, als bei Beginn des steuerlichen Ermittlungsverfahrens. 41 So ausdrücklich BFH, BStBl. III 1959, S. 86; BStBl. II 2004, S. 444 (st. Rspr.). 42 Isensee, Die typisierende Verwaltung, S. 106. 43 Dazu eingehend Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 88 Rn. 30, § 85 Rn. 21 ff. Siehe dazu auch die entsprechenden Erlasse in Fn. 76 u. 87. 44 So klar formuliert von Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 88 Rn. 31; aber i.E. auch Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn. 230, 232, soweit er auf die Kommentierung des § 96 FGO bei Lange, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, FGO, § 96 Rn. 66, verweist. Denn gerade im finanzgerichtlichen Verfahren wird gemäß § 96 FGO das Beweismaß der „Überzeugung“ und damit eine „Gewissheit (an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit)“ gefordert. Erst darauf aufbauend kommt es zu einer Beweismaßreduzierung durch Mitwirkungspflichtverletzungen, so Lange, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, FGO, § 96 Rn. 54 ff., 63 ff. 45 BFH, BStBl. II 1989, S. 462; BStBl. II 2004, S. 171; Lange, in: Hübschmann/Hepp/Spita­ ler, FGO, § 96 Rn. 63 ff.; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn. 231 ff. Allerdings ist Rechtsgrundlage der Beweismaßreduzierung noch nicht geklärt. Die Rechtsprechung stützt diese Beweismaßreduzierung der Finanzgerichte auf § 96 Abs. 1 S. 1 – 2. Hs. FGO i. V. m. § 162 Abs. 2 AO analog (denn dieser sieht eine Schätzung dem Grund nach gerade nicht vor; allerdings sehr str.! vgl. Fn. 48), so BFHE 201, S. 447; Wassermeyer, DB 2003, S. 1535 ff. Der BFH, BStBl. II 1989 S. 462, hatte zuvor die Analogie ausdrücklich offen gelassen.

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Tatsachen bei dem ursprünglichen Maßstab der Überzeugung, um dem Steuerpflichtigen keinen Vorteil aus seiner Mitwirkungspflichtverletzung zu gewähren.46 Im Ergebnis wird der Finanzbehörde dadurch die Erleichterung zuteil, trotz einer nicht hinreichenden Überzeugung, von einem für den Steuerpflichtigen ungünstigen Sachverhalt auszugehen. Gesetzlich ausdrücklich vorgesehen ist dieses Vorgehen im Übrigen für die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen47 gemäß § 162 Abs. 2 AO, soweit lediglich die Feststellung der Höhe im Raum steht.48 Letztlich ist für den „Beweisverderber“ eine weitere Repressalie damit verbunden, dass die Finanzbehörde neben der bereits erläuterten Reduzierung des Beweismaßes die Pflichtverletzung im Rahmen der freien Beweiswürdigung negativ bewerten darf.49 Soweit die Finanzbehörde schon wegen des verminderten Beweismaßes zu dem der Veranlagung zugrunde gelegten Sachverhalt kommt, verkürzt sich damit notwendigerweise ihre Ermittlungspflicht auf ein – gemessen an den ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen – zumutbares Maß. Ihr kann mithin nicht auferlegt werden, einen Sachverhalt weiter aufzuklären, von dem sie schon hinreichend50 überzeugt ist und sich auch durch weitere Ermittlungen keine neuen Erkenntnisse verspricht; etwa deshalb, weil eine weitere Aufklärung nur durch den Steuerpflichtigen möglich ist, dieser aber seine Mitwirkung verweigert. Ist die notwendige Wahrscheinlichkeit dagegen noch nicht erreicht, so muss die Finanzbehörde weiterhin die verhältnismäßigen Maßnahmen treffen, um den wahren Sachverhalt zu erforschen.51 46

BFH, BStBl.  II  1987, S.  188; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn.  254; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 88 Rn. 31. 47 Besteuerungsgrundlagen sind gemäß § 199 Abs. 1 AO die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse, die für die Steuerpflicht und die Bemessung der Steuer maßgebend sind. 48 Trzaskalik, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 162 Rn. 11 ff. [15]; Söhn, in: Hübsch­ mann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn. 227. Sogar für eine Schätzung „dem Grunde nach“: Cöster, in: Pahlke/Koenig, AO, § 162 Rn. 33; Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 207 f., § 22 Rn. 189 ff. [190]; ders., in: Tipke/Kruse, AO, § 162 Rn. 5 f., der den § 162 AO nicht nur auf die Schätzung der Höhe nach anwenden will, sondern aus seinem Telos ein flexibles Beweismaß anhand der Sphärenverantwortlichkeit entwickelt (Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 22 Rn. 190). Zur analogen Anwendung des § 162 Abs. 2 AO vgl. Fn. 45. Dagegen wendet sich Söhn (a. a. O.), der mit dem Wortlaut argumentiert. Ob ein steuererheblicher Sachverhalt vorliegt, könne nicht „geschätzt“, sondern nur „festgestellt“ werden. Ungeachtet des Streites um die Zulässigkeit einer Schätzung dem Grunde nach ist weitgehend anerkannt, dass es eine „Besteuerung auf bloßen Verdacht“ schon in Anbetracht des grundrechtlichen Schutzes nicht geben darf, siehe nur Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 207. 49 Zur nachteiligen Schätzung gemäß § 162 Abs. 2 AO aufgrund fehlender Mitwirkung während eines laufenden Steuerstrafverfahrens, BFH/NV 2006, S. 15 f.; BFH/NV 2007, S. 646 f. Zur negativen Beweiswürdigung ausdrücklich Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 90 Rn. 15; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 90 Rn. 130 f. Die verfassungsrechtliche Seite in einem ähnlich Fall nach der KO betreffend, BVerfGE 56, S. 37 (sog. Gemeinschuldnerbeschluss). 50 Nach Auffassung der obergerichtlichen Rechtsprechung kann das Finanzgericht (und auch die Finanzbehörde) schon von demjenigen Sachverhalt ausgehen, für den die größere Wahrscheinlichkeit spricht, BFHE 201, S. 447. 51 Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn. 100; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 90 Rn. 14, § 162 Rn. 8; a. A. BFH, BStBl. II 1989, S. 462; Wünsch, in: Pahlke/Koenig, AO, § 88

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Nur so kann die Beweismaßreduzierung auch mit der behördlichen Ermittlungspflicht in Einklang gebracht werden. Weiter gehen hingegen ausdrücklich die Finanzverwaltung und Finanzgerichte, indem sie die Pflicht zur umfassenden Sachverhaltsaufklärung der Finanzbehörde durch die Mitwirkungspflicht des Steuer­pflichtigen „begrenzen“.52 Ob diese Aufteilung des Ermittlungsverfahrens nicht doch zu einer stets verneinten53 (zumindest partiellen) Beweisführungslast seitens des Steuerpflichtigen führt, bleibt dagegen unbeantwortet.54

Rn. 31; Brockmeyer, in: Klein, AO, § 88 Rn. 9, 13; Schmitz, in; Schwarz, AO, § 88 Rn. 19a. Es ist aber fraglich, ob diese Gegenansicht (bis auf den klaren Wortlaut des BFH [a. a. O.]) wirklich von einer „Sphärentrennung“ ausgeht oder ob die Ermittlungspflicht der Finanzbehörde weiterhin im Rahmen der Zumutbarkeit und Verhältnismäßigkeit aufrecht erhalten bleibt. Insofern wird man Ermittlungsmaßnahmen, die ausschließlich in die Sphäre des Steuerpflichtigen fallen, sehr schnell als unverhältnismäßig qualifizieren können. Bis zu diesem Punkt bleibt die Finanzbehörde für die Sachverhaltsermittlung verantwortlich. Eine damit ebenfalls erreichte Begrenzung der Ermittlung wäre so zumindest mit den §§ 85, 88 AO vereinbar. So zu Recht Seer und Söhn (a. a. O.). 52 BFH, BStBl.  II  1989, S.  462; BMF AEAO, Zu § 88 Tz 2.; Wassermeyer, DB 2003, S. 1535 ff.; dagegen ausdrücklich Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn. 100 u. 200. Die Auffassung der Literatur steht m. E. auch mit dem Willen des Gesetzgebers der AO (1977) im Einklang. Denn dieser hat die Mitwirkungspflichten als „Ergänzung“ zur Amtsaufklärung statuiert. Eine weitergehende Pflicht des Steuerpflichtigen sah er dagegen nur im Bereich der Aufklärung von Auslandssachverhalten vor, bei denen die Möglichkeiten der ­Finanzbehörde zur Ermittlung von Amts wegen „beschränkt“ seien, so die Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drucks. VI/1982, Zu § 104, S.  132. Diese Entwurfsbegründung aus der 6.  Legislaturperiode (EAO 1974) konnte zwar aufgrund der vorzeitigen Auflösung des 6. Deutschen Bundestages nicht mehr abgeschlossen werden, allerdings wurde dieser Entwurf in der 7. Legiskaturperiode (EAO 1977) erneut (inhaltsgleich) eingebracht (BT-Drucks. 7/79). Auch die daraufhin in der 7.  Legislaturperiode ergangene, endgültige Entwurfsbegründung der 7.  Legislaturperiode (EAO 1977), die zur Kodifizierung der AO (1977) führte, nahm ausdrücklich auf den vorherigen Entwurf (BT-Drucks. VI/1982  =  BT-Drucks.  7/79) Bezug, BT-Drucks. 7/4292, S. 4; dazu auch Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, Einleitung Rn. 90. Des Weiteren überzeugt diese Auffassung auch aus systematischen Gründen. Versteht man nämlich die Schätzungsbefugnis des § 162 AO als besondere Ausprägung der Beweismaßreduktion (vgl. Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 162 Rn. 1 f.), so soll diese tatbestandlich auch im Fall der Mitwirkungspflichtverletzung gemäß § 162 Abs. 2 AO nur dann anwendbar sein, wenn die Besteuerungsgrundlagen nicht ermittelt werden können. Von einer Ermittlungsbegrenzung der Finanzbehörde kann daher nicht die Rede sein. Nun stellt sich dann die berechtigte Frage, warum die Finanzbehörde ihre Aufklärungspflicht in Fällen behalten soll, in denen allein die Höhe der Besteuerungsgrundlagen in Rede steht (zum Anwendungsbereich des § 162 AO, vgl. Fn. 48); demgegenüber aber bei der vorgelagerten Frage, ob überhaupt dem Grunde nach ein steuererheblicher Sachverhalt verwirklicht wurde, eine diesbezügliche Beschränkung eintreten soll. 53 Vgl. Martens, StuW 1981, S. 322 ff. [329], der insofern von einem „Standardsatz nahezu aller Publikationen über die Beweislast“ spricht. 54 Zur objektiven und subjektiven Beweislast siehe sogleich: 3. Die Beweislast im Steuerverfahren (S. 26).

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3. Die Beweislast im Steuerverfahren Kann die Finanzbehörde einen Sachverhalt nicht mit der nötigen Gewissheit feststellen, so ist die Frage aufgeworfen, wem diese Unaufklärbarkeit anzulasten ist, d. h. zu wessen Ungunsten die Sachentscheidung zu treffen ist.55 Es handelt sich dabei um ein Problem der sog. objektiven Beweislast oder genauer, der Beweisfeststellungslast. Nach der im Zivilprozess von Rosenberg entwickelten Normen­theorie geht die Unerweislichkeit einer Tatsache, aus der jemand die Voraussetzung einer für ihn günstigen Norm (welche im Falle ihres Vorliegens eine günstige Rechtsfolge bereit hält) herleitet, zu dessen Lasten.56 Die Gültigkeit dieser Formel für das Steuerrecht ist von Rechtsprechung und Literatur allgemein anerkannt.57 Für das Steuerrecht bedeutet sie, dass die Unerweislichkeit von steuerbegründenden oder -erhöhenden Tatsachen die Finanzbehörde und steuerentlastenden oder -mindernden Tatsachen den Steuerpflichtigen treffen und mithin jeweils zu einer Versagung derselben führen. Davon zu unterscheiden ist die bereits angesprochene subjektive Beweislast, auch klarer Beweisführungslast genannt. Sie tritt bereits im Rahmen der richterlichen Überzeugungsbildung ein und geht von der Prämisse aus, dass in einem Verfahren mit Beibringungsgrundsatz58 jeder Verfahrensbeteiligte die für ihn günstigen Tatsachen darlegen und letztlich auch beweisen muss. Anderenfalls wird er entsprechend der objektiven Beweislast im Falle der Unerweislichkeit den Rechtsstreit unweigerlich verlieren. Somit ist letztlich die Beweisführungslast die logische Folge aus Beibringungsgrundsatz und Beweisfeststellungslast. Die jeweilige Partei wird sich daher schon im Verfahren bemühen, einer ihr nachteiligen Unerweislichkeit vorzubeugen, da diese sonst zu einer Beweislastentscheidung führt. Den Parteien ist somit die Last aufgebürdet, die für die notwendige Überzeugung erforderlichen Beweismittel zu beschaffen. Aus dieser Darstellung ergibt sich ferner, dass es eine reine Beweisführungslast letztlich nur in einem Verfahren mit Beibringungsgrundsatz geben kann, in dem der Ausgang des Rechtsstreites also allein in den Händen der Parteien liegt und bei dem ein vollständiges Untätigbleiben mithin das sichere Unterliegen zur Folge hätte.59 Im Steuerverfahren herrscht hingegen gemäß § 88 AO der Untersuchungsgrundsatz und mit ihm eine umfassende behördliche Ermittlungspflicht. Eine Beweisführungslast im vorbenannten Sinne kann es demnach nicht 55 Eine fehlende Gewissheit ist aber nur dann anzunehmen, wenn der in Rede stehende Sachverhalt sowohl positiv als auch negativ nicht feststellbar ist. Steht dagegen fest, dass sich eine steuererhöhende Tatsache mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht ereignet hat, so bedarf es keiner Beweislast. In diesen Fällen ergibt schon die Subsumtion unter den fest­ stehenden Sachverhalt, dass eine diesbezügliche Steuer nicht entstanden ist. 56 Rosenberg, Die Beweislast, S. 12 u. S. 98 ff. 57 Ständige Rechtsprechung seit BFH, BStBl. II 1971, S. 220; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/ Spitaler, AO, § 88 Rn. 357 m. w. N. 58 Bei dem es Aufgabe der „Parteien“ (zivilprozessuale Terminologie gemäß §§ 50 ff. ZPO) ist, die entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweismittel „zu Gericht zu tragen“. 59 Rosenberg, Die Beweislast, S. 43; Schmidt, Die Problematik der objektiven Beweislast im Steuerrecht, S. 131 ff.

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geben.60 Probleme wirft hingegen die Einordnung der Mitwirkungspflichten auf, weil sie gerade ein Tätigwerden des Steuerpflichtigen zur Sachverhaltsaufklärung gebieten. Dennoch werden diese Pflichten nicht als eine gesetzlich reglementierte Beweisführungslast verstanden, da die Finanzbehörde ungeachtet der Sachverhaltsaufklärung durch den Steuerpflichtigen ihrer eigenen Ermittlungspflicht uneingeschränkt nachkommen muss.61 Nicht zuletzt sind die Mitwirkungspflichten um einiges umfassender, indem sie nicht nur eine Aufklärung der steuerentlastenden oder -mindernden Tatsachen (nur diesbezüglich trägt der Steuerpflichtige überhaupt die Feststellungs- und auch Führungslast), sondern auch der steuerbegründenden oder -erhöhenden Tatsachen gebieten. 4. Das Ermittlungsverfahren aufgrund einer unrichtigen Steuererklärung Das positive Bild des vertrauenswürdigen Steuerbürgers, dem die Finanzbehörde hinsichtlich der von ihm erklärten Sachverhalte einen großzügigen Glaubwürdigkeitsvorschuss zubilligt, verkehrt sich aber dann ins Negative, wenn der Steuerpflichtige aus Nachlässigkeit vergisst, steuermindernde Tatsachen in seiner Steuererklärung anzugeben. Er kann sodann im Regelfall nicht darauf vertrauen, dass eventuelle Fehler, die zu seinen Lasten gehen, von der Finanzbehörde selbständig aufgedeckt werden. Nur wenn ausnahmsweise seine Steuererklärung im Rahmen des angewandten Risikomanagements einer genaueren Überprüfung unterzogen wird oder diese Zweifel an ihrer Richtigkeit weckt, besteht überhaupt die geringe Wahrscheinlichkeit, dass der eingetretene Fehler von der Finanzbehörde aufgedeckt werden kann. Allerdings wird auch in Anbetracht des geltenden Untersuchungsgrundsatzes und der damit einhergehenden Berücksichtigungspflicht steuermindender Sachverhalte die Finanzbehörde zumindest in der praktischen Umsetzung diesbezüglich keine umfangreichen Verwaltungsressourcen bemühen. Sie ist unter Berücksichtigung der umfassenden Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen nicht gehalten, nach für ihn günstigen, aber bisher vollkommen unentdeckten Sachverhalten zu forschen. Es entspricht demnach der allgemeinen Lebenserfahrung, dass der Steuerpflichtige von sich aus alle steuermindernden Tatsachen geltend ma 60 Denn die Finanzbehörde müsste, ungeachtet einer ihr obliegenden Ermittlung, zumindest eine zufällige Kenntniserlangung durch Dritte in ihre Überzeugungsbildung einbeziehen. Im Gegensatz dazu ist im Zivilprozess nur eine durch die Parteien vermittelte Tatsachenkundgabe möglich. Die Beweisführungslast ausdrücklich verneinend: Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 88 Rn. 32; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn. 348 ff.; dagegen bejahend Martens, StuW 1981, S. 322 ff. [330]. 61 Die Existenz einer subjektiven Beweislast offen gelassen hat der BFH in BStBl. II 1971, S. 220; dagegen verneinend Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn. 348 ff. Schreibt man hingegen der Finanzbehörde und dem Steuerpflichtigen jeweils nur einen eigenständigen Bereich zur Sachverhaltsaufklärung zu, so muss daraus unweigerlich für steuerentlastende (!) Tatsachen eine partielle Beweisführungslast resultieren, vgl. Fn. 52. Zu dieser Konsequenz i. E. auch Schmidt, Die Problematik der objektiven Beweislast im Steuerrecht, S. 133 f.

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chen wird. Soweit sich im Rahmen der abgegebenen Steuererklärung keine weiter­ gehende Veranlassung zur Erforschung günstiger Tatsachen ergibt und auch der Steuerpflichtige dazu keinerlei Veranlassung gibt, endet mithin auch die der Finanzbehörde auferlegten Ermittlungspflicht. Sie ist letztlich von dem in der Steuererklärung unterbreiteten Sachverhalt hinreichend überzeugt. II. Das Festsetzungsverfahren Nach dem Ermittlungsverfahren schließt sich die Festsetzung der Steuer an, die im Erlass des Steuerbescheides62 gemäß § 155 Abs. 1 S. 1 AO mündet. Zentrale Aufgabe der Finanzbehörde ist es in diesem Verfahrensstadium, den gemäß § 38 AO in Verbindung mit den materiellen Steuergesetzen bereits durch die Tatbestandsverwirklichung63 entstandenen Steueranspruch64 in einen durchsetzungsund vollstreckungsfähigen Titel zu konkretisieren.65 Danach ist zwischen dem der Steuerfestsetzung zugrundeliegenden Steueranspruch einerseits und seiner Titulierung durch den Steuerbescheid andererseits klar zu unterscheiden.66 Für eine Anspruchsentstehung selbst kommt es kraft Gesetzes allein auf den Eintritt desjenigen Sachverhaltes an, der unter die Tatbestände der jeweiligen materiellen Steuer­ gesetze zu subsumieren ist.67 Der dazu erforderliche Sachverhalt wird von der Finanzbehörde im Ermittlungsverfahren festgestellt. Allerdings kann erst durch die Steuerfestsetzung in Gestalt des Steuerbescheides der von Gesetzes wegen entstandene Anspruch auch gemäß § 218 Abs. 1 S. 1 AO „verwirklicht“, d. h. geltend gemacht werden.68 Trotz dieser entscheidenden Bedeutung des Steuerbeschei 62 Der Steuerbescheid wird als besonderer Steuerverwaltungsakt bezeichnet, weil er gegenüber den allgemeinen Steuerverwaltungsakten gemäß § 118 AO – so etwa die Anrechnungs­ verfügung bereits geleisteter Vorauszahlung – entsprechend den §§ 155 ff. AO weiteren besonderen Vorschriften unterworfen ist. 63 Für Steuern, die auf ein einmaliges Ereignis abstellen, lässt sich die Entstehung noch einfach bestimmen. Anders ist dies hingegen, wenn die Steuer eine längere Zeitdauer umfasst. So sind z. B. die Einkommensteuer und Körperschaftsteuer eine Jahressteuer gemäß §§ 2 Abs. 7 S. 1 EStG, 7 Abs. 3 S. 1 KStG. Danach entstehen gemäß §§ 36 Abs. 1 EStG, 30 Nr. 3 KStG die genannten Steuern erst mit Ablauf des jeweiligen Veranlagungszeitraumes (i. d. R. das Kalenderjahr). 64 Steueranspruch ist der abstrakte Anspruch des Steuergläubigers gegen den Steuerschuldner auf eine Geldleistung im Sinne des § 3 Abs.  1 AO. Der Steuergläubiger ist derjenige Hoheitsträger, dem die geleisteten Steuerzahlungen aufgrund seiner Ertragshoheit gemäß Art. 106, 107 GG letztendlich zufließen. 65 Mit dieser ausdrücklichen Regelung des § 38 AO (erstmals § 81 Abs. 1 S. 2 RAO 1919) sollte ein langer Streit um den Zeitpunkt der Steuerentstehung entschieden werden. Zur Entstehungsgeschichte Schuster, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 38 Rn. 10; Kruse, Festschrift für Tipke, S. 277 ff. Dazu später unter: Die steuerliche Wirkung einer zu hohen – unrichtigen – Steuerfestsetzung (S. 40). 66 Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, § 38 Rn. 10. 67 Vgl. u. a. Schuster, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 38 Rn. 10 ff. 68 BFH, BStBl. II 1991, S. 281; Intemann, in: Pahlke/Koenig, AO, § 218 Rn. 1; Alber, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Vor §§ 218–227 Rn. 24 ff.; Rüsken, in: Klein, AO, § 218 Rn. 2; Dißars, in: Schwarz, AO, § 218 Rn. 4 ff.

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des enthält die zeitlich vorangestellte Steuerentstehung allerdings nicht nur eine weitere ausdrückliche Normierung der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung.69 Vielmehr sind mit ihr auch besondere Rechtsfolgen verbunden. So kann bsplw. der Steuerentstehung eine entscheidende Bedeutung für den Beginn der Festsetzungsfrist gemäß § 170 Abs. 1 AO zukommen. Betrachtet man nun das Verhältnis zwischen Steuerentstehung und ihrer konkreten Festsetzung, so ist damit die Frage nach der Regelungswirkung des Steuerbescheides als besonderer Verwaltungsakt aufgeworfen. Im allgemeinen Verwaltungsrecht versteht man den Verwaltungsakt seit jeher als ein „der Verwaltung zugehöriger obrigkeitlicher Ausspruch, der dem Untertanen gegenüber im Einzelfall bestimmt, was Rechtens sein soll“70. Vorwiegend wird mit ihm ein konkretes Rechtsverhältnis (erstmals) begründet, aufgehoben oder abgeändert und somit konstitutiv – gestaltend auf das Verhältnis zwischen Bürger und Staat eingewirkt.71 Dies lässt sich allerdings auf die steuerrechtliche Festsetzung schon deswegen nicht übertragen, weil durch § 38 AO die „maßgeblichen Weichen“ der Steuerentstehung schon vor dem Tätigwerden der Finanzbehörde endgültig gestellt sind. Die Finanzbehörde stellt letztlich nur dasjenige fest, was schon von Gesetzes wegen vorgegeben ist.72 Der Festsetzungsakt ist mithin eine rein gebundene Entscheidung der Finanzbehörde, so dass aus diesen Umständen folgernd, dem Steuerbescheid nach umstrittener Ansicht gerade keine konstitutive, sondern eine lediglich deklaratorisch – feststellende Wirkung zukommen muss (sog. materielle Rechtsgrundtheorie).73 Die Regelungswirkung besteht somit schlichtweg in der verbindlichen 69 Der Finanzbehörde soll demnach keine eigenständige Entscheidungsbefugnis hinsichtlich der Besteuerung des Bürger verbleiben. Sie handelt nur, dann aber zwingend, wenn der Gesetzgeber durch einen ausdrücklich vorgesehenen Steuertatbestand dazu Veranlassung gibt. Zum steuerrechtlichen Gesetzesvorbehalt u. a. Hey, in: Tipke/Lang, AO, § 3 Rn. 233 ff.: „Exekutive und Judikative dürfen keine Steuern erfinden. Jede Steuer braucht eine gesetzliche Grundlage.“ 70 O.  Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 3. Aufl. (1924), Bd.  I, S.  95; Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 35 Rn. 3. 71 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9 Rn. 45; U. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 35 Rn. 216. 72 So i.E. schon O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Aufl. (1895), Bd. I, S. 100: „Entscheidungen sind Verwaltungsakte mit rechtlich gebundenem Inhalt. […] die Entscheidung spricht nur aus, was Rechtens sein soll, indem sie erklärt, was Rechtens ist.“ 73 Nach dieser Ansicht soll allein die materielle Rechtslage den Rechtsgrund für die begehrte Steuerleistung darstellen. Diese Konzeption schwebte auch dem Gesetzgeber (AO 1977) vor, BT-Drucks. VI/1982, Zu § 199, S. 167 f. (EAO 1974) bzw. BT-Drucks. 7/4292, Zu § 218 S. 37 (EAO 1977 – indem dort ausdrücklich auf den vorherigen Entwurf Bezug genommen wird). Sie wird heute vertreten vom BFH, u. a. in BStBl. II 1989, S. 563 [566] (siehe aber zur generellen Uneinheitlichkeit der Rspr. die Nachweise bei Schmieszek, in: Beermann/Gosch, AO § 37 Rn. 25); BMF AEAO, Zu § 37 Tz. 1 S. 2, 3 S. 1; Rüsken, in: Klein, AO, § 218 Rn. 2; Drüen, in: Tipke/Kruse, AO § 38 Rn. 10; Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 114; Kruse, Festschrift für Tipke, S.  277 ff.; Drenseck, Das Erstattungsrecht der AO, S.  57 ff.; Schuster, in: Hübsch­mann/Hepp/Spitaler, AO, § 38 Rn. 76; Hein, DStR 1990, S. 301 ff. Die Gegenauffassung (sog. formelle Rechtsgrundtheorie) wird ausdrücklich vertreten von v. Canstein, Der Erstattungsanspruch im Steuerrecht, S. 47 ff.; Söhn, Steuerrechtliche Folgenbeseitigung durch Erstattung,

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

Feststellung eines behördlichen Subsumtionsvorgangs, in dem der Steuerpflichtige hinsichtlich seines tatsächlich verwirklichten Einzelfalles an einen abstraktgenerellen Steuertatbestand „gebunden“ wird.74 Ein Folgeproblem ergibt sich nach dieser Sicht unweigerlich dann, wenn die festgesetzte Steuer die gesetzlich geschuldete übersteigt. In dem dieser Arbeit zugrunde liegenden Beispielsfall sind die von dem Steuerpflichtigen in seiner Steuer­ erklärung nicht angesetzten Werbungskosten Teil  der gemäß § 38 AO gesetzlich geschuldeten Steuer. Schließlich ist der zu den steuerrechtlichen Aufwendungen führende Sachverhalt zwar bereits eingetreten, allerdings konnten diese im Ermittlungsverfahren nicht aufgedeckt und somit auch in der sich daran anschließenden Steuerfestsetzung nicht berücksichtigt werden. Demzufolge weist der ergangene Steuerbescheid einen, gemessen am tatsächlich entstandenen Steueranspruch, zu hohen Steuerbetrag aus. Dies ist letztlich der zentrale Ausgangspunkt jeder „Frist­ erschleichung“. Nun widerstrebt es schon dem natürlichen Rechtsgefühl, wiederum auf die deklaratorische Natur des Steuerbescheides zu verweisen, so dass es daher nicht nur angebracht, sondern geradezu notwendig erscheint, auf dieses besondere Problem an späterer Stelle ausführlich einzugehen.75 S. 92 ff. (als modifizierte formelle Rechtsgrundtheorie); P. Kirchhof, NJW 1985 S. 2977 ff.; ders., NJW 1986, S. 1315 f.; Boeker, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 37 Rn. 27 ff.; Blesinger, in: Kühn/v. Wedelstädt, AO, § 37 Rn. 10; Koenig, DStR 1991, S. 633 ff. [638]. Diese Gegenauffassung stellt darauf ab, dass erst der Steuerbescheid die konkrete Steuer der Höhe nach festsetzt. Eine steuerliche Auswirkung ist mit diesen unterschiedlichen Ansätzen im Fall eines rechtmäßigen Steuerbescheides nicht verbunden. Dies ändert sich erst, wenn ein rechtswidriger Steuerbescheid eine zu hohe Steuerforderung ausweist. Dies wird an späterer Stelle noch zu zeigen sein; siehe diesbezüglich: Die steuerliche Wirkung einer zu hohen – unrichtigen – Steuer­ festsetzung (S. 40). Unabhängig der vorbenannten Auffassungen wurde dem Umstand m. E. bisher zu wenig Bedeutung beigemessen, dass der Steuerfestsetzung gleichfalls auch ein befehlendes Element zukommt. Denn bereits die Steuerfestsetzung ist nach heutiger gefestigter Auffassung der „zu vollstreckende Verwaltungsakt“ gemäß § 249 Abs. 1 S. 1 AO und nicht, wie es früher durch § 9 Abs. 1 Nr. 1 BeitrO bestimmt wurde, das Leistungsgebot (§ 254 Abs. 1 S. 1 AO 1977); vgl. BFH, BStBl. II 2003, S. 109; Beermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 254 Rn. 13; Kruse, in: Tipke/Kruse, AO, § 249 Rn. 2; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 254 Rn. 7. Der Festsetzung der konkreten Steuer muss somit gleichzeitig eine konkludente Zahlungsaufforderung entnommen werden, die schließlich als konkrete Vollstreckungsgrundlage im Sinne des § 249 Abs.  1 S.  1 AO dient. Die Steuerfestsetzung ist somit mehr, als nur die Feststellung der gesetzlich verwirklichten Steuer. Soweit man der aus dem allgemeinen Verwaltungsrecht geläufigen Unterscheidung zwischen „befehlendem, gestaltendem und feststellendem“ Verwaltungsakt folgt, muss sich somit auch eine Neueinordnung ergeben. Nach Kracht, Feststellender Verwaltungsakt und konkretisierende Verfügung, S.  125 ff. [129 ff.], handelt es sich dabei um eine „konkretisierende Verfügung“, die sich aus feststellenden und befehlenden Elementen zusammensetzt. Ähnlich auch U. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 35 Rn. 214. 74 Für das allgemeine Verwaltungsrecht u. a. Kracht, Feststellender Verwaltungsakt und konkretisierende Verfügung, S. 38 ff.; U. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 35 Rn. 219. 75 Dazu der gesonderte Teil: Die steuerliche Wirkung einer zu hohen – unrichtigen – Steuerfestsetzung (S. 40).

1. Abschn.: Die Verfahrensabschnitte im Steuerrecht

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Die nun folgende Darstellung widmet sich der verschiedenartigen Konkretisierung des Steueranspruchs. Diese kann mit unterschiedlicher „Zielsetzung“ (durch endgültige oder vorbehaltsversehene Steuerfestsetzung) und auf unterschiedlicher „Weise“ (durch behördliche Veranlagung oder Steueranmeldung) geschehen. 1. Die endgültige und vorbehaltsversehene Steuerfestsetzung Für den Erlass eines die Steuer festsetzenden Bescheides ist es keine zwingende Voraussetzung, dass ein vollständiges Ermittlungsverfahren durchgeführt wurde und die Finanzbehörde daraufhin zu der maßgeblichen Überzeugung gelangt ist. Die Finanzverwaltung hat ihr Vollzugskonzept im Massenverfahren „Steuerfestsetzung“ auf Kontrollmaßnahmen umgestellt, um die zu bearbeitenden Steuerfälle anhand der zur Verfügung stehenden Ressourcen optimal zu bewerkstelligen.76 Rechtstechnisch wird diese Vorgabe durch die bereits dargestellte Reduzierung des Beweismaßes umgesetzt. Zentrales Beweismittel sind damit die von den Einzelsteuergesetzen geforderten Steuererklärungen gemäß § 149 AO; sie bilden den vorläufigen Maßstab der Veranlagung.77 Diese Entwicklung hat auch der Gesetzgeber erkannt und der Finanzverwaltung die Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gemäß § 164 AO an die Hand gegeben.78 Danach kann ein Steuerbescheid auch dann ergehen, wenn der Steuerfall noch nicht abschließend geprüft wurde und sich die Finanz­behörde eine spätere Prüfung vorbehält. Das praktische Bedürfnis dieser vorgeschobenen Steuer­festsetzung ergibt sich aus dem Umstand, dass Steueransprüche jeweils wechselseitig zwischen Bürger und Staat nur dann realisiert werden können, wenn eine abschließende verbindliche Regelung – mittels Steuerbescheides – über die Steuer­schuld79 ergangen ist. Um nun den Schwebezustand zwischen Entstehung der Steuer durch Tatbestandsverwirklichung gemäß § 38 AO und seiner nachzeitigen Realisierung so gering wie möglich zu halten, ist diese „vorläufige“ Steuer­ festsetzung gemäß § 164 AO80 entstanden. Im Vordergrund steht somit das rein 76

Dies zeigen auch die gleichlautenden Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder über die „Grundsätze für die Neuorganisation der Finanzämter und die Neuordnung des Besteuerungsverfahrens“ (GNOFÄ), BStBl. I 1996, S. 1391; dazu Hoffmann, DStR 1997, S. 1189 ff. 77 So ausdrücklich Nr.  3 des Erlasses der obersten Finanzbehörden der Länder, BStBl.  I 1996, S. 1391 (GNOFÄ); Schick, StuW 1988, S. 301 ff. [327 f.]. 78 Vgl. den Regierungsentwurf, BT-Drucks. VI/1982, Zu § 145, S. 148. 79 Steueranspruch und Steuerschuld sind identische Begriffe, vgl. Schuster, in: Hübschmann/ Hepp/Spitaler, AO, § 38 Rn. 2. 80 Wobei die Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung nicht mit der vorläufigen Steuerfestsetzung gemäß § 165 AO verwechselt werden darf. Letztere beinhaltet ebenfalls die Befugnis der Finanzbehörde, den Steuerfall hinsichtlich bestimmter Punkte „offen“ zu halten. Im Gegensatz zu § 164 AO aber nicht, weil sie sich eine genauere Prüfung willentlich vorbehält, sondern weil sie gerade die herrschende Ungewissheit aus eigener Kraft nicht beseitigen kann. Dazu Heuermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 164 Rn. 6.

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fiskalische Interesse an einer zügigen Realisierung der Steuereinnahmen. Steuerrechtsdogmatisch stellt diese vorgezogene Veranlagung eine temporäre Ausnahme von dem in § 85 AO verankerten Prinzip der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung dar.81 Der Erlass eines Steuerbescheides unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht gemäß § 164 Abs.  1 AO im Ermessen der Finanzbehörde. Sie gibt zum Erlass­ zeitpunkt ihren Willen zu erkennen, dass sie die Steuerfestsetzung noch nicht als abschließend betrachtet und sich noch weitere Ermittlungen vorbehält.82 Weitere Voraussetzungen sind an den Vorbehaltsvermerk, der die Rechtsnatur einer Nebenbestimmung trägt, nicht geknüpft.83 Insbesondere ist die Finanzbehörde nicht verpflichtet, eine in Aussicht gestellte Überprüfung auch tatsächlich durchzuführen. Allerdings ist die Anordnung eines Vorbehaltes jedenfalls dann ermessensfehlerhaft, wenn bereits bei Erlass feststeht, dass eine nachträgliche Prüfung nicht möglich sein wird.84 Andererseits ist die Finanzverwaltung in keinem Fall gezwungen, sich einer späteren Nachprüfung vorzubehalten. Einen diesbezüglichen Anspruch wird der Steuerpflichtige im Übrigen nicht herleiten können.85 Hat der Steuerpflichtige seine Steuererklärung abgegeben, steht es der Finanzverwaltung vielmehr frei, auf der Grundlage dieses Beweismittels eine endgültige Festsetzung vorzunehmen oder eine spätere Nachprüfung ins Auge zu fassen. Sieht man in § 164 AO richtigerweise eine Arbeitserleichterung der Finanzverwaltung durch gezielten Einsatz von Verwaltungsressourcen86, so wird man davon ausgehen können, dass die Mehrzahl aller Steuerfälle endgültig zu veranlagen ist und ein Nachprüfungsvorbehalt – verbunden mit weiteren zeitintensiven Ermittlungen – nur im Falle eines ausdrücklichen Bedürfnisses angeordnet wird. So sieht es letztlich auch die einschlägige Verwaltungsvorschrift (GNOFÄ) vor.87 81

Frotscher, in: Schwarz, AO, § 164 Rn. 1; Heuermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 164 Rn. 5. 82 Es handelt sich um eine Willensentscheidung, die nur schwerlich auf ihre Rechtswidrigkeit hin zu überprüfen ist. Dies mag letztlich auch daran liegen, dass die Vorbehaltsentscheidung gemäß § 164 Abs.  1 S.  1 AO nicht begründet werden muss; vgl. zu diesen Schwierigkeiten­ Heuermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 164 Rn. 8. 83 Zur Rechtsnatur u. a. Trzaskalik, StuW 1993, S. 371 ff.; Cöster, in: Pahlke/Koenig, AO, § 164 Rn. 33. 84 BFH/NV 1999, S. 1307 f.; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 164 Rn. 17. 85 FG Rh.-Pf., EFG 2008, S.  350; Cöster, in: Pahlke/Koenig, AO, § 164 Rn.  29; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 164 Rn. 17; Rüsken, in: Klein, AO, § 164 Rn. 16. 86 Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 85 Rn. 27. 87 Diese Verfahrensweise wird in der Praxis durch Nr. 2 – 4 des Erlasses der obersten Finanz­ behörden der Länder, BStBl. I 1996, S. 1391 (GNOFÄ), konkretisiert. Danach wird zwischen „intensiv zu bearbeitenden“ und „übrigen“ Steuerfällen unterschieden. Eine intensive Bearbeitung kommt nur dann in Betracht, wenn dies speziell angeordnet wird (Nr. 2 S. 1 – 1. Spiegel­ strich GNOFÄ), der Steuerfall maschinell ausgewählt wird (Nr. 2 S. 1- 2. Spiegelstrich GNOFÄ), sich Zweifelsfragen von erheblicher steuerlicher Bedeutung ergeben (Nr. 2 S. 1 – 3. Spiegelstrich GNOFÄ) oder der Bearbeiter des Steuerfalles einen Anlass sieht (Nr. 2 S. 2 GNOFÄ). Die Bearbeitung der Steuerfälle hat dabei nach Möglichkeit in einem Arbeitsgang abschließend zu erfolgen (Nr. 4 S. 1 GNOFÄ). Erst wenn dies nicht geschehen kann, soll die Steuer nur für die

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Ist der Vorbehalt der Nachprüfung wirksam, so beinhaltet er nach § 164 Abs. 2 S.  1, Abs.  4 AO eine umfassende Aufhebungs- und Änderungsmöglichkeit. Der Steuerbescheid wird somit vollumfänglich bis zum endgültigen Ablauf der Festsetzungsverjährung offen gehalten.88 Die Änderungsbefugnis wirkt jedoch nicht allein einseitig zuungunsten des Steuerpflichtigen. Solange der Vorbehalt wirksam ist, kann auch der Steuerpflichtige durch ein Nachschieben rechtlicher oder tatsächlicher Gründe eine Abänderung des bisherigen Steuerbescheides erwirken.89 Es wird ihm dadurch die Möglichkeit eingeräumt, vergessene Werbungs- oder Betriebsausgaben geltend zu machen. Die im Beispielsfall angedeuteten Änderungsprobleme, wie sie sich dort im Rahmen einer endgültigen Steuerfestsetzung darstellen, sind mit der vorbehaltsversehenen Festsetzung nach alledem nicht verbunden. Die sich daraus ergebenden Bestrebungen des Steuerpflichtigen, sich durch unwahre Tatsachen eine Änderung des Steuerbescheides zu „erschleichen“, können sich danach nicht ergeben. 2. Die behördliche Veranlagung und Steueranmeldung Die Steuerfestsetzung  – auch Steuerveranlagung90 genannt  – kann dabei auf zwei unterschiedlichen „Wegen“ zu einem vollstreckungsfähigen Titel führen. Insofern muss zwischen der behördlichen Fremdveranlagung, die in einem schriftlichen Steuerbescheid mündet, und der Selbstveranlagung durch den Steuerpflichtigen, aufgrund einer von ihm abzugebenden Steueranmeldung, unterschieden werden. Begrifflich werden die Steuern der erstgenannten Veranlagungsart als Veranlagungssteuern und diejenigen der zweiten als Anmeldungssteuern (auch Fälligkeitssteuern) bezeichnet.91 Fälle mit erheblicher steuerlicher Auswirkung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt werden (Nr. 4 S. 2 GNOFÄ). Darüber hinaus ist eine Vorbehaltsvermerk nur im Falle der regelmäßigen Betriebsprüfung oder einer bevorstehenden Außenprüfung ausdrücklich vorgeschrieben (Nr. 4 S. 3 GNOFÄ). Somit kann konstatiert werden, dass die überwiegende Mehrzahl der Steuerfälle endgültig veranlagt werden. So auch Metzmaier, DStR 1978, S. 461 ff. [462], zum damaligen Erlass der obersten Finanzbehörden der Länder, BStBl. I 1976, S. 89 ff. (GNOFÄ 1977). Zu der Arbeitsweise nach dem heute geltenden Erlass (GNOFÄ) Hoffmann, DStR 1997, S. 1189 ff. 88 BMF AEAO, Zu § 164 Tz. 3. S. 2; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 164 Rn. 35; Heuermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 164 Rn. 20 ff.; Rüsken, in: Klein, AO, § 164 Rn. 21; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 164 Rn. 22. 89 So ausdrücklich Metzmaier, DStR 1978, S. 461 ff.; Heuermann, in: Hübschmann/Hepp/ Spitaler, AO, § 164 Rn. 22; Rüsken, in: Klein, AO, § 164 Rn. 1. 90 Kritisch zum Begriff der Veranlagung Frotscher, in: Schwarz, AO, Vor § 155 Rn. 4. Zwar findet sich diese Terminologie nicht ausdrücklich in der AO, dennoch verwenden die Einzelsteuergesetze (so z. B. §§ 31 KStG, 25 ff. EStG) diese Bezeichnung. 91 Gerade im Steuerstrafrecht ist diese Unterscheidung sowohl für den Versuchs- als auch Vollendungszeitpunkt der Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 u. 2 AO von erheblicher Bedeutung; dazu u. a. Rolletschke, Steuerstrafrecht, Rn. 124 ff.

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a) Die Veranlagungssteuern aa) Begriff Die bisherigen Erläuterungen sind stillschweigend von der Prämisse ausgegangen, dass es allein in der Hand der Finanzbehörde liegt, den vom Steuergläubiger begehrten und zur konkreten Durchsetzung berechtigenden Titel zu schaffen. Dies ist auch der ursprünglich vom Gesetzgeber vorgesehene Normalfall, in dem am Ende des Festsetzungsverfahrens dem Steuerpflichtigen ein schriftlicher Steuerbescheid gemäß §§ 155 Abs. 1, 157 Abs. 1 S. 1 u. 2, 122 AO bekannt gegeben wird. Die danach festgesetzten Steuern werden als Veranlagungssteuern bezeichnet, weil bei ihnen ein behördliches Veranlagungsverfahren statt finden muss.92 Für sie gelten die obigen Ausführungen zum Ermittlungs- und Festsetzungsverfahren uneingeschränkt. bb) Die Bekanntgabe des Steuerbescheides Der Verwaltungsakt bedarf als eigenständige Rechtsetzung der Verwaltung, ähnlich der Verkündung eines richterlichen Urteils, einer willentlichen Entäußerung durch die erklärende Finanzbehörde. Erst durch den Errichtungsakt der Bekanntgabe wird die beabsichtigte Regelung gegenüber dem Adressaten93 gemäß § 124 Abs. 1 S. 2 AO wirksam.94 Ziel der Bekanntgabe ist es, den Steuerschuldner vom Inhalt der Festsetzung in Kenntnis zu setzen, wobei allerdings schon die Möglichkeit der Kenntnisnahme genügt.95 Insbesondere für einen schriftlichen Verwaltungsakt – wie der Steuerbescheid gemäß § 157 Abs. 1 S. 1 AO96 – bedeutet 92

Vgl. u. a. Frotscher, in: Schwarz, AO, Vor § 155 Rn. 4; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 400 ff.; Rolletschke, Steuerstrafrecht, Rn. 126. Zur steuerrechtlichen Herkunft dieser Begrifflichkeit siehe: b) Die Anmeldungssteuern (S. 39). 93 Es ist zwischen Inhalts- und Bekanntgabeadressat zu unterscheiden, BMF AEAO, Zu § 122 Tz. 1.3., 1.4. Erster ist derjenige, für den der verkörperte Inhalt bestimmt ist; der von der Regelungswirkung des Verwaltungsaktes gezielt erfasst werden soll. In § 122 Abs. 1 S. 1 AO ist vorgesehen, dass diesem Inhaltsadressaten der Verwaltungsakt auch bekannt gegeben werden soll. Dies sind die Regelfälle, in denen Inhalts- und Bekanntgabeadressat personenidentisch sind. Demgegenüber sind z. B. Minderjährige selbst nicht handlungsfähig gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 1, 2 AO, so dass nach Maßgabe des § 34 Abs. 1 S. 1 AO deren gesetzliche Vertreter – i. d. R. die Eltern gemäß § 1629 BGB – deren steuerlichen Pflichten zu erfüllen haben. Ihnen gegenüber ist daher der Steuerbescheid bekannt zu geben (Bekanntgabeadressat), wobei dieser inhaltlich an den Minderjährigen bestimmt ist (Inhaltsadressat). Gleiches gilt für den Empfangsbevollmächtigten gemäß § 122 Abs. 1 S. 3 AO. 94 BMF AEAO, Zu § 122 Tz. 1.1.2. S. 2; Müller-Franken, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 122 Rn. 11 f.; Pahlke, in: Pahlke/Koenig, AO, § 122 Rn. 6. 95 U. a. Seer, in: Tipke/Kruse, AO § 122 Rn. 10; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 122 Rn. 4. Weitere Nachweise siehe in Fn. 99. 96 Nur soweit für den Steuerbescheid gesetzlich eine andere Form angeordnet wird, bedarf es der Schriftform nicht. Eine solche Abweichung ist aber der Ausnahmefall; siehe Pahlke, in: Pahlke/Koenig, AO, § 119 Rn. 24 f. u. § 157 Rn. 6.

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es, dass er dem Bekanntgabeadressaten gegenüber zugegangen sein muss. Nichts anderes gilt im Übrigen, wenn die Finanzbehörde von der Befugnis gemäß den §§ 157 Abs. 1 S. 1, 87a Abs. 4 S. 1, S. 2, 122 Abs. 2a AO Gebrauch macht und Steuerbescheide in elektronischer Form erlässt und übermittelt. Im Gegensatz zu der von der Finanzverwaltung bereits eingesetzten Übersendetechnik durch Teleoder Computerfax97 findet eine vollelektronische Bekanntgabe von Steuerbescheiden regelmäßig noch nicht statt, da es hierzu entweder einer nach Maßgabe des § 87a Abs. 4 S. 2 AO erforderlichen qualifizierten Signatur nach dem Signaturgesetz bedarf oder der Verwaltungsakt gemäß § 87a Abs. 4 S. 3 AO durch eine DeMail-Nachricht nach § 5 Abs. 5 des De-Mail-Gesetzes versandt werden muss.98 Der erforderliche Zugang wird in den vorbenannten Fällen angenommen, wenn das Schriftstück oder elektronische Dokument derart in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist, dass diesem die Kenntnisnahme normalerweise möglich war und nach den Gepflogenheiten des Rechtsverkehrs auch erwartet werden konnte.99 Der Finanzbehörde ist es diesbezüglich überlassen, die Bekanntgabe im Rahmen einer einfachen postalischen oder nunmehr auch elektronischen Übermittlung gemäß § 122 Abs. 2, Abs. 2a AO durchzuführen, oder das förmliche Verfahren der Zustellung gemäß § 122 Abs. 5 AO in Verbindung mit dem Verwaltungs 97 Das Telefax (einschließlich Computerfax) soll nach umstrittener Ansicht als „elektronisch übermittelter Verwaltungsakt“ gemäß § 122 Abs. 2a AO angesehen werden, wobei allerdings die besonderen Regelungen des § 87a AO keine Anwendung finden sollen, vgl. BMF AEAO, Zu § 122 Tz. 1.8.2. – 2. Unterabsatz. Anders noch BFH, BStBl. II 1999, S. 48, der vor der Einführung des § 122 Abs. 2a AO eine Bekanntgabe nach den Vorschriften des § 122 Abs. 2 AO für einschlägig hielt. Teilweise wird auch danach differenziert, ob das technische Empfangsgerät zur elektronischen Speicherung der Sendung (§ 122 Abs.  2a AO) oder nur zum Ausdrucken des Dokuments (dann § 122 Abs. 2 AO) ausgerüstet ist, vgl. Müller-Franken, in: Hübschmann/ Hepp/Spitaler, AO, § 122 Rn. 422. Zur besonderen Problematik, ob für das Computerfax die Vorschrift des § 87a Abs. 4 S. 2 AO gilt, siehe FG Köln v. 5.11.2009 – 6 K 3931/08 = EFG 2010, S. 618 ff.; Carlé, AO-StB 2010, S. 117 ff. Der BFH hat sich mit Urteil vom 18.3.2014 – AZ: VIII R 9/10 – gegen eine Anwendung (auch für das sog. Ferrari-Fax-Verfahren) entschieden. 98 Von der Möglichkeit gemäß § 87a Abs. 6 AO durch Rechtsverordnung ein „anderes sicheres Verfahren“ zuzulassen, wurde im Gegensatz zum Verfahren über die elektronische Steuererklärung (ELSTER) gemäß §§ 87a Abs. 6, 150 Abs. 6, Abs. 7 AO i. V. m. StDÜV bisher nicht Gebrauch gemacht; vgl. BMF-Schreiben v. 16.11.2011, BStBl. I 2011, S. 1063; OFD Frankfurt v. 18.06.2008 – S 0222a A-2-St 23; erläuternd auch FG Köln, EFG 2010, S. 618 ff.; Rätke, in: Klein, AO, § 87a Rn. 6. Zur neueren Entwicklung siehe aber das gemeinsame Konzept (Diskussionsentwurf)  von Bund und Länder zur „Modernisierung des Besteuerungsverfahrens“ vom 25.11.2014, DStR-Beihefter 2014, S. 149 ff. Hiernach (a. a. O., Rz. 38 ff.) soll eine Bereitstellung des (elektronischen) Steuerbescheides zum Datenabruf „über ELSTER“ in Zukunft mit der ausdrücklichen Zustimmung des Steuerpflichtigen (Entwurf eines § 122 Abs. 2b AO) ermöglicht werden. Ab dem 1.07.2014 kann die Schriftform auch durch die Übersendung einer De-Mail-Nachricht ersetzt werden. Diese setzt allerdings voraus, dass der Steuerpflichtige Inhaber eines De-Mail-Kontos bei einem akkreditierten Dienstanbieter ist (vgl. §§ 3 ff. De-MailGesetz) und er ausdrücklich diesen Zugang zum Empfang von Nachrichten eröffnet hat (vgl. § 87 a Abs. 1 S. 1 AO i. V. m. § 7 Abs. 3 De-Mail-Gesetz). 99 BFH/NV 1998, S. 1064 ff.; Pahlke, in: Pahlke/Koenig, AO, § 122 Rn. 14; Seer, in: Tipke/ Kruse, AO § 122 Rn. 10 f.; Müller-Franken, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 122 Rn. 55 ff.

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zustellungsgesetz (VwZG) als besondere Form der Bekanntgabe zu wählen. Die Zustellung eines Steuerbescheides ist gesetzlich nicht vorgesehen, allerdings ist die Finanzbehörde gemäß § 122 Abs. 5 S. 1 – 1. Alt. AO nicht daran gehindert, im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens eine förmliche Bekanntgabe anzuordnen.100 Ein solches Vorgehen ist insbesondere dann ratsam, wenn es aus Beweisgründen erforderlich erscheint, z. B. weil der Steuerpflichtige regelmäßig den Zugang des Steuerbescheides bestreitet.101 Ist demgegenüber ein besonderer Anlass für eine förmliche Zustellung nicht gegeben, wie dies für die weit überwiegende Zahl der Steuerfälle anzunehmen ist, so wird die Finanzbehörde den Steuerbescheid dem Bekanntgabeadressaten gegenüber durch Postübermittlung oder (zukünftig) durch Übermittlung in elektronischer Form bekannt geben.102 In diesen Fällen stellt nun das Gesetz eine widerlegbare Zugangsvermutung zugunsten der Finanzbehörde auf.103 Es handelt sich dabei um eine für die Finanzbehörde günstige Beweiserleichterung, indem sie bei unbestrittenem Zugang ohne weitere Feststellungen von dem gesetzlich vorgegebenen Zeitpunkt ausgehen darf.104 Danach gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt bei postalischer Übermittlung im Inland gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post105 als bekannt gegeben. Bei einer Übermittlung im Ausland tritt die Bekanntgabevermutung gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 2 AO nach einem Monat ein. Die Bekanntgabe eines elektronisch übermittelten Verwaltungsaktes gilt gleichfalls ab dem dritten Tage nach seiner Absendung als zugegangen gemäß § 122 Abs. 2a AO.106 Diese vom Gesetz aufgestellte Vermutung des Zugangs tritt aber nach § 122 Abs. 2 – 1. Hs. AO bzw. im Falle der elektronische Übermittlung nach § 122 Abs. 2a – 1. Hs. AO nicht in Kraft, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. 100 BFH, BStBl. II 1990, 612; BMF AEAO, Zu § 122 Tz. 1.8.; Brockmeyer, in: Klein, AO, § 122 Rn. 65; Müller- Franken, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 122 Rn. 488. 101 Seer, in: Tipke/Kruse, AO § 122 Rn. 66. 102 Müller-Franken, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 122 Rn. 488 a. E. 103 Und gerade aufgrund dieser (zumindest zugunsten des Steuerpflichtigen bestehenden)­ Widerlegbarkeit handelt es sich nicht um eine Fiktion; auch wenn der Wortlaut („gilt“) auf eine solche hindeutet. Zu der Unterscheidung zwischen Vermutung und Fiktion, Rosenberg, Die Beweislast, S. 199 ff. [213]. So i.E. auch Müller-Franken, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 122 Rn. 321 u. 349, der allerdings im Rahmen der Abgrenzung zwischen Vermutung und Fiktion darauf abstellt, dass das Angenommene mit der Wirklichkeit nicht übereinstimme (oder übereinstimmen könne). Eine Fiktion setze dies im Gegensatz zu einer Vermutung immer voraus. Da aber im vorliegenden Fall durchaus der tatsächliche und gesetzlich vermutete Zugang zusammenfallen könne, handele es sich richtigerweise um eine Vermutung. 104 Pahlke, in: Pahlke/Koenig, AO, § 122 Rn. 60. 105 Die Aufgabe eines schriftlichen Verwaltungsaktes zur Post setzt voraus, dass das zur Übermittlung beauftragte Unternehmen in den Besitz des Schriftstückes – bsplw. durch Einwurf in den Briefkasten – gelangt, so u. a. Müller-Franken, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 122 Rn.  339. Unter Post sind dabei alle Unternehmen zu verstehen, die Postdienstleistungen er­ bringen, siehe BMF AEAO, Zu § 122 Tz. 1.8.2. 106 Nach herrschender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur handelt es sich bei den genannten Zeiträumen um eine Frist im Sinne des § 108 Abs. 3 AO, so u. a. BFH, BStBl. II 2003, S. 2; BMF AEAO, Zu § 108 Tz. 2.; Müller-Franken, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 122 Rn. 357.

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cc) Der Streit um die Bekanntgabe In Anbetracht des Beispielsfalles ist nun entscheidend, wer die Feststellungslast für die Nichterweislichkeit des Zugangs trägt. Nur wenn die Finanzbehörde für die diesbezügliche Unerweislichkeit einzustehen hat, wird sich für den Steuer­ pflichtigen überhaupt erst die pauschale Angabe lohnen, den Steuerbescheid nicht bekommen zu haben. Folgt man den bereits dargestellten Grundsätzen zur objektiven Beweislast, so handelt es sich bei dem Nachweis der Bekanntgabe, als Wirksamkeitsvoraussetzung eines Steuerbescheides, um eine steuerbegründende Voraussetzung. Die Feststellungslast im Falle ihrer Unerweislichkeit trägt mithin die Finanzbehörde.107 Ihr kommt nun die Vermutung des Zugangs gemäß den Vorschriften des § 122 Abs.  2, Abs.  2a AO zugute. Kann sie daher  – spätestens im finanzgerichtlichen Prozess  – beweisen, dass sie den streitgegenständlichen Steuer­bescheid zur Post gegeben hat, so wird der Zugang des Steuerbescheides am dritten Tage nach der Aufgabe vermutet.108 Sollte es dagegen schon an dieser Grundvoraussetzung des Vermutungstatbestandes fehlen, so findet die vorgesehene Beweiserleichterung zugunsten der Finanzbehörde insgesamt keine Anwendung.109 Im Gegensatz zu einem vom Steuerpflichtigen vorgetragenen verspäteten Zugang erst nach Eintritt des gesetzlichen Vermutungszeitpunktes, bedarf es für den hier in Rede stehenden Nachweis der Postaufgabe im Falle eines bestrittenen Zugangs als solchen keiner weiteren Ausführungen.110 Denn selbst bei einer vom Finanzgericht positiv festgestellten Postaufgabe wird der in § 122 Abs. 2 – 2. Hs. bzw. Abs. 2a – 2. Hs. AO vorgesehene Ausschlusstabestand eingreifen. Dazu folgende Vorüberlegung: Eine gesetzliche Vermutungswirkung kann grundsätzlich durch den Beweis des Gegenteils  – im vorliegenden Fall durch den Nachweis des fehlenden Zugangs – entkräftet werden.111 Die diesbezügliche Feststellungslast würde nach allgemeinen Beweisgrundsätzen den Steuerpflichtigen treffen. Schließlich wird 107 Vgl. u. a. BFH/NV 2001, S. 145 f.; Müller-Franken, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 122 Rn. 346, 377 ff. 108 Nach der Rechtsprechung des BFH, BStBl. II 1989, S. 695, muss das Finanzgericht zu der freien Überzeugung (§ 96 FGO) gelangen, dass das von der Finanzbehörde praktizierte Postabsendeverfahren für sich genommen die Gewähr dafür bietet, dass die tatsächliche Aufgabe eines Steuerbescheides zur Post mit dem in den Steuerakten vermerkten Datum stets übereinstimmt und ein atypischer Geschehensverlauf auch im Einzelfall ausgeschlossen ist. In der Regel ist zum Nachweis ein finanzbehördliches Kontrollverfahren erforderlich. So auch BFH, BStBl. II 2003, S. 2. Zu dieser Beweiswürdigung im Einzelnen Müller-Franken, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 122 Rn. 365 ff. 109 Müller-Franken, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 122 Rn. 365. 110 Zu der Einwendung des späteren Zugangs (insbesondere hinsichtlich des Postaufgabe­ datums) siehe: 1. Einspruchsfrist (S. 75). 111 Für das Zivilrecht folgt dies aus § 292 ZPO. Dazu Rosenberg, Die Beweislast, S. 199 ff. [222]; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 110 Rn.  14, § 112 Rn.  34. Für das Steuerrecht ist von einer entsprechenden Anwendung des § 292 ZPO über die Generalverweisung des § 155 FGO auszugehen. Zumindest widerstrebt § 292 ZPO nicht generell den Grundsätzen des finanzgerichtlichen Verfahrens, siehe i.E. Schwarz, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, FGO, § 155 Rn. 35 ff.

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

dadurch die Existenz des Steuerbescheides selbst „angegriffen“ und mithin eine für den Steuerpflichtigen günstige Rechtsfolge abgeleitet. Anders hingegen sieht es das Gesetz in § 122 Abs. 2 – 2. Hs. bzw. Abs. 2a – 2. Hs. AO vor. Dort ist ausdrücklich klargestellt, dass im Zweifel die Finanzbehörde den Zugang nachzuweisen hat. Sie hat im Falle des Bestreitens den vollen Beweis dafür zu erbringen, dass der Steuerbescheid dem Steuerpflichtigen zugegangen ist.112 Insbesondere entfaltet nach einheitlicher Auffassung der positiv geführte Beweis der Postaufgabe nicht den Beweis des ersten Anscheins hinsichtlich des tatsächlichen Zugangs. Gegen eine solche Annahme spreche schon die eindeutige gesetzgeberische Intention des hier behandelten Ausschlusstatbestandes.113 Darüber hinaus wird man von dem den Zugang bestreitenden Steuerpflichtigen ebenfalls keinen substantiierten Vortrag erwarten können. Handelt es sich bei dem Vorbringen, den Steuerbescheid überhaupt nicht erhalten zu haben, doch um eine negative Tatsache, die schon aus der Natur der Sache nicht näher dargelegt werden kann – negativa non sunt probanda.114 Richtigerweise genügt es zur Erschütterung der Vermutungswirkung, dass der Steuerpflichtige schlichtweg behauptet, den Steuerbescheid nicht erhalten zu haben. Dies gilt selbst für den neuerdings relevanten Fall, dass der Steuerpflichtige eine elektronische Steuererklärung (ELSTER-Verfahren) abgegeben hat und ihm in diesem Zuge vorab eine elektronische Version seines Steuerbescheides zur Verfügung gestellt wurde. Denn mangels qualifizierter elektronischer Signatur (nach dem Signaturgesetz) gemäß § 87a Abs. 4 S. 1 – 1. Alt., S. 2 in Verbindung mit § 157 Abs. 1 S. 1 AO ist der elektronische Steuerbescheid schon von vorn­herein nach Maßgabe des § 125 Abs. 1 AO nichtig, so dass nur der spätere schriftlich zugegangene Steuerbescheid maßgebend ist.115

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BFH, BStBl. II 1989, S. 534. Dies gilt im Übrigen auch für die Übersendung durch Teleoder Computer-Fax. Denn nach st. Rspr. des BFH, zuletzt u. a. im Urteil v. 18.3.2014 – AZ: VIII R 9/10, genügt nicht schon die elektronische Speicherung am Empfangsgerät. Vielmehr bedürfe es stets eines tatsächlichen Ausdruckes, dessen Vorliegen aber gem. §  122 Abs.  2 – 2. Hs. AO die Finanzbehörde zu beweisen habe. Ein Anscheinsbeweis (s. allgem. dazu Fn. 113) sei auch nicht bei positivem Sendebericht und Eingangsvermerk im Empfangsprotokoll anzunehmen. 113 Anders noch BFH, BStBl.  II  1982, S.  102; Drescher, NVwZ 1987, S.  771 ff. [773 f.]. Diese Auffassung hat die obergerichtliche Rechtsprechung dann aber ausdrücklich verworfen, BFH, BStBl. II 1989, S. 534; BStBl. II 1995, S. 41. Dazu auch Harenberg, DStR 1990, S. 236 ff.; Stöcker, DStZ 1982, S. 458 f. (Anm. zu BStBl. II 1989, S. 534); Wolf, DStZ 1996, S. 103 f. (Anm. zu BStBl. II 1995, S. 41); Müller-Franken, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 122 Rn. 377. Allgemein zum Übermittlungsrisiko BVerfG, MDR 1977, S. 202 f. 114 BFH, BStBl. III 1967, S. 99; BStBl. II 1995, S. 41 (Bestreiten des Zugangs nach 6 Jahren); mit Anm. dazu von Wolf, DStZ 1996, S. 103 f.; Harenberg, DStR 1990, S. 236 ff. [239]; Heimke, DStZ 1996, S. 103 f. Siehe ferner Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 122 Rn. 58; MüllerFranken, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 122 Rn. 378, jeweils m. w. N. 115 FG Köln, EFG 2010, S. 618 ff.; Pahlke, in: Pahlke/Koenig, AO, § 119 Rn. 27; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 119 Rn. 15. Rätke, in: Klein, AO, § 87a Rn. 6; Brockmeyer/Ratschow, in: Klein, AO, § 125 Rn. 7. Siehe zum „technisch“ noch nicht umgesetzten elektronischen Steuerbescheid bereits die Nachweise in Fn. 98.

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Natürlich ist es der Finanzbehörde und im späteren Klageverfahren dem Finanzgericht nicht verwehrt, den bestrittenen Zugang im Wege der freien Beweiswürdigung gemäß § 96 FGO (analog) als erwiesen anzusehen.116 Gewichtiges Indiz für den Zugang des Steuerbescheides stellt diesbezüglich eine vom Steuerpflichtigen eventuell schon vorgenommene Zahlung in Höhe der titulierten (zu hohen) Steuerforderung dar. Eine solche wäre nämlich ohne Kenntnis der genauen Steuerschuld und einer entsprechenden Aufforderung zur Begleichung höchst unwahrscheinlich. Ganz anders stellt sich demgegenüber die Beweissituation im Fall eines vorgetragenen späteren Zugangs dar. In diesen Fällen wird von dem Steuerpflichtigen ein substantiiertes Vorbringen gefordert. Nur dann können ernstliche Zweifel an einem rechtzeitigen Zugang des Steuerbescheides innerhalb der gesetzlich vorgesehenen drei Tage geweckt werden.117 Er muss demnach Tatsachen vortragen, die den Schluss zulassen, dass ein anderer als der vom Gesetz als typisch vorhergesehene Geschehensablauf ernstlich in Betracht zu ziehen ist.118 Der Steuerpflichtige wird sich somit nicht mit der Ausrede in den Einspruch „retten“ können, den Steuerbescheid erst Tage später bekommen zu haben.119 b) Die Anmeldungssteuern Das Gesetz sieht nicht in allen Fällen der Steuerfestsetzung die Durchführung eines förmlichen Verfahrens vor. Bei Anmeldungssteuern geht die Abgabenordnung im Vergleich zur behördlichen Festsetzung noch einen Schritt weiter, indem sie der Erklärung des Steuerpflichtigen nicht nur einen „Glaubwürdigkeitsvorschuss“ zubilligt und entsprechend seinen Angaben den Steuerbescheid erlässt, sondern die Erklärung gleich als „Steuerbescheidsurrogat“ wertet.120 Der Steuerpflichtige wird infolgedessen gezwungen, seine Steuer selbst festzusetzen, wobei sich die gesetzlich geforderte Erklärung nicht nur in der Mitteilung der Besteuerungsgrundlagen erschöpft, sondern der Steuerschuldner letztlich seine Steuer­ gemäß § 150 Abs.  1 S.  3 AO auch selbst zu berechnen hat (Legaldefinition der Steuer­anmeldung).121 Teilweise trifft die Anmeldungspflicht nicht den Schuldner 116 So eindeutig BFH, BStBl. II 1989, S. 534; Lange, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, FGO, § 96 Rn. 108. 117 Genau auf diese Probleme stieß der wegen versuchter Steuerhinterziehung Angeklagte in dem vom OLG Hamm, wistra 2009, S. 80, entschiedenen und dieser Arbeit als Anlass zugrunde liegende Fall. Siehe hierzu später: IV. OLG Hamm v. 14.10.2008 – 4 Ss 345/08 (steuerrechtliche Seite) (S. 134). 118 BFH, BStBl. II 1975, S. 286; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 122 Rn. 59; Müller-Franken, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 122 Rn. 389 ff. Zu den unterschiedlichen Beweissituationen auch Wolf, DStZ 1996, S. 103 f. 119 Zu diesem versperrten Ausweg siehe: 1. Einspruchsfrist (S. 75). 120 Trzaskalik, StuW, 1993, S. 371 ff. [379]; Heuermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 168 Rn. 3. 121 So z. B. im Fall der Umsatzsteuer (Voranmeldung und Jahreserklärung gemäß § 18 UStG).

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der Steuer selbst, sondern einen Dritten, der die Steuer nicht nur anzumelden, sondern auch einzubehalten und abzuführen hat.122 Die Steueranmeldung ist somit uno actu Steuererklärung und Steuerfestsetzung aus der Hand des Steuerpflich­tigen bzw. Dritten. Sie steht gemäß § 168 S. 1 AO einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich, so dass sie nach § 218 Abs. 1 S. 2 AO als taugliche Grundlage für eine nachfolgende Vollstreckung gemäß §§ 249 ff. AO fungiert.123 In Anbetracht der Tatsache, dass die Steueranmeldung die Rechtswirkung einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung entfaltet, bleibt die Anmeldung  – entsprechend den obigen Ausführungen zur vorbehaltsversehenen Steuerfestsetzung  – offen für eine nachträgliche Änderung gemäß § 164 Abs.  2 AO. Somit schließt sich der Kreis zur „vorläufigen“ Steuerfestsetzung und die im Beispielsfall aufgeworfene Änderungsproblematik kann sich gleichfalls nicht ergeben. Auch in diesen Fällen müsste die Finanzbehörde bsplw. in einer Umsatzsteuerjahresanmeldung vergessene Vorsteuerbeträge im Sinne des § 15 Abs.  1 UStG nachträglich berücksichtigen.124 Nur wenn der Steuerpflichtige keine Steueranmeldung abgibt, oder die Finanzbehörde zu dem Ergebnis kommt, dass die angemeldete von der tatsächlich geschuldeten Steuer abweicht, ist weiterhin eine behördliche Steuerfestsetzung nach §§ 167 Abs. 1 S. 1, 155 ff. AO erforderlich. In diesen Fällen gelten dann wiederum die Ausführungen über das Verfahren entsprechend den Veranlagungssteuern, so dass sich nur in dieser Konstellation das Bedürfnis nach einer „Fristerschleichung“ ergeben kann. 3. Die steuerliche Wirkung einer zu hohen – unrichtigen – Steuerfestsetzung Letztlich noch unbeantwortet blieb die Frage, was mit der Steuerschuld in Fällen einer zu hohen und damit rechtswidrigen Steuerfestsetzung geschieht. Ihre nun folgende Beantwortung soll schon eine entscheidende Vorarbeit hinsichtlich der in Rede stehenden Strafbarkeitsproblematik leisten. Denn – und das sei ausblicksartig vorweggenommen – es wird unweigerlich zum Rechtsgut der Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO Stellung bezogen werden müssen. Soweit darunter zumindest nach herrschender Ansicht „das öffentliche Interesse am vollständigen 122 Sog. Steuerentrichtungspflichtiger gemäß §§ 43 S. 2, 33 Abs. 1 AO. So z. B. im Falle der Lohnsteuer (§ 41a EStG) oder Kapitalertragsteuer (§ 45a EStG), bei denen der Arbeitgeber oder der Schuldner der Kapitalerträge bzw. die auszahlende Stelle zur Anmeldung verpflichtet ist. 123 Cöster, in: Pahlke/Koenig, AO, § 168 Rn. 6; Seer, in: Tipke/Kruse, AO § 168 Rn. 1; Heuer­ mann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 167 Rn. 4 u. § 168 Rn. 2. In zeitlicher Hinsicht entfaltet die Steueranmeldung ihre Fiktionswirkung, sobald sie der zuständigen Finanzbehörde zugeht und eine formlose Zustimmung gemäß § 168 S. 2 AO nicht erforderlich ist. Anderenfalls erst mit Bekanntgabe der Zustimmung, die jedoch auch in einem schlichten Handeln – etwa durch Ausbezahlung des Erstattungsbetrages – geschehen kann, dazu Heuermann, in: Hübsch­ mann/Hepp/Spitaler, AO, § 168 Rn. 15 ff. 124 Seer, in: Tipke/Kruse, AO § 168 Rn. 1; Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rn. 180 ff.

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und rechtzeitigen Aufkommen der Steuern“125 verstanden wird, ist wiederum reflexartig das Problem rechtswidriger Steuerforderungen, nun auf strafrechtlicher Ebene, aufgeworfen. Es führt folglich kein Weg an der steuerrechtlichen Klärung vorbei, welche Rechtswirkungen überschießenden Steuerforderungen in einem Steuerbescheid beizumessen sind. In den Fokus der steuerrechtlichen Betrachtung gerät dabei der Rechtsgrund einer vom Fiskus rechtswidrig geltend gemachten Forderung sowie die von diesem Steuerbescheid ausgehende Regelungswirkung. a) Der Rechtsgrund Die Finanzbehörden sind verpflichtet, die sich aus den materiellen Steuergesetzen ergebenden Steueransprüche zu ermitteln und durch Steuerbescheid festzusetzen. Ist dies geschehen, so ist die Finanzbehörde ermächtigt, den Zahlungsunwilligen zu einer Vermögensverschiebung zu zwingen und nach Beitreibung der Steuer eine Rückforderung an den Steuerpflichtigen zu verweigern. In diesen Fällen steht der von der Finanzbehörde geltend gemachten Steuerforderung ein Rechtsgrund zur Seite. Hierin besteht auch allseits Einigkeit. Anders sieht es jedoch bei der Frage aus, worin das mit dem Rechtsgrund einhergehende „Recht zur Verwirklichung“ genau besteht. Bildet die Grundlage der Zahlungsverpflichtung allein der nach den Steuergesetzen entstandene materielle Steueranspruch oder erst die den Steueranspruch konkretisierende Steuerfestsetzung im Steuerbescheid? Diese Frage ist natürlich dann von rein akademischer Natur, wenn die Finanz­ behörde den materiell zutreffenden Steueranspruch festgesetzt hat. Schließlich wird weder der Steuerpflichtige noch die Finanzbehörde an der festgestellten Steuer­forderung etwas auszusetzen haben. Aus diesem Grund war es letztlich auch nicht notwendig, den an dieser Stelle zu diskutierenden Meinungsstreit bereits im Rahmen der Regelungswirkung von rechtmäßigen Steuerbescheiden zu erwähnen.126 Zum Schwur kommt es vielmehr erst, wenn der Steuerpflichtige einen Erstattungsanspruch gemäß § 37 Abs. 2 AO geltend macht, weil er eine im Steuer­ bescheid ausgewiesene, aber im Vergleich zum materiellen Steueranspruch zu hohe und damit rechtswidrige Steuerforderung gezahlt hat. Soweit ein solcher Erstattungsanspruch nur dann besteht, wenn eine Steuer „ohne rechtlichen Grund“ gezahlt worden ist, steht man unweigerlich vor der gestellten Frage nach dem Rechtsgrund. Es verwundert daher auch nicht, dass der Streit um den Rechtsgrund im Steuerrecht sowohl in der Kommentarliteratur als auch in einschlägigen Monographien vorwiegend innerhalb des Erstattungsanspruchs erläutert wird.127 Im Kern 125 Mit weiteren Nachweisen Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 50 ff. und später: a) Die überwiegende Ansicht in Rechtsprechung und Lehre (S. 152). 126 Siehe II. Das Festsetzungsverfahren (S. 28), dort insbesondere Fn. 73. 127 Insbesondere seien hier die Monographien von Söhn, Steuerrechtliche Folgenbeseitigung durch Erstattung, Drenseck, Das Erstattungsrecht der AO, und v.  Canstein, Der Erstattungsanspruch im Steuerrecht, aufgezeigt. Auch in der Kommentarliteratur liegt der Diskussions-

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stehen sich zwei Ansätze diametral gegenüber: Knüpft man nämlich mit der materiellen Rechtsgrundtheorie allein an den materiell entstandenen Steueranspruch an, so hat ein Rechtsgrund für die darüber hinausgehende Zahlung zu keiner Zeit bestanden, wohingegen die formelle Rechtsgrundtheorie den Rechtsgrund allein in der wirksamen – wenn auch rechtswidrigen – Steuerfestsetzung sehen will. Die Unsicherheit im Umgang mit dieser Kernfrage des Steuerrechts geht letztlich auf die Einführung der Reichsabgabenordnung (RAO) im Jahre 1919 zurück. Mit der Vorschrift des § 81 Abs.  1 RAO (1919)128, die zwischenzeitlich in § 99 RAO (1931)129 und § 3 Abs.  1, Abs.  2 Steueranpassungsgesetz (StAnpG)130 geregelt war und heute in § 38 AO in äußerlich verkürzter, aber inhaltlich identischer Form enthalten ist,131 sollte die Entstehung des Steueranspruchs nicht mehr, wie es noch vor Inkrafttreten der Reichsabgabenordnung (1919) überwiegend vertreten wurde, von einer Steuerfestsetzung abhängig sein.132 Schließlich richte sich die finanzbehördliche Veranlagung vorwiegend nach der konkreten Arbeitsweise und Arbeitsbelastung der Finanzbehörde und ergehe demzufolge an einem ganz zufälligen Zeipunkt.133 Dieser Ansatz brachte es ganz gezielt mit sich, dass der Steuerschwerpunkt im Erstattungsrecht, wie dies nur beispielhaft die Kommentierung von Schwarz, in: Schwarz, AO § 38 Rn. 12, 13 und § 37 Rn. 10 f. zeigt. Dort wird der Steueranspruch nicht von einer Festsetzung abhängig gemacht und somit, ohne dass dies besondere Erwähnung findet, der materiellen Rechtsgrundtheorie den Vorzug gegeben (§ 38 Rn. 12). Sodann (nur eine Randnummer später!) soll es für den Erstattungsanspruch, der als Umkehrung des Steueranspruchs verstanden wird und für den ebenfalls § 38 AO gilt, vorwiegend auf eine entgegenstehende Steuerfestsetzung ankommen. Wenn man aber die Entstehung des Erstattungsanspruchs davon abhängig macht, dass der (fälschlichen) Vermögensverschiebung selbst keine Steuerfestsetzung zur Seite steht, so ist dies letztlich die Konsequenz der formellen Rechtsgrundtheorie. Eine genaue Auseinandersetzung der Rechtsgrundtheorien findet bei Schwarz (a. a. O.), schließlich erst im Erstattungsanspruch statt, ohne allerdings diesen Widerspruch aufzudecken.Nach alledem bleibt nur noch einmal klarzustellen, dass die Rechtsgrundtheorien ihren Anfang im Steueranspruch selbst nehmen! Bevor überhaupt geklärt werden kann, ob der Steuerpflichtige zuviel gezahlt hat, ihm also ein Steuererstattungsanspruch zusteht, muss doch erst einmal festgestellt werden, wie viel er letztlich schuldet. Steueranspruch und Erstattungsanspruch bedingen sich gegenseitig; sie sind praktisch zwei Seiten ein und derselben Medaille und können nicht verschiedenartig behandelt werden. So i.E. auch Drüen, in: Tipke/Kruse, AO § 38 Rn. 10 ff., indem er den Streit um die Rechtsgrundtheorien bereits im Rahmen der Entstehung des Steueranspruchs erläutert. 128 § 81 Abs. 1 S. 1, S. 2 RAO, RGBl. 1919, S. 1993 ff., lautete: „Die Steuerschuld entsteht, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Steuer knüpft. Daß es zur Feststellung der Steuerschuld noch der Ermittlung der Steuerpflicht und der Festsetzung des Betrags bedarf, schiebt die Entstehung nicht hinaus.“ 129 RGBl. I 1931, S. 161 ff. 130 § 3 Abs. 1, Abs. 2 StAnpG, RGBl. I 1934, S. 925 ff., lautete: „[Abs. 1] Die Steuerschuld entsteht, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Steuer knüpft. [Abs. 2] Auf die Entstehung der Steuerschuld ist es ohne Einfluss, ob und wann die Steuer festgesetzt wird und wann die Steuer zu entrichten (wann sie fällig) ist.“ 131 Auf die Übernahme des § 3 Abs. 2 StAnpG hat der Gesetzgeber der AO (1977) bewusst verzichtet, weil dieser nur „etwas Selbstverständliches“ besage, BT-Drucks. VI/1982, S. 113. 132 Vgl. Söhn, Steuerrechtliche Folgenbeseitigung durch Erstattung, S. 24 ff., mw.N. 133 E. Becker, RAO, § 81 Anm. 1.

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anspruch bis heute vor seiner Festsetzung unter anderem verjähren, im Wege der Gesamtrechtsnachfolge übergehen oder durch Aufrechnung erlöschen kann.134 Andererseits hat jedoch auch schon die Reichsabgabenordnung (1919) die Steuerfestsetzung als wichtige Voraussetzung anerkannt. So sah bereits § 128 S. 1 RAO (1919)135 und später § 151 RAO (1931) vor, dass der (zum Steueranspruch spiegelbildliche) Erstattungsanspruch erst dann geltend gemacht werden konnte, wenn die der Zahlung zugrunde liegende Steuerfestsetzung geändert wurde. Insbesondere ist heute in § 218 Abs. 1 AO (1977) geregelt, dass die Grundlage für die Verwirklichung von Steueransprüchen die Steuerbescheide sind. Die Rechtsgrundtheorien bewegen sich daher in dem von der Abgabenordnung selbst geschaffenen Spannungsfeld zwischen dem allein vom gesetzlichen Steuertatbestand abhängigen Steueranspruch und seiner zwingend erforderlichen Konkretisierung mittels Steuerfestsetzung. aa) Materielle Rechtsgrundtheorie Ausgangspunkt der Erläuterungen zum Steuerbescheid war die Erkenntnis, dass mit der von Rechtsprechung und Literatur vertretenen sog. materiellen Rechtsgrundtheorie die Finanzbehörde letztlich nur die von Gesetzes wegen entstandene Steuer feststellt und somit dem rechtmäßigen Steuerbescheid lediglich eine deklaratorische Regelungswirkung zukommt.136 Demnach bilde allein die materielle Rechtslage das zur endgültigen Vermögensverschiebung legitimierende Rechtsverhältnis. Gestützt wird diese Sicht durch den Wortlaut des § 38 AO, wonach ein Steueranspruch bereits entsteht, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Es sei mithin der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers, hinsichtlich der Anspruchsentstehung nicht an die formelle und damit auch zeitlich beliebige Steuerfestsetzung anzuknüpfen, sondern einen vom Willen der Beteiligten unabhängigen Fixpunkt zu wählen.137 Gemessen daran sei eine „überschießende“ Steuerfestsetzung an sich unbeachtlich und der Steuerbescheid somit lediglich eine davon unabhängige formelle Voraussetzung.138 Nimmt man diesen Standpunkt einmal ohne Einschränkung hin, so wäre die logische Konsequenz, dass es dem Steuerschuldner jederzeit ermöglicht würde, den Steuerbescheid seiner Höhe nach in Zweifel zu ziehen. Er könnte jeden Voll­ streckungsversuch der Finanzbehörde wirksam vereiteln, indem er  – trotz eines anderslautenden Steuerbescheides – auf das jeweilige Steuergesetz und eine seiner 134

Schuster, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 38 Rn. 34 ff. § 128 S. 1 RAO, RGBl. 1919, S. 1993 ff., lautete: „Wird eine Steuerfestsetzung […] berichtigt, so ist, was zu Unrecht gezahlt ist, zurückzuzahlen.“ 136 Nachweise in Fn. 73, dort auch zur Unheitlichkeit der Rspr. Der BFH folgt jedenfalls für die Abtretung und Verpfändung von Steuererstattungsansprüchen der materiellen Rechtsgrundtheorie, vgl. Boeker, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 37 Rn. 30. 137 Siehe Fn. 73 (1. Absatz) und insbesondere Kruse, Festschrift für Tipke, S. 277 ff.; Drenseck, Das Erstattungsrecht der AO, S. 57 ff. 138 Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, § 37 Rn. 34; Drenseck, Das Erstattungsrecht der AO, S. 64 f. 135

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Ansicht nach geringere (materielle)  Steuerschuld verweisen würde. Dieser Umstand bereitet für sich genommen allerdings noch keinerlei Bedenken. Schließlich ist die Anerkennung lediglich rechtmäßigen Verwaltungshandelns Teil der eigenen Gesetzmäßigkeit und damit Substrat des verfassungsrechtlich verankerten Rechtsstaatsprinzips.139 Allerdings würde es die damit geschaffene Rechtsunsicherheit zugleich mit sich bringen, dass die Finanzbehörde dem Ansinnen des Steuerpflichtigen nach einer Änderung des Steuerbescheides jederzeit nachkommen müsste. Eine effektive und alle ihre Aufgaben wahrnehmende Steuerverwaltung wäre unter diesen Voraussetzungen kaum denkbar. Daher fordert die Funktionsfähigkeit der staatlichen Organe ein gewisses Maß an Rechtssicherheit – ebenfalls als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips.140 Im Ergebnis befindet sich das angesprochene Verfassungsprinzip selbst in einem inneren Widerspruch. Der Gesetzgeber hat diesen Konflikt auf verfassungsrechtlich unbedenkliche Weise gelöst, indem er dem Steuerpflichtigen den Einwand, der Steuerbescheid sei in rechtswidriger Weise ergangen, nur innerhalb des zugelassenen Rechtsbehelfs des Einpruchs gemäß §§ 347 ff. AO oder ausschnittsweise im Rahmen eines Änderungsverfahrens gemäß §§ 172 ff. AO ermöglicht.141 Ferner stellt auch § 256 AO – sozusagen im Nachgang – ausdrücklich klar, dass gegen die Zwangsvollstreckung nicht der Einwand erhoben werden kann, der Steuerbescheid sei in rechtswidriger Weise ergangen. Der Steuerpflichtige wird insoweit auf die ihm gegen den Steuerbescheid selbst zustehenden Rechtsbehelfe verwiesen.142 Demnach währt der Anspruch auf ein 139

Die Tatbestandsmäßigkeit und folglich die Gesetzmäßigkeit der Besteuerung sind unmittelbare Ausprägung des grundrechtlich verbürgten Gesetzsvorbehaltes zumindest aus Art.  2 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzips gemäß Art. 20 Abs. 3 GG. Dazu später ausführlich unter: II. Entstehung der Leistungspflicht durch Tatbestandserfüllung (S. 257). 140 Dazu BVerfGE 2, S. 380 [403 f.]: „Rechtsfriede und Rechtssicherheit sind von so zentraler Bedeutung für die Rechtsstaatlichkeit, daß um ihretwillen die Möglichkeit einer im Einzelfall vielleicht unrichtigen Entscheidung in Kauf genommen werden muß.“ 141 Zum allgemeinen Verwaltungsverfahren ausdrücklich BVerfGE  60, S.  253. Es verstoße auch in einem Verfahren wegen Anerkennung als Asylberechtigter nicht gegen Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG, wenn gemäß § 173 VwGO i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO eine Wiedereinsetzung in eine versäumte Frist deshalb versagt werde, weil der Partei das Verschulden des Prozessbevollmächtigten zugerechnet werde. Das BVerfG führt zum Wesen der Bestandskraft allgemein aus (a. a. O., S.  269 f.): „An der Bestandskraft von Verwaltungsakten besteht ein vergleichbares rechtsstaatliches, in der Rechtssicherheit begründetes Interesse. […] Gerade in einem Staat, der so weitgehend rechtlicher Kontrolle unterstellt ist, ist es unbabdingbar, daß die Bestandskraft seiner Verwaltungsakte binnen angemessener Frist eintritt, soll er nicht handlungsunfähig werden und damit der Freiheit aller Abbruch getan werden. Gibt die Rechtsordnung der Verwaltungsbehörde die Möglichkeit, durch Hoheitsakt für ihren Bereich das im Einzelfall rechtlich Verbindliche festzustellen, zu begründen oder zu verändern, so besteht auch ein verfassungsrechtliches Interesse daran, seine Bestandskraft herbeizuführen. Dieser Bestandskraft des Verwaltungsaks kommt, wenn auch auf anderer Ebene, vergleichbare Bedeutung für die Rechtssicherheit zu wie der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung. Die Fristen für Widerspruch und Klage in bezug auf Verwaltungsakte sind ebenso Instrumente zur Gewährleistung von Rechtssicherheit wie die Fristen für Rechtsmittel gegen gerichtliche Entscheidungen.“ 142 BT-Drucks. VI/1982, Zu § 41, S. 113: „Der Begriff des Steueranspruchs bezeichnet den abstrakten Anspruch der noch nicht durch Steuerfestsetzung konkretisiert zu sein braucht. […]

1. Abschn.: Die Verfahrensabschnitte im Steuerrecht

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gesetzmäßiges und demnach fehlerfreies Verwaltungsverfahren nicht ewig, sondern nur solange, bis der durch die Angreifbarkeit des Steuerbescheides entstandene Schwebezustand ein hinreichendes Bedürfnis nach Rechtssicher­heit weckt.143 Diese durch die Vorschriften über den Einspruch und die Änderung von Steuer­ bescheiden geschaffene Gesetzmäßigkeit können nun auch die Vertreter der materiellen Rechtsgrundtheorie nicht ignorieren. Sie folgern daraus, dass der Steuerverwaltungsakt bis zu seiner Beseitigung in seiner gesamten Höhe einen bindenden formellen Leistungsbefehl entfaltet, der ohne Anfechtung und Aussetzung der Vollziehung gemäß § 361 AO auch gegen den Willen des Steuerpflichtigen vollstreckbar ist.144 Könne ein überhöhter und damit rechtswidriger Steuerbescheid nicht mehr aufgehoben oder geändert werden, so stehe dem Steuerfiskus nach alledem zwar kein materielles Recht zum endgültigen Behaltendürfen zu. Schließlich sei die freiwillige Zahlung oder auch die zwangsweise Durchsetzung nicht durch ein Rechtsgrund gedeckt und somit ein latenter Erstattungsanspruch gemäß § 37 Abs. 2 S. 1 AO entstanden. Allerdings könne dieser aufgrund der formellen Bestandskraft145 (Unanfechtbarkeit) des Steuerbescheides nicht durchgesetzt werden.146 Setze daher ein unanfechtbarer Steuerbescheid eine über den materiellen Steueranspruch hinausgehende rechtswidrige Forderung fest, handele es sich insoweit nur um eine aus dem Steuerbescheid stammende formelle Leistungspflicht mit einem korrespondierenden formellen Behaltensrecht im Fall der Beitreibung.147 Schließlich sei damit dem Verlangen nach Rechtssicherheit in ausreichendem Maße Rechnung getragen worden, so dass es einer weitergehenden Anerkennung der den Steueranspruch konkretisierenden Festsetzung auf Kosten der materiellen Gerechtigkeit gerade nicht bedürfe.148 Realisierbar wird der Steueranspruch jedoch erst durch die durch die Steuerfestsetzung oder die Steueranmeldung eintretende Konkretisierung. […] Wird die richtige Steuerschuld bei der Konkretisierung verfehlt, so kann nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften auf dem Rechtsbehelfsweg oder durch die Berichtigung eine Anpassung an die entstandene Steuerschuld erreicht werden.“ 143 Zu dieser Herleitung Söhn, Steuerrechtliche Folgenbeseitigung durch Erstattung, S. 81 ff., und ihm zustimmend Drenseck, Das Erstattungsrecht der AO, S. 65 f.; v. Wallis, Festschrift für Döllerer, S. 693 ff. [696]; Schuster, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 38 Rn. 12. 144 Siehe nur Drenseck, Das Erstattungsrecht der AO, S. 64 ff. [65]; Hein, DStR 1990 S. 301 ff. 145 Zu dem Begriffspaar formelle und materielle Bestandskraft siehe den gesonderten Teil: A. Die Bestandskraft von Steuerbescheiden (S. 52). 146 „Die formelle Bestandskraft (Unanfechtbarkeit) des Steuerbescheides überlagert dessen materielle Fehlerhaftigkeit“: Drüen, in: Tipke/Kruse, AO § 37 Rn. 27 ff. [34]; zust. Hein, DStR 1990 S. 301 f. [302 f.]. Ähnlich auch v. Wallis, Festschrift für Döllerer, S. 693 ff. [694]; Kruse, Festschrift für Tipke, S.  277 ff. [281 f.]; Schuster, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 38 Rn.  12. Dies wird auch ausdrücklich von der Finanzverwaltung vertreten, BMF AEAO, Zu § 218 Tz. 1 S. 2: „Der – ggf. materiell-rechtlich unrichtige –Verwaltungsakt beeinflusst zwar nicht die materielle Höhe des Anspruchs aus dem Steuerverhältnis, solange er jedoch besteht, legt er fest, ob und in welcher Höhe ein Anspruch durchgesetzt werden kann.“ 147 So ausdrücklich Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, § 37 Rn. 34; Drenseck, Das Erstattungsrecht der AO, S. 64 ff. [65]. 148 Drenseck, Das Erstattungsrecht der AO, S. 65 f.

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bb) Formelle Rechtsgrundtheorie Demgegenüber wollen die Vertreter der formellen Rechtsgrundtheorie erst in der Steuerfestsetzung die konkrete Entstehung des einzutreibenden Steueranspruchs und somit das Recht zur Verwirklichung sehen. Schließlich stelle auch eine rechtswidrige Steuerfestsetzung solange den Rechtsgrund für die geforderte Steuer dar, bis es zu einer Änderung oder Aufhebung des Steuerbescheides komme.149 Der Erstattungsanspruch entstehe daher erst, wenn der Zahlung des Steuerpflichtigen keine rechtswidrige Steuerfestsetzung mehr zugrunde liege.150 Leitender Gedanke der formellen Rechtsgrundtheorie ist die Tatsache, dass die Verwirklichung einer Steuerforderung stets gemäß § 218 AO einen Steuerbescheid bzw. eine Steueranmeldung voraussetzt.151 Ohne diesen Umsetzungsakt sei die mit Tatbestandsverwirklichung entstandene Steuerforderung nicht eintreibbar, so dass vor Ergehen eines Steuerbescheides noch nicht von einem „Anspruch“ gesprochen werden könne. Denn erst dieses entscheidende Element löse die schuldnerische Verpflichtung und damit ein einhergehendes „Leistensollen“ auf Schuldner- sowie „Fordernkönnen“ auf Gläubigerseite aus.152 Es ergebe sich schließlich das Bild von einer gemäß § 38 AO abstrakt entstandenen Steuerschuld und eines durch den Steuerbescheid erst konkretisierten Steueranspruchs, wobei erst letzterer Grundlage einer Zahlung oder Zwangsvollstreckung darstelle.153 Damit werde letztlich in konsequenter Weise der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Verlangen nach Rechtsrichtigkeit gewährt, indem es für den Steueranspruch, gleichgültig ob dieser dem materiellen Recht entspreche, allein auf den Steuerbescheid ankommen solle. Sei eine Änderung oder Aufhebung des Steuerbescheides nicht mehr möglich, so habe der Steuerpflichtige den gegen sich gerichteten und schließlich auch titulierten Steueranspruch  – denn nur dieser sei hiernach für die Verwirklichung maßgebend – zu respektieren.154

149

Siehe Fn.  73 (1. Absatz) und insbesondere Söhn, Steuerrechtliche Folgenbeseitigung durch Erstattung, S. 92 ff.; P. Kirchhof, NJW 1985 S. 2977 ff.; Boeker, in: Hübschmann/Hepp/ Spitaler, AO, § 37 Rn. 27 ff. 150 U. a. Boeker, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 37 Rn. 42. 151 Ähnlich aber auch schon zu § 151 RAO (siehe Fn.  135) v.  Canstein, Der Erstattungsanspruch im Steuerrecht, S. 47 ff. Schließlich könne von einer rechtsgrundlosen Zahlung hiernach doch erst gesprochen werden, wenn zuvor eine Berichtigung der Steuerfestsetzung erfolgt sei. Das Gesetz selbst mache also den Erstattungsanspruch von einer vorherigen Änderung der Steuerfestsetzung abhängig. 152 Söhn, Steuerrechtliche Folgenbeseitigung durch Erstattung, S. 38 ff. 153 Söhn, Steuerrechtliche Folgenbeseitigung durch Erstattung, S.  30 ff., will den Steueranspruch ganz in einem zivilrechtlichen Sinne verstehen. So i.E. auch P. Kirchhof, NJW 1985, S. 2977 ff. [2978]. 154 Söhn, Steuerrechtliche Folgenbeseitigung durch Erstattung, S. 86 ff.

1. Abschn.: Die Verfahrensabschnitte im Steuerrecht

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b) Die Regelungswirkung Für die noch offen stehende Frage nach der Regelungswirkung eines über­ schießenden Steuerbescheides ergibt sich aus den vorherigen Erläuterungen Folgendes: Knüpft man mit der materiellen Rechtsgrundtheorie an die gesetzliche Steuerschuld an, so kommt man nicht umhin, dem Steuerbescheid mit „überhöhter“ Steuerforderung eine konstitutive Wirkung beizumessen, „soweit“ sich der Rechtsgrund nicht aus der Verwirklichung eines Steuertatbestandes selbst ergibt und der Steuerbescheid damit – zumindest formell – erstmals Recht setzt.155 Der rechtswidrige Steuerbescheid hat demzufolge eine Doppelnatur, indem er zum einen die Feststellung über den rechtmäßigen Teil der geltend gemachten Steuerforderung und zum anderen die rechtsgestaltende Wirkung hinsichtlich des rechtswidrigen Teils enthält.156 Zu keinem inhaltlich anderen Ergebnis kommt im Übrigen die formelle Rechtsgrundtheorie, soweit sie erst in der Festsetzung des Steuerbescheides die konkrete Entstehung des einzutreibenden Steueranspruchs erblicken will.157 Aus ihrer Sicht wirkt somit der Steuerbescheid auch im Fall einer rechtmäßigen Festsetzung in seiner vollen Höhe konstitutiv. Denn schließlich begründe erstmals der Steuerbescheid einen konkreten Zahlungsanspruch gegenüber dem Steuerschuldner.

c) Auswirkungen auf die Fälle der „Fristerschleichung“ Vergleicht man nun die Wirkungen der beiden Rechtsgrundtheorien für die in dieser Arbeit zu begutachtenden Fälle der „Fristerschleichung“, so zeigt sich ein überraschend homogenes Bild: Im Fall der materiellen Rechtsgrundtheorie schuldet der Steuerpflichtige zwar nicht „materiell“ die durch die Finanzverwaltung im Steuerbescheid titulierte Forderung, allerdings trifft ihn diesbezüglich zumindest eine „formelle“ Leistungspflicht. Da diese erstmals in dem Steuerbescheid enthaltene Leistungspflicht nicht vom gesetztlichen Steueranspruch gedeckt ist, wirkt die Steuerfestsetzung auch nach dieser Ansicht insoweit konstitutiv. Demgegen 155 So die einhellige Ansicht, der sich auch der Gesetzgeber ausdrücklich angeschlossen hat, BT-Drucks. VI/1982, Zu § 199, S. 168. So auch der BFH, BStBl. II 1989 S. 563 [566]; Schuster, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 38 Rn. 12; Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, § 38 Rn. 10; Schwarz, in: Schwarz, AO, § 38 Rn. 12; Koenig, in: Pahlke/Koenig, AO, § 38 Rn. 32; Brockmeyer/Ratschow, in: Klein, AO, § 37 Rn.  4 f.; Hoffmann, in: Koch/Scholtz, AO, § 38 Rn.  7; P. Kirchhof, NJW 1985, S. 2977 ff. [2978]. 156 Gegen dieses Ergebnis – konstitutive Wirkung trotz fehlendem materiellen Rechtsgrund – richtet sich die Kritik von v. Canstein, Der Erstattungsanspruch im Steuerrecht, S. 40 f. und von Söhn, Steuerrechtliche Folgenbeseitigung durch Erstattung, S.  102 f. Sie wollen darin einen­ Widerspruch sehen. 157 Vgl. v. Canstein, Der Erstattungsanspruch im Steuerrecht, S. 40 f.; Söhn, Steuerrechtliche Folgenbeseitigung durch Erstattung, S. 92 ff.; P. Kirchhof, NJW 1985 S. 2977 ff.; Boeker, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 37 Rn. 27 ff.

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

über wird im Fall der formellen Rechtsgrundtheorie der (rechtswidrige)  Steuerbescheid zum alleinigen Maßstab der konkreten Steuerschuld erhoben, so dass die Steuerfestsetzung in voller Höhe eine konstitutive Wirkung besitzt. Nach beiden Rechtsgrundtheorien ist der Steuerschuldner dann aber gezwungen, gegen den vom materiellen Recht nicht gedeckten und damit überschießenden Forderungsteil allein mittels Einspruchs- oder Änderungsverfahrens vorzugehen. Nur innerhalb dieser Verfahren kann die am materiellen Recht ausgerichtete Rechtsrichtigkeit hergestellt werden, so dass sich der Steuerpflichtige insbesondere im Beitreibungsverfahren nicht wirksam auf die Rechtswidrigkeit der Steuerfestsetzung berufen kann. Das steuerrechtliche Ergebnis ist demnach in beiden Fällen für die „Fristerschleichung“ identisch. Der Steuerpflichtige kann sich der allein aus dem Steuerbescheid resultierenden Forderung – gleichgültig, ob man sie lediglich als formelle oder schon materielle Leistungspflicht qualifiziert  – nicht widersetzen. Die Tatsache, dass beide Rechtsgrundtheorien dasselbe Ziel (Gewährung von Rechtssicherheit durch wirksame Steuerfestsetzung) nur auf unterschiedlichen Wegen (formelle Leistungspflicht im Gegensatz zu materiellem Rechtsgrund) erreichen, erweckt den Eindruck, es handele sich lediglich um ein „akademisches Glasperlenspiel“158. Dem muss allerdings mit Nachdruck widersprochen werden. Insbesondere im Hinblick auf den Entstehungszeitpunkt des Erstattungsanspruchs – der u. a. für die Zahlungsverjährung gemäß §§ 228, 229 Abs. 1 S. 1 AO von entscheidender Bedeutung ist  – kommen die Rechtsgrundtheorien zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen.159 Dies gilt jedoch – wie bereits gezeigt – nicht für die Fälle der „Fristerschleichung“. Auf einem anderen Blatt steht demgegenüber, ob auch das Strafrecht – respektive das Rechtsgut der Steuerhinterziehung – diesen dogmatischen Weg nachverfolgen kann. Schwieriger wird sich 158

Zu Recht klarstellend insbesondere Drüen, AO-StB 2002, S. 374 ff. [376]. Wird vom Steuerpflichtigen nach erfolgter Anfechtung des rechtswidrigen Steuerbescheides eine Erstattung der materiell nicht geschuldeten, aber bereits beigetriebenen Steuer begehrt, entsteht dieser Anspruch gemäß § 38 AO zum Zeitpunkt seiner vollständigen Tatbestandsverwirklichung (für den Erstattungsanspruch also mit Zahlung ohne Rechtsgrund bzw. späterem Wegfall des Rechtsgrundes). Folgt man der materiellen Rechtsgrundtheorie, existiert ein Rechtsgrund ohnehin nur in Höhe des materiellen Steueranspruchs, so dass bereits mit der überschießenden Zahlung ein entsprechender Anspruch auf Erstattung entstanden ist. Dass dieser Anspruch formell erst durchgesetzt werden kann, wenn die dazu­ gehörige Steuerfestsetzung aufgehoben oder geändert wird, soll für die materielle Anspruchsentstehung nicht entscheidend sein (vgl. Drüen, AO-StB 2002, S.  374 ff.). Demgegenüber erlischt nach der formellen Rechtsgrundtheorie der einem Erstattungsanspruch entgegen­ stehende Rechtsgrund erst mit Aufhebung oder Änderung des rechtswidrigen Steuerbescheides (vgl. Boecker, in: Hübsch­mann/Hepp/Spitaler, AO, § 37 Rn.  42; insgesamt hierzu auch BFH, BStBl.  II  1997, S.  769). Diese unterschiedlichen Entstehungszeitpunkte haben unmittelbare Auswirkung auf den Fälligkeitsbeginn gemäß § 220 Abs. 2 S. 1 AO und damit schließlich auch auf den Beginn der Zahlungsverjährung des Erstattungsanspruchs gemäß §§ 228, 229 Abs. 1 S. 1 AO (u. a. Fritsch, in: Pahlke/Koenig, AO, § 229 Rn. 9; Drüen, AO-StB 2002, S. 374 ff. [376]). 159

1. Abschn.: Die Verfahrensabschnitte im Steuerrecht

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diesbezüglich sicherlich die materielle Rechtsgrundtheorie tun, indem sie lediglich von einer „formellen Leistungspflicht“ ausgeht und gerade die Zuordnung als „Steuer­schuld“ schon sprachlich meidet.160 Dem Für und Wider der zwei unterschiedlichen Rechtsgrundtheorien muss an dieser Stelle jedoch nicht näher nachgegangen werden. Schließlich kann sich eine solche Notwendigkeit doch erst nach einer strafrechtlichen Untersuchung und sich daran anschließenden Folgerungen ergeben.161

B. Das Erhebungs- und Vollstreckungsverfahren Nachdem die wesentlichen Besteuerungsgrundlagen ermittelt, auf dieser Grundlage die Steuer mittels Steuerbescheides festgesetzt und dem Steuerpflichtigen auch bekannt gegeben wurde, entscheiden der Fünfte (§§ 218–248) und Sechste Teil (§§ 249–346) der Abgabenordnung über das weitere Schicksal des nunmehr titulierten Steueranspruchs. I. Das Erhebungsverfahren Im Fünften Teil  der Abgabenordnung ist das Erhebungsverfahren geregelt. Es dient der „Verwirklichung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis“162 und steht im engen Zusammenhang mit dem im Zweiten Teil  der Abgabenordnung geregelten Steuerschuldrecht. Es enthält vorwiegend materiell-rechtliche Vorschriften, die den weiteren Verbleib des Steueranspruchs reglementieren und damit die zweite Stufe der Geltendmachung von Steueransprüchen einläuten, nachdem die erste bereits durch Ergehen des stets notwendigen Steuerbescheides bzw. der Steueranmeldung erfolgreich genommen wurde.163 Ziel ist es, den Anspruch zu „verwirklichen“, ihn also zu erfüllen, so dass Vorschriften zur Fäl­ ligkeit nebst Stundung (§§ 220–223 AO), zur Tilgung und zum Erlöschen (durch Zahlung [§§ 224–225 AO], Aufrechnung [§ 226 AO], Erlass [§ 227 AO]) und zur Zahlungsverjährung (§§ 228–232 AO) seine weitere Existenz bestimmen. Von Bedeutung für nachfolgende Untersuchungen ist hierbei, dass der Steuer­ bescheid die alleinige Grundlage des Erhebungsverfahrens darstellt, unabhängig von der Tatsache, ob er in rechtmäßiger oder rechtswidriger Weise ergangen ist. 160 „Diese Zahlungsverpflichtung erscheint als Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis, ist aber kein solcher Anspruch.“: so eindeutig v. Wallis, Festschrift für Döllerer, S. 693 ff. [694]; inhaltlich dazu auch Drüen, in: Tipke/Kruse, AO § 38 Rn. 10. Gegen diese „begriffliche Sonderung“ ist Söhn, Steuerrechtliche Folgenbeseitigung durch Erstattung, S. 92 f. 161 Siehe dazu später: b) Unbeachtlichkeit der Rechtsgrundtheorien (S. 252). 162 So die amtliche Überschrift des § 218 AO. 163 Loose, in: Tipke/Kruse, AO § 218 Rn.  1 f.; Alber, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 218 Rn. 5 f.

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

Demnach ist allein die formelle Bescheidlage maßgebend.164 Über Streitigkeiten in diesem Verfahrensstadium muss die Finanzbehörde mittels Abrechnungsbescheides gemäß § 218 Abs. 2 AO entscheiden, wobei jedoch nur über den weiteren Verbleib des titulierten Steueranspruchs entschieden wird, nicht hingegen über die materielle Richtigkeit des Steuerbescheides selbst.165 Dieser bleibt nach alledem unangetastet und kann nur durch den gegen ihn zustehenden Rechtsbehelf des Einspruchs gemäß den §§ 347 ff. AO bzw. bei dessen Erfolglosigkeit durch das Rechtsmittel der Anfechtungsklage gemäß §§ 40 ff. FGO oder durch ein davon unabhängiges Änderungsverfahren gemäß den §§ 172 ff. AO beseitigt werden. II. Das Vollstreckungsverfahren Wird die titulierte Steuerschuld vom Steuerpflichtigen nicht freiwillig im Rahmen des Erhebungsverfahrens zum Erlöschen gebracht, so bedarf es der zwangsweisen Durchsetzung. Dieses „letzte Mittel“ zur Eintreibung der Steuerschuld findet im Sechsten Teil  der Abgabenordnung seine Grundlage. Dabei treibt die Finanzbehörde als Vollstreckungsbehörde gemäß § 249 Abs.  1 AO den Steueranspruch in Selbstexekution ein. Entscheidend ist hierbei wiederum die Existenz eines vollstreckbaren  – nicht notwendig bestandskräftigen  – Verwaltungsaktes. Soweit der Steuerbescheid die konkrete Steuerschuld bestimmt und damit gleichzeitig eine Geldleistung im Sinne des § 249 Abs. 1 S. 1 AO „fordert“, bildet dieser auch hier die wesentliche Grundlage des eingesetzten Verwaltungszwanges.166 In konsequenter Fortführung der Erläuterungen zum Erhebungsverfahren darf nun der Steuerpflichtige ebenfalls im Vollstreckungsverfahren mit dem Einwand der Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides nicht gehört werden. Sind doch die Entstehung der Vollstreckungsgrundlage, also die Steuerfestsetzung selbst, und die zeitlich nachfolgenden Vollstreckungsmaßnahmen rechtlich voneinander getrennt und im Verhältnis zueinander eigenständig.167 Dieses Ergebnis 164

Darüber sind sich die Vertreter der materiellen wie formellen Rechtsgrundtheorie einig, so dass sich der im Festsetzungsverfahren angesprochene Streit nicht auf die weiteren – hier zu besprechenden Verfahren – auswirkt: BFH, BStBl. II 2000, S. 46 [48]; Loose, in: Tipke/Kruse, AO § 218 Rn. 12; Alber, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 218 Rn. 4; Dißars, in: Schwarz, AO, § 218 Rn. 3; Intemann, in: Pahlke/Koenig, AO, § 218 Rn. 6; Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 310; Rüsken, in: Klein, AO, § 218 Rn. 13a. 165 BFH/NV 1994, S. 292 f.; Loose, in: Tipke/Kruse, AO § 218 Rn. 17; Alber, in: Hübsch­mann/ Hepp/Spitaler, AO, § 218 Rn. 83. 166 Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 218 Rn.  5 ff.; Beermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 249 Rn. 13. Der Steuerbescheid ist damit der „zu vollstreckende Verwaltungsakt“ und gerade nicht das lediglich im Vollstreckungsverfahren vorausgesetzte Leistungsgebot, dazu auch Fn. 73 (2. Absatz). 167 Es muss daher zwischen den Einwendungen gegen die Vollstreckung selbst und dem ihr zugrunde liegenden Verwaltungsakt unterschieden werden. Nur Letztere sind von dem Ausschluss des § 256 AO erfasst, so u. a. Beermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 256 Rn. 4 ff.; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 256 Rn. 1.; Dißars, in: Schwarz, AO, § 256 Rn. 1.

1. Abschn.: Die Verfahrensabschnitte im Steuerrecht

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wird ausdrücklich durch § 256 AO klargestellt, indem der Steuerpflichtige auf die außerhalb des Vollstreckungsverfahrens geltenden Rechtsbehelfe gegen den Steuer­bescheid verwiesen wird, sofern er der Meinung ist, dieser sei nicht in gesetzlicher Weise ergangen. Unter „Einwendungen gegen den zu vollstreckenden Verwaltungsakt“ werden dabei alle Beanstandungen gefasst, die dessen Wirksamkeit, Vollstreckbarkeit oder Rechtmäßigkeit betreffen und die geeignet sind, dessen Aufhebung oder Änderung oder die Feststellung seiner Rechtswidrigkeit zu rechtfertigen.168 Dies bedeutet allerdings nicht, dass der aus seiner Sicht zu unrecht auserkoschuldner jedwede Vollstreckungsmaßnahme erdulden muss. Zwar rene Steuer­ führt die Anfechtung des Steuerbescheides ipso iure nicht zu einer zwischenzeitlichen Stilllegung der Vollstreckung, bis über den Einspruch oder die Klage entschieden wurde. Denn der Rechtsbehelf bzw. das Rechtsmittel hemmt gemäß § 361 Abs. 1 S. 1 AO und § 69 Abs. 1 S. 1 FGO die Vollziehung selbst nicht; lässt also sowohl die Erhebung als auch die Vollstreckung des titulierten Steuerbescheides unan­getastet. Jedoch wird die notwendige „Brücke“ zwischen der Anfechtung des Steuerbescheides und seiner Vollziehung durch eine diesbezügliche Aussetzung gemäß § 361 Abs. 2 AO und § 69 Abs. 2 FGO geschlagen. Dies erfordert letztlich schon das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG.169 Setzt sich daher der mit einem rechtswidrigen Steuerbescheid belastete Steuerpflichtige gegen diesen zur Wehr, so ist die davon verfahrensrechtlich unabhängige Vollziehung jedenfalls auf Antrag auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Wird der Steuerbescheid später im Einspruchs- oder Klageverfahren aufgehoben, steht der Vollstreckung ein endgültiges Vollstreckungshindernis gegenüber, so dass die Vollstreckung gemäß § 257 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 AO einzustellen und bereits getroffene Maßnahmen aufzuheben sind.170

168

Beermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 256 Rn. 43. Einwendungen gegen die Nichtigkeit des Verwaltungsaktes können demgegenüber auch im Vollstreckungsverfahren geltend gemacht werden. Denn in diesen Fällen liegt schon keine geeignete Grundlage für Zwangsmaßnahmen der Finanzverwaltung vor; so Beermann (a. a. O.) und Brockmeyer, in: Klein, AO, § 256 Rn. 1. 169 Zur Ableitung vorläufigen Rechtsschutzes aus der in Art.  19 Abs.  4 GG verankerten Rechtsschutzgarantie, BVerfGE 46, S. 166. 170 Soweit die Vollstreckungsmaßnahme nicht schon im Rahmen der Aussetzung der Vollziehung aufgehoben wurde gemäß § 361 Abs. 2 S. 3 AO.

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

2. Abschnitt

Die Änderung einer endgültigen Steuerfestsetzung Hat die Finanzbehörde die Steuer nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO) oder vorläufig (§ 165 AO) festgesetzt, so kann dieser endgültige Steuer­ bescheid nur mittels besonderer Bestimmungen geändert werden. Nur hier kann sich – und das wurde schon im Vergleich zur vorbehaltsversehenen Festsetzung verdeutlicht  – das im Beispielsfall aufgezeigte Problem der nachträglichen Geltendmachung von Werbungskosten ergeben. Es muss daher untersucht werden, unter welchen Voraussetzungen es dem Steuerpflichten überhaupt erlaubt ist, sich von seiner bestehenden steuerlichen Bindung zu lösen, oder er andererseits faktisch „gezwungen“ ist, sich diese Wohltat notfalls zu erschleichen.

A. Die Bestandskraft von Steuerbescheiden Beschäftigt man sich mit der behördlichen Befugnis, einen bereits existenten Steuerbescheid zu ändern, so steht am Anfang dieser Überlegungen schlichtweg die Frage nach seiner inhaltlichen Bindungswirkung selbst. Denn nur dort, wo der Verwaltungsakt zwischen der öffentlichen Gewalt und dem Steuerpflichtigen ein rechtlich unverrückbares Band statuiert, kann ein Bedürfnis zu seiner Änderung geweckt werden. Diese Bindung wird sowohl im allgemeinen Verwaltungsrecht als auch im Steuer­ verfahrensrecht mit dem Begriffspaar der formellen und materiellen Bestandskraft umschrieben. Als Vorbild dienten dabei die im Prozessrecht vorherrschenden Begriffe der formellen und materiellen Rechtskraft.171 Durch die Bestandskraft soll in gleicher Weise wie im Falle der Rechtskraft die getroffene Entscheidung perpetuiert und dadurch ein gewisses Maß an Rechtssicherheit erreicht werden.172 Und soweit man dabei den Blick wiederum auf die Befolgung rechtswidriger Verwaltungsakte lenkt, gelangt man unweigerlich zu dem bereits angesprochenen „Prinzipienwiderspruch“173 zwischen Rechtssicherheit und Rechtsrichtigkeit als Teile ein und desselben Rechtsstaatsprinzips.174 Die Bestandskraft fungiert diesbezüglich als­ verfahrensrechtliches „Vehikel“ der Rechtsbeständigkeit.

171 Vgl. u. a. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 43 Rn. 7; Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 43 Rn. 7; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 3; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, Vor § 172 Rn. 1 ff.; v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Vor §§ 172–177 Rn. 1 ff. 172 BVerfGE 60, S. 253 [269 f.]. 173 Vgl. u. a. Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 381. 174 Dazu bereits schon die verschiedenen Rechtsgrundtheorien (S. 41); BFH, BStBl. II 1969, S. 409.

2. Abschn.: Die Änderung einer endgültigen Steuerfestsetzung

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I. Formelle Bestandskraft 1. Die Wirkung der formellen Bestandskraft Der Steuerbescheid erwächst durch Ablauf der Einspruchs- und Klagefrist gemäß §§ 351 AO, 47 FGO in formelle Bestandskraft. Es wird damit zum Ausdruck gebracht, dass der Steuerbescheid nicht mehr mit den ordentlichen Rechtsbehelfen angefochten werden kann.175 Im Gegensatz zum Prozessrecht bleibt hingegen noch – neben den außerordentlichen Rechtsbehelfen – die Möglichkeit einer Änderung des Steuerbescheides gemäß den §§ 172 ff. AO. Es besteht somit ab Eintritt der Unanfechtbarkeit des Steuerbescheides ein zumindest partielles Aufhebungsverbot.176 2. Durchbrechung der formellen Bestandskraft Im Gegensatz zur materiellen Bestandskraft kann es eine Änderung der formellen Bestandskraft nicht geben. Hierbei handelt es sich nicht um eine von dem Steuerbescheid ausgehende Rechtswirkung, sondern um ein ihm anhaftendes Prädikat.177 Es wird damit unumwunden zum Ausdruck gebracht, dass der Verwaltungsakt nun „rechtsbehelfs- und rechtsmittelfest“ ist. Danach liegt eine formelle Bestandskraft vor oder eben nicht. Eine Ausnahme ist aber für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß §§ 110 AO, 56 FGO zu machen. Geht man davon aus, dass erst durch die Entscheidung der Wiedereinsetzung innerhalb des Einspruchs oder der Anfechtungsklage ein rückwirkendes Entfallen der formellen Bestandskraft eintritt, kann man dies als „Durchbrechung“ sehen.178

175 Aus dem allgemeinen Verwaltungsrecht u. a. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 43 Rn. 7; für das Steuerrecht, v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Vor §§ 172–177 Rn. 1 ff. m. w. N. 176 Es kann sich dabei – im Gegensatz zum Prozessrecht – nur um ein partielles Aufhebungsverbot handeln, weil eine inhaltliche Änderung ausdrücklich aufgrund von Änderungsnormen zulässig ist. Zum Aufhebungsverbot Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 43 Rn. 22. 177 Dazu Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 43 Rn. 22: „Es geht weniger um eine „Kraft“ des VA als um die Bezeichnung des Resultats der einschlägigem Vorschriften über die Möglichkeit der Anfechtung des VA.“ 178 Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 110 Rn.  7, geht von einem rückwirkenden Entfallen der durch die Fristversäumnis eingetretenen Rechtsfolgen aus. Aus dem allgemeinen Verwaltungsrecht, Erichsen/Knoke, NVwZ 1983, S. 185 ff.

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

II. Materielle Bestandskraft 1. Die Wirkung der materiellen Bestandskraft a) Allgemeines Soweit die Vorschriften über die Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden gemäß den §§ 172 ff. AO mit der Überschrift „Bestandskraft“ versehen sind, handelt es sich dabei um Regelungen, die die materielle Bestandskraft betreffen. Eine Erklärung, was darunter nun zu verstehen ist, findet sich dort jedoch nicht. Die genannten Regelungen beschäftigen sich genau genommen auch nicht mit der materiellen Bestandskraft selbst, sondern setzen sie stillschweigend voraus, um ihre Rückgängigmachung zu ermöglichen.179 Die eigentliche Definition der materiellen Bestandskraft gestaltet sich demgegenüber schwieriger.180 In Anlehnung an die im Prozessrecht geltende materielle Rechtskraft wird darunter überwiegend die „Maßgeblichkeit des Entscheidungsinhaltes“ für später zu treffende Ent­ scheidungen verstanden.181 Mit dem unanfechtbaren Verwaltungsakt ist somit gleichzeitig ein Abweichungsverbot182 verbunden; und dies unabhängig davon, ob er in rechtmäßiger oder rechtswidriger Weise ergangen ist. Im Ergebnis tritt damit eine „Bindung“ an die Regelung des Verwaltungsaktes ein. Wird die Finanzbehörde also erneut mit der schon geregelten Fragestellung betraut, so kann sie sich über den bisherigen Entscheidungsspruch nicht hinwegsetzen, sondern ist zuvor gezwungen, den Verwaltungsakt  – soweit es gesetzlich vorgesehen ist  – aufzuheben. Doch damit ist das Abweichungs- oder auch Widerspruchsverbot noch nicht ausgeschöpft. Auch mit dem Regelungsgegenstand des Verwaltungsaktes nicht identische Verfahren können zur Beachtung eines bereits ergangenen Verwaltungsaktes in anderer Sache zwingen. Hierbei handelt es sich um die wichtigen Fälle der Präjudizialität, in denen eine Erstentscheidung die Regelung einer Frage enthält, die nun in einem späteren Zweitverfahren von wesentlicher Bedeutung ist.183 179

BMF AEAO, Vor §§ 172–177 Tz 1.; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, Vor §§ 172–177 Rn. 1. Zur Meinungsambivalenz u. a. Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, S. 132 ff. [147 f.]. 181 Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 43 Rn. 41 ff. [46]; Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 43 Rn. 8, 31 f.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 3, ohne allerdings das aus der Verbindlichkeit resultierende Abweichungsverbot zu benennen; v. Groll, in: Hübschmann/ Hepp/Spitaler, AO, Vor §§ 172–177 Rn.  1 ff.; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, Vor §§ 172–177 Rn.  1; Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, S.  132 ff. [149 ff.]; Braun, Die präjudizielle Wirkung bestandskräftiger Verwaltungsakte, S. 29 ff. [32 f.]; Domke, Rechts­fragen der Bestandskraft von Verwaltungsakten, S.  45 ff.; Holz, Zur materiellen Bestandskraft von Steuerverwaltungsakten, S. 18 ff. 182 Zu dieser Terminologie: Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 43 Rn. 41 ff.; Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, S. 149 f. 183 Vgl. Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S.  29 f.; Stucken­berg, in: Kleinknecht/Müller/Reitberger, StPO, § 262 Rn. 4. 180

2. Abschn.: Die Änderung einer endgültigen Steuerfestsetzung

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Im Rahmen dieser Vorgreiflichkeit der Erstentscheidung sorgt die materielle Bestandskraft gleichfalls für eine präjudizielle Bindung hinsichtlich der im Zweit­ verfahren zu klärenden Vorfrage, so dass sie, ohne erneute Prüfung der Rechtmäßigkeit, dem Zweitverfahren zugrunde zu legen ist.184 Im Ergebnis dient die materielle Bestandskraft damit der Verhinderung von aufeinanderfolgenden in sich widersprüchlichen Entscheidungen. Ist damit die Rechtsfolge der materiellen Bestandskraft aufgezeigt, so sind jedoch ihre Voraussetzungen und Reichweite noch unklar. Zunächst wird hinsichtlich dem zeitlichen Einsetzen der Bindungswirkung allgemein gefolgert, dass jene nicht schon mit Bekanntgabe, also dem Eintritt der Wirksamkeit des Steuerverwaltungsaktes gemäß § 124 Abs. 1 S. 1 AO, sondern erst mit Unanfechtbarkeit eintritt.185 Somit bedingen sich formelle und materielle Bestandskraft gegenseitig. Mit Ablauf der ordentlichen Rechtsbehelfsfristen ist folgerichtig eine Aufhebung des Steuerbescheides nur noch mittels eines Änderungsverfahrens möglich. Anerkannt ist dabei, dass sich das Abweichungsverbot zumindest an diejenige Finanzbehörde richtet, die den Verwaltungsakt erlassen hat.186 Des Weiteren ist entscheidend, dass nach ganz einhelliger Ansicht nur der die konkrete Steuer festsetzende verfügende Teil – der sog. „Tenor“ – des Bescheides unter die beschriebene Bindungswirkung fällt.187 Soweit der Steuerbescheid in seinen „Gründen“ die Besteuerungsgrundlagen, also gemäß § 199 Abs. 1 AO diejenigen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse, die für die Steuerpflicht und für die Bemessung der Steuer maßgebend sind, nennt, gehören diese nach der ausdrücklichen Anordnung des § 157 Abs.  2 AO nicht zu dem in Bestandskraft­ erwachsenen Steuerausspruch. Sie sind insbesondere nicht gesondert anfechtbar, so dass sich eine im Rechtsbehelfsverfahren gemäß §§ 350 AO, 40 Abs. 2 FGO erforderliche Beschwer im Regelfall allein auf die festgesetzte Steuerhöhe beziehen muss. Natürlich ist eine von jeglichen Besteuerungsgrundlagen losgelöste Steuerfestsetzung nicht denkbar, so dass die Bestandskraft des verfügenden Teils auf die Besteuerungsgrundlagen insoweit ausstrahlt, als sie sich im Tenor ausgewirkt haben.188

184

So u. a. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 43 Rn. 41 ff.; v. Groll, in: Hübsch­mann/ Hepp/Spitaler, AO, Vor §§ 172–177 Rn. 11. 185 BFH, BStBl.  II  2003, S.  505; Koenig, in: Pahlke/Koenig, AO, Vor §§ 172–177 Rn.  4; v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Vor §§ 172–177 Rn. 66; und aus dem allgemeinen Verwaltungsrecht Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 43 Rn. 22, 135; Erichsen/Knoke, NVwZ 1983, S. 185 ff. Dies ist allerdings nicht unumstritten, dazu Schuster, in: Hübschmann/ Hepp/Spitaler, AO, § 155 Rn. 38. 186 Einhellige Ansicht, so u. a. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 43 Rn. 105; Erichsen/Knoke, NVwZ 1983, S. 185 ff. [188 f.]. 187 Ganz h. M., statt vieler v.  Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Vor §§ 172–177 Rn. 76; Frotscher, in: Schwarz, AO, Vor §§ 172–177 Rn. 3. 188 So ausdrücklich Jakob, Abgabenordnung, Rn. 284; Schuster, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 155 Rn. 40 f.

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

Schließlich ist aus dieser rechtlichen Fixierung gleichzeitig zu folgern, dass ein Steuerbescheid, bei dem sich die Finanzbehörde gemäß § 164 AO eine Nachprüfung und damit gleichzeitig eine inhaltliche Änderung vorbehält, nicht mit dieser Wirkung ausgestattet ist. Die materielle Bestandskraft ist demnach im Falle einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung, trotz einer eingetretenen Unanfechtbarkeit, bis zum Eintritt seiner Endgültigkeit suspendiert.189 Allerdings darf aus der Erläuterung zur materiellen Bestandskraft nicht gefolgert werden, dass bis zum Eintritt der Unanfechtbarkeit der Verwaltungsakt im Belieben der Finanzbehörde steht. Auch dem (noch) nicht formell und damit materiell bestandskräftigen Steuerbescheid wird nach überwiegender Auffassung ein eigenständiges Abweichungsverbot zuteil, wobei dieses allerdings aus der Selbstbindung des Verwaltung abgeleitet wird und nicht aus der erst nachträglich eintretenden Bestandskraft. Demgemäß bedarf es auch in diesem Verfahrensstadium einer Änderungsnorm.190 b) Bindung der Strafgerichte an den bestandskräftigen Steuerbescheid? Noch ausgespart wurde die nicht minder wichtige Frage, welche weiteren Teile der staatlichen Gewalt (neben der Erlassbehörde) von einer präjudiziellen Bindung unanfechtbarer Steuerbescheide erfasst werden. Denn soweit die Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO vom Strafrichter zu prüfen ist, muss von ihm inzident die (Vor-)Frage nach der vom Angeklagten geschuldeten Steuer beantwortet werden. Die Steuerschuld selbst ist mithin im Verhältnis zur Steuerhinterziehung ein vorgreifliches Rechtsverhältnis. Es ist also zu klären, ob es neben der Finanzbehörde auch dem Strafrichter in einem Steuerstrafverfahren verboten ist, sich inhaltlich in Widerspruch zu dem bestandskräftigen Steuerbescheid zu setzen und er somit letztlich gezwungen ist, die im Tenor des Bescheides genannte Steuerschuld ungeprüft zu übernehmen. 189 BFH, BStBl. II 1983, S. 164; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 164 Rn. 2; ders., in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 81; Holz, Zur materiellen Bestandskraft von Steuerverwaltungsakten, S. 45 f. 190 Grundlegend dazu, Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 43 Rn. 22, 135; und auch Erichsen/Knoke, NVwZ 1983, S. 185 ff. Für das Steuerrecht wird diese Bindung ebenfalls abgeleitet, so Koenig, in: Pahlke/Koenig, AO, Vor §§ 172–177 Rn. 4; und ausdrücklich Frotscher, in: Schwarz, AO, Vor §§ 172–177 Rn. 8. Soweit Schuster, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 155 Rn. 38, und v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, Vor §§ 172–177 Rn. 17, die materielle Bestandskraft schon vor Unanfechtbarkeit eintreten lassen wollen, ergeben sich daraus letztlich keine praktischen Unterschiede. Dagegen wohl nur v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/ Spitaler, AO, Vor §§ 172–177 Rn. 8, 65 f., indem er den Eintritt der materiellen Bestandskraft zur ungeschriebenen Tatbestandsvoraussetzung der Änderungsvorschriften erhebt. Allerdings sind die praktischen Konsequenzen hinsichtlich der Frage, ob bereits mit Bekanntgabe des Verwaltungsaktes die materielle Bestandskraft eintritt oder erst infolge der Unanfechtbarkeit, gering. Zumal sich eine teilweise geforderte Änderungsbefugnis auch für noch nicht bestandskräftige Verwaltungsakte unzweideutig aus § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2a) AO ergibt.

2. Abschn.: Die Änderung einer endgültigen Steuerfestsetzung

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aa) Die typischen Fälle der Steuerhinterziehung Für das Steuerstrafrecht wird eine generelle Fernbindung191 des Steuerbescheides von der ganz überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Lehre verneint.192 Im Blickfeld stehen dabei die ganz typischen Fälle der Steuerhinterziehung, in denen der Steuerpflichtige durch unwahre Tatsachen eine Steuerfestsetzung erreicht, die hinter der gesetzlich geschuldeten Steuer zurück bleibt. Hierbei soll es un­ beachtlich sein, ob die im Ergebnis abgelehnte Bindungswirkung rechtstechnisch aus der bereits angesprochenen materiellen Bestandskraft oder aufgrund eines bestandskraftunabhängen Abweichungsverbotes hergeleitet wird.193 Dieser herrschenden Ansicht zur Steuerhinterziehung soll in der vorliegenden Arbeit nicht widersprochen werden. Gegen eine solche Bindungswirkung spricht nämlich schon der eindeutige Wille des Gesetzgebers und mit ihm die gesamte Systematik des Steuerstrafrechts. In den geschilderten „Normalfällen“ der Steuerhinterziehung wäre nämlich der Strafrichter durch eine Bindung an die im Steuer­ bescheid ausgewiesene Steuer daran gehindert, die eigentlich höhere Steuer als (materiell) geschuldet und damit als strafrechtlich beachtlich zu erklären. Er wäre vielmehr gezwungen, den Steuerbescheid für „bare Münze“ zu nehmen und eine Änderung dieses Bescheides durch die Finanzbehörde oder Finanzgerichtsbarkeit abzuwarten. Denn erst im Falle der betragsmäßigen Heraufsetzung der Steuerfestsetzung durch die Finanzbehörde dürfte er mit dem Strafverfahren fortfahren und hätte die Steuerverkürzung aus einem Vergleich des niedrigeren Erstbescheides und des die Steuer richtig festsetzenden Änderungsbescheides zu entnehmen.194 Auf diesem Wege wäre zwar das ewige Problem divergierender Entscheidungen von Straf- und Finanzgerichten hinsichtlich der Anwendung von Steuernormen be 191 Darunter wird ein Abweichungs- bzw. Widerspruchsverbot eines bestimmten Rechtsaktes gegenüber Gerichten eines (fach-)fremden Gerichtszweiges genannt, vgl. Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 27 f. 192 BVerfG, NStZ 1991, S. 88 f.; BGHSt 34, S. 272 [279 f.]; BayObLG, wistra 2004, S. 239 f.; Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 396 Rn. 10 f.; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 55; Jäger, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 396 Rn. 5; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 396 Rn.  10; Dumke, in: Schwarz, AO, § 396 Rn. 1a f.; Rolletschke, Steuerstrafrecht, Rn. 77a; Weidemann, GA 1987, S. 205 ff.; Rößler, NJW 1986, S. 972 f.; Reiß, StuW 1986, S. 68 ff. A. A. P. Kirchhof, NJW 1985, S. 2977 ff.; ders., NJW 1986, S. 1315 f.; Bernsmann, Festschrift für Kohlmann, S. 377 ff. [385]. 193 Die Darstellung der Bindungswirkung von Verwaltungsakten gestaltet sich aus verwaltungsrechtlichem Blickwinkel schon deshalb als äußerst schwierig, weil es an einer einheitlichen Terminologie mangelt, so beispielhaft Kracht, Feststellender Verwaltungsakt und konkretisierende Verfügung, S. 160 ff. Einer detaillierten Darstellung bedarf es jedoch an dieser Stelle nicht, da – unabhängig von einer verwaltungsrechtlichen Bindung – dem Steuerstrafrecht eine solche präjudizielle Bindung grundsätzlich nicht entnommen werden kann. 194 So i.E. aber P. Kirchhof, NJW 1985, S. 2977 ff.; ders., NJW 1986, S. 1315 f. Diese weit­ reichenden Konsequenzen für das Steuerstrafrecht zeigt auch Hellmann, Das Neben-Straf­ verfahrensrecht der AO, S. 94 ff. [95 f.] auf: „Das Steuerstrafrecht würde durch diese Sicht geradezu revolutioniert und zugleich weitgehend abgeschafft.“

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

hoben195, allerdings widerspricht dies gerade dem gesetzlichen Leitbild des Steuer­ strafverfahrens, das sich klar für eine „Zweigleisigkeit“ von Steuer- und Strafverfahren ausspricht.196 Deutlich wird diese Konzeption anhand der Regelung über die Aussetzung des Steuerstrafverfahrens gemäß § 396 Abs. 1 AO, da ihr aufgrund einer bestehenden Bindungswirkung weitgehend der Anwendungsbereich entzogen wäre.197 Denn nach Maßgabe des § 396 Abs. 1 AO kann das Strafverfahren bis zum rechtskräftigen Abschluss des Besteuerungsverfahrens von der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren oder dem Strafgericht nach Erhebung der öffentlichen Klage ausgesetzt werden, wenn die Beurteilung der Tat als Steuerhinterziehung davon abhängt, ob ein Steueranspruch besteht, ob Steuern verkürzt oder ob nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt sind. Diese fakultative Aussetzungsbefugnis zur Klärung eines präjudiziellen Rechtsverhältnisses aus dem Gebiet des Steuerrechts bedürfte es demgegenüber nicht, wenn der Strafrichter in einem Steuerstrafverfahren ohnehin an den Steuerbescheid gebunden wäre und er daher seine steuerrechtliche Korrektur zwingend abwarten müsste.198 Somit legt diese Regelung eher die gegenteilige Schlussfolgerung nahe. Durch § 396 AO wird zumindest konkludent zum Ausdruck gebracht, dass dem Strafgericht die volle Vorfragenkompetenz (auch) für das Steuerrecht zukommen soll.199 Betrachtet man dazu noch die rechtshistorische Entwicklung dieser Vorschrift, so ergibt sich ein eindeutiges Bild: Noch bei Inkrafttreten der Reichsabgabenordnung (1919) sah der damalige § 433 RAO200 erstmals eine direkte Bindung 195 Soweit daher P. Kirchhof, NJW 1985, S. 2977 ff. und NJW 1986, S. 1315 f., auf die letztlich im Steuerbescheid festgesetzte Steuer abstellt, geht es ihm vornehmlich nicht um den Streit zwischen formeller und materieller Rechtsgrundtheorie, sondern um die Verhinderung gegensätzlicher Entscheidungen der Straf- und Finanzgerichte in ein und demselben Verfahren. Dagegen Rößler, NJW 1986, S. 972 f.; Weidemann, GA 1987, S. 205 ff. 196 Zu diesem Ergebnis kommt die ganz überwiegende Meinung, siehe Fn. 192. 197 Geht man demgegenüber mit P. Kirchhof, NJW 1985, S. 2977 ff.; ders., NJW 1986, S. 1315 f., von einer Bindungswirkung des Steuerbescheides aus, so verbleibt für § 396 AO nur noch die Ermessensentscheidung, ob die erforderliche Aufhebung oder Änderung des Steuerbescheides auch ohne Aussetzung vor Erlass des Strafurteils wirksam werden wird (a. a. O., S. 2985). 198 So aber P. Kirchhof, NJW 1985, S. 2977 ff.; ders, NJW 1986, S. 1315 f. 199 So ausdrücklich u. a. Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 396 Rn. 10 m. w. N. Für andere ressortfremde Vorfragen ist das Strafgericht gemäß § 262 Abs.  1 StPO in seiner Entscheidung ebenfalls frei. Zwar enthält § 262 StPO nur eine ausdrückliche Regelung für zivilrechtliche Vorfragen, jedoch findet er nach allgemeiner Meinung auch auf andere Rechtsgebiete Anwendung, so BGH  v.  1.7.1954  – 3 StR 223/54; Engelhardt, in: KK-StPO, § 262 Rn. 2. Ausführlich zu den Gründen dieser teleologischen Extension Jörgensen, Die Aussetzung des Strafverfahrens zur Klärung außerstrafrechtlicher Rechtsverhältnisse, S. 10 ff. 200 RGBl. 1919, S. 1993 ff. § 433 Abs. 1 RAO (1919) lautete: „Hängt eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung oder Steuergefährdung davon ab, ob ein Steueranspruch besteht, oder ob und in welcher Höhe ein Steueranspruch verkürzt oder ein Steuervorteil zu Unrecht gewährt ist, und hat der Reichsfinanzhof über diese Frage entschieden, so bindet dessen Entscheidung das Gericht. Liegt eine Entscheidung des Reichsfinanzhofes nicht vor, sind die Fragen jedoch von den Finanzbehörden oder Finanzgerichten zu entscheiden, so hat das Gericht das Strafver-

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der Strafgerichte an Entscheidungen des Reichsfinanzhofs vor. Hatte der Reichsfinanzhof demgegenüber in der Rechtssache noch nicht entschieden, so musste das Strafgericht das Strafverfahren zwingend bis zur Klärung der steuerrechtlichen Frage aussetzen. Kam es diesbezüglich nicht zu einer rechtskräftigen (bindenden) Entscheidung des Reichsfinanzhofs, sondern bereits zu einer bestandskräftigen Entscheidung der Finanzbehörde oder rechtskräftigen Entscheidung des Finanzgerichts201, so musste das Strafgericht, sofern es davon abweichen wollte, dem Reichsfinanzhof die Steuerfrage vorlegen. Demnach sollte nur dem Reichsfinanzhof die letztinstanzliche Entscheidungskompetenz steuerrechtlicher Fragen im ganzen Reich zukommen; und dies in vollkommener Abkehr vom bisher geltenden strafprozessualen Grundsatz der freien Beweiswürdigung und der damit eingeschlossenen Vorfragenkompetenz hinsichtlich präjudizieller Rechtsverhältnisse aus anderen Rechtsgebieten gemäß den §§ 260, 261 StPO (1879)202.203 Die Einführung eines starren Bindungssystems zwischen den Steuer- und Strafgerichten wurde 1919 als erforderlich angesehen, um die erst neu errichtete reichseinheitliche Finanzverwaltung und neugeordnete Finanzgerichtsbarkeit in ihrer Aufbauarbeit nicht zu behindern und der Gefahr eines Bankrotts aufgrund der durch den 1. Weltkrieg entstandenen finanziellen Schieflage des Reichs zu entgegnen.204

fahren auszusetzen, bis über die Fragen rechtskräftig entschieden worden ist. Entscheidet der Reichsfinanzhof, so bindet dessen Entscheidung das Gericht. Ergeht keine Entscheidung des Reichsfinanzhofes, so hat das Gericht, wenn es von einer rechtskräftigen Entscheidung des Finanzamtes oder der Rechtsmittelbehörde abweichen will, die Entscheidung des Reichsfinanzhofes einzuholen. Dieser entscheidet im Beschlußverfahren in der Besetzung von fünf Mitgliedern. Seine Entscheidung ist bindend.“ 201 Zu den in § 433 Abs. 1 RAO (1919) genannten Rechtsmittelbehörden gehörten auch die Finanzgerichte. Sie waren gemäß § 14 Abs. 1 RAO (1919) den Landesfinanzämtern angegliedert und wurden in der RAO unter „Erster Teil – Behörden“ behandelt. Siehe dazu auch i.E. RGSt  58, S.  428; E.  Becker, RAO, § 433 Anm.  10; Cattien, Reichssteuerstrafrecht, § 433, S. 340 (unter: b). 202 Fassung der StPO vom 1.2.1877, RGBl. Nr. 8 S. 253 ff. in Kraft getreten am 1.10.1879. Sie entsprechen den heute inhaltsgleichen §§ 261, 262 StPO. 203 RGSt  56, S.  106 [107 f.]; E.  Becker, RAO, § 433 Anm.  2; Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 396 Rn.  11. Zur Rechtslage vor Einführung der RAO Negele, § 396 AO und das Problem der Entscheidungskompetenz der Strafgerichte im Bereich steuerrechtlich noch nicht entschiedener ressortfremder Vorfragen, S. 41 ff. Kohlmann, Festschrift für Klug, Bd. II, S. 507 ff. [510], sieht in der Ausnahme vom Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung auch die Ursache, warum „die Rechtsprechung die Vorschrift stets als einen Fremdkörper im Rechtssystem empfand“. 204 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Drucks. Nr. 759 (Bd. 338, Anlage zu den Stenographischen Berichten), Allgemeine Begründung des Entwurfs der RAO (S. 577 f.): „Die Besteuerung wird in bisher ungeahnter Weise in alle Verhältnisse eingreifen. Der Druck wird schwer, fast allzu schwer sein; wenn er nicht unerträglich werden soll, muß dafür gesorgt werden, daß einheitlich verfahren wird und alle Pflichtigen gleichmäßig belastet werden. […] Der Steuerbedarf des Reichs ist ins ungeheure gestiegen. Er muß gedeckt werden. Dazu zwingt schon der Friedensvertrag.“ Begr. zu § 430 des Entwurfs (S. 600): „An sich sind das Besteuerungs- und das Strafverfahren unabhängig voneinander. Es erscheint aber zweckmäßig, die Gerichte bezüglich der Frage, ob ein Steueranspruch besteht […], an die

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Durch § 433 RAO (1919) wird somit aber auch deutlich, dass schon damals eine ausdrückliche Bindung nur an Entscheidungen des Reichsfinanzhofs vorgesehen war, nicht hingegen an rechtskräftige Entscheidungen der Finanzgerichte oder Steuer­behörden. Wollte das Strafgericht von einer solchen – ihn nicht bindenden – Entscheidung abweichen, so hatte es dem Reichsfinanzhof diese Vorfrage vorzu­ legen und war nur an seine Entscheidung gebunden.205 Doch selbst wenn das Strafgericht einer rechtskräftigen Entscheidung des Finanzgerichts oder der Finanz­ behörde folgen wollte, so hatte es dennoch einen eigenständigen Prüfungsmaßstab und musste in seinem Urteil insbesondere darlegen, warum es die herangezogene Entscheidung für richtig erachtete.206 Somit kann selbst unter Berufung auf den damaligen § 433 RAO (1919) keine Bindung an die Behördenentscheidung hergeleitet werden. Eine solche existierte richtigerweise auch zu der damaligen Zeit nicht!207 Die in Rede stehende Vorschrift war in der nachfolgenden Zeit umstritten, wobei sich jedoch eine geplante Reduzierung der Bindungswirkung nicht durchzusetzen vermochte.208 Sie blieb daher bis weit nach dem Ende des 2. Weltkrieges inhaltlich unverändert; lediglich durch die Neufassung der Reichsabgabenordnung von 1931 wechselte sie infolge neuer Paragraphenzählung in den § 468 RAO (1931).209 Erst 1965 mit Einführung der Finanzgerichtsordnung wurde die als zu umständlich empfundene Vorlagepflicht beseitigt und die bestehende Aussetzungspflicht durch ein fakultatives Aussetzungsrecht zugunsten der Strafgerichte gelockert.210 Ausdrückliches Ziel war es, die unerwünschten Verzögerungen Entscheidung der Steuerbehörde zu binden.“ Dazu auch Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 396 Rn. 1 ff. 205 RGSt 58, S. 428; E. Becker, RAO, § 433 Anm. 10; Cattien, Reichssteuerstrafrecht, § 433, S. 340 (unter: b). 206 RGSt 58, S. 428: „Der bloße Hinweis auf den Nachsteuerbescheid vermag solche Feststellung nicht zu ersetzen, da er nicht erkennen läßt, daß die gebotene selbständige Prüfung [des Strafrichters, Anm. des Verf.] stattgefunden hat.“ 207 So ausdrücklich Weidemann, GA 1987, S. 205 ff. [212]. 208 RT-Drucks. IV. Wahlperiode 1928, Nr. 2070, Art. 157 Ziff. 53, 54. Dort wurde die Schaffung eines § 433a RAO erwogen, der den Reichsfinanzhof durch Verzichtserklärung von seiner ihm nach Maßgabe des § 433 Abs. 1 S. 4 RAO (1919) obliegenden Vorentscheidungspflicht befreien sollte. In der Begründung zu § 433a RAO hieß es: „Der neue § 433a AO. […] will das Vorbescheideverfahren, das im § 433 [Abs. 1 S. 4, Anm. des Verf.] AO. vorgesehen ist, elastischer gestalten.“ 209 RGBl. I 1931, S. 161 ff. 210 BGBl. I 1965, S. 1477 ff. § 468 Abs. 1 RAO (1965) erhielt folgend Fassung: „Hängt eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung oder wegen leichtfertiger Steuerverkürzung davon ab, ob ein Steueranspruch verkürzt oder ob ein Steuervorteil zu Unrecht gewährt ist, und hat der Bundesfinanzhof diese Frage entschieden, so bindet dessen Entscheidung das Gericht. Liegt eine Entscheidung des Bundesfinanzhofes noch nicht vor, sind die Fragen jedoch von den Finanzbehörden oder Steuergerichten zu entscheiden, so kann das Gericht das Strafverfahren aussetzen, bis die Fragen rechtskräftig entschieden worden sind.“ Diese Gesetzesfassung geht zurück auf den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung strafrechtlicher Vorschriften der Reichsabgabenordnung sowie zur Änderung der Strafprozessordnung und anderer Gesetze (AO-StPO-ÄG), BT-Drucks. IV/2476, Zu § 443, S. 26.

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des Strafverfahrens, insbesondere durch die bestehende Vorlagepflicht, künftig zu vermeiden.211 Schließlich beseitigte der Gesetzgeber 1967  – orientiert am „Vorbild“ des § 262 StPO – die noch verbliebene Bindung des Strafrichters an bereits ergangene Entscheidungen des (jetzigen) Bundesfinanzhofs, so dass der neu geschaffene § 442 RAO (1967) nur das heute bekannte Aussetzungsermessen enthielt.212 Der heutige § 396 AO (1977) wurde letztlich inhaltlich noch insoweit ergänzt, als dass nun bereits im Ermittlungsverfahren die Staatsanwaltschaft bzw. die Finanzbehörde – soweit sie das Steuerstrafverfahren selbständig führt – befugt ist, das Strafverfahren auszusetzen.213 Demnach hat der Gesetzgeber das Steuerstrafrecht bewusst unabhängig von dem parallel anhängigen Besteuerungsverfahren gestaltet, indem er die seit 1919 bestandene Bindung an die Entscheidung des Reichsfinanzhofs bzw. Bundesfinanzhofs und die Aussetzungsverpflichtung zugunsten einer Beschleunigung des Strafverfahrens aufgab. Soweit daher eine Bindungswirkung an Steuerbescheide selbst unter Geltung des damaligen § 433 RAO (1919) abgelehnt wurde, kann sich aufgrund der heutigen Rechtslage keine andere Schluss­folgerung ergeben. Diese uneingeschränkte Prüfungskompetenz des Strafrichters hinsichtlich steuer­ rechtlicher Vorfragen zeigt sich nicht zuletzt in der Handhabung des Tatbestandes der Steuerhinterziehung. Nach nahezu einhelliger Auffassung wird der tatbestandliche Verkürzungserfolg in den Fällen der zu niedrigen Steuerfestsetzung (§ 370 Abs. 4 S. 1 – 2. Variante AO) durch einen Vergleich der aufgrund der unrichtigen Angaben tatsächlich festgesetzten (sog. „Ist-Steuer“) und der eigentlich materiell geschuldeten Steuer (sog. „Soll-Steuer“)214 ermittelt.215 Nicht anders verhält es sich 211 Dazu auch der zu BT-Drucks.  IV/3523 enthaltene schriftliche Bericht des Rechtsausschusses (12. Ausschuß) über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf einer Finanzgerichtsordnung (FGO) – BT-Drucks. IV/1446 –, Bericht des Abgeordneten Bauer, S. 15 (1. Spalte). 212 BGBl.  I  1967, S.  877 ff. § 442 Abs.  1 RAO (1967): „Hängt eine Verurteilung wegen Steuer­hinterziehung oder leichtfertiger Steuerverkürzung davon ab, ob ein Anspruch besteht, ob ein Steueranspruch verkürzt oder ob ein Steuervorteil zu Unrecht gewährt ist, so kann das Gericht das Strafverfahren aussetzen, bis das Besteuerungsverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.“ Siehe BT-Drucks. V/1941, Zu § 442 und der dazu enthaltene schriftliche Bericht des Finanzausschusses (14. Ausschuss) über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung strafrechtlicher Vorschriften der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze (AOStrafÄndG) – BT-Drucks. V/1812 –, Bericht des Abgeordneten Schlee, S. 3 (2. Spalte). 213 BT-Drucks. VI/1982, Zu § 381, S. 199 und BT-Drucks. 7/79, Zu § 381. 214 Modifiziert wird diese „Formel“ nur durch das in § 370 Abs. 4 S. 3 AO verankerte Kompensationsverbot. Danach ist es für die Frage des Vorliegens des tatbestandsmäßigen Erfolgs ohne Bedeutung, ob die Steuer, auf die sich die Tat bezieht, „aus anderen Gründen hätte ermäßigt oder der Steuervorteil aus anderen Gründen hätte beansprucht werden können“. Der Tatbestand der Steuerhinterziehung ist demzufolge blind für nachträglich vom Täter geltend gemachte Steuerminderungen. Dazu später eingehend unter: II. Gefährdungsdelikt (S. 169). 215 Stetige Rechtsprechung des BGH, bsplw. in BGHSt 7, S. 336 – Leitsatz: „Der Tatbestand der Steuerhinterziehung ist daher bereits dann erfüllt, wenn nach den auf Grund des steuerunehrlichen Verhaltens geschaffenen Besteuerungsgrundlagen ein geringerer Steuerbetrag zu

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

auch in den Fällen einer bisher gänzlich unterbliebenen oder zumindest nicht rechtzeitigen Steuerfestsetzung (§ 370 Abs. 4 S. 1 – 1. und 3. Variante AO). Hierbei wird der Verkürzungserfolg ebenfalls durch einen Vergleich – diesmal allerdings auch in zeitlicher Hinsicht  – zwischen der tatsächlich vorgenommenen und der ohne das steuerwidrige Verhalten hypothetisch vorzunehmenden Steuerfestsetzung ermittelt. Eine Steuerverkürzung pflegt demnach bereits dann einzutreten, wenn das Besteuerungsverfahren ohne das steuerwidrige Verhalten hypothetisch beendet worden wäre und es bis zu diesem Zeitpunkt keine tatsächliche Steuerfestsetzung gegeben hat.216 Entscheidend ist nun, dass der Strafrichter diese erst zur Tatbestandsmäßigkeit führende Differenz zwischen der tatsächlichen und anhand des Gesetzes vorzunehmenden Steuerfestsetzung gerade aufgrund der ihm eingeräumten Vorfragenkompetenz selbständig festzustellen hat. Oder anders gewendet: Das Urteil leidet insofern schon dann an einem sachlich-rechtlichen Mangel, wenn die Gründe entgegen § 267 Abs. 1 S. 1 StPO nicht die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen oder zumindest ansatzweise die eigene tatrichterliche Berechnung der verkürzten Steuer als Teil der Rechtsanwendung erkennen lassen.217 Die pauschale Bezugnahme auf die Berechnung des Festsetzungsbeamten durch Zeugen­beweis ist demnach genauso fehlerhaft wie der Verweis auf einen nach Tatentdeckung ergangenen Steuer­bescheid, an den sich der Strafrichter irrtümlicherweise gebunden Unrecht gewährt oder überlassen worden ist, als er ohne die täuschenden Angaben des Steuer­ pflichtigen festgesetzt worden wäre“; NStZ 1986, S.  79; NJW 2009, S.  2546 ff.; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn.  63; Rolletschke, Steuerstrafrecht, Rn.  72; ders., in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn.  102; Hellmann, Das NebenStrafverfahrensrecht der AO, S.  95 f. (insbesondere Fn.  17); Vogelberg, in: Simon/Vogelberg, Steuerstrafrecht, S. 5 ff.; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der h.A. BVerfG, NStZ 1991, S. 88 f. A. A. Reiß, StuW 1986, S. 68 ff. [71 f.]; Weidemann, GA 1987, S. 205 ff. [222]; ders, wistra 2010, S.  198 f. (dort auch zu einer gegenteiligen Deutungsmöglichkeit). Sie wollen die Kausalität bzw. den Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen der Tathandlung (unrichtige Angaben) und dem Verkürzungserfolg verneinen, wenn die konkrete Finanzbehörde bei richtigen Angaben genauso (bsplw. aufgrund einer abweichenden Rechtsansicht) veranlagt hätte. Dagegen Wisser, Die Aussetzung des Steuerstrafverfahrens gemäß § 396 AO, S. 260 f. 216 Statt vieler BGHSt 37, S. 340; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 413 ff. Aufgrund des Zweifelssatzes ist zugunsten des Steuerpflichtigen bei der Ermittlung des hypo­ thetischen Sachverhaltes davon auszugehen, dass seine Steuererklärung als letzte bearbeitet worden wäre. Die Steuerverkürzung pflegt daher erst dann einzutreten, sobald die allge­ meinen Veranlagungsarbeiten im Wesentlichen abgeschlossen sind [BGHSt  37, 340]. Siehe zu den neuen Bestrebungen nach einer „objektivierten“ Ermittlung (Eintritt der Steuerverkürzung nach einer Zeitspanne von längstens einem Jahr bei normalen Steuerveranlagungen) BGH v. 19.1.2011 – 1 StR 640/10. 217 Einhellige Rechtsprechung: BGH, NStZ 1990, S. 496 f.; NStZ-RR 1996, S. 19 ff.; NStZ 1997, S. 347 f.; NStZ 2001, S. 200 f.: dort zu einem (ausnahmsweisen) Absehen von der Berechnung, wenn der sachkundige Angeklagte ein glaubhaftes Geständnis abgelegt hat. Ähnlich auch BGH, NJW 2009, S. 2546 ff.: Das Urteil beruhe jedenfalls dann nicht auf einem Begründungsmangel, wenn sich dieser allein auf die Höhe der Steuer und damit auf den Schuldumfang beziehe, aber letztlich ausgeschlossen werden könne, dass die getroffene Steuerberechnung für den Angeklagten nachteilig sei.

2. Abschn.: Die Änderung einer endgültigen Steuerfestsetzung

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fühlt.218 Dass die vom Tatgericht zu treffenden Feststellungen dabei den für das Strafverfahren geltenden Beweisregelungen unterworfen sind, spricht ebenfalls gegen eine direkte Übernahme von Erkenntnissen aus dem Besteuerungsverfahren, dem insbesondere der Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten (respektive: Steuerpflichtigen)“ nicht ohne Weiteres zu entnehmen ist.219 Aus diesem vorherrschenden Verständnis, dass also das Steuer- und Strafverfahren grundsätzlich parallel betrieben werden, lassen sich wiederum Folgewirkungen für den Anwendungsbereich des heutigen § 396 AO ableiten, die von der überwiegenden Ansicht bisher nicht deutlich genug herausgestellt wurden. In der Rechtsprechung und dem überwiegenden Teil der Literatur besteht Einigkeit darin, dass die Aussetzungsregelung der zuständigen Staatsanwaltschaft oder dem Strafgericht einen umfangreichen auch von Amts wegen220 zu berücksichtigenden Ermessensspielraum für eine Aussetzung des Strafverfahrens einräumt.221 Hiernach sollen vornehmlich die Vor- und Nachteile der Aussetzung für das konkrete Strafverfahren in den Blick genommen werden, wobei dem Beschleunigungsgrundsatz gemäß Art.  6 Abs.  1 S.  1 EMRK nebst dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG im Rahmen der obliegenden Abwägung stets ein erhebliches Gewicht zukommt. Je länger das Besteuerungsverfahren voraussichtlich dauere, desto eher werde man geneigt sein, auch im Interesse des Beschuldigten bzw. Angeklagten eine Aussetzung zu verneinen.222 Selbst bei schwierigen, bisher höchstrichterlich ungeklärten Vorfragen werde das Aussetzungsermessen nicht auf Null reduziert.223 Ferner gelte die vollständige Prüfungskompetenz des Strafrichters selbst dann, wenn das Strafverfahren bis zur steuerrechtlichen Klärung ausgesetzt worden sei. Das Strafgericht dürfe also die abgewartete Entscheidung ebenfalls nicht ungefragt übernehmen, sondern habe auch in diesen Fällen eine eigenständige Prüfungsverpflichtung, die es vollumfänglich – unter Berücksichtigung originär strafrechtlicher Garantien – wahrnehmen müsse.224 218 Zur rechtsfehlerhaften Bezugnahme der Zeugenaussage eines Finanzbeamten Harms, NStZ-RR 1998, S. 97 ff. [100 f.]. 219 BVerfG, NStZ 1991, S. 88 f.; BGH, NStZ 1995, S. 93 f.; NStZ-RR 1997, S. 347 f. Wobei jedoch der Zweifelsgrundsatz nicht per se eine Schätzung von Besteuerungsgrundlagen ver­ bietet, vgl. BGH, StV 1992, S. 260 f. Siehe aber zur partiellen Geltung des Zweifelssatzes im Steuerverfahren u. a. BFH, DStR 2007, S. 648 f., soweit steuerverfahrensrechtliche Normen die Begehung einer Steuerhinterziehung voraussetzen. 220 BVerfG, NJW 1985, S. 1950. 221 Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 396 Rn. 13 ff. u. 71 ff.; Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 396 Rn. 53 ff. 222 U. a. Schauf, in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 396 Rn. 53 ff. m. w. N. 223 Zu Letzterem siehe die Stellungnahmen der Präsidenten des BGH und BFH zur Parteispendenproblematik, BB 1990, S. 1044 ff. Für eine Ermessensreduzierung u. a. Felix, BB 1990, S. 1243 f.; ders., DStZ 1990, S. 515 ff.; Bernsmann, Festschrift für Kohlmann, S. 377 ff.; Kohlmann, Festschrift für Klug, Bd. II, S. 507 ff.; Isensee, NJW 1985, S. 1007 ff.; Schlüchter, JR 1985, S.  360 ff. Dagegen die heute ganz überwiegende Ansicht u. a. vertreten vom BVerfG, NStZ 1991, S. 88 f.; BGHSt 34, S. 272 [274]; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 396 Rn.  14; Schauf, in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 396 Rn.  62; Wisser, Die Aussetzung des Steuerstrafverfahrens gemäß § 396 AO, S.  244 ff. Zur Begründung siehe die folgenden Ausführungen. 224 Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 396 Rn. 14; Schauf, in Kohlmann, Steuer­ strafrecht, § 396 Rn.  67, 75; Jäger, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 396 Rn.  42; Cratz, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 396 Rn. 15.

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung  Diese von der überwiegenden Ansicht praktizierte Handhabung der Aussetzungsvorschrift lässt m. E. nur eine einzige Schlussfolgerung zu: Ein generelles Aussetzungsermessen ist ohne eine sich daran anschließende Bindungswirkung weitestgehend sinnlos.225 Aus welchem Grund sollte ein Strafrichter wohlmöglich mehrere Jahre ein Strafverfahren aussetzen, um es nach rechtskräftigem Abschluss des Steuerverfahrens dann doch vollumfänglich und ohne jegliche Bindung entscheiden zu müssen? Eine von der Staatsanwaltschaft oder dem Strafrichter vorgenommene Aussetzung ist insofern nichts mehr als die Einholung eines „Rechtsgutachtens in Urteilsform“226, das zwar durchaus geeignet sein kann, die Entscheidungsfindung zu erleichtern. Es wäre jedoch verfehlt, diese Hilfestellung dem Strafrichter gegen seinen Willen aufzuzwingen. Des Weiteren wird sich in diesen Fällen eine besondere Berücksichtigung der überlangen Verfahrensdauer durch Herabsetzung der zu vollstreckenden Strafe nicht vermeiden lassen.227 Hier hätte es der Angeklagte in der Hand, durch eine langwierige Führung des Steuerprozesses gleichsam eine besondere strafrechtliche Vergünstigung „durch die Hintertür“ zu erhalten.228 Soweit für den Anwendungsbereich des § 396 AO stets die Verhinderung divergierender Entscheidungen und mit ihr nichts Geringeres als die „Einheit der Rechtsordnung“ angeführt wird, sind diese Bestrebungen – beseelt von einem metaphysischen Rechtsgefühl  – nur allzu verständlich. Allerdings kommt man nicht umhin, die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen in einer sich überschneidenden Rechtsordnung mit gespaltener Gerichtsbarkeit gemäß Art. 95 Abs. 1 GG hinzunehmen. Schließlich handelt es sich hierbei um ein bewusst in Kauf genommenes Phänomen, dass alle Rechtsbereiche und Gerichtszweige betrifft, dort aber anscheinend (klaglos) akzeptiert wird.229 Insbesondere haben Verfassungs- als auch Gesetzgeber diese besondere prekäre Verfahrenslage erkannt und durch die Möglichkeit der Bildung eines „Gemeinsamen Senates der obersten Gerichtshöfe“ gemäß Art. 95 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (RsprEinhG) abzumildern versucht.230 Nicht zuletzt ist speziell im Rahmen des Steuerstrafverfahrens eine Berücksichtigung steuerrechtlicher Ansichten durch eine Beteiligung der Finanzbehörde nach Maßgabe des § 407 Abs. 1 AO gewährleistet. Die besondere Sachkunde der Finanzverwaltung geht somit auch ohne eine Aussetzung des Verfahrens nicht verloren.231

225 BayObLG, wistra 2004 S. 239 f.; Wisser, Die Aussetzung des Steuerstrafverfahrens gemäß § 396 AO, S. 244 ff. 226 Rößler, DStZ 1990, S. 514 f. 227 Zur überlangen Verfahrensdauer auch ohne Verschulden der Ermittlungsbehörden und Gerichte allgemein BGH, NStZ 1999, S. 181. Siehe ferner zur sog. Vollstreckungslösung der Große Senat des BGH, NJW 2008, S. 860 ff. 228 Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 396 Rn. 58, 18. 229 Vgl. zu ähnlichen Verfahrenslagen aus anderen Rechtsgebieten Hellmann, Das NebenStrafverfahrensrecht der AO, S. 127 f. 230 Nach Maßgabe des § 2 Abs. 1 RsprEinhG entscheidet der Gemeinsame Senat, wenn ein oberster Gerichtshof in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofes oder den Gemeinsamen Senat abweichen will. Von einer identischen Rechtsfrage kann nach Schulte, Rechtsprechungsauftrag als Verfassungseinheit, S. 100, ausgegangen werden, „wenn zwei oberste Gerichtshöfe des Bundes aus derselben Norm desselben Gesetzes unterschiedliche Antworten auf die gestellte Rechtsfrage herleiten.“ Dies wäre bei der Frage nach einem bestehenden Steueranspruch in einem identischen Steuer- als auch Steuerstraf­ verfahren zu bejahen. Insbesondere ist die Entscheidung des Gemeinsamen Senates gemäß § 16 RsprEinhG für das erkennende Gericht bindend. 231 BVerfG, NStZ 1991, S. 88 f.

2. Abschn.: Die Änderung einer endgültigen Steuerfestsetzung

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Kommt es dennoch zu dem nicht ausgeschlossenen Fall divergierender Entscheidungen von Steuer- und Strafgerichten, so rechtfertigt allein die Annahme einer abweichenden, aber dennoch vertretbaren Rechtsauffassung keine Wiederaufnahme des Strafverfahrens nach Maßgabe des § 359 Nr. 4, Nr. 5 StPO.232

bb) Die Fälle der „Fristerschleichung“ (1) Die atypischen Fälle der Steuerhinterziehung Ob die Eigenständigkeit des Steuerstrafverfahrens auf die umgekehrten Fälle übertragbar ist, in denen der Steuerpflichtige einen – gemessen an der materiellen Rechtslage – zu hohen und damit rechtswidrigen, aber bereits bestandskräftigen Steuerbescheid mittels unwahrer Tatsachen zu reduzieren versucht, lässt sich indes nicht so einfach beantworten. Unabhängig der vertretenen Rechtsgrundtheorien wird mit dem unanfechtbaren „überschießenden“ Steuerbescheid unstreitig ein Eingriffsrecht der Finanzbehörde begründet, dem sich der Steuerpflichtige gerade aufgrund der eingetretenen formellen und materiellen Bestandskraft nicht mehr entziehen kann. Stellt sich nun die Frage nach einer Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs.  1 AO, so muss für eine Steuerverkürzung entsprechend den­ bereits erläuterten „Normalfällen“ festgestellt werden, wie weit die tatsächliche Festsetzung hinter der geschuldeten Steuer zurück geblieben ist. Für die Fälle der „Fristerschleichung“ kann sich eine verkürzte Steuer nur aus dem Umstand ergeben, dass der Steuerpflichtige die Forderung aus einem zu hohen unanfechtbescheid verfahrensrechtlich hinnehmen muss und er  – zuwider baren Steuer­ den Regelungen über die Bestandskraft – dagegen verstoßen hat. Keine anderen Überlegungen sind auch dann anzustellen, wenn man insbesondere hinsichtlich der „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ alternativ danach fragt, ob der Steuer­ pflichtige durch die nachträgliche Änderung seines Steuerbescheides nicht ge 232 Zutreffend insofern Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 396 Rn.  82 f.; Jäger, in: Franzen/Gast/Joecks, AO, § 396 Rn. 52 ff. Denn bei den gegenläufigen Entscheidungen handele es sich zwar um eine unterschiedliche materiell-rechtliche Bewertung aber nicht um eine neue Tatsache im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO. Es versteht sich m. E. von selbst, dass es dem An­geklagten einerseits nicht zustehen kann, eine ganz bestimmte Auslegung eines steuerrechtlichen Tatbestandes zu fordern. Andererseits kann der Finanzgerichtsbarkeit de lege lata keine letztverbindliche Entscheidungsprärogative in steuerrechtlichen Vorfragen zukommen. A. A. Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 396 Rn.  20; ders, Das Neben-Strafverfahrensrecht der AO, S. 128 f.; Reiß, StuW 1986, S. 68 ff. [71 f.]; Weidemann, GA 1987, S. 205 ff. [222]; ders, wistra 2010, S. 198 f. Ferner kommt auch nicht der Wiedereinsetzungsgrund des § 359 Nr.  4 StPO in Betracht. Das strafrechtliche Urteil „gründet“ nicht auf einer (dem zivilgerichtlichen Urteil gleichgestellten) finanzgerichtlichen Entscheidung. So u. a. Schauf (a. a. O.); Jäger (a. a. O.); Weyand, PStR 2007, 189 ff.; a. A. Isensee, NJW 1985, S. 1010 ff., der eine Analogie erwägt. Ausführlich zur Wiederaufnahme Wisser, Die Aussetzung des Steuerstrafverfahrens gemäß § 396 AO, S. 258 ff.

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

rechtfertigte Steuervorteile erlangt hat.233 Soweit der Steuerpflichtige über eine Wiedereinsetzung durch die Finanzbehörde zu einer zwar verspäteten, aber an sich rechtmäßigen Steuerfestsetzung gelangt, kann von einem „ungerechtfertigen Steuervorteil“ doch nur dann gesprochen werden, wenn auch dem rechtswidrigen Teil der Steuerforderung eine strafrechtliche Legitimation zukommt. Somit ist in allen Fällen von entscheidender Bedeutung, ob auch der Strafrichter diesen überschießenden Steuerbetrag als Teil  der geschuldeten Steuer zu beachten hat; er also an den rechtswidrigen Teil der im Bescheid geforderten Steuer „gebunden“ ist. Das Problem der Bindungswirkung von Steuerbescheiden stellt sich somit unter einem neuen noch nicht behandelten Blickwinkel dar, der zumindest eine pauschale Verweisung auf die übrigen Fälle der Steuerhinterziehung verbietet.­ Natürlich ließe sich zwar wiederum die Normengeschichte des § 396 AO anführen, die in eindrucksvoller Weise gegen eine Bindungswirkung von Steuerbescheiden spricht. Allerdings ist zu bedenken, dass die hier fragliche „Fristerschleichung“ für eine Aussetzung des Steuerstrafverfahrens nur einen sehr eingeschränkten Raum bietet. Schließlich liegt den beiden zu begutachtenden Fällen bereits ein bestandskräftiger Steuerbescheid zugrunde, so dass das Steuerverfahren auch im Sinne des § 396 Abs. 1 AO bereits zu dem Zeitpunkt „rechtskräftig“234 abgeschlossen war, als der Steuerpflichtige mit seinem täuschenden Verhalten gegenüber der Finanzbehörde begann. Für den Strafrichter stellt sich erst einmal nur die Frage, ob er den überschießenden Steuerbetrag  – im Vergleich zur materiellen Rechtslage  – als Steuerschuld anerkennt oder lediglich die gesetzlich geschuldete Steuer für maßgeblich erachtet. Nur soweit sich der Strafrichter diesbezüglich – bsplw. hinsichtlich des Eintritts der formellen Bestandskraft – im Unklaren sein sollte, bliebe ihm weiterhin die Möglichkeit einer Aussetzung des Straf­ verfahrens erhalten. Immerhin hat der Steuerpflichtige durch seine falschen Angaben, entweder den zu hohen Steuerbescheid nicht bekommen (Grundfall) oder die Einspruchsfrist ohne Verschulden versäumt zu haben („Erschleichung der Wiedereinsetzung“), die steuerliche Situation zu seinen Gunsten verbessert. Es obliegt daher parallel zum Strafverfahren der Finanzbehörde, diese steuerrechtliche Veränderung über das Änderungsverfahren nach den Vorschriften der §§ 172 ff. AO rückgängig zu machen. Auch ihr stellt sich dieselbe Frage  – nur aus einem steuerrechtlichen Blickwinkel.235 Das Strafverfahren könnte demzufolge bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Heraufsetzung auf den ursprünglichen, teilweise rechtswidrigen Steuerbetrag ausgesetzt werden. Daraus lassen sich je 233

Zu der schwierigen Abgrenzung von Steuerverkürzung und Erlangung eines nicht gerechtfertigten Steuervorteils siehe: 2. Die „Fristerschleichung“ als ungerechtfertigter Steuervorteil (S. 279). 234 Dazu Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 396 Rn. 38; Jäger, in: Franzen/Gast/­Joecks, Steuerstrafrecht, § 396 Rn. 24. 235 Ausführlich zur Änderung: b) Die „Fristerschleichung“ (S. 87), d) Die „Fristerschleichung“ (S. 111).

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doch keine dahingehenden Folgerungen ableiten, die Aussetzungsvorschrift des § 396 AO spreche generell gegen einen aus einem rechtswidrigen Steuerbescheid resultierenden Steueranspruch. Sie bürdet dem Strafrichter nur die uneingeschränkte Vorfragenkompetenz auch schwieriger steuerrechtlicher Sachverhalte auf, ohne allerdings selbst materiell-rechtliche Regelungen für den Steueranspruch und damit auch für die Steuerhinterziehung bereit zu halten. Insbesondere war die Änderungsgeschichte von § 433 RAO (1919) bis hin zum heutigen § 396 AO (1977) nicht vom gesetzgeberischen Willen getragen, jedwede Bindung an einen Verwaltungsakt zu beseitigen, sondern den ursprünglichen Rechtszustand, wie er die ganze Zeit auch für das sonstige Strafverfahren gemäß § 262 StPO galt, wiederherzustellen.236 Soweit daher auch unter Anwendung der allgemeinen strafprozessualen Regelungen eine Bindungswirkung angenommen wird, kann doch für das nun „gleichgeschaltete“ Steuerstrafverfahren nichts anderes gelten. Es ist demnach zu fragen, ob nicht bereits anerkannte Rechtsinstitute geeignet sind, die Beachtlichkeit des überschießenden Steuerbescheides für das Steuerstrafverfahren herzustellen. (2) Die anerkannten Abweichungsverbote Am Anfang dieser Überlegungen steht die materielle Bestandskraft. Geht doch mit ihr ein Abweichungsverbot für nachfolgende Verfahren einher, um letztlich der Rechtssicherheit unter Umständen auch auf Kosten der Rechtsrichtigkeit Vorrang einzuräumen. Sie sorgt dafür, dass der Entscheidungsausspruch des Steuerbescheides in nachfolgenden Steuerverfahren nicht erneut in Zweifel gezogen werden darf. Überträgt man diese bereits erörterten Grundsätze auf das Strafverfahren, so dürfte dort letztlich nichts anderes gelten. Zum anderen ist anerkannt, dass Verwaltungsakte mit bestandskraftunabhängigen Abweichungsverboten ausgestattet sein können.237 Besondere Bedeutung erlangen diesbezüglich die auch im Strafrecht anerkannte Tatbestandswirkung und Gestaltungswirkung von Verwaltungsakten. Von ersterer wird gesprochen, wenn eine Rechtsnorm als Tatbestandsvoraussetzung schlichtweg die Existenz eines Rechtsaktes bestimmten Inhaltes nennt. Ergeht dieser Rechtsakt und ist er wirksam, so stellt er einen Teil  des gesetzlichen Tatbestandes dar und ist schließlich geeignet, eventuell mit weiteren Vor 236 Siehe Fn. 212; dort insbesondere der Bericht des Abgeordneten Schlee: „Die Ausschüsse waren der Meinung, daß die Bindung der Strafgerichte nicht zu vertreten sei, da es auch sonst keine entsprechenden Vorschriften über die Bindung von Strafgerichten gebe. Sie hielten es für ausreichend, wenn den Strafgerichten bei steuerrechtlichen Vorfragen nach dem Vorbild des § 262 Abs. 2 StPO die Möglichkeit eingeräumt werde, das Verfahren auszusetzen.“ 237 Vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 43 Rn. 134 ff.; Kracht, Feststellender Verwaltungsakt und konkretisierende Verfügung, S.  160 ff.; Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, S. 69 ff.

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

aussetzungen, die vorgesehene Rechtsfolge auszulösen.238 Dabei handelt es sich streng genommen nicht um eine Frage der Präjudizialität. Nicht ein vorgreifliches Rechtsverhältnis ist hiernach Teil des gesetzlichen Tatbestandes, sondern die reine Tatsache, dass ein bestimmter Rechtsakt ergangen ist. Die Bindungsproblematik wird somit auf eine einfache Subsumtionsfrage auf Tatsachenebene begrenzt.239 Die Schwierigkeit liegt jedoch darin, die Tatbestandsvoraussetzungen genau zu bestimmen. Nur wenn sich der jeweiligen Rechtsnorm widerspruchsfrei entnehmen lässt, dass sie an einen bestehenden Rechtsakt als „Faktum“240 und nicht an seinen Inhalt anknüpft, wird sich letztlich eine wie auch immer geartete „Bindung“ ergeben können. So ist bsplw. im Ordnungswidrigkeitenrecht anerkannt, dass eine durch amtliches Verkehrszeichen getroffene Anordnung auch dann von Verkehrsteilnehmern beachtet werden muss, wenn sie rechtswidrig ist.241 Demzufolge führt eine Zuwiderhandlung gegen die in einem rechtswidrigen Verwaltungsakt enthaltene Regelung selbst dann zu einem Verstoß gegen den Bußgeldtatbestand des § 24 StVG in Verbindung mit den §§ 49 Abs.  3 Nr.  4, 41 Abs.  1 StVO, wenn sie in einem späteren Widerspruchsverfahren aufgehoben wird.242 Für den Richter ist demnach allein maßgebend, dass eine wirksame verkehrsrechtliche Anordnung zum 238 Hierbei handelt es sich um die Tatbestandswirkung „im engeren Sinn“. Dazu aus dem Zivilrecht: Wach, Handbuch des Deutschen Civilprozessrechts – Erster Band, S. 626 f.; Jesch, Die Bindung des Zivilrichters an Verwaltungsakte, S.  58 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald,­ Zivilprozessrecht, § 149 Rn. 6 ff.; Gaul, Festschrift für Zeuner, S. 317 ff.; Bötticher, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des dt. Juristentages, S. 511 ff. [514 ff.]. Aus dem allgemeinen Verwaltungsrecht: Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 43 Rn. 154 ff.; Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, S.  69 ff.; Kracht, Feststellender Verwaltungsakt und konkretisierende Verfügung, S. 168 ff. (insbesondere Fn. 40). Im Steuerrecht: Seer, in: Tipke/ Kruse, AO, § 88 Rn. 36 f.; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn. 57 ff. u. § 118 Rn. 381. Für das Strafrecht: Lagemann, Der Ungehorsam gegenüber sanktionsbewehrten Verwaltungsakten, S. 55 ff.; Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S.  81 ff.; kritisch dazu Arnhold, Die Strafbewehrung rechtswidriger Verwaltungsakte, S.  41 ff.; Jörgensen, Die Aussetzung des Strafverfahrens zur Klärung außerstrafrechtlicher Rechtsverhältnisse, S. 103 f.; Wisser, Die Aussetzung des Steuerstrafverfahrens gemäß § 396 AO, S. 71 f.; Steinhorst, Die Bedeutung der Rechtswidrigkeit vollstreckbarer Verwaltungsakte im materiellen Strafrecht und im Strafprozess, S. 36 ff., S. 199 f.; Schlüchter/Velten, in: SKStPO, § 262 Rn. 7 ff.; Stuckenberg, in: Kleinknecht/Müller/Reitberger, StPO, § 262 Rn. 24 ff.; ders., in: Löwe/Rosenberg, StPO, § 262 Rn. 24 ff. Ebenso P. Kirchhof, NJW 1985, S. 2977 ff.; ders., NJW 1986, S. 1315 f., auch wenn er teilweise mit der Tatbestandswirkung „im weiteren Sinn“ argumentiert, letztlich aber doch auf die „Gehorsamspflicht aus dem (bestandskräftigen) Steuerbescheid“ abstellt. Damit würde der Tatbestand der Steuerhinterziehung in jedem Fall die Existenz eines (höheren) Änderungsbescheides voraussetzen, was schließlich auf die Tatbestandswirkung in dem hier gemeinten (engeren) Sinn hindeutet. Zu diesem Verständnis auch Hellmann, Das Neben-Strafverfahrensrecht der AO, S. 94 f. 239 Jesch, Die Bindung des Zivilrichters an Verwaltungsakte, S. 64 f. 240 So noch Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl., § 262 Rn. 20. 241 BGHSt 23, S. 86, ohne allerdings ausdrücklich von Tatbestandswirkung zu sprechen. 242 So BGHSt 23, S. 86 [91 ff.]; dazu ausführlich und ablehnend Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 220 ff. [254 ff.].

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Tatzeitpunkt existierte und der Betroffene dagegen verstoßen hat.243 Diese eingeschränkte Prüfungskompetenz der Gerichte ist letztlich eine Folge der Auslegung des Bußgeldtatbestandes selbst. Geht man nämlich davon aus, dass § 24 StVG die Zuwiderhandlung gegen eine verbindliche Einzelanordnung der Verwaltungsbehörde unter Strafe stellt, so genügt die Verletzung einer dem Betroffenen gegenüber statuierten Gehorsamspflicht. Dass eine solche auch von rechtswidrigen Verwaltungsakten ausgeht, solange sie sofort vollziehbar oder unanfechtbar sind, wird nicht bestritten. Richtigerweise ist es der Ungehorsam gegen die vollziehbare Verwaltungsanordnung, der mit einem Bußgeld geahndet wird. Eine solche – vom materiellen Verwaltungsrecht losgelöste – Auslegung des Tatbestandes wird begründet mit den „berechtigten Interessen der staatlichen Ordnung, die auch ein Anliegen der Allgemeinheit sind und denen sich jeder einsichtige Bürger, der Ordnung und Sicherheit wünscht, beugen muss“.244 Somit wird die Sanktionierung des reinen „Verwaltungsungehorsams“ im Bereich des Straßenverkehrs mit den überwiegenden Ordnungsinteressen für notwendig erachtet.245 Die angesprochene „Tatbestandswirkung“ ergibt sich dabei aus dem gesetzlichen Umstand, dass zur Tatbestandsverwirklichung nur eine wirksame Anordnung bestimmten Inhaltes vorliegen muss und letztendlich nur an das faktische Ergehen der Regelung selbst angeknüpft wird. Für den Steuerhinterziehungstatbestand ist nun danach zu fragen, worin genau die Strafbewehrung zu erblicken ist. Inkriminiert § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO die Verlet­zung einer von Gesetzes wegen entstandenen Steuer oder auch eine im Steuerbescheid ausgewiesenen Steuer? Nur im letzteren Fall, indem aus dem Steuerbescheid selbst entweder eine „formelle Steuerschuld“ und mit ihr eine sanktionsbewehrte Gehorsamspflicht erwächst, wäre eine Tatbestandswirkung anzunehmen. Zwar haben die bisherigen Erläuterungen deutlich gemacht, dass das Steuerstrafverfahren die materiell geschuldete Steuer als maßgeblich erachtet. Immerhin hat der Strafrichter die „Soll-Steuer“ in Eigenregie zu bestimmen. Allerdings wurde auch gezeigt, dass ein rechtswidriger Steuerbescheid mit einer zu hohen Steuerforderung in überschießender Höhe konstitutiv wirkt; insoweit durchaus von einer eigenständigen Rechtssetzung gesprochen werden kann. Nimmt man diesen Gedanken auf, so wäre es doch ein Leichtes, den zu hohen Steuerbescheid selbst als Maßstab der fraglichen Steuerverkürzung zu nehmen. Es wird also letztlich zu klären sein, ob nicht, entgegen der sonstigen Vorgehensweise im Steuerstrafrecht, die Fälle der „Fristerschleichung“ ausnahmsweise eine aus dem Steuerbescheid entstandene Gehorsamspflicht zum Schutzgut erklärt und damit ihre Verletzung durch § 370 AO sanktioniert wird.

243 König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Einleitung Rn. 65 ff., § 24 StVG Rn. 15, § 42 StVO Rn. 250. 244 BGHSt 23, S. 86 [92]. 245 Kritisch dazu u. a. Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 220 ff. [254 ff.].

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Im Gegensatz dazu geht die Gestaltungswirkung von einer inhaltlichen Verbindlichkeit konstitutiver Rechtsakte aus.246 Führt ein Urteil oder Verwaltungsakt eine Änderung der Rechtslage herbei, indem es ein Rechtsverhältnis erstmals begründet, abändert oder aufhebt, so werden dadurch nur die an diesem Verhältnis Beteiligten unmittelbar gebunden. Ungeachtet dieser Direktwirkung kann die neue Rechtslage, wie die zwischen Privaten zustande gekommenen Rechtsverhältnisse, auch von unbeteiligten Dritten nicht geleugnet werden. Es ist – und da sind sich Tatbestandswirkung und Gestaltungswirkung ganz nahe – ein Faktum der Rechtswirklichkeit, das insgesamt nicht ignoriert werden kann.247 Das allein kann aber noch keine generelle Beachtlichkeit staatlicher Gestaltungsakte für rechtswegfremde Gerichtszweige erklären. Hinzu kommt die strikte Bindung der Rechtsprechung an Recht und Gesetz gemäß Art. 20 Abs. 3 GG. Erst wenn ein Gesetz an einen konkreten Gestaltungsakt anknüpft, dieser also wiederum präjudiziell für die nun anstehende Entscheidung ist, muss das Gericht dieses zustande gekommene Rechtsverhältnis beachten. Genauso wie die Tatbestandswirkung ist es hier ebenfalls die bloße Rechtsanwendung, die letztlich zu einer Anerkennung des konstitutiven Rechtsaktes zwingt.248 Hinsichtlich privater Rechtsverhältnisse ist dies insbesondere für das Strafrecht gängige Praxis. So ist bsplw. ein geschlossener Kaufvertrag auch für den Strafrichter erheblich, wenn eine Strafbarkeit wegen Diebstahls gemäß § 242 Abs. 1 StGB im Raume steht. Denn danach muss die vom Täter beabsichtigte Zueignung auch objektiv rechtswidrig sein. Daran fehlt es jedenfalls dann, wenn dem Täter ein fälliger Anspruch auf Übereignung der weggenommenen Sache zur Seite steht.249 Liegt ein solches Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten vor, so kommt die 246 Aus dem Zivilrecht: Jesch, Die Bindung des Zivilrichters an Verwaltungsakte, S.  93 ff. (dort die Begründung, dass es eine Gestaltungswirkung inter omnes aus sich heraus nicht geben kann), S.  121 ff. (insbesondere S.  129 f.: Herleitung einer Gestaltungswirkung aus der Aufgabenverteilung der verschiedenen Gerichtszweige); Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivil­ prozessrecht, § 149 Rn. 5; Gaul, Festschrift für Zeuner, S. 332 ff. (dort zu dem gleichgelagerten Begründungsansatz von Tatbestands- und Gestaltungswirkung); so auch Bötticher, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des dt. Juristentages, S. 511 ff. [514 ff.]. Aus dem allgemeinen Verwaltungsrecht: Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 43 Rn.  137; Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, S.  87 ff. Aus dem Steuerrecht: Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 88 Rn. 36 f.; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rn. 62 ff. u. § 118 Rn. 385. Für das Strafrecht: Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 81 ff.; kritisch dazu Arnhold, Die Strafbewehrung rechtswidriger Verwaltungsakte, S. 41 ff.; Jörgensen, Die Aussetzung des Strafverfahrens zur Klärung außerstrafrechtlicher Rechts­ verhältnisse, S. 100 ff., 116 f.; Steinhorst, Die Bedeutung der Rechtswidrigkeit vollstreckbarer Verwaltungsakte im materiellen Strafrecht und im Strafprozess, S. 39; Schlüchter/Velten, in: SK-StPO, § 262 Rn.  3 ff. (inter omnes Wirkung); Stuckenberg, in: Kleinknecht/Müller/Reit­ berger, StPO, § 262 Rn. 16 ff.; ders., in: Löwe/Rosenberg, StPO, § 262 Rn. 16 ff. 247 Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 69 ff. 248 Dies haben in dieser Ausdrücklichkeit bisher nur Gaul, Festschrift für Zeuner, S. 332 ff., und Bötticher, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des dt. Juristentages, S.  511 ff. [514 ff.], dargestellt. 249 Vgl. u. a. Fischer, StGB, § 242 Rn. 49 f.

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sem eine strafbarkeitshindernde Wirkung zu, dem sich auch der Strafrichter im Rahmen der ihm obliegenden Gesetzesanwendung nicht verschließen kann. Tut er es doch, so verstößt er gegen das in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Willkürverbot. Im Strafrecht lassen sich auch tatbestandsbegründende Rechtsverhältnisse finden. Dies gilt bsplw. für den Missbrauchstatbestand der Untreue gemäß § 266 Abs. 1 – 1. Alt. StGB. Der Täter muss danach die ihm insbesondere durch behördlichen Auftrag oder Rechtsgeschäft eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten, missbraucht haben. Es wird vorausgesetzt, dass sich der Vermögensbetreuungspflichtige im Rahmen des ihm im Außenverhältnis zu Dritten eingeräumten rechtlichen Könnens hält, aber die ihm im Innenverhältnis zum Vertretenen gezogenen Grenzen seines rechtlichen Dürfens überschreitet.250 Der Strafrichter hat hiernach einerseits zu prüfen, ob der Täter ein wirksames Rechtsgeschäft zulasten des letztlich Geschädigten abgeschlossen hat, wobei er eine dem Täter wirksam erteilte Vollmacht gemäß § 164 BGB genauso wie die Berufung in ein öffentliches Amt (z. B. eines Finanzbeamten251) anzuerkennen hat. Andererseits verlangt der Missbrauchstatbestand, dass der Täter seine im Innenverhältnis zum Geschädigten bestehende Pflicht zur Vermögensbetreuung überschritten hat. Auch diesbezüglich wird der Strafrichter Art und Inhalt des eingegangenen Rechtsverhältnisses zu beachten haben, schließlich wird sich erst durch eine Überschreitung desselben ein tatbestandsmäßiges Handeln ergeben können. Die Gestaltungswirkung führt jedoch ebenfalls nicht zu einer „verfahrensrechtlichen Bindung“ des Strafrichters an den konstitutiven Akt. „Gebunden“ ist dieser letztlich nur an Recht und Gesetz, dagegen nicht an einen Kaufvertrag, eine Vollmacht oder einen Verwaltungsakt.252 Dennoch wird dem Rechtsanwender durch die Beachtung des einfachen Rechts zumindest mittelbar eine Beachtung von gestaltenden Rechtsakten aufgezwungen. Insofern kann auch hier wiederum von einer „bindungsähnlichen“ Wirkung gesprochen werden. Ist somit allein entscheidend, dass von einem Rechtsakt eine gestaltende Wirkung ausgeht, so ist damit zugleich für die Beachtlichkeit rechtswidriger Verwaltungsakte viel gewonnen. Denn auch ein fehlerhafter allerdings nicht nichtiger Verwaltungsakt bleibt bis zu seiner Aufhebung existent.253 Das durch ihn gestaltete Rechtsverhältnis ist mit 250

Dierlamm, in: MüKo-StGB, § 266 Rn. 22. Siehe nur BGHSt 51, S. 356. Der Finanzbeamte macht sich daher richtigerweise neben Steuerhinterziehung auch wegen Untreue strafbar, wenn er von ihm fingierte Steuererklärungen bearbeitet und sich eine Steuererstattung ausbezahlen lässt. 252 Dies wird allerdings häufig verkannt, indem insbesondere dem Verwaltungsakt eine „Bindungswirkung“ für den Strafrichter zukommen soll. Siehe bslpw. Schlüchter/Velten, in: SK-StPO, § 262 Rn. 5: „Vielmehr ist der Strafrichter auch an rechtsgestaltende Verwaltungsakte so lange gebunden, wie sie nicht gem. § 44 Abs. 1 VwVfG nichtig sind […].“ Da es sich hierbei jedoch um die reine Anwendung des Gesetzes durch den Strafrichter handelt, müsste man – natürlich überspitzt – auch davon sprechen, dass der Strafrichter „an einen Faustschlag“ ebenso gebunden wäre, denn der ist für den Tatbestand des § 223 StGB ebenfalls beachtlich! 253 Vgl. u. a. Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 106 ff. 251

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hin in nachfolgenden Verfahren immer dann zu beachten, wenn es vorgreiflich ist. Für die Fälle der „Fristerschleichung“ wurde gezeigt, dass die im Steuerbescheid enthaltene überschießende Steuerforderung nach ganz einhelliger Meinung konstitutiv wirkt und demzufolge selbst Recht setzt. Eine Anerkennung im Steuerstrafverfahren kann sich erst ergeben, wenn auch dieser Teil zum Tatbestand der Steuerhinterziehung gehört. Nur wenn die an sich rechtswidrige Forderung gleichfalls ein vorgreifliches Rechtsverhältnis im Hinblick auf die in § 370 Abs. 1 AO zu klärende Steuerverkürzung bzw. Erlangung eines nicht gerechtfertigten Steuer­ vorteils darstellt, hat der Strafrichter die gesamte im Steuerbescheid enthaltene Forderung seiner Rechtsanwendung zugrunde zu legen. Aus diesen Erläuterungen wird nun eines ganz deutlich: Die dargestellten Bindungswirkungen erschließen sich erst aus einer genauen Klärung des materiellen Rechts. Der Focus weiterer Begutachtungen muss sich daher am Tatbestand der Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 AO ausrichten. Erst wenn die überschießende Steuerfestsetzung durch ihre Unanfechtbarkeit als eigenständige Steuerschuld angesehen werden kann und somit feststeht, dass dieser Teil gleichfalls zum Rechtsgut der Steuerhinterziehung gehört, können sich weitere Folgerungen anschließen. Und damit wird letztlich auch Ursache und Wirkung der „Bindungsähnlichkeit“ klar. Denn im Gegensatz zu der verfahrensrechtlichen Bindungswirkung der Bestandskraft, die zwar von sich aus zu einer Maßgeblichkeit der in einem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Regelung führt, bei der aber nicht gesichert ist, dass sie auch für den außerhalb des Steuerverfahrens stehenden Strafrichter gilt, sind Tatbestands- und Gestaltungswirkung letztlich nur die logische Konsequenz aus den spezifischen Anforderungen des materiellen Rechts. Letztere beschreiben also nur ein rechtstechnisches Phänomen auf Wirkungsebene. 2. Durchbrechung der materiellen Bestandskraft Ist der Steuerbescheid durch Eintritt seiner Unanfechtbarkeit uno actu in materieller Bestandskraft erwachsen, so sehen allein die Änderungsvorschriften der §§ 172 ff. AO eine „Durchbrechung“ dieser besonderen Bindungswirkung vor.254 Es handelt sich hierbei auch um einen der größten Unterschiede zum geltenden Prozessrecht, das eine generelle Abänderbarkeit seiner rechtskräftigen Entscheidung nicht vorsieht.255 Und aus den Ausnahmevorschriften selbst wird auch die gesetzgeberische Intention deutlich, dass die Durchbrechung der Bestandskraft nur durch eine Rechtsgrundlage ermöglicht werden soll. Insofern gilt nicht nur für die Besteuerung der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit, sondern auch für ihre­ Korrektur.256 254

Dazu schon in Fn. 179. Erichsen/Knoke, NVwZ 1983, S.  185 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 3, 7. 256 Vgl. v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Vor §§ 172–177 Rn. 25. 255

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Erkennt man ferner für den noch nicht bestandskräftigen Steuerbescheid eine Selbstbindung des Verwaltungsaktes257 an, so bedarf es auch in diesen Fällen eines gesetzlichen Änderungstatbestandes.258 Demnach hat der Steuerpflichtige in Fällen einer noch nicht abgelaufenen Einspruchs- oder Klagefrist die Wahl, entweder den Steuerbescheid anzufechten oder einen formlosen Änderungsantrag zu stellen, deren Bescheidung sich wiederum nach den Vorschriften des §§ 172 ff. AO richtet. Da jedoch mit einem Änderungsverfahren im Vergleich zu einem noch möglichen Einspruchsverfahren allenfalls Nachteile verbunden sind, ist dem Steuerpflichtigen dieser Weg nicht zu empfehlen.259

B. Die Aufhebung und Änderung durch das Einspruchsverfahren Der noch nicht bestandskräftige Steuerbescheid kann – unabhängig eines möglichen Änderungsverfahrens – durch die ordentlichen Rechtsbehelfe angefochten werden. Auch hierüber kann der Steuerpflichtige die Korrektur eines ihm gegenüber ergangenen rechtswidrigen Steuerbescheides erreichen. Von einer Durchbrechung der materiellen Bestandskraft kann in diesem Zusammenhang allerdings keine Rede sein, da eine solche nach überwiegender Ansicht noch nicht eingetreten ist.260 In Anbetracht der in dieser Arbeit zugrunde liegenden Fallgestaltung ist weniger die Klage als vielmehr der Einspruch von übergeordnetem Interesse.261 Denn der außergerichtliche Rechtsbehelf stellt gemäß § 44 FGO eine notwendige Zulässigkeitsvoraussetzung für eine spätere Anfechtungsklage vor dem Finanzgericht dar. Erkennt der Steuerpflichtige und Adressat eines Steuerbescheides, dass er ent­ sprechend seiner Steuererklärung veranlagt wurde, allerdings steuermindernde Tatsachen – wie hier Werbungskosten gemäß § 9 EStG – vergessen hat, so ist vornehmlich der Einspruch gegen diesen Steuerbescheid der zulässige Rechtsbehelf. Er wird daher versuchen, ggfs. auf Anraten seines Steuerberaters, ein erfolgreiches Einspruchsverfahren zu betreiben. 257

Zur Bindung eines noch nicht bestandskräftigen Steuerbescheides siehe S. 57. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 43 Rn. 54, 135 f.; Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 43 Rn.  31; zum Meinungsstand, Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, S. 159 ff.; Erichsen/Knoke, NVwZ 1983, S. 185 ff. Für das Steuerverfahren, Koenig, in: Pahlke/ Koenig, AO, Vor §§ 172–177 Rn.  4; Schuster, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 155 Rn. 38; a. A. v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Vor §§ 172–177 Rn. 8, 65 f. 259 Zu den Nachteilen eines schlichten Antrags gemäß § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2a) AO: BFH, BStBl. II 2003, S. 505; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 172 Rn. 29 ff. Der praktisch häufigste Fall einer Änderung wird in diesem Verfahrensstadium wohl von Seiten der Finanzbehörde durch eine (Teil-)Abhilfe eines bereits erhobenen Einspruchs gemäß den §§ 367 Abs. 2 S. 3, 132 S. 1, 172 Abs. 1 Nr. 2a) AO vorgenommen, dazu Bilsdorfer/Morsch, BB 2008, S. 2610 ff. 260 Soweit man der überwiegenden Meinung folgt, dass formelle und materielle Bestandskraft koinzidieren (Fn. 190). 261 Zur Möglichkeit einer „Fristerschleichung“ im Klageverfahren siehe: B. Die „Fristerschlei­ chung“ im finanzgerichtlichen Verfahren (S. 126). 258

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I. Reichweite des Einspruchs Doch nur wenn der Einspruch für den Steuerpflichtigen die Gewähr bietet, den selbstverschuldeten Festsetzungsfehler zu beseitigen, wird sich für ihn eine diesbezügliche Einlegung lohnen. Eine genaue Betrachtung der verfahrensrechtlichen Wirkungen des Einspruchs ist daher unerlässlich. Wurde der Einspruch ordnungsgemäß eingelegt, so räumt dieser dem Einspruchsführer262 einen umfassenden Rechtsschutz gegen den erlassenen Steuerbescheid ein. Denn gemäß § 367 Abs.  2 S.  1 AO in Verbindung mit den §§ 365 Abs. 1, 88 Abs. 2 AO hat die Finanzbehörde die Sache in vollem Umfang erneut zu prüfen; der Steuerfall wird „insgesamt neu aufgerollt bzw. fortgesetzt“.263 Verfahrensgegenstand des außergerichtlichen Rechtsbehelfs ist die Überprüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes auf seine Rechtmäßigkeit hin. Entscheidend ist dabei, ob der Verfügungssatz des Steuerbescheides, also allein die Höhe der festgesetzten Steuer, von der Finanzbehörde zutreffend ermittelt wurde. Unbeachtlich ist hingegen eine im Steuerbescheid enthaltene falsche Tatsachenwürdigung oder Rechtsanwendung, solange die Steuer betragsmäßig entsprechend den materiellen Steuergesetzen festgesetzt wurde.264 Zuständig ist gemäß § 367 Abs. 1 AO die­jenige Finanzbehörde, die den Ausgangsbescheid erlassen hat. Sie hat den Einspruch so zu entscheiden, als wäre sie nun erstmals mit der Festsetzung befasst.265 Hat der Steuerpflichtige einen unbegrenzten Rechtsbehelfsantrag gestellt, so kann sich demzufolge auch durchaus eine Verböserung des angefochtenen Steuerbescheides ergeben, wenn die materielle Steuerschuld höher ausfällt als die im Bescheid festgesetzte. Ein solch nachteiliger Ausgang des Einspruchsverfahrens ist zwar angesichts des § 367 Abs. 2 S. 2 AO ausdrücklich zulässig, allerdings muss der Einspruchsführer auf diese Möglichkeit hingewiesen werden. Ihm steht es daher frei, seinen Einspruch gemäß § 362 Abs. 1 S. 1 AO noch vor Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung zurückzunehmen.266 Schließlich wird die Finanzbehörde durch ihren im Einspruchsverfahren geltenden Arbeitsauftrag „Ermittlung der gesetzlich geschuldeten Steuer“ dazu gezwungen, die in der Steuererklärung eventuell sogar grob fahrlässig vergessenen 262

Gemäß § 359 Nr. 1 AO ist dies derjenige, der den Einspruch eingelegt hat. Birkenfeld, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 367 Rn. 179 ff.; Brockmeyer, in: Klein, AO, § 367 Rn. 3; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 367 Rn. 10 f. Insbesondere wird der Prüfungsumfang nicht durch das Einspruchsbegehren des Einspruchsführers oder durch ggf. von ihm gestellte Anträge beschränkt, so Dumke, in: Schwarz, AO, § 367 Rn. 13a. Dennoch obliegen dem Einspruchsführer auch in dem fortgesetzten Ermittlungs- und Festsetzungsverfahren die bereits beschriebenen Mitwirkungspflichten. Die Ermittlungspflicht der Finanzbehörde kann daher im Einspruchsverfahren nicht weiter reichen. Zu den Grenzen der Überprüfung, Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 367 Rn. 16 ff. 264 BFH, BStBl.  II  1990, S.  561; Birkenfeld, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 367 Rn. 230 ff. Zur Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides siehe insbesondere S. 79. 265 Dumke, in: Schwarz, AO, § 367 Rn. 13. 266 Brockmeyer, in: Klein, AO, § 367 Rn. 4. 263

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Werbungskosten in der Einspruchsentscheidung in voller Höhe zu berücksichtigen.267 Verfahrenstechnisch geschieht dies entweder durch förmlichen Einspruchsbescheid oder nach Maßgabe der §§ 367 Abs. 2 S. 3, 132 S. 1, 172 Abs. 1 S. 1 Nr.  2a) AO schon durch einen den angefochtenen Ausgangsbescheid ändernden und den Einspruch erledigenden Abhilfebescheid.268 II. Der rechtzeitige Einspruch 1. Einspruchsfrist Die Verheißung für den Steuerpflichtigen ist groß, lockt der Einspruch doch mit einer zweiten Chance. Dieser Vorteil währt aber nicht grenzenlos, sondern ist  – und darauf wird es in den Fällen der „Fristerschleichung“ ankommen – an eine einmonatige Frist gekoppelt. Gemäß § 355 Abs. 1 S. 1 AO ist der Einspruch gegen einen schriftlichen oder elektronischen Verwaltungsakt, der mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung269 versehen sein muss, innerhalb von einem Monat nach seiner Bekanntgabe einzulegen. Der Steuerpflichtige hat diesen nach Maßgabe des § 357 Abs.  1 S.  1, Abs.  2 S.  1 AO bei derjenigen Finanzbehörde schriftlich einzureichen oder zur Niederschrift zu erklären, die den Steuerbescheid erlassen hat. Die Einhaltung der Einspruchsfrist ist Sachentscheidungsvoraussetzung für den Einspruch und als Ausschlussfrist nicht verlängerbar.270 Ist der Einspruch daher nicht fristgemäß angebracht worden, so ist er als unzulässig zu verwerfen. Schon aufgrund des eindeutigen Wortlautes des § 358 S.  2 AO „ist als unzulässig zu verwerfen“ steht der Finanzbehörde insbesondere kein Recht zur Sachentscheidung bei einem verfristet eingelegten Einspruch zu.271 267 So ausdrücklich Jesse, Einspruch und Klage im Steuerrecht, B Rn. 246 ff. [249]; Birkenfeld, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO § 367 Rn. 180. 268 Insofern bedarf es einer Einspruchsentscheidung nur, wenn die für den Einspruch zuständige Finanzbehörde dem Einspruch nicht abhilft. Dazu Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 22 Rn. 47; Bilsdorfer/Morsch, BB 2008, S. 2610 ff. 269 Fehlt es an einer nach Maßgabe des § 356 Abs. 1 AO erforderlichen Rechtsbehelfsbelehrung oder ist diese unrichtig erteilt, so kann der Einspruch gemäß § 356 Abs. 2 S. 1 AO innerhalb eines Jahres eingelegt werden. Umstritten war bisher, ob eine Rechtsbehelfsbelehrung auf die Möglichkeit zur Einspruchseinlegung mittels (einfacher) E-Mail hinweisen muss, wenn die Finanzbehörde hierfür einen Zugang im Sinne des § 87a Abs. 1 S. 1 AO eröffnet hat. Numehr hat der BFH, DStR 2013, S. 256 ff., ausdrücklich (insbesondere gegen das FG Niedersachen, EFG 2012, S. 292 ff.) entschieden, dass eine solche Rechtsbehelfsbelehrung in diesen Fällen nicht unrichtig im Sinne des § 356 Abs. 2 S. 1 AO ist. 270 Zur Nichtverlängerung von Ausschlussfristen BFH, BStBl. II 2000, S. 214; Birkenfeld, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 355 Rn. 23. 271 BFH, BStBl. II 1970, S. 839. Ferner prüft auch das FG von Amts wegen die Fristwahrung des Einspruchs. Kommt es daher im Rahmen der Klage zu einer Unzulässigkeit des Einspruchs, so kann eine Prüfung der materiellen Rechtsmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes aufgrund seiner Bestandskraft nicht erfolgen, so der BFH (a.a.O) und dies im bewussten Gegensatz zur Rechtsprechung des BVerwG, MDR 1965, S. 782.

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Im Hinblick auf den Beginn der Monatsfrist mit Bekanntgabe des Steuerbescheides wird auf die Ausführungen zu § 122 AO – dort insbesondere zur Zugangsvermutung – verwiesen.272 Danach fängt die Frist zur Einlegung des Einspruchs bei einem schriftlichen Steuerbescheid mit einem Bekanntgabeort im Inland nach Maßgabe des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO am dritten Tag nach Aufgabe zur Post an zu laufen. Die Aufgabe zur Post stellt dabei eine notwendige Voraussetzung für die normierte Zugangsvermutung dar und muss, als eine die Steuer begründende Voraussetzung, von der Finanzbehörde auch bewiesen werden. Sie trägt im Falle ihrer Nichterweislichkeit die Feststellungslast.273 Für die Fälle, in denen der Steuerpflichtige den Zugang des Steuerbescheides und somit die Bekanntgabe als solche bestreitet, kommt dem Nachweis der Postaufgabe kein größeres Gewicht zu. Hier wird es letztlich – selbst bei positiv geführtem Beweis – der Finanzbehörde unmöglich sein, auch noch den Zugang zu beweisen, so dass ein diesbezüglicher Vortrag der Finanzbehörde insgesamt unergiebig bleiben wird. Anders sind die Fälle zu beurteilen, in denen der Steuerpflichtige lediglich geltend macht, den Steuerbescheid später als nach der Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 AO bekommen zu haben. Hier wird er sich dann insbesondere darauf berufen, dass der Steuerbescheid später zur Post aufgegeben wurde, als es in den Steuerakten dokumentiert ist. Einen substantiierten Vortrag wird man von dem Steuerpflichtigen bezüglich der Postaufgabe schon aufgrund der fehlenden Sachnähe nicht erwarten können. Es muss daher einerseits genügen, dass der Steuerpflichtige Zweifel an der Richtigkeit des Vortrags der Finanzbehörde weckt.274 Andererseits wird es der Finanzbehörde im Bereich der Massenverwaltung häufig Schwierigkeiten bereiten, den genauen Verbleib eines einzelnen Steuerbescheides mit absoluter Sicherheit nachzuverfolgen. Die diesbezügliche Einschätzung obliegt letztlich der freien Beweiswürdigung des Finanzgerichts und logischerweise den Umständen und Tücken des Einzelfalles. Richtig ist sicherlich, dass das Datum des Steuerbescheides nicht reflexartig mit dem Postaufgabe­ datum gleichgesetzt werden kann, denn für solch eine generalisierende Annahme sind die finanzbehördlichen Bearbeitungsvorgänge zu vielschichtig.275 Allerdings sind die von den Finanzbehörden eingerichteten Dokumentationsvorgänge wie bsplw. der Postaufgabevermerk in den Steuerakten, Eintragungen in einem Posteinlieferungsbuch oder letztlich das Datum des Poststempels tatrichterlich im Beweisverfahren zu würdigen und begründen jedenfalls ein ernstzunehmendes 272

Siehe bereits: bb) Die Bekanntgabe des Steuerbescheides (S. 34). BFH/NV 2006, S. 1860 f. Dazu schon Fn. 108. 274 Dies ist z. B. dann der Fall, wenn er den Briefumschlag, auf dem der Poststempel enthalten ist, vorlegt, und dieser im Vergleich zu dem Vermerk in den Steuerakten ein späteres Datum dokumentiert, BFH/NV 2002, S. 661 f. 275 BFH, BStBl. II 1985, S. 485. A. A. Birkenfeld, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 355 Rn. 42, wonach der Tag, dessen Datum der Steuerbescheid trägt, eine widerlegbare Vermutung bzw. Indiz darstellen soll. 273

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Indiz.276 Werden darüber hinaus auch noch Vorkehrungen getroffen, die ein Verlust von Briefen nahezu unmöglich machen, wie etwa regelmäßig durchgeführte Kontrollen, so wird man doch häufig zu der erforderlichen Überzeugung gelangen können.277 Besonders das spätere Datum des Poststempels kann, falls die Aufgabe nicht zu einem früheren Zeitpunkt festgestellt werden kann, letztlich eine hin­reichende Gewähr für die tatsächliche Postaufgabe bieten.278 Ganz im Gegensatz zu den Nachweisproblemen im Zusammenhang mit der Postaufgabe eines schriftlichen Verwaltungsaktes wird der Absendezeitpunkt eines elektronischen Verwaltungsaktes gemäß § 122 Abs. 2a AO – zur Zeit insbesondere das Telefax – in aller Regel einfach durch ein Sendeprotokoll auch zur Überzeugung des Finanzgerichts zu beweisen sein. Steht somit der Postaufgabe- bzw. Absendetag fest, so gilt gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO die Vermutung, dass der mittels einfachen Briefs versandte Steuerbescheid dem Adressaten am dritten Tag zugegangen und mithin bekannt gegeben wurde. Fällt die Bekanntgabe auf einen Sonntag, gesetzlichen Feiertag oder einen Sonnabend, so finden diesbezüglich die Regelungen des § 108 Abs. 3 AO über Fristen und Termine Anwendung und die Bekanntgabe tritt erst am nächstfolgenden Werktag ein.279 Für die nun beginnende Monatsfrist gelten wiederum die Vorschriften des § 108 Abs. 1, Abs. 3 AO in Verbindung mit §§ 187–193 BGB. Somit wird auch für die Fälle der „Fristerschleichung“ eines deutlich: Erkennt der Steuerpflichtige kurz nach dem Ablauf der Einspruchsfrist von ihm vergessene Werbungskosten oder Betriebsausgaben, so wird er sich zumeist nicht auf die Einwendung berufen können, der Steuerbescheid sei entgegen der gesetzlichen Vermutung erst später zugegangen und die Einspruchsfrist daher noch nicht abgelaufen. Zwar trägt die Finanzbehörde sowohl für die Postaufgabe als auch hinsichtlich der Zugangsvermutung die Feststellungslast, allerdings werden dem Steuerpflichtigen in diesen Fällen – im Vergleich zu einem behaupteten Nichtzugang – einige „Hürden in den Weg“ gelegt. Zum einen kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Finanzbehörde Vorkehrungen getroffen hat, um den Postaufgabetag auch im 276 So i.E (aber mit unterschiedlicher Begründung) BFH, BStBl. II 1989, S. 695; BFH/NV 1987, S. 12 f.; BFH/NV 2007, S. 389 f.; Müller-Franken, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 122 Rn. 365 ff.; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 122 Rn. 59 u. 50, dort auch zur zentralen, maschinell-elektronischen Versendung von Steuerbescheiden, die sogar einen Anscheinsbeweis begründen soll, weil die Fehlerquelle Mensch nicht dazwischengeschaltet sei; Brockmeyer, in: Klein, AO, § 122 Rn. 50; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 122 Rn. 115 ff.; Pahlke, in: Pahlke/­ Koenig, AO, § 122 Rn. 65 ff. Dies begründet aber kein Anscheinsbeweis, so die ständige Rechtsprechung des BFH, BStBl. II 2003, S. 898; a. A. neuerdings Seer, a. a. O. 277 BFH, BStBl. II 2003, S. 2; BFH/NV 2010, S. 824 ff. 278 BFH, BStBl. II 1977, S. 523; Müller-Franken, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 122 Rn. 339; Brockmeyer, in: Klein, AO, § 122 Rn. 51. Probleme kann es aber wiederum bereiten, wenn die Finanzbehörde einen Freistempler verwendet und eine Verzögerung des Verfahrensgangs zwischen Stempelung und Aufgabe zur Post nicht ausgeschlossen werden kann, so Rößler, DStZ 1979, S. 451 ff. 279 BFH, BStBl. II 2003, S. 2.

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späteren finanzgerichtlichen Verfahren beweisen zu können. Insbesondere wird es dem Steuerpflichtigen oft schon Schwierigkeiten bereiten, an dem von der Finanz­ behörde angegebenen Postaufgabedatum ernstliche Zweifel zu wecken. Zum anderen wurde bereits gezeigt, dass die Zugangsvermutung nur dann außer Kraft gesetzt werden kann, wenn der Steuerpflichtige substantiiert einen späteren Zugang darlegt und die Finanzbehörde ihrerseits beweislastpflichtig bleibt.280 2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Versäumt der Steuerpflichtige die Einspruchseinlegung innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe, so bleibt ihm nur noch die Möglichkeit, einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Maßgabe des § 110 AO zu stellen. Dadurch soll eine tatsächlich nicht rechtzeitig vorgenommene, aber nachgeholte Handlung als fristgemäß vorgenommen gelten, so dass alle mit der Fristversäumnis eingetretenen nachteiligen Rechtsfolgen rückwirkend entfallen.281 Ein „nachgeholter“ Einspruch bewirkt somit den rückwirkenden Fortfall der formellen und damit auch der materiellen Bestandskraft. Als Grundvoraussetzung erfordert § 110 Abs. 1 AO, dass ein am finanzbehördlichen Verfahren Beteiligter ohne sein Verschulden oder das seines Vertreters daran gehindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Zum einen stellt die hier in Rede stehende Einspruchsfrist eine solche „gesetzliche“ und somit wiedereinsetzungsfähige Frist dar.282 Zum anderen muss der Beteiligte ohne sein Verschulden oder das seines Vertreters an der Einhaltung der Frist verhindert gewesen sein. Als Hindernis kommen sowohl physische als auch psychische Gründe in Betracht, die sich unmittelbar auf die Fristverstreichung beziehen.283 Insbesondere können danach auch bloße Tatsachen- oder Rechtsirrtümer eine solche Verhinderung im vorbenannten Sinne darstellen. Demzufolge wäre auch in Fällen vergessener Werbungskosten und einem damit einhergehenden Irrtum über die Richtigkeit der Steuerfestsetzung eine „Hinderung“ zu erblicken. Immerhin ist es genau diese Fehlvorstellung, die den Steuerpflichtigen zu einem taten­losen Verfallenlassen seiner Einspruchsmöglichkeit verleitet hat. Allerdings versagt die Rechtsprechung und ein Teil der Literatur einem Steuerpflichtigen, der einem materiell-rechtlichen Irrtum erlegen ist, die Wiedereinsetzung. In diesen Fällen sei das bestehende Hindernis nicht unmittelbar für die eingetretene Fristversäumnis verantwortlich, denn der Steuerpflichtige habe die gesetzliche Frist gekannt und diese daher bewusst verstreichen lassen. Aus welchen Gründen dies 280 Zur Frage der Substantiierungs- und Beweislast siehe bereits: cc) Der Streit um die Bekanntgabe (S. 37). 281 Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 110 Rn. 7. Zur verfassungsrechtlichen Notwendigkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Tipke, StuW 2004, S. 3 ff. [9 f.]. 282 Pahlke, in: Pahlke/Koenig, AO, § 110 Rn. 10. 283 Schwarz, in: Schwarz, AO, § 110 Rn. 11; Brandis, in: Tipke/Kruse, AO, § 110 Rn. 9.

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geschehe, sei nicht Gegenstand der Wiedereinsetzung, die nur demjenigen zugute komme, der nicht in der Lage gewesen sei, den erforderlichen Rechtsbehelf einzulegen.284 Folgt man dieser Argumentation, so wäre der in dem eingangs geschilderten Fall begründete Irrtum, der Steuerbescheid sei materiell richtig, da er die von Gesetzes wegen geschuldete Steuer festsetze, wohl irrelevant. Zwar liegt diesem Rechtsirrtum ein (vorgelagerter) Tatsachenirrtum zugrunde, indem letztlich schon der reine Zahlungsvorgang, der subsumiert als Abfluss von Werbungs­kosten gemäß §§ 9, 11 EStG anzusehen ist, vom Steuerpflichtigen vergessen wurde. Allerdings bezieht sich dieser ebenfalls ausschließlich auf die materielle Rechtslage, so dass man auch unter Berücksichtigung dieser Besonderheit zu keinem anderen Ergebnis gelangen kann. Insbesondere überwiegt bei wertender Betrachtung der (nachgelagerte)  Rechtsirrtum seitens des Steuerpflichtigen, mit dem Steuerbescheid werde es seine Richtigkeit haben.285 Geht man mit der gegenteiligen Ansicht davon aus, dass auch ein Irrtum auf materiell-rechtlicher Ebene zu einem wiedereinsetzungstauglichen Hindernis führt, so wird es ganz darauf ankommen, ob der Steuerpflichtige an der Einhaltung der Einspruchsfrist ohne sein Verschulden verhindert gewesen ist. Aufgrund des Umstandes, dass zwischen dem Hindernis und der Fristversäumung ein unmittelbar ursächlicher Zusammenhang bestehen muss, kann hinsichtlich des Verschuldens direkt auf das Fristversäumnis selbst abgestellt werden.286 Für die „Fristerschleichung“ wird man deshalb danach fragen müssen, ob der Steuerpflichtige den Irrtum, der Steuerbescheid setze die materiell geschuldete Steuer fest, schuldhaft herbeigeführt hat. Nur dieser führte  – im Gegensatz zur versäumten Erklärung der Werbungskosten  – unmittelbar zum tatenlosen Verstreichenlassen der Einspruchsfrist. Als Verschulden wird sowohl Vorsatz als auch Fahrlässigkeit verstanden, wobei allerdings ein subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff zugrunde gelegt wird, der die individuellen Fähigkeiten des Steuerpflichtigen berücksichtigt.287 Somit wird allgemein gefolgert, dass der Steuerpflichtige dann nicht ohne Verschulden an der Einhaltung einer gesetzlichen Frist verhindert war, wenn er die Sorg 284

BFH, BStBl. II 1971, S. 110; BFH/NV 1986, 717 f.; BFH/NV 1992, 257; BStBl. II 2000, S. 37 (wobei die Rechtsprechung teilweise ein generelles Verschulden annimmt); Schwarz, in: Schwarz, AO, § 110 Rn. 39; Pahlke, in: Pahlke/Koenig, AO, § 110 Rn. 22; Rätke, in: Klein, AO, § 110 Rn. 15 ff.; a. A. Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 110 Rn. 47 f.; Brandis, in: Tipke/ Kruse, AO, § 110 Rn. 14; ders., StuW 2004, S. 3 ff. [13 ff.]. Ausnahmen werden von der Rspr., u. a. BFH/NV 1990, S. 530, jedenfalls dann zugelassen, wenn die Rechtslage in hohem Maße unsicher ist und die Einhaltung der Frist daher aus rechtlich vertretbaren Gründen unterlassen wird. Ein solcher Fall liegt aber in den in dieser Arbeit einschlägigen Fällen ersichtlich nicht vor! 285 Darüber hinaus stellt das reine Vergessen der Einspruchsfrist regelmäßig keinen Wiedereinsetzungsgrund dar, BFH/NV 2008, S. 1290 f., so dass dies doch erst recht im Falle der „entfernteren“ Werbungskosten oder Betriebsausgaben gelten muss. A. A. wohl Brandis, in: Tipke/ Kruse, AO, § 110 Rn. 13. 286 Schwarz, in: Schwarz, AO, § 110 Rn. 15; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 110 Rn. 46. 287 So die überwiegende Ansicht in der Literatur, siehe u. a. Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 110 Rn. 55 m. w. N.

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falt außer Acht gelassen hat, die einerseits allgemein einem gewissenhaften und sachgemäß handelnden Beteiligten geboten und andererseits ihm persönlich nach den vorliegenden Umständen und seinen individuellen Verhältnissen möglich und zumutbar war.288 Von einem durchschnittlichen, rechtsunkundigen Steuerpflichtigen wird man verlangen können, dass er nach Bekanntgabe des Steuerbescheides seine erklärten Angaben mit den behördlichen Festsetzungen vergleicht und seine damalige Steuererklärung (nochmals) auf Vollständigkeit überprüft. Eine solche von ihm vorzunehmende Kontrolle ist aufgrund der drohenden Bestandskraft der Steuer­festsetzung und der damit einhergehenden beschränkten Änderungsbefugnis angezeigt und erschließt sich auch für einen Rechtsunkundigen schon aus der dem Steuerbescheid beigefügten Rechtsmittelbelehrung.289 Inwiefern auch der individuelle Steuerpflichtige in der Lage gewesen ist, diesen objektiven Sorgfaltsmaßstab zu erfüllen, kann nur anhand des Einzelfalles beurteilt werden. Eine zumindest einfache Fahrlässigkeit des Steuerpflichtigen lässt sich in vielen Fällen sicherlich nicht ausschließen. Im Gegensatz dazu wird ein dem Steuerpflichtigen zurechenbares Vertreterverschulden in den hier einschlägigen Fällen nur sehr eingeschränkt in Betracht kommen.290 Soweit der steuerliche Berater die Erstellung der Steuererklärung übernommen hat, handelt er  – in Anbetracht der höchst­persönlichen Erklärungspflicht in § 150 AO – nicht im Rahmen einer rechtsgeschäftlichen Vertretung, sondern nur als steuerlicher „Erfüllungsgehilfe“.291 Wird der Berater, aufgrund des sich daraus ergebenen Irrtums über die Richtigkeit der Steuerfestsetzung, nicht zur Einlegung von Rechtsbehelfen beauftragt, so wird er demgemäß auch zu keiner Zeit als gesetzlicher Vertreter des Steuer­pflichtigen tätig.292 Es verbleibt demnach bei einem möglichen Eigenverschulden des Steuerpflichtigen, das auch aus einer Verletzung der ihm obliegenden Überwachungspflicht hinzugezogener Hilfspersonen resultieren kann.293 288 BFH, BStBl. II 1975, S. 213; BStBl. II 1977, S. 768; BFH/NV 1998, S. 1056 f.; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 110 Rn. 46; ähnlich auch Brandis, in: Tipke/Kruse, AO, § 110 Rn. 9 ff. 289 Ähnlich FG München, EFG 1983 S.  434 f. Hier hatte die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlagen wegen Nichtabgabe der Steuererklärung geschätzt und dem Bescheid eine Er­läuterung beigefügt, in der sie den Steuerpflichtigen zur Nachreichung der Steuererklärung aufforderte. Der Steuerpflichtige und spätere Einspruchsführer ließ nun die Einspruchsfrist tatenlos verstreichen, weil er irrtümlich davon ausgegangen ist, der Bescheid sei jederzeit änderbar. Das FG hat dem Einspruchsführer sodann folgerichtig ein Verschulden im Sinne des § 110 Abs.  1 S.  1 AO vorgeworfen, da er insbesondere durch die ordnungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrung seinen Rechtsirrtum hätte erkennen können. 290 Ganz im Gegensatz zu der Verschuldenszurechnung im Rahmen des § 173 Abs.  2 AO, siehe: bb) Grobe Fahrlässigkeit (S. 99). 291 BFH, BStBl. II 1983, 324. Siehe auch Fn. 374. 292 Es kann dabei nicht nur auf die nach außen hin erteilte Vertretungsmacht abgestellt werden. Mit Rücksicht auf die in der Praxis geläufigen (Blanko-)Vollmachten über sämtliche Rechtsangelegenheiten, würde sich ansonsten nur allzu schnell eine Verschuldenszurechnung ergeben. So i.E. FG Hamburg, EFG 1978, S. 522; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 110 Rn. 235 a. E. 293 Vgl. u. a. Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 110 Rn. 246 ff.

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Im Ergebnis ist zu konstatieren, dass die „Fristerschleichung“ keinen Raum für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lässt. In Anbetracht der vorherrschenden Besteuerungspraxis schließen materiell-rechtliche Irrtümer den nachträglichen Weg in den Einspruch grundsätzlich aus. Ein anderes Ergebnis wird man selbst mit der in der Literatur vertretenen Gegenmeinung vielfach nicht erzielen. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass den Steuerpflichtigen bei der von ihm gebildeten Fehlvorstellung zumindest ein einfacher Fahrlässigkeitsvorwurf trifft.

C. Die Aufhebung und Änderung innerhalb des Festsetzungsverfahrens Hat der Steuerpflichtige die Angabe von Werbungskosten oder Betriebsausgaben in seiner Einkommensteuererklärung vergessen und darüber hinaus die Frist zur Einlegung des Einspruchs tatenlos verstreichen lassen, so bleibt ihm letztlich nur die Möglichkeit einer Korrektur des Steuerbescheides nach den Vorschriften über die „Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden“ gemäß den §§ 172–177 AO. Nur sie erlauben eine Durchbrechung der materiellen Bestandskraft von besonderen Steuerverwaltungsakten.294 Die Änderungsnormen sind für die vorliegenden Fallgestaltungen jedoch nicht nur im Hinblick auf die nachträgliche Berücksichtigung von Steuerminderungsgründen relevant, sondern kommen ferner dann zum tragen, wenn der Steuerpflichtige über den Umweg der „Fristerschleichung“ zu einer Reduzierung der bestandskräftigen Steuerfestsetzung gelangt ist. In diesem Stadium stellt sich die nicht minder wichtige Frage, ob die Finanzverwaltung im Falle einer entdeckten „Fristerschleichung“ die ursprüngliche – gemessen an der materiellen Steuerschuld – rechtswidrige Bescheidlage unter Hinweis auf die zuvor eingetretene Bestandskraft des Erstbescheides wiederherstellen darf. Schließlich wird man erst bei Bejahung dieser Fragestellung ernsthaft davon sprechen können, dass sich der Steuerpflichtige nun mittels Täuschung eine Rechtsposition verschafft hat, die ihm in dieser Lage des Steuerverfahrens trotz ihrer materiellen Richtigkeit insgesamt nicht mehr zustand und daher revidiert werden muss.

294 Zum Streit, ob auch der bei besonderen Steuerverwaltungsakten anwendbare § 129 AO (Fn. 298) zu einer Druchbrechung der Bestandskraft führt, siehe Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 129 Rn. 6. Die überwiegende Ansicht verneint dies mit der Begründung, die Berichtigung aufgrund offenbarer Unrichtigkeiten lasse den materiellen Bestand des Verwaltungsaktes unberührt und ändere nur das äußere Erscheinungsbild, so BFH, BStBl.  II  1989, S.  531; Pahlke, in: Pahlke/Koenig, AO, § 129 Rn. 3. A. A. Seer, a. a. O.; differenzierend Wernsmann, in: Hübsch­mann/Hepp/Spitaler, AO, § 129 Rn. 13 ff. Zu den Voraussetzungen des § 129 AO siehe später: IV. Berichtigung offenbarer Unrichtigkeiten gemäß § 129 AO (S. 113).

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I. Sinn und Zweck der Änderungsvorschriften Das im Vergleich zum allgemeinen Verwaltungsrecht starre Änderungsregime der §§ 172 ff. AO sucht wiederum nach einem Ausgleich zwischen den gegenläufigen Prinzipien des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit einerseits und der materiellen Rechtsrichtigkeit andererseits; diesmal nur unabhängig eines eventuell noch möglichen Rechtsbehelfsverfahrens.295 Übergreifendes Ziel aller Änderungstatbestände ist dabei die Ermittlung der gesetzlich zutreffenden Steuer, wobei es aus Sicht des Steuerpflichtigen sowohl zu einer günstigen als auch ungünstigen Rechtsfolge kommen kann. Je nachdem, ob die Steuer, gemessen an der materiellen Schuld, fälschlicherweise zu hoch oder zu niedrig festgesetzt wurde. Dabei erlaubt die „Änderung“ im Sinne der vorbenannten Vorschriften eine Herabsetzung als auch Erweiterung der in einem Bescheid festgesetzten Steuer, wohingegen die dort ebenfalls erwähnte „Aufhebung“ nur dann Platz greift, wenn die in dem Steuer­bescheid enthaltene Regelung insgesamt beseitigt wird.296 II. Die allgemeinen Änderungsvoraussetzungen Den besonderen Kautelen der §§ 172–177 AO sind nur besondere Steuerverwaltungsakte unterworfen, also Verwaltungsakte, durch die eine Steuer gemäß § 155 Abs. 1 S. 2 AO endgültig festgesetzt wird.297 Liegt ein solcher Steuerbescheid vor, so ist ein Rückgriff auf die allgemeinen Änderungsvorschriften von Rücknahme und Widerruf gemäß den §§ 130, 131 AO – vergleichbar den §§ 48, 49 VwVfG – nach Maßgabe des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2d) AO versperrt.298 Des Weiteren muss der zu ändernde oder aufzuhebende Steuerbescheid auch korrekturbedürftig sein, was nur im Falle seiner Rechtswidrigkeit gegeben ist.299 Dieses 295 Zur Konkurrenz von Änderung und Einspruch siehe bereits: 2. Durchbrechung der materiellen Bestandskraft (S. 72). 296 Insbesondere die nicht aufeinander abgestimmte Terminologie der §§ 130, 131 AO und der §§ 172–177 AO bereitet Schwierigkeiten. Dazu Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Vor §§ 130–133 Rn. 50 ff. 297 Dazu zählen auch die Grundlagenbescheide, durch die Besteuerungsgrundlagen gesondert und einheitlich festgestellt (sog. Feststellungsbescheid) werden gemäß den §§ 171 Abs. 10, 179 f. AO. Denn nach Maßgabe des § 181 Abs.  1 S.  1 AO gelten die Vorschriften über die Durchführung der Besteuerung für diese sinngemäß. 298 BMF AEAO, Vor §§ 130, 131 Tz. 1 S. 1 u. Vor §§ 172–177 Tz. 2 S. 2. Insoweit nicht gesperrt sind nur die Vorschriften der §§ 129, 132 AO. Sie lassen eine Änderung im Fall von offenbaren Unrichtigkeiten zu (§ 129 AO) und erklären das Änderungsverfahren auch noch im Einspruchsund finanzgerichtlichen Verfahrens für anwendbar (§ 132 AO). Es handelt sich daher um allgemeine Korrekturvorschriften, die für alle steuerlichen Verwaltungsakte (allgemeine wie besondere) gelten. Zum dadurch entstandenen „Korrekturdualismus“ der §§ 130 f. AO einerseits und der §§ 172 ff. AO andererseits u. a. Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn.  381 ff.; Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Vor §§ 130–133 Rn. 43 ff. 299 So u. a. Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 394; v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/ Spitaler, AO, Vor §§ 172–177 Rn. 70 ff.; a. A. Rüsken, in: Klein, AO, § 172 Rn. 32.

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ungeschriebene Tatbestandsmerkmal folgt schon aus dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und seinem Gebot zur gleichmäßigen Besteuerung, das in § 85 AO im Bereich des Normenvollzugs eine einfachgesetzliche Konkretisierung erfahren hat.300 Danach ist eine Besteuerung immer dann durchzuführen, wenn dies ein Steuertatbestand gebietet, so dass die Finanzbehörden insgesamt für eine gesetzeskonforme Festsetzung und Erhebung der Steuern zu sorgen haben. Das Bedürfnis nach einer Änderung der getroffenen Steuerfestsetzung kann sich insofern nur dann ergeben, wenn die Steuer entgegen den gesetzlichen Bestimmungen festgesetzt wurde, so dass es infolgedessen auch terminologisch nicht verfehlt ist, von der Korrektur eines Steuerbescheides zu sprechen. Die Rechtswidrigkeit eines Steuerbescheides ergibt sich dabei in aller Regel301 nur aus einem Vergleich zwischen dem die Steuer festsetzenden Tenor und der gesetzlich geschuldeten Steuer.302 Schließlich wirkt nur der Tenor eines Steuerbescheides dem Adressaten gegenüber verbindlich und erwächst in materielle Bestandskraft. Die zutreffende Beurteilung der Besteuerungsgrundlagen ist demgegenüber nur eine Frage der inhaltlich richtigen Begründung des Steuerbescheides, die bei gebundenen Entscheidungen wie der Steuerfestsetzung für sich genommen keinen anfechtbaren Fehler darstellen kann.303 Ferner können rein formelle Fehler nach Maßgabe des § 127 AO dann nicht zu einer Aufhebung des Steuerbescheides führen, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können; also der Steuerbescheid, mag er auch in formell rechtswidriger Weise zustande gekommen sein, letztlich die von Gesetzes wegen richtige Steuer in seinem Verfügungssatz festsetzt. Ungeachtet dessen muss ein nichtiger und daher unwirksamer Steuerbescheid gemäß den §§ 124, 125 AO nicht geändert oder aufgehoben werden. In diesen Fällen genügt die Feststellung der Nichtigkeit des besonderen Steuerverwaltungsaktes.304 Schließlich ist jede Änderung eines Steuerbescheides gemäß § 169 Abs.  1 S. 1 AO nur bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung möglich. Sie bildet daher einen zeitlichen Ausschlussgrund für jede Art der Steuerfestsetzung und führt, soweit der Steueranspruch noch nicht oder nicht in voller Höhe festgesetzt worden ist, nach ausdrücklicher Anordnung des § 47 AO zu einem Erlöschen des Anspruchs. Mit ihrem Eintritt erlangt der Steuerverwaltungsakt seine absolute Verfestigung. Für die „Fristerschleichung“ ergeben sich folgende relevante Ver 300 Vgl. Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 85 Rn. 8 ff. m. w. N. Allgemein Birk, StuW 1989, S. 212 ff. [213]. 301 Zur Ausnahme siehe: b) Die „Fristerschleichung“ (S. 87). 302 Ganz h. M., vgl. u. a. v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Vor §§ 172–177 Rn. 75 ff. 303 BFH, BStBl.  II  1981, S.  778; v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, Vor §§ 172–177 Rn. 16; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 121 Rn. 5; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 118 Rn. 324 u. § 121 Rn. 46; Rozek, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 126 Rn. 33; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 121 Rn. 7. Letztlich stellt eine sachlich unrichtige Begründung keinen Verstoß gegen die in § 121 Abs. 1 AO enthaltene Begründungspflicht dar. Diese Verfahrensvorschrift soll nur sichern, dass überhaupt eine Begründung gegeben wird. So i.E. BFH/NV 2004, S. 1062 f. 304 U. a. Brockmeyer, in: Klein, AO, § 125 Rn. 15.

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

jährungsregelungen: Für die Einkommensteuer beträgt die Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO vier Jahre. Diese würde sich nach Maßgabe des § 169 Abs. 2 S. 2 AO auf zehn Jahre verlängern, wenn man in der vorliegenden „Fristerschleichung“ eine Steuer­hinterziehung erblicken würde. Insofern hat die in dieser Arbeit aufgeworfene Strafbarkeitsfrage auch eine unmittelbare (Reflex-)Wirkung auf das Steuerverfahrensrecht, wobei diesmal allein die Finanzbehörde oder das Finanzgericht zur rechtlichen Würdigung auch strafrechtlicher Fragestellungen berufen ist. Genauso wie der Strafrichter bezüglich steuerrechtlicher Vorfragen sind sie nun ebenfalls nicht an Entscheidungen der Strafgerichte gebunden oder zu einer ihnen spiegelbildlich zustehenden Aussetzung gemäß §§ 363 Abs. 1 AO, 74 FGO verpflichtet.305 Die genannte Frist beginnt gemäß § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO, soweit eine Einkommensteuer­erklärung einzureichen ist, mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer­erklärung eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Einkommensteuer entstanden ist.306 Die Einkommensteuer entsteht dabei gemäß § 36 Abs. 1 EStG mit Ablauf des Veranlagungszeitraumes, welches gemäß § 25 Abs. 1 EStG dem Kalenderjahr entspricht. Ist keine Einkommensteuererklärung abzugeben, so beginnt die Festsetzungsfrist schon mit Steuerentstehung; also mit dem Ablauf des Kalenderjahres. Eine Ablaufhemmung der Frist würde nach Maßgabe des § 171 Abs. 5 AO im Fall der Steuerhinterziehung während eines laufenden Ermittlungsverfahrens eintreten. Ferner endet gemäß § 171 Abs. 7 AO die Festsetzungsfrist in diesem Fall nicht vor der strafrechtlichen Verfolgungsverjährung der ggfs. begangenen Steuerhinterziehung. III. Die besonderen Änderungsvoraussetzungen Ferner bedarf es einer besonderen Änderungsnorm nach Maßgabe der §§ 172 ff. AO, die eine punktuelle Korrektur ermöglicht. Insofern kann eine Änderung – im Gegensatz zu der mit dem Einspruch verbundenen „Gesamtaufrollung“ – nur erfolgen, „soweit“ der Änderungstatbestand dies gestattet.307 Für die vorliegende Fallgestaltung der „Fristerschleichung“ spielen nur die Korrekturnormen des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2a), c) AO und besonders des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO eine tragende Rolle. Die nachfolgende Darstellung beschränkt sich daher auf die genannten Tatbestände.

305 BFH (GrS), BStBl. II 1979, S. 570; BFH/NV 2004, S. 463 f.; BFH/NV 2005, S. 503 f.; Banniza, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 169 Rn.  67 ff.; Birkenfeld, in: Hübschmann/ Hepp/Spitaler, AO, § 363 Rn. 88; Koch, in: Gräber, FGO, § 74 Rn. 15. 306 Auch durch eine unrichtige Steuererklärung beginnt die Festsetzungsfrist, so u. a. Cöster, in: Pahlke/Koenig, AO, § 170 Rn. 24. 307 BMF AEAO, Zu § 172 Tz. 2 – 2. Unterabsatz S. 1; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, Vor § 172 Rn. 5. Eine Aufweichung dieses Prinzips findet aber über § 177 AO statt, der eine Berichtigung materieller Fehler nach und in Höhe der erfolgten Änderung erlaubt.

2. Abschn.: Die Änderung einer endgültigen Steuerfestsetzung

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1. Korrektur gemäß § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2a) AO Der Anwendungsbereich des § 172 Abs.  1 S.  1 Nr.  2a) AO ist für alle Steuern mit Ausnahme von Zöllen und Verbrauchsteuern eröffnet.308 Somit fällt ebenfalls die hier zu betrachtende Einkommensteuer unter diesen Änderungstatbestand. Eine Änderung ist nach dieser Vorschrift allgemein möglich, wenn der Steuerpflichtige zustimmt oder einen diesbezüglichen Antrag gestellt hat. Allerdings folgt aus dem dortigen 2.  Halbsatz eine entscheidende Einschränkung. Es wird strikt danach unterschieden, ob die ins Auge gefasste Änderung zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen wirkt, wobei es dabei wiederum auf den Tenor des Steuerbescheides ankommen soll. Eine Änderung zugunsten soll demzufolge vorliegen, wenn der Tenor des geänderten Steuerbescheides im Vergleich zu dem ursprünglichen Bescheid für den Steuerpflichtigen eine niedrigere Steuer ausweist. Im Fall der „Fristerschleichung“ begehrt der Steuerpflichtige eine nachträgliche Berücksichtigung von Werbungskosten oder Betriebsausgaben und demnach eine Herabsetzung der im Tenor des Bescheides festgesetzten Steuer. Bei einer solchen Wirkung zugunsten des Steuerpflichtigen wird nun vorausgesetzt, dass die Zustimmung bzw. der Antrag vor Ablauf der Einspruchsfrist gestellt wurde, oder die Finanzbehörde dem eingelegten Einspruch (damit) abhilft.309 Eine Änderung mit dem Ziel der Herabsetzung der festgesetzten Steuer ist somit nur dann erfolgreich, wenn sich der Steuerpflichtige gegen einen noch nicht formell bestandskräftigen Steuerbescheid wendet, was aber für die hier in Frage stehenden Fallgestaltungen gerade nicht anzunehmen ist. Zwar wird auch vertreten, bezüglich der in § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2a) – 2. Hs. AO enthaltenen Antragsfrist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 AO zuzulassen.310 Jedoch wird eine solche für die „Fristerschleichung“ – wie dies für das Versäumen der Einspruchsfrist selbst bereits gezeigt wurde311  – keinen Erfolg versprechen, so dass eine in Rede stehende Änderung nach diesem Tatbestand daher insgesamt ausgeschlossen ist.

308 Zwar ist die Umsatzsteuer von ihrer wirtschaftlichen Bedeutung her eine Verbrauchsteuer, allerdings wird sie im Sinne der Abgabenordnung nicht als Verbrauchsteuer (im technischen Sinn) sondern als „andere Steuer“ behandelt, so BFH, BStBl. II 1987, S. 95. Anders hingegen die Einfuhrumsatzsteuer gemäß § 21 Abs.  1 UStG, die schon von Gesetzes wegen eine Verbrauchsteuer im Sinne der Abgabenordnung ist. 309 Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 399. 310 Koenig, in: Pahlke/Koenig, AO, § 172 Rn. 39; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 172 Rn. 36; a. A. v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Vor § 172 Rn. 149, der nur die Wiedereinsetzung in das Einspruchsverfahren zulässt. 311 Siehe: 2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (S. 78).

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2. Korrektur gemäß § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2c) AO a) Voraussetzungen Eine Änderung ist des Weiteren auch möglich, wenn der Steuerbescheid durch unlautere Mittel wie arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt worden ist. Es entspricht schon dem allgemeinen Rechtsgefühl, dass ein unter diesen Umständen zustande gekommener Steuerbescheid kein besonderes Bedürfnis nach Rechtssicherheit weckt. Eine arglistige Täuschung liegt bereits dann vor, wenn der Steuerpflichtige objektiv unrichtige Angaben macht und subjektiv diese Unrichtigkeit zumindest für möglich hält und schließlich billigend in Kauf nimmt.312 Demnach kann jeder Steuerbescheid, der mittels einer Steuerhinterziehung durch Tun gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO zustande gekommen ist, hierüber geändert werden. Insbesondere soll gleichgültig sein, wer die arglistige Täuschung begangen hat, so dass eine Änderung auch dann tatbestandlich nicht ausgeschlossen ist, wenn der Steuerpflichtige von einer vorsätzlichen Handlung eines Dritten profitiert.313 Ferner muss für eine Korrektur zwischen dem unlauteren Mittel und der konkreten Festsetzung ein unmittelbarer Ursachenzusammenhang bestehen.314 Hinsichtlich der Rechtsfolge sieht § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2c) AO mit Blick auf den Wortlaut (darf) nach überwiegender Ansicht ein Ermessen der Finanzbehörde vor, wobei man im Regelfall unter Berücksichtigung des Gebotes zur gleichmäßigen Besteuerung von einer Ermessensreduzierung auf Null ausgehen kann.315 Soweit daher eine Änderung des durch eine arglistige Täuschung zustande gekommenen Steuerbescheides in das pflichtgemäße Ermessen der Finanzbehörde gestellt ist, muss allerdings berücksichtigt werden, dass in vielen Fällen neben § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2c) AO auch der aus Beweisgründen „einfachere“ Tatbestand des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO in Betracht kommen wird.316 Insbesondere erübrigt sich dadurch faktisch auch der Streit um die in § 172 AO eröffnete Ermessensentscheidung der Finanzbehörde, denn der ebenfalls einschlägige § 173 AO sieht im Gegensatz dazu eine gebundene Entscheidung vor.317 312

So i.E. Koenig, in: Pahlke/Koenig, AO, § 172 Rn. 49. So eindeutig v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 172 Rn. 171, 174, der sogar auf eine Zurechenbarkeit verzichtet. 314 U. a. v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 172 Rn. 172. 315 Zur h. M.: BFH, BStBl. II 1993, 13; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, Vor § 172 Rn. 44; Rüsken, in: Klein, AO, § 172 Rn. 57; v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, § 172 Rn. 72; ders., in: Bartone/v. Wedelstädt, Korrektur von Steuerverwaltungsakten, Rn. 795. Zur gegenteiligen Ansicht, die stets eine Änderungspflicht annehmen will: v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 172 Rn. 170; Koenig, in: Pahlke/Koenig, AO, § 172 Rn. 51. 316 Dieser setzt nämlich nur voraus, dass nachträglich Tatsachen bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Im Fall der arglistigen Täuschung wird regelmäßig der wahre Sach­ verhalt erst nachträglich bekannt. Zu der Änderungsvorschrift des § 173 Abs. 1 AO siehe unten: 3. Korrektur gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO (S. 93). 317 Dazu Woerner/Grube, Die Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten, S. 80. 313

2. Abschn.: Die Änderung einer endgültigen Steuerfestsetzung

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b) Die „Fristerschleichung“ Für die nachträgliche Berücksichtigung von Werbungskosten spielt die vorge­ nannte Änderungsbefugnis natürlich keine Rolle. Sie wird vielmehr für die ebenfalls aufgeworfene Frage relevant, ob die durch eine „Fristerschleichung“ herbeigeführte Bescheidlage wieder zulasten des Steuerpflichtigen in die ursprüng­lich zu hohe, aber bereits bestandskräftige Steuerfestsetzung geändert werden kann. aa) Der Grundfall Unabhängig eines ggfs. einschlägigen § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO wird in den Fällen der „Fristerschleichung“ eine Aufhebung des erschlichenen zweiten Steuerbescheides sowie des die Steuer letztlich richtig festsetzenden Einspruchs- oder Abhilfebescheides318 zumindest auch der Korrekturtatbestand des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2c) AO einschlägig sein. Sofern der Steuerpflichtige den Erhalt des bestandskräftig gewordenen (Erst-)Steuerbescheides gegenüber der Finanzbehörde leugnet, ergeht aufgrund arglistiger Täuschung der inhaltsgleiche, aber erneut anfechtbare zweite Steuerbescheid319, so dass dieser unstreitig dem hier besprochenen Korrekturtatbestand unterfällt. Nichts anderes kann auch für die daraufhin ergangenen Steuerbescheide gelten. Denn obwohl der erneut anfechtbare Zweitbescheid, gerade um die materiell richtige Steuerfestsetzung zu erreichen, angefochten und sodann durch Abhilfe 318 Es ist insofern auch denkbar, dass die Steuer nicht erst durch Einspruchsbescheid herabgesetzt, sondern dem Einspruch bereits vollständig mittels Änderungsbescheides gemäß § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2a) AO (so u. a. Bilsdorfer/Morsch, BB 2008, S. 2610 ff.) abgeholfen wird. Die Abhilfe- bzw. Einspruchsentscheidung ist ein vollwertiger Verwaltungsakt, der ebenfalls den Änderungsvorschriften unterliegt. Dies folgt schon aus § 172 Abs. 1 S. 2 AO; dazu BFH, BStBl. II 1988, S. 517; BFH/NV 1999, S. 906 f.; v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, Vor §§ 172–177 Rn. 47 f.; Birkenfeld, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 366 Rn. 205 f.; Dumke, in: Schwarz, AO, § 367 Rn. 59. 319 Hierbei handelt es sich nicht um eine sog. wiederholende Verfügung, in der die Behörde nur auf eine bereits erlassene Regelung verweist, ohne allerdings eine neue zu treffen. Im Gegensatz dazu trifft die Finanzbehörde im vorliegenden Fall in Unkenntnis eines wirksamen Erstbescheides eine eigenständige Regelung. Des Weiteren liegt auch kein echter Zweitbescheid vor, indem die Behörde das Verwaltungsverfahren gemäß § 51 VwVfG wieder aufgreift – z. B. bei nachträglich geänderter Sachlage – und unter Aufhebung oder Abänderung der alten Regelung einen neuen Verwaltungsakt schafft. Ungeachtet der Tatsache, dass eine dem § 51 VwVfG entsprechenden Regelung im Steuerverfahrensrecht fehlt und damit eine ­erneute Sachentscheidung stets rechtswidrig wäre (vgl. Birkenfeld, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 355 Rn. 86), ist dieser im Fall der „Fristerschleichung“ nicht gegeben. Aus Sicht der Finanzbehörde liegt gerade mangels Bekanntgabe des Erstbescheides keine Regelung vor, die zu ändern wäre. Jedoch wird im allgemeinen Verwaltungsrecht auch in diesen Fällen teilweise von Zweitbescheid gesprochen, so auch Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 51 Rn. 46. Zutreffend ist insofern, dass eine unbeabsichtigte Zweitregelung über ein und denselben Gegenstand getroffen wurde. Es ist daher m. E. nicht verfehlt, auch hier von einem (zumindest) faktischen Zweitbescheid zu sprechen.

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bzw. Einspruchsbescheid geändert wird, beseitigt diese Änderung nicht den Makel des unlauteren Mittels. Richtigerweise hätte der Zweitbescheid aufgrund der bereits bestandskräftigen Steuerfestsetzung in der identischen Steuersache gar nicht ergehen dürfen.320 Der Erstbescheid blieb nämlich den gesamten Zeitraum über wirksam und wurde auch nicht durch die Finanzbehörde aufgehoben. Denn zum einen ist es keine konstitutive Voraussetzung eines Verwaltungsaktes, dass die Finanzbehörde auch von dem Zugang desselben Kenntnis nehmen muss. Gemäß § 124 Abs.  1 S.  1 AO tritt die Wirksamkeit eines Verwaltungsaktes bereits mit seiner Bekanntgabe ein, so dass bereits der Zugang beim Adressaten genügt. Daran vermag auch die Bekanntgabefiktion des § 122 Abs.  2 AO nichts zu ändern, da sie lediglich eine Sonderregelung in zeitlicher Hinsicht enthält.321 Zum an­deren wurde der Erstbescheid auch nicht konkludent durch den Erlass und die Bekanntgabe des Zweitbescheides (eventuell widerrechtlich) aufgehoben. Da die Finanzbehörde aufgrund der falschen Angaben des Steuerpflichtigen von der Unwirksamkeit des Erstbescheides ausgegangen ist, konnte sie ihn schon gar nicht aufheben wollen.322 In Anbetracht des wirksamen und auch bestandskräftigen Erstbescheides unter­ lag die Finanzbehörde mithin einem Abweichungsverbot. Sie war infolgedessen daran gehindert, sich in Widerspruch zu der getroffenen Steuerfestsetzung zu setzen; mag diese auch rechtswidrig gewesen sein.323 Dem Steuerpflichtigen stand es steuerverfahrensrechtlich daher zu keiner Zeit zu, eine Gesamtaufrollung des Steuerverfahrens und damit eine Korrektur des Zweitbescheides zu bewirken. Das durchgeführte bzw. abgeholfene Einspruchsverfahren mit der dadurch einhergehenden Änderung des Zweitbescheides wurde somit ebenfalls erst durch die arglistige Täuschung des Steuerpflichtigen ermöglicht. Zusätzlich wurde der seitens der Finanzbehörde geschaffene Irrtum, die Steuer werde nun erstmalig wirksam festgesetzt, durch Einlegung des Einspruchs aufrecht erhalten. Hier erweckte der Steuerpflichtige zumindest konkludent den Anschein, der Erstbescheid sei ihm nie bekannt gegeben worden und er wende sich nun „ordnungsgemäß“ gegen einen erstmalig anfechtbaren Steuerbescheid. Der Steuerpflichtige wird sich hinsichtlich der erforderlichen Arglist nicht damit verteidigen können, dass er mit der Rechtserheblichkeit des Erstbescheides nicht gerechnet habe. Einem ordnungsgemäß belehrten Steuerlaien muss zumindest dem Grunde nach bewusst sein, dass die inhaltliche Änderung eines bestandskräftigen Steuerbescheides nicht uneingeschränkt möglich ist. Auch aus der Sicht eines Rechtsunkundigen hat die Finanzbehörde ein besonderes Interesse zu erfahren, ob sie dem Steuerpflichtigen und späteren Einspruchsführer 320

Birkenfeld, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 355 Rn. 86. Müller-Franken, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 122 Rn. 321. 322 Wobei die Frage offen bleibt, ob die konkludente Aufhebung eines Steuerbescheides durch erneute Festsetzung dem Schrift- und Bestimmtheitsanforderungen des § 157 Abs. 1 AO genügt. Denn auch der erforderliche Aufhebungs- oder Änderungsbescheid ist ein Steuerbescheid im Sinne des § 155 Abs. 1 S. 2 AO, so Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 173 Rn. 111. 323 Dumke, in: Schwarz, AO, § 355 Rn. 5; v. Wallis, Festschrift für Döllerer, S. 693 ff. [698]; siehe bereits: 1. Die Wirkung der materiellen Bestandskraft a) Allgemeines (S. 54). 321

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gegenüber schon einmal die Steuer verbindlich festgesetzt hat. Somit ist insgesamt davon auszugehen, dass der Zweitbescheid nebst seine im Einspruchsverfahren durchgeführte Änderung durch arglistige Täuschung erwirkt wurde. Schließlich ist in dem schon angesprochenen Verstoß gegen das in der materiellen Bestandskraft verankerte Abweichungsverbot auch die Rechtswidrigkeit des aufzuhebenden Zweitbescheides nebst seiner Änderung zu erblicken. Soweit nämlich die Korrektur eines Steuerbescheides immer auch seine Rechtswidrigkeit voraussetzt, wird man in diesem Fall nicht auf den Tenor des letztlich im Einspruchsverfahren geänderten Zweitbescheides abstellen können. Setzt dieser die Steuer doch erstmals richtig fest. In diesem Ausnahmefall wird man bereits die pure Existenz des Zweitbescheides als widerrechtlich qualifizieren müssen, da die Finanzbehörde spätestens ab Eintritt der Unanfechtbarkeit nicht zu einer erneuten Steuerfestsetzung befugt war, ohne die vorherige nach den §§ 172 ff. AO aufzuheben.324 Soweit man letztlich auf die gesetzlich vorhergesehene Rechtsfolge abstellt, wird auch im Fall der „Fristerschleichung“ wenig Spielraum für eine Ermessensentscheidung verbleiben. Stehen sich doch zwei widersprüchliche Steuerfestsetzungen in derselben Steuersache gegenüber, so dass es einer Aufhebung in jedem Fall bedarf. Nur wenn insoweit ausnahmsweise auch der Erstbescheid gleichfalls nach den Vorschriften der §§ 172 ff. AO aufhebbar wäre, könnte sich eine ent­ sprechende Wahlmöglichkeit der Finanzbehörde ergeben.325 Ansonsten ist sie jedoch gezwungen, den aus verwaltungsrechtlicher Sicht unerträglichen Zustand durch Aufhebung des Abhilfe- bzw. Einspruchsbescheides und des (dann) noch vorhandenen Zweitbescheides aufzulösen.326 Sollte hingegen die Aufhebung des im Einspruchsverfahren geänderten Zweitbescheides aus dem Grunde nicht mehr möglich sein, weil zwischenzeitlich die Festsetzungsverjährung eingetreten ist, so wird man diese widersprüchliche Fest 324

Vgl. u. a. Dumke, in: Schwarz, AO § 355 Rn. 5; Birkenfeld, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 355 Rn. 86. Inwieweit schon vor Eintritt der materiellen Bestandskraft die Selbstbindung der Verwaltung zu einer ähnlichen Rechtsfolge gelangt, ist für die „Fristerschleichung“ ohne Belang. 325 Eine solche Abänderbarkeit wäre nur ausnahmsweise über die Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO möglich; dazu sogleich: 3. Korrektur gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO (S. 93). 326 Es bedarf also in jedem Fall sowohl einer Aufhebung des Abhilfe- bzw. Einspruchsbescheides und des Zweitbescheides. Hinsichtlich eines vorliegenden Abhilfebescheides: Die überwiegende Ansicht (BFH [GrS], BStBl. II 1973, S. 231; v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, Vor §§ 172–177 Rn. 32 ff.) vertritt die Auffassung, dass ein Änderungsbescheid (also auch ein Abhilfebescheid gemäß § 172 Abs. 1 Nr. 2a) AO) an die Stelle des ursprünglichen Bescheides tritt und sich Letzterer dadurch in sonstiger Weise erledigt. Der ursprüngliche Steuerbescheid lebe allerdings dann wieder auf, wenn der Änderungsbescheid aufgehoben werde (a. A. v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Vor §§ 172–177 Rn. 112 ff.). Demzufolge kann es hiernach nicht nur bei einer Aufhebung des Abhilfebescheides verbleiben, da nach seiner Aufhebung der Zweitbescheid wieder auflebt. Gleiches gilt für eine Änderung mittels Einspruchsbescheides: Denn hier bilden beide Regelungen sowohl nach Ansicht der Rechtsprechung als auch der Literatur inhaltlich einen Regelungsverbund, der nach § 44 Abs. 2 FGO Gegenstand der finanzgerichtlichen Klage wird. Vgl. BFH, BStBl. II 1988, S. 517; Pahlke, in: Pahlke/Koenig, AO, § 367 Rn. 54; Dumke, in: Schwarz, AO, § 367 Rn. 55 ff.

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setzungslage nicht mehr beseitigen können. Um eine doppelte und damit in jedem Fall unbillige Inanspruchnahme auszuschließen,327 steht die Finanzbehörde nun vor der Wahl, aus welchem Steuerbescheid sie letztendlich die Befriedigung des festgesetzten Steueranspruchs sucht. Hierbei wird es ihr allerdings nicht verwehrt, aus dem überschießenden (Erst-)Bescheid zumindest insoweit vorzugehen, als er sich mit dem reduzierten Zweitbescheid nicht deckt. Ein Sperrgrund, bsplw. eine Subsidiarität des zuerst ergangenen Bescheides, ist in Höhe des überschießenden Forderungsteils schon aufgrund der Tatsache, dass die divergierenden Steuerbescheide allein das Werk des Steuerpflichtigen sind, nicht ersichtlich. bb) Die „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ Zu keinem anderen Ergebnis gelangt man, wenn der Steuerpflichtige nicht den Zugang des Erstbescheides bestreitet, sondern sich aufgrund unwahrer Tatsachen eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 AO erschleicht. Auch hier wird – allerdings ohne den Umweg des Zweitbescheides und dessen Anfechtung – ein Steuerbescheid aufgrund arglistiger Täuschung entweder durch Einspruchsoder Abhilfebescheid geändert, indem der Steuerpflichtige und Einspruchsführer gegenüber der Finanzbehörde wahrheitswidrig angibt, er sei ohne sein Verschulden an der Einhaltung der Einspruchsfrist verhindert gewesen. Zwar bezieht sich die Täuschung vornehmlich auf die von der Einspruchsbehörde vorzunehmende Wiedereinsetzungsentscheidung, allerdings handelt es sich hierbei wiederum nur um den notwendigen Zwischenschritt, damit die Hürde des verfristeten und mithin zwingend unzulässigen Einspruchs genommen und letztlich eine materiell zutreffende Steuerfestsetzung in Gestalt der Abhilfe- oder Einspruchsentscheidung erreicht werden kann.328 Die wahrheitswidrige Wiedereinsetzung und die dadurch eröffnete Gesamtaufrollung des Steuerfalles stehen somit in einem direkten, vom Steuerpflichtigen auch angestrebten, Ursachenzusammenhang. Geht man mit der Rechtsprechung und einem Teil  der Literatur ferner davon aus, dass die finanz­ behördliche Entscheidung über die Wiedereinsetzung nur ein unselbständiger Bestandteil der Hauptsacheentscheidung (Abhilfe- bzw. Einspruchsbescheid)  ist,329 327 Zu den allgemeinen Voraussetzungen des Erlasses aus Billigkeitsgründen gemäß §§ 163, 227 AO: D. Erlass aus Billigkeitsgründen (S. 114). 328 Zur versäumten Einspruchsfrist siehe bereits: 1. Einspruchsfrist (S. 75). Eine Ausnahme von dem Vorrang der Entscheidung über die Zulässigkeit wird nach umstrittener Auffassung dann gemacht, wenn gleichfalls die Sachentscheidung eindeutig und offensichtlich unbegründet ist. Ein solches „Dahinstehenlassen“ der Zulässigkeit wird aus Gründen der Prozessökonomie erwogen, wenn insbesondere die Feststellung der Zulässigkeit noch zeitraubende, schwierige Aufklärungen und Nachforschungen erfordert; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 358 Rn. 22 ff. m. w. N. Um einen solchen Fall handelt es sich aber in den hier einschlägigen Fällen nicht, denn der Einspruch wäre hier unproblematisch begründet. 329 BFH, BStBl. II 1987, S. 7; Brandis, in: Tipke/Kruse, AO, § 110 Rn. 43; Rätke, in: Klein, AO § 110 Rn. 51; Schwarz, in: Schwarz, AO, § 110 Rn. 80; a. A. Söhn, in: Hübschmann/Hepp/ Spitaler, AO, § 110 Rn. 592 ff. [603, 608 ff.].

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so fällt eine genaue Zuordnung des Täuschungsmomentes umso schwerer. Doch selbst wenn eine von der Hauptsache getrennte Wiedereinsetzungsentscheidung330 getroffen werden sollte, kann auch im Rahmen dieser Fallgestaltung zusätzlich dahingehend argumentiert werden, dass der Steuerpflichtige seine Täuschung auch im Einspruchsverfahren zumindest konkludent aufrecht erhält. Die für eine Änderung erforderliche Rechtswidrigkeit des zu ändernden Steuerbescheides ergibt sich hier ebenfalls aus dem Abweichungsverbot der materiellen Bestandskraft. Natürlich kann in dieser Fallgestaltung nicht auf den anderslautenden (Erst-)Steuerbescheid verwiesen werden, denn schließlich wurde dieser infolge der Täuschung geändert. Es stehen sich also keine gegenläufigen Steuerfestsetzungen in derselben Steuersache gegenüber. Entscheidend muss hier sein, dass eine Änderung im Rahmen des Einspruchsverfahrens nicht hätte stattfinden dürfen. Lagen doch die Tatsachen für die stattgegebene Wiedereinsetzung in Wirklichkeit nicht vor, so dass eine Entscheidung „in der Sache“ gar nicht erfolgen durfte.331 Dieser Makel haftet auch dem Abhilfe- bzw. Einspruchsbescheid an.332 Sieht man mit der Rechtsprechung und einem Teil der Literatur in der Wiedereinsetzungsentscheidung nur einen unselbständigen Bestandteil der Hauptsache, der selbst nicht in Bestandskraft erwächst, so muss er als dessen Teil bei der Frage der Rechtmäßigkeit der Einspruchsentscheidung berücksichtigt werden. Immerhin hat die Wiedereinsetzung unmittelbaren Einfluss auf die fristgerechte Einlegung des Einspruchs und damit auf die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs selbst.333 Eine Sachentscheidung ist in der vorliegenden Fallgestaltung also ohne die gewährte Wiedereinsetzung unmöglich, so dass sie letztendlich zu einer gesetzlichen Voraussetzung des Rechtsbehelfs wird. Steht demnach die Frage nach der Rechtmäßigkeit einer Einspruchsentscheidung im Raum, etwa wie hier im Falle eines nachträglichen Aufhebungs- bzw. Änderungsverfahrens, ist ebenfalls danach zu fragen, ob die Wiedereinsetzung in rechtmäßiger Weise geschah. 330

Zur Möglichkeit eines gestuften Einspruchsverfahrens Brandis, in: Tipke/Kruse, AO, § 110 Rn. 43; Rätke, in: Klein, AO, § 110 Rn. 51. Wobei sich auch in diesen Fällen an der Unselbständigkeit der Wiedereinsetzungsentscheidung nichts ändert, so BFH, BStBl. II 1990, S. 277: „Da eine frühere Gewährung von Wiedereinsetzung keinen selbständigen Verwaltungsakt darstellt und keine Bestandskraft entfaltet, ist das FA bei der Entscheidung über den Rechtsbehelf nicht an seine bisherige Auffassung zur Gewährung von Wiedereinsetzung gebunden.“ In diesen Fällen bedarf es daher nicht einmal der Rücknahme der Wiedereinsetzung gemäß § 130 Abs.  2 Nr. 2 AO. A. A. ausdrücklich Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 110 Rn. 592 ff., wobei die Auswirkungen der divergierenden Auffassungen in dem hier zu begutachtenden Fall nicht gravierend sind. Siehe Fn. 334. 331 Kuczynski, in: Beermann/Gosch, AO, § 110 Rn.  92; Birkenfeld, in: Hübschmann/Hepp/ Spitaler, AO, § 355 Rn. 85; Dumke, in: Schwarz, AO, § 355 Rn. 6; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 358 Rn.  1 ff. Anders als im allgemeinen Verwaltungsrecht steht es der Finanzbehörde im Steuer­verfahren nicht zu, trotz eines unzulässigen Einspruchs in der Sache zu entscheiden und damit eine Überprüfung durch die Gerichte zu ermöglichen. Siehe Fn. 271. 332 So ausdrücklich Kuczynski, Beermann/Gosch, AO, § 110 Rn. 92: „Übersieht die FinBeh die Fristversäumnis oder bejaht oder verneint sie zu Unrecht eine Wiedereinsetzung, so ist die Rechtsbehelfsentscheidung zwar fehlerhaft und rechtswidrig, aber nicht unwirksam.“ 333 BFH, BStBl. II 1987, S. 7.

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Im Übrigen kann die Finanzbehörde an ihre vorherige Wiedereinsetzungsentscheidung, die inzident ebenfalls rückgängig gemacht werden muss, schon deshalb nicht gebunden sein, weil einer unselbständigen, finanzbehördlichen Entscheidung keine höhere Beständigkeit zukommen kann als einem eigenständigen Verwaltungsakt. Denn dieser wäre in dem hier einschlägigen Fall unproblematisch nach § 130 Abs. 2 Nr. 2 AO zurücknehmbar.334 Dies bestätigt letztlich auch der Vergleich mit der Wiedereinsetzung im Steuerprozess. Dort ist in § 56 Abs. 5 FGO ausdrücklich die Unanfechtbarkeit der gewährten Wiedereinsetzung vorgeschrieben, so dass sie weder von einem Prozessbeteiligten angegriffen, noch in der Revisionsinstanz überprüft werden kann.335 Aufgrund der Tatsache, dass eine solche Regelung in der ansonsten inhaltsgleichen Wiedereinsetzung des § 110 AO fehlt, liegt es durchaus nahe, im Steuerverfahren das Gegenteil, also eine generelle Aufhebbarkeit auch der Wiedereinsetzungsentscheidung, zu folgern.336 Infolgedessen ist die gesamte Abhilfe- bzw. Einspruchsentscheidung rechtswidrig und unterliegt somit dem hier zu begutachtenden Aufhebungs- und Änderungstatbestand. Letztlich stellt sich wiederum die Frage nach der zutreffenden Rechtsfolge. Zu beachten ist allerdings, dass die Ausgangslage im Vergleich zu dem vorherigen Grundfall hier eine andere ist. Es stehen sich bei der „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ nicht zwei divergierende Steuerfestsetzungen gegenüber, bei denen die Finanzbehörde nur die Wahl hat, welche der beiden sie letztendlich aufhebt. Vielmehr steht es ihr nun frei, die vorgefundene Situation ungeändert zu belassen. Ist doch schließlich derjenige Zustand hergestellt, der von Anfang an angestrebt war. Geht man mit der überwiegenden Ansicht davon aus, dass § 172 AO eine Ermessensentscheidung vorsieht, so wird man auch in diesen Fällen von einer Ermessensreduzierung auf Null ausgehen müssen.337 Denn die Erreichung der materiell geschuldeten Steuer darf insofern nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Steuer­pflichtigen und späterem Einspruchsführer dieses Ergebnis nach Eintritt der Unanfechtbarkeit des Erstbescheides nicht mehr zusteht und er nicht anders gestellt werden darf wie jeder andere Steuerpflichtige, der die ihm eingeräumten Rechtsbehelfsfristen tatenlos verstreichen lässt. Etwas anderes könnte höchstens dann gelten, wenn wiederum auch der materiell bestandskräftige Erstbescheid gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zugunsten des Steuerpflichtigen geändert werden könnte. Denn es wäre eine bloße Förmelei, wenn die Finanzbehörde den Abhilfe- bzw. Einspruchsbescheid aufheben würde, um sodann eine Änderung des 334 Auf die Möglichkeit einer eigenständigen Rücknahme der Wiedereinsetzungsentscheidung verweist Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 110 Rn. 592 ff. [612], soweit man in der Wiedereinsetzung einen selbständigen Verwaltungsakt erblickt. 335 BFH, BStBl. II 1989, S. 460; Stapperfend/v. Groll, in: Gräber, FGO, § 56 Rn. 65; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, FGO, § 56 Rn. 630 ff. Eine Ausnahme von dieser Regel soll nur gelten, wenn die Wiedereinsetzungsentscheidung unter Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör der Gegenseite ergangen ist, vgl. u. a. Söhn (a. a. O., Rn. 635). 336 BFH, BStBl. II 1989, S. 1024 [1027]; Stapperfend/v. Groll, in: Gräber, FGO, § 56 Rn. 66; Brandis, in: Tipke/Kruse, AO, § 110 Rn. 43; Schwarz, in: Schwarz, AO, § 110 Rn. 80. 337 Dazu oben Fn. 315.

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unanfechtbaren Steuerbescheides erneut auf die materiell zutreffende Steuerhöhe zu bewirken. Die diesbezügliche Änderungsmöglichkeit über § 173 AO wird in den hier gelagerten Fällen jedoch nur ausnahmsweise eröffnet sein.338 Kann allerdings eine Änderung aufgrund einer bereits eingetretenen Festsetzungverjährung im Nachhinein nicht mehr erfolgen, wird es der Finanzbehörde im Gegensatz zum vorher geschilderten Grundfall der „Fristerschleichung“ nicht möglich sein, die überschießende Steuerforderung noch zu realisieren. Schließlich ist in diesem Fall der Rückgriff auf einen noch existierenden Erstbescheid verwehrt, da dieser aufgrund der durchgeführten (erschlichenen) Wiedereinsetzung und der daraufhin ergangenen Abhilfe- oder Einspruchsentscheidung geändert wurde. Ein solches Ergebnis kann allerdings nicht überraschen. Zum einen betrifft es ohnehin nur Fallgestaltungen, in denen eine Ahndung der ggfs. durch die „Fristerschleichung“ verwirklichten Steuerhinterziehung aufgrund der eingetretenen Verfolgungsverjährung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 StGB bzw. § 376 Abs. 1 AO nicht mehr in Frage kommen würde. Zum anderen besteht im Zusammenhang mit Steuerstraftaten immer die Gefahr, dass im Zeitpunkt ihrer Aufdeckung die steuer­lichen Folgen nicht mehr revidiert werden können, sobald einmal die Festsetzungsverjährung eingetreten ist. Demzufolge darf sogar der Steuerpflichtige in Hinterziehungsfällen grundsätzlich darauf vertrauen, dass er ab einer durch die Festsetzungsfrist bestimmten Zeit nicht mehr zur Steuer herangezogen wird. Natürlich besteht gerade durch eine begangene Steuerhinterziehung ein gesteigertes Bedürfnis, den Steuerfall möglichst lange offen zu halten.339 Diesen besonderen Umstand hat der Gesetzgeber durch eine Verlängerung der Festsetzungfrist im Falle der Steuerhinterziehung auf 10 Jahre gemäß § 169 Abs. 2 S. 2 AO und eine Anknüpfung an die strafrechtliche Verfolgungsverjährung gemäß § 171 Abs. 7 AO umgesetzt.340 3. Korrektur gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2d) AO sieht für andere Steuern als Einfuhr- und Ausfuhrabgaben oder Verbrauchsteuern eine Änderung außerhalb des § 172 AO nur vor, soweit dies sonst gesetzlich zugelassen ist. Dies gilt insbesondere für den Änderungstatbestand des § 173 AO. Danach sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer abweichenden Steuerhöhe führen. Der Tatbestand knüpft folglich an tatsächliche Vorgänge an, die sich bereits vor der Steuerfestsetzung ereignen, aber aufgrund von Unkenntnis der handelnden Finanzbehörde keinen Eingang in die Veranlagung finden. Des Weiteren unterscheidet § 173 Abs. 1 AO strikt danach, ob die nachträgliche Berücksichtigung von Tatsachen oder Beweismitteln zu einer höhe 338

Siehe: 3. Korrektur gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO (S. 93). Vgl. BFH, BStBl. II 1989, S. 442. 340 Siehe nur Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 376 Rn. 51 ff. 339

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ren (Nr. 1) oder niedrigeren (Nr. 2) Steuer führt. Im letzteren Fall ist eine Korrektur nur dann eröffnet, wenn dem Steuerpflichtigen an dem nachträglichen Bekanntwerden kein grobes Verschulden trifft, wobei gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 2 AO ein Verschulden des Steuerpflichtigen allerdings dann unbeachtlich ist, wenn die fraglichen Tatsachen oder Beweismittel im Zusammenhang mit Tatsachen oder Beweismitteln der Nr. 1 stehen.341 Für die in dieser Arbeit zu begutachtenden Fälle der „Fristerschleichung“ handelt es sich bei dem hier angesprochenen Änderungstatbestand um die entscheidende Schlüsselnorm. Kann der Steuerpflichtige eine Herabsetzung seiner im Steuerbescheid festgesetzten Steuer hierüber erlangen, so wird sich für ihn der erhebliche Umweg in einen erschlichenen Einspruch natürlich nicht lohnen. Fraglich ist daher, in welchen Fällen sich der Steuerpflichtige darauf verlassen kann, durch einen einfachen Änderungsantrag die begehrte Steuerherabsetzung zu erreichen. Insofern muss ihm aber auch bewusst sein, dass es nach einer von der Finanz­ behörde abgelehnten Änderung nicht möglich sein wird, nunmehr die Bekanntgabe zu bestreiten. Die hat der Steuerpflichtige durch den gestellten Änderungsantrag, wenn dort nicht ausdrücklich auf den erhaltenen Steuerbescheid Bezug genommen wird, dann doch zumindest konkludent vorgetragen. Die Attraktivität der „Fristerschleichung“ wird sich daher an den Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO messen lassen müssen. a) Das nachträgliche Bekanntwerden von Tatsachen oder Beweismitteln Herzstück dieser Änderungsnorm sind nachträglich bekannt gewordene Tatsachen und Beweismittel. Eine Tatsache ist jeder Lebensvorgang, der insgesamt oder teilweise den gesetzlichen Steuertatbestand oder ein einzelnes Merkmal dieses 341 Diese willkürlich anmutende Unterscheidung zulasten des Steuerpflichtigen wird jedoch von Seiten der ganz herrschenden Meinung relativiert. Tragendes Prinzip der vorbenannten Regelung ist nämlich die gemeinsame Aufklärung des steuererheblichen Sachverhaltes mit der Amtsaufklärungspflicht auf Seiten der Finanzbehörde und der Mitwirkungspflicht auf Seiten des Steuerpflichtigen, so dass sich nur daraus eine Änderungsbefugnis ergeben kann. Es ist also danach zu fragen, warum die Finanzbehörde in Unkenntnis der für die Veranlagung rechtserheblichen Tatsachen oder Beweismittel geblieben ist. Diese Aufklärungspflichtverletzung ist bei jeder Änderung in den Blick zu nehmen. Für § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ist dies durch das „grobe Verschulden“ des Steuerpflichtigen ausdrücklich normiert. Im umgekehrten Fall des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO soll eine Änderung zuungunsten des Steuerpflichtigen nach „Treu und Glauben“ nur dann möglichen sein, wenn die Finanzbehörde nicht gegen ihre Aufklärungspflicht verstoßen hat. Demnach dürfen nur solche Tatsachen und Beweismittel Berücksichtigung finden, die der Finanzbehörde bei gehöriger Erfüllung der ihr nach § 88 AO obliegenden Ermittlungspflicht schon vor der Steuerfestsetzung hätte feststellen können, dazu u. a. BFH, BStBl. II 1970, S. 296; BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 4.; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 173 Rn.  62 ff.; allgemein v.  Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 173 Rn. 238 ff.

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Tatbestandes erfüllt.342 Demgegenüber ist die steuerrechtliche Würdigung mitsamt der juristischen Subsumtion keine Tatsache im vorbenannten Sinne, so dass eine Korrektur nicht auf Rechtsfehler oder eine geänderte Rechtsauffassung gestützt werden kann.343 Ein Beweismittel ist ferner jedes Erkenntnismittel, das geeignet ist, das Vorliegen oder Nichtvorliegen von Tatsachen im Rahmen der §§ 92 ff. AO, 82 ff. FGO zu beweisen.344 Die Tatsache oder das Beweismittel muss (nur) der Finanzbehörde gegenüber nachträglich bekannt werden, denn schließlich hat sie den Sachverhalt zu ermitteln und die sich daraus ergebende Steuer daraufhin festzusetzen. Insofern zeigt schon das Abstellen auf das alleinige „Bekanntwerden“, dass nur solche Beweismittel und Tatsachen in Frage kommen, die zum Zeitpunkt der Steuerfestsetzung bereits vorlagen und die nachträgliche Entstehung derselben nicht erfasst wird. Eine Änderung der Steuerfestsetzung durch nachträglich entstandene Tatsachen kann nur über § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO erfolgen, wohingegen eine Korrektur aufgrund nachträglich entstandener Beweismittel nicht vorgesehen ist. Auf die nachträgliche Kenntnis des Steuerpflichtigen kommt es demgegenüber auch im Fall einer Änderung zu seinen Gunsten nicht an.345 Des Weiteren wird im Rahmen der Kenntniserlangung der Finanzbehörde maßgeblich auf die Kenntnis oder Unkenntnis der Personen abgestellt, die innerhalb der zuständigen Finanzbehörde dazu berufen sind, den betreffenden Steuerfall zu bearbeiten.346 Da man von dem zuständige Sachbearbeiter bei der Vielzahl der zu bearbeitenden Steuerfälle kein präsentes Wissen verlangen kann, wird regelmäßig der Inhalt der konkreten Steuerakten maßgeblich sein.347 Hinsichtlich des „nachträglichen“ Bekanntwerdens wird auf den Zeitpunkt abgestellt, in dem die für die konkrete Steuerfestsetzung maßgebliche Willensbildung des zuständigen Sachbearbeiters vollständig abgeschlossen ist; also der Berechnungs- oder Eingabewertbogen abschließend unterzeichnet 342

BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 1.1. S. 1; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 173 Rn. 2. Siehe nur BFH, BStBl. II 1993, S. 569; BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 1.1.2. S.1; v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, § 173 Rn. 8. Etwas anderes kann gelten, wenn ein Besteuerungstatbestand gerade ein Rechtsverhältnis voraussetzt. Solche vorgreiflichen Rechtsverhältnisse aus anderen Rechtsgebieten können dann durchaus eine Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 AO darstellen, BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 1.1.1. Des Weiteren können auch die Schätzungsgrundlagen eine Tatsache darstellen, nicht hingegen das Schätzungsergebnis selbst, so BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 7.1. 344 Vgl. u. a. BFH, BStBl. II 1989, S. 585; BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 1.2.; v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, § 173 Rn. 23. 345 BFH, BStBl. II 1984, S. 694; v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, § 173 Rn. 55. 346 BMF AEAO, Zu § 173, Tz 2.3. Eine solche Sicht läuft daher darauf hinaus, dass der gesamte Inhalt der Akten als bekannt zu gelten hat, BFH, BStBl. II 1971 S. 220; anders hingegen Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 173 Rn. 31, der allgemein auf die Kenntnis der Finanzbehörde und nicht auf einen bestimmten Sachbearbeiter abstellen will. 347 Dementsprechend kann auch ein Wechsel des Sachbearbeiters nicht dazu führen, dass einmal bekannt gewordene Tatsachen wieder unbekannt werden. Ausschlaggebend muss sein, ob der zunächst zuständige Sachbearbeiter die Tatsache aktenkundig gemacht hat, so BFH/NV 1994, S. 315 ff.; BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 2.3.4. 343

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wurde.348 Infolgedessen sind nur solche Tatsachen gemäß § 173 Abs. 1 AO berücksichtigungsfähig, die nach diesem Zeitpunkt zur Kenntnis des zuständigen Sachbearbeiters gelangen. In den in dieser Arbeit zugrunde liegenden Fällen hat der Steuerpflichtige die zu Werbungskosten führenden Tatsachen in seiner Einkommensteuererklärung nicht angegeben. Soweit man auch auf entsprechende Belege abstellt, die die vorangestellten Tatsachen dokumentieren, handelt es sich dabei um Urkunden im Sinne der §§ 92, 97 AO und mithin um Beweismittel. Sowohl die Tatsachen als auch Beweismittel konnten in der konkreten Steuerfestsetzung nicht berücksichtigt werden, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt schon vorlagen. Im Fall der Nacherklärung würden sie der Finanzbehörde demnach auch erst nachträglich bekannt. b) Das Führen zu einer niedrigeren Steuer Die nachträgliche Berücksichtigung dieser Tatsachen oder Beweismittel muss ferner zu einer abweichenden Steuerfestsetzung führen. Diese Rechtserheblichkeit wird verneint, wenn die Finanzbehörde bei rechtzeitiger Kenntnis einer ihr unbekannt gebliebenen Tatsache schon bei der ursprünglichen Steuerfestsetzung nicht zu einer höheren (Nr.  1) oder niedrigeren (Nr.  2) Steuer gelangt wäre.349 Es ist also entscheidend, wie die Finanzbehörde im Rahmen der ursprünglichen Steuer­festsetzung die nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen und Beweismittel unter Bezugnahme der damaligen zutreffenden Gesetzesauslegung entschieden hätte.350 Hierbei soll die Möglichkeit genügen, dass aufgrund der Tatsachen- oder Beweismittelkenntnis zu der damaligen Zeit eine andere Entscheidung ergangen wäre.351 Je nachdem ob die Berücksichtigung der einzelnen Tatsache zu einer höheren (Nr. 1) oder zu einer niedrigeren (Nr. 2) Steuer führt, ergibt sich die weitere unterschiedliche Behandlung in den zwei Alternativen des § 173 Abs. 1 AO.352

348 BFH, BStBl. II 1987, S. 416; BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 2.; a. A. Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 173 Rn. 44. 349 BFH (GrS), BStBl. II 1988, S. 180; BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 3. 350 BFH (GrS), BStBl. II 1988, S. 180. 351 BFH (GrS), BStBl.  II  1988, S.  180; klarstellend in BStBl.  II  1995, S.  293; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 173 Rn. 57, mwN. Zu einem anderen Ergebnis kommt die Finanzverwaltung, so BMF AEAO, Zu § 173 Tz.  3.1. S.  1, indem sie die Entscheidung des GrS (a. a. O.) scheinbar fehlinterpretiert. 352 Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen den verschiedenen Nummern des § 173 Abs. 1 AO können dann auftreten, wenn eine (Gesamt-)Tatsache (z. B. eine gesamte Einkunftsquelle) aus mehreren steuererhöhenden und steuermindernden Einzeltatsachen besteht. In diesem Fall wird man daher nicht die Einzeltatsachen jeweils entweder unter Nr. 1 oder Nr. 2 stellen, sondern allein den Gesamtsaldo unter § 173 Abs. 1 AO subsumieren. Dazu BFH, BStBl. II 1994, S.  346; BMF AEAO, Zu § 173 Tz.  6.2; v.  Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 173 Rn. 145.

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In den Fällen der „Fristerschleichung“ handelt es sich unstreitig um Tatsachen und Beweismittel, die bei Berücksichtigung zum Zeitpunkt der ursprünglichen Steuerfestsetzung zu einer niedrigeren Steuerfestsetzung geführt hätten. Der einschlägige Änderungstatbestand ist daher in § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu erblicken. Es wird nun entscheidend darauf ankommen, ob dem Steuerpflichtigen hinsichtlich dem nachträglichen Bekanntwerden ein grobes Verschulden vorgeworfen werden kann. c) Kein grobes Verschulden Eine Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen kommt nach der Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO des Weiteren nur dann in Betracht, wenn ihm an dem nachträglichen Bekanntwerden kein grobes Verschulden trifft. Mit dieser Einschränkung wird die Stellung des Steuerpflichtigen bekräftigt, der an der Aufklärung des relevanten steuererheblichen Sachverhaltes eine Mitverantwortung für solche Tatsachen und Beweismittel trägt, die gerade in seinen Verantwortungsbereich fallen.353 Denn ohne seine Mitwirkung wird sich letztlich in vielen Fällen der maßgebliche Sachverhalt nicht oder nur unter erheblichen Mühen ermitteln lassen.354 Der Steuerpflichtige soll durch die drohende Nichtberücksichtigung von für ihn günstigen Tatsachen und Beweismitteln zu einer umfassenden Kooperation im Ermittlungsverfahren angehalten werden.355 Der Bezugspunkt für das grobe Verschulden bildet die dem Steuerpflichtigen obliegende Mitwirkungspflicht.356 Sie muss durch den Steuerpflichtigen vorsätzlich oder grob fahrlässig verletzt worden und dadurch die Finanzbehörde in Unkenntnis geblieben sein.357 Eine Ausnahme bildet der in Nr. 2 enthaltene S. 2, nachdem ein grobes Verschulden dann unbeachtlich ist, wenn wegen anderweitiger Tatsachen gleichzeitig eine Änderung zuungunsten des Steuerpflichtigen (Nr. 1) im Raum steht. aa) Verstoß gegen Mitwirkungspflichten Im Hinblick auf die Angabe von Tatsachen ist die Pflicht zur Abgabe einer Steuer­erklärung bzw. Steueranmeldung gegenüber der Finanzbehörde gemäß § 149 Abs. 1 S. 1 AO in Verbindung mit den §§ 25 Abs. 3 S. 1 EStG, 31 KStG, 31 ErbStG, 353

BT-Drucks. VI/1982, Zu § 154, S. 153. Zu dem Verhältnis zwischen Finanzbehörde und Steuerpflichtigen im Ermittlungsverfahren bereits: 2. Die Durchführung (S. 19). 355 BFH, BStBl. II 1989, S. 920 [922]; a. A. v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 173 Rn. 262: „Präventiv- oder Sanktionscharakter allerdings lässt die Regelung nicht erkennen“. 356 BFH, BStBl. II 1988, S. 109. 357 BFH/NV 1998, S.  1 f.; v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, § 173 Rn.  82; v.  Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 173 Rn.  261, 273; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 173 Rn. 74. 354

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18 Abs. 1, Abs. 3 UStG (etc.) von entscheidender Bedeutung.358 Dort sind die im zu verwendenden (elektronischen)359 Erklärungsvordruck gewünschten Tatsachen gemäß § 150 Abs. 1, Abs. 2 AO wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen zu machen; was nicht zuletzt nach § 90 Abs. 1 S. 2 AO eine vollständige Erklärung beinhaltet.360 Dies ist, soweit es der amtliche Vordruck vorsieht, gemäß § 150 Abs.  2 S.  2 AO schriftlich zu versichern.361 Demnach handelt der Steuerpflichtige schon dann objektiv pflichtwidrig, wenn er eine ihm mögliche Tatsachenangabe unterlassen hat. Demgegenüber ist eine generelle Pflicht zur Abgabe von Beweismitteln gleichzeitig mit der Steuererklärung bzw. Steueranmeldung gesetzlich nicht vorgesehen. Insbesondere führt der Verweis des § 150 Abs. 4 S. 1 AO in die Einzelsteuer­gesetze nur ausnahmsweise zu einer Beifügungspflicht von Unterlagen.362 Nach zutreffender Ansicht kann sich eine damit verbundene „Beweisvorsorgepflicht“ auch nicht aus dem allgemeinen Grundsatz zur Mitwirkung in § 90 Abs. 1 S. 2 AO ergeben. Denn ein Eingriffsrecht, also auch die Pflicht zum (unaufgeforderten) Beifügen von Urkunden, kann nur durch eine ausdrückliche gesetzliche Regelung statuiert werden, die in der benannten Aufgabenzuweisungsnorm gerade nicht zu erblicken ist.363 Unabhängig davon bedarf es zur Urkundsvorlegung nach Maßgabe des § 97 Abs. 1 S. 1 AO ohnehin eines ausdrücklichen Verlangens seitens der Finanzbehörde.364 Ist der Steuerpflichtige demzufolge nicht zur un­ aufgeforderten Vorlage von Urkunden verpflichtet, so kann dies von ihm auch nicht mittelbar unter der Androhung von nachteiligen Folgen gefordert werden.365 Dem 358

Zur deklaratorischen Bedeutung der gesonderten Aufforderung zur Abgabe einer Steuer­ erklärung gemäß § 149 Abs. 1 S. 2 AO vgl. Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 149 Rn. 7. Sie kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die Finanzbehörde von einer bestehenden Steuerschuld und mithin von einer gesetzlichen Erklärungspflicht nach § 149 Abs. 1 S. 1 AO ausgeht, aber der Steuerpflichtige eine solche verneint, dazu BFH/NV 2003, S. 594 f. 359 Die Steuergesetze (wie bsplw. § 18 Abs. 1 UStG) können anordnen, dass der Steuerpflichtige seine Erklärung nach amtlich vorgeschriebenem Datensatz durch Datenfernübertragung gemäß §§ 150 Abs. 7, 87a Abs. 6 AO in Verbindung mit der Steuerdaten-Übermittlungsverordnung (StDÜV) zu übermitteln hat. Ferner hat die Finanzverwaltung auch in den übrigen Fällen, in denen keine Pflicht zur elektronischen Übermittlung besteht, von der ihr eingeräumten Ermächtigung zur Einrichtung einer elektronischen Steuererklärung (ELSTER) gemäß § 150 Abs. 6 AO Gebrauch gemacht. Insofern steht es dem Steuerpflichtigen frei, den von der Finanzverwaltung eröffneten elektronischen Zugang zu wählen. 360 Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 173 Rn. 74. 361 Wobei diese „Versicherung“ nicht als eidesstattliche Versicherung verstanden werden darf, sondern nur gewährleisten soll, dass sich der Steuerpflichtige über die Lückenlosigkeit und Richtigkeit (insbesondere bei Eintragungen durch beauftragte Dritte)  vergewissert hat. Dazu BFH, BStBl. II 1987, S. 77; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 150 Rn. 13; zur Strafbarkeit gemäß § 156 StGB Franzen, DStR 1964, S. 380 [382]. 362 Zwar enthält § 51 Abs. 1 Nr. 1a) EStG eine Ermächtigung an die Bundesregierung, eine diesbezügliche Rechtsverordnung zu erlassen. Allerdings wurde davon  – mit Ausnahme des § 60 EStDV (Bilanz und GuV-Rechnung) – kein Gebrauch gemacht. 363 BFH, BStBl. II 1990, S. 280 [282]. Siehe bereits Fn. 31. 364 Dazu und zu den weiteren Voraussetzungen des § 97 AO Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 97 Rn. 8 ff. 365 So i.E. Seer, in: Tipke/Kruse, AO, 150 Rn. 22, § 90 Rn. 4.

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zufolge fehlt es an einer für § 173 Abs. 1 AO erforderlichen Mitwirkungspflichtverletzung, wenn der Steuerpflichtige die erforderlichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß in der Steuererklärung angegeben, allerdings keine Unterlagen abgegeben hat und dazu auch bisher nicht aufgefordert wurde. Für die Fälle der „Fristerschleichung“ ergibt sich eine Mitwirkungspflichtverletzung schon aus der unvollständigen Angabe von zu Werbungskosten oder Betriebsausgaben führenden Tatsachen. Sie können daher nur dann berücksichtigt werden, wenn die wahrheitswidrige Angabe nicht grob schuldhaft geschehen ist. Im Übrigen hat es im Gegensatz zu § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO keine Auswirkungen, wenn die Finanzbehörde ihren Aufklärungspflichten ebenso wenig nachgekommen ist. Eine Abwägung der beiderseitigen Verletzungen findet daher nicht statt.366 Unter Umständen kann eine Pflichtverletzung der Finanzbehörde jedoch dazu führen, dass dem Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden an dem späteren Bekanntwerden vorgeworfen werden kann.367 bb) Grobe Fahrlässigkeit Nun kommt es also entscheidend darauf an, ob dem Steuerpflichtigen im Hinblick auf die von ihm verursachte Mitwirkungsverletzung ein grobes Verschulden vorgeworfen werden kann. Dies beinhaltet Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit.368 Das Hauptaugenmerk wird in den Fällen nicht angegebener Werbungskosten in aller Regel auf der groben Fahrlässigkeit liegen, denn eine vorsätzliche Mitwirkungspflichtverletzung wird die Finanzbehörde dem Steuerpflichtigen nur selten nachweisen können und auch der Steuerpflichtige wird diesbezüglich sicherlich keine inneren Tatsachen vortragen. Grob fahrlässig handelt, wer die ihm nach seinen persönlichen Verhältnissen und Fähigkeiten zuzumutende Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt.369 Es gilt daher auch hier der subjektive Verschuldensbegriff.370 Bezugspunkt dieses Verschuldensmaßstabes bildet die schon angesprochene Verletzung der dem Steuerpflichtigen auferlegten Mitwirkungspflicht. Eine 366 BFH, BStBl. II 1997, S. 422; v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, § 173 Rn. 90; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 173 Rn. 61. 367 BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 5.1.4; v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 173 Rn. 297. 368 BT-Drucks. VI/1982, Zu § 154, S. 153. 369 H. M. u. a. BFH, BStBl. II 1983, S. 324; BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 5.1 S. 2 f.; Koenig, in: Pahlke/Koenig, AO, § 173 Rn. 111; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 173 Rn. 76a; v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 173 Rn. 275; v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, § 173 Rn. 85; Rüsken, in: Klein, AO, § 173 Rn. 111; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 72. 370 H. M. vgl. u. a. BFH, BStBl. II 1983, S. 324; BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 5.1. S. 3; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 72; a. A. Eggesiecker, DStR 1980, S. 161 ff.; kritisch auch Friedl, DStR 1991, S. 1616 ff., der insbesondere die fehlende (tatrichterliche) Erörterung des individuellen Sorgfaltsmaßstabs und letztlich ihre Billigung durch den BFH bemängelt.

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Sorgfaltspflichtverletzung im ungewöhnlichen Maße wird dabei allgemein angenommen, wenn der Steuerpflichtige unbeachtet lässt, was im gegebenen Falle jedem hätte einleuchten müssen, oder die einfachsten Überlegungen nicht anstellt.371 Demgegenüber sollen Fehler, die üblicherweise vorkommen und mit denen immer gerechnet werden muss, nur als leichte Fahrlässigkeit beurteilt werden.372 Demzufolge kann dem rechtlich nicht versierten Steuerpflichtigen ein Mangel an Rechtskenntnissen und daraus entstandene Rechtsirrtümer nicht zum Nachteil gereichen.373 Schon § 80 Abs. 1 S. 1 AO („… kann sich durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen.“) belegt, dass es keine allgemeine Rechtspflicht zur Zuhilfenahme fachkundigen Rates gibt.374 Eine Sorgfaltspflichtverletzung im ungewöhnlichen Maße kann sich aber durchaus ergeben, wenn sich dem Steuerpflichtigen Zweifelsfragen hätten aufdrängen müssen und er diesen mithilfe der im Erklärungsformular beigelegten Erläuterungen nicht näher nachgegangen ist.375 Bedient sich der Steuerpflichtige hingegen eines fachkundigen Beraters, so wird ihm nach herrschender Auffassung dessen Verschulden wie eigenes zugerechnet.376 Leitend ist dabei der Gedanke, dass sich der Steuerpflichtige nicht durch die Einschaltung eines steuerlichen Beraters seiner eigenen Verantwortung entziehen dürfe.377 Ob es dieser Zurechnungsfigur angesichts eines darüber hin­ rganisationsverschuldens seitens des beratenen Steueraus noch bestehenden O pflichtigen wirklich bedarf, braucht an dieser Stelle nicht näher erörtert werden.378 Der Steuer­pflichtige wird sich darauf einstellen müssen, dass ihm die Steuer­ praxis ein dem Steuerberater oder Rechtsanwalt unterlaufener Fehler und ein damit einhergehendes grobes Verschulden zurechnen wird. Zum erheblichen Nachteil gereicht dem Steuerpflichtigen diesbezüglich die erhöhte Sorgfaltspflicht 371

BFH, BStBl. II 1982 S. 749. BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 5.1.1. S. 3; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 173 Rn. 78; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 72. 373 BFH, BStBl. II 2001, S. 379; BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 5.1.1. S. 2; v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, § 173 Rn. 85; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 80. 374 Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 93; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 173 Rn. 79. Wobei es sich allerdings im vorliegenden Fall nicht um eine Vertretung handelt, da der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht gemäß § 150 Abs. 3 AO grundsätzlich durch eigenhändige Unterschrift nachkommen muss. Der steuerliche Berater tritt daher nur als „Gehilfe“ des Steuer­pflichtigen auf, so der BFH, BStBl. II 1983, S. 324 [326]. 375 BFH, BStBl. II 1993, S. 80; BStBl. II 2001, S. 379; BFH/NV 2005, S. 1212 f.; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 93; v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, § 173 Rn. 85; Rüsken, in: Klein, AO, § 173 Rn. 114. 376 BFH, BStBl. II 1983, S. 324; BStBl. II 1984, S. 2; BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 5.4.; v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 173 Rn. 275; v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, § 173 Rn. 95 f.; Koenig, in: Pahlke/Koenig, AO, § 173 Rn. 123; Rüsken, in: Klein, AO, § 173 Rn. 125. A. A. Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 173 Rn. 79 ff.; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 79 ff.; Eggesiecker, DStR 1980, S. 161 ff.; Späth, DStZ 1980, S. 130 ff.; ders., DStZ 1981, S. 280 ff.; Friedl, DStR 1991, S. 1616 ff.; Dißars, DStZ 1997, S. 732 ff. [737 f.]. 377 BFH, BStBl. II 1983 S. 324; v. Wedelstädt, AO, § 173 Rn. 95. 378 Zu dieser Lösung siehe Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 173 Rn. 79 ff.; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 79 ff. 372

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seines fachkundigen Beraters. Denn der subjektive Verschuldensmaßstab bemisst sich bei den übertragenen Aufgaben an den persönlichen Fähigkeiten des Beauftragten. Es kann sich demnach leicht ein grober Fahrlässigkeitsvorwurf „in den Händen“ des Beraters ergeben, der dem Steuerpflichtigen, hätte er diesen Fehler selbst begangen, nur als einfache Fahrlässigkeit anzulasten wäre.379 Eine Zurechnung für das Verschulden der Mitarbeiter des hinzugezogenen Beraters und sonstiger Hilfspersonen (auch des Steuerpflichtigen) findet demgegenüber nicht statt. In diesen Fällen verbleibt allerdings eine Auswahl- und Überwachungspflicht des Beraters und Steuerpflichtigen, die bei Verletzung zu einem eigenen Verschulden führt.380 Die Rechtsprechung und Finanzverwaltung nehmen (teilweise mit Billigung der Literatur) unter Berücksichtigung des jeweiligen Einzelfalles grobe Fahrlässigkeit unter anderem an, wenn der Steuerpflichtige trotz Aufforderung eine Steuer­ erklärung nicht eingereicht hat und daraufhin die Steuer mittels Schätzung gemäß § 162 Abs. 2 S. 1 AO festgesetzt wird.381 Gleiches habe ferner dann zu gelten, wenn eine im (elektronischen) Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte und vom Steuerpflichtigen auch verstandene Frage nicht, unvollständig oder falsch beantwortet werde.382 Des Weiteren handele der Steuerpflichtige ebenfalls grob fahrlässig, wenn er seinen steuerlichen Berater nur mangelhaft unterrichte oder die von seinem Berater gefertigte Steuererklärung ungeprüft unterschreibe. Die bei weitem nicht unumstrittene obergerichtliche Rechtsprechung bezieht letztlich auch den Zeitraum bis zum Eintritt der Bestandskraft in die Verschuldensprüfung ein. Ein relevanter Fahrlässigkeitsvorwurf könne sich daher auch durch das tatenlose Verstreichenlassen der Einspruchsfrist ergeben, wenn sich die Geltendmachung der nachträglich bekanntgewordenen Tatsachen dem Steuerpflichtigen hätte aufdrängen müssen.383 Begründet wird diese erhebliche Ausweitung der Sorgfaltspflichten (über die Willensbildung des Verwaltungsaktes hinaus) mit dem strengeren Verschuldensmaßstab der Wiedereinsetzung in den vorigen 379 So i.E. BFH, BStBl. II 1983, S. 324; BStBl. II 1984, S. 256; v. Groll, in: Hübschmann/ Hepp/Spitaler, AO, § 173 Rn. 275. 380 BFH, BStBl. II 1988, S. 109. 381 BFH, BStBl. II 1986, S. 120; BStBl. II 2005, S. 75; BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 5.1.2.; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 173 Rn. 76a; Rüsken, in: Klein, AO, § 173 Rn. 113; Eggesiecker, DStR 1980, S. 161 ff. 382 BFH, BStBl.  II  1992, S.  65; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn.  73; Huxol, DStR 1982, S.  220 ff. mit Beispielen aus der finanzgerichtlichen Praxis. Zur Anwendung des groben Verschuldens bei der Steuererklärung mittels ELSTER-Formulars siehe BFH, DStR 2013, S. 1175 ff. 383 Stetige Rechtsprechung vgl. BFH, BStBl. II 1984, S. 256; BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 5.5. S. 2.; Rüsken, in: Klein, AO, § 173 Rn. 131; Buchheister, DStZ 1980, S. 446 ff. Dagegen die herrschende Literatur: Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 81 ff.; v. Groll, in: Hübschmann/ Hepp/Spitaler, AO, § 173 Rn. 291; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 173 Rn. 76b; v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, § 173 Rn. 103; Späth, DStZ 1981 S. 280 ff. (Replik auf Buchheister, a. a. O.); Heinke, DStZ 1999, S. 789 ff.; Huxol, DStR 1982, S. 220 ff. [224 f.]; Tiedtke/Szczesny, DStR 2005, S. 1122 ff. (Anm. zu BFH, BStBl. II 2005, S. 75).

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Stand gemäß § 110 AO. Derjenige Steuerpflichtige, der die ihm eingeräumte Einspruchsfrist zumindest fahrlässig versäume, könne nun nicht auf das nachrangige und vor allem einfachere Änderungsverfahren des § 173 Abs. 1 AO vertrauen.384 (1) Das Vergessen von Tatsachen Für die Fälle der „Fristerschleichung“ ist nun weiter entscheidend, ob das bloße Vergessen von Werbungskosten oder Betriebsausgaben eine grobe Fahrlässigkeit begründen kann. In der Kommentarliteratur findet sich dazu häufig die Erläuterung, dass bloße Nachlässigkeit, Vergessen oder Irrtümer im Allgemeinen kein grobes Verschulden begründen.385 Einer solchen Regel muss allerdings schon entgegengehalten werden, dass es sich bei den genannten Umständen lediglich um die Hauptursache der Mitwirkungspflichtverletzung handelt. Das Maß der Sorgfaltspflichtverletzung lässt sich daraus alleine aber nicht ableiten.386 Erkennt der Steuerpflichtige bei der Anfertigung seiner Steuererklärung bsplw. die Möglichkeit, dass er Werbungskosten bzw. Betriebsausgaben vergessen hat, und die er ohne gezielte Nachforschungen nicht angeben kann, so handelt er dann sogar vorsätzlich und mithin grob schuldhaft, wenn er die Unvollständigkeit seiner Erklärung bei Abgabe billigend in Kauf nimmt.387 Auch für die schwierige Abgrenzung 384 Buchheister, DStZ 1980, S. 446 ff. [447] und ihm folgend der BFH, BStBl. II 1984, S. 256. Der Gegenansicht (siehe Fn. 383) ist zuzustimmen. Die nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO relevante Mitwirkungspflichtverletzung (Abgabe einer unvollständigen Erklärung) bezieht sich alleine auf den Umstand, dass die Finanzbehörde im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung die bestehenden Tatsachen und Beweismittel nicht berücksichtigen kann (Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 81 ff.). Das Merkmal „nachträglich“ kann sich richtigerweise nur auf den Abschluss der Willensbildung des Sachbearbeiters beziehen, nicht aber auf das zeitlich erst nachfolgende Rechtsbehelfsverfahren (Tiedtke/Szczesny, DStR 2005, S. 1122 ff.). Auch eine drohende „Kollision“ mit § 110 AO kann nicht ins Feld geführt werden. Die hier angesprochenen Regelungsmaterien verfolgen zwar den gemeinsamen Zweck der Herbeiführung von Rechtsrichtigkeit, die unterschiedlichen Verschuldensmaßstäbe lassen sich allerdings nicht ohne Weiteres vergleichen. Sie knüpfen an ganz unterschiedliche Pflichten des Steuerpflichtigen an, so dass eine Änderung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht deshalb versagt werden kann, weil er die ihm eingeräumte Rechtsbehelfsfrist fahrlässig gemäß § 110 AO verstreichen ließ. Für eine Verknüpfung der beiden Verschuldensmaßstäbe geben beide Vorschriften nichts her (so auch Heinke, DStZ 1999, S. 789 ff.). 385 So bsplw. v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, § 173 Rn. 87; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 72; Rüsken, in: Klein, AO, § 173 Rn. 113. 386 Zu Recht daher der Einwand von Huxol, DStR 1982, S. 220 ff. [221]. 387 Unverständlich sind insofern die Ausführungen von Schuhmann, BB 1983, S. 438 ff., soweit er eine vorsätzliche Mitwirkungspflichtverletzung für „schlecht vorstellbar“ hält [440]. Denn der Steuerpflichtige sei immer darauf bedacht, seine Steuer so gering wie möglich zu halten, so dass er vorsätzlich keine Tatsachen oder Beweismittel zurückhalten werde, die zu einer geringeren Steuerforderung führten. Jedoch steht dieser latente Steuervermeidungswille der Bürger m. E. nicht im Widerspruch zu einem durchaus denkbaren bedingten Vorsatz. Ein billigendes Inkaufnehmen der Nichtangabe auch steuermindender Tatsachen ist jedenfalls dann unschwer denkbar, wenn der Steuerpflichtige „auf den letzten Drücker“ seine Steuererklärung übereilt fertig stellt, um einer bereits angedrohten Schätzung der Finanzbehörde zu entgehen.

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von einfacher und grober Fahrlässigkeit gibt der Umstand des Vergessens für den entscheidenden Sorgfaltsmaßstab nur wenig her. Bezugspunkt muss vielmehr die konkrete Mitwirkungspflichtverletzung selbst sein – hier also die unvollständige Steuererklärung. Für das Maß der Sorgfaltspflichtverletzung muss sodann festgestellt werden, wie weit sich der handelnde Steuerpflichtige im Rahmen seines Verstoßes gegen die Mitwirkungspflicht von dem sorgfaltsgemäßen Steuerpflichtigen „entfernt“ hat. Je einfacher und leichter es dem Steuerpflichtigen möglich und auch zumutbar war, eine umfassende Steuererklärung abzugeben, desto eher wird man eine Sorgfaltspflichtverletzung im ungewöhnlichen Maße und mit ihr eine grobe Fahrlässigkeit annehmen können. Natürlich kann in einem ersten Schritt bereits daran angeknüpft werden, dass der Steuerpflichtige die später zu erklärenden Tatsachen schlichtweg vergessen hat. Eine grobe Fahrlässigkeit kann dies – und hier ist der Kommentarliteratur beizupflichten – in aller Regel nicht begründen. Der Steuerpflichtige ist nämlich ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung nicht verpflichtet, Bücher zu führen oder sonstige Vorkehrungen gegen ein mögliches Vergessen zu treffen. Es kann von ihm erst recht nicht unter Androhung einer Nichtberücksichtigung später bekannt gewordener Tatsachen verlangt werden. Soweit das Gesetz dem Steuerpflichtigen eine Erklärung über tatsächliche Vorgänge aufbürdet, die teilweise über ein Jahr zurückreichen, nimmt es insofern eine allgemeine Risikoverteilung vor. Von dem Steuerpflichtigen kann, soweit er dazu grundsätzlich in der Lage ist, naturgemäß nur ein gewissenhaftes „Sich-Erinnern“ gefordert werden. Mag der Steuerpflichtige bei Abgabe einer unvollständigen Erklärung durchaus pflichtwidrig gehandelt haben. Ein grobes Verschulden kann dies in Anbetracht der vom Gesetz bewusst geschaffenen Situation allerdings nicht begründen. Etwas anderes gilt hingegen, wenn es sich bei dem Steuerpflichtigen um einen buchführungspflichtigen Gewerbetreibenden handelt388 oder der (nicht bilanzierende) Steuerpflichtige schon sicher voraussieht, dass er ohne die erforderlichen Vorkehrungen eine unvollständige Steuererklärung abgeben wird389. Ihm muss es insofern verwehrt bleiben, aus der ihm vorhersehbaren Ungeeignetheit zur umfassenden Erklärung Profit zu schlagen. Ferner können Aufwendungen im Ausnahmefall auch so außergewöhnlich sein, dass sich ihr Vergessen als eine besonders krasse Verletzung der individuellen Sorgfaltspflicht darstellt. Indikatoren können bsplw. die Höhe der Aufwendungen oder das bewusste Ausüben eines steuerlichen Wahlrechts sein.

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Denn dieser hat gemäß den §§ 145–147 AO erhebliche Dokumentations- und Aufbewahrungspflichten. Zum „Gebot der zeitgerechten und geordneten Buchung“ gemäß § 146 Abs. 1 S.  1 AO Trzaskalik, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 146 Rn.  13 ff. Dazu auch BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 5.1.2: „Grobes Verschulden kann im Allgemeinen angenommen werden, wenn der Steuerpflichtige […] allgemeine Grundsätze der Buchführung (§§ 145 bis 147) verletzt […].“ So auch Huxol, DStR 1982, S. 220 ff. [224]. 389 So i.E. Rüsken, in: Klein, AO, § 173 Rn. 114a (zur Erkundigungspflicht).

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Soweit das Vergessen selbst als Umstand im Rahmen des Sorgfaltspflichtwidrigkeit nicht zwangläufig zu einer groben Fahrlässigkeit führt, hat es damit jedoch nicht sein Bewenden. Ein Verschulden im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO kann sich nämlich noch dadurch ergeben, dass es dem Steuerpflichtigen ohne Weiteres möglich gewesen ist, die vergessenen Tatsachen aufzuklären und dadurch seiner Mitwirkungspflicht zu genügen (Aufklärungsverschulden). Denn unbestritten müssen die Angaben in der Steuererklärung gemäß § 150 Abs. 2 AO wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen persönlich vom Steuerpflichtigen gemacht werden. Dies beinhaltet natürlich auch ihre Vollständigkeit, dessen sich der Steuerpflichtige vor Abgabe der Steuererklärung vergewissern muss.390 Soweit man dabei von dem Steuerpflichtigen zum Erklärungszeitpunkt naturgemäß nicht erwarten kann, dass ihm jeder einzelne Zahlungsposten eines gesamten Jahres präsent ist, so wird man doch von ihm erwarten können, dass er sich – ggfs. unter Zuhilfenahme von Unterlagen – bemüht, eine vollständige Erklärung abzugeben. Es handelt sich daher um eine Sorgfaltspflichtverletzung im ungewöhnlichen Maße, wenn der Steuerpflichtige eine im Erklärungsvordruck ausdrücklich gestellte Frage nicht richtig beantwortet, obwohl sie so eindeutig gefasst ist, dass ihr geradezu eine „Erinnerungsfunktion“ zukommt.391 Diesbezüglich wäre bsplw. an die im Vordruck vorgesehene Frage zur Entfernungspauschale392 jedenfalls dann zu denken, wenn der Steuerpflichtige trotz mehrfacher Fahrten zwischen seiner Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte keine Angaben macht oder zumindest einen erheblichen Teil  nicht angibt.393 Des Weiteren ist es auch ansonsten nicht ausgeschlossen, dem Steuerpflichtigen ein Aufklärungsverschulden bei einer nicht ausdrücklich gestellten Frage vorzuwerfen. Insbesondere laufende Werbungskosten, wie etwa eine in Vorjahren begonnene Abschreibung für Abnutzung (AfA) oder die Zahlung von Zinsen einer vor mehreren Kalenderjahren und seitdem auch erklärten Schuld, lassen sich durch ein Abgleich mit den Steuerunterlagen aus den Vorjahren unproblematisch aufklären.394 Ferner kann auch ein Beratungsfehler dem Steuerpflichtigen zum Verhängnis werden. Hat dieser ein steuerlichen Berater zur Erstellung seiner Steuererklärung beauftragt, kann sich ein grobes Verschulden ebenfalls aus einem Fehlverhalten seines Beraters ergeben.395 Für das Vergessen von Tatsachen ist es in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung, dass der Berater verpflichtet ist, auf die Ab 390

BFH, BStBl. II 1988, S. 109; BFH/NV 1999, S. 445 f. Siehe bereits Fn. 382. Zur Erinnerungsfunktion bei vergessenen unoffensichtlichen Aufwendungen Jakobsen/Stöhr, BB 2008 S. 2776 ff. [2780]. 392 Erklärungsvordruck – Einkommensteuererklärung 2012, Anlage N Zeile 31 ff. 393 Anders sieht dies wohl Eggesiecker, DStR 1980, S. 161 ff. [165], wobei er auf das „einfache Vergessen“ von Fahrtkosten abstellt. Er übersieht dabei, dass sich das grobe Verschulden nicht auf das (ggf. leicht fahrlässige) Vergessen, sondern auf die versäumte Aufklärung bezieht. 394 Jakobsen/Stöhr, BB 2008 S. 2776 ff. [2779] und Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 75, jeweils mit Beispielen aus der finanzgerichtlichen Praxis. 395 Zur Zurechnung von Beraterverschulden siehe bereits oben S. 100. 391

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gabe einer vollständigen Steuererklärung hinzuwirken und den dafür erforderlichen Sachverhalt zu ermitteln.396 Insbesondere hat er seinen Mandanten über die geltende Rechtslage zu belehren und nach entsprechenden steuerlichen Aufwendungen zu fragen.397 Hat der Berater dagegen verstoßen und muss mit großer Sicherheit davon ausgegangen werden, dass eine ordnungsgemäße Belehrung die vergessenen Tatsachen auch zu Tage gefördert hätten (Ursächlichkeit des Verschuldens)398, so wird in aller Regel ein grobes Verschulden anzunehmen und eine Änderung ausgeschlossen sein. Gleiches gilt schließlich auch für den Fall, dass nicht der Steuerpflichtige die steuererheblichen Tatsachen vergessen hat, sondern sein Berater. Ungeachtet eines möglichen Eigenverschuldens des Steuerpflichtigen, denn dieser hat die von einem Dritten erstellte Steuererklärung vor Unterzeichnung und Abgabe auf Vollständigkeit zu überprüfen399, wird man darin einen erheblichen Sorgfaltspflichtverstoß des Beraters annehmen müssen, der wiederum dem Steuerpflichtigen wie eigenes Verschulden zugerechnet wird. Die dargestellten „Leitlinien“ zeigen, dass ein Vergessen steuererheblicher Aufwendungen in einer nicht geringen Anzahl von Fällen zu einem groben Verschulden führen und eine Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen daher ausgeschlossen sein kann. Der in dieser Arbeit gebildete Ausgangsfall gilt daher zu Recht als ein Paradefall der „Fristerschleichung“. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit ist stillschweigend von der Prämisse auszugehen, dass der Steuerpflichtige das nachträgliche Bekanntwerden der für ihn günstigen Tatsachen und Beweismittel grob fahrlässig verschuldet hat und ihm mithin eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO versperrt bleibt. (2) Die sonstigen Fälle Die Motivation des Steuerpflichtigen, sich die Einspruchsfrist zu erschleichen, erschöpft sich nicht nur in den Fällen vergessener Aufwendungen. In allen Fällen, in denen ein Änderungsbegehren aufgrund eines groben Verschuldens keinen Erfolg verspricht, steht der Adressat eines bestandskräftigen Steuerbescheides vor der Entscheidung, die Bekanntgabe zu leugnen oder tatsächlich nicht gegebene Wiedereinsetzungsgründe zu erfinden. Dem allgemeinen Phänomen „Fristerschleichung“ wird die vorliegende Arbeit noch einmal am Ende des 1. Teils nachgehen.400 Die vorangegangene allgemeine Darstellung zur groben Fahrlässigkeit hat insbesondere die Problematik des dem Steuerpflichtigen zugerechneten Beraterverschuldens aufgezeigt. Danach werden in aller Regel Fehler in der Person des Be 396

BFH, BStBl. II 1988, S. 109. BFH, BStBl. II 2010, S. 531. 398 Das grobe Verschulden muss für das nachträgliche Bekanntwerden der Tatsache ursächlich sein, so u. a. Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 173 Rn. 75. 399 BFH, BStBl. II 1984, S. 2; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 79. 400 Siehe: 3. Abschnitt: Weitere Anlässe zur Begehung einer „Fristerschleichung“ (S. 122). 397

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raters von der Steuerpraxis aufgrund der strengen Sorgfaltsanforderungen nicht verziehen. Konsequenterweise sind diese Konstellationen für die Fälle der „Frist­ erschleichung“ besonders anfällig. cc) Unbeachtlichkeit des groben Verschuldens Eine Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen ist infolge des groben Verschuldens nicht in jedem Fall ausgeschlossen. Das Gesetz selbst hält eine Rückausnahme in § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO bereit. Danach ist ein Verschulden des Steuerpflichtigen hinsichtlich des nachträglichen Bekanntwerdens von für ihn günstigen Tatsachen und Beweismittel unbeachtlich, wenn diese in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit Tatsachen und Beweismitteln im Sinne der Nr. 1 stehen. Da in diesen Fällen bereits eine Änderung zuungunsten des Steuerpflichtigen erfolgt, ist ausnahmsweise der Rechtsrichtigkeit der Besteuerung vor deren Rechtssicherheit Vorrang einzuräumen, wenn sich die günstigen Tatsachen und Beweismittel zumindest mittelbar auf die Besteuerungsgrundlagen beziehen, deretwegen eine Änderung schon nach Nr. 1 eröffnet ist.401 Dieser vom Gesetz geforderte Zusammenhang wird sachlich und nicht bloß zeitlich verstanden. Er soll nach einhelliger Auffassung gegeben sein, wenn der steuer­ erhöhende Vorgang nicht ohne den steuermindernden denkbar ist; sich also beide ursächlich bedingen.402 Dies ist bsplw. dann gegeben, wenn die Finanz­behörde teilweise bisher nicht berücksichtigte Einnahmen aufdeckt und der Steuerpflichtige zugleich darauf entfallene Werbungskosten geltend macht.403 Anders ist hingegen zu entscheiden, wenn der Finanzbehörde erstmals eine vollständige Einkunftsquelle nachträglich bekannt wird, die sowohl aus Einnahmen als auch aus Werbungskosten besteht.404 Hiernach stellt erst der Gesamtsaldo die steuererhebliche (einheitliche) Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 AO dar und nicht die zugrunde liegenden Einzeltatsachen. Ein Änderungsbegehren des Steuerpflichtigen bleibt demnach unerfüllt, wenn die Berücksichtigung eines sich nach der Saldierung ergebenden Verlustes geltend gemacht wird und dem Steuerpflichtigen zugleich ein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden trifft. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn das Finanzamt die Einkünfte des Steuerpflichtigen aus 401

BFH, BStBl. II 1984, S. 48; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 89. BFH, BStBl. II 1986, S. 120; BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 6.1; v. Groll, in: Hübschmann/ Hepp/Spitaler, AO, § 173 Rn. 301; v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, § 173 Rn. 107. 403 Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 91. Für § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 1 AO ist nicht entscheidend, dass auch eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO stattfindet. Stützt die Finanzbehörde die von ihr vorgenommene Korrektur auf eine andere Vorschrift (z. B. § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO), kommt es für die Unbeachtlichkeit des groben Verschuldens alleine auf die Änderbarkeit nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO an. Dazu v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, § 173 Rn. 107.1; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 89. 404 BFH, BStBl. II 1994, S. 346; BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 6.2.; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 89a; v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, § 173 Rn. 111. 402

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einer bestimmten Einkunftsart gemäß § 162 Abs. 2 S. 1 AO geschätzt hat, weil dieser seiner Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung gemäß § 149 Abs. 1 S. 1 AO in Verbindung mit den Einzelsteuergesetzen nicht nachgekommen ist.405 In diesen Fällen erscheint es nämlich genauso wenig gerechtfertigt, die nachträglich bekannt gewordenen Einkünfte in steuererhöhende Einnahmen und steuermindernde Ausgaben aufzuspalten und somit eine günstige Korrektur über die Rückausnahme des § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 2 AO zu erreichen.406 Es soll also – und darauf kommt es wohl im Ergebnis an – nicht derjenige besser gestellt werden, der nicht nur einzelne Tatsachen grob fahrlässig vergisst, sondern gesamte Einkunftsquellen verschweigt oder erst gar keine Steuererklärung abgibt. Ansonsten wäre der Steuerpflichtige bei Zweifeln über die Vollständigkeit seiner Erklärung sinnwidrig daran gehalten, lieber eine grob lückenhafte oder am besten gar keine Erklärung abzu­geben. Ferner wird von der Rechtsprechung und einem Teil der Literatur eine weitere Einschränkung der benannten Rückausnahme vorgenommen, wenn die Entscheidung über die Änderungen zuungunsten des Steuerpflichtigen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO bereits bestandskräftig geworden ist.407 Für den Steuerpflichtigen günstige Tatsachen und Beweismittel seien – trotz eines beachtlichen Verschuldens – nur dann zu berücksichtigen, wenn sie gleichzeitig mit steuererhöhenden Tatsachen bekannt würden; die Bestandskraft des Steuerbescheides also ohnehin (und immer noch) durchbrochen sei. Demgegenüber rechtfertige § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 2 AO keine erneute Durchbrechung der Bestandskraft.408 Findet § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 2 AO dem Grunde nach Anwendung, so ist die Korrektur zugunsten des Steuerpflichtigen nicht auf die Höhe der Änderung zu seinen Ungunsten „gedeckelt“. Das nachträgliche Bekanntwerden nur geringfügig steuer­ erhöhender Tatsachen oder Beweismittel kann, wenn der geforderte sachliche Zu 405

Eine erleichterte Änderbarkeit nach § 164 Abs. 2 S. 1 AO kann sich in diesem Zusammenhang nur durch die Beifügung eines Nachprüfungsvorbehaltes im Schätzungsbescheid ergeben. Dieser soll von der Finanzverwaltung ergehen, wenn zu erwarten ist, dass der Steuerpflichtige nach Erlass des Bescheides die Steuererklärung nachreicht und der Steuerfall abschließend beurteilt werden kann. Dazu BMF AEAO, Zu § 162 Tz. 4. S. 2. Zur Wirkungsweise des Nachprüfungsvorbehaltes siehe: 1. Die endgültige und vorbehaltsversehene Steuerfestsetzung (S. 31). Die Probleme der Änderung treten naturgemäß nicht auf, wenn der noch nicht bestandskräftige Schätzungsbescheid mittels Einspruchs angefochten wird. Infolge der Gesamtaufrollung des Steuerfalles kann der Steuerpflichtige die Erklärung des maßgeblichen Sach­verhaltes dann unproblematisch nachholen. 406 BMF AEAO, Zu § 173 Tz.  6.2. S.  3; v.  Wedelstädt, in Beermann/Gosch, AO, § 173 Rn. 111. 407 BFH, BStBl. 1984 S. 48; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 94. Dagegen wendet sich v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, § 173 Rn. 113 f., mit einem logischen Bruch der Gegenansicht. Denn es werde von keiner Seite bestritten, dass die beiden im Zusammenhang stehenden Änderungen auch unterschiedliche Steuerverwaltungsakte treffen können (so BFH, BStBl. II 2005, S. 89; Frotscher, a. a. O., Rn. 89). In diesen Fällen werde die Änderung des einen Steuerverwaltungsaktes zugunsten des Steuerpflichtigen (Nr. 2) gerade nicht von der Bestandskraft der Änderung des Anderen (Nr. 1) abhängig gemacht. Insofern seien keine Gründe ersichtlich, diejenigen Fälle anders zu beurteilen, in denen nur die Änderung eines einzigen Steuerbescheides anstehe. 408 So ausdrücklich BFH, BStBl. II 1984, S. 48.

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sammenhang besteht, eine erhebliche steuermindernde und damit überschießende Korrektur zugunsten des Steuerpflichtigen ermöglichen.409 Dafür spricht letztlich schon die Existenz des § 177 AO, der eine materielle Rechtsfehlerberichtigung im Rahmen und nur in der Höhe der Änderung nach § 173 AO erlaubt.410 Die hier in Rede stehende Rückausnahme hätte somit bei gegenteiliger Gesetzesauslegung keinen eigenständigen Anwendungsbereich.411 In den Fällen der „Fristerschleichung“ wird es bereits an einem sachlichen Zusammenhang mit steuererhöhenden Tatsachen fehlen. Hat der Steuerpflichtige doch lediglich die Angabe steuermindender Tatsachen vergessen. Somit spielt die vorbenannte Rückausnahme für die hier zu begutachtende Fallgestaltung keine maßgebliche Rolle. Sollte der Steuerpflichtige hingegen keine Steuererklärung abgegeben haben, so wird sich in aller Regel daraus ein grobes Verschulden ergeben. Der daraufhin ergangene und schließlich bestandskräftige Schätzungsbescheid ist entsprechend den obigen Erläuterungen über § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 2 AO nicht zugunsten des Steuerpflichtigen änderbar. Es handelt sich ebenfalls, wie die schon aufgezeigte Zurechnung des Beraterverschuldens, um eine besonders erschleichungsanfällige Fallgestaltung. dd) Beweislast In diesem Zusammenhang stellt sich wiederum die Frage, wer von den Beteiligten für die Nichterweislichkeit des groben Verschuldens einzustehen hat und demnach die objektive Feststellungslast trägt. Nach der bereits angesprochenen Rosenberg’schen Normentheorie ist maßgebend, ob es sich bei der festzustellenden Voraussetzung des groben Verschuldens um eine für den Steuerpflichtigen oder der Finanzbehörde günstige Norm handelt. Ein beachtlicher Teil  der Rechtsprechung als auch der Literatur geht diesbezüglich von einem steuererhöhenden Tatbestandsmerkmal aus, mit der Folge, dass die Finanzbehörde die Feststellungslast trägt und im Falle der Nichterweislichkeit eine Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen stattfindet.412 Zum Teil  wird sogar die widerlegbare Vermutung an 409 BFH, BStBl. II 1984, S. 4; BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 6.1. S. 2; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 173 Rn. 88; v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, § 173 Rn. 109; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 92. 410 Gemäß § 177 Abs. 3 AO fallen darunter alle Fehler, die zur Festsetzung einer Steuer führen, die von der kraft Gesetzes entstandenen Steuer abweicht. Dies umfasst die gesamte objektive Unrichtigkeit und damit auch erst nach der Steuerfestsetzung bekanntgewordene Tat­ sachen, so u. a. der BFH, BStBl. II 1987, S. 297; BMF AEAO, Zu § 177 Tz. 1. S. 3; Koenig, in: Pahlke/Koenig, AO, § 177 Rn. 17. 411 So BFH, BStBl. II 1984, S. 4; Frotscher, in Schwarz, AO, § 173 Rn. 92. 412 BFH, BStBl. II 1993, S. 80; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 173 Rn. 85; v. Groll, in: Hübsch­ mann/Hepp/Spitaler, AO, § 173 Rn.  298; Rüsken, in: Klein, AO, § 173 Rn.  120; wohl auch

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genommen, die Mitwirkungspflichtverletzung beruhe nur auf einfacher Fahrlässigkeit.413 Dies bedarf in Gänze der Präzisierung. Stellt man isoliert auf das Merkmal des „groben Verschuldens“ ab, so wird man geneigt sein, darin einen die Korrektur hindernden Umstand zu erblicken.414 Immerhin knüpft es an eine Pflichtverletzung des Steuerpflichtigen und mithin an ein für ihn nachteiliges Moment an. Dementsprechend würde diese rechtshindernde Voraussetzung – im Einklang mit der oben benannten Ansicht – eine Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen ausschließen und dadurch steuererhöhend wirken. Die Finanzbehörde hätte somit für die Nichterweislichkeit einzustehen. Ganz anders wäre hingegen zu entscheiden, wenn es sich dabei um ein Tatbestandselement handelt, das nachweislich als Anspruchsvoraussetzung ausgestaltet ist. Natürlich fällt es auf den ersten Blick schwer, in diesem nachteilig behafteten Merkmal eine positive Tatbestandsvoraussetzung für die Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen zu erblicken. Allerdings handelt es sich bei genauer Betrachtung um die negative Formulierung, dass den Steuerpflichtigen „kein grobes Verschulden“ treffen darf. Somit sieht das Gesetz ein für den Anspruchssteller (den Steuerpflichtigen) nachteiliges Merkmal (Verschulden) in umgekehrter Richtung vor. Demgemäß könnte der Gesetzgeber die Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen auch folgendermaßen gestaltet haben: Der Ausschlusstatbestand des groben Verschuldens, dessen Nichterweislichkeit grundsätzlich die Finanzbehörde zu tragen hätte, wird den Anspruchsvoraussetzungen unterstellt, indem eine Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen nur dann anzunehmen ist, wenn ihn zusätzlich zu den weiteren Voraussetzungen kein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden trifft.415 Dem Steuerpflichtigen wird damit nicht etwa der Beweis einer Negativtatsache aufgebürdet416, sondern das Gesetz enthält mit dieser Wendung vielmehr eine Beweislastregelung.417 Nach dieser Lesart des § 173 Abs.  1 Nr. 1 S. 1 AO handelt es sich um einen einheitlichen Anspruchs­tatbestand, der insgesamt erst eine Änderung ermöglicht, wenn alle seine Merkmale mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen; und dazu gehört demzufolge auch die Überzeugung, dass der Steuerpflichtige das nachträgliche Bekanntwerden nicht grob schuldhaft – also nur infolge einfacher Fahrlässigkeit – verursacht hat. Koenig, in: Pahlke/Koenig, AO, § 173 Rn.  171, der aber eine Darlegungspflicht des Steuer­ pflichtigen fordert. 413 BFH, BStBl. II 1993, S. 80; ihm folgend Koenig, in: Pahlke/Koenig, AO, § 173 Rn. 171. Kritisch dazu v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, § 173 Rn. 105. 414 v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 173 Rn. 298 415 So im Ergebnis auch BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 5.1. S. 4; v. Wedelstädt, in: Beermann/ Gosch, AO, § 173 Rn. 105; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 88. 416 So aber Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 173 Rn. 85. 417 Zu dieser Technik des Gesetzgebers Rosenberg, Die Beweislast, S. 208 ff.: „[…] die Methode, gewisse Momente aus der Regelnorm auszuschneiden und in Form des Gegenteils zu Voraussetzungen einer Ausnahmenorm zu machen […]“. Hier liegt nur der umgekehrte Fall vor, in dem ein Merkmal (Moment) einer rechtshindernden Ausnahmenorm zu einem negativ formulierten Merkmal einer anspruchsbegründenden Regelnorm gemacht wird.

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Für ein Gesetzesverständnis im letztgenannten Sinn sprechen gewichtige Gründe. Schon der Wortlaut deutet auf einen einheitlichen Anspruchstatbestand hin, indem beide Voraussetzungen gleichwertig durch ein „und“ verbunden sind. Die sonst für rechtshindernde Normen geläufige Einleitung wie „wenn nicht“, „sofern nicht“ oder „ausgeschlossen ist“ fehlt ersichtlich.418 Nicht zuletzt zeigt auch der Gesetzgeber, dass er alle in Nr. 2 S. 1 genannten Voraussetzungen einheitlich verstanden wissen will. Zum einen wird das grobe Verschulden in den Gesetzesmaterialien nicht ausdrücklich von den positiven Änderungsvoraussetzungen getrennt, sondern ersichtlich in Bezug zur Anspruchsbegründung gesetzt.419 Zum anderen wird die im Vergleich zu § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zusätzliche Voraussetzung des groben Verschuldens von dem Gesetzgeber damit begründet, dass „die steuerlich relevanten Tatsachen oder Beweismittel zum Verantwortungsbereich des Steuerpflichtigen gehören und von ihm rechtzeitig vorgebracht werden müssen“420. Der Gesetzgeber hat demnach die Korrekturvorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO verschärft, weil der Steuerpflichtige in der Vergangenheit zu Unrecht passiv geblieben ist. Nun wirkt es allerdings widersprüchlich und mit der gesetzlichen Intention nicht vereinbar, wenn sich der Steuerpflichtige bei den Voraussetzungen des groben Verschuldens nun aus einer weiteren Passivität einen Vorteil verschaffen könnte und zwar bezüglich derjenigen Tatsachen, die wiederum alleine in seiner Sphäre liegen421. Der Steuer­ pflichtige wäre in einem Fall des groben Verschuldens ansonsten gut beraten, den für ihn ungünstigen Sachverhalt zu verschleiern und darauf zu hoffen, dass auch der Finanzbehörde eine Aufklärung misslingt. Wesentliche Gründe sprechen somit für eine Feststellungslast auf Seiten des Steuerpflichtigen. Nach diesen Überlegungen kann die teilweise von der Rechtsprechung vertretene widerlegbare Vermutung zugunsten einer einfachen Fahrlässigkeit ebenfalls keinen Bestand haben. Weder die Gesetzesmaterialien noch die dem Steuerpflichtigen im Änderungsverfahren zukommende Stellung legen diesen pauschalen Schluss nahe.422 Doch selbst nach der gegenteiligen Auffassung, die also der Finanzbehörde die objektive Feststellungslast aufbürdet, wird es in vielen Fällen ebenfalls nicht zu einer unberechtigten Privilegierung des Steuerpflichtigen kommen. Ob die Finanz­ behörde wirklich zu einer „Nichterweislichkeit“ des groben Verschuldens gelangt, ist erst nach Ausschöpfung aller ihr zur Verfügung stehenden Mittel der Sachaufklärung zu beantworten. Zentrales Beweismittel wird in diesem Fall wiederum der 418 Ausführlich zur mitunter schwierigen Abgrenzung von rechtshindernden und rechtsbegründenden Normen vgl. Rosenberg, Die Beweislast, S. 122 ff. 419 BT-Drucks. VI/1982, Zu § 154, S. 153: „Absatz 1 Nr. 2 trifft eine entsprechende Regelung [wie Abs. 1 Nr. 1, Anm. des Verf.], wenn neue Tatsachen oder Beweismittel, die zu einer niedrigeren Steuer führen, bekanntwerden. Allerdings darf den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran treffen, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.“ 420 BT-Drucks. VI/1982, Zu § 154, S. 153. 421 Diese „Sphärenverantwortlichkeit“ erkennt auch Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 88 und leitet daraus die Feststellungslast des Steuerpflichtigen ab. 422 Ähnlich kritisch v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, § 173 Rn. 105.

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Steuerpflichtige sein, der erneut zur Mitwirkung hinsichtlich der aufzuklärenden Tatsachen angehalten ist.423 Kommt er seiner Aufgabe wiederum nicht in dem gebotenen Umfang nach, sind bsplw. seine Angaben unschlüssig, so wird dieses oder ein ähnliches das grobe Verschulden verschleiernde Verhalten zu einer bereits angesprochenen Beweismaßreduzierung zuungunsten des Steuerpflichtigen424 führen. Die Finanzbehörde wird dann bereits infolge hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem groben Verschulden gelangen.425 Dabei wird es der Finanzbehörde im Rahmen der ihr obliegenden Überzeugungsbildung nicht verwehrt sein, aus der erneuten Mitwirkungspflichtverletzung nachteilige Schlüsse zu ziehen. Dem Steuer­ pflichtigen ist daher generell nicht anzuraten, sich alleine auf die Nichterweislichkeit eines groben Verschuldens zu verlassen. d) Die „Fristerschleichung“ Nach Abschluss der Überlegungen zur Änderung einer zu hohen Steuerfestsetzung durch nachträgliche Anerkennung von Minderungsgründen muss noch einmal die Situation nach einer erfolgten „Fristerschleichung“ in den Blick genommen und nach einer Anwendung des § 173 AO gefragt werden. aa) Der Grundfall Der Änderungstatbestand des § 173 Abs.  1 AO ist in den Fällen der „Frist­ erschleichung“ nicht nur in Anbetracht einer Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen von Belang. Hat sich der Steuerpflichtige dafür entschieden, die Bekanntgabe des rechtswidrigen Steuerbescheides zu leugnen und sodann gegen den inhaltsgleichen Zweitbescheid mittels Einspruchs vorzugehen, steht neben § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2c) AO426 auch eine Änderung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO im Raum. Sowohl der Zweitbescheid als auch der daraufhin ergangene und diesen ändernde Einspruchs- bzw. Abhilfebescheid können zuungunsten des Steuerpflichtigen aufgehoben werden. Die nachträglich bekannt gewordene Tatsache ist hier darin zu erblicken, dass dem Steuerpflichtigen der Erstbescheid wirksam bekannt gegeben wurde. Diese Tatsache erfährt die Finanzbehörde erst nachträglich, nachdem sie den inhaltsgleichen Zweitbescheid schon erlassen und dieser im Einspruchsverfahren zugunsten des Steuerpflichtigen auf die materiell zutreffende Steuer geändert wurde. Maß 423 Es gelten auch im Änderungsverfahren die allgemeinen Vorschriften der Sachaufklärung und Mitwirkung gemäß §§ 85 ff. AO, so u. a. v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 173 Rn. 373. 424 Siehe: 2. Die Durchführung (S. 19 ff.). 425 Dazu grds. BFH/NV 2007, S. 395 ff., S. 646 f. jeweils eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO betreffend. So i.E. auch Koenig, in: Pahlke/Koenig, AO, § 173 Rn. 171. 426 Siehe bereits: aa) Der Grundfall (S. 87).

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geblicher Zeitpunkt für die in Rede stehende Nachträglichkeit ist somit zum einen die Verfügung des für den Steuerfall zuständigen Sachbearbeiters, einen inhaltsgleichen Steuerbescheid (Zweitbescheid) bekannt zu geben, und zum anderen die abschließende Zeichnung der Einspruchs- bzw. Abhilfeentscheidung.427 Ferner ist die Existenz eines bereits wirksamen Steuerbescheides eine rechtserhebliche Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO, da sie den Erlass eines erneuten Steuer­ bescheides, über dessen Regelungsbereich die Finanzbehörde bereits eine bestandskräftige Festsetzung getroffen hat, verhinderte hätte.428 Dieser Tat­sache ist auch eine steuererhöhende Wirkung beizumessen. Schließlich hätte die Finanzbehörde bei Kenntnis des existierenden Erstbescheides keine erneute und mittels Einspruchs- bzw. Abhilfebescheides auch geringere Steuerfestsetzung treffen dürfen. Diesbezüglich muss es für die Annahme einer steuererhöhenden und mithin rechtserheblichen Wirkung des Zweitbescheides genügen, dass dieser zumindest mittelbar eine erneute für den Steuerpflichtigen günstige Änderung über das Einspruchsverfahren ermöglicht hat. Denn eine für den Steuerpflichtigen günstige Änderung des Erstbescheides käme bei der „Fristerschleichung“ gerade nicht in Betracht, da dieser das nachträgliche Bekanntwerden der vergessenen Aufwendungen grob fahrlässig verschuldet hat. Auch in diesem Fall ergibt sich die Rechtswidrigkeit der aufzuhebenden Steuerbescheide schließlich aus dem Umstand, dass die Finanzbehörde infolge der bereits bestehenden Steuerfestsetzung keine weitere Regelung in derselben Steuersache hätte treffen dürfen. Ein Ermessen steht der Finanzbehörde schon nach dem Wortlaut des § 173 Abs. 1 AO nicht zu, so dass eine Aufhebung der benannten Steuerbescheide zwingend erfolgen muss.429 Etwas anderes kann – wie bereits geschildert – nur bei eingetretener Festsetzungs­ verjährung gelten. Soweit sich in diesen Fällen eine Aufhebung des Zweitbe­schei­ des verbietet, bleiben beide Steuerfestsetzungen über denselben Steueranspruch wirksam. Die Finanzbehörde ist dann allerdings berechtigt, die Zahlung der überschießenden Forderung aus dem weiterhin wirksamen Erstbescheid zu verlangen.430 bb) Die „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ Nichts anderes hat auch dann zu gelten, wenn der Steuerpflichtige nicht den Bestand des Erstbescheides in Zweifel zieht, sondern eine nicht berechtigte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 AO bewirkt.431 In diesen Fällen sind die nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen schlichtweg darin zu erblicken, dass die vom Steuerpflichtigen vorgebrachten und zu einer Wiedereinsetzung füh 427

Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 45. Dazu siehe bereits: aa) Der Grundfall (S. 87). 429 BFH, BStBl. II 1985, S. 660; v. Wedelstädt, in: Beermann/Gosch, AO, § 173 Rn. 152. 430 Siehe: aa) Der Grundfall (S. 90) a. E. 431 Zu dieser Konstellation im Zusammenhang mit einer Änderung nach § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2c) AO siehe bereits: bb) Die „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ (S. 90). 428

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renden Tatsachen in Wirklichkeit nicht vorgelegen haben. Maßgeblicher Zeitpunkt stellt in dieser Fallgestaltung allein die abschließende Zeichnung der Einspruchsbzw. Abhilfeentscheidung dar, weil nur dieser Steuerverwaltungsakt aufzuheben ist. Schließlich handelt es sich dabei ebenfalls um rechtserhebliche Tatsachen, die zu einer Steuererhöhung führen. Denn ohne die vom Steuerpflichtigen erschlichene Wiedereinsetzung wäre es nicht zu einer Gesamtaufrollung des Steuerfalles nebst Herabsetzung auf die materiell zutreffende Steuerhöhe gekommen. Auch hiernach kommt, jedenfalls solange die Festsetzungsverjährung nicht eingetreten ist, als Rechtsfolge nur die Aufhebung des aufgrund der falschen Tatsachen erlangten Einspruchs- bzw. Abhilfebescheides in Betracht. Ist demgegenüber schon die Festsetzungsverjährung eingetreten, scheidet eine Realisierung der überschießenden Steuerforderung mangels Änderbarkeit des erschlichenen Steuerbescheides insgesamt aus.432 IV. Berichtigung offenbarer Unrichtigkeiten gemäß § 129 AO Neben den bereits erläuterten besonderen Korrekturvorschriften der §§ 172 ff. AO für besondere Steuerverwaltungsakte, insbesondere Steuerbescheide gemäß § 155 Abs.  1 S.  1 AO, bleibt für alle Steuerverwaltungsakte eine Berichtigung gemäß § 129 S. 1 AO anwendbar, wenn der Finanzbehörde bei ihrem Erlass Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten unterlaufen sind.433 Als Unrichtigkeit in diesem Sinne kommen neben den genannten Rechen- und Schreibfehlern nur sonstige (ähnliche) rein mechanische Fehler in Betracht, die weder in einer unzureichenden Sachverhaltsermittlung bzw. Tatsachenwürdigung, noch in einer falschen Gesetzesanwendung liegen.434 Offenbar ist die Unrichtigkeit nicht erst, wenn der Adressat den Fehler erkennen konnte, sondern wenn er bei Offenlegung des Sachverhaltes – insbesondere anhand der finanzbehördlichen Steuerakten – für die Beteiligten klar und eindeutig erkennbar ist.435 Eine weitergehende Auseinandersetzung mit den Berichtigungsvoraussetzungen und der Frage, ob hierdurch eine Durchbrechung der materiellen Bestandskraft oder nur eine Änderung des äußeren Erscheinungsbildes des Verwaltungsaktes verbunden ist,436 bedarf es allerdings schon deswegen nicht, weil § 129 AO in den Fällen der „Fristerschleichung“ in aller Regel nicht einschlägig sein wird. Schon der 432

Warum dies letztlich ein allgemeines Problem der Steuerhinterziehung ist, siehe unter: bb) Die „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ (S. 90) a. E. 433 Siehe die Nachweise in Fn. 298. 434 Allg.M., so u. a. BFH, BStBl.  II  1992, S.  52; zuletzt BFH/NV 2003, S.  1139 f.; 2009, S. 1394 ff.; 2010, S. 2004 ff.; Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 129 Rn. 9, 39; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 129 Rn. 4; Pahlke, in: Pahlke/Koenig, AO, § 129 Rn. 33 ff.; Brockmeyer/Ratschow, in: Klein, AO, § 129 Rn. 12. 435 Siehe nur BFH/NV 2010, S. 2004 ff. m. w. N. 436 Dies wird in Rspr. und Literatur unterschiedlich beurteilt, siehe zum Streitstand Fn. 294.

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Wortlaut „beim Erlass des Verwaltungsaktes“ erfordert, dass die offenbare Unrichtigkeit nicht dem Steuerpflichtigen, sondern ausschließlich der Finanzbehörde unterlaufen sein muss.437 Das Vergessen von Werbungskosten oder Betriebsausgaben durch den Steuerpflichtigen fällt daher schon nicht in den Anwendungsbereich der Berichtigungsnorm. Nach ganz herrschender Ansicht kann sich bei Fehlern des Steuerpflichtigen eine Unrichtigkeit im Sinne des § 129 S. 1 AO nur ausnahmsweise dadurch ergeben, dass die Finanzbehörde eine in der Steuererklärung enthaltene offenbare Unrichtigkeit als eigene in den Verwaltungsakt übernimmt.438 Ein solcher Übernahmefehler liege allerdings nur dann vor, wenn die von der Finanzbehörde letztlich übernommene Unrichtigkeit bereits aus der Steuererklärung oder den beigefügten Unterlagen ohne Weiteres erkennbar sei.439 Überträgt man diese Grundsätze auf die „Fristerschleichung“, dann lässt sich nahezu vollständig ausschließen, dass vergessene Steuerminderungsgründe in der Steuererklärung eine offenbare Unrichtigkeit durch bedenkenlose Übernahme seitens der Finanzbehörde darstellen können. Selbst wenn man in diesen Fällen davon ausgeht, dass eine offenbare Unrichtigkeit – hier anfänglich beim Steuerpflichtigen – auch bei Vergessen bzw. Übersehen von Tatsachen vorliegen kann,440 werden diese der Finanz­ behörde nur äußerst selten offen zu Tage treten. Handelt es sich nämlich um derart offensichtliche Werbungskosten und Betriebsausgaben, die also selbst einem Dritten mühelos ins Auge springen, so wird sich häufig auch der Steuerpflichtige wieder an sie erinnern und seiner Erklärung hinzufügen. Nur in wenigen Ausnahmefällen wird man daher der Finanzbehörde einen Übernahmefehler vorwerfen können.

D. Erlass aus Billigkeitsgründen Kann die rechtswidrige, gemessen am materiellen Recht, zu hohe Steuerfestsetzung nicht mehr auf regulärem Weg über das Einspruchs- oder Änderungsverfahren korrigiert werden, bleibt letzten Endes nur der Billigkeitserlass gemäß § 227 437

So schon die Gesetzesbegründung BT-Drucks.  7/4292, S.  29 und ganz h. M. BFH, BStBl. II 1987, S. 762; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 129 Rn. 14; Wernsmann, in: Hübschmann/ Hepp/Spitaler, AO, § 129 Rn. 74; Pahlke, in: Pahlke/Koenig, AO, § 129 Rn. 45 f. Im Fall von Steueranmeldungen, die gemäß § 168 S. 1 AO einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleichstehen, muss nach umstrittener Auffassung etwas anderes gelten. Da allerdings eine Steueranmeldung bereits über §§ 168 S. 1, 164 Abs. 2 AO ohne besondere Voraussetzungen änderbar ist, stellt sich ein Problem in diesen Fällen nicht; vgl. Wernsmann, in: Hübsch­ mann/Hepp/Spitaler, AO, § 129 Rn. 2. 438 BFH, BStBl.  II  1984, S.  785; Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 129 Rn. 75 m. w. N. 439 U. a. BFH, BStBl. II 1972, S. 550. 440 Es muss sich dabei aber um eine „mechanische Nichtberücksichtigung“ handeln, die gerade keinen Fehler im Bereich des Denkens und Überlegens darstellt, vgl. BFH, BStBl. II 1984, S. 785 m. w. N.; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 129 Rn. 11. Dies könnte für den Steuerpflichtigen bsplw. vorliegen, wenn er die relevanten Werbungskosten aus seinen Kontoauszügen in die Erklärung überträgt und dabei einen einzelnen Posten übersieht.

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AO. Es handelt sich dabei neben den §§ 163, 222 AO um eine Vorschrift, die auf die Durchsetzung von Einzelfallgerechtigkeit gerichtet ist und mithin im diametralen Gegensatz zum ansonsten starren Gesetzesvollzug des Steuerrechts steht.441 In Abgrenzung zur fast inhaltsgleichen abweichenden Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 S. 1 AO findet der Billigkeitserlass nach § 227 AO erst im Erhebungsverfahren Anwendung. Beide Institute unterscheiden sich daher grundsätzlich in der zeitlichen Abfolge des Steuerverfahrens (Festsetzungsverfahren und Erhebungsverfahren), je nachdem, wann die Finanzbehörde über die Billigkeitsmaßnahme zu entscheiden hat.442 Ferner greift der Billigkeitserlass nach § 227 AO im Unterschied zur Steuerstundung gemäß § 222 AO und dem Vollstreckungsaufschub gemäß § 258 AO nur dann Platz, wenn die der Steuereinziehung entgegenstehende Unbilligkeit von dauerhafter Natur ist.443 I. Die sachliche Unbilligkeit Nach § 227 AO kann ein Anspruch aus dem Steuerverhältnis ganz oder zum Teil erlassen werden, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Allgemein sollen durch den unbestimmten Rechtsbegriff444 „Billigkeit“ bzw. – entsprechend der Verwendung in § 227 AO – „Unbilligkeit“ diejenigen unvorhergesehenen und ungewollten Härten ausgeglichen werden, die durch eine generalisierende Gesetzesanwendung im Bereich des Steuerrechts entstehen und sich auch nicht über eine Rechtsfortbildung lösen lassen.445 Der Billigkeitserlass als Steuerdispens dient damit dem Ausgleich eines gesetzlichen Ergebnisses, dass in dem konkreten Ausmaß vom Gesetzgeber nicht vorhergesehen wurde und letztlich (mutmaßlich) von ihm auch nicht gewollt ist. Mit der finanzgerichtlichen Rechtsprechung ist konkret danach zu fragen, ob nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass dieser die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage – hätte er sie geregelt – im Sinne der 441

BFH, BStBl. II 1994, S. 833; v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 163 Rn. 20 ff. BMF AEAO, Zu § 163 Tz. 1.; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 163 Rn. 1. 443 Frotscher, in: Schwarz, AO, § 163 Rn. 1. 444 So auch in der Entscheidung des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmS-OGB), BStBl. II 1972 S. 603 (zu § 131 RAO). Es handele sich demnach um eine sog. Koppelungsvorschrift, die auf der Tatbestandsseite einen unbestimmten Rechtsbegriff und auf Rechtsfolgenseite eine Ermessensermächtigung enthalte; dazu Seer, in: Tipke/Lang, Steuer­ recht, § 21 Rn. 331. Allerdings führt dies nach Ansicht der obergerichtlichen Rspr. (GmS-OGB, a. a. O.) dennoch nicht zu einer vollständigen gerichtlichen Überprüfbarkeit des Merkmals „unbillig“. Vielmehr bilde der Tatbestand des § 227 AO sowie § 163 AO (vormals § 131 RAO) eine „einheitliche Ermessensvorschrift“ (GmS-OGB, a. a. O., S. 608; ausdrücklich zu § 227 AO BFH, BStBl. II 1990, S. 673), so dass der Exekutive auch hinsichtlich der einzigen Tatbestandsvoraussetzung ein gerichtlich nur auf Ermessensfehler hin überprüfbarer Entscheidungsspielraum verbleibe. Dabei bestimme die Unbilligkeit zugleich Inhalt und Grenzen der Ermessensausübung (GmS-OGB, a. a. O., S. 607). Kritisch dazu Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 227 Rn. 20 ff. 445 BVerfGE 48, S. 102 (zu § 131 RAO); Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 329 f. 442

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

beabsichtigten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte (sog. sachliche Unbilligkeit).446 Einer Klarstellung bedarf es nach überwiegender Meinung in der Literatur in Bezug auf den Maßstab der hypothetischen gesetzlichen Regelung. Entscheidend sei nicht der vermeintliche Wille des damaligen Gesetzgebers, sondern die dem jeweiligen Steuergesetz objektiv zum Ausdruck gekommene und durch Auslegung ermittelte Wertentscheidung.447 Ziel der Auslegung sei demzufolge nicht der Wille des konkreten Gesetzgebers, sondern des Gesetzes selbst (sog. objektive Auslegungstheorie).448 Die Konsequenzen dieses Streitpunktes sind letztlich gering449, denn auch der Bundesfinanzhof hat sich ausdrücklich zur Maßgeblichkeit eines objektiven Gesetzesverständnisses bekannt.450 Die von der Rechtsprechung betonte Anknüpfung an den gesetzgeberischen Willen soll  – ungeachtet dieses Grundverständnisses – vornehmlich verhindern, dass ausdrücklich im Gesetz vorgesehene, aber allgemein als „ungerecht“ empfundene Härten über die Billigkeitskorrektur leer liefen.451 Diese Ängste sind letztlich unberechtigt. Auch nach Auffassung der Literatur bleibt ein Billigkeitserlass versperrt, wenn lediglich unerwünschte rechtspolitische „Fehler“ eines Gesetzes korrigiert werden sollen.452 Die allgemeine Darstellung zur sachlichen Unbilligkeit zeigt schon, dass Ausgangspunkt einer Billigkeitsentscheidung stets die richtige Gesetzesanwendung ist, die dann unter besonderer Berücksichtigung des Einzelfalles korrigiert werden soll. 446

BFH, BStBl. III 1959, S. 11 (zu § 131 RAO); BStBl. II 1997, S. 716. Zum Teil wird vom BFH, u. a. in BStBl. 1977, S. 84, ein sachlicher Billigkeitsgrund dann angenommen, wenn „die Besteuerung eines Sachverhaltes, der unter einen gesetzlichen Besteuerungstatbestand fällt, im Einzelfall mit dem Sinn und Zweck des Steuergesetzes nicht vereinbar ist, wenn also ein Überhang des gesetzlichen Tatbestandes über die Wertungen des Gesetzgebers feststellbar ist und der Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, die Besteuerung aber den gesetzlichen Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft“. Unterschiede sind damit nicht verbunden, so ausdrücklich BFH/NV 1990, S. 376 f. 447 Sehr kritisch zur Bestimmung der sachlichen Billigkeit auf der Grundlage der subjektiven Auslegungstheorie Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 227 Rn.  41; ihm zustimmend v.  Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 227 Rn. 127. Zur Modifizierung der Rechtsprechung Frotscher, in: Schwarz, AO, § 163 Rn. 16 ff.; Rüsken, in: Klein, AO, § 163 Rn. 32. 448 Vgl. diesbezüglich auch das BVerfG, BVerfGE 48, S. 102 (zu § 131 RAO), wenn es im Zusammenhang mit der oben beschriebenen Formel von einem „zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers“ spricht. Zum „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ und damit zur objektiven Auslegungstheorie siehe BVerfGE 1, S. 299 (stetige Rspr.). Natürlich können bei der am objektiven Gesetzessinn ausgerichteten Auslegung auch die Gesetzesmaterialen und mithin der damalige Wille des Gesetzgebers jedenfalls dann herangezogen werden (historische Auslegung), wenn dieser „in dem Gesetz selbst einen hinreichend bestimmten Ausdruck gefunden hat“, so BVerfGE 11, S. 126 [130]. 449 Nach v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 227 Rn. 127, sind die unterschiedlichen Auslegungstheorien bisher nicht entscheidungserheblich geworden. 450 Allgemein: BFH, BStBl. III 1958, S. 207; BStBl. III 1963, S. 464; speziell zum § 227 AO: BFH, BStBl. II 1988, S. 561; BStBl. II 1994, S. 131. 451 So u. a. BFH, BStBl. II 1988, S. 561. 452 Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 227 Rn. 44; v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 227 Rn. 128; Stöcker, in: Beermann/Gosch, AO, § 227 Rn. 78; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 163 Rn. 18; Fritsch, in: Pahlke/Koenig, AO, § 227 Rn. 13; Rüsken, in: Klein, AO, § 163 Rn. 35.

2. Abschn.: Die Änderung einer endgültigen Steuerfestsetzung

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Eine rechtswidrige Anwendung der Steuergesetze, die ohnehin vom Gesetzgeber nicht gewollt ist, muss demgegenüber dem Rechtsbehelfsverfahren vorbehalten bleiben. Es handelt sich insofern um eine ausdrückliche Wertentscheidung des Gesetzgebers, die insbesondere in den §§ 110, 172 Abs. 1 Nr. 2a) – 2. Hs., 173 Abs. 1 Nr. 2, 355 Abs. 1 S. 1 AO ihren Niederschlag gefunden hat, dass der Steuerpflichtige für diejenigen Nachteile einstehen muss, die durch ein Verstreichenlassen der ihm eingeräumten Rechtsbehelfsfristen eintreten.453 Der Steuerpflichtige kann demnach in aller Regel im Erlassverfahren gemäß § 227 AO nicht mehr mit Einwänden gehört werden, die nur die Rechtmäßigkeit des Steuerbescheides betreffen.454 Billigkeitserlass und Bestandskraftdurchbrechung sind folgerichtig zwei wesensverschiedene Rechtsinstitute, die unterschiedlich voneinander beurteilt werden müssen.455 Eine Durchbrechung dieser Trennung kann es zugunsten eines Erlasses nach einhelliger Auffassung nur ausnahmsweise dann geben, wenn der bestandskräftige Steuerbescheid geradezu offensichtlich rechtswidrig ist, damit in grober Weise gegen das Rechtsstaatsprinzip verstößt, und der Steuerpflichtige dazu selbst nicht wesentlich beigetragen hat;456 es ihm insbesondere nicht möglich und zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit zu wehren.457 Hierbei wird die Berufung auf eine fehlende Mitverursachung des Steuerpflichtigen unter dem Blickwinkel von Treu und Glauben und dem Vertrauensschutz regelmäßig Gehör finden, wenn die Finanzbehörde unrichtige Auskünfte erteilt hat, gegen ihre Hinweispflichten verstoßen hat oder die Bestandskraft des Steuerbescheides nur deswegen eingetreten ist, weil dem Steuerpflichtigen geraten wurde, kein Rechtsbehelf einzulegen, um damit den „Weg für den Billigkeitserlass frei zu machen“.458 Demgegenüber wird ein Billigkeitserlass durch eine schuldhafte Mitwirkungspflichtverletzung des Steuerpflichtigen im Rahmen der Steuererklärung, sowie einer selbstverschuldeten Versäumnis der Rechtsbehelfsfrist in aller Regel ausgeschlossen sein.459 Nicht zuletzt wird dem Steuerpflichtigen auch hiernach das Verschulden seines steuerlichen Beraters wie eigenes zugerechnet.460 Es gelten demnach die zu § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO entwickelten Grundsätze. 453

Siehe nur BFH/NV 2011, S. 561 ff. m. w. N. aus der Rspr.; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 173 Rn. 5a u. § 163 Rn. 18 ff. [19]; v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 227 Rn. 163, 173. 454 BFH, BStBl. II 1975, S. 789. 455 BFH/NV 1989, S. 432; BFH/NV 1992, S. 692. 456 BFH, BStBl. III 1963, S. 150; BFH/NV 1998, S. 935 ff.; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 227 Rn. 46 ff.; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 227 Rn. 6; v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 227 Rn. 173 f.; Stöcker, in: Beermann/Gosch, AO, § 227 Rn. 22 ff. Eine abweichende Auffassung vertritt Gröpl, DStZ 2002, S. 706 ff., indem er eine verfassungskonforme Auslegung des § 227 AO vorschlägt. Eine bestandskräftige Steuerfestsetzung sei auch trotz eines entgegenstehenden Verschuldens sachlich unbillig, wenn der rechtswidrige Teil der verlangten Steuer ein von Verfassung wegen nicht mehr erträgliches Ausmaß annehme (Gröpl, a. a. O., S. 710 ff.). 457 BFH, BStBl.  II  1981, S.  611; BStBl.  II  1988, S.  512. Zuletzt u. a. BFH/NV 2009, S. 174 ff.; 2011, S. 561 ff. 458 Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 227 Rn. 49. 459 Siehe Fn. 457. 460 BFH/NV 2004, S. 1505 ff.

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

In den Fällen der „Fristerschleichung“, bei denen sowohl eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 AO als auch eine Änderung des Steuerbescheides gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO wegen eines dem Steuerpflichtigen anzulastenden Verschuldens nicht in Betracht kommt, wird letztlich auch der begehrte Billig­ keitserlass aus denselben Gründen ausgeschlossen sein. In diesen Fällen besteht kein Anlass, von der auch gesetzgeberisch gewollten Rechtssicherheit zugunsten der im Einzelfall geltenden Rechtsrichtigkeit wieder abzurücken. II. Die persönliche Unbilligkeit Nicht anders ist im Ergebnis zu entscheiden, wenn man auf die zweite Aus­ prägung der Billigkeit abstellt. Denn neben einer rein am Steuergesetz ausgerichteten (sachlichen) Billigkeit, kann eine korrekte Besteuerung auch dann in eine unbillige umschlagen, wenn sie eine wirtschaftliche Gefährdung des Steuerpflichtigen mit sich bringt (sog. persönliche Billigkeit). Schließlich muss eine nach Maßgabe des Art.  3 Abs.  1 GG gleichmäßige und aus diesem Grunde auch gerechte Besteuerung an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen orientiert sein.461 Eine wirtschaftliche Überforderung „durch Besteuerung“ dürfte sich nämlich nach diesem Maßstab gar nicht erst ergeben. Diejenigen Einzelfälle, in denen dies wider Erwarten doch geschieht, wecken ebenfalls ein Korrekturbedürfnis. Ein Billigkeitserlass kommt aus persönlichen Gründen des Steuer­ pflichtigen daher zur Anwendung, wenn seine Leistungsfähigkeit, entgegen der gesetzlichen Erwartung, so sehr herabgemindert ist, dass ihm eine volle steuerliche Belastung nicht mehr zugemutet werden kann.462 Dies setzt nach allgemeiner Ansicht zum einen Erlassbedürftigkeit und zum anderen Erlasswürdigkeit voraus.463 Erlassbedürftig ist der Steuerpflichtige, dessen wirtschaftliche oder persönliche Existenz gefährdet ist; also der notwendige Lebensunterhalt ohne die angestrebte Billigkeitsmaßnahme vorübergehend oder dauernd nicht mehr bestritten oder die Erwerbstätigkeit nicht mehr fortgesetzt werden kann.464 Von der ober­ gerichtlichen Rechtsprechung und einem Teil der Literatur wird gefordert, dass die wirtschaftliche Überforderung erst durch die Einziehung der Steuer droht.465 Auf-

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Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 339; BVerfGE 61, S. 319 [343 f.]. Zum Zusammenspiel zwischen sachlicher und persönlicher Billigkeit im Bereich der direkten Steuerarten, deren jeweilige Tatbestände sich schon direkt an die Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen anknüpfen, Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 227 Rn. 88. 462 Frotscher, in: Schwarz, AO, § 227 Rn. 51. 463 So u. a. BFH, BStBl. II 1987, S. 612; Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 227 Rn. 86; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 163 Rn. 51 ff.; Stöcker, in: Beermann/Gosch, AO, § 227 Rn. 44 ff. Dazu insgesamt Farr, Paradigmenwechsel beim Steuererlass, S. 34 ff. 464 BFH, BStBl. II 1981, S. 726. 465 Zurückgehend wohl auf BFH, BStBl.  II  1972, S.  649: „Diese Verhältnisse [Notlage der Steuerpflichtigen, Anm.  des Verf.] sind aber durch die Steuerfestsetzung selbst nicht verursacht  […]. Der Steuergläubiger ist also nur einer von mehreren Gläubigern der Klä-

2. Abschn.: Die Änderung einer endgültigen Steuerfestsetzung

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grund dieser geforderten Ursächlichkeit zwischen Steuerfestsetzung und Existenzgefährdung ist der Billigkeitserlass jedenfalls bei schon manifestierter Überforderung ausgeschlossen.466 Erlasswürdig ist des Weiteren nur der Steuerpflichtige, der seine mangelnde Leistungsfähigkeit nicht selbst herbeigeführt oder durch sein Verhalten nicht in ein­deutiger Weise gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen hat.467 Auch wenn hinsichtlich der Frage nach der Erlassbedürftigkeit für die „Fristerschleichung“ keine allgemeingültige Aussage getroffen werden kann, schließlich knüpft sie an die spezifischen wirtschaftlichen Verhältnisse des jeweiligen Steuer­ pflichtigen an, wird man jedoch, was die Erlasswürdigkeit anbelangt, auch hier wiederum auf das Verschulden des Steuerpflichtigen abstellen müssen. Zumindest dann, wenn die wirtschaftliche Existenzgefährdung vornehmlich dadurch entstanden ist, dass der Steuerpflichtige im Vorfeld der Veranlagung seiner Erklärungspflicht nur unzureichend nachgekommen ist und es dazu noch versäumt hat, die rechtswidrige Steuerforderung anzugreifen.468 Auch hierüber lässt sich eine Durchbrechung der Bestandskraft zugunsten der Einzelfallgerechtigkeit in aller Regel nicht begründen.469 Diese Überlegungen dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Fälle vergessener Aufwendungen nur in den seltensten Fällen mit einer wirtschaftlichen Überforderung des Steuerpflichtigen einhergehen. In der Regel wird der Steuerpflichtige eine wesentlich höhere Sorgfalt bei der Erfüllung seiner steuerlichen Pflichten und Obliegenheiten an den Tag legen, wenn es ihm finanziell buchstäblich „an den Kragen“ geht. Zumindest in der Steuerpraxis wird die persönliche Unbilligkeit daher wohl keine maßgebliche Rolle für die „Fristerschleichung“ spielen.

ger [Steuerpflichtigen, Anm.  des Verf.] und unter diesen nicht derjenige, der die Existenzgefährdung der Kläger ‚verschuldet‘ hat.“ Erstmals eindeutig in BStBl. II 1975, S. 727, und mit einer rechtlichen Begründung. Da § 61 Nr.  2 KO die Vorrangstellung des Steuergläubigers regele, ginge diese Vorschrift immer ins Leere, wenn der Steuerpflichtige auch in den Fällen einer bereits eingetretenen Zahlungsunfähigkeit einen Billigkeitserlass beantragen könne. I. E. so auch Frotscher, in: Schwarz, AO, § 227 Rn.  53; Fritsch, in: Pahlke/Koenig, AO, § 227 Rn.  34. Krit. dazu insbesondere Stöcker, in: Beermann/Gosch, AO, § 227 Rn.  58 ff.; v.  Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 227 Rn.  325 ff. Zum einen ist anzumerken, dass durch die Einführung der InsO (BGBl.  I  1994, S.  2866 ff.) eine Bevorrechtigung des Steuergläubigers nicht mehr existiert, siehe dazu Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, AO, § 21 Rn. 375. Zum anderen darf allerdings ein Billigkeitserlass nicht dazu führen, dass nur die anderen Gläubiger daraus einen Vorteil schlagen; so u. a. Rüsken, in: Klein, AO, § 163 Rn. 93. 466 BFH/NV 1987, S. 488 ff.; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 163 Rn. 53. 467 BFH, BStBl. III 1958, S. 153. 468 Die Erlassunwürdigkeitsgründe müssen mit der bejahten Erlassbedürftigkeit zusammenhängen, so Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 340. 469 So wohl auch Stöcker, in: Beermann/Gosch, AO, § 227 Rn. 22 ff.

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

E. Die „Fristerschleichung“ aufgrund vergessener Minderungsgründe – steuerliche Ausgangslage (bisheriges Ergebnis) Die zurückliegende Darstellung des Steuerverfahrens im Fall einer zu hohen Steuerfestsetzung hat Erstaunliches zu Tage gefördert. Ungeachtet des in § 38 AO verankerten Idealtypus, die Steuerverwaltung habe die ihr obliegende Steuerfestsetzung stets am materiellen Recht auszurichten, sieht die Rechtswirklichkeit­ erhebliche Einschränkungen vor, wenn dieses gesetzliche Idealziel gerade nicht erreicht wird. Am Anfang stand die Erkenntnis, dass es sich trotz der weitreichenden Vorschriften über das steuerliche Ermittlungsverfahren um ein Massenverfahren handelt, dessen wichtigste Sachverhaltsquelle die Steuererklärung des Steuerpflichtigen ist. Auf sie baut die Festsetzung der Finanzbehörde auf und ergeht meist endgültig, d. h. ohne Vorläufigkeitsvermerk. Wird daraufhin der Steuerbescheid gegenüber dem Steuerpflichtigen bekannt gegeben, so schafft dieser Errichtungsakt eine für alle am Verfahren Beteiligten ernstzunehmende Verbindung, die nur durch ausdrückliche Entscheidung seitens der Finanzbehörde oder des Finanzgerichts wieder beseitigt werden darf. Die Möglichkeiten des Steuerpflichtigen, eine solche Aufhebung bzw. Änderung zu erwirken, sind dabei allerdings auch dann begrenzt, wenn der Finanzbehörde es zu keiner Zeit zustand, die im Steuerbescheid festgesetzte Steuer zu verlangen. Denn mit dem Einspruch hat der Gesetzgeber dem Steuerpflichtigen einen weitreichenden Schutz gegen rechtswidrige Steuerverwaltungsakte an die Hand gegeben. Dieser außergerichtliche Rechtsbehelf führt zu einer „Aufrollung des Steuerfalles“ mit einer damit einhergehenden Überprüfung, ob die festgesetzte Steuer auch der materiellen Steuer entspricht. Der vom Steuerpflichtigen einlösbare Anspruch auf eine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle seines Steuerbescheides währt jedoch nicht ewig, sondern ist bewusst auf die Zeitdauer von (regelmäßig) einem Monat beschränkt. Ausnahmen werden über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur für die Fälle ermöglicht, in denen der Steuerpflichtige die gesamte Zeitspanne außerstande war, eine behördliche Überprüfung zu verlangen. Auch die diesbezügliche Anknüpfung an ein die Wiedereinsetzung hinderndes Verschulden des Steuerpflichtigen zeigt die Verantwortungsbereiche der zugrundeliegenden Verfahrenssituation klar auf. Es ist nun am Steuerpflichtigen, sich um die Rechtmäßigkeit seines Bescheides zu kümmern. Für die Fälle der „Fristerschleichung“, in denen es dem Steuerpflichtigen um die nachträgliche Berücksichtigung von ihm vergessener Steuerminderungsgründe geht, kommt nach Ablauf der gesetzmäßigen Einspruchsfrist eine Wiedereinsetzung grundsätzlich nicht in Betracht. Findet eine Überprüfung im Einspruchsverfahren wegen einer verschuldeten Fristversäumnis nicht statt, so rücken die speziellen Änderungsnormen in den­ Fokus. Sie erlauben eine partielle Korrektur von rechtswidrigen Steuerbescheiden, um damit den gesetzmäßigen Idealzustand herzustellen. In den dort genannten

2. Abschn.: Die Änderung einer endgültigen Steuerfestsetzung

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Fällen hat sich der Gesetzgeber für die Herbeiführung einer rechtsrichtigen Besteuerung bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung entschieden. Soweit der Steuerpflichtige nun im Rahmen des beschrittenen Änderungsverfahrens neue Tatsachen vorträgt, die von ihm in der Steuererklärung vergessen wurden, kann eine Berücksichtigung grundsätzlich nur dann erfolgen, wenn den Steuerpflichtigen selbst kein grobes Verschulden trifft. Für die Fälle vergessener steuerlicher Aufwendungen wurde gezeigt, dass eine nicht unerhebliche Anzahl diesem Ausschlusstatbestand unterfällt und eine Änderung von der Finanzbehörde daher zu versagen ist. Soweit der Steuerpflichtige nun als letzten Ausweg auf die Unbilligkeit einer rechtswidrigen Steuerforderung verweist und einen Steuererlass des überschießenden Betrages fordert, wird ein solcher Vortrag oft erfolglos bleiben. Eine Aushöhlung der starren Rechtsbehelfsfristen und Änderungsvoraussetzungen darf nach ganz überwiegender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur durch gesetzliche Billigkeitsmaßnahmen nicht erfolgen. Nun sieht sich der Steuerpflichtige in einer geradezu ausweglosen Situation, die ihm als juristischer Laie ungerecht vorkommen mag. Wird ihm doch jeder steuerliche Berater – auch in Anbetracht des sonst als zu komplex angesehenen Steuerrechts  – ohne langwierige Prüfung hinsichtlich der Rechtswidrigkeit seiner ihm gegenüber titulierten Steuerforderung Recht geben; allerdings auch gleichzeitig einräumen, dass er dieses Recht höchstwahrscheinlich470 nicht bekommen wird. Aus diesem steuerlichen Paradoxon lässt sich das Bestreben des Bürgers erklären, doch noch „zu seinem Recht zu kommen“. Er kann nun zum einen die Bekanntgabe des Steuerbescheides bestreiten und nach erneuter Bekanntgabe gegen den inhaltsgleichen Zweitbescheid erfolgreich mittels Einspruchs gegen den zu hohen Teil vorgehen. Zum anderen besteht die Möglichkeit, mittels erfundener Wiedereinsetzungsgründe das Einspruchsverfahren zu betreiben. Hat der Täter diesen Weg beschritten, so wurde in den obigen Ausführungen ebenfalls gezeigt, dass der durch den Steuerpflichtigen trickreich herbeigeführte rechtmäßige Zustand im Falle der Aufdeckung grundsätzlich wieder beseitigt werden kann. Erfährt die Steuerbehörde, dass der Erstbescheid dem Steuerpflichtigen wirksam bekannt gegeben wurde bzw. dass die angegebenen Wiedereinsetzungsgründe in Wahrheit nicht bestanden haben, wird sie die Steuer bei noch nicht eingetretener Festsetzungsverjährung mittels Änderungsverfahrens wieder auf den ursprünglichen (und teilweise rechtswidrigen) Betrag festsetzen. Denn ungeachtet seiner Rechtswidrigkeit stand es dem Steuerpflichtigen nach Ablauf der Einspruchsfrist nicht zu, die Existenz und Gültigkeit des Steuerbescheides gegenüber der Finanzbehörde zu bestreiten. 470

Der hier verwendete Wahrscheinlichkeitsmaßstab bezieht sich auf den Ausschluss einer Änderung des Steuerbescheides wegen groben Verschuldens in § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO. Denn hiernach ist eine genauere Vorhersage mit Rücksicht auf den in der Rechtspraxis ambivalent gehandhabten Verschuldensmaßstab nicht möglich.

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

Ist demgegenüber schon die Festsetzungsverjährung vor Aufdeckung der „Frist­ er­schleichung“ eingetreten, so wird man zwischen dem Grundfall und der „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ unterscheiden müssen. Schließlich existieren im Grundfall zwei unabänderbare Steuerfestsetzungen über ein und denselben materiellen Steueranspruch. Auch wenn der Finanzbehörde aus Gründen der Billigkeit nun sicherlich eine doppelte Inanspruchnahme verwehrt sein dürfte, kann sie dennoch die überschießende Steuerforderung aus dem Erstbescheid zusätzlich zur materiell entstandenen und auch festgesetzten Steuer geltend machen. Anders ist hingegen der Fall der erschlichenen Wiedereinsetzung zu entscheiden, bei dem nur die Abhilfe- bzw. Einspruchsentscheidung maßgebend ist. Auf eine höhere Steuerfestsetzung kann die Finanzbehörde nicht zurückgreifen, weil diese im Verfahren über den außergerichtlichen Rechtsbehelf geändert wurde. Die ursprünglich überschießende Steuerfestsetzung kann daher nicht mehr realisiert werden, was aber nur eine vordergründige Abkehr von den Wirkungen der Bestandskraft darstellt. Insofern wurde nämlich bereits festgestellt, dass auch Steuerfestsetzungen, die auf einer vorsätzlichen Hinterziehung oder leichtfertigen Verkürzung beruhen, nicht auf ewig änderbar sind, sondern ebenfalls der (verlängerten) Festsetzungsverjährung unterliegen. Mit einer Steuerhinterziehung ist daher die vom Gesetzgeber ganz bewusst geschaffene Gefahr für den Steuerfiskus verbunden, dass ein Steuer­ ausfall nicht mehr korrigiert werden kann. An dem grundlegenden Prinzip, dass eine bestandskräftige Steuerforderung von allen an einem Steuerverwaltungsverfahren Beteiligten verbindlich ist und demzufolge nicht einfach durch Täuschung umgangen werden kann, ändert sich nichts.

3. Abschnitt

Weitere Anlässe zur Begehung einer „Fristerschleichung“ Den Ausweg in eine „Fristerschleichung“ wird jedoch nicht nur derjenige Steuer­pflichtige suchen, der bereits in seiner Steuererklärung Minderungsgründe vergessen hat. Zwar stellt die nachträgliche Berücksichtigung von steuermindernden Tatsachen angesichts der vorherrschenden Steuerverfahrensnormen – die nur eine am Verschulden des Steuerpflichtigen ausgerichtete Berücksichtigung vorsehen – ein besonderes Problemfeld dar, dem in dieser Arbeit ausführlich nachgegangen wurde. Mit dieser Fallgestaltung ist das Anwendungsfeld der „Frist­ erschleichung“ jedoch bei weitem nicht ausgeschöpft. Sie findet grundsätzlich überall dort Anwendung, wo es der Steuerpflichtige in schuldhafter Weise versäumt hat, gegen einen rechtswidrigen Steuerbescheid  – gleichgültig wer für die Fehlerhaftigkeit verantwortlich ist – entweder Einspruch oder Klage zu er­ heben. Dies gilt prinzipiell sogar in Fällen, in denen der Steuerpflichtige eine in allen Belangen zutreffende Steuererklärung abgegeben hat, aber nun die Finanzbehörde eine gemessen am materiellen Steuerrecht fehlerhafte und damit rechts-

3. Abschn.: Weitere Anlässe zur Begehung einer „Fristerschleichung“ 

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widrige Steuerfestsetzung vornimmt. Es handelt sich somit um ein allgemeines steuerverfahrensrechtliches Phänomen, dem im Folgenden noch einmal allgemein nachgegangen werden soll.

A. Schuldhaftes Verstreichenlassen der Einspruchsfrist Der Adressat eines rechtswidrigen Steuerbescheides ist gehalten, aus eigener Initiative gegen den belastenden Verwaltungsakt vorzugehen. Schließlich tritt die Bestandskraft durch das Verstreichenlassen der Einspruchsfrist gemäß § 355 Abs. 1 AO vollkommen unabhängig davon ein, wer im Grunde für die Rechts­widrigkeit der Steuerfestsetzung verantwortlich ist. Hat bsplw. allein die Finanzbehörde, trotz zutreffend erklärter Besteuerungsgrundlagen, infolge einer rechtlich unrichtigen Bewertung die Steuer zu hoch festgesetzt, so tritt bei Vorliegen einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung ohne Erhebung des Einspruchs nach einem­ Monat ab Bekanntgabe unweigerlich die Bestandskraft des Steuerbescheides ein. Einzige Rettung bietet in so gelagerten Fällen nur noch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 AO. Hierfür muss der Steuerpflichtige nebst seinem Vertreter die Frist zur Einlegung des außergerichtlichen Rechtsbehelfs in unverschuldeter Weise verstreichen lassen haben. Soweit nach gefestigter Rechtsprechung ein materiell-rechtlicher Irrtum allerdings schon dem Grunde nach nicht zu einer Wiedereinsetzung führen soll, wird sich der Steuerpflichtige nicht alleine damit verteidigen können, er habe die Fehlerhaftigkeit des Steuerbescheides (unverschuldet) erst nach Ablauf der Einspruchsfrist erkannt.471 Eine erleichterte Geltendmachung der Wiedereinsetzung kann jedoch bei Verfahrensfehlern seitens der Finanzbehörde gemäß § 126 Abs.  3 S.  1 AO stattfinden, wenn zusätzlich zur unrechtmäßigen (überhöhten) Steuerfestsetzung dem Steuer­bescheid entweder die erforderliche Begründung fehlt oder vor seinem Erlass die erforderliche Anhörung des Steuerpflichtigen unterblieben ist und dadurch die rechtzeitige Anfechtung des Verwaltungsakts versäumt wurde. Dann gilt kraft gesetzlicher Fiktion die Versäumung der Einspruchsfrist unwiderlegbar als unverschuldet. Fehlt einem schriftlichen Steuerbescheid  – der gemäß §§ 157 S. 1, 121 Abs. 1 AO begründet werden muss, wenn und soweit dies zu seinem Verständnis erforderlich ist – eine solche Begründung, spricht sehr viel für die Annahme, dass die fristgemäße Anfechtung des Steuerbescheides dem Steuerpflichtigen erschwert wurde.472 Immerhin lässt sich eine Rechtmäßigkeitskontrolle des Steuerbescheides nebst der Entscheidung, ob der außergerichtliche Rechtsbehelf eingelegt werden soll, innerhalb der Einspruchsfrist kaum angemessen bewerk 471 Zum Streit hinsichtlich der Wiedereinsetzbarkeit bei Irrtümern über das materielle Recht: 2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (S. 78). 472 Zu dieser großzügigen Handhabung des Ursachenzusammenhangs vgl. u. a. FG BadenWürttemberg, EFG 1987, S. 155 f.; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 126 Rn. 4; Rozek, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 126 Rn. 65; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 126 Rn. 13.

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

stelligen.473 Allerdings gilt dies nicht für die Vielzahl der Fälle, in denen dem Steuer­pflichtigen von der Finanzbehörde nur eine inhaltlich unzutreffende Begründung geliefert wurde. Denn zum einen bezieht sich schon die Begründungspflicht in § 121 Abs. 1 AO nur auf eine tatsächlich gegebene, aber nicht notwendig inhaltlich richtige Begründung.474 Zum anderen ist eine falsche Begründung, die schließlich die Auf­fassung der Finanzbehörde offenlegt und somit eine hinreichende Kontrolle ermöglicht, nicht geeignet, dem Steuerpflichtigen eine Anfechtung zu erschweren.475 Der Steuerpflichtige wird daher trotz bestehender Begründungsmängel nicht davor bewahrt, die ihn betreffende Steuerfestsetzung genau zu überprüfen. Nicht anders verhält es sich in den Fällen einer unterbliebenen An­hörung des Steuerpflichtigen. Zwar ist eine solche vor Erlass eines belastenden Verwaltungsaktes nach Maßgabe des § 91 Abs. 1 S. 2 AO insbesondere dann durchzuführen, wenn die Finanzbehörde von dem in der Steuererklärung erklärten Sachverhalt zuungunsten des Steuerpflichtigen wesentlich abweichen will. Allerdings führt auch eine von der Finanzbehörde pflichtwidrig unterlassene Anhörung nicht automatisch zu einer erleichterten Wiedereinsetzung. Dem Steuerpflichtigen wird auch ohne eine Anhörung die rechtzeitge Anfechtung insbesondere dann nicht erschwert, wenn die Abweichungen von der Steuererklärung im Steuer­ bescheid selbst erläutert werden oder dort zumindest ein entsprechender Hinweis enthalten ist.476 In vielen Fällen wird dem Steuerpflichtigen somit der nachträgliche Weg in den Einspruch auch über eine Wiedereinsetzung versperrt sein. Ferner helfen dem Steuerpflichtigen auch die Vorschriften zur Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden nach Maßgabe der §§ 172 ff. AO und die Berichtigung vom Verwaltungsakten im Falle offenbarer Unrichtigkeiten gemäß § 129 S. 1 AO von Steuerverwaltungsakten nicht weiter. Nach Ablauf der Einspruchsfrist kann im Umkehrschluss zu § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2a) AO eine Änderung der Steuerfestsetzung zugunsten des Steuerpflichtigen nicht mehr allein darauf gestützt werden, der Steuerbescheid beruhe lediglich auf einer rechtlich unzutreffenden Veranlagung. Soweit nun über die Rechtswidrigkeit der Steuerfestsetzung hinaus kein besonderer Änderungstatbestand einschlägig ist, kann eine Korrektur zugunsten des Steuerpflichtigen nicht erfolgen. Als Paradebeispiel dient angesichts der Massenhaftigkeit des Veranlagungsverfahrens sicherlich der Fall, dass der Finanzbehörde bei zutreffender Steuererklärung ein Rechtsanwendungsfehler unterläuft, indem sie vom Steuerpflichtigen vorgetragene Minderungsgründe nicht als Betriebsausgaben oder Werbungskosten gemäß §§ 4 Abs. 4, 9 EStG anerkennt. In diesen Fällen handelt es sich dann weder um eine zur Korrektur berechtigende 473

Vgl. nur Rozek, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 126 Rn. 60. Vgl. BFH/NV 2004, S. 1062 f.; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 121 Rn. 44 ff. 475 FG Saarland, EFG 1997, S.  1275 f.; Rozek, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 126 Rn. 64; Pahlke, in: Pahlke/Koenig, AO, § 126 Rn. 18. 476 BFH, BStBl.  II  1985, S.  601; FG Baden-Württemberg, EFG 1983, S.  586; Rozek, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 126 Rn. 64; Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 126 Rn. 12; Frotscher, in: Schwarz, AO, § 126 Rn. 4. 474

3. Abschn.: Weitere Anlässe zur Begehung einer „Fristerschleichung“ 

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offenbare Unrichtigkeit gemäß § 129 S. 1 AO noch um ein nachträgliches Bekanntwerden von Tatsachen und Beweismitteln nach Maßgabe des § 173 Abs. 1 AO.477 Dem Steuerpflichtigen wird es nach Eintritt der Bestandskraft des Steuerbescheides im Hinblick auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO im Übrigen nichts nutzen, dass er dem Rechtsanwendungsfehler der Finanzbehörde insbesondere mit weiteren leicht zu beschaffenden Beweismitteln entgegentritt, indem er bsplw. bisher unbekannte Urkunden, die die bereits erklärten Steuer­ minderungsgründe beweisen, vorlegt und seine Rechtsansicht erneut bekräftigt. In diesen Fällen wird bereits die Rechtserheblichkeit des nachträglich bekannt gewordenen Beweismittels zu verneinen sein.478 Denn eine Herabsetzung der festgesetzten Steuer erfolgt gerade nicht, weil der Steuerpflichtige weitere bisher unbekannte Beweismittel der Finanzbehörde gegenüber angibt, sondern allein wegen der Aufdeckung des der Festsetzung zugrunde liegenden, aber für die Frage nach der Rechtserheblichkeit grundsätzlich unbeachtlichen479 Rechtsanwendungsfehlers. Die benannte Änderungsvorschrift hat es im Gegensatz zum außergerichtlichen Rechtsbehelf nicht zur Aufgabe, Fehler in rechtlicher Hinsicht zu beseitigen, so dass dies auch nicht beiläufig über den Umweg nachträglich der Finanzbehörde bekannt gewordener Tatsachen und Beweismittel – die erst zu einer Aufdeckung des Rechtsfehlers führen – vonstattengehen darf.480

Letztlich wird auch ein Steuererlass gemäß § 227 AO aufgrund sachlicher Unbilligkeit kaum in Betracht zu ziehen sein. Schließlich liegt sein Sinn und Zweck gerade nicht in der nachträglichen Korrektur rechtswidriger Steuerfestsetzungen, sondern allein im Ausgleich ungewollter Härten infolge der im Steuerrecht vorherrschenden generalisierenden Gesetzesanwendung.481 Der Erlass einer rechtswidrig auferlegten Steuer kommt hiernach nur ganz ausnahmsweise zur Anwendung, wenn der bestandskräftige Steuerbescheid offensichtlich rechtswidrig ist und es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und zumutbar war, sich gegen diese Fehlerhaftigkeit zu wehren.482 Letzteres wird man nur für wenige Ausnahmefälle annehmen können. Selbst wenn der Steuerpflichtige zur anfänglichen Rechtswidrigkeit des ihm bekannt gegebenen Steuerbescheides nichts beigetragen hat, lässt er dann nicht selten die ihm eingeräumte Einspruchsfrist in schuldhafter Weise verstreichen und versäumt somit eine ihm von Gesetzes wegen zustehende Berichtigung.483 Nur soweit ihm in Bezug auf die Einlegung des außergerichtlichen Rechtsbehelfs kein Verschulden zur Last gelegt werden kann, bleibt dem Steuerpflichtigen der Ausweg in eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 AO, wofür es jedoch nicht des Erlasses gemäß § 227 AO bedarf. Eigen 477 Zu § 129 S. 1 AO siehe bereits die Erläuterungen: IV. Berichtigung offenbarer Unrichtig­ keiten gemäß § 129 AO (S. 113), dort insbesondere Fn. 434. Zu § 173 AO siehe a) Das nachträgliche Bekanntwerden von Tatsachen oder Beweismitteln (S. 94), dort insbesondere Fn. 343. 478 Zu dem Erfordernis der Rechtserheblichkeit: b) Das Führen zu einer niedrigeren Steuer (S. 96). 479 BFH, BStBl. II 1988, S. 715; BMF AEAO, Zu § 173 Tz. 3.1. S. 4. 480 Vgl. BFH (GS), BStBl. II 1988, S. 180; BFH, BStBl. II 1989, S. 694; v. Groll, in: Hübsch­ mann/Hepp/Spitaler, AO, § 173 Rn. 10, 125. 481 Siehe: I. Die sachliche Unbilligkeit (S. 115). 482 Nachweise in Fn. 457. 483 Zuletzt u. a. BFH/NV 2011, S. 561 ff. m. w. N.

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

ständige Bedeutung kann letzterer allenfalls erlangen, wenn der Steuerpflichtige zwar die Einspruchsfrist bewusst – und damit schuldhaft – verstreichen lässt, ihm dies aber nach den Umständen des Einzelfalles unter Berücksichtigung von Treu und Glauben nicht vorgehalten werden kann. Bei diesen Fallgestaltungen wird durchweg eine ersichtlich falsche Auskunft von Seiten der Finanzbehörde dafür gesorgt haben, dass der Steuerpflichtige gegen die rechtswidrige Steuerfestsetzung nicht vorgegangen ist.484 Ist der Steuerpflichtige von einem solchen rechtswidrigen wie unabänderlichen Steuerbescheid betroffen, steht auch er  – ganz entsprechend unserem eingangs geschilderten Ausgangsfall – vor der Versuchung einer „Fristerschleichung“. Erliegt er ihr, so ergeben sich die bereits geschilderten Probleme zulasten der Finanz­ behörde (insbesondere hinsichtlich des Zugangsnachweises) und der nachträglichen Wirkungen (insbesondere die Möglichkeit der nachträglichen Änderung).

B. Die „Fristerschleichung“ im finanzgerichtlichen Verfahren I. Identische Fallgestaltung Im bisherigen Verlauf dieser Arbeit wurde nur die Sachverhaltsgestaltung zugrunde gelegt, dass der Steuerpflichtige gegenüber der Finanzbehörde den Eingang seines Steuerbescheides bestreitet, um sich dadurch widerrechtlich den Weg (zurück) in den Einspruch zu erschließen. Dennoch ist es nicht ausgeschlossen, dass sich eine „Fristerschleichung“ erst im finanzgerichtlichen Verfahren ereignet. Dies wird in Betracht kommen, wenn der Steuerpflichtige den außergerichtlichen Rechtsbehelf bereits betrieben hat und nach Erhalt des Einspruchsbescheides die in § 47 Abs. 1 FGO vorgesehene Klagefrist von einem Monat tatenlos verstreichen lässt. Erkennt der Steuerpflichtige, dass die nun verfristete Anfechtungsklage im Falle ihrer Erhebung durchaus Erfolg versprochen hätte, etwa weil das Einspruchsverfahren die Rechtswidrigkeit der Steuerfestsetzung wider Erwarten doch nicht beseitigt hat oder die Geltendmachung von Minderungsgründen sogar bis über das Einspruchsverfahren hinaus vergessen wurde, dann stellt sich genau das identische Problem. Dem Steuerpflichtigen wird es auch in diesem Verfahrensstadium prinzipiell ermöglicht, den Erhalt des Einspruchsbescheides zu leugnen und dadurch eine neue noch nicht bestandskräftige Einspruchsentscheidung zu erwirken. Schließlich ist für die Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung gemäß §§ 366, 122 AO ebenfalls keine förmliche Zustellung zwingend erforderlich, so dass sich die üblichen Nachweisprobleme des Zugangs stellen.485 Ferner ist im Falle einer Versäumung der Klagefrist gemäß § 47 Abs. 1 FGO eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Maßgabe des § 56 FGO vorgesehen, so dass sich zudem die­ bereits erörterte „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ ergeben kann. 484

Vgl. nur Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 227 Rn. 49. Siehe: cc) Der Streit um die Bekanntgabe (S. 37).

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II. Präklusion gemäß §§ 76 Abs. 3, 79b Abs. 3 FGO i. V. m. § 364b AO Gegen eine „Fristerschleichung“ im finanzgerichtlichen Verfahren wird man auch nicht die in der Abgaben- und Finanzgerichtsordnung vorgesehenen Präklusionsvorschriften anführen können. Zwar ist die Finanzbehörde gemäß § 364b Abs.  1 AO befugt, dem Einspruchsführer im Verfahren über den außergerichtlichen Rechtsbehelf eine Frist zur Abgabe von Erklärungen sowie Angabe von Tatsachen und Beweismitteln zu setzen. Kommt der Steuerpflichtige dieser Aufforderung nicht nach, weil ihm bsplw. die vergessenen Minderungsgründe erst später wieder einfallen, so dürfen erst im Nachhinein abgegebene Erklärungen sowie die angegebenen Tatsachen und Beweismittel – soweit eine entsprechende Belehrung ergangen ist – nach Maßgabe des § 364b Abs. 2, Abs. 3 AO im Einspruchsverfahren nicht mehr berücksichtigt werden. Hat der Steuerpflichtige und spätere Einspruchsführer tatsächlich bestehende Minderungsgründe im Einspruchsverfahren nicht angegeben, so ist er daher mit ihrem Vorbringen nach Ablauf der von der ­Finanzbehörde gesetzten Frist insgesamt präkludiert. Für die „Fristerschleichung“ ist die eingetretene Präklusion im Verwaltungsverfahren allerdings schon deshalb ohne Belang, weil dem Steuerpflichtigen die vergessenen Gründe ohnehin erst nach der Bestandskraft des Einspruchsbescheides wieder bewusst werden bzw. er die Rechtswidrigkeit seines Steuerbescheides erkennt. Für die „Fristerschleichung“ ist vielmehr entscheidend, ob diese Präklusion im nun anstehenden finanzgerichtlichen Verfahren ebenfalls angenommen werden muss. Nach Maßgabe des § 76 Abs. 3 S. 1 FGO wird für das finanzgerichtliche Verfahren angeordnet, dass nach der von der Finanzbehörde gemäß § 364b Abs. 1 AO gesetzten Frist angegebene Erklärungen und Beweismittel ebenfalls außer Betracht bleiben können. Demzufolge dürfte ein bereits im Einspruchsverfahren verspätetes Vorbringen folgerichtig im Finanzprozess ebenfalls nicht berücksichtigt werden. Dies hätte zur Folge, dass die nachträgliche Geltendmachung von Minderungsgründen im finanzgerichtlichen Verfahren nicht mehr zu berücksichtigen wären. Allerdings findet eine direkte Fortwirkung der Präklusion gerade nicht statt. Zum einen ist § 76 Abs.  3 S.  1 FGO im Gegensatz zu § 364b AO als Ermessensvorschrift ausgestaltet und zum anderen wird durch § 76 Abs. 3 S. 2 FGO auf die Einschränkungen des § 79b Abs. 3 FGO verwiesen.486 Dort wird für eine Präklusion im finanzgerichtlichen Verfahren insbesondere vorausgesetzt, dass die Zulassung der nachträglich vorgebrachten Erklärungen und Beweismittel die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde. Dies ist nach dem von der Rechtsprechung an 486

Mit der Bezugnahme auf die Einschränkungen des § 79b Abs. 3 FGO ist die kuriose Folge­ rung verbunden, dass im Einspruchsverfahren berechtigt zurückgewiesene Gründe im späteren finanzgerichtlichen Verfahren doch noch berücksichtigt werden müssen. Das Ziel der Regelung, nämlich die „Verfahrensstraffung“ (siehe Stapperfend, in: Gräber, FGO, § 76 Rn. 60 f.), wird damit in beispielloser Weise konterkariert. Zur Kritik u. a. Seer, in: Tipke/Kruse, FGO, § 76 Rn. 115 ff.; Stapperfend, a. a. O.

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

genommenen absoluten Verzögerungsbegriff nur dann der Fall, wenn der Rechtsstreit bei Zulassung des verspäteten Vorbringens länger dauern würde als bei dessen Zurückweisung.487 Ist demzufolge eine Erledigung des Rechtsstreites in der ersten vom Gericht nach seinem pflichtgemäßen Ermessen zu terminierenden mündlichen Verhandlung möglich, so tritt keine Verzögerung im vorbenannten Sinne ein.488 Eine Berücksichtigung erst im Klageverfahren vorgetragener, die Rechtswidrigkeit der Steuerfestsetzung belegender Erklärungen und Beweis­ mittel kann bei dieser Vorgabe ohne Weiteres erfolgen, wenn sie bereits in der Klageschrift enthalten und keine zeitintensiven Ermittlungen seitens des Finanzgerichts erforderlich sind;489 die Gründe also entweder unstreitig sind oder seitens des Finanzgerichts keine Bedenken gegen ihre Richtigkeit bestehen.490 Ferner ist dem Finanzgericht nach Maßgabe des § 79b Abs. 3 S. 3 FGO eine Zurückweisung ohnehin untersagt, wenn es mit geringem Aufwand möglich ist, den Sachverhalt auch ohne Mitwirkung der Beteiligten zu ermitteln. Letztlich ist auch der Steuerpflichtige zur vorzeitigen Erledigung des Rechtsstreites in der ersten mündlichen Verhandlung befugt, seinen von der Finanzbehörde bestrittenen Vortrag durch präsente Beweismittel zu erhärten, indem er etwa im Rahmen der mündlichen Verhandlung dem Finanzgericht Urkunden einreicht oder einen Zeugen stellt.491 Im Ergebnis wird es dem Steuerpflichtigen daher häufig nicht verwehrt sein, alle ihm zustehenden Gründe gegen die von der Finanzbehörde getroffene Steuerfest­ setzung erstmals im finanzgerichtlichen Verfahren geltend zu machen.

487

Stetige Rspr. des BFH, siehe u. a. BStBl. II 1999, S. 26. Umstritten ist in diesem Zusammenhang das vom Finanzgericht zu ergreifende Aufklärungsbemühen. Überwiegend vertreten die Senate des BFH (I. Senat, BStBl. II 1999, S. 26; III. Senat, BFH/NV 2005, S. 63 f.; IV. Senat, BStBl. II 1999, S. 664; IX. Senat, BFH/NV 2005, S. 711) die Ansicht, das FG müsse durch vorbereitende Maßnahmen (§ 79 FGO) „alle Anordnungen treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen.“ Daraus folgt letztlich die Pflicht des Finanzgerichts, „alles zu tun, um Verfahrensverzögerungen entgegenzutreten“ (so jeweils der I. Senat, a. a. O.). Die Präklusionswirkung und der in ihr steckende Zweck der Verfahrensbeschleunigung „rechtfertige nur, dass das FG den Verhandlungstag nach Maßgabe seiner Geschäftslage und nicht nach dem Umfang des Aufklärungsbedarfs bestimme“ (III. Senat, a. a. O.). Gegen die dadurch auf praktischem Wege herbeigeführte Nichtanwendung der Präklusionsvorschrift des § 364b AO richtet sich die bereits vor allen anderen Entscheidungen ergangene Rspr. des V. Senats des BFH, BStBl. II 1998, S. 399. Hiernach soll vor allem in Fällen einer Vollschätzung infolge einer erst im finanzgerichtlichen Verfahren nachgereichten Steuererklärung die im Steuerverfahren eingreifende Präklusion gemäß § 364b AO auch im finanzgerichtlichen Verfahren „fortgesetzt“ werden. Zur Kritik an der überwiegenden Ansicht der obergerichtlichen Rspr. insbesondere Stapperfend, in: Gräber, FGO, § 76 Rn. 72; Brockmeyer, in: Klein, AO, § 364b Rn. 60, jeweils m. w. N. 489 Stöcker, in: Beermann/Gosch, FGO, § 76 Rn. 61.8; Seer, in: Tipke/Kruse, FGO, § 76 Rn. 122 f.; Thürmer, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, FGO, § 76 Rn. 180. 490 FG Köln, EFG 2004, S. 280 f., bestätigt durch BFH/NV 2005, S. 63 f.; Seer, in: Tipke/Kruse, FGO, § 76 Rn. 122. 491 BFH/NV 1995, S. 717 ff. 488

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III. Nachträgliche Änderung der durch die „Fristerschleichung“ hervorgerufenen Steuerrechtslage Eine „Fristerschleichung“ kann sich daher genauso im finanzgerichtlichen Verfahren ereignen. Ist sie nicht nur durch eine Abhilfeentscheidung der Finanzbehörde geschehen,492 dann stellt sich erneut die Frage, ob die vom Steuerpflichtigen erschlichene Steuerminderung nach ihrer Aufdeckung grundsätzlich wieder rückgängig gemacht werden kann. Eine pauschale Verweisung auf die bisher dargestellten Fälle, dass nämlich nur ein erschlichener Steuerbescheid rückgängig gemacht werden muss, verbietet sich schon dem Grunde nach. In den nun zu­ behandelnden Fällen liegt vielmehr ein erschlichenes rechtskräftiges Urteil des Finanzgerichts oder Bundesfinanzhofs vor, das es zulasten des Steuerpflichtigen wieder zu ändern gilt. Rechtskräftige Urteile unterliegen allerdings in einem noch stärkeren Maße der Unabänderlichkeit, als es bei bestandskräftigen Verwaltungsentscheidungen der Fall ist. Zur Durchsetzung des Rechtsfriedens kann eine Steuerfestsetzung, die auf eine rechtskräftige Entscheidung des Finanzgerichts hin ergangen ist, nach Maßgabe des § 110 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 FGO nachträglich durch die Finanzbehörde – trotz einschlägiger Korrekturnorm – nur geändert werden, soweit über den Streitgegenstand im finanzgerichtlichen Verfahren bisher nicht entschieden wurde. Maßgeblich ist demzufolge nicht etwa der gesamte Streitgegenstandes, also die Rechtmäßigkeit des die Steuer festsetzenden Steuerbescheides begrenzt durch das beantragte Klagebegehren,493 sondern nur derjenige Teil, über den das Gericht eine konkrete Rechtsfolgenfeststellung – die sich aus dem zugrunde gelegten Sachverhalt und seine Subsumtion unter das Steuergesetz zusammensetzt – getroffen hat.494 Nur dieser Entscheidungsgegenstand – die Urteilsformel mitsamt den zu ihrer Auslegung herangezogenen sonstigen Urteilsbestandteilen (Tatbestand und Entscheidungsgründe)  – erwächst in materielle Rechtskraft,495 so dass die Finanzbehörde an ihn in tatsächliche und rechtlicher Hinsicht gebunden ist und infolgedessen am Erlass einer erneuten Regelung gehindert wird.496 492 Die Finanzbehörde kann der Klage gemäß § 172 Abs. 1 Nr. 2a) AO durch Änderung des vom Steuerpflichtigen angegriffenen Steuerbescheides abhelfen. Dadurch entfällt die Klage­ befugnis bzw. das Rechtsschutzbedürfnis des Klägers, so dass er mit dem Beklagten übereinstimmend die Erledigung des Rechtsstreites in der Hauptsache erklären wird. Siehe hierzu Brandt, in: Beernsmann/Gosch, FGO, § 138 Rn. 21 ff. Da bei einer nachträglichen Aufdeckung der „Fristerschleichung“ hierbei nur ein Änderungsbescheid aufzuheben ist, sind diese Fälle nicht anders zu behandeln, als hätte die Abhilfe in einem Einspruchsverfahren stattgefunden. Siehe hierzu: d) Die „Fristerschleichung“ (S. 111). 493 BFH (GS), BStBl. II 1968, S. 344 (Anfechtungsklage). 494 U. a. BFH, BStBl. II 1990, S. 1032; Seer, in: Tipke/Kruse, FGO, § 110 Rn. 15 ff.; Lange, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, FGO, § 110 Rn. 48 ff.; v. Groll, in: Gräber, FGO, § 110 Rn. 13 ff.; Brandt, in: Beermann/Gosch, FGO, § 110 Rn. 96 ff., 160 ff. 495 Siehe u. a. BFH, BStBl. III 1967, S. 615; BFH/NV 2007, S. 924 ff.; Brandt, in: Beermann/ Gosch, FGO, § 110 Rn. 100. 496 Vgl. Fn. 494.

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Eine Her­leitung dieser beschränkten Bindungswirkung erfolgt zudem aus der für die bloße Aufhebung von Verwaltungsakten geltenden Vorschrift des § 100 Abs. 1 S.  1  – 2.  Hs. FGO, die nach überwiegender Ansicht einen allgemeinen Rechtsgrundsatz der Rechtskraft enthält.497 Die Finanzbehörde ist hiernach an die vom Finanz­gericht getroffene rechtliche Beurteilung gebunden, an die tatsächliche Beurteilung hingegen nur so weit, als nicht neu bekannt werdende Tatsachen und Beweismittel eine andere Beurteilung rechtfertigen. Insgesamt wird durch die dargelegte Beschränkung der Rechtskraft dem Umstand Rechnung getragen, dass das Finanzgericht – auch in Anbetracht des geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß § 76 Abs. 1 FGO – im Regelfall nicht alle Sachverhalte ermittelt, die der konkreten Steuerfestsetzung zugrunde liegen. Es entscheidet vielmehr über die zwischen den Beteiligten in Streit stehenden und daher von ihnen vorgetragenen Besteuerungsgrundlagen, wobei es auch solche Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen hat, die sich nach Lage der Akten und dem Ergebnis der Verhandlungen ergeben.498 Das Urteil wird daher schon aus diesen praktischen Erwägungen nur selten über den gesamten Streitgegenstand einer Anfechtungsklage eine vollständige Feststellung treffen. Schon diese Überlegungen machen deutlich, dass es ganz entscheidend darauf ankommt, über welche vorgebrachten Streitpunkte das Finanzgericht letztlich entschieden hat. Wurde jedoch über den Streitgegenstand eine Entscheidung herbeigeführt, ist die Finanzbehörde an diesen Entscheidungsgegenstand sogar dann gebunden, wenn ihr in diesem Zusammenhang (streitige)  Tatsachen und Beweismittel bekannt werden, die vom Finanzgericht deshalb nicht berücksichtigt wurden, weil einer der Beteiligten seiner prozessualen Pflicht, sich über die tatsächlichen Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß zu erklären, nicht nachgekommen ist. In diesen Fällen eines einheitlichen Entscheidungsgegenstandes bleiben lediglich die Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 134 FGO in Verbindung mit §§ 578 ff. ZPO499 und nach umstrittener Ansicht als letzter Ausweg eventuell eine Klage nach § 826 BGB500 anwendbar. In Anbetracht der verschiedenen Fallgestaltungen der „Fristerschleichung“ und den sich daraus ergebenden Problemen im Hinblick auf den Entscheidungsgegenstand des Gerichtes ist eine weitergehende Differenzierung unerlässlich.

497

Siehe nur Lange, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, FGO, § 100 Rn.  56; Seer, in: Tipke/ Kruse, FGO, § 110 Rn. 17 ff. m. w. N. 498 Seer, in: Tipke/Kruse, FGO, § 110 Rn. 16; allg. Stepperfend, in: Gräber, FGO, Vor § 76 Rn. 5. 499 Insgesamt hierzu: BFH/NV 1990, S.  650; zust. Lange, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, FGO, § 100 Rn. 58; Seer, in: Tipke/Kruse, FGO, § 110 Rn. 27 f.; Brandt, in: Beermann/Gosch, FGO, § 110 Rn. 167 ff. 500 Siehe für die „Urteilserschleichung“ im Zivilrecht BGHZ 101, S. 380; zur begrenzten Bedeutung im Steuerrecht aber Lange, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, FGO, § 110 Rn. 29.

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1. Der Grundfall Leugnet der Steuerpflichtige und Einspruchsführer schlicht den Zugang des bereits bestandskräftigen Einspruchsbescheides, wird ihm daraufhin (eventuell über den Weg einer Untätigkeitsklage gemäß § 46 Abs. 1 FGO)501 unweigerlich ein zweiter Einspruchsbescheid bekannt gegeben. Hiergegen erhebt der Steuerpflichtige Anfechtungsklage vor dem zuständigen Finanzgericht, wobei er sich nun entweder ganz allgemein gegen den Rechtsanwendungsfehler der Finanz­behörde wendet oder zum ersten Mal Minderungsgründe vorträgt, die zu einer geringeren Steuerfestsetzung führen können. Kommt es daraufhin zu einem die Anfechtungsklage – in Gestalt der Abänderungsklage502 – stattgebenden Urteil, das entweder nach Maßgabe des § 100 Abs. 2 S. 1 FGO die Steuer selbst festsetzt oder die Finanz­behörde gemäß § 100 Abs.  2 S.  2 FGO zur erneuten Steuerfestsetzung auf Grundlage der Urteilsfeststellung bestimmt,503 wird es daraufhin in Rechtskraft erwachsen. Stellt sich nun im Nachhinein heraus, dass bereits zum Zeitpunkt der finanzgerichtlichen Klage eine bestandskräftige Steuerfestsetzung vorgelegen hat, die vom Kläger verschwiegen wurde, liegen wiederum zwei sich widersprechende Steuerfestsetzungen über denselben materiellen Steueranspruch vor. Auch in diesem Fall hätte die letztlich durch das Finanzgericht erfolgte (zweite) Steuerfestsetzung gar nicht ergehen dürfen. Schließlich darf sich auch das Finanzgericht nicht über die Bestandskraft eines Steuerbescheides hinwegsetzen, sondern hat eine entsprechende Anfechtungsklage als unzulässig zu verwerfen.504 Kommt es – wie im vorliegenden Fall – trotzdem zu einer erneuten Festsetzung, so ist letztere schon aus diesem Grund fehlerhaft und insofern rechtswidrig. Sie kann daher bei noch nicht eingetretener Festsetzungsverjährung vom Finanzamt aufgrund nachträglich bekannt gewordener Tatsachen gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO aufgehoben werden. Dies entspricht ganz der dargestellten Situation, wenn sich die „Fristerschleichung“ im Einspruchsverfahren ereignet. Die Änderung wird auch nicht durch die bestehende materielle Rechtskraft des finanzgerichtlichen Urteils gemäß § 110 501

Insofern kann sich der Einspruchsführer auch direkt an das FG mit der Behauptung wenden, über sein Einspruch sei auch nach angemessener Frist nicht entschieden worden und die Durchführung des außergerichtlichen Rechtsbehelfs sei gemäß §§ 44, 46 FGO daher nicht mehr erforderlich. Soweit nun die Finanzbehörde vom FG um eine Stellungnahme im Hinblick auf den Sachstand des Einspruchsverfahrens gebeten wird, lässt sich sodann recht schnell klären, dass die Finanzbehörde schon längst einen Einspruchsbescheid mittels einfachen Briefs erlassen, dieser aber „scheinbar“ nicht beim Einspruchsführer angekommen zu sein scheint. Die Finanzbehörde wird sogleich einen zweiten (erneut anfechtbaren!) Einspruchsbescheid bekannt geben, der dann vom Einspruchsführer vor dem FG angefochten werden kann. 502 Zur Üblichkeit der Abänderungsklage Jesse, Einspruch und Klage im Steuerrecht, C Rn. 53. 503 Es ergeben sich im Übrigen keine Abweichungen, wenn das Finanzgericht lediglich nach § 100 Abs. 1 FGO oder auch § 100 Abs. 3 S. 1 AO eine Aufhebung des die Steuer festsetzenden Verwaltungsaktes (nebst Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf)  vornimmt und dann der Finanzbehörde aufgibt, die Steuer selbständig – ggfs. nach einem weiteren Ermittlungsverfahren – festzusetzen. 504 Siehe: 1. Einspruchsfrist (S. 75), dort insbesondere Fn. 271.

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Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 FGO ausgeschlossen. Das Urteil hatte nämlich entweder die Beseitigung eines Rechtsanwendungsfehlers der Finanzbehörde oder die Berücksichtigung bisher vom Steuerpflichtigen nicht geltend gemachter Minderungsgründe zum Gegenstand. Soweit sich nachträglich herausstellt, dass die auf das Urteil ergangene Steuerfestsetzung schon deswegen fehlerhaft ist, weil bereits eine frühere bestandskräftige Steuerfestsetzung vorgelegen hat, betrifft dies einen vollkommen anderen Entscheidungsgegenstand, der mit den ursprünglichen Streitpunkten (Rechtsanwendungsfehler bzw. Minderungsgründe) in keinerlei Zusammenhang steht. Die materielle Rechtskraft des konkreten Urteils wird daher durch die nachträgliche Änderung überhaupt nicht berührt. Ist allerdings eine Änderung schon aufgrund der zwischenzeitlich eingetretenen Festsetzungsverjährung ausgeschlossen, wird es der Finanzbehörde nun wiederum nicht verwehrt sein, aus dem ebenfalls wirksamen (ersten) Einspruchsbescheid vorzugehen und die überschießende Steuerforderung geltend zu machen.505 2. Die „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ Anders liegt der Fall hingegen, wenn sich eine „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ vor dem Finanzgericht ereignet. Denn dort führt das Finanzgericht über die Wiedereinsetzung eine positive Entscheidung herbei, die schon nach Maßgabe des § 56 Abs. 5 FGO unanfechtbar ist und selbst vom Bundesfinanzhof im Revisionsverfahren nicht überprüft werden kann. Daher wird es erst recht der Finanz­ behörde im Nachgang verwehrt sein, eine vom Finanzgericht gewährte Wiederein­ setzung zu revidieren. Gleichzeitig hat das Finanzgericht dadurch aber auch im Sinne des § 110 Abs. 1 FGO über den Wiedereinsetzungsantrag des Klägers „entschieden“, so dass diese Feststellung diesmal sogar einen Entscheidungsgegenstand des Urteils bildet. Die Finanzbehörde wird deshalb die auf der Grundlage des finanzgerichtlichen Urteils ergangene Steuerfestsetzung von sich aus in keinem Fall gemäß den §§ 173 ff. AO ändern können. Tritt die „Erschleichung einer Wiedereinsetzung“ zu Tage, wird der Finanz­ behörde als einzigen Ausweg also nur eine Klage auf Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens gemäß § 134 FGO in Verbindung mit §§ 578 ff. ZPO vor dem Finanzgericht übrig bleiben. Zur Wiederaufnahme geeignet ist in den hier fraglichen Konstellationen das finanzgerichtliche (End-)Urteil, das die Wiedereinsetzung als eine Entscheidung über eine Sachentscheidungsvoraussetzung (ggfs. auch durch Zwischenurteil) notwendig in sich trägt.506 Soweit die Wiederaufnahme in Gestalt der Restitutionsklage gemäß § 134 FGO in Verbindung 505 Zur ähnlichen Situation im Verwaltungsverfahren siehe: bb) Die „Erschleichung der Wieder­ einsetzung“ (S. 90). 506 Zur Entscheidung über die Wiedereinsetzung im End- oder Zwischenurteil gemäß § 155 FGO i. V. m. § 238 ZPO Stapperfend/v. Groll, in: Gräber, FGO, § 56 Rn. 57; Söhn, in: Hübschmann/ Hepp/Spitaler, FGO, § 56 Rn. 581 ff.

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mit § 580 ZPO allein deshalb geltend gemacht wird, weil der Kläger tatsächlich nicht gegebene Wiedereinsetzungsgründe vorgetragen hat, spricht dagegen auch nicht die in § 56 Abs.  5 FGO angeordnete Unanfechtbarkeit der positiven Wiedereinsetzungsentscheidung. Zwar könnte der Gedanke aufkommen, dass, wenn eine vom Finanzgericht gewährte Wiedereinsetzung schon im Revisionsverfahren nicht mehr überprüft werden darf, sie jedweder weiteren Beurteilung enthoben sein soll. Ein solcher Ausschluss wäre aber mit den Regelungen über die Wiederaufnahme nicht vereinbar, da sie ersichtlich nur ganz erhebliche Urteilsmängel erfassen507. Schließlich dient sie nur der Überprüfung, ob die gerichtliche Entscheidung „auf einer in nicht mehr hinzunehmender Weise unzutreffenden Grundlage beruht“508 und dadurch – gemessen an den Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren – die Durchbrechung der Rechtskraft erfolgen muss.509 Für die im Urteil inzident getroffene Wiedereinsetzungsentscheidung können nun allerdings keine geringeren rechtsstaatlichen Anforderungen gelten. Im Ergebnis muss schließlich auch der die Wiedereinsetzung betreffende Bestandteil des Urteils ohne Einschränkungen wiederaufnahmefähig sein. Im Rahmen der „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ kommen vorwiegend die Wiederaufnahmegründe des § 134 FGO in Verbindung mit § 580 Nr. 1 – Nr. 4 ZPO in Betracht. Soweit nämlich der Steuerpflichtige die Tatsachen zur Begründung seines Wiedereinsetzungsantrags (also die unverschuldete Fristversäumnis) gemäß § 56 Abs. 2 S. 2 FGO glaubhaft machen muss, kann er sich nach Maßgabe des § 155 FGO in Verbindung mit § 294 ZPO aller präsenten Beweismittel bedienen. Nicht selten wird er auf eine von ihm oder einem Dritten stammende Versicherung an Eides Statt zurückgreifen, die ebenfalls gemäß § 294 Abs. 1 ZPO zugelassen ist. Stellt sich im Nachhinein heraus, dass die Erklärung, auf welche sich die eidesstattliche Versicherung bezieht, bewusst oder zumindest fahrlässig unrichtig abgegeben wurde, so ist der Wiederaufnahmegrund des § 580 Nr. 3 ZPO in Verbindung mit §§ 156, 161 Abs. 1 StGB einschlägig. Hat ein (präsenter) Zeuge zur Glaubhaftmachung der unverschuldeten Fristversäumnis vorsätzlich vor Gericht falsch ausgesagt, kommt ebenfalls eine Wiederaufnahme gemäß § 580 Nr. 3 ZPO in Verbindung mit § 153 Abs. 1 StGB in Betracht. Im Falle der Urkundenfälschung gemäß § 267 StGB kommt eine Wiederaufnahme gemäß § 580 Nr. 2 ZPO zur Anwendung. Zudem wird die von § 134 FGO in Verbindung mit § 580 ZPO geforderte Kausa­ litätsprüfung („gegründet“, „erwirkt“) zwischen dem zur Restitutionsklage berech­ tigenden Grund und dem hierdurch angegriffenen Endurteil in aller Regel positiv ausfallen. Schließlich liegt es auf der Hand, dass das rechtskräftige Endurteil auf der erschlichenen Wiedereinsetzung und diese wiederum auf die den Restitutionsgrund bildenden Straftat beruht. Die Anfechtungsklage hätte nämlich ohne diese 507

Vgl. BFH, BStBl. II 1999, S. 412. Bergkemper, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, FGO, § 134 Rn. 4. 509 Zur Ableitung der Wiederaufnahme aus dem Rechtsstaatprinzip („Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit“) BFH, BStBl. III 1965, S. 367. 508

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

zu einer Wiedereinsetzung führenden Straftat als unzulässig abgewiesen werden müssen. Im Rahmen der Restitutionsklage ist ferner zu berücksichtigen, dass in den Fällen der Wiederaufnahmegründe des § 580 Nr.  1 – 5 ZPO nach Maßgabe des § 581 Abs. 1 ZPO wegen der erforderlichen Straftat zuvor entweder eine rechts kräftige Verurteilung ergangen sein muss oder die Einleitung oder Durchführung eines Strafverfahrens aus anderen Gründen als wegen Mangels an Beweis nicht erfolgen konnte. Ferner ist gemäß § 582 ZPO die Restitutionsklage nur zulässig, wenn die Partei ohne Verschulden außerstande war, den Restitutionsgrund in dem früheren Verfahren geltend zu machen. Die vorangehenden Erläuterungen zeigen einerseits, dass auch eine „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ nicht folgenlos bleibt, sondern trotz entgegenstehender Rechtskraft geändert und somit der ursprüngliche bestandskräftige Einspruchsbescheid in voller (überschießender) Höhe realisiert werden kann. Es kann andererseits ebenfalls nicht überraschen, dass hinsichtlich der nachträglichen Beseitigung der Rechtskraft eines Urteils erhöhte Anforderungen gelten und schon aus diesem Grunde eine abschließende Beurteilung aller denkbaren Fallgestaltungen nicht erfolgen kann. Ob diesbezüglich über die Fälle der Wiederaufnahme hinaus eine in Rechtsprechung und Schrifttum umstrittene Klage nach § 826 BGB zuzulassen ist, würde den in dieser Arbeit abgesteckten Rahmen überschreiten, so dass auf sie nicht näher eingegangen werden soll. Ausblick: Sollte sich allerdings im Rahmen der strafrechtlichen Begutachtung herausstellen, dass die „Fristerschleichung“ unter den Tatbestand der Steuerhinterziehung zu subsumieren ist, wird schon aus diesem Grund – ähnlich dem Prozessbetrug gemäß § 263 StGB510 – der Restitutionsgrund des § 580 Nr. 4 ZPO in Verbindung mit § 370 AO einschlägig sein. Eine Geltendmachung der überschießenden Steuerforderung würde danach für eine Vielzahl der Fälle ermöglicht. IV. OLG Hamm v. 14.10.2008 – 4 Ss 345/08 (steuerrechtliche Seite) Den Anlass zu der vorliegenden Arbeit schuf der vom Oberlandesgericht Hamm511 in letzter Instanz entschiedene Fall einer „Fristerschleichung“ vor dem Finanzgericht. Er bezeugt in eindrucksvoller Weise die Praxisrelevanz der behandelten Fallgruppen. Dem Strafverfahren lag letztlich folgender steuerrechtlicher Ausgangsfall zugrunde: Nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanzen (Amtsgericht und Landgericht Münster)512 war der wegen Steuerhinterziehung Angeklagte als Steuer­ 510

Vgl. RGSt 72, S. 115. OLG Hamm v. 14.10.2008 – 4 Ss 345/08 = wistra 2009, S. 80. 512 AG Münster v. 22.02.2007 – 114 Cs 68/06; LG Münster v. 30.04.2008 – 4 Ns 110/07 (Berufung). 511

3. Abschn.: Weitere Anlässe zur Begehung einer „Fristerschleichung“ 

135

berater für eine Grundstücksgesellschaft tätig. Im Jahr 1997 habe die Mandantin des Angeklagten ein Hotel verpachtet, woraufhin sie die auf diese Leistung angefallene Umsatzsteuer bei der zuständigen Finanzbehörde angemeldet und auch abführt habe. Allerdings sei der Pächter in der darauffolgenden Zeit seiner vertraglichen Pflicht zur Zahlung des Pachtzinses nicht nachgekommen, so dass die Mandantin die Forderung „als im Wesentlichen uneinbringlich“ ausgebucht habe. Ferner habe sie nun gegenüber dem Finanzamt im Rahmen einer Umsatzsteuerberichtigung einen Rückzahlungsanspruch der von ihr bereits gezahlten Umsatz­ steuern geltend gemacht. Diesen „Berichtigungsantrag“ habe die Finanzbehörde dann aber genauso wie den danach form- und fristgerecht eingelegten Einspruch zurückgewiesen. Nach Eintritt der Bestandskraft des Einspruchsbescheides habe der Angeklagte nunmehr Klage vor dem Finanzgericht erhoben und erklärt, dass er den Einspruchsbescheid erst „über Umwege“ erhalten habe und die Klagefrist von einem Monat (ab Bekanntgabe) daher gewahrt sei.513 Das Amtsgericht Münster ist nach einer umfangreichen Beweisaufnahme im Übrigen zu der Überzeugung gelangt, dass die gegenüber dem Finanzgericht geäußerte Behauptung des Angeklagten, der streitgegenständliche Einspruchsbescheid sei versehentlich zusammen mit einem anderen Feststellungsbescheid in einem einheitlichen Briefumschlag an eine andere Mandantin geschickt worden, so dass er die Einspruchsentscheidung erst nach Ablauf der Klagefrist durch eine Weiterleitung bekommen habe, falsch ist.514 Das Amtsgericht hat seine Erkenntnis insbesondere auf die Zeugenaussage der für die Veranlagung der Immobiliengesellschaft zuständigen Sachbearbeiterin beim Finanzamt gestützt. Entsprechend den Urteilsfeststellungen gab die Zeugin im Rahmen ihrer Vernehmung an, dass die von ihr gefertigte und zur Versendung weiter an die Poststelle des Finanzamtes geleitete Einspruchsentscheidung nicht wie vom Angeklagten behauptet, mit einem anderen Feststellungsbescheid in einem einheitlichen Umschlag verschickt worden sei. Der an eine andere Steuerpflichtige (und zugleich Mandantin des Angeklagten) adressierte Feststellungsbescheid sei durch das Rechenzentrum in Düsseldorf und gerade nicht durch die Poststelle des Finanzamtes versandt worden, was man am Brieffenster des entsprechenden Schreibens an einer Computermarkierung erkennen könne.515 Der vom Angeklagten geschilderte Vorfall sei daher schon vom tatsächlichen Ablauf der unterschiedlichen Verwaltungsverfahren ausgeschlossen. Letztlich hat laut dem Landgericht Münster auch das Finanz­

513 So zusammengefasst vom LG Münster v. 30.04.2008 – 4 Ns 110/07, S. 3. Das Urteil des AG Münster v. 22.02.2007 – 114 Cs 68/06 geht auf diese Vorgeschichte nur im Rahmen einer Zeugenaussage ein (a. a. O., S. 8). 514 AG Münster v. 22.02.2007 – 114 Cs 68/06, S. 4 f. Das LG Münster (v. 30.04.2008 – 4 Ns 110/07, S. 3 ff.) hat demgegenüber den tatsächlichen Nachweis der Fristerschleichung dahingestellt sein lassen und den Angeklagten aus rechtlichen Gründen freigesprochen. 515 AG Münster v. 22.02.2007 – 114 Cs 68/06, S. 11 f.

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1. Teil: Die Ursachen und Folgen einer fehlerbehafteten Steuerfestsetzung 

gericht die in Rede stehende Klage der Mandantin des Angeklagten als verspätet und damit als unzulässig abgewiesen.516 Fasst man die „steuerrechtliche Vorgeschichte“ des geschilderten Strafprozesses einmal zusammen, so ging es in diesem Fall um die Beseitigung eines bestandskräftigen Umsatzsteuerbescheides durch die unzutreffende Erklärung, den für die Klagefrist maßgeblichen Einspruchsbescheid verspätet erhalten zu haben. Es handelte sich also entgegen den ausdrücklichen Ausführungen des OLG Hamm gerade nicht um eine „Erschleichung der Wiedereinsetzung“.517 Zwar scheint der Angeklagte als Steuerberater für seine Mandantin vor dem Finanzgericht ebenfalls einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 FGO gestellt zu haben, allerdings bezog sich der falsche und den Gegenstand des Anklagevorwurfs bildende Tatsachenvortrag nicht auf eine solche. Gab der Angeklagte doch schließlich an, den Einspruchsbescheid verspätet bekommen und sich sodann innerhalb der (ohnehin erst ab dieser verspäteten Bekanntgabe beginnenden)518 Klage­frist an das Finanzgericht mit seiner Anfechtungsklage gewendet zu haben. Es wurden also Tatsachen vorgetragen, die bereits eine Fristversäumung an sich und nicht nur ein dahingehendes Verschulden nach Maßgabe des § 56 FGO in Abrede stellen sollten. Nun erscheint allerdings die Erörterung einer weiteren Fallkonstellation der Fristerschleichung durch Vortäuschen eines verspäteten Zugangs bereits deshalb verzichtbar, weil sie in vielen Fällen – wie nicht zuletzt die vorliegende Entscheidung eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat – auf erhebliche Nachweisschwierigkeiten stößt. Immerhin wird der Steuerpflichtige gezwungen, die Verspätung plausibel zu erklären, was ihm jedenfalls dann ernstzunehmende Probleme bereiten wird, wenn das Postaufgabedatum und auch der Poststempel einen anderen Hergang nahe legen.519 In Anbetracht der Tatsache, dass sich in Bezug auf den strafrechtlichen Vorwurf der Steuerhinterziehung in der Argumentation keine Abweichungen ergeben, wird daher auch im Zusammenhang mit der Entscheidung des OLG Hamm in dieser Arbeit weiterhin von der „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ gesprochen. Anzumerken bleibt ferner, dass zudem die Schilderungen des Landgerichts Münster ein unvollständiges, wenn nicht sogar unzutreffendes Bild von dem bereits durchgeführten Steuerverfahren der Mandantin des Angeklagten wiedergeben: Gestritten wurde allem Anschein nach um die Bemessung einer umsatzsteuerbaren sonstigen Leistung (Verpachtung eines Hotels), bei dem sich das dafür vereinbarte Entgelt – als maßgebliche Bemessungsgrundlage für die Steuerhöhe gemäß §§ 10, 16 Abs. 1 S. 1 UStG – im Nachhinein als uneinbringlich erwiesen 516

LG Münster v. 30.04.2008 – 4 Ns 110/07, S. 3. Ungenau insbesondere das OLG Hamm, wistra 2009, S. 80, indem es ganz allgemein von „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ spricht. 518 Der Einspruchsbescheid wird schließlich – wie jeder andere Verwaltungsakt auch – gemäß § 124 Abs. 1 S. 1 AO erst in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er dem Adressaten (oder seinem Vertreter) bekannt gegeben wird. 519 Hierzu bereits: cc) Der Streit um die Bekanntgabe (S. 37) und 1. Einspruchsfrist (S. 75). 517

3. Abschn.: Weitere Anlässe zur Begehung einer „Fristerschleichung“ 

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hat. Der Umsatz sollte im Interesse der Mandantin daher nur noch mit dem niedrigeren tatsächlich vereinnahmten Entgelt bemessen und versteuert werden. Anders als es das Landgericht Münster und auch Vogelberg angeben, bildete der Kern des Streites nicht etwa eine von der Finanzbehörde letztlich durch Einspruchsbescheid abgelehnte „Umsatzsteuerberichtigung“520, sondern jeweils nur die konkrete „Umsatzsteuerfestsetzung“. Soweit nämlich die Pachtzinsforderung bereits in dem Veranlagungszeitraum der Leistungsausführung (Umsatzsteuer für das Kalenderjahr 1997) uneinbringlich geworden sein sollte, kann es nur um die konkrete Bemessungsgrundlage eines einzelnen steuerbaren Umsatzes gegangen sein, der selbst aber nur eine unselbständige Besteuerungsgrundlage der Jahressteuerfestsetzung bildet.521 Nicht anders gestaltet sich der Fall, wenn die in Rede stehende Pachtzinsforderung erst nach Ablauf des Veranlagungszeitraumes, in den die Leistungsausführung fällt, uneinbringlich geworden ist. Dann kommt zwar diesmal die bereits angesprochene Umsatzsteuerberichtigung gemäß § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG zum Zuge, wobei jedoch auch hier nur diejenige Umsatzsteuerfestsetzung (des Voranmeldungszeitraumes und später der Jahressteuer) den Streitgegenstand bildet, in dem der in Rede stehende Forderungsausfall entstanden ist. Berichtigt wird nämlich durch § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG nicht die ursprüngliche Umsatzsteuerfestsetzung, die als unselbständige Besteuerungsgrundlage den unzutreffend bemessenen Umsatz enthält. Diese Korrektur findet erst in dem konkreten Besteuerungszeitraum innerhalb der normalen Umsatzsteuerfestsetzung statt, in dem die Entgeltsänderung tatsächlich eingetreten ist.522 Eine gesonderte „Umsatzsteuerberichtigung“ mit einem klageweise geltend zu machendem „Steuererstattungsanspruch“, wie es insbesondere vom Landgericht Münster suggeriert wird, ist überhaupt nicht vorgesehen, sondern findet über die fortlaufende Steuerfestsetzung auf materiellrechtlicher Ebene statt. Steuerverfahrensrechtlich kann es also in jedem Fall nur um die Anfechtung einer Umsatzsteuerfestsetzung gegangen sein.523

520

Siehe auch Vogelberg, Durchsuchung und Beschlagnahme im Steuerrecht, S. 30. Vgl. zu dieser Konstellation Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 17 Rn. 71 f. Im Hinblick auf die Festsetzung der Jahressteuer spielen eventuell ebenfalls beabsichtigte Berichtigungen innerhalb der Voranmeldungszeiträume keine Rolle mehr. 522 Siehe nur Klenk, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 17 Rn. 7 ff. 523 In der Revisionsinstanz spricht das OLG Hamm, wistra 2009, S. 80, zutreffend nur von „Umsatzsteuerschuld“ und „Bestandskraft des Umsatzsteuerbescheides“. 521

2. Teil

Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ Nachdem die steuerrechtliche Verfahrenslage eingehend untersucht wurde, kann sich der 2. Teil nun dem Tatbestand der Steuerhinterziehung und der eigentlichen Problematik dieser Arbeit widmen: Kann eine „Fristerschleichung“ zu einer Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO führen? Um hierüber eine eindeutige Aussage treffen zu können, ist es in einem ersten Schritt unerlässlich, sich allgemein mit dem Hinterziehungstatbestand und seinem Rechtsgut zu beschäftigen. Denn für den in der Einleitung angesprochenen (dogmatischen) Brückenschlag zwischen dem Steuerrecht zum Strafrecht ist die Herausarbeitung von gesicherten Grundannahmen unabdingbar. Nur dadurch kann verhindert werden, dass die später anstehende Argumentation rund um die „Fristerschleichung“ auf tönernden Füßen steht. Hierzu dient der 1.  Abschnitt (Der strafrechtliche Charakter der Steuerhinterziehung), indem er eine eingehende Untersuchung des Rechtsgutes der Steuerhinterziehung und der dem Tatbestand zugrunde liegenden Deliktsnatur vornimmt. Ist die allgemeine Zusammensetzung des Tatbestandes der Steuerhinterziehung geklärt, so beschäftigt sich der 2. Abschnitt (Rechtsgutsbeeinträchtigung durch „Fristerschleichung“) mit dem in dieser Arbeit aufgeworfenen Problem der „Frist­ erschleichung“. Von zentraler Bedeutung wird sich hierbei der in Frage stehende Rechtsgutsbezug darstellen. Soweit nämlich in diesen Fällen immer nur eine originär aus dem Steuerbescheid stammende Forderung vom Steuerpflichtigen in Mitleidenschaft gezogen wird, muss genau diese rechtswidrige Steuerforderung, um überhaupt in den Schutzbereich der Steuerhinterziehung zu geraten, zum Rechtsgut zählen. Auf dem Prüfstand werden hierbei auch die zur „Fristerschleichung“ vertretenen Auffassungen aus der Literatur und der vom Oberlandesgericht Hamm in letzter Instanz entschiedene Fall stehen. In dem 3. Abschnitt (Die Subsumtion der „Fristerschleichung“ unter den Tatbestand der Steuerhinterziehung) dieser Arbeit werden sodann als Schlussstein die bisherigen Ergebnisse zur „Fristerschleichung“ auf die konkrete Rechtsanwendung übertragen und die in dieser Arbeit untersuchte Fallkonstellation in den Tatbestand der Steuerhinterziehung eingebettet.

1. Abschn.: Der strafrechtliche Charakter der Steuerhinterziehung 

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1. Abschnitt

Der strafrechtliche Charakter der Steuerhinterziehung A. Das Rechtsgut der Steuerhinterziehung I. Die Funktionsweisen des Rechtsguts 1. Der systemkritische Rechtsgutsbegriff Der Rechtsgutsbegriff, zurückgehend auf den Aufsatz von Birnbaum524 mit dem Titel „Über das Erfordernis einer Rechtsverletzung zum Begriffe des Ver­ brechens“, unterliegt seit jeher einer vielschichtigen Verwendung, weil mit ihm nichts Geringeres verbunden wird als die Frage nach den Grundvoraussetzungen des Verbrechens (sog. materieller Verbrechensbegriff)525 selbst: Wie muss ein Verhalten beschaffen sein, damit der Staat berechtigt oder gar verpflichtet ist, daran eine Sanktion zu knüpfen und diese auch gegen den Willen des Delinquenten durchzusetzen?526 Die Beantwortung dieser elementaren Frage muss bei dem Sinn und Zweck des Strafrechts beginnen. Denn die Suche nach dem sanktionierbaren Verhalten ist untrennbar mit der Vorfrage verbunden, was überhaupt mit dem Strafrecht erreicht werden soll. Erst wenn dieses Ziel beschrieben wurde, kann daran anknüpfend eine Aussage über die darauf ausgerichteten Mechanismen getätigt werden. Es ist heute allgemein anerkannt, dass das Strafrecht „seinen Bürgern ein freies und friedliches Zusammenleben unter Gewährleistung aller verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte“527 sichern soll; oder kürzer: Das Strafrecht dient dem Rechtsgüterschutz.528 Soweit man also die Aufgabe des Strafrechts unter den Topos 524

Birnbaum, Archiv des Criminalrechts – Neue Folge, Bd. 15 (1834), S. 149 ff., insbesondere dort auf S. 175 f.: „[…], was meiner Ansicht nach bei Bestimmung der Natur des Verbrechens das Wesentliche ist, […], daß, wenn man das Verbrechen als Verletzung betrachten will, dieser Begriff naturgemäß nicht den eines Rechtes, sondern auf den eines Gutes bezogen werden muß.“ Zu der geschichtlichen Einordnung dieses Rechtsgutsverständnisses u. a. Amelung, Rechtsgüterschutz und der Schutz der Gesellschaft, S. 43 ff., passim; Neubacher, Jura 2000, S. 514 ff. 525 Zum formellen und materiellen Verbrechensbegriff Roxin, Strafrecht AT/I, §§ 1 f. 526 Ähnlich zum systemkritischen Rechtsgutskonzept Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 27 ff. 527 Roxin, Strafrecht AT/I, § 2 Rn. 7; ders., JuS 1966, S. 377 ff. [381 ff.]. 528 Heute die ganz h. M.: u. a. Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, Vor § 1 Rn. 109; Rudolphi, in: SK-StGB, Vor § 1 Rn. 1 ff.; Freund, in: MüKo-StGB, Vor §§ 13 ff. Rn. 38 ff.; Roxin, Strafrecht AT/I, § 2 Rn.  1. Aber auch schon Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd.  I, S.  52 f.: „Will es [das Verbot, Anm.  des Verf.] nichts Anderes als ihn [den Mensch, Anm.  des Verf.] Gehorsam lehren? In der Tat, diese Auffassung wäre des Rechtes unwürdig. Dazu bestimmt die menschliche Freiheit in höchst möglichem Umfange sicher zu stel-

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

„subsidiärer Rechtsgüterschutz“ zusammenfassen kann, ist damit auch für die eingangs gestellte Frage viel gewonnen. Aufbauend auf dieser Prämisse soll nur an ein solches Verhalten ein Unrechtsmakel und folgerichtig eine Strafe geknüpft werden, wenn es gegen legitime Rechtsgüter verstößt.529 An dieser Zwecksetzung muss sich demzufolge auch das dazu eingesetzte Mittel – hier die Strafgesetze – ausrichten. Eine Strafnorm ist entsprechend diesem Anforderungsprofil nur dann zu errichten, wenn sie ausdrücklich dem Schutz eines Rechtsgutes dient und dieses zudem nicht durch eine mildere Form ausreichend geschützt werden kann (Ultima-ratio-Prinzip).530 Es bedarf insofern keiner näheren Erläuterung, dass bei einer solchen Kernfrage des Strafrechts mannigfaltige Definitionsversuche unternommen wurden, den Begriff des Rechtsgutes näher zu bestimmen.531 Schließlich lässt sich trefflich darüber streiten, welche Güter diesen umfassenden Schutz des Strafrechts genießen sollen. Dabei geht es letztendlich um das Bemühen, dem Gesetzgeber bei der Errichtung von Strafnormen einen konkreten Maßstab an die Hand zu geben.532 Eine detaillierte Darstellung des vorbenannten Streitstandes kann diese Arbeit in der gebotenen Länge nicht leisten, so dass sie es erst gar nicht versucht. Es fehlt ihr dafür auch das praktische Bedürfnis, denn der Staat ist auf regelmäßige Steuer­einnahmen zwingend angewiesen. Ohne sie kann er seine der Allgemeinheit und, indem dadurch zugleich eine ausreichende Lebensgrundlage für das Individuum geschaffen wird, jedem Einzelnen zugute kommenden Aufgaben nicht erfüllen.533 Dass es sich also zumindest dem Grunde nach um ein mit den schärfslen kann ihm deren Beschränkung nicht Selbstzweck sondern nur Mittel zum Zweck sein. So bleibt nur übrig das Motiv des Verbotes zu finden in der Wirkung der verbotenen Handlung, in ihrem dem Rechtsleben nachteiligen Erfolge, während umgekehrt das Gebot erlassen wird um des durch die anbefohlene Handlung zu erreichenden vorteilhaften Resultates willen. Jenem Erfolg versucht die Norm entgegenzuwirken, diesen will sie befördern. […] Und wer möchte ernsthaft die Behauptung aufrecht halten, dass die Tötung verboten werde, damit der Mörder nicht seine Körperkraft, seine Gewandtheit oder List an seinem Opfer ausprobire, oder damit er dem Getöteten nicht unangenehm falle […], und nicht vielmehr einzig und allein desshalb, damit das Leben, dieses wichtige Rechtsgut, möglichst unverletzt erhalten bleibe?“ 529 Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, Vor § 1 Rn. 109 m. w. N. 530 Roxin, Strafrecht AT/I, § 2 Rn. 1 ff. [97 ff.]. 531 Eine kritische „Kostprobe“ gibt Stratenwerth, Festschrift für Lenckner, S. 377 ff. [378]; Rudolphi, in: SK-StGB, Vor § 1 Rn. 3, erkennt, dass der „Rechtsgutsbegriff jedoch noch weitgehend ungeklärt und heftig umstritten“ ist. 532 Vgl. u. a. Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, Vor § 1 Rn.  115. A.  A. ausdrücklich BVerfGE 120, S. 224 [243 f.]: „Strafnormen unterliegen von Verfassungs wegen keinen darüber [den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Anm. des Verf.] hinausgehenden, strengeren Anforderungen hinsichtlich der mit ihnen verfolgten Zwecke. Insbesondere lassen sich solche nicht aus der strafrechtlichen Rechtsgutslehre ableiten.“ 533 Selbst wenn man Universalrechtsgüter nur insoweit für legitim erachtet, „als sie der personalen Entfaltung des Induvuduums dienen“ (sog.  monistische personale Rechtsgutslehre), lässt sich diese geforderte Ableitungsbeziehung auch für das Steueraufkommen nicht verleugnen. Dazu insgesamt Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, Vor § 1 Rn. 131 f.

1. Abschn.: Der strafrechtliche Charakter der Steuerhinterziehung 

141

ten Mitteln des Strafrechts zu schützendes, legitimes Rechtsgut handelt, kann nicht ernstlich bestritten werden, ohne gleichzeitig die Daseinsberechtigung des Staates anzugreifen.534 Diese Erkenntnis kann im Übrigen auch nicht durch einen Verweis auf die dem Hinterziehungstatbestand immanente Steuerrechtsakzessorietät in Abrede gestellt werden. Zwar ist unumwunden zuzugeben, dass das äußerst wandelbare Steuerrecht dem Bürger mitunter erhebliche Schwierigkeiten bei der Normbefolgung bereitet. Daraus lässt sich jedoch nicht die Schlussfolgerung ziehen, § 370 AO verfolge keine sozialethischen Wertvorstellungen, sondern schütze letztlich nur die positivrechtliche Ordnung des Steuerrechts und sanktioniere somit lediglich den „Steuerungehorsam“.535 Der bloße Schutz der Rechtsordnung als reiner Selbstzweck kann – unabhängig von den unterschiedlichen Ansichten zum systemkritischen Rechtsgutsbegriff – keinesfalls überzeugen.536 Insbesondere ließe sich die hiernach aufdrängende Frage nicht beantworten, warum ausgerechnet der Ungehorsam gegen Steuernormen zu einer Strafbarkeit führen soll, wohingegen eine Strafvorschrift bsplw. gegen die Zuwiderhandlung der Polizei- und Ordnungsgesetze der Länder bzw. die darauf ergangenen Verfügungen fehlt. Man kann sich daher der Einsicht nicht entziehen, dass die Steuerstraftaten wie die Straftaten gegen die Umwelt gemäß den §§ 324 ff. StGB ein zusätzliches strafbedürftiges Merkmal enthalten, das bei den sonstigen Verwaltungsgesetzen gerade nicht anzutreffen ist. Ungeachtet dieser Systemkritik lässt sich eine solche Folgerung für die Steuer­ hinterziehung aber schon aus einem anderen Grunde nicht halten. Das Strafrecht knüpft auch in anderen Tatbeständen an komplexe außerstrafrechtliche Rechtsverhältnisse – bsplw. zivilrechtliche – an, so dass auch dort eine eindeutige Trennung von strafbaren und straflosen Handlungen aus der Sicht des Bürgers nicht immer zweifelsfrei gelingt. Dennoch würde keiner ernstlich die Legitimation des § 242 StGB oder § 263 StGB in Frage stellen. In all diesen schwierigen Fällen sieht nämlich das Strafrecht selbst eine Lösung vor, indem Irrtümer über außerstrafrechtliche Rechtsverhältnisse entweder zum Entfallen des Tatbestandsvorsatzes gemäß § 16 Abs. 1 StGB oder der Schuld gemäß § 17 StGB führen können. Keine Ausnahme bildet hier die Steuerhinterziehung, mag man auch der Ansicht sein, es handele 534

Mit unterschiedlicher Begründung u. a. Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 36; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, Einl. Rn. 9 f.; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, S. 362 ff.; Roxin, Strafrecht AT/I, § 2 Rn. 9. Missverständlich ist insofern Kohlmann, Strafverfolgung und Strafverteidigung im Steuerstrafrecht, S. 5 ff. [19 f.], indem er angibt, die Steuerhinterziehung schütze kein Rechtsgut, sondern nur die öffentliche Kasse. Er übersieht dabei, dass es sich bei dem so interpretierten Vermögen des Staates doch auch um ein legitimes Rechtsgut – wie § 263 StGB mit seinem generellen Vermögensschutz beweist – handeln kann. Zu dieser Deutung Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 50; Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung und Steuerverkürzung im Festsetzungsverfahren, S. 19 ff. Zum „verfassungslegitimen Eingriffsgrund“ der Staatsfinanzierung durch Steuern u. a. Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, S. 74 ff. [76 f.]. 535 So aber Isensee, NJW 1985, S. 1007 ff. 536 Zutreffend Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung und Steuerverkürzung im Festsetzungsverfahren, S. 23.

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

sich bei der steuerrechtlichen Bezugnahme nicht um ein normatives Tatbestandsmerkmal (Steuerverkürzung und Erlangung nicht gerechtfertigte Steuervorteile), sondern um einen die Steuergesetze selbst inkorporierenden Blankett­tatbestand.537 Hiernach muss der Täter für den erforderlichen Tatbestandsvorsatz nach ganz einhelliger Ansicht nicht nur die für die steuerrechtlichen Ausfüllungsnormen maßgebliche Tatsachenkenntnis besitzen, sondern zudem auch den dadurch verwirklichten Steueranspruch in einer „Parallelwertung der Laiensphäre“ kognitiv erfassen (sog. Steueranspruchstheorie).538 Eine andere Deutung lässt schon das Tatbestandsmerkmal der „Steuerverkürzung“ nicht zu, auf das sich natürlich auch der Vorsatz beziehen muss und demzufolge eine laienartige Vorstellung von dem materiellen Steueranspruch beim Täter voraussetzt.539 Es kommt hinzu, dass gerade bei Blankettstrafgesetzen die außerstrafrechtlichen Bezugsnormen uneingeschränkt dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG unterfallen und daher gerade im Hinblick auf eine Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung das Steuerrecht besonderen Kautelen unterworfen wird.540 2. Der methodologische Rechtsgutsbegriff Steht somit fest, dass die Steuerhinterziehung einen berechtigten Platz im deutschen Strafrecht einnimmt, stellt sich des Weiteren die Frage, ob der beschriebene Sachverhalt der „Fristerschleichung“ unter den vom Gesetzgeber vorgegebenen Tatbestand der Steuerhinterziehung subsumiert werden kann. Hierbei kommt eine weitere Funktion des Rechtsgutes zum Tragen, die sich von der vorbenannten systemkritischen Funktion wesentlich unterscheidet. Dieser nun interessierende dogmatische (auch methodisch-teleologische)541 Rechtsgutsbegriff wird  – ohne die 537 Diese gefestigte Ansicht insbesondere der obergerichtlichen Rechtsprechung (siehe zuletzt BVerfG v. 16.06.2011 – 2 BvR 542/09) wird heute von Seiten der Literatur zunehmend in Zweifel gezogen. Siehe hierzu später: bb) Subjektiver Tatbestand – zugleich: Ist die Steuerhinterziehung ein Blankett? (S. 198). 538 Siehe nur in Rechtsprechung und Schrifttum: BGHSt  5, S.  90 ff.; BGH, wistra 1989, S.  263; Joecks, in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn.  235; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 661; Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 144b; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 238 ff.; Schmitz/ Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 327; Blesinger, in: Kühn/v. Wedelstädt, AO, § 370 Rn. 58; Jäger, in: Klein, AO, § 370 Rn. 171; Dumke, in: Schwarz, AO, § 370 Rn. 130. 539 Zum subjektiven Tatbestand später eingehend unter: bb)  Subjektiver Tatbestand  – zugleich: Ist die Steuerhinterziehung ein Blankett? (S. 198). 540 Vgl. u. a. BVerfGE  37, S.  201; BVerfG NStZ 1991, S.  88. Siehe allerdings zur eingeschränkten Blanketteigenschaft der Steuerhinterziehung die späteren Ausführungen unter: bb) Subjektiver Tatbestand – zugleich: Ist die Steuerhinterziehung ein Blankett? (S. 198). 541 Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 19, 49 f. m. w. N., der diesbezüglich von einem systemimmanenten Rechtsgutskonzept spricht. Zustimmend u. a. Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 256 ff.; Maurach/Zipf, Strafrecht AT/1, § 19 Rn. 17 ff.; Weigend, in: LK-StGB, Einl. Rn. 8; Walter, in: LK-StGB, Vor § 13 Rn. 8 ff.; Freund, in: MüKo-StGB, Vor §§ 13 ff. Rn. 45; Rudolphi, in: SK-StGB, Vor § 1 Rn. 3 ff.

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Daseinsberechtigung der Strafnorm selbst anzuzweifeln – zur Auslegung des (objektiven) Gesetzessinns herangezogen.542 Stellt der Gesetzgeber menschliches Verhalten unter Strafe, so ist er nicht zuletzt aus verfassungsrechtlichen Gründen gezwungen, mit dieser Sanktion einen ganz bestimmten Zweck zu erfüllen. Es wurde bereits gezeigt, dass es dem Strafrecht dabei um die Schaffung und Erhaltung eines sozialen Miteinanders geht, indem es sozialschädliches Verhalten zu eliminieren sucht. Die Realisierung ist unmittelbare Aufgabe der einzelnen Strafgesetze, indem durch sie in unterschiedliche Bereiche des menschlichen Lebens lenkend eingegriffen wird. Jede einzelne Verbotsnorm enthält dabei vom Gesetzgeber ganz bewusst einen spezifischen Schutzzweck, der als „Rechtsgut“ beschrieben werden kann.543 Für die Entscheidung, ob ein bestimmtes menschliches Verhalten diesem Verbrechenstatbestand unterfällt, muss daher insbesondere auf diese vom Gesetzgeber dem Tatbestand zugedachte Zweckbestimmung zurückgegriffen werden.544 Methodologisch ist das Rechtsgut demnach nichts anderes als „der vom Gesetzgeber in den einzelnen Strafrechtssätzen anerkannte Zweck in seiner kürzesten Formel“545. Diese Ausführungen dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Strafvorschrift nur selten über den ihr zugedachten Zweck Auskunft gibt. In einer Vielzahl von Fällen erscheint es daher notwendig, in einem ersten Schritt das Rechtsgut selbst durch Auslegung zu ermitteln. Nur so lässt es sich vermeiden, dass reine Rechtsgutsbehauptungen als Anknüpfungspunkt einer sich daran anschließenden Gesetzesauslegung fungieren. Allerdings liegt dabei auch die Gefahr eines Zirkelschlusses offen zu Tage. Das Rechtsgut soll einerseits als Mittel der teleologischen Auslegung einer Strafvorschrift dienen und andererseits selbst ein Produkt der Auslegung sein.546 Ein Ausbruch aus diesem drohenden Begründungskreisel wird durch eine Einschränkung der bei der Ermittlung des Rechtsgutes zur Verfügung stehenden Auslegungsmethoden erwogen.547 Es können demnach nur die Merkmale einer Norm berücksichtigt werden, für die das Rechtsgut selbst nicht herangezogen werden braucht. Dies sind im Wesentlichen die bereits bekannten Elemente einer Norm, ihre systematischen Bezüge sowie ihre Motive hinsichtlich des zu ermittelnden Rechtsguts.548 542 Grundlegend dazu Honig, Einwilligung des Verletzten, S. 83 ff.; Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, S. 21 ff.; Grünhut, Festgabe für v. Frank, S. 1 ff. 543 Honig, Einwilligung des Verletzten, S. 93 f. Es handelt sich also um die bewusste gesetzgeberische Entscheidung, ein Gut unter strafrechtlichen Schutz zu stellen. Demzufolge ist nach Rudolphi, in: SK-StGB, Vor § 1 Rn. 4, das Rechtsgut ein „durch und durch positivrechtlicher Begriff“. 544 Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 57 f. 545 Honig, Einwilligung des Verletzten, S. 93. 546 Walter, in: LK-StGB, Vor § 13 Rn. 12; Nelles, Untreue zum Nachteil von Gesellschaften, S. 289 f.; vgl. auch Schlehofer, JuS 1992, S. 572 ff. [576]. 547 Nelles, Untreue zum Nachteil von Gesellschaften, S.  290; zust. Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, S. 25. 548 Nelles, Untreue zum Nachteil von Gesellschaften, S. 290.

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Das sich so darstellende Rechtsgut bedarf aber, um für eine tatsächliche Zweckbestimmung fruchtbar zu sein, zwei weiterer Präzisierungen, die ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Zum einen wird das Rechtsgut nicht generell, sondern nur vor bestimmten menschlichen Verhaltensweisen geschützt.549 Insofern wird niemand bestreiten können, dass bsplw. der Diebstahl gemäß § 242 Abs. 1 StGB (zumindest auch) dem Eigentumsschutz dient. Doch wird man mit diesem handlungsentkleideten Rechtsgut allein eine Abgrenzung zur bloßen und nur ausnahmsweise strafbaren Gebrauchsanmaßung nicht leisten können. Denn auch letztere stellt unstreitig einen solchen Eingriff in das Eigentumsrecht dar. Das Rechtsgut muss daher, um überhaupt als aussagekräftige „Formel“ dienen zu können, in Beziehung zu der verbotenen Handlungsweise gesetzt werden. Daraus ergibt sich die Erkenntnis, dass der genannte Diebstahl das Eigentum gerade vor Wegnahme zum Zwecke der Zueignung schützen soll.550 Gleiches gilt für den Betrug, der das Vermögen nur vor Täuschungen bewahrt.551 Zum anderen darf das Rechtsgut nicht mit dem tatbestandlichen Handlungsobjekt gleichgesetzt werden, an dem sich die verbotene Handlung „körperlich vollzieht“552.553 Deutlich wird dies vor allem bei Erfolgsdelikten.554 Knüpft ein Straftatbestand neben der von ihm vorausgesetzten Handlung an einen dadurch verursachten Erfolg an, so muss dieser durch eine konkrete Veränderung der Außenwelt in Erscheinung treten. Das Handlungsobjekt ist bei diesem äußeren Vorgang derjenige Gegenstand, der durch die verbotene Handlung betroffen, häu 549

Honig, Einwilligung des Verletzten, S. 95 f., hat dies für das Rechtsgut Leben, das im geltenden Strafrecht einen umfassenden Schutz genießt, exemplifiziert: „Der Schutzobjektsbegriff ist nur ein Anschauungsform für die Zweckbestimmung der einzelnen Strafrechtssätze und zwar derart, daß mit den Schutzobjekten die einzelnen Gemeinschaftswerte gerade in Beziehung begriffen werden sollen, in der sie durch strafwürdig erscheinende Handlungen verletzt werden können. So ist z. B. der Gemeinschaftswert des Lebens eines Menschen Schutzobjekt ausnahmslos gegenüber denjenigen Handlungen anderer Menschen, die jenes zu verletzen geeignet sind; nicht aber auch Schutzobjekte gegenüber Handlungen dieser Art vonseiten des Trägers des Lebens selbst. […] Ist aber dieser oder jener Gemeinschaftswert nicht an sich ‚Schutzobjekt‘, ‚Rechtsgut‘, sondern nur in Beziehung auf einzelne bestimmte Handlungen, […].“ Maurach/Zipf, Strafrecht AT/1, § 19 Rn. 7; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 9. Für die Steuerhinterziehung Dannecker, Steuerhinterziehung im internationalen Wirtschaftsverkehr, S. 167 ff. [170]. 550 So i.E. Vogel, in: LK-StGB, Vor §§ 242 Rn. 52. Dort auch (Rn. 59 f.) zu der umstrittenen Frage, ob es sich bei dem Gewahrsam um ein eigenständiges Rechtsgut handelt. Für den hier dargestellen Eigentumsschutz ergibt sich daraus aber keine Änderung. 551 Hefendehl, in: MüKo-StGB, § 263 Rn. 9. 552 So Maurach/Zipf, Strafrecht AT/1, § 19 Rn. 14 ff. 553 Honig, Einwilligung des Verletzten, S. 86; Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, Vor § 1 Rn. 121; Weigend, in: LK-StGB, Einl. Rn. 8; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, S. 39 ff. 554 Wobei nicht ausgeschlossen ist, dass auch Tätigkeitsdelikte ein Handlungsobjekt enthalten können. Bsplw. sei hier der § 248b Abs. 1 StGB (Unbefugter Gebrauch eines Fahrzeuges) genannt, bei dem sich die unbefugte Ingebrauchnahme (Tathandlung) an einem Kraftfahrzeug oder Fahrrad (Handlungsobjekt) vollziehen muss. Zu den unterschiedlichen Konstellationen von Erfolgs- und Tätigkeitsdelikt mit und ohne Handlungsobjekt schon Hirschberg, Die Schutzobjekte, S. 32 f. Zu Erfolgsdelikten u. a. Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 260.

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fig sogar messbar beeinträchtigt und an dem der tatbestandliche Erfolg letztlich sinnfällig wird.555 Es gilt damit zu Recht als Repräsentant des zu schützenden Rechtsgutes, ist allerdings häufig nicht mit ihm identisch.556 Die aus diesem Grunde erforderliche Unterscheidung zwischen Rechtsgut und konkretem Handlungsobjekt kann dabei dergestalt vorgenommen werden, dass die Handlung des Täters aus unterschiedlichen Perspektiven des Subsumtionsvorgangs betrachtet wird. Vor der Subsumtion steht das Handlungsobjekt als äußeres (subsumierbares) Geschehen, wohingegen das Rechtsgut nach der Subsumtion und zwar erst aus seinem speziellen Bezug zur Normwidrigkeit ausfindig gemacht werden kann.557 Der Gesetzgeber hat es also nicht nur in der Hand, das Rechtsgut vor ganz bestimmten Verhaltensweisen zu schützen, sondern er kann gleichzeitig ausschließlich bestimmte Repräsentanten eines Rechtsgutes den strafrechtlichen Verbotsnormen unterstellen. Auch dies verdeutlicht wiederum der dem Eigentumsschutz dienende Diebstahlstatbestand, da er dieses Rechtsgut im Hinblick auf das Handlungsobjekt der beweglichen Sache nicht unerheblich einschränkt.558 Insgesamt sind diesbezüglich drei gesetzgebungstechnische Ausgestaltungen denkbar: Handlungsobjekt und Rechtsgut können identisch (z. B. hinsichtlich des Vermögens im Sinne des § 263 StGB) sein, lediglich inhaltlich übereinstimmen (z. B. ein [anderer] Mensch und das menschliche Leben im Sinne der §§ 211 ff.) oder sogar weder eine formale noch inhaltliche Übereinstimmung (z. B. die gefälschte Urkunde und die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Beweisverkehrs mit Urkunden gemäß § 267 StGB und ebenfalls der vorbenannte § 242 StGB) aufweisen.559 Eine besondere Begründung erfordert die letztgenannte Fallgruppe, da die Beziehung zwischen dem Handlungsobjekt und dem zu repräsentierenden Rechtsgut in vielen Fällen nicht augenfällig ist.560 Diesem besonderen Problem, das häufig bei kollektiven Rechtsgütern anzutreffen ist, muss allerdings in Anbetracht des noch zu klärenden Rechtsgutes der Steuerhinterziehung an dieser Stelle nicht näher nachgegangen werden. Die obige Unterscheidung zwischen dem Handlungsobjekt und dem dadurch im jeweiligen Tatbestand repräsentierten Rechtsgut darf aber auch angesichts der 555 Hirschberg, Die Schutzobjekte der Verbrechen, S. 20 ff. [23]. Bei einigen Delikten muss eine sinnfällige Verletzung aber nicht zwingend eintreten. So bleibt bsplw. bei der Freiheitsberaubung gemäß § 239 Abs. 1 StGB das Handlungsobjekt „Mensch“ trotz der aufgehobenen Fortbewegungsfreiheit (Erfolg) äußerlich unangetastet. 556 Maurach/Zipf, Strafrecht AT/1, § 19 Rn. 15, sprechen von einem „zufälligen Repräsen­tanten“. 557 So schon Hirschberg, Die Schutzobjekte der Verbrechen, S.  20 ff.; zustimmend Honig, Einwilligung des Verletzten, S. 90 f. Ähnlich auch Sieber, Computerkriminalität und Strafrecht, S. 255 f.; zust. Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, S. 39 f. 558 Vgl. zur Strafbarkeit von Grundstücks- und Gebäudeursurpation de lege ferenda Vogel, in: LK-StGB, Vor §§ 242 Rn. 35. 559 Insgesamt dazu Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, S.  39 ff.; ders, Die Rechtsgutstheorie, S. 119 ff. Ganz konkret zu § 370 AO siehe Dannecker, Steuerhinterziehung im internationalen Wirtschaftsverkehr, S. 167 ff. 560 Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, S. 39 ff., S. 147 ff.; ders, Die Rechtsguts­ theorie, S. 119 ff.

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idealisierten Zweckbestimmung nicht zu dem Schluss verleiten, nur ersteres würde durch die tatbestandsverwirklichende Handlung des Täters beeinträchtigt. Zwar wird das Rechtsgut teilweise auch als „Interesse“561 oder „Vertrauen“ wie etwa das öffentliche Interesse bzw. Vertrauen an einer wahrheitsgemäßen Tatsachenfeststellung in gerichtlicher und gewissen sonstigen Verfahren gemäß §§ 153 ff. StGB umschrieben, so dass man generell an einer Verletzbarkeit zweifeln könnte.562 Dabei handelt es sich jedoch nur um eine besondere Formulierungsweise des Rechtgutes, indem die in ihm steckende Zweck- und somit auch Schutzfunktion besonders herausgestellt wird. Maßgeblich ist gleichwohl die Erkenntnis, dass eine konkrete Handlung doch nur dann eine Strafe verdient, wenn sie das geschütze Rechtsgut verletzt oder (zumindest abstrakt) gefährdet hat.563 Ansonsten ließe sich nicht mit der notwendigen Gewissheit feststellen, dass die strafrechtliche Schutzbestimmung ihr selbstauferlegtes Ziel „Schutz des Lebens, der Gesundheit, des Eigentums, des Vermögens etc.“ auch tatsächlich im Einzelfall erfüllt, indem es nur ein diesen geschützten Gütern zuwiderlaufendes Verhalten bestraft.564 Dies hätte zu 561

So v. Liszt, Lehrbuch des Dt. Strafrechts, § 1 S. 4. Zu Recht kritisch Müller, in: MüKo-StGB, Vor §§ 153 ff. Rn. 9. Allgemein dazu Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, S. 30 f. 563 Zu dem in dieser Arbeit vertretenen realen Rechtsgutsbegriff: Hirschberg, Die Schutzobjekte der Verbrechen, S. 60 ff.; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, S. 30 ff.; ausf. Amelung, Rechtsgüterschutz und der Schutz der Gesellschaft, S.  175 ff., 195 f.; ausführlich und m. w. N. Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S.  38 ff. A. A. (ideeler Rechtsgutsbegriff)  u. a. Schmidhäuser, Strafrecht AT, S.  37 f.; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S.  256 ff.; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 9 m. w. N. Diese Gegenauffassung sieht das Rechtsgut als einen „ideellen Wert“ an, der durch das Strafrecht geschützt werden soll. Natürlich könne nun nicht dieses abstrakte Interesse durch die konkrete Tat verletzt werden, sondern allenfalls der mit ihm verbundene „Geltungsanspruch“ (so Jescheck, a. a. O.) oder „Achtungsanspruch“ (so Schmidhäuser, a. a. O., S. 37). Demgegenüber gebe es aber auch noch ein sog. Rechtsguts­ objekt, an dem sich der vom Rechtsgut ausgehende Achtungsanspruch konkretisiere und der letztlich in seinem Bestand verletzt werde. Fraglich ist allerdings, ob es wirklich notwendig erscheint, den Begriffen des Rechtsgutes und des Handlungsobjektes, die selbst keiner einheitlichen Verwendung (für ersteres bsplw. Schutzobjekte, für letzteres bsplw. Tatobjekte) unterliegen, einen weiteren hinzuzufügen. Ein Erkenntnisgewinn scheint jedenfalls für den methodologischen Rechtsgutsbegriff mit dieser Unterscheidung nicht verbunden zu sein, so dass diese Arbeit auf eine weitergehende Auseinandersetzung verzichtet. Soweit im weiteren Verlauf dieser Arbeit vom Rechtsgut gesprochen wird, kann man diesen mit dem Rechtsguts­objekt des ideellen Rechtsgutsbegriffs wohl gleichsetzen können. Ähnlich auch Schulenburg, Die Rechtsgutstheorie, S. 244 ff. [249]: „Dagegen [im Gegensatz zum ideellen Rechts­gutsbegriff, Anm. d. Verf.] ist diese Unterscheidung ausgehend von dem realen Rechtsgutsbegriff der Sache nach überflüssig. Rechtsgutsobjekt und Rechtsgut können als Synonyme betrachtet werden“. Kritisch zum ideellen Rechtsgutsbegriff insbesondere Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S. 35 ff., die schon die terminologischen Schwächen der Vertreter des ideellen Rechtsgutsbegriffs aufdeckt (a. a. O., S. 79 ff.). 564 Zu dieser Herleitung Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 2: „Das Strafrecht will zunächst bestimmte Lebensgüter der Gemeinschaft (Sachverhaltswerte) schützen, wie z. B. den Bestand des Staates, das Leben, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum, usf. (sog.  Rechtsgüter), indem es deren Verletzung (den Erfolgsunwert) mit Rechtsfolgen belegt. Diesen Rechtsgüter 562

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dem die bedenkliche Konsequenz, dass lediglich der Verstoß einer aus dem Straftatbestand selbst folgenden Verhaltenspflicht unter Strafe gestellt würde. Zu Recht kommt es daher auch bei der Unterscheidung zwischen den Deliktskategorien der Verletzungs- in Abgrenzung zu den konkreten und abstrakten Gefährdungsdelikten ganz entscheidend auf den Grad der Rechtsgutsbeeinträchtigung an.565 II. Die Steuerhinterziehung Die nun anstehende Untersuchung des Rechtsgutes der Steuerhinterziehung ist für die Fälle der „Fristerschleichung“ in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Da es ein tatbestandsmäßiges Verhalten ohne jeglichen Rechtsgutsbezug nicht geben kann, muss zuallererst die sich aus dem Steuerbescheid ergebende überschießende Steuerforderung zum sogleich herauszuarbeitenden Rechtsgut zählen. Ohne diese grundlegende Erkenntnis ist jede weitere Prüfung am Tatbestand des § 370 Abs. 1 StGB für unsere Fälle ohne Wert. Erst nach positiver Rechtsgutsprüfung ist sodann zu untersuchen, ob auch der Tatbestand eine entsprechende Auslegung zulässt. Auch diesbezüglich stellt das Rechtsgut den entscheidenden „Fluchtpunkt“566 dar, auf den sich die Arbeit am Gesetz hinbewegen muss. Eine allgemeine Untersuchung des Rechtsgutes der Steuerhinterziehung ist daher für die Fälle der „Frist­ erschleichung“ ein wesentlicher Baustein. 1. Der „Steuerbetrug“ Bevor sich die vorliegende Arbeit mit den einzelnen Ansichten zum Rechtsgut beschäftigt, gilt es in einem ersten Schritt durch die Zusammenstellung von Grundannahmen, eine ausreichende Argumentationsbasis für die Zwecksetzung der Steuerhinterziehung zu schaffen. Nur so kann dem Umstand ausreichend Rechnung getragen werden, dass auch das Rechtsgut seinerseits erst durch Auslegung zu ermitteln ist. Ferner erleichtern sie den Zugang zu dem vertretenen Meinungsspektrum. Als Erstes ist zu konstatieren, dass sich die Motive zur Steuerhinterziehung, angefangen mit der reichseinheitlichen Regelung des § 359 RAO (1919), nie eindeuschutz erreicht es dadurch, daß es die auf Rechtsgüterverletzung abzielende Handlung verbietet und bestraft: also Verhinderung der Sachverhalts- oder Erfolgsunwerte durch Pönalisierung der Aktunwerte. Dadurch sichert es die Geltung der positiven sozialethischen Aktwerte, wie der Achtung vor fremden Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum usf. Diese in der beständigen rechtlichen (d. h. legalen, nicht notwendig moralischen) Gesinnung wurzelnden Werte rechtmäßigen Handelns bilden den positiven sozialethischen Hintergrund der strafrechtlichen Normen.“ 565 Zu der Abgrenzung zwischen Verletzungs- und Gefährdungsdelikt Maurach/Zipf, Strafrecht AT/1, § 20 Rn.  29; neuerdings auch Rotsch, „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, S. 436 ff. und später näher unter: II. Gefährdungsdelikt (S. 169). 566 Zu diesem anschaulichen Begriff Schünemann, Die Rechtsgutstheorie, S. 133 ff.

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tig zum geschützten Rechtsgut geäußert haben.567 Insbesondere der Gesetzgeber dieses ersten allgemeinen Hinterziehungstatbestandes sah – anders als man es vermuten würde  – keine Veranlassung zu einer eingehenden generellen Äußerung. Denn es war nicht sein Ziel, einen steuerstrafrechtlichen Neuanfang zu schaffen, der eventuell sogar vorhandene Fehler oder Ungereimtheiten der bisherigen Rechtsanwendung beseitigen sollte. Im Vordergrund stand vielmehr die Schaffung „eine[r] für alle Steuergesetze gültige[n] Begriffsbestimmung der Steuerhinterziehung“568, wobei ausdrücklich an bereits bestehende Straftatbestände – § 31 UStG, § 13 MineralwässerStG, § 22 WeinStG, § 42 BierStG, § 155 BranntwMonG (jeweils aus dem Jahr 1918)569 – angeknüpft wurde. Diese bestehenden Vorschriften dienten aber nicht nur als gesetzgebungstechnisches Vorbild, sondern es sollte insgesamt „an dem in diesen Gesetzen eingeschlagenen Wege“ festgehalten werden.570 Eine Neujustierung des Steuerstrafrechts wurde vom damaligen Gesetzgeber daher nicht bezweckt. Weitergehenden Aufschluss über das Rechtsgut könnten daher allenfalls die vorbenannten Vorgängerregelungen geben. Jedoch enthielten auch sie keine eindeutige Bestimmung über das ihnen zugrunde liegende Rechtsgut.571 Im Übrigen kann ebenfalls nicht auf die vor Einführung der Reichsabgabenordnung (1919) geltenden sonstigen steuerstrafrechtlichen Regelungen in den unzähligen Einzelsteuergesetzen zurückgegriffen werden. Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass jede einzelne Steuerart eine eigenständige steuerstrafrechtliche Regelung enthielt, die im Vergleich zueinander zum Teil erheblich voneinander abwichen,572 lassen sich für das Rechtsgut des heutigen Straftatbestan­des aus den einzelnen Motiven jedenfalls keine gesicherten Rückschlüsse ableiten. 567 Siehe dazu im Wesentlichen die Gesetzesbegründungen: Verhandlungen der verfassung­ ge­ben­den Deutschen Nationalversammlung, Drucks. Nr. 759 (Bd. 338, Anlage zu den Steno­ graphischen Berichten), Zu § 356, S.  598 (RAO  v.  13.12.1919; RGBl.  1919, S.  1993); BTDrucks. V/1812, Zu § 392 (2. AO-ÄndG v.12.08.1968; BGBl.  I  1968, S.  953); BT-Drucks. VI/1982, Zu § 353, S. 193 ff., und BT-Drucks. 7/4292, Zu § 371, S. 43 f. (AO [1977] v. 16.03.1976; BGBl. I 1976, S. 613; 1977, S. 269). 568 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Drucks. Nr. 759 (Bd. 338, Anlage zu den Stenographischen Berichten), Zu § 356 (S. 598). 569 RGBl. 1918, S. 779 (UStG), S. 831 (WeinStG), S. 836 (BierStG), S. 849 (MineralwässerStG), S. 887 (BranntwMonG). So u. a. § 31 Abs. 1 S. 1 UStG (1918): „Wer vorsätzlich die Umsatzsteuer hinterzieht oder einen ihm nicht gebührenden Steuervorteil erschleicht, wird mit einer Geldstrafe bis zum zwanzigfachen Betrage der gefährdeten oder hinterzogenen Steuer bestraft.“ Dazu auch Schneider, Die historische Entwicklung des Straftatbestandes der Steuerhinterziehung, S. 40 ff. 570 Siehe Fn. 568. 571 Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode (1914/1918), Bd.  324, Anlage Nr. 1455 (BierStG), Anlage Nr. 1457, S. 22 (WeinStG), Anlage Nr. 1459 (MineralwässerStG), Anlage Nr. 1460, S. 80 (BranntwMonG), Anlage Nr. 1461 (UStG). 572 Die Steuerstrafvorschriften bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren teilweise als echte Unternehmensdelikte (so u. a. § 11 SalzStG [RGBl. 1867, S. 41 ff.]: „Wer es unternimmt, dem Staate, die Abgabe inländischer Salze zu entziehen, ist der Salzabgaben-Defraudation schuldig …“), echte Unterlassungsdelikte (u. a. § 27 BrauStG [RGBl. 1872, S. 161]: „Wer die in § 1 bezeichne­ten Stoffe zum Brauen verwendet, […], ohne die gesetzliche Anmeldung zur Brausteuer  bewirkt zu haben, der macht sich der Brausteuer-Defraudation schuldig.“) und nach

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Gesichert ist demgegenüber die Erkenntnis, dass die Steuerhinterziehung ein Sondertatbestand des Betruges darstellt und diesem uneingeschränkt vorgeht. Soweit daher Steuern oder spezifische Vorteile des Steuerrechts betroffen sind, finden die Vorschriften des § 263 StGB und auch des § 263a StGB schon aufgrund der bestehenden Gesetzeskonkurrenz zu § 370 AO tatbestandlich keine Anwendung.573 Diese Nähe zum Betrug entspricht dem zumindest seit der Reichsabgabenordnung (1919) vorherrschenden Bild der Steuerhinterziehung,574 die bereits vor dem Inkrafttreten des § 359 RAO (1919) in den Einzelsteuergesetzen auch als „De­ fraudation“575 bezeichnet wurde,576 und auch in der heutigen Zeit teilweise (umgangssprachlich) immer noch als „Steuerbetrug“ bezeichnet wird.577 Einführung der Steuererklärungspflicht auch als Tätigkeitsdelikte („Machen unrichtiger oder unvollständiger Angaben“, so u. a. in § 33 KriegsStG [RGBl. 1916, S. 571]: „Wer als Abgabepflichtiger oder als Vertreter eines Abgabepflichtigen wissentlich der Steuerbehörde unrichtige oder unvollständige Angaben macht, die geeignet sind, eine Verkürzung der Abgabe herbeizuführen, wird […] bestraft.“ – ähnlich auch § 66 PreußEStG [vom 24.06.1891, Gesetz-Sammlung für die königlichen Preußischen Staaten, 1891, S. 175] ausgestaltet. Eine ausführliche Zusammenstellung der mannigfaltigen Tatbestände gibt Schneider, Die historische Entwicklung des Straftatbestandes der Steuerhinterziehung, S. 21 ff. 573 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Drucks. Nr. 759 (Bd. 338, Anlage zu den Stenographischen Berichten), Zu § 356 (S. 598); RGSt 63, S. 139 [142]; BGHSt 51, S. 356 (dort auch zu § 263a StGB); wistra 2008, S. 310 ff. [312]; Joecks, in: Franzen/ Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 87 (Exklusivität); Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 880 ff. (Exklusivität); Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 196 (Spezialität). Dies gilt nach heutiger Rspr. (BGHSt 40, S. 109) sogar dann, wenn nicht nur einzelne Steuervorgänge vorgetäuscht werden, sondern im Rahmen einer Total­ fiktion sogar der Steuerpflichtige (Scheinfirma)  nicht wirklich existiert. Siehe dazu: aa)  Die Herleitung der heutigen Ansicht – zugleich: Abgrenzung von den Tatobjekten (S. 152). 574 So eindeutig E. Becker, RAO, Vor § 355 Anm. 1: „Daß die AO. scharfe und schärfste Mittel bot, die Besteuerung durchzusetzen und die Steuerschieber zu fassen, erwarb ihr bei allen Parteien Vertrauen; mochten auch über die Einzelheiten die Ansichten auseinander gehen, hinsichtlich der Charakterisierung der Steuerhinterziehung als eines dem Betrug ähnlichen Deliktes war alles einig. […] Ob diese allgemeine Überzeugung, daß der Steuerhinterzieher als Steuerbetrüger zu behandeln sei, vorhalten wird, bleibt abzuwarten; zurzeit herrscht sie und hat ohne Zweifel eine starke Annährung des wichtigsten Teils des Steuerstrafrechts an das allgemeine Strafrecht bewirkt.“ 575 Lat. defraudo = betrügen, täuschen, übervorteilen, beeinträchtigen, aus: Menge-Güthling, Wörterbuch der lateinischen und deutschen Sprache, Teil I. 576 So bsplw. § 242 ALR (Allgemeines Landrecht für preußische Staaten von 1794, Zweyter Theil, Zwanzigster Titel [Von den Verbrechen und deren Strafen], Siebenter Abschnitt [Von Anmaßungen und Beeinträchtigungen der vorbehaltnen Rechte des Staats]): „Wer dem Staate die schuldigen Abgaben und Gefälle betrüglicher Weise vorenthält, ist, wenn nicht besondere Gesetze eine andere Strafe bestimmen, den vierfachen Betrag des Vorenthaltenen zu erlegen verbunden.“ Zu den speziellen Defraudationstatbeständen siehe die §§ 278 ff. ALR (Accise- und Zollverbrechen). Dazu eingehend Schneider, Die historische Entwicklung des Straftatbestandes der Steuerhinterziehung, S. 5 ff. 577 Siehe bsplw. die Kommentierung von Webel/Dumke, in: Schwarz, AO, § 370 Rn. 6, der Aufsatz von Buse/Bohnert, NJW 2008, S. 619 ff., mit dem Titel „Steuerstrafrechtliche Änderungen zur Bekämpfung des Umsatz- und Verbrauchsteuerbetruges“. Ferner zum AlternativEntwurf (AE) eines Strafgesetzes den dortigen § 200 „Steuerbetrug“.

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

Allerdings kann auch angesichts dieser sprachlichen Nähe eine Übertragung materiell-rechtlich gesicherter Grundsätze des Betrugstatbestandes auf die Steuerhinterziehung schon deshalb nur bedingt erfolgen, weil die Unterschiede zwischen beiden Straftatbeständen unschwer ersichtlich sind.578 Die Steuerhinterziehung sieht als Erfolg die Steuerverkürzung oder die Erlangung nicht gerechtfertigter Steuervorteile vor, der Betrug hingegen einen durch Verfügung verursachten Vermögensschaden, ohne dass es zu einem Vermögenszuwachs bei dem Täter oder einem Dritten gekommen sein muss. Zur Tatbestandsmäßigkeit bedarf es beim Betrug insofern nur die darauf gerichtete Absicht des Täters, sich selbst oder einen Dritten rechtswidrig zu bereichern. Im Fall der Steuerhinterziehung ist die Konstruktion eines erfolgskupierten Deliktes dagegen nicht gewählt worden. Wahrscheinlich sah man in den beiden Erfolgsalternativen der Steuerhinterziehung den entscheidenden Moment, ab dem sowohl der Vermögensschaden als auch die rechtswidrige Bereicherung regelmäßig einzutreten pflegen. Zwingend ist dies schon aus dem Grunde nicht, weil zum einen der Erfolg der Vorteilserlangung gemäß § 370 Abs.  4 S.  2  – 2.  Hs. AO auf eine reine steuerverfahrensrechtliche Gewährung oder Belassung abstellt und zum anderen der Erfolg der Steuerverkürzung zumindest nach ganz überwiegender Meinung keinen endgültigen Vermögensschaden des Staates voraussetzt.579 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang aber dennoch, dass zur tatbestandsmäßigen Steuerhinterziehung lediglich dolus eventualis genügt und gerade kein besonderes subjektives Merkmal erforderlich ist.580 Ferner soll bei der Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs.  1 Nr.  1 AO nach der obergerichtlichen Rechtsprechung im Gegensatz zum Betrug kein In-Unkenntnis-Lassen des oder Irrtum-Erregen bei dem für die Steuerfestsetzung zuständigen Finanzbeamten nötig sein.581 Des Weiteren sind im Falle der Steuer­ 578

Vgl. bereits RGSt 60, S. 182 [186]. Hinsichtlich der „Gewährung“ von Steuervorteilen soll schon das Wirksamwerden der begünstigenden Verfügung genügen, ohne dass es auch zu einer konkreten vermögensrechtlichen Verfügung gekommen sein muss, so u. a. Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 564. Hinsichtlich der Steuerverkürzung genügt schon die unzutreffende Steuerfestsetzung, auch wenn diese später wieder geändert wird. Siehe dazu ausführlich: II. Gefährdungsdelikt (S. 169). 580 Siehe nur Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn.  614. Dies war vor der Gesetzesfassung des heutigen § 370 AO (1977) umstritten, da der Tatbestand damals nicht von „für sich oder einen anderen“ sondern von „zum eigenen Vorteil oder zum Vorteil eines anderen“ sprach. Um zu verhindern, dass die Steuerhinterziehung als ein Absichtsdelikt verstanden wurde, hat man sich für die nun geltende Gesetzesfassung entschieden. Siehe dazu BTDrucks. 7/4292, Zu § 370; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 15. 581 Hierbei handelt es sich vor allem um Fälle, in denen der zuständige Finanzbeamte an der Steuerhinterziehung (durch unrichtige oder unvollständige Angaben) mitwirkt. Da für diese Fälle gerade die Regelbeispiele des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2, Nr. 3 AO vorgesehen seien, müsse die Steuer­hinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO auch trotz Kenntnis des wahren Sachverhaltes bei dem zur Veranlagung zuständigen Finanzbeamten anwendbar sein, so BGH wistra 2000, S. 63; BFH, BStBl. II 2006, S. 356; BGHSt 51, S. 356; zust. Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn.  579 ff.; a. A. Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 125; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 198, jeweils m. w. N. 579

1. Abschn.: Der strafrechtliche Charakter der Steuerhinterziehung 

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hinterziehung unter anderem die Sondervorschriften wie etwa das in § 370 Abs. 4 S. 3 AO verankerte Kompensationsverbot oder die Selbstanzeige gemäß § 371 AO zu berücksichtigten, die im Vergleich zu der betrugsrechtlichen Dogmatik erhebliche Unterschiede aufweisen. Bei § 370 AO handelt es sich somit um ein durch und durch eigenständiges Delikt. Doch bei allen unverkennbaren Differenzen beider Vorschriften darf die entscheidende Gemeinsamkeit nicht außer Acht gelassen werden: Beiden wohnt von jeher ein vermögensdeliktischer Kern inne.582 Denn auch bei der Steuerhinterziehung wird das wirtschaftliche Vermögen (in diesem Fall: des Staates) durch die Tathandlungen zwar nicht in jedem Fall geschmälert, aber doch zumindest gefährdet.583 Dies lässt sich unschwer aus dem Taterfolg der Steuerverkürzung entnehmen. Der verwirklichte Steueranspruch kann durch die tatbestandsmäßige Handlung entweder gar nicht, nicht in voller Höhe oder nicht rechtzeitig in einen vollstreckungsfähigen Steuerbescheid umgesetzt und damit letztendlich realisiert werden. Gleichfalls wird man für den weiteren Erfolg der Erlangung eines Steuer­vorteils angesichts des unbestreitbar weit gefassten Wortlauts davon ausgehen können, dass ein solcher „Vorteil“ allemal in einer vermögenswerten Zuwendung – wie etwa bei der ausdrücklich in § 370 Abs. 4 S. 2 – 1. Hs. AO genannten Steuer­vergütung584  – gesehen werden kann und vernünftigerweise auf eine solche beschränkt werden muss, die das konkrete Steueraufkommen tangiert.585 Ansonsten würden sich im Vergleich zum tatbestandlichen Erfolg der Steuerverkürzung erhebliche Differenzen ergeben, die weder mit der amtlichen Überschrift „Steuerhinterziehung“ noch mit der Nähe zum Betrug in Einklang zu bringen wären. Daher scheiden rein ideelle Vorteile wie etwa zu Unrecht bewilligte Buchfüh-

582

Ganz h. M.: BGH NJW 2001, S. 693 f.; BVerwG, NJW 1990 S. 1864; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn.  54; Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn.  18; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, Einl. Rn.  8 ff., § 370 Rn.  14; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn.  6 f.; Webel/Dumke, in: Schwarz, AO, § 370 Rn.  6; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn.  43; Hefendehl, in: MüKoStGB, § 263 Rn.  7; Schleeh, NJW 1971, S.  739 f.; Göggerle, BB 1982, S.  1851 ff.; Kohlmann, Strafverfolgung und Strafverteidigung im Steuerstrafrecht, S.  5 ff. [19]; Samson, 50 Jahre Bundesgerichtshof, S.  675 ff.; Menke, wistra 2005, S.  125 ff. [128]; Hoff, Das Handlungsunrecht der Steuerhinterziehung, S.  11; Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung und die Steuerverkürzung im Festsetzungsverfahren, S.  12 ff. [23 f.]; Schmitz, Unrecht und Zeit, S. 93 ff. 583 Zu dieser Konsequenz u. a. Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 6 und später ausführlich unter: II. Gefährdungsdelikt (S. 169). 584 Die Steuervergütung ist die Rückzahlung rechtmäßig geleisteter Steuern an eine andere Person als den Steuerschuldner. Sie soll denjenigen entlasten, der die Steuer infolge einer Überwälzung typischerweise (wirtschaftlich) trägt, siehe Koenig, in: Pahlke/Koenig, AO, § 37 Rn. 7. 585 Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 175; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 123; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 426; Joecks, in: Franzen/ Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 94. Dies wird für die Fälle der „Fristerschleichung“ noch ganz entscheidend sein, dazu später unter: I. Die „Fristerschleichung“ als unproblematischer Fall der Vorteilserlangung? (S. 224).

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

rungs- und Aufzeichnungserleichterungen gemäß § 148 AO, mögen sie auch durch Täuschung des Steuerpflichtigen erlangt worden sein, als Anknüpfung für eine Strafbarkeit nach § 370 AO unbestreitbar aus.586 Im Gegensatz zu dieser herausgearbeiteten Grundkonzeption des Hinterziehungstatbestandes als „Vermögensdelikt“ kann eine weitergehende Präzisierung des Tatbestandes, insbesondere des letztbenannten Taterfolgs, erst nach der im direkten Fortgang durchzuführenden Rechtsgutsbestimmung geschehen. Dies ist Ausfluss der bereits angesprochenen Ambivalenz der methodologischen Rechtsgutslehre. Zuallererst ist das Rechtsgut durch Auslegung zu ermitteln, wobei auf die eindeutigen gesetzlichen Merkmale und Motive zurückgegriffen werden darf. Erst wenn diese Zweckbestimmung des Strafgesetzes feststeht, kann mit der Auslegung der strittigen Tatbestandsmerkmale begonnen werden. Deutlich wird hierbei aber auch, dass der Weg hin zum Rechtsgut ein unselbständiger Teil der Deutung des Tatbestandes ist und daher ohne Ausnahme vom Gesetzesanwender offengelegt werden muss. Unter Zugrundelegung dieser Grundvoraussetzungen zur Steuerhinterziehung sind nun die zum Rechtsgut der Steuerhinterziehung vertretenen Ansichten zu würdigen. 2. Das Meinungsspektrum a) Die überwiegende Ansicht in Rechtsprechung und Lehre aa) Die Herleitung der heutigen Ansicht – zugleich: Abgrenzung von den Tatobjekten Das Rechtsgut der Steuerhinterziehung wird in der Rechtsprechung und vom überwiegenden Teil des Schrifttums als das „öffentliche Interesse am vollständigen und rechtzeitigen Aufkommen der einzelnen Steuern“587 oder auch als der „Anspruch des Staates auf den vollen Ertrag aus jeder einzelnen Steuerart“588 umschrieben. Zentraler Anknüpfungspunkt stellt bei diesem Verständnis das Steuer­aufkommen 586 So ausdrücklich Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn.  123 f. Hellmann, in: Hübsch­ mann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 175. Etwas allgemeiner bereits Franzen, in: Franzen/Gast, in: Steuerstrafrecht, 1. Aufl. (1969), § 392 Rn. 176 (Minderung des Steuerertrags aufgrund von steuerrechtlichen Normen); zust. Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 426. 587 RGSt 59, S. 258 [261]; BGH v. 21.01.1964 – 1 StR 455/63; BGHSt 36, S. 100; 40, S. 109; 43, S. 381; Joecks, Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, Einleitung Rn. 8 ff., § 370 Rn. 14 ff.; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn.  2 ff.; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 50 ff.; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 39 ff.; Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 17 ff., jeweils m. w. N. 588 RGSt 46, S. 16 [18] (noch zu Art. 70 EStG Württemberg); 50, S. 83; 65, S. 165 [169] (wohl der materielle Steueranspruch als Rechtsgut); 72, S. 184 [186]; BGHSt 30, S. 207; Vogelberg, Durchsuchung und Beschlagnahme im Steuerrecht, S. 19 (wobei er allerdings ausdrücklich den konkreten Steueranspruch gegen den Steuerpflichtigen als Rechtsgut erfassen will).

1. Abschn.: Der strafrechtliche Charakter der Steuerhinterziehung 

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dar und meint erst einmal nichts anderes als den gesamten Ertrag der Steuern und mithin einen ganz spezifischen Teil des staatlichen Vermögens.589 Der häufig synonym verwendete Steueranspruch im Sinne des § 38 AO kann mit dem hier beschriebenen Rechtsgut allerdings nicht gleichgesetzt werden. Schließlich gibt es nach heute ganz überwiegender Ansicht auch Fälle, in denen ein solcher nicht notwendig in Mitleidenschaft gezogen wird, man aber dennoch von einer tatbestandlichen Steuerhinterziehung ausgehen muss. Dies ist im Wesentlichen das Ergebnis einer längeren Rechtsprechungsentwicklung: Im Kern ging es dabei um die Frage, ob die Steuerhinterziehung oder eher der Betrug die einschlägige Vorschrift darstellt, wenn zwischen dem Täter und dem Steuergläubiger kein zu reduzierender Steueranspruch besteht. In diesen Fällen hatte der Täter entweder eine von jedwedem Steueranspruch unabhängige Steuervergütung unrechtmäßig beansprucht oder Steuererstattungen geltend gemacht, die auf insgesamt erfundenen Steuersachverhalten oder sogar fiktiven Steuerpflichtigen beruhten. Unstreitig war in all diesen Fällen ein Steueranspruch des Staates zu keiner Zeit entstanden. Wer nun die vorbenannten Fallgestaltungen unter den Taterfolg des nicht gerechtfertigten Steuervorteils subsumieren wollte, musste zwangs­läufig auch zum Rechtsgut der Steuerhinterziehung Stellung nehmen. Vor Probleme standen natürlich diejenigen, die als Rechtsgut den konkreten Steueranspruch gefasst haben und daher eine entsprechende Verletzung oder Gefährdung desselben nicht ausmachen konnten.590 Dreh- und Angelpunkt des Streites stellte die Erlangung nicht gerechtfertigter Umsatzsteuervergütungen dar. Diese entstehen gemäß § 16 Abs. 1, Abs. 2 UStG, wenn von der eigenen Umsatzsteuer höhere Vorsteuerbeträge abgezogen werden können und somit die konkret zu entrichtende Umsatzsteuer (Saldo aus den unselbständigen Besteuerungsgrundlagen Umsatzsteuer und Vorsteuer)591 einen nega­tiven Betrag ausweist. Die steuerstrafrechtliche Rechtsprechung unterschied  – auch nach Einführung des § 370 Abs. 4 S. 2 – 1. Hs. AO (1977) – zwischen den Konstellationen, in denen einerseits ein Umsatzsteueranspruch tatsächlich entstanden 589 So u. a. Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 6; Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 18; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 43. Gegen die Einordnung als Vermögensdelikt spricht sich Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht BT, Rn. 98 ff., mit ausdrücklichem Verweis auf die Monographie von Seckel, Die Steuerhinterziehung, S. 279 ff., aus. Denn es handele sich, da § 370 AO jedenfalls im Vergleich zu den Vermögensdelikten des StGB abweichend (siehe bsplw. das Kompensationsverbot) ausgestaltet sei, um ein Wirtschaftsdelikt. Unabhängig von der noch zu klärenden Frage, ob der Tatbestand der Steuerhinterziehung wirklich so aus der Art schlägt, muss ernsthaft bezweifelt werden, dass mit der Einordnung als „Wirtschaftsdelikt“ irgendetwas gewonnen ist. Dieser schillernde Begriff ermöglicht jedenfalls keine klarere Abgrenzung und Handhabe als es mit der Einordnung als Vermögensdelikt verbunden ist. 590 So eindeutig (für § 263 StGB) BGH, NJW 1972, S.  1287 f.; Herdemerten, NJW 1962 S. 781 ff.; dagegen (für § 370 AO) Coring, NJW 1961, S. 1709 f.; Felix, NJW 1968, S. 1219 ff.; Müller, NJW 1977, S. 746 f. 591 Dazu bereits BFH, BStBl. II 1977, S. 227.

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

war und nur eine (erhöhte) Steuervergütung erschlichen wurde (dann § 370 AO)592 und andererseits der gesamte Steuervorgang auf unwahren Tatsachen beruhte und daneben kein wirklicher Steueranspruch existierte (dann § 263 StGB, ohne die Möglichkeit einer strafbefreienden Selbstanzeige!)593. Diese Unterscheidung wurde vom Bundesgerichtshof zugunsten der Steuerhinterziehung ausdrücklich aufgegeben.594 Denn das öffentliche Interesse am rechtzeitigen und vollständigen Aufkommen bestimmter Steuern sei auch dann tangiert, wenn ein existierender Steuerpflichtiger aufgrund gänzlich erfundener Steuerfälle zu Unrecht Steuervergütungen geltend mache. Ausdrücklich offen gelassen hatte der Bundesgerichtshof nur noch die Fälle, in denen der Täter nicht nur den Steuervorgang, sondern schon die Existenz des Steuerpflichtigen erfand.595 Nur kurze Zeit später entschied sich der Bundesgerichtshof auch in diesen Fällen konsequent für die Anwend­barkeit der Steuerhinterziehung.596 Denn § 370 AO schütze den Anspruch auf den vollen Ertrag jeder einzelnen Steuer, so dass es weder auf die Existenz des behaupteten Steuervorgangs noch des Steuerpflichtigen selbst ankomme, sondern allein darauf, dass der Steuervorteil von den Finanzbehörden zu Unrecht gewährt worden sei.597 Mit dieser Rechtsprechung hat sich der Bundesgerichtshof klar gegen diejenige Ausformung des Rechtgutes entschieden, die nur den konkreten Steueranspruch im Sinne des § 38 AO schützen will, so dass die Steuerhinterziehung aus dieser Warte ein umfassendes Delikt zum Schutze des staatlichen Steueraufkommens ist. In der Literatur ist diese Rechtsprechungsentwicklung zu Recht auf breite Zustimmung gestoßen.598 Die nun herrschende Auffassung zum Rechtsgut wird am Taterfolg der nicht gerechtfertigten Vorteilserlangung besonders augenfällig: Werden die Finanzbehörden aufgrund einer unrichtigen Sachverhaltsdarstellung zur Gewährung einer unrechtmäßigen Steuervergütung veranlasst, stellt dies nach heutiger Gesetzeslage und zutreffender Ansicht nach § 370 Abs. 4 S. 2 – 1. Hs. AO (1977) einen steuerlichen Vorteil dar, ohne dass es darüber hinaus noch einer weiteren rechtlichen Verbindung zwischen dem Täter und dem Steuergläubiger bedarf. Der strafrechtliche Schutz besteht somit auch im Hinblick auf täuschungsbedingte (originär steuerrechtliche) Verfügungen über das bereits vereinnahmte Steueraufkommen, ohne 592 BGH, MDR 1975, S. 947 (streitig ist auch heute noch, ob in diesen Fällen der Taterfolg der Steuerverkürzung oder der Vorteilserlangung gegeben ist, siehe dazu u. a. Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 170). 593 U. a. BGH, NJW 1972, S. 1287 f.; BGH, wistra 1986, S. 172. 594 BGHSt 36, S. 100. 595 BGHSt 36, S. 100 [103 f.]. 596 BGHSt 40, S. 109; 51, S. 356 (Ertragsteuerrechtliche Erstattung). 597 BGHSt 40, S. 109 [111 ff.]; 51, S. 356 [357 f.]. 598 So heute u. a. Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 6; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 432; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 91 f.; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn.  151 ff. [153]; Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn.  197 ff.; Schmitz, Unrecht und Zeit, S. 94 f.

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dass ein bestehender Steueranspruch verletzt werden muss.599 Sofern daher teilweise auch vom „Anspruch des Staates auf den vollen Ertrag aus jeder einzelnen Steuerart“ gesprochen wird, kann damit (heute) nur der idealisierte „Anspruch“ als das berechtigte Interesse des Staates am Erhalt der Steuern gemeint sein, nicht hingegen der konkret entstandene Steueranspruch gegen den einzelnen Steuerschuldner. Die genannten Definitionen unterscheiden sich daher inhaltlich nicht.600 Allerdings sollte das Rechtsgut zur Vermeidung von Irrtümern, wenn überhaupt, dann als Interesse umschrieben werden. Gegen eine solche Formulierung bestehen auch aus rechtsgutstheoretischem Blickwinkel keine Bedenken.601 Dieses Interesse ist im Übrigen deshalb ein öffentliches, weil die Realisierung des Steueraufkommens nicht nur den (bloßen) Güterbestand des Staates gewährleisten soll, sondern dadurch zugleich eine ausreichende Lebensgrundlage der in diesem Staat lebenden Individuen geschaffen wird; es sich also um ein allgemeines Bedürfnis der Gesellschaft handelt.602 Das Steueraufkommen steht ­daher trotz seines weitestgehend vermögensrechtlichen Individualcharakters generell nicht zur Disposition des Steuergläubigers, so dass sich eine rechtfertigende Einwilligung verbietet.603 Nun darf andererseits nicht der Eindruck entstehen, der konkrete Steueranspruch sei für das Rechtsgut der Steuerhinterziehung ohne Belang. Dieser bildet nach zutreffender Ansicht zwar nicht das Rechtsgut, wohl aber das Tatobjekt der Steuerverkürzung, indem er durch eine zu niedrige Festsetzung nur unzureichend in einen vollstreckungsfähigen Titel (Steuerbescheid) konkretisiert wird.604 An ihm „vollzieht“ sich daher der tatbestandliche Erfolg der Verkürzung, auch wenn es dadurch nicht zu einer tatsächlichen Beeinträchtigung des Anspruchs selbst kommen kann. Ist dieser doch bereits durch den Eintritt eines die Steuer­ gesetze erfüllenden Sachverhaltes unwiderruflich entstanden, so dass er durch eine falsche oder unterlassene Erklärung des Steuerpflichtigen nicht verletzt oder nach einem strengen Wortsinn auch nicht „verkürzt“ werden kann.605 Aus dieser prinzipiellen Unverletzlichkeit des Anspruchs wurde allerdings mit Verweis auf den damaligen Wortlaut der Steuerhinterziehung bis zur Abgabenordnung (1977)606 teil 599

Zu Recht Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 139 u. 153. Diese Besonderheiten übersieht Flore, in: Flore/Tsambikakis, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 14 ff., wenn er in dem „Steueranspruch“ das von der Steuerhinterziehung geschützte Rechtsgut erkennt. 600 Vgl. Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 17. 601 Zur Formulierung des Rechtsguts als „Interesse“ siehe: 2. Der methodologische Rechtsgutsbegriff (S. 142 ff.). 602 Ähnl. Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, S. 362: „Öffentlich oder allgemein ist das Interesse deshalb, weil die von den Steuerpflichtigen eingeforderten Ressourcen letztlich, d. h. über die Erledigung bestimmter staatlicher Aufgaben, den Individuen zugute kommen.“ 603 So auch Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 634, allerdings ohne nähere Begründung. 604 BGHSt  24, S.  178 [180]; Welzel, NJW 1953, S.  486 ff.; Schleeh, NJW 1971, S.  739 f.; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 6; Meine, wistra 1991, S. 127 ff. 605 Schleeh, NJW 1971, S. 739 f. 606 § 392 RAO (1968) sprach noch von „Steuereinnahmen verkürzt“.

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

weise gefolgert, nicht der Steueranspruch sei der das Rechtsgut repräsentierende tatbestandliche Gegenstand, sondern nur die Steuereinnahme.607 Dem wurde wiederum zu Recht entgegengehalten, dass es bei dem Verkürzungserfolg nicht um die Minderung bereits vereinnahmter Steuern, sondern um die Reduzierung konkret zu vereinnahmender Steuern ginge, auf die der Staat einen Anspruch habe.608 Da diese Schlussfolgerung aber auch von den Befürwortern der „Steuereinnahmenverkürzung“ gezogen wurde, handelte es sich letztlich um „einen bloßen Streit um Worte“609. Zumindest mit Rücksicht auf den geänderten Wortlaut des heutigen § 370 Abs. 1 AO (1977), der nur noch von „Steuern verkürzt“ spricht, ist nun auch die hier verwandte Deutung unbestreitbar möglich und schon aus dem Grund vorzugswürdig, weil sie den mit dem Begriff „Einnahme“ verbundenen Trugschluss vermeidet, eine Steuerhinterziehung könne auch durch die bloße Nichtzahlung von Steuern begangen werden.610 Ist demzufolge das Tatobjekt der konkrete Steuer­ 607

Franzen/Gast, Steuerstrafrecht, 1. Aufl. (1969), § 392 Rn. 12. Zum Meinungsstand u. a. Joecks, in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 21. 609 Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn.  35; Joecks, in: Franzen/Gast/­ Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 21. 610 So schon die – allerdings nach heutigem steuerverfahrensrechtlichen Kenntnisstand eher missverständliche – Entscheidung des RG, RGSt 60, S. 182. Bei dieser Entscheidung ging es gerade nicht darum, die bloße „Nichtzahlung“ einer fälligen Steuer für strafbar zu erklären; auch wenn das RG im Ergebnis genau dies tat! Denn es handelte sich vorliegend nicht um die Nichtzahlung einer festgesetzten Steuer (sog.  Veranlagungssteuer; zur Straflosigkeit hierzu ausdrücklich E. Becker, RAO, § 359 Anm. 2), sondern um die Nichtzahlung einer sog. Fälligkeitssteuer, bei der es nach damaligem Recht gerade keiner Festsetzung bedurfte. Die RAO (1919) kannte nämlich das Institut der heutigen Steueranmeldung als Steuerbescheidsurrogat nicht. Zwar wurde dem Steuerschuldner auch z.Zt. der RAO schon teilweise die Selbstberechnung (Anmeldung) seiner Steuer nebst Zahlung derselben oder sogar nur (z. B. nach dem KraftfahrzeugStG [RGBl. I 1922, S. 396]) die bloße Zahlung(!) auferlegt; dazu Cattien, Reichs­steuerstrafrecht, § 359, S. 180 (unter: 2.). Allerdings erforderte es dann keiner Steuerfestsetzung mit einem formellen Steuerbescheid, sondern man sah in der widerspruchslosen Entgegennahme der Erklärung oder Zahlung einen formlosen konkludenten Steuerbescheid (dazu: BFH, BStBl.  III 1953, S.  183; E.  Becker/Riewald/Koch, RAO, § 210 Anm.  6; zu den dogmatischen Ungereimtheiten der damaligen steuerrechtlichen Auffassung Söhn, StuW 1970, S. 185 ff.). Demzufolge konnte – anders als im heutigen Recht – im Hinblick auf die Steuerhinterziehung nicht allgemein auf die Festsetzung bzw. ihr gleichgestellte Anmeldung als den für die Verkürzung maßgeblichen Umstand angeknüpft werden, so dass häufig nur die Zahlung als einziger unrechtsbegründender Faktor blieb (so u. a. Suhr, Steuerstrafrecht, S. 88 f.). Denn wurde von dem Steuerpflichtigen nicht einmal die Abgabe einer Steueranmeldung verlangt, so stellte die reine Zahlung der Steuer zugleich eine zumindest konludente Erklärung über Tatsachen dar und konnte daher als „Bewirken“, d. h. als steuerunehrliches Verhalten gesehen werden (so ausdrücklich das RGSt, a. a. O., S. 186 [die Entscheidung unterscheidet nicht zwischen Anmeldung und Zahlung, sondern spricht insgesamt nur von einer „Rechtspflicht“, die der Angeklagte unterlassen habe]; Cattien, a. a. O.; siehe auch RG, JW 1925, S. 1900 f.; RGSt 61, S. 81 [83 ff.]; 61, S. 186 [188]). Zur damaligen Tathandlung des Bewirkens siehe später: A. Die Tathandlung des § 370 Abs.  1 Nr.  1 AO (S.  288). Aus diesem Grund findet man bei Fälligkeitssteuern die – damals zutreffende – Formulierung, mit dem Ablauf der gesetzlichen Frist zur Zahlung der Steuer trete eine Steuerverkürzung ein (RGSt  60, S.  185; Cattien, a. a. O.). Dies bedeutet aber im Ergebnis: Auch damals stand die bloße „Nichtzahlung“ nicht allgemein unter Strafe, sondern stellte aufgrund steuerverfahrensrechtlicher Regelungen in einigen Fäl 608

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anspruch, so ist damit zugleich auch das Verhältnis von Rechtsgut und Tatobjekt für den Bereich der Steuerverkürzung geklärt. Indem zumindest der berechtigte Steueranspruch zugleich unbestreitbar einen Vermögensbestandteil des Staates darstellt, bietet sich somit auch eine hinreichende Ableitungsbeziehung zwischen dem hier beschriebenen Rechtsgut und dem im Tatbestand (Steuerverkürzung) genannten Tatobjekt. Letzteres gilt damit als legitimer Repräsentant. Daran anschließend stellt sich die Frage, welches Tatobjekt bei dem Erfolg der Vorteilserlangung ausfindig gemacht werden kann. Ohne an dieser Stelle die mitunter schwierige und vor allem umstrittene Abgrenzung zwischen den beiden Taterfolgen der Steuerhinterziehung vornehmen zu wollen,611 kann hier auf die schon erarbeitete Erkenntnis verwiesen werden, dass die Erlangung eines Steuervorteils an keinen wirklich bestehenden Steueranspruch anknüpfen muss. Scheidet jedoch das für die Steuerverkürzung geltende Tatobjekt für einen wesentlichen Anwendungsbereich der Vorteilserlangung aus, kann es konsequenterweise auch nicht als notwendiges Bindeglied zwischen dem Tatbestand und dem Rechtsgut dienen. Gültiges Tatobjekt kann mit Rücksicht auf den bereits herausgearbeiteten Deliktscharakter nur das Vermögen des Fiskus selbst sein.612 Das staatliche Steuer­ aufkommen soll neben der unzureichenden Realisierung von Steueransprüchen also auch vor einer ungerechtfertigten Verfügung der Finanzbehörde geschützt werden. Denn es kann für den geschädigten Steuergläubiger finanziell keinen Unterschied darstellen, ob er nun weniger festsetzt als er eigentlich festzusetzen berechtigt oder ob er über mehr verfügt als er zu verfügen verpflichtet ist. In beiden Fällen wird der Steuerertrag aus unterschiedlichen Richtungen geschmälert. Ferner wird nun auch deutlich, dass die Vorteilserlangung starke Ähnlichkeiten zum verwandten Betrugstatbestand aufweist, der ebenfalls als Tatobjekt das Vermögen vorsieht, das vor einer täuschungsbedingten Verfügung geschützt werden soll. Im Übrigen ergeben sich auch hierbei keinerlei Legitimationsprobleme, da Rechtsgut und Tatobjekt in diesem Fall sogar identisch sind. Sofern die überwiegende Ansicht das Steueraufkommen („Aufkommen der einzelnen Steuern“ bzw. „Ertrag aus jeder einzelnen Steuerart“) ganz explizit auf einzelne Steuerarten beschränkt, lässt sich eine solche Folgerung nur aus damaligen konkurrenzrechtlichen Erwägungen erklären. Schon das Reichsgericht ging davon aus, dass zeitlich getrennte Einzelhandlungen zu einer rechtlichen Handlungseinheit (sog. fortgesetzte Handlung) zusammengefasst werden konnten, solen nichts anderes dar als eine Täuschung durch Unterlassen und erinnert daher zu Recht an die heutige Steuerhinterziehung durch unterlassene Steueranmeldung! Es versteht sich von selbst, dass der Begriff der Fälligkeitssteuer durch den heute passenden Begriff der Anmeldungssteuer zu ersetzen ist; so leider bisher nur vereinzelt u. a. Rolletschke, in: Steuerstrafrecht, Rn. 70 ff. und auch Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 408. Zur heutigen Rechtslage im Hinblick auf die Straflosigkeit von unterlassenen Steuerzahlungen vgl. BGH, NStZ-RR 1997, S. 277 f. = BGHR AO § 370 Steuerverkürzung 6; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 139 u. 65; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 76 ff.; Welzel, NJW 1953, S. 486 ff. 611 Siehe dazu unten: 2. Die „Fristerschleichung“ als ungerechtfertigter Steuervorteil (S. 279). 612 Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 12a.

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fern die Einzeltaten das gleichartige Rechtsgut verletzten, die gleichartigen Tatbegehungen einen engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang aufwiesen und die Einzeltaten zudem von einem Gesamtvorsatz getragen wurden.613 Dieses Institut, das vom Reichsgericht noch als Milderung des von der Rechtspflege als zu hart empfundenen Grundsatzes der Strafenhäufung errichtet,614 später vom Bundesgerichtshof als Instrument der Vereinfachung der Rechtsanwendung verstanden wurde,615 fand auch im Steuerstrafrecht rege Anwendung.616 Um jedoch nicht Gefahr zu laufen, durch diesen Fortsetzungszusammenhang eine sowohl in zeitlicher (für mehrere Veranlagungszeiträume) als auch sachlicher (für mehrere Steuerarten) Hinsicht konturenlose Steuerhinterziehung zu schaffen, wurde das Rechtsgut und dadurch zugleich das hier in Rede stehende Institut auf die einzelnen Steuerarten begrenzt.617 Es konnte somit lediglich eine „fortgesetzte Steuer­hinterziehung“ bezüglich ein und derselben Steuerart, dann allerdings über mehrere Besteuerungszeiträume, konstruiert werden.618 Mit der ausdrücklichen Aufgabe der fortgesetzten Handlung durch den Großen Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs619 hat die Unterscheidung zwischen dem Steueraufkommen jeder einzelnen Steuerart oder im Ganzen ihren tieferen Sinn verloren.620 Auch wenn in diesem Zusammenhang von einzelnen Stimmen in der Literatur versucht wird, die Beschränkung des Steueraufkommens auf einzelne Steuerarten mit der „überaus differenzierte[n] Verteilung von Ertragshoheit, Verwaltungshoheit und Gesetzgebungshoheit bei den verschiedenen Steuern auf Bund, Länder und Gemeinden“ zu rechtfertigen,621 kann dies schon deshalb nicht überzeugen, weil auch die Ertragshoheit der einzelnen Steuerarten verschiedenen Gebietskörperschaften zugewiesen sein kann (sog. Gemeinschaftsteuern gemäß Art. 106 Abs. 3 S. 1 GG).622 613

So schon RGSt 1, S. 450. RGSt 46, S. 16 [19]. 615 BGH v. 11.08.1993 – 3 StR 361/92 = BGHR StGB Vor § 1 fortgesetzte Handlung, Gesamtvorsatz 60. 616 Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 874 f. 617 Deutlich in RGSt 59, S. 258 [262]: „Ein Fortsetzungszusammenhang kann jedoch zwischen mehreren strafbaren Handlungen bloß dann bestehen, wenn sich diese insgesamt gegen dasselbe Rechtsgut richten. Das ist aber bei Hinterziehungsvergehen in bezug auf die Reichseinkommensteuer einerseits und auf die Umsatzsteuer andererseits nicht der Fall; denn als verletztes Rechtsgut kommt bei solchen Steuerzuwiderhandlungen nicht etwa die Steuerhoheit des Reichs allgemein, sondern jeweils nur dessen Anspruch auf das Vollerträgnis jeder einzelnen Steuer, deren Verkürzung in Frage steht, in Betracht.“ Zu dieser Begründung Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung und die Steuerverkürzung im Festsetzungsverfahren, S.  29 ff.; Hardtke, Steuerhinterziehung durch verdeckte Gewinnausschüttung, S. 63 f.; zust. Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 17. 618 Noch anders RGSt 46, S. 16; dann aber st. Rechtsprechung RGSt 50, S. 83. 619 BGHSt (GrS) 40, S. 138; BGHSt 40, S. 195 (audrücklich für § 370 AO). 620 Zu diesem Ergebnis kommt u. a. Hardtke, Steuerhinterziehung durch verdeckte Gewinnausschüttung, S. 63 f.; zust. Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 17. 621 Franzen, DStR 1965, S. 187 ff.; ders., in: Franzen/Gast, Steuerstrafrecht, 3. Aufl. (1985), Einl. Rn. 8. 622 Joecks, in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 17 m. w. N. 614

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bb) Das Steueraufkommen als konkreter Vermögensbestandteil Nach dem Rechtsgutsansatz der überwiegenden Ansicht ist für eine Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung des Weiteren nicht jedweder (allgemeine) Zahlungsanspruch des Staates gegenüber seinen Bürgern maßgebend, sondern es kommt nur der Teil des staatlichen Vermögens in Betracht, der sich aus dem Aufkommen der Steuern generiert.623 Dies ergibt sich schon zwingend aus dem in § 1 Abs. 1 S. 1 AO normierten Anwendungsbereich der Abgabenordnung, wonach das Gesetz mitsamt seiner steuerstrafrechtlichen Regelungen nur für Steuern (einschließlich Steuervergütungen) gelten soll.624 Zur begrifflichen Einordnung des Oberbegriffs „Steuern“ kann auch im Steuerstrafrecht auf die Legaldefinition des § 3 Abs. 1 AO zurückgegriffen werden. Danach sind Steuern alle „Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt wird, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft“. Eine erhebliche Einschränkung des Anwendungsbereichs erfolgt über die bereits erwähnte Vorschrift des § 1 Abs. 1 S. 1 AO, wonach die Abgabenordnung nur auf Steuern anwendbar ist, die durch Bundesrecht oder Recht der Europäischen Gemeinschaften geregelt sind, und dies nur soweit sie durch die Bundesfinanz­ behörden oder durch die Landesfinanzbehörden verwaltet werden. Ferner gehören zu den Steuern kraft ausdrücklicher Anordnung gemäß § 3 Abs.  3 AO auch Einfuhr- und Ausfuhrabgaben nach dem Zollkodex. Aufgrund dieser Einschränkungen kann sich daher eine Strafbarkeit wegen der Hinterziehung von Steuern nach dem Landesrecht (bsplw. die Kirchensteuer gemäß Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 6 WRV) nicht direkt, sondern nur dann ergeben, wenn der Landesgesetzgeber die Strafvorschriften der Abgabenordnung gemäß Art.  4 Abs.  3 Nr.  1 EGStGB ausdrücklich für anwendbar erklärt hat.625 Auch auslän 623 BGHSt 43, S. 381; BayOblG, NStZ 1981, S. 147 f.; BFH, BStBl. II 1997, S. 600 (Ein­ kommensteuervorauszahlungen gemäß § 37 EStG als „Steuern“ im Sinne des § 3 Abs. 1 AO). 624 Zum Verhältnis zwischen dem sachlichen Anwendungsbereich des § 1 Abs. 1 S. 1 AO und § 370 AO siehe die weiteren Ausführungen zu den steuerlichen Nebenleistungen. 625 Bei fehlender Anwendungserklärung kann nach umstrittener Ansicht jedoch eine Straf­ barkeit wegen Betrugs in Frage kommen; so mit Einschränkungen BGH, wistra 2008, S. 310 ff. (obiter dictum). Demzufolge sei ein Rückgriff auf den Betrugstatbestand nicht durch das von der überwiegenden Ansicht in Rspr. und Lehre vertretene Exklusivverhältnis zwischen Steuer­hinterziehung und Betrug (siehe nur BGHSt  43, S.  381) ausgeschlossen. Denn bei Kirchensteuern habe sich einerseits der Bundesgesetzgeber  – wie Art.  4 Abs.  3  EGBGB zeigt  – nicht für eine generelle Nachrangigkeit des Betrugstatbestandes ausgesprochen. Andererseits sei der Landesgesetzgeber prinzipiell auch nicht befugt, den Anwendungsbereich des Betrugs zu bestimmen. Allerdings wäre zu erwägen, ob in diesem Fall die Länder ausnahmsweise eine Annexkompetenz im Bereich der Kirchensteuern ausüben könnten (so schon Randt, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 386 Rn.  21a). Folgt man diesem Ansatz des BGH, so kann der Landesgesetzgeber (ggfs. auch konkludent) bestimmen, dass eine Hinterziehung von Kirchensteuern generell straffrei gestellt werden soll. Hat der Lan-

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dische Steuern fallen bis auf die in § 370 Abs.  6 AO vorgesehenen Erweiterungen (dort insbesondere die Umsatzsteuern anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft)626 nicht in den Anwendungsbereich der Steuerhinterziehung und können somit nicht zugleich zum geschützten Steueraufkommen gezählt werden. Sehr umstritten ist weiterhin die Frage, ob steuerliche Nebenleistungen  – die keine Steuern im Sinne des § 3 Abs. 1 AO darstellen627 – nach Maßgabe der §§ 1 Abs. 3 S. 1, 3 Abs. 4 AO auch vom Schutzbereich der Steuerhinterziehung erfasst sind. Ihre Einbeziehung versteht sich nicht bereits deshalb von selbst, weil die heute wohl überwiegende Ansicht im Steuerverfahrensrecht trotz der fehlenden Steuereigenschaft davon ausgeht, dass die steuerlichen Nebenleistungen bereits durch § 1 Abs. 1 S. 1 AO unter den sachlichen Anwendungsbereich der Abgabenordnung zu fassen sind. Die dortige Formulierung „Dieses Gesetz gilt für alle Steuern, […]“ erfasse immerhin die gesamte Verwaltung von Steuern und damit auch die mit der Steuerverwaltung in direktem Zusammenhang stehenden steuerlichen Nebenleistungen, so dass die Regelung des § 1 Abs. 3 S. 1 AO daher insgesamt überflüssig und auch ansonsten missglückt sei.628 Für das Steuerstrafrecht darf aus diesen steuer­verfahrensrechtlichen Vorüberlegungen allerdings nicht gefolgert werden, dass die steuerlichen Nebenleistungen – da sie ja ohnehin schon durch § 1 Abs. 1 S. 1 AO in den An­wendungsbereich des Gesetzes geraten und es daher auch keiner Anwendungserklärung bedürfte  – automatisch dem strafrechtlichen Schutz des § 370 AO unterstellt sind. Da sich das Rechtsgut der Steuerhinterziehung auf das Steueraufkommen beschränkt und es sich hierbei nur um den ganz spezifischen aus Steuern generierten Vermögensbestandteil des Staates handelt, werden die steuerlichen Nebenleistungen, weil sie gerade keine Steuern im Sinne des § 3 Abs. 1 AO darstellen, nicht ohne Weiteres erfasst. Soweit ihnen überhaupt ein Vermögenscharakter (als unbedingte Voraussetzung der Steuerhinterziehung)629 abgerungen werden kann, bedarf es darüber hinaus noch – gerade im Gegensatz zum Steuerverfahdesgesetzgeber demgegenüber weder den Ausschluss strafrechtlicher Sanktionierung zum Ausdruck gebracht oder eine Anwendung der Steuerhinterziehung erklärt, verbleibt es bei einer Strafbarkeit wegen Betrugs in diesen Fällen (siehe hierzu Schmitz/Wulf, MüKo-AO, § 370 Rn. 50). 626 Dazu Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 542 ff. 627 Vgl. u. a. BFH, BStBl, II 1983, S. 489: Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, § 3 Rn. 14; Neumann, in: Beermann/Gosch, AO, § 3 Rn. 6.1; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 17. 628 Ausdrücklich Seer, in: Tipke/Kruse, AO, § 1 Rn. 3, 46; Musil, in: Hübschmann/Hepp/ Spitaler, AO, § 1 Rn. 20, 79 ff.; Schwarz, in: Schwarz, AO, § 1 Rn. 4 ff.; Pahlke, in: Pahlke/ Koenig, AO, § 1 Rn. 1. Sie sei schon alleine deswegen „missglückt“, weil sie wiederum einschränkend ausgelegt werden müsse. Denn die in § 1 Abs.  3 AO enthaltene Verweisung schaffe insbesondere keine neuen schuldrechtlichen Tatbestände, so dass es u. a. eine Haftung für steuerliche Nebenleistung nicht gebe (u. a. Musil, a. a. O., Rn. 79). Im Steuerstrafrecht sind diese Probleme weitgehend (angesprochen aber in BGHSt 43, S. 381 [406]) unbemerkt geblieben. 629 Vgl. BGHSt 43, S. 381.

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rensrecht – zwingend einer ausdrücklichen Anwendungserklärung.630 Aus diesen Überlegungen lässt sich für die Auslegung des Tatbestandes der Steuerhinterziehung allgemein ableiten, dass der Regelungsbereich des § 370 AO enger ausgestaltet ist als der in § 1 Abs. 1 S. 1 AO abgesteckte (sachliche) Anwendungsbereich der Abgabenordnung. Es muss sich also  – worauf nicht zuletzt die amtliche Überschrift des § 370 AO verweist – um die Hinterziehung von „Steuern“ handeln.631 Im Hinblick auf die Hinterziehung von steuerlichen Nebenleistungen wird deshalb ganz überwiegend nach den von ihnen verfolgten Zwecken unterschieden. Demzufolge sollen Verspätungszuschläge, Säumniszuschläge und Zwangsgelder weder Steuern im Sinne des § 370 AO noch Vermögen im Sinne des § 263 StGB darstellen. Schließlich handele es sich bei dieser Art von Nebenleistungen jeweils nur um einen Folgeanspruch, der als Ungehorsamsfolge nur neben den eigentlichen Steueranspruch trete.632 Ferner sei für den Tatbestand der Steuerhinterziehung zu bezweifeln, dass die für Nebenleistungen geltende Verweisung auf die gesamten Regelungen der Abgabenordnung in § 1 Abs. 3 S. 1 AO („sinngemäß anwendbar“) überhaupt dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG genüge. Denn durch Auslegung könne schon nicht eindeutig das zur Strafbarkeit führende Verhalten ermittelt werden.633 Im Übrigen sei auch eine Betrugsstrafbarkeit  – selbst wenn man einmal von der ohnehin geltenden Exklusivität der Steuerhinterziehung absehe634  – deshalb ausgeschlossen, weil die vorbenannten Nebenleistungen lediglich eine der ordnungsrechtlichen Geldbuße vergleichbare Maßnahme darstelle, der aber aufgrund ihres bloßen Beuge- und Sanktionscharakters kein eigenständiger wirtschaftlicher Gehalt beigemessen werden könne.635 Demgegenüber wird für die Hinterziehung von Zinsen gemäß §§ 233 ff. AO, obwohl sie aufgrund des bestehenden Gegenleistungscharakters ebenfalls keine Steuern dar 630

So die h. M. (vgl. nur BayObLG, NStZ 1981, S.  147 f.; BGHSt  43, S.  381 [406]; 51, S. 356; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 51 ff.; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 386 ff.), ohne allerdings ausdrücklich darauf einzugehen, dass steuerliche Nebenleistungen verfahrenstechnisch schon unter § 1 Abs. 1 S. 1 AO fallen. 631 A. A. Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 130, der eine Anwendung auf alle Ansprüche aus dem Steuerschuldverhätlnis gemäß § 37 Abs. 1 AO für zwingend und eine darüber hinausgehende „teleologische Reduktion“ nicht für geboten hält. Dagegen spricht schon, dass § 370 AO nicht von „Hinterziehung von Ansprüchen aus einem Steuerschuldverhältnis“ spricht, sondern ganz explizit von „Steuerhinterziehung“, wobei die Definition der Steuer aus § 3 Abs. 1 AO zu entnehmen ist. Siehe dazu auch die nun folgenden Ausführungen. 632 BGHSt 43, S. 381; 51, S. 356; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 52 ff.; zur Strafbarkeit wegen Betruges bei Säumniszuschlägen dagegen noch BayObLG, NStZ 1981, S. 147 f. Siehe im Fall der Säumniszuschläge allerdings auch Fn. 639. 633 Ausdrücklich BGHSt 43, S. 381. 634 Sperrwirkung ausdrücklich angenommen von BGHSt  43, S.  381 (entgegen BayObLG, NStZ 1981, S. 147 f.). 635 Zum insgesamt versperrten Rückgriff auf den Betrugstatbestand (entweder Exklusivitat von § 370 AO gegenüber § 263 StGB oder als Sanktions- und Beugemittel kein Vermögensbestandteil) siehe u. a. Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, § 370 Rn.  82; dies verkennt das BayObLG, NStZ 1981, S. 147 f. Zum fehlenden Vermögensbezug bei Sanktionen allgemein Cramer/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 263 Rn. 78a.

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stellen,636 nunmehr überwiegend eine Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung erwogen.637 Zum einen erkläre § 239 Abs. 1 S. 1 AO für Zinsen ausdrücklich, dass die für Steuern geltenden Vorschriften entsprechend anwendbar seien.638 Zum anderen handele es sich bei Zinsforderungen um einen notwendigen Ausgleich von Liquidationsvorteilen bzw. -nachteilen, die durch die zeitliche Verzögerung der Steuerfestsetzung und der sich daran anschließenden Realisierung der Steuerforderung entstünden. Gerade dies betreffe unmittelbar das Interesse des Staates am rechtzeitigen Erhalt des Steueraufkommens und mithin das Rechtsgut der Steuerhinterziehung.639 b) Schutz von Offenbarungspflichten Erkennt man demgegenüber den vermögensdeliktischen Charakter der Steuerhinterziehung nicht an, sondern fokussiert die Suche nach dem Rechtsgut allein auf die unerwünschte tatbestandliche Handlung, so könnte man zu dem Ergebnis gelangen, es werde schlicht der steuerrechtliche Anspruch des Staates auf die pflichtgemäße Offenbarung von Tatsachen geschützt.640 Immerhin sei im Rahmen der Besteuerung die Sachverhaltsaufklärung durch den Steuerpflichtigen von elementarer Bedeutung, der insbesondere strafrechtlich dadurch Rechnung getragen werde, dass § 370 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 AO entweder an eine wahrheitswidrige oder unterlassene Aufklärung der Besteuerungsgrundlagen anknüpfe.641 Eine solche Reduzierung des Rechtsgutes auf den bloßen Schutz von Offenbarungspflichten kann allerdings nicht überzeugen. Unbestreitbar schützt die Steuerhinterziehung den Steuergläubiger zwar vor einer nicht ordnungsgemäßen Tatsachenmitteilung durch den Steuerpflichtigen. Daraus aber zugleich das Rechtsgut abzuleiten, greift ersichtlich zu kurz. Insbesondere ließen sich die im Tatbestand vorgesehenen und durch die unzutreffende Offenbarung eintretenden Taterfolge der Steuerverkürzung und Vorteilserlangung nicht erklären. Schließlich wäre die Rechtsgutsverletzung nach obiger Ansicht doch schon bereits durch die Tathand 636 BFH, BStBl. II 2002, S. 887; anders noch BFH, BStBl. II 1984, S. 672. Für das Steuerstrafrecht Müller-Horn, Die steuerlichen Nebenleistungen und der Tatbestand der Steuerhinterziehung, S. 45, 116 ff. 637 BGHSt 51, S. 356 (Zinsen auf erfundene Steuererstattungen als Steuervorteil); Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 130; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 23; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 54; Rolletschke, in: Kemper/ Rolletschke, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 78; Jäger, NStZ 2007, S. 688 ff. [693]. 638 BGHSt  51, S.  356; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn.  54; anders noch für Zinsen BGHSt 43, S. 381. 639 So BGHSt 51, S. 356. Siehe auch die Rspr. des BFH zum „Zinsersatzcharakter“ bei Säumniszuschlägen u. a. BFH, BStBl. II 1991, S. 906; Rüsken, in: Klein, AO, § 240 Rn. 1; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 53 a. E.; eingehend Müller-Horn, Die steuerlichen Nebenleistungen und der Tatbestand der Steuerhinterziehung, S. 35 ff. 640 Schulze, DStR 1964, S. 416 ff. [419]; Ehlers, FR 1976, S. 504 f. 641 Ausdrücklich Ehlers, FR 1976, S. 504 f.

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lung begangen, und die Steuerhinterziehung müsste als bloßes Begehungsdelikt klassifiziert werden.642 Ferner wäre die Sanktionierung von Verstößen gegen verwaltungsrechtliche Pflichten doch letzten Endes nichts anderes, als die Sanktionierung von schlichtem Verwaltungsungehorsam, gegen die bereits an obiger Stelle tiefgreifende Bedenken vorgebracht wurden.643 Im Übrigen ist es kein Widerspruch, wenn die tatbestandliche Tathandlung nur ganz spezifische Bereiche erfasst, durch die das Tatobjekt (und mit ihm das Rechtsgut) „angegriffen“ wird. Wie bereits dargelegt, obliegt es allein dem Strafgesetzgeber, das im Tatbestand enthaltene Rechtsgut nur vor bestimmten Verhaltensweisen zu schützen. Für das Kernstrafrecht würde doch in Anbetracht der Tatbestandsausgestaltung ebenfalls niemand die Schlussfolgerung ziehen, der Betrug schütze nicht das Vermögen, sondern allein davor, im Wirtschaftsverkehr nicht belogen zu werden.644 In ähnlicher Weise wird durch § 370 AO das Steueraufkommen nur vor falscher oder unterlassener Information geschützt. Die hier dargelegte und widerlegte Rechtsgutsbestimmung hat sich daher zu Recht weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur durchzusetzen vermocht. c) Sonstige Rechtsgutsbestimmungen An weiteren Versuchen, das Rechtsgut der Steuerhinterziehung näher zu bestimmen, mangelt es nicht. Sie leiden allerdings zum Teil schon daran, dass sie keine vom Fall losgelöste dogmatische Auseinandersetzung mit der Steuerhinterziehung bezwecken, sondern ganz bestimmte „Einzelfallprobleme“ zu lösen versuchen.645 An dieser Stelle bedürfte es daher nicht nur einer eingehenden Untersuchung, welche Aussage über das Rechtsgut im einzelnen nun genau getroffen wird, sondern zusätzlich, ob diese Konzeption für die ihr nicht zugedachten Fälle genauso handhabbar ist. Ein solches Vorgehen ist in diesem Fall entbehrlich, weil keiner der nun folgenden Ansätze ernsthaft Verbreitung gefunden hat. Sie werden daher mit den gegen sie vorgebrachten Argumenten kurz, aber in der gebotenen Länge dargestellt. Dannecker hat den Versuch unternommen, das Rechtsgut neben dem Interesse am vollständigen Steueraufkommen um den Schutz des Besteuerungssystems zu erweitern.646 Schließlich erfülle die Eintreibung von Steuern zugleich nichtfiska­ 642

Zu dieser Kritik insgesamt Kohlmann/Sandermann, StuW 1974, S. 221 ff. [229 ff.]. Siehe bereits: 1. Der systemkritische Rechtsgutsbegriff (S. 139). Bedenken äußern auch Kohlmann/Sandermann, StuW 1974, S. 221 ff. [229 ff.]; Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung und die Steuerverkürzung im Festsetzungsverfahren, S. 23. 644 So auch Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 41. 645 Dies gilt für insbesondere für Mattern, Steuer-Strafrecht I, S. 35 f., und Salditt, Festschrift für Tipke, S. 475 ff.; ders., StraFo 1997, S. 65 ff., die Probleme im Rahmen der Konkurrenzen und der Hinterziehung ungerechter Steuern mit ihrer Rechtsgutsbestimmung lösen wollen. 646 Dannecker, Steuerhinterziehung im internationalen Wirtschaftsverkehr, S. 144 ff. u. 174 ff. 643

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lische Lenkungsziele, indem die Besteuerung dazu eingesetzt werde, den Steuerpflichtigen zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen. Diese so verfolgten wirtschafts- und sozialpolitischen Funktionen seien zwar von der Rechtsgutsbestimmung der überwiegenden Ansicht nicht erfasst, aber dennoch strafrechtlich schützenswert. Das Besteuerungssystem als „Kombination und Ausgestaltung der verschiedenen Steuern, die in einem Staat erhoben werden“647, sei somit  – ähnlich wie beim Kreditbetrug das Funktionieren des Kreditwesens – als zusätzliches Rechtsgut, allerdings nur nachrangig, bei der Auslegung der Steuerhinterziehung zu berücksichtigen.648 Diesem Ansatz ist schon entgegenzuhalten, dass er sich gerade für eine präzisere Auslegungsmethodik nur bedingt eignet. Wird das Rechtsgut der Steuerhinterziehung auch nach Dannecker vorrangig mit dem spezifischen Steueraufkommen beschrieben, so wird dann ein Rückgriff auf das wesentlich allgemeinere Rechtsgut des Besteuerungssystems gerade für die schwierigeren Auslegungsfälle keine Hilfe bieten. Dieses vage gestaltete (Zusatz-)Rechtsgut bedarf selbst der Präzisierung, wobei man jedoch geneigt ist, es nur dann als verletzt oder gefährdet anzusehen, wenn auch das (vorrangige) Steueraufkommen betroffen ist. Aber kommt dem „Besteuerungssystem“ dann überhaupt noch ein eigenständiger Gehalt zu? Soweit man nun auf die von Dannecker ausdrücklich angesprochenen finanzpolitischen Lenkungsziele abstellen will, wird dadurch ebenfalls der Blick auf das Wesentliche versperrt. Der Gesetzgeber kann mit der Steuergesetzgebung, dies zeigt schon § 3 Abs. 1 – 2. Hs. AO, unbestreitbar auch außerfiska­lische Zwecke verfolgen.649 Da diese Ziele durch die Besteuerung selbst umgesetzt werden, muss es für das Strafrecht doch genügen, wenn es an genau dieses Steueraufkommen anknüpft und eine Verletzung desselben sanktioniert. Für die Steuerhinterziehung ist es daher gleichgültig, ob der Steuergesetzgeber mit der Einführung eines Steuertatbestandes nur fiskalische oder auch außerfiskalische Lenkungsziele verfolgt, solange dabei eine konkret entstandene Steuer in Mitleidenschaft gezogen wird. Eine Schutzlücke kann in diesem System insofern nicht ausgemacht werden, so dass sie auch nicht über den Rechtsgutszusatz „Besteuerungssystem“ geschlossen werden muss. Ferner hat Terstegen die Ansicht geäußert, das Rechtsgut der Steuerhinterziehung sei „das Vermögen aller Steuerpflichtigen, soweit sie zu den öffentlichen Lasten beitragen müssen“650. Hierbei wird allerdings nicht ausreichend der Steuer­ hinterziehungstatbestand selbst berücksichtigt. Dieser knüpft bei der Steuerverkürzung ersichtlich an die konkrete Steuerfestsetzung von Steueransprüchen bzw. bei der Vorteilserlangung an eine ganz konkrete steuerrechtliche Gewährung an. Schon vermögensrechtlich sind daher nicht die steuerpflichtigen Bürger die di 647

Dannecker, Steuerhinterziehung im internationalen Wirtschaftsverkehr, S. 147. Dannecker, Steuerhinterziehung im internationalen Wirtschaftsverkehr, S. 174 ff. 649 Demnach kann die Erzielung von Einnahmen auch lediglich Nebenzweck sein. Dazu u. a. Pahlke, in: Pahlke/Koenig, AO, § 3 Rn. 24 ff. 650 Terstegen, Steuer-Strafrecht, S. 81; zust. v. d. Heide, Tatbestands- und Vorsatzprobleme bei der Steuerhinterziehung, S. 58 f. 648

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rekten Betroffenen, sondern der ganz konkrete Steuergläubiger (also im weitesten Sinne der „Staat“); er ist der alleinige Inhaber des Rechtsgutes.651 Stichhaltig wird die von der überwiegenden Ansicht gezogene Schlussfolgerung aber erst, wenn man einen Blick auf den Rechtfertigungsgrund der Einwilligung wirft. Dieser Rechtsschutzverzicht wird von demjenigen „Verletzten“ ausgeübt, in dessen Rechtsgüter durch die Tat eingegriffen wird.652 Sieht man nun das Vermögen aller Steuerpflichtigen als Rechtsgut der Steuerhinterziehung an, so müssten dann auch genau diese Bürger – mag dies auch das unwahrscheinliche Szenario eines reinen Gedankenexperimentes sein  – im Rahmen einer einheitlichen Entscheidung über ihr gemeinsames Vermögen disponieren können. Sie hätten es also in der Hand, sich vollumfänglich von der Steuerhinterziehung zu befreien. Bedenkt man nun, dass der legitime Strafgrund der Steuerhinterziehung doch gerade darin besteht, den Staat mit den notwendigen Finanzmitteln auszustatten, die er zur Erfüllung seiner Aufgaben benötigt, darf es einen solchen Rechtsschutzverzicht durch den Steuerpflichtigen überhaupt nicht geben. Der Steuergläubiger ist berechtigt und auch verpflichtet, die von Gesetzes wegen entstandenen Steuern auch gegen den Willen der Bürger einzutreiben. Nun besteht kein Grund, ihm diesen durch § 370 AO verbürgten strafrechtlichen Schutz zugunsten einer Entscheidung steuerunwilliger Bürger zu verwehren. Es muss daher bei der Aussage verbleiben, dass die Steuerhinterziehung das öffentliche Interesse am Steueraufkommen schützt; weiter geht die Einbeziehung allgemeiner Belange entgegen der Ansicht von Terstegen nicht. Demgegenüber möchte Backes die Steuerhinterziehung als ein artverwandtes Delikt zum Diebstahl verstanden wissen. Denn durch die Verletzung der steuerrechtlichen Sachverhaltsaufklärung werde ähnlich wie bei der Wegnahme ein ganz bestimmter Vermögensbestandteil entzogen. Daher sei als Rechtsgut der „äußere Bestand der Ansprüche auf Entrichtung von Steuern, Zöllen und Eingangsabgaben“653 geschützt. Das Interesse des Staates beziehe sich daher auf die freie Verfügungsmacht über die Ansprüche.654 Nun bedarf es allerdings keiner längeren Ausführungen, um darzulegen, dass dieser Vergleich zwischen § 370 AO und § 242 StGB nicht überzeugen kann. Schon zuvor wurde nachgewiesen, dass sowohl die Tatobjekte als auch die Tathandlung beider Delikte einen ganz unterschiedlichen Charakter aufweisen.655 Insbesondere hinsichtlich letzterer ist eindeutig festzustellen, dass es bei der Steuerhinterziehung nicht um die Wegnahme 651 Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung und die Steuerverkürzung im Festsetzungsverfahren, S. 25. 652 Schlehofer, in: MüKo-StGB, Vor §§ 32 Rn. 135 ff.; aber auch schon Honig, Die Einwilligung des Verletzten, S. 1 ff. 653 Backes, Zur Problematik der Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum im Steuerstrafrecht, S. 150. 654 Backes, Zur Problematik der Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum im Steuerstrafrecht, S. 149 f. 655 Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung und die Steuerverkürzung im Festsetzungsverfahren, S. 25 ff.

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

der in Rede stehenden Steueransprüche geht, sondern um das „Verhindern des Nehmenlassens, also die Nichtherausgabe“656 oder noch genauer, da Ansprüche nicht „herausgegeben“ werden müssen, um die fehlerhafte Sachverhaltsaufklärung. Anderenfalls würde sich die Steuerhinterziehung nicht als betrugsähnliches Delikt präsentieren, sondern wäre ein im übrigen Strafrecht nicht vorkommender Forderungsdiebstahl.657 Nach Mattern soll das maßgebliche Rechtsgut die Steuerhoheit des Staates sein.658 Ziel dieser Lesart des Hinterziehungstatbestandes sollte die Erweiterung des seinerzeit noch bestehenden Fortsetzungszusammenhangs sein.659 Damit wandte sich Mattern ausdrücklich gegen die Rechtsprechung des Reichsgerichts und Bundesgerichtshofs, die mit ihrer Rechtsgutsauslegung genau die kritisierte Beschränkung auf die einzelnen Steuern auslösen wollten.660 Unabhängig von den Einwänden gegen eine damit einhergehende Ausweitung des Fortsetzungszusammenhangs wurde diesem Ansatz zu Recht immer wieder entgegengehalten, dass die Steuerhoheit vom Täter nicht verletzt und mithin auch nicht als gültiges Rechtsgut gezählt werden könne.661 Die schon mehrfach angesprochene Ableitungsbeziehung zwischen dem Tatobjekt und das dadurch im Tatbestand repräsentierte Rechtsgut wird man mit diesem Konzept nur schwerlich ausmachen können. Allerdings ist auch eine andere (begrenzte) Deutung des von Mattern entwickelten Rechtsgutsansatzes möglich. Versteht man ihn nur dahingehend, dass er sich gegen die für das Konkurrenzrecht entwickelte Einschränkung und damit für den Schutz des Steueraufkommens „im Ganzen“ ausspricht,662 so ergeben sich hierbei keine Abweichungen zu der in der Rechtsprechung und überwiegenden Literatur anzutreffenden Ansicht. Der jüngst entwickelte Rechtsgutsansatz wird von Salditt vertreten. Er erklärt die gleichmäßige Lastenverteilung zum Schutzgut.663 Steuern dürfe der Staat nur dann erheben, wenn er dabei das sich aus Art. 3 Abs. 1 GG ergebende Gleichheitsgebot im Hinblick auf eine dadurch gebotene einheitliche Lastenverteilung berücksichtige. Insofern sei die Steuerhinterziehung deshalb strafbar, weil sie den „Steuerehrlichen die im Staatshaushalt eingeplante Schwundquote aufbürdet, die 656

Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung und die Steuerverkürzung im Festsetzungsverfahren, S. 25 ff. 657 Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung und die Steuerverkürzung im Festsetzungsverfahren, S. 26. 658 Mattern, Steuer-Strafrecht I, S. 35 f.; ders., JZ 1954, S. 254 f.; ders., ZStW 67, S. 363 ff. [367 mit Fn. 16]. 659 Mattern, Steuer-Strafrecht I, S. 36; ders., JZ 1954, S. 254 f.; ders., ZStW 67, S. 363 ff. [367 mit Fn. 16]. 660 Dazu bereits an obiger Stelle (S. 157 f.). 661 Zu Recht Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 41 m. w. N. 662 Zu diesem durchaus möglichen Verständnis Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung und die Steuerverkürzung im Festsetzungsverfahren, S. 16. 663 Salditt, Festschrift für Tipke, S. 475 ff. [478 ff.]; ders., StraFo 1997, S. 65 ff. [67 f.]; zust. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1697 ff.

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eigentlich auf den Hinterzieher entfallen“ solle und somit die Rechtfertigung der Steuern bedrohe.664 Im Kern geht es Salditt bei dieser Rechtsgutsdefinition genau genommen um das Problem der Hinterziehung „ungerechter“ Steuern. Denn hiernach schütze § 370 AO nur die nach dem Maß der Gleichbehandlung erhobenen Abgaben, nicht aber den Ungehorsam gegenüber dem bloßen Steuerbefehl, soweit er nur die Festsetzung ungerechter und damit verfassungswidriger Steuern enthalte.665 Allerdings greift auch ein solches Verständnis vom Rechtsgut der Steuerhinterziehung nur mittelbare Schutzreflexe auf, ohne – und darauf kommt es der vorliegenden Arbeit im besonderen Maße an – Anknüpfungspunkte für eine stichhaltige Auslegung liefern zu können. Unbestreitbar hat sich die Besteuerung an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Bürger zu orientieren; dies ist Ausfluss des allgemeinen Gleichbehandlungsgebotes gemäß Art.  3 Abs.  1 GG. Aus einem Dreiecksverhältnis zwischen dem Staat als Steuergläubiger, dem ehrlichen und dem unehrlichen Steuerschuldner ein Rechtsgut konstruieren zu wollen, kann wiederum mit Blick auf den Hinterziehungstatbestand nicht überzeugen. Der Steuerhinterzieher wird doch nicht deswegen bestraft, weil durch sein Steuerausfall andere Steuerpflichtige gezwungen sind, diese Lücke im Steueraufkommen auszufüllen, sondern weil er schlichtweg nicht dazu beiträgt, dass der Steuergläubiger seine ihm entstandenen Ansprüche eintreiben und bedarfsgerecht einsetzen kann. Das für § 370 AO maßgebliche Verhältnis findet daher ausschließlich zwischen dem Steuergläubiger und dem die Steuern Hinterziehenden statt. Anderenfalls käme man wiederum bei dem Verhältnis zwischen dem Tatobjekt und dem von Salditt formulierten Rechtsgut in arge Begründungsnöte. Ab wann ließe sich überhaupt erst von einer Verletzung oder Gefährdung der gleichmäßigen Lastenverteilung sprechen? Doch erst dann, wenn die konkrete Hinterziehungshandlung das Steueraufkommen derart in Mitleidenschaft zieht, dass eine zusätzliche Inanspruchnahme der übrigen Steuerpflichtigen notwendig erscheint oder der Staat dadurch seine ihm auferlegten Aufgaben nur noch unzureichend erfüllen kann.666 Ob durch die von Salditt vertretene Ansicht vielleicht sogar ein in der Rechtslehre umstrittenes Kumulationsdelikt geschaffen wird, bei dem ein Schädlichkeitspotential erst dann eintritt, wenn sich eine Vielzahl der Menschen nicht normkonform verhalten,667 bedarf hier keiner näherer Auseinandersetzung. Denn die Auffassung Salditts kann schon aus den oben angegebenen Gründen nicht überzeugen.

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Salditt, StraFo 1997, S.  65 ff. [68]; zusammenfassend Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1697 ff. [1699]: „Es muss danach geschützt werden: (1) Der Anspruch der öffentlichen Hand auf verfassungsgemäße, d. h. insbesondere: dem Gleichheitssatz entsprechende Steuern und (2) der aus der Verfassung, insbesondere dem Gleichheitssatz folgende Anspruch der Bürger auf verfassungsgemäße Gleichbelastung.“ 665 Salditt, StraFo 1997, S. 65 ff. [68]; ders., in: Festschrift für Tipke, S. 475 ff. [480]. 666 Zu Recht Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 42. 667 Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, Vor § 1 Rn. 137 a. E.

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3. Der überzeugende Rechtsgutsansatz der Rechtsprechung und herrschenden Lehre Insgesamt drängt sich aus den vorangegangenen Erläuterungen zu den unterschiedlichen Rechtsgutsansätzen eine klare Folgerung auf. Das Steueraufkommen stellt sich als das von der Steuerhinterziehung geschützte Rechtsgut dar. Nur diese vermögensrechtliche Ausgestaltung, wie sie von der überwiegenden Ansicht in Rechtsprechung und Lehre vertreten wird, ist umfassend in der Lage, den Tatbestand des § 370 AO und sein Regelungssystem stichhaltig zu beschreiben und Gewähr für eine sinnvolle Auslegung zu bieten. Insbesondere kristallisiert sich das für eine teleologische Auslegung notwendige Beziehungsgeflecht zwischen dem konkreten Tatbestand und dem dadurch geschützten Rechtsgut deutlich heraus: Durch § 370 AO wird das Vermögen des Staates in zweierlei Weise nur vor ganz spezifischen Angriffen bewahrt. Zum einen muss es sich um dasjenige Vermögen des Staates handeln, das sich aus den Steuern im Sinne des § 3 Abs. 1 AO zusammensetzt. In beiden Erfolgsalternativen der Steuerhinterziehung muss also eine konkrete Steuer betroffen sein.668 Zum anderen wird das sich so darstellende Steueraufkommen des Staates nur vor einer falschen (unrichtigen bzw. unvollständigen) oder pflichtwidrig unterlassenen Tatsachenmitteilung geschützt.

B. Deliktsnatur der Steuerhinterziehung I. Erfolgsdelikt Die Steuerhinterziehung ist unstreitig ein Erfolgs- und nicht bloßes Tätigkeitsdelikt. Diese Einordnung ergibt sich aus dem Umstand, dass die Tathandlung eine kausale und zurechenbare Steuerverkürzung oder Erlangung ungerechtfertigter Steuervorteile herbeiführen muss.669 Es bedeutet jedoch nicht, dass die Handlungsobjekte, an denen sich dieser Erfolg körperlich vollzieht, auch tatsächlich in ihrem Bestand angegriffen werden. Aufgrund der eindeutigen gesetzlichen Vorgaben aus § 370 Abs. 4 AO wird weder der Steueranspruch noch das Steueraufkommen in jedem Einzelfall tatsächlich in Mitleidenschaft gezogen. Für den Steueranspruch liegt dies bereits deshalb auf der Hand, weil dieser durch Tatbestandsverwirklichung rechtswirksam entstanden ist und vom Steuerpflichtigen oder Dritten materiell-rechtlich nicht beeinflusst werden kann. Vielmehr genügt es, dass er gemäß § 370 Abs. 4 S. 1 – 1. Hs. AO entweder gar nicht, nicht in voller Höhe, oder nicht rechtzeitig in einem Steuerbescheid konkretisiert wird. Gleiches gilt für das Handlungsobjekt der Vorteilserlangung. Auch das Steueraufkommen muss trotz Eintritt 668

Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 372. BGHSt 34, S. 203; Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 10; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 20; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 57. 669

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des Erfolges nicht notwendig endgültig verletzt werden, da gemäß § 370 Abs. 4 S. 2 – 2. Hs. AO schon die Gewährung des Vorteils, also das bloße Wirksamwerden der begünstigenden Verfügung, genügt. Zu einer Auszahlung mit einer damit einhergehenden tatsächlichen Minderung des Steueraufkommens muss es insofern nicht gekommen sein.670 II. Gefährdungsdelikt 1. Verletzung oder Gefährdung? Umstritten ist hingegen, ob die Steuerhinterziehung auch ein Verletzungs- oder doch eher ein Gefährdungsdelikt ist. Maßgebliches Abgrenzungskriterium für die Einordnung dieser Deliktsstruktur bildet nach zutreffender Ansicht das Rechtsgut.671 Wird eine Strafnorm nur aus dem Grund errichtet, weil sie etwas als wertvoll Anerkanntes schützen soll, dann muss zwischen der verbotenen Handlung, dem tatbestandlichen Handlungsobjekt und dem so formulierten Rechtsgut eine innere Beziehung bestehen. Schließlich kann sich die Legitimation jeder Verbotsnorm doch erst dann ergeben, wenn die zu unterbleibenden Handlungen zumindest denklogisch geeignet sind, das zu schützende Gut zu verletzen oder mindestens zu gefährden. Aus diesem inneren Zusammenhang muss nun allerdings auch gefolgert werden, dass die Verletzung oder Gefährdung des im Tatbestand enthaltenen Handlungsobjektes nicht geeignet ist, die Deliktsstruktur „Verletzungsdelikt“ hinreichend zu beschreiben. Soweit bereits an früherer Stelle gezeigt wurde, dass 670

Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 450. So Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 15 a. E.; Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S. 107 ff. [108 f.]; Schulenburg, Die Rechtsgutstheorie, S. 244 ff. [248 f.]; Radtke, Die Dogmatik der Brandstiftungsdelikte, S. 23 f.; zuletzt auch Rotsch, „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, S. 436 ff. [440 f]. Dagegen jedoch die ganz überwiegende Ansicht im Strafrecht: Walter, in: LK-StGB, Vor § 13 Rn. 65; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 129; Roxin, Strafrecht AT/I, § 10 Rn. 54, 123 f.; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 263 f. Sie will die hier in Rede stehende Unterscheidung von der Verletzung oder Gefährdung des Handlungsobjektes abhängig machen. Allerdings wird die Unterscheidung von der herrschenden Meinung nur halbherzig verfolgt. So stellt § 306a Abs. 1 StGB nach einheitlicher Auffassung ein abstraktes Gefährdungsdelikt dar, obwohl es sich nach dem Vorbenannten streng genommen um ein Verletzungsdelikt handeln müsste. Denn die im Tatbestand genannten Handlungsobjekte Gebäude, Kirche, etc. müssen in Brand gesetzt oder durch Brandlegung ganz oder teilweise zerstört und demzufolge auch „verletzt“ werden. Dennoch zieht niemand die Konsequenz, § 306a Abs. 1 StGB sei ein Verletzungsdelikt. So bereits zutreffend zur Vorgängerregelung des § 306a Abs. 1 StGB (§ 306 Nr. 2 StGB a. F.) Graul (a. a. O., S. 36 f.). Zu den dogmatischen Ungereimtheiten im Zusammenhang mit den Begriffspaaren Erfolgs- und Tätigkeitsdelikt einerseits und Verletzungs- und Gefährdungsdelikt andererseits siehe eingehend Rotsch (a. a. O.). Für das Steuerstrafrecht nun endlich ausdrücklich in dem hier vertretenen Sinne BGH, wistra 2013, S.  199 ff. [200 f.]: „Die auf die Rechtsgutsverletzungsdelikte § 263 StGB und § 266 StGB bezogenen Vorgaben sind auf den ‚nicht gerechtfertigten Steuervorteil‘ als tatbestandsmäßiger Erfolg nach § 370 Abs. 1 AO nicht übertragbar. […] Abweichend davon stellt sich § 370 AO nicht notwendig als Rechtsgutsverletzungsdelikt dar […].“ 671

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das Handlungsobjekt mit dem zu repräsentierenden Rechtsgut nicht identisch sein muss,672 kann die Verletzung bzw. Gefährdung des ersteren nicht in jedem Fall denknotwendig mit einer Verletzung bzw. Gefährdung des letzteren einhergehen. Der Blick auf die Beeinträchtigung gerade des die Strafnorm legitimierenden Rechtsgutes erscheint daher stets erforderlich und kann erst eine hinreichende Gewähr für die Einordnung der hier in Frage stehenden Deliktskategorien bieten.673 Für den Tatbestand der Steuerhinterziehung kommt es für die Einordnung als Verletzungsdelikt demzufolge entscheidend darauf an, ob das vorbenannte Rechtsgut „Steueraufkommen“ durch die Tathandlung in jedem Einzelfall geschmälert und infolgedessen tatsächlich verletzt wird. In Rechtsprechung und überwiegender Lehre ist für die Steuerhinterziehung­ anerkannt, dass wegen der Tatbestandsausgestaltung keine Verletzung des Steueraufkommens eintreten muss und § 370 AO daher als Gefährdungsdelikt zu qualifizieren ist.674 Dies zeige schon die Legaldefinition der Erfolge in § 370 Abs. 4 AO. Für die Steuerverkürzung genüge es, dass der entstandene Steuerbescheid nicht zur rechten Zeit oder im zutreffenden Umfang festgesetzt werde.675 Ob die Finanzbehörde den wahrheitsgemäßen Sachverhalt problemlos feststellen und eine Änderung der getroffenen Festsetzung bzw. Anmeldung des Steuerpflichtigen vornehmen könne, spiele für die Tatbestandsverwirklichung keine Rolle.676 Gleiches gelte auch dann, wenn der Steuerpflichtige zum Zeitpunkt der Tathandlung vermögenslos sei und demzufolge kein werthaltiger Steueranspruch hinterzogen und mithin das Steueraufkommen tatsächlich nicht geschmälert werde.677 Demgegenüber wendet Hellmann ein, die ganz überwiegende Ansicht gehe von einem extrem engen Verletzungsbegriff aus, der insbesondere den Eigentums- und Vermögensdelikten des Kernstrafrechtes fremd sei.678 Zwar treffe es zu, dass in allen drei Erfolgsvarianten der Steuerverkürzung das Steueraufkommen nicht irreversibel durch den Täter verletzt werde. Dies wäre, da der Steueranspruch selbst nicht vereitelt werden könne, erst dann gegeben, wenn die steuerliche Festset 672

Siehe bereits: 2. Der methodologische Rechtsgutsbegriff (S. 142). Zutreffend Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S. 34 ff. [36]; Schulenburg, Die Rechtsgutstheorie, S. 244 ff. [248 f.]; Radtke, Die Dogmatik der Brandstiftungsdelikte, S. 23 f.; Rotsch, „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, S. 436 ff. [440 f]. 674 BGHSt  53, S.  99 (Gewinnfeststellungsbescheid als ungerechtfertigter Steuervorteil); BGH, wistra 2013, S. 199 ff.; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 57 ff.; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 15; Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 11 ff.; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 11 ff.; nun auch ausdrücklich Webel/Dumke, in: Schwarz, AO, § 370 Rn. 7a; Jäger, in: Klein, AO, § 370 Rn. 85. A. A. Meine, wistra 1982, S. 129 ff. [131 f.]; Hardtke, Steuerhinterziehung durch verdeckte Gewinnausschüttung, S. 139 f.; Grote, Steuerhinterziehung außerhalb des Festsetzungsverfahrens und im Mineralölsteuerverfahren, S. 55 ff. 675 Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 15. 676 Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 11 ff. 677 So u. a. BGH, wistra 2013, S. 199 ff. [201]; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 57 ff. 678 Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 58. 673

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zungsverjährung gemäß den §§ 169 ff. AO eintreten würde. Nun behaupte allerdings auch niemand, die tatbestandliche Handlung des Diebstahls gefährde nur das Eigentum, weil dem wahren Eigentümer sein Recht an der Sache schon aufgrund von § 935 Abs. 1 BGB durch die Tathandlung nicht verloren gehen könne. Auch der Diebstahl sei Verletzungsdelikt, weil der Eigentümer in der Ausübung seines Rechts konkret betroffen werde.679 Da nun aber in allen Fällen der Steuerverkürzung – zumindest bis zur Tatentdeckung – immer eine solche auf Zeit gegeben sei, werde auch dem Steuergläubiger, ähnlich dem Eigentümer beim Diebstahl, die ihm zustehende Steuer ganz konkret für eine gewisse Dauer entzogen.680 Im Übrigen führe auch die konkrete Vermögensgefährdung beim Betrug zu einem Schaden im Sinne des § 263 StGB, wobei dieser dadurch nicht zu einem Gefährdungsdelikt werde, sondern weiterhin Verletzungsdelikt bleibe. Ganz ähnlich stelle sich die Steuerverkürzung dar, indem die unrichtige oder unvollständige Erklärung zu einer geringeren Festsetzung führe und dadurch der bestehende Steueranspruch in tatsächlicher Höhe gefährdet werde und zugleich sowohl den Wert dieses Anspruchs als auch das Vermögen des Steuergläubigers mindere.681 Bis hierhin vermögen die Argumente von Hellmann zu überzeugen. In der Tat intendieren nicht alle Verletzungsdelikte eine irreversible Schädigung des vom Tatbestand geschützten Rechtsgutes. Im Grunde genommen wird daher in diesem Punkt auch nicht über die Steuerhinterziehung, sondern über die Voraussetzungen und Ausgestaltung des Begriffs „Verletzungsdelikt“ gestritten.682 Dass die Steuerhinterziehung bei aller berechtigten Kritik dennoch ein Gefährdungsdelikt ist, kann durch ein Blick auf das in § 370 Abs. 4 S. 3 AO enthaltene Kompensationsverbot nicht ernsthaft in Abrede gestellt werden. Demzufolge soll eine Steuerhinterziehung auch dann vorliegen, „wenn die Steuer, auf die sich die Tat bezieht, aus anderen Gründen hätte ermäßigt oder der Steuervorteil aus anderen Gründen hätte beansprucht werden können“. Soweit daher bereits an vorheriger Stelle die Rede davon war, dass für den Taterfolg der Verkürzung der Vergleich zwischen der festgesetzten (Ist-Steuer) und der tatsächlich geschuldeten Steuer (Soll-Steuer) maßgeblich ist, bedarf dies insofern einer kleinen Modifizierung. Nach dem Kompensationsverbot soll die gesetzlich geschuldete Steuer nicht – wie es sonst der Fall wäre – durch Anwendung der materiellen Vorschriften des jeweiligen Steuergesetzes auf den wirklichen Sachverhalt ermittelt werden. Grundlage für die Ermittlung des zutreffenden Steueranspruchs bildet vielmehr die konkrete 679 A. A. Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S. 133 f., die eine Eigentumsverletzung erst dann annehmen will, wenn es zu einer dauerhaften Beeinträchtigung gekommen ist. Da der Tatbestand aber eine solche vorübergehende Aneignung der Sache sowie eine dauerhafte Enteignung nicht voraussetze, sei § 242 StGB hinsichtlich des Rechtsgutes Eigentum ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Ähnlich auch Schmitz, in: MüKo-StGB, § 242 Rn. 20. 680 Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 58 ff. 681 Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 60. 682 Dies erkennt auch schon Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung und Steuerverkürzung im Festsetzungsverfahren, S. 61 ff.

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Erklärung des Steuerpflichtigen, wobei nur die unrichtigen Angaben  – die den Vorwurf der Steuerhinterziehung begründen  – durch die richtigen ersetzt werden.683 Hierdurch wird der Strafrichter jedenfalls im Hinblick auf die Feststellung des Taterfolgs von der Pflicht enthoben, den gesamten Steuerfall erneut aufzurollen und Steuerminderungen zu berücksichtigen, die vom Steuerpflichtigen, sei es bewusst oder unbewusst, bisher nicht vorgetragen wurden.684 Zugleich sollen dem Täter nachträgliche Einwendungen gegen die festgesetzte Steuerhöhe versperrt bleiben.685 Demgegenüber dürfen bisher nicht erklärte Steuervorteile nur berücksichtigt werden, wenn diese in einem unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhang zu den unrichtigen Tatsachen stehen (aus „anderen“ Gründen); wenn der Täter also bei ordnungsgemäßer Erklärung neben den verschleierten Gründen naturgemäß auch die dazugehörigen Minderungsgründe erklärt hätte.686 Durch diese Beschränkung bei der Ermittlung des relevanten Verkürzungserfolges folgt zugleich, dass eine tatbestandsmäßige Steuerverkürzung gegeben sein kann, obwohl der gesetzliche Steueranspruch im Sinne des § 38 AO in „verkürzter“ Höhe überhaupt nicht besteht, oder der Steuerpflichtige sogar eine Steuer­ erstattung erwartet.687 Dies gilt selbst dann, wenn die unrichtige Steuerfestsetzung nachträglich geändert wird und der Steuerbescheid sodann die zutreffende Steuerhöhe ausweist. Besteht aber der Steueranspruch in Wirklichkeit nicht, ist also der Steuergläubiger überhaupt nicht berechtigt, den sich aus den steuerstrafrechtlichen Vorschriften ergebenden „Steueranspruch“ einzufordern, so ist letztlich auch das Steueraufkommen nicht betroffen, sondern kann nur im Hinblick auf zukünftiges Verhalten gefährdet werden.688 In diesen Fällen besteht nämlich (nur) die Möglichkeit, dass die durch die Steuerhinterziehung erfolgte unrichtige Steuer­ festsetzung durch eine nachträgliche Berücksichtigung der berechtigten, aber bisher verschwiegenen Minderungsgründe geändert wird und nun eine wirkliche Ver 683

So bereits E. Becker, RAO, § 359 Anm. 4. Siehe zur Handhabung des Kompensationsverbotes die stetige Rechtsprechung BGHSt 7, S. 336 [345] und überwiegende Auffassung in der Literatur u. a. Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 515. Auf das besondere Problem, ob § 370 Abs. 4 S. 3 AO auch bei unterlassenen Angaben (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) eingreift, wird an späterer Stelle näher eingegangen; siehe dazu b) Unberechtigte Systemkritik (S. 182). 684 Ob das Kompensationsverbot (u. a.) wirklich einen prozessökonomischen Zweck verfolgt, wie es zur Einführung der RAO (1919) E. Becker, RAO, § 359 Anm. 7, noch angab, wird von Teilen der Literatur heute zu Recht in Frage gestellt. Spätestens bei der Strafzumessung sei der konkrete Steuerschaden ohne Anwendung des § 370 Abs. 4 S. 3 AO zu beziffern (so auch die stetige Rechtsprechung des BGH, wistra 2008, S. 153 f.), so dass der Strafrichter daher in jedem Fall eigene Feststellungen zu treffen habe. Siehe dazu u. a. Rolletschke, in: Rolletschke/ Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 128 ff. 685 E. Becker, RAO, § 359 Anm. 7, mit Verweis auf RGSt 46, S. 237 (sog. Bordellzinsen-Entscheidung). 686 Siehe u. a. BGH v. 31.1.1978 – 5 StR 458/77; BGH wistra 1984, S. 183. 687 Siehe nur BGH, wistra 1991, S. 107 f.; LG Oldenburg, wistra 1994, S. 176; dies erkennt auch Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 62 f. 688 So u.a Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 145; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 506.

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letzung des Steueranspruchs und somit auch des Steueraufkommens eintritt.689 Das Kompensationsverbot soll also vor der nicht unwahrscheinlichen Verfahrenssituation schützen, dass der Steuerpflichtige gegenüber der Finanzbehörde bsplw. zu geringe Einnahmen erklärt und zugleich tatsächliche Minderungsgründe in gleicher Höhe unterschlägt. Gäbe es nämlich die Regelung des § 370 Abs. 4 S. 3 AO nicht, so würde es sich hierbei nicht um eine tatbestandliche Steuerverkürzung handeln, da sich festgesetzte und geschuldete Steuer in der Summe entsprächen. Von Seiten der Literatur wird nun eingewendet, der Täter habe in einem solchen Fall die Möglichkeit, ebenfalls straflos einen Antrag auf Berücksichtigung der existierenden Minderungsgründe zu stellen und damit die vorbereitete Schädigung des Steuer­aufkommens zu vervollständigen. Schließlich enthalte dieser Antrag gegenüber der Finanzbehörde im Hinblick auf die Minderungsgründe nur wahre Tat­ sachen, so dass es im Ergebnis bereits an der geforderten Tathandlung fehle. Der Steuerpflichtige bliebe daher ohne die Existenz des Kompensationsverbotes aufgrund des Auseinanderfallens von Tathandlung und Taterfolg insgesamt straflos.690 Der hier von der Literatur hervorgehobene Gefährdungsgedanke trifft den wahren Kern des Kompensationsverbotes. Dass § 370 AO auch vor solchen Gefahren für das Steueraufkommen schützen will, die im Wesentlichen mit einer ungerechtfertigten Doppelberücksichtigung von Minderungsgründen einhergehen, kann nicht von der Hand gewiesen werden.691 Allerdings erscheint die Folgerung korrekturbedürftig, der nachträgliche Änderungsantrag stelle keine Tathandlung im Sinne des § 370 Abs.  1 Nr.  1 AO dar. Zwar handelt es sich bei den später angegebenen Minderungsgründen, isoliert betrachtet, um eine wahre Tatsache, jedoch wird man diesem Änderungsantrag auch konkludent die Erklärung entnehmen können, dass weitere Fehler in der vormaligen Erklärung nicht vorhanden sind bzw. bisher nicht entdeckt wurden. Einem Korrekturantrag ist demzufolge häufig eine sinngemäße Vollständigkeitserklärung dergestalt enthalten, dass man keine weiteren Fehler, zu deren Berichtigung der Steuerpflichtige gemäß § 153 AO ohnehin verpflichtet wäre, zu korrigieren habe. Indem der Täter tatsächlich mit einer weiteren Unrichtigkeit, nämlich der zu niedrigen Angabe von Einnahmen, hinter dem Berg hält, macht er zugleich unvollständige Angaben und begeht mithin doch 689 Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 70 ff.; Hellmann, in: Hübsch­ mann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 63; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 145; kritisch Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 513. 690 Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 73, schildert dazu folgendes Szenario: „Der Täter, der unter dem Vorbehalt der Nachprüfung veranlagt wird, gibt für das Kalenderjahr 2008 eine ESt-Erklärung mit einem zu niedrigen Gewinn ab und lässt zugleich Werbungskosten bei den Einkünften aus Kapitalvermögen in nämlicher Höhe weg. Er hätte hier – existierte § 370 IV 3 AO nicht – zwar die Tathandlung (Täuschung über steuerlich erhebliche Tatsachen) begangen, jedoch keine Steuerverkürzung verursacht. Beantragt er später den Steuer­bescheid nach § 164 II AO zu ändern und seine Werbungskosten zu berücksichtigen, dann begeht er schon keine Tathandlung; den Verkürzungserfolg führt er jedoch durch Komplettierung des Tatablaufs herbei.“ 691 Ähnl. auch Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 146 a. E.

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noch eine vollendete Steuerhinterziehung.692 Aber auch dies spricht letztlich nicht gegen die berechtigte Annahme, die Steuerhinterziehung wolle einer solchen Gefährdungssituation entgegenwirken. Denn eine nachträgliche Berücksichtigung von Minderungsgründen muss nicht notwendigerweise durch einen (nach dies­seitiger Ansicht: strafbaren) Antrag des Steuerpflichtigen erfolgen, sondern kann unter Umständen auch von Amts wegen durch die Finanzbehörde geschehen. Es besteht daher durchaus die Gefahr, dass der Steuerpflichtige bei fehlendem Kompensationsverbot durch eine von ihm geschaffene Verfahrenslage ohne ein strafbares Zutun doch zu einer für ihn günstigen und das Steueraufkommen schädigenden Ausgangssituation gelangt.693 Um dies zu verhindern, stellt § 370 Abs. 4 S. 3 AO bereits die Schaffung einer zum Steuerschaden neigenden Verfahrenssituation unter Strafe. Dieser Gefährdungsaspekt findet sich entgegen ausdrücklicher Stimmen in der Literatur ebenfalls beim Taterfolg der Vorteilserlangung, da auch für diese Fälle das Kompensationsverbot ausdrücklich Anwendung findet.694 Der Steuervorteil ist selbst dann nicht gerechtfertigt, wenn dem Täter oder dem begünstigten Dritten wegen eines der Finanzbehörde verschwiegenen (wahren) Sachverhaltes dieser Vorteil hätte gewährt werden müssen.695 Der Strafrichter hat insofern lediglich zu prüfen, ob auf der Grundlage des vom Täter unterbreiteten Sachverhaltes ein Anspruch auf die begehrte Leistung bestand. Insofern existiert auch in diesen Fallgestaltungen die nicht von der Hand zu weisende Gefahr, dass es zu einer das Steueraufkommen letztlich schädigenden Mehrfachgewährung des Steuervorteils kommt. Das Kompensationsverbot führt also dazu, dass nicht die gesamte materielle Steuerrechtslage zur Prüfung der Taterfolge herangezogen werden darf. Für den Täter kann das im Umkehrschluss einen erheblichen Nachteil bedeuten, da er mit der nachträglichen Geltendmachung von Steuerminderungen im Strafverfahren prinzipiell präkludiert ist. Eine Ausnahme wird nur dann angenommen, wenn zwar auch steuermindernde Tatsachen bzw. Steuervorteile offenbart werden, es sich hierbei aber nicht um „andere Gründe“ im Sinne von § 370 Abs. 4 S. 3 AO handelt. 692

Zu dem Merkmal des Machens unvollständiger Angaben siehe später unter: 1. Das Machen unrichtiger oder unvollständiger Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen (S. 291). 693 Das Kompensationsverbot verliert bei dieser Deutung letztlich sogar seine steuerstrafrechtliche Eigentümlichkeit. Denn auch dem Betrugsstrafrecht ist eine ähnliche Situation bekannt: Erschleicht der Täter durch Täuschung eine vom Opfer nicht geschuldete Leistung (bsplw. aus einem erschwindelten Kaufvertrag), dann soll eine Strafbarkeit wegen Betrugs auch dann gegeben sein, wenn der Täter aus einem anderen Rechtsgrund (bsplw. Werkvertrag) die Leistung beanspruchen konnte. Ein Vermögensschaden und eine beabsichtigte rechtswidrige Bereicherung sei gegeben, weil das Opfer nicht mit erfüllender Wirkung leiste und der tatsächliche Verpflichtungsgrund noch immer bestehe; vgl. RGSt 60, S. 294; Cramer/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 263 Rn. 117; Tiedemann, in: LK-StGB, § 263 Rn. 196. 694 A. A. Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 134; Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 12a. Sie wollen die Steuerhinterziehung in Form der Vorteils­ erschleichung als Verletzungsdelikt qualifizieren, ohne allerdings das auch für den Steuervorteil geltende Kompensationsverbot in Betracht zu ziehen. 695 Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 144.

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Auch diese Ausnahme kann wiederum mit der beschriebenen Gefahrensituation, die es mit dem Kompensationsverbot zu vermeiden gilt, jedenfalls nach Ansicht der Literatur in einen logischen Zusammenhang gebracht werden. Kommen nach einer Steuerhinterziehung die der Finanzbehörde unterschlagenen wahren Tatsachen erstmals ans Licht, dann sind diese insgesamt in die Prüfung des Taterfolges einzubeziehen. Dies gilt insbesondere für Ermäßigungsgründe, die vom Steuerpflichtigen deshalb nicht geltend gemacht wurden, weil er ansonsten die von ihm begangene Steuerverkürzung selbst aufgedeckt hätte.696 Die falsche Erklärung wird demzufolge durch diejenigen (steuererhöhenden) Tatsachen ersetzt, die den strafrechtlichen Vorwurf begründen, wobei zugleich diejenigen steuermindernden Tatsachen zu berücksichtigen sind, die mit ersteren in einem unmittel­ baren wirtschaftlichen Zusammenhang stehen.697 Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung ist dies anzunehmen, wenn es sich um die steuerrechtliche Beurteilung desselben Vorgangs handelt.698 Hierzu hat der Bundesgerichtshof ein umfangreiches Einzelfallrecht entwickelt, aus dem sich allerdings keine allgemeingültigen Leitlinien entnehmen lassen.699 Demgegenüber versucht die Literatur nun vermehrt von dem bereits formulierten Sinn und Zweck des Kompensations­ verbotes auszugehen. Danach sei eine Ausnahme vom Kompensationsverbot nur dann geboten, wenn zwischen steuererhöhenden und -mindernden Tatsachen eine so enge Verknüpfung bestehe, so dass eine isolierte Geltendmachung nur der die Steuer mindernden Gründe schier ausgeschlossen sei.700 In diesen Fällen bestehe nämlich von Anfang an nicht die Gefahr, dass die steuermindernden Gründe isoliert zu einer Herabsetzung der Steuer und damit im Nachhinein zu einer Schädigung des Steueraufkommens führen.701 Inwieweit dieser von der Literatur vorgeschlagenen Einschränkung letztendlich ein tragendes Prinzip der Steuerhinterziehung zu entnehmen ist, kann an dieser Stelle unerörtert bleiben. Auf sie wird an späterer Stelle zurückzukommen sein.702 Ungeachtet dessen lässt sich bis hierher eine klare Antwort auf die bereits gestellte Frage geben, ob die Steuerhinterziehung ein Verletzungsdelikt ist. Es kann 696

Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 524. BGH, GA 1978, S. 307. 698 Vgl. u. a. BGH, NStZ 2004, S. 579 f. Aus diesem Grund sind Betriebsausgaben zu berücksichtigen, wenn sie auf genau denjenigen Betriebseinnahmen beruhen, die in der Steuererklärung unrichtig angegeben wurden. Ein unmittelbarer wirtschaftlicher Zusammenhang wird demgegenüber zwischen unrichtig erklärten Umsätzen (Ausgangsumsätze) und Vorsteuern (Eingangsumsätze) von der Rechtsprechung grundsätzlich nicht anerkannt, vgl. u. a. BGH, wistra 2008, S. 153. 699 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 129 m. w. N. 700 Hieran ist insbesondere zu denken, wenn von dem Täter eine gesamte Einkunftsquelle verschwiegen wird, deren Aufdeckung unweigerlich nicht nur die Erträge, sondern auch die entsprechenden Aufwendungen zu Tage fördert. 701 Zu Recht Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, AO, § 370 Rn. 74; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 150; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 186 u. 63. 702 Siehe: 3. Folgen für die Tatbestandsauslegung (S. 187). 697

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in­sofern kein Zweifel daran bestehen, dass das Kompensationsverbot eine Modifizierung des Taterfolges vornimmt und letztendlich dafür sorgt, dass nicht in jedem Fall eine Verletzung des Steueraufkommens durch die Tathandlung zu verzeichnen ist. Das Rechtsgut wird also nicht zwangsläufig verletzt, sondern häufig nur auf eine bestimmte Weise gefährdet. Demgegenüber soll nach Hellmann die Existenz des Kompensationsverbotes nichts an der Einordnung als Verletzungsdelikt ändern. Immerhin könne das Steuer­aufkommen selbst dann verringert sein, wenn die festgesetzte Steuer betragsmäßig dem materiellen Steueranspruch entspreche oder diesen sogar übersteige.703 Eine stichhaltige Erklärung bleibt er in seiner Kommentierung hingegen schuldig. Die Verletzung des Rechtsgutes will er insofern schon aus den Grund­ sätzen über das Besteuerungsverfahren herleiten. Der Steuerbescheid ergehe in der Regel alleine anhand der Erklärung des Steuerpflichtigen. Ihr komme daher eine immense Bedeutung bei der Steuerfestsetzung zu. Dies bringe § 370 Abs. 4 S. 3 AO zum Ausdruck, wonach für die Feststellung des Verkürzungsbetrages allein die Erklärung des Steuerpflichtigen maßgeblich und andere Gründe nicht zu berücksichtigen seien. Es könne schließlich zu der steuerrechtlichen Situation kommen, dass die Finanzbehörde gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO die steuermindernden Gesichtspunkte, die nicht mit der Steuerverkürzung in unmittelbaren Zusammenhang stünden, auch nach der Festsetzung berücksichtigen müsse und dadurch ein Steuererstattungsanspruch entstehe.704 Diese Ausführungen verdienen für sich genommen uneingeschränkte Zustimmung. Die von Hellmann hergeleitete Folgerung, die spätere Möglichkeit zur Berücksichtigung der nicht vorgetragenen Minderungsgründe verletze das Rechtsgut und gefährde es nicht nur, muss hingegen zurückgewiesen werden. Für die Differenzierung zwischen Verletzung und Gefährdung eines Rechtsgutes kann es nur auf die im Tatbestand vorausgesetzte Handlung ankommen. Demgemäß unterscheiden sich Verletzungs- und konkrete Gefährdungsdelikte einerseits und abstrakte Gefährdungsdelikte andererseits danach, ob die konkrete Tathandlung das Rechtsgut tatsächlich tangiert oder ob es zur Tatbestandsverwirklichung lediglich genügt, dass diese Tathandlung schlichtweg vollzogen wird, weil hiermit typischerweise eine Rechtsgutsverletzung einherzugehen pflegt.705 Führt nun die Tathandlung der Steuerhinterziehung dennoch nicht zu einer Steuerfestsetzung, die unterhalb des gesetzlich entstandenen Steuer­ anspruchs liegt, so besteht allenfalls die Gefahr für das Steueraufkommen, dass die Finanzbehörde zu einem späteren Zeitpunkt die tatsächlich vorliegenden Minderungsgründe aufspürt und eventuell sogar von Amts wegen berücksichtigt. Erst in diesem letzten Schritt, der jedoch für die Tatbestandsmäßigkeit des § 370 AO gerade nicht von Bedeutung ist, wird das Steueraufkommen konkret verletzt. 703

Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 62 f. Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 63. 705 Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S.  108; Rotsch, „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, S.  440 ff.; ausführlich unter: 2. Abstrakte oder konkrete Gefahr? (S. 177). 704

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2. Abstrakte oder konkrete Gefahr? a) Herleitung Die Steuerhinterziehung kann somit nur ein Gefährdungsdelikt sein. Eine andere Frage ist es dann aber, ob es sich um eine abstrakte oder konkrete Gefährdung handelt, der sich das Rechtsgut Steueraufkommen ausgesetzt sieht. Die Antwort wird nicht überraschen, weil die wesentlichen Aspekte auch in dieser Sache bereits vorgetragen wurden und nur noch einer Präzisierung bedürfen. Die Steuerhinterziehung ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt,706 weil die Herbeiführung eines Vermögensschadens einschließlich einer ihm gleichgestellten konkreten Vermögensgefährdung707 gerade keine tatbestandliche Voraussetzung darstellt und daher nicht mit jeder Tatbestandsverwirklichung eine konkrete Rechtsgutsgefährdung einhergehen muss.708 706

So i.E. auch Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 11; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 15, 45 a. E.: „Das von der Vorschrift erfasste Maß der Vermögensgefährdung reicht daher von der schadensgleichen Gefährdung bis zum Fehlen einer konkreten Gefahr“, missverständlich dann aber Rn. 104 (Steuervorteil als konkrete Gefahr für das Steueraufkommen); Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 59; Wulf, Handeln und Unterlassen im Steuerstrafrecht, S. 150 f.; Samson, 50 Jahre Bundesgerichtshof, S. 675 ff.; Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 11a ff., will nur den Taterfolg der Steuerverkürzung als Gefährdungsdelikt sehen, wohingegen die Vorteilserlangung als Verletzungsdelikt ausgestaltet sein soll. Ähnlich wohl auch Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 104. Diesem Ansatz ist allerdings bereits entgegenzuhalten, dass auch für die Erlangung eines ungerechtfertigten Steuervorteils das Kompensationsverbot Anwendung findet und es somit auch Fälle geben kann, in denen das Steueraufkommen tatsächlich nicht geschädigt wird (siehe bereits S. 175) und die nun folgenden Ausführungen). Demgegenüber vertritt die obergerichtliche Rechtsprechung keine klare Linie. In der Entscheidung zur Steuerhinterziehung bei Feststellungsbescheiden (BGHSt 53, S. 99) geht der BGH scheinbar von einem konkreten Gefährdungsdelikt aus. Siehe hierzu die weiteren Ausführungen (insbesondere die Fn. 720 und 723). Nunmehr hat der BGH (wistra 2013, S. 199 ff. [200 f.]) ebenfalls zu Fällen erschlichener Feststellungsbescheide die Steuerhinterziehung als „Gefährdungsdelikt“ eingeordnet, ohne zwar eine Einordnung der Gefährdungsstufe zu treffen, allerdings mit deutlichen Tendenzen – denn er spricht mit keinem einzigen Wort von einer konkreten Schadensnähe – zugunsten einer (bloß) abstrakten Gefährdung. Ferner leitet der BGH in dieser Entscheidung die von ihm angenommene „Gefährdung“ des Steueraufkommens ausdrücklich damit her, dass eine Steuerverkürzung auch dann vorliege, wenn der Täter über keine finanziellen Mittel zur Begleichung seines Steueranspruchs verfüge. Auch dies lässt deutlich auf eine abstrakte Gefährdung schließen (zur Begründung siehe die weiteren Ausführungen [S. 191]). Anders will Wittig, HHRS 2013, S. 393 ff., diese Entscheidung des BGH verstanden wissen. Sie entnimmt ihr – allerdings ohne nähere Begründung – eine „hinreichend konkrete“ Gefährdung des Steueraufkommens. 707 Allg. zu dieser Rechtsfigur BVerfGE  126, S.  170 ff.; BVerfG, NStZ 2012, S.  496 ff. [503 ff.], jeweils .m. w. N. 708 Allg.M. u. a. bei Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S. 107 ff. [108 f.]: „Abstrakte Gefährdungsdelikte sind solche Delikte, die keine Verletzungsoder konkreten Gefährdungsdelikte im materiellen Sinne sind, d. h. solche, bei denen die Verletzung oder konkrete Gefährdung des geschützten Rechtsguts = Rechtsgutsobjektes kein (objektives) Tatbestandsmerkmal ist, bei denen es also zur Erfüllung des objektiven Tatbestandes auf eine Verletzung oder konkrete Gefährdung des geschützten Rechtsgutes  =  Rechtsguts­ objektes nicht ankommt.“ Ähnlich auch Wolters, in: SK-StGB, Vor § 306 Rn. 15.

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Im Allgemeinen kann es durch zwei tatbestandsspezifische Ausgestaltungen dazu kommen, dass das Rechtsgut nicht konkret gefährdet oder verletzt werden muss. Entweder das im Tatbestand enthaltene Handlungsobjekt stimmt mit dem Rechtsgut nicht einmal inhaltlich überein, so dass eine Gefährdung oder Verletzung des einen nicht zwingend mit einer Gefährdung oder Verletzung des anderen zusammenfallen muss.709 Oder der Tatbestand des Deliktes ist selbst bei vorhandener Identität von Handlungsobjekt und Rechtsgut derart ausgestaltet, dass es trotz vorliegender Tatbestandsmäßigkeit nicht in jedem Fall zu einer Rechtsgutsbeeinträchtigung kommt. Im Fall der Steuerhinterziehung, bei der das Handlungsobjekt der Steuerverkürzung (Steueranspruch) inhaltlich mit dem Rechtsgut übereinstimmt und das Handlungsobjekt der Vorteilserlangung (Steueraufkommen) sogar mit dem Rechtsgut identisch ist, trifft Letzteres zu. Wie bereits zuvor gezeigt, setzt der tatbestandliche Erfolg insbesondere durch das Kompensationsverbot nicht stets eine tatsächliche Verletzung des Handlungsobjekts und damit zugleich eine solche des Rechtsguts voraus.710 In diesen Fällen genügt die Schaffung einer gemessen am Steuerbetrag an sich sogar rechtmäßigen, aber auf falscher Tatsachengrundlage fußenden Steuerrechtslage, weil sie erfahrungsgemäß die Gefahr in sich birgt, zu einem späteren Zeitpunkt eine unrechtmäßige und somit eine das Steuer­ aufkommen schädigende Rechtslage herbeizuführen. Da es für die Tatbestandsverwirklichung hierbei vollkommen unbeachtlich ist, dass sich diese Gefahr auch im konkreten Einzelfall zu einem „Beinahe-Schaden“711 verdichtet hat, und dies ebenso wenig bei jeder Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolges denknotwendig anzunehmen ist,712 stellt sich die Gefahr für das geschützte Steueraufkommen 709 Diese Ausgestaltung wurde bereits am Tatbestand des § 306a Abs. 1 StGB (siehe Fn. 671) nachgewiesen. 710 Zu dieser Konsequenz u. a. Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung und Steuerverkürzung im Festzsetzungsverfahren, S. 141 ff. 711 Die konkrete Gefahr setzt nach heute überwiegender Ansicht voraus, dass das Handlungsobjekt derart in den Wirkungsbereich der Handlung geraten sein müsse, so dass es nur noch vom Zufall abhänge, ob das Rechtsgut verletzt werde oder nicht; siehe nur Sternberg-Lieben/ Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB, § 315 Rn. 14. Anders noch RGSt 10, S. 173 [175 f.]; 61, 362 [363 f.]; BGHSt 8, S. 28 [31]; 13, S. 66 [70]; und auch Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. I, S. 368 ff. [383 ff.]. Vgl. zur Entwicklung des Gefahrbegriffs Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, S. 36 ff.; Küper, Strafrecht BT, S. 151 ff. 712 Insofern sei nur angemerkt, dass sich ein konkretes Gefährdungsdelikt nicht schon aus dem Umstand ergibt, dass der Tatbestand selbst eine konkrete Gefährdung vorsieht. Dieser „Gefahrerfolg“ kann sich nämlich, wie bei einer „Verletzung“ der in § 306a Abs. 1 StGB genannten „Gebäuden, Hütten etc.“, auch allein auf die tatbestandlichen Handlungsobjekte beziehen. Zum Verletzungsdelikt wird dieser Tatbestand, wie dies bereits in Fn. 671 aufgezeigt wurde, dadurch nicht. Entscheidend kann daher ganz allgemein nur sein, ob das Rechtsgut durch die Tatbestandsverwirklichung im Einzelfall konkret gefährdet wurde, etwa weil das konkret gefährdete Handlungsobjekt mit dem Rechtsgut identisch ist oder weil mit der Tatbestandsverwirklichung in sonstiger Weise eine konkrete Rechtsgutsgefährdung zwingend einhergehen muss. Daher zutreffend Rotsch, „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, S.  440 ff. [441]: „Darüber hinaus verlangt § 315c StGB aber, dass durch das Führen des Fahrzeugs Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet worden sind. Das Erfordernis einer konkreten Gefahr macht den zunächst als Tätigkeitsdelikt

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unweigerlich als eine bloß „abstrakte“ dar.713 Der Tatbestand der Steuerhinterziehung setzt also in keiner Weise voraus, dass die schädigende Berücksichtigung der verschwiegenen Minderungsgründe im konkreten Fall droht oder mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit einzutreten pflegt. Ist der Tatbestand des § 370 Abs. 1 AO im Umkehrschluss sogar dann unstreitig erfüllt, wenn eine nachträgliche Berücksichtigung zwar nicht gänzlich ausgeschlossen, aber dennoch mehr als unwahrscheinlich ist, dann kann es sich nicht mehr um eine konkrete Gefährdung handeln. Die auf den ersten Blick naheliegende Schlussfolgerung, der jeweilige Taterfolg der Steuerhinterziehung beschreibe zwar keine Verletzung, aber doch zumindest einen konkreten Gefahrerfolg,714 lässt sich also insgesamt nicht ziehen. Aus diesem Grund führt auch die einem Vermögensschaden gleichzusetzende und damit sogar zu einem Verletzungsdelikt führende konkrete Vermögensgefährdung – wie es im Fall des Betrugs anerkannt ist – bei der Deliktseinordnung der Steuerhinterziehung nicht weiter.715 Zu der Erkenntnis, dass die Steuerhinterziehung als abstraktes Gefährdungsdelikt zu qualifizieren ist, gelangt man nicht nur über das vorbenannte Kompensationsverbot. Unabhängig vom Streit um den Verletzungsbegriff sind zumindest zwei weitere Fallgestaltungen anerkannt, in denen das Steueraufkommen durch die verwirklichte Tathandlung nicht geschädigt wird.716 Dies gilt zum einen bei Steuerverkürzungen (im Festsetzungsverfahren) durch vermögenslose Täter. im herrschenden Sinne konzipierten Tatbestand zum konkreten Gefährdungsdelikt. Schon hier lässt sich erkennen, das Erfolg und Gefährdung auseinanderfallen. Denn der tatbestandsmäßige Erfolg tritt am Handlungsobjekt (Mensch), die Gefährdung aber am Rechtsgut (Leben und körperliche Unversehrtheit) ein. Diese Erkenntnis wird bei den konkreten Gefährdungsdelikten nur dadurch verschleiert, dass hier gleichsam eine doppelte Gefährdung eintritt. So ist der tatbestandsmäßige Erfolg hier in der Tat ein „Gefahrerfolg“; dieser ist aber nicht identisch mit demjenigen Gefahrerfolg, der das Delikt nach herrschender Ansicht zu einem Gefährdungsdelikt macht.“ Schon vor ihm insbesondere Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S. 107 ff. 713 Was es mit dieser „abstrakten Gefahr“ wirklich auf sich hat, spielt für ihre Herleitung ersteinmal keine besondere Rolle. Das genaue Beziehungsgeflecht zwischen (abstrakter) Gefahr, Handlung und Rechtsgut kommt vorwiegend dann zum Tragen, wenn es um die Tatbestandsauslegung abstrakter Gefährdungsdelikte geht. Siehe dazu: 3. Folgen für die Tatbestandsaus­ legung (S. 187). 714 So aber i.E. Schindhelm, Das Kompensationsverbot im Delikt der Steuerhinterziehung, S. 245 ff. [270 ff.]. 715 A. A. Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 62 f. Natürlich soll hierdurch nicht der Schluss gezogen werden, der tatbestandsmäßigen Steuerhinterziehung liege häufig keine konkrete Gefährdung des Steueraufkommens zugrunde. Ganz im Gegenteil. Dazu später unter: b)  Unberechtigte Systemkritik (S.  182) Für die hier gestellte Frage, ob es sich bei der Steuerhinterziehung um ein abstraktes oder konkretes Gefährdungsdelikt handelt, kann­ allerdings nur entscheidend sein, dass unproblematisch auch Fälle vom Tatbestand erfasst werden, die mit keiner konkreten Rechtsgutsgefährdung einhergehen. Dies übersieht Flore, in: Flore/Tsambikakis, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 237. 716 Zur dritten (höchst umstrittenen) Fallgestaltung, die bisher von den Strafgerichten noch nicht entschieden und von der Literatur einheitlich abgelehnt wurde, siehe: cc) Exkurs: Steuerhinterziehung trotz geleisteter Steueranrechnungsbeträge? (S. 217).

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Nach herrschender Meinung spielt es nämlich keine Rolle, dass der festzusetzende Steueranspruch aufgrund einer eingetretenen Insolvenz des Steuerpflichtigen nicht einbringlich ist.717 Das Steueraufkommen wird hierbei nur vor der vagen Gefahr geschützt, dass der schon verloren geglaubte Steueranspruch gegen den Steuerpflichtigen noch werthaltig wird, allerdings durch die unrichtigen Angaben dann nicht eingetrieben werden kann.718 Zum anderen kann auf die von der obergerichtlichen Rechtsprechung angenommene Steuerhinterziehung durch die Erlangung ungerechtfertigter Feststellungsbescheide719 verwiesen werden.720 Indem der Bundesgerichtshof in diesen Fällen von einer strafbaren Vorteilserlangung ausgeht, soll damit der nicht von der Hand zu weisenden Gefahr entgegenwirkt werden, dass der unrichtige, aber dennoch bindende Grundlagenbescheid später bei der eigentlichen Steuerfestsetzung berücksichtigt wird. Diese beiden Konstellationen belegen ebenfalls die Abstraktheit der aufgezeigten Gefahr. Die Tatbestandsmäßigkeit der Steuer­hinterziehung wird zu keiner Zeit davon abhängig gemacht, dass der Steuer­anspruch des vermögenslosen Steuerpflichtigen eventuell doch noch im Einzelfall werthaltig wird oder der Steuerpflichtige wirklich den Plan hegt, die unrich 717 U. a. BGH v. 16.1.1962 – 1 StR 480/61, zitiert bei Herlan, GA 1963, S. 97; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 144; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 57; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 79; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuer­ strafrecht, § 370 Rn. 41. Kritisch Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung und Steuerverkürzung im Festsetzungsverfahren, S. 129 ff.; Samson, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, S. 675 ff. 718 Ähnl. Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO Rn. 144; Suhr, Rechtsgut der Steuer­ hinterziehung und Steuerverkürzung im Festsetzungsverfahren, S. 129 ff. [136]. 719 Bei den sog. Feststellungs- bzw. Grundlagenbescheiden gemäß § 179 ff. AO wird von dem Regelfall abgewichen, dass die Besteuerungsgrundlagen lediglich in dem Tenor des Steuerbescheides „aufgehen“ und daher nur seiner Begründung dienen. Hiernach können Besteuerungsgrundlagen  – z. B. der Gewinn einer Personengesellschaft bzw. den auf einen Gesellschafter entfallenen Teil – ausnahmsweise in einem gesonderten Bescheid bindend festgestellt werden. Es ergeht somit ein der eigentlichen Steuerfestsetzung vorgeschalteter (Gewinn-)Feststellungsbescheid gemäß § 171 Abs.  10 AO als sog.  Grundlagenbescheid, der gesondert angreifbar ist. Soweit diese festgestellten Besteuerungsgrundlagen nun für die weitere Festsetzung  – z. B. in der endgültigen ESt-Veranlagung  – verwendet werden, ergeht daraufhin der sog. Folgebescheid. Entscheidend dabei ist, dass die Finanzbehörde im Rahmen der Festsetzung des Folgebescheides keine eigenständige Prüfungskompetenz besitzt, sondern vielmehr den Grundlagenbescheid mitsamt seinem Inhalt gemäß § 182 Abs. 1 S. 1 AO als bindend ansieht. 720 BGHSt 53, S. 99; bestätigt in NZWiSt 2012, S. 75 ff. (vermutlich die Feststellung eines votragsfähigen Verlustes gemäß § 10a S. 6 GewStG; Anm. Rolletschke, NZwiSt 2012, S, 80); wistra 2013, S. 199 ff. (dort zur Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheisgrundsatz gemäß Art. 103 Abs. 2 GG unter Berücksichtigung der jüngeren Rspr. des BVerfG [Verschleifungsverbot und schadensgleiche Vermögensgefährdung: BVerfGE  126, 170; NJW 2012, S.  907 ff.; StraFo 2012, S. 496 ff.]). Demzufolge soll die Herbeiführung unrichiger Feststellungsbescheide zwar keine Steuerverkürzung, aber eine Erlangung ungerechtfertigter Steuervorteile darstellen können. Gerade aus der Bindungswirkung des Feststellungsbescheides ergebe sich der Vorteil spezifisch steuerlicher Art im Sinne des § 370 Abs. 1 AO. Im Übrigen sei es für die Annahme der Vorteilserlangung ohne Belang, dass die Umsetzung des Grundlagenbescheides in ein Einkommensteuerbescheid noch nicht stattgefunden habe. Die für den Tatbestand der Steuerhinter­ ziehung erforderliche „konkrete Gefährdung“ (BGHSt 53, S. 99 [106 f.]) des Steueranspruchs erwachse schließlich schon aus der Bindungswirkung des Bescheides.

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tige Feststellung im Rahmen der später ggfs. zu betreibenden Steuerfestsetzung einzusetzen oder (in den Fällen einer behördeninternen Weiterleitung des Feststellungsbescheides von Amts wegen) aufrecht zu halten. Es macht sich daher prinzipiell sogar derjenige der Steuerhinterziehung schuldig, der zu Lebzeiten kein relevantes Vermögen mehr erwerben wird, oder der den unrichtigen Feststellungsbescheid nur aus privaten Gründen veranlasst hat, aber ganz sicher keine unrichtige nachträgliche Steuerfestsetzung beabsichtigt.721 Ist der Tatbestand blind für die aufgezeigten Einzelfälle, dann kann es sich letztendlich nur um ein abstraktes Gefährdungsdelikt handeln.722 Mit dem objektiven Tatbestand der Steuerhinterziehung geht daher weder der Eintritt eines Vermögensschadens noch einer konkreten Vermögensgefährdung einher.723 Eine weitergehende Frage ist es demgegenüber, ob die Strafbarkeit aus einem abstrakten Gefährdungsdelikt auch in Fällen angebracht erscheint, in denen man unbestreitbar davon ausgehen muss, dass das Rechtsgut niemals konkret gefährdet wird; sich die in Rede stehende Handlung also in Bezug auf das Rechtsgut als eine 721

Ob die Annahme einer Strafbarkeit insbesondere in den letztgenannten Fällen unbedingt notwendig erscheint, braucht an dieser Stelle nicht näher nachgegangen werden; kritisch dazu insbesondere Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 95 ff.; Weidemann, wistra 2009, S. 354; Rübenstahl, HRRS 2009, S.  93 ff.; Claus, HRRS 2009, S.  102 ff.; Blesinger, wistra 2009, S. 294 ff.; Hellmann, Festschrift für Achenbach, S. 141 ff. [148 ff.]. Entscheidend ist insofern nur, dass aus den einzelnen Fallkonstellationen ein allgemeines Prinzip für die Steuerhinterziehung abgeleitet werden kann. 722 Ähnlich auch zur Vermögenslosigkeit des Steuerschuldners auch Schmitz/Wulf, in: MüKoAO, § 370 Rn. 79: „Da es im Festsetzungverfahren allein um die ordnungsgemäße Steuerfestsetzung geht, ist es nach hM auch unerheblich, ob der Steuerschuldner solvent oder insolvent ist: Selbst dann, wenn feststeht, dass bei ordnungsgemäßer Festsetzung die Steuerzahlung ohnehin ausgefallen wäre, ist eine Steuerverkürzung i. S. d. Abs. 4 S. 1 möglich. […] Konsequent ist die Annahme allerdings nur, wenn man § 370 als abstraktes Gefährdungsdelikt akzeptiert.“ 723 Soweit der 1. Senat des BGH, in BGHSt 53, S. 99, demgegenüber von einer „konkreten Gefährdung des Steueranspruchs“ und damit letztlich von einem konkreten Gefährdungsdelikt ausgeht, wird er seinem eigenen Auslegungstopos nicht gerecht. Demnach kann es doch gerade nicht genügen, dass ein unrichtiger Feststellungsbescheid vom Täter erwirkt wurde (so aber der BGH, a. a. O., S. 106 f.). Vielmehr müsste darüber hinaus noch die greifbare Gefahr einer späteren unrichtigen Festsetzung im konkreten Einzelfall bestanden haben. Selbst wenn dies im zu entscheidenden Fall bereits deshalb gegeben war, weil es auch tatsächlich zu einer späteren unrichtigen Steuerfestsetzung gekommen ist, hätte dies dennoch begründet werden müssen. Spätestens in der nachfolgenden (bestätigenden) Entscheidung des BGH, NZWiSt 2011, S. 75 ff., wäre eine diesbezügliche Begründung, da den Feststellungen des angefochtenen Urteils der Inhalt der Steuererklärung und des Steuerbescheides im Festsetzungsverfahren gerade fehlte, notwendig gewesen. Ferner handelte es sich (wohl) um die Erlangung eines unrichtigen Verlustfeststellungsbescheides gemäß § 10a S. 6 GewStG, der überhaupt nur dann eine konkrete Gefahr für den Steueranspruch darstellen kann, wenn in den Folgejahren auch ein Gewinn zu erwarten ist, der durch die festgestellten Verluste vermindert werden soll (so zu Recht Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 168a). Der BGH spricht daher von einer „konkreten Gefährdung“, meint aber letztlich (inhaltlich) eine abstrakte! Ähnl. auch Rübenstahl, HRRS 2009, S. 93 ff. [96]. Dies wird nun auch durch die neuere Entscheidung des BGH, wistra 2013, S.  199 ff., bestätigt. Dies übersieht Wittig, HRRS 2013, S.  393 ff.; siehe hierzu bereits Fn. 706.

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rein Ungefährliche darstellt. Hierbei geht es aber um Folgewirkungen, die mit der Deliktskategorie der abstrakten Gefährdungsdelikte verbunden sind. Sie sollen erst nach einer systemkritischen Gesamtschau erörtert werden.724 b) Unberechtigte Systemkritik Eine andere Frage ist es, ob die Steuerhinterziehung bei der hier angenommenen Ausgestaltung als abstraktes Gefährdungsdelikt nicht vermehrt ein menschliches Verhalten bestraft, das bei (system-)kritischer Beobachtung eigentlich nicht bestraft gehört. Zwar interessiert in dieser Arbeit fast ausschließlich die Auslegung des geltenden Rechts, es bedeutet jedoch nicht, dass Strafrechtsdogmatik und Systemkritik zwei sich niemals schneidende Kreise bilden. Vielmehr kann eine kritische Betrachtung geeignet sein, dogmatische Gedankengänge auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen. Es bleibt insofern bei der berechtigten Frage: Schießt die Steuer­hinterziehung damit vielleicht über ihr anvisiertes Ziel „Schutz des Steueraufkommens“ hinaus? Mitnichten! Sieht man den Strafgrund der abstrakten Gefährdungsdelikte in der generellen Gefährlichkeit einer Handlung für das durch die Strafnorm geschützte Rechtsgut,725 so wird man dem Gesetzgeber der Steuerhinterziehung zugestehen müssen, dass er mit der tatbestandsmäßigen Handlung ein Verhalten erfasst, das erfahrungsgemäß eine Verletzung des Steueraufkommens nach sich zieht. Den Tathandlungen des § 370 AO wohnt daher die potentielle Gefahr inne, das Steueraufkommen des Fiskus tatsächlich zu schädigen. Natürlich kann dieser Umstand für sich genommen nur ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für eine solche Vorverlagerung der Strafbarkeit sein; ließen sich doch jegliche Verletzungsdelikte ohne Weiteres als abstrakte Gefährdungsdelikte ausgestalten. Dennoch wird man letztlich zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass der Gesetzgeber gut daran tat, die Steuerhinterziehung von einer Erklärung des Steuerpflichtigen oder Dritten und der daraufhin ergehenden finanzbehördlichen Entscheidung abhängig zu machen und § 370 AO somit als Gefährdungsdelikt auszugestalten. Weder für die Tathandlung noch für den Erfolg der Steuerverkürzung wäre es von Vorteil gewesen, auf eine zu geringe oder ganz unterbliebene Zahlung der Steuer durch den Steuerpflichtigen abzustellen. Versteht man die Steuerhinterziehung als ein dem Betrug verwandtes Delikt, so kann nur eine falsche oder pflichtwidrig unterlassene Erklärung über Tatsachen gegenüber der Finanzbehörde die maßgebliche Tathandlung darstellen. Eine hinter der eigentlichen Steuerforderung zurückbleibenden Zahlung stellt schon deswegen keine taugliche Tathandlung dar, 724

Siehe: 3. Folgen für die Tatbestandsauslegung (S. 187). So die Theorie von der generellen Gefährlichkeit, siehe u. a. BGHSt  26, S.  212 [123]; Heine, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorbem. §§ 306 ff. Rn. 3; Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S. 144 ff.; Roxin, Strafrecht AT/I, § 11 Rn. 153 ff.; Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, S. 22 ff., jeweils m. w. N.

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weil ihr kein – nicht einmal ein konkludenter – Erklärungswert beigemessen werden kann. Es würde daher folgerichtig schon an einem täuschungsrelevanten Verhalten fehlen.726 Daneben besteht kein zwingendes Bedürfnis, den Eintritt des Verkürzungserfolges von einer zu geringen oder unterbliebenen Zahlung des Steuerpflichtigen abhängig zu machen. Steuerverfahrensrechtlich münden die Erklärungen der Steuerpflichtigen als auch diejenigen Dritter im Erlass des Steuerbescheides. Dieser konkretisiert den gesetzlich entstandenen Steueranspruch und bildet die entscheidende Grundlage für seine weitere Realisierung. Da die täuschungsrelevante Handlung der Steuerhinterziehung bereits diesen steuerverfahrensrechtlichen Vorgang unmittelbar beeinflusst und dadurch die tatsächliche Steuerforderung wirtschaftlich geringwertiger erscheinen lässt, hat sich der Gesetzgeber für eine durchaus legitime Erfolgskonstruktion entschieden. Dass man hierbei auf das weitere Erfordernis einer zu geringen Steuerzahlung getrost verzichten konnte, liegt auf der Hand. Wird nun die Steuer aufgrund einer vorsätzlich falschen oder pflichtwidrig unterlassenen Erklärung eines Steuerpflichtigen oder Dritten nicht, nicht in voller Höhe oder nicht rechtzeitig festgesetzt, so erfolgt dann konsequenterweise auch vom Täter keine rechtzeitige Zahlung in eigentlich zutreffender Höhe. Mit der unrichtigen Steuerfestsetzung geht damit in aller Regel auch eine unzutreffende Zahlung einher, so dass das Steueraufkommen letztendlich auch in concreto geschmälert wird.727 Die gleichen Überlegungen können für die Erfolgsalternative der Vorteilserlangung angestellt werden. Schließlich soll es nicht auf die faktische Verfügung – bsplw. (Aus-)Zahlung –, sondern gemäß § 370 Abs. 4 S. 2 – 2. Hs. AO schon auf die verfahrensrechtliche Gewährung des steuerlichen Vorteils – Bekanntgabe des Verwaltungsaktes – durch die Finanzbehörde ankommen. Der Täuschung des Täters folgt die steuerverfahrensrechtliche Verfügung, die ähnlich der Steuerfestsetzung als Grundlage für die spätere Auszahlung dient, auf dem Fuße, so dass das Steueraufkommen durch die Titulierung regelmäßig bereits wirtschaftlich geschmälert wird. An eine das Steueraufkommen tatsächlich verletzende Zahlung durch die Finanzbehörde musste der Tatbestand der Steuerhinterziehung daher nicht notwendig anknüpfen. Üblicherweise wird die steuerliche Verfügung mit einer faktischen Gewährung von Amts wegen durch die Finanzbehörde einhergehen, so dass meist – aber eben nicht notwendigerweise – der Steuerschaden folgt. Die verfahrensrechtliche Situation erinnert daher in beiden Erfolgsalternativen zu Recht an die beim Betrug anerkannten 726 BGH, NStZ-RR 1997, S.  277 f.  =  BGHR AO § 370 Steuerverkürzung 6; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 65, 139. Zur damaligen Rechtslage nach der RAO in Bezug auf Fälligkeitssteuern siehe bereits Fn. 610. 727 Schwierig sind in diesem Zusammenhang Fallkonstellationen zu beurteilen, in denen der Steuerpflichtige bzw. ein Dritter (sog. Steuerentrichtungspflichtiger) ordnungsgemäß Vorauszahlungen geleistet hat, die entsprechenden Einkünfte dann aber in der Jahressteuererklärung nicht angegeben werden. Siehe dazu: cc) Exkurs: Steuerhinterziehung trotz geleisteter Steuer­ anrechnungsbeträge? (S. 217).

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Fallgruppe der „schadensgleichen Vermögensgefährdung“, die für eine Vielzahl der tatsächlich begangenen Steuerhinterziehungen sicherlich einschlägig sein wird.728 Letztlich spricht dagegen auch nicht das mehrfach erwähnte Kompensations­ verbot, mag es auch prinzipiell geeignet sein, ein Verhalten zu bestrafen, das nicht zu einer Schädigung des Steueraufkommens führt. Dies lässt sich für den Fall einer tatsächlich abgegebenen Erklärung (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) schon aus praktischen Erwägungen folgern. Der durch die Steuerverkürzung ermittelte Steueranspruch wird sich nämlich, trotz eingreifendem Kompensationsverbot, häufig mit dem tatsächlichen Steueranspruch decken oder zumindest einen für den Steuerpflichtigen nachteiligen Differenzbetrag ausweisen. Denn es wird sicherlich nicht häufig vorkommen, dass ein Steuerpflichtiger wissentlich eine unrichtige Steuererklärung abgibt, um dadurch seinen gegen ihn gerichteten Steueranspruch zu schmälern und dabei gleichzeitig andere steuermindernde Gründe in gleicher oder größerer Höhe nicht angibt (genauer: wohl vergisst). Zur Herbeiführung des vom Täter erstrebten Ergebnisses hätte es also nicht einmal einer Straftat bedurft. Dies gilt jedenfalls für sämtliche Steuerarten mit Ausnahme der sogleich noch anzuspre­ chenden und in diesem Zusammenhang besonders problematischen Umsatzsteuer. Im Übrigen wird man jedoch bei lebensnaher Betrachtung davon ausgehen können, dass ein Steuerpflichtiger, bevor er den Weg in die Steuerhinterziehung wählt, genau abwägt, ob sich eine von ihm eingegangene Strafbarkeit auch „finanziell“ lohnt. Dafür ist es allerdings unerlässlich, dass er die steuerliche Ausgangssituation erfasst und vor allem ernsthaft alle größeren Minderungsgründe in Betracht zieht, die eventuell sogar geeignet sind, einen Erstattungsanspruch auszulösen. Das aufgezeigte Szenario, das Anlass zur Kritik am Kompensationsverbot geben könnte, spiegelt demnach nicht die Wirklichkeit wider. Die tagtäglichen Fälle des Kompensationsverbotes sind daher andere: Der Beschuldigte einer Steuerhinterziehung versucht sich viel eher mit allen Mitteln zu verteidigen, wobei er hierbei nach entfernteren Minderungsgründen Ausschau hält, die er bei Tatbegehung gar nicht im Blick hatte. Dass diese dann wider Erwarten die eigentlich hinterzogenen Steuern – wohl auch zum Erstaunen des Steuerpflichtigen – übertreffen, wird ganz sicher nicht die Regel sein.729 Diese Überlegungen gelten in gleicher Weise für die Fälle der Vorteilserschleichung. Es wird nicht häufig vorkommen, dass dem Steuer­pflichtigen ein rechtmäßiger Anspruch auf eine Leistung zusteht, er diesen Sachverhalt dann aber gegenüber der Finanzbehörde verschweigt und stattdessen eine ungerechtfertigte Leistung in minderer Höhe beansprucht. Schwieriger im Hinblick auf das Kompensationsverbot sind die Fälle pflichtwidrig unterlassener Erklärungen zu beurteilen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO). Beson 728 Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 58; Blesinger, wistra 2009, S. 294 ff. [295]; ähnlich auch Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 45 a. E.: „Das von der Vorschrift erfasste Maß der Vermögensgefährdung reicht daher von der schadensgleichen Vermögensgefährdung bis zum Fehlen einer konkreten Gefahr.“ 729 In diesen Fällen wäre auch ohne Kompensationsverbot eine Strafbarkeit wegen versuchter Steuerhinterziehung gemäß §§ 370 Abs. 2, 369 Abs. 2 AO i. V. m. §§ 22, 23 StGB gegeben.

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ders im Umsatzsteuerrecht ist durch den gewährten Vorsteueranspruch gemäß § 15 UStG die  – auch in der Praxis  – nicht unwahrscheinliche Gefahr gegeben, dass der Umsatzsteueranspruch tatsächlich eine negative Zahllast (sog. Umsatzsteuervergütungsanspruch)730 zugunsten des steuerpflichtigen Unternehmers aufweist, der dann aber ggfs. durch § 370 Abs.  4 S.  3 AO nicht zu berücksichtigen wäre. Ganz konkret liegen hier Fälle zugrunde, in denen der Steuerpflichtige anfänglich keine Umsatzsteuervoranmeldungen abgegeben hat und daraufhin von der Finanz­behörde geschätzt wurde. Im späteren Strafverfahren ist der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht dann doch noch nachgekommen und hat aufgrund umfangreicher Vorsteuern im Ergebnis sogar einen Zahlungsanspruch zu seinen Gunsten geltend gemacht.731 Entscheidend ist nun, ob man die nachträglich angegebenen Vorsteuern als Minderungsgründe entgegen § 370 Abs. 4 S. 3 AO überhaupt berücksichtigen darf. Fraglich ist dies aus zwei Blickwinkeln: Zum einen ist schon zweifelhaft, ob das Kompensationsverbot überhaupt eingreift, wenn der Hinterziehungsvorwurf in einer unterlassenen Erklärung besteht. Schließlich setze – so Teile der Literatur – § 370 Abs. 4 S. 3 AO schon durch seine Wortwahl „aus anderen Gründen“ voraus, dass der Täter zuvor überhaupt eine Erklärung abgegeben habe.732 Zum anderen ist – wenn man § 370 Abs. 4 S. 3 AO auch auf ein Unterlassen anwenden will – ferner umstritten, ob zumindest aus der Eigenart des Umsatzsteuerrechts733 eine Ausnahme vom Kompensationsverbot gemacht werden muss. Denn in Fällen, in denen die nachträglich erklärten Vorsteuern auf Eingangsleistungen entfielen, die in die gar nicht oder zu niedrig erklärten steuerpflichtigen Ausgangsumsätze in demselben Besteuerungszeitraum eingegangen seien, dürfe das Kompensationsverbot nicht eingreifen.734 Die strafrechtliche Rechtsprechung folgt diesen Bedenken nicht, sondern kommt generell zu dem Ergebnis, dass nachgeschobene Vorsteuer- und Umsatzsteueransprüche auf jeweils eigenständigen Vorgängen beruhen und es sich so 730

Leonard, in: Bunjes, UStG, § 18 Rn. 9. BGH, wistra 1990, S. 107 ff.; LG Oldenburg, wistra 1994, S. 176. 732 Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 186; Joecks, in: Franzen/Gast/ Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 71a ff. A. A. Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 518 ff., der auf den aus der gegenteiligen Argumentation folgenden Umstand verweist, dass es zu einer kaum nachvollziehbaren Privilegierung desjenigen Täters kommen würde, der keinerlei Erklärungen abgebe. Ihm werde, falls man das Kompensationsverbot nicht anwenden würde, ein umfangreiches Recht zur Nacherklärung eingeräumt, obwohl er der Finanzbehörde überhaupt kein Tatsachenmaterial unterbreitet habe. Differenzierend Wulf/Schmitz, in: MüKoAO, § 370 Rn. 147 ff., die in diesen Fällen das Kompensationsverbot jedenfalls dann nicht anwenden wollen, wenn weder eine Steuererklärung noch eine Steuerfestsetzung ergangen sei, die als Vergleichsmaßstab für die „anderen Gründe“ diene. 733 Denn der geschuldete Umsatzsteueranspruch wird aus den unselbständigen Größen „Umsatzsteuer“ und „Vorsteuer“ bestimmt, die grundsätzlich in keinem tatsächlichen Zusammenhang stehen, so dass auch der von der Rechtsprechung geforderte „wirtschaftliche Zusammenhang“ zur Ausnahme des Kompensationsverbotes nicht einzugreifen scheint. Siehe ferner die Ausführungen zum Umsatzsteuerrecht auf S. 154. 734 Vgl. Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 529 m. w. N. 731

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mit um „andere Gründe“ im Sinne des § 370 Abs. 4 S. 3 AO handele.735 Dies führt aber, anders als man es bis hierhin vermuten könnte, nicht dazu, dass in den vorbenannten „Erstattungsfällen“ einer Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung „Tür und Tor“ geöffnet würde. Auch die Rechtsprechung hat das Problem erkannt und versucht, es über die subjektive Tatseite zu lösen. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs kann sich der Täter in Anbetracht der tatsächlich durchgeführten Steuerermäßigung über das Bestehen des Steueranspruchs – der nur durch die Regelung des Kompensationsverbotes überhaupt existiert – irren und sich daher in einem Tatbestandsirrtum gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 StGB befinden.736 Ob dieser Standpunkt der Rechtsprechung dogmatisch überzeugt, kann an dieser Stelle unbeantwortet bleiben.737 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang nur, dass klare Bestrebungen auch in der Rechtspraxis ersichtlich sind, Fallgestaltungen ohne konkreten Rechtsgutsbezug dem Tatbestand des § 370 Abs. 1 AO zu entziehen.738 Das Steueraufkommen wird also vielfach tatsächlich verletzt, was zur legitimen Ausgestaltung als abstraktes Gefährdungsdelikt genügt. Ein darüber hinausgehender Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist nicht erforderlich; es muss insofern nicht einmal gesichert sein, dass die genannte Tathandlung in einer überwiegenden Zahl der Einzelfälle zu einer konkreten Gefährdung oder Verletzung des Rechtsgutes führt.739 Denn die Gründe, warum sich der Gesetzgeber für die Schaffung eines abstrakten Gefährdungsdeliktes entscheidet, sind mannigfaltig und können nicht an einem statistischen Maßstab festgemacht werden. Die Relevanz des Rechtsgutes, 735 Siehe die Nachweise der Rspr. in Fn. 731; weitere Nachweise bei Hellmann, in: Hübsch­ mann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 190. In der finanzgerichtlichen Rspr., BFH v. 21.05.2014 – V R 34/13, scheint sich nun ein Wandel abzuzeichnen. Denn dort wurde der „unmittelbare wirtschaftliche Zusammenhang“ zwischen innergemeinschaftlichem Erwerb und dem korrespondierenden Vorsteuerabzug gemäß § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 UStG angenommen. 736 Siehe Fn. 731; zustimmend Meine, wistra 2002, S. 361 ff., wobei er allerdings auch erkennt, dass durch die Berücksichtigung im Tatvorsatzes und – wie es die Rechtsprechung auch vorgibt – in der Strafzumessung kaum ein eigenständiger Anwendungsbereich des Kompensationsverbotes verbleibt. Er schlägt daher vor, § 370 Abs. 3 S. 4 AO ersatzlos zu streichen. 737 A. A. bsplw. Ransiek, in: Kohlmann, § 370 Rn. 673 f., der in diesen Fällen einen Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB für einschlägig hält. Ähnlich Schindhelm, Das Kompensationsverbot im Delikt der Steuerhinterziehung, S. 181 ff. [194]. Siehe zu dem in dieser Arbeit vertretenen Ansatz (objektiv gefährliche Handlung für das Steueraufkommen): b) Konsequenzen für die Steuerhinterziehung (S.  197); und zu dem hier angesprochenen Sonderproblem (Irrtum über das Kompensationsverbot): (4) Die Steueranspruchstheorie und das Kompensationsverbot (S. 216). 738 Insofern konstatiert Meine, wistra 2002, S. 361 ff. [362]: „Bei der langjährigen Beobachtung der Rechtsprechung zur Abgabendordnung und bei der Durchsicht der Literatur nach Hinweisen auf nicht bekannte Rechtsprechung hat der Verfasser keine Entscheidung dokumentiert gefunden, in der ein Täter wegen vollendeter Steuerhinterziehung verurteilt worden wäre, obwohl er einen Steuererstattungsanspruch hatte.“ 739 Wie Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S.  148 ff. [149 f.], wohl zutreffend feststellt, dürften bsplw. die folgenlosen Trunkenheitsfahrten gemäß § 316 StGB wesentlich häufiger sein, als eine durch Alkohol oder Rauschmittel verursachte konkrete Gefährdung oder Verletzung gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1a) StGB.

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das Schädigungspotential, Aspekte der Rechtssicherheit können dabei genauso eine Rolle spielen wie sonstige Präktikabilitätserwägungen (bsplw. Beweisprobleme).740 In dieses Begründungsmuster fällt nicht zuletzt die Steuerhinterziehung. Schließlich musste der Gesetzgeber einen Straftatbestand schaffen, der sowohl die Grundsätze des allgemeinen Strafrechts als auch die steuerverfahrensrechtlichen Spezifika berücksichtigt. Auch wenn sich der Gesetzgeber nie ausdrücklich für die Ausgestaltung der Steuerhinterziehung als abstraktes Gefährdungsdelikt ausgesprochen hat, so hat er doch spätestens mit der Reform der Abgabenordnung im Jahre 1977 durch Schaffung des heutigen § 370 Abs. 4 S. 1 AO unzweideutig klargestellt, dass es bei der Steuerhinterziehung auf die – ggfs. sogar vorläufige – Steuer­festsetzung ankommen soll.741 Ferner werden ihm spätestens zu dieser Zeit die mit dem Kompensationsverbot einhergehenden Folgewirkungen bewusst gewesen sein, so dass er die Bedingungen zur Annahme eines abstrakten Gefährdungsdeliktes zumindest gesetzt und – überspitzt formuliert – wohl auch „billigend in Kauf genommen hat“.742 Dass somit auf die Schaffung einer konkreten Gefahr oder Verletzung des Steueraufkommens bei der Ausgestaltung des § 370 AO verzichtet wurde, kann jedenfalls dann guten Gewissens hingenommen werden, wenn dies im Rahmen der Rechtsanwendung, nicht zu einer „Verwässerung“ des Tatbestandes führt. Allerdings wird dies, wie sogleich zu zeigen sein wird, bei der praktischen Anwendung der abstrakten Gefährdungsdelikte nur allzu häufig unberücksichtigt gelassen. 3. Folgen für die Tatbestandsauslegung a) Allgemeine Überlegungen Die Steuerhinterziehung ist somit legitim als abstraktes Gefährdungsdelikt ausgestaltet. Diese Erkenntnis, mag sie auch einige Mühen gekostet haben, beschreibt allerdings erst einmal nichts anderes als die logische Folge, dass nämlich die tatbestandsmäßige Handlung nicht stets zu einer unmittelbaren Einwirkung auf das geschützte Rechtsgut führt, weil die Verletzung oder Gefährdung desselben nicht im Tatbestand repräsentiert wird. Da sich diese Arbeit jedoch mit ganz spezifischen Fragen zur Auslegung des Steuerhinterziehungstatbestandes beschäftigt, kann es bei diesem vorläufigen Ergebnis nicht bleiben. Die nun folgende Betrachtung muss sich der Frage widmen, welche auslegungsspezifischen Wirkungen mit abstrakten Gefährdungsdelikten verbunden sind.

740 Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S. 148 ff. [150 f.]; ähnlich auch K.Graßhof in dem abweichenden Votum der Entscheidung BVerfGE 90, 145 [204]. 741 BT-Drucks. VI/1982, Zu § 353 S. 195. 742 Dies verkennen Grote, Steuerhinterziehung außerhalb des Festsetzungsverfahrens und im Mineralölsteuerverfahren, S. 56 f., und Hardtke, Steuerhinterziehung durch verdeckte Gewinnausschüttung, S. 139 f.

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Auf den ersten Blick wird man dem „abstrakten Gefahrmoment“ im Rahmen der Auslegung keine weitere Bedeutung beimessen können. Hat sich der Gesetzgeber doch gerade dagegen entschieden, eine konkrete Rechtsgutsgefährdung, geschweige denn deren Verletzung zum Tatbestandsmerkmal zu erheben. Die abstrakten Gefährdungsdelikte beschreiben daher nur etwas Negatives, indem es bei ihnen „einen Begriff der abstrakten Gefahr, der den rechtsanwendenden Richter für Auslegung, Subsumtion und entsprechende Feststellungen zu interessieren hätte, nicht gibt“743. Doch kann daraus nicht der Schluss gezogen werden, der Gesetzgeber habe den Tatbestand von jeglichem Gefahrdenken befreien wollen. Schließlich verfolgt er auch mit der Errichtung eines abstrakten Gefährdungsdeliktes das Ziel, Handlungsweisen zu verbieten, die ganz typischerweise die Gefahr für ein ausgewähltes Rechtsgut in sich tragen.744 Dies ist gesetzgeberisches Motiv und mithin Teil der teleologischen Auslegung. Schon aus dem Aspekt des Rechtsgüterschutzes kann daher im Ergebnis nur der Vollzug einer gefährlichen Handlung verboten sein, mag sie auch im kon­kreten Fall keinerlei Auswirkung entfaltet und sich daher im Nachhinein für das konkrete Rechtsgut als ungefährlich bzw. terminologisch besser: folgenlos745 herausgestellt haben. Es muss  – umgekehrt formuliert  – ernstlich bezweifelt werden, dass der objektive Tatbestand eine von Anfang an eindeutig ungefährliche Handlung erfassen soll.746 Die abstrakten Gefährdungsdelikte bestrafen nämlich nicht, wie es­ allerdings häufig formuliert wird, ein bloß typischerweise gefährliches Verhalten, sondern genau genommen ein gefährliches Verhalten, das aus der menschlichen Erfahrung heraus typischerweise zu einer Rechtsgutsschädigung führt.747 Erst dadurch kann sich der Gesetzgeber überhaupt veranlasst und berechtigt sehen, die Durchführung einzelner im Nachhinein ggfs. sogar folgenlos gebliebener Handlungen zu sanktionieren und somit insgesamt zu verbieten. Diese Schlussfolgerungen, deren Herleitung noch aussteht, nehmen ihren Anfang bei der zutreffenden Unterscheidung von den Bezugspunkten Gefahr und Gefährlichkeit.748 Im Rahmen der abstrakten Gefährdungsdelikte wird der Begriff „Gefahr“ nämlich nicht, wie es bei den Verletzungsdelikten und konkreten Gefährdungsdelikten der Fall ist, als Zustand, in den ein Rechtsgut geraten kann, sondern 743

Wolters, in: SK-StGB, Vor § 306 Rn. 15. Siehe zur Theorie von der generellen Gefährlichkeit bereits Fn. 725. 745 Denn durch die Folgenlosigkeit verliert die konkrete Handlung nicht die ihr zugeschriebene Eigenschaft „gefährlich“! 746 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. I, S. 386: „Eine gefährliche Handlung, welcher in stetem Fortschritt der Stachel der Gefahr genommen wird, ist contradictio in adjecto. Die Gefährdungsnorm umfasst sie nicht; das Gefährdungsverbrechen ist nur verboten unter dem stillschweigenden Vorbehalte, dass bei der Handlung jene Gegenwirkung nicht stattgefunden hat.“ 747 So zu ersterem u. a. Roxin, Strafrecht AT/I, § 11 Rn. 153; zu letzterem zutreffend Cramer, Der Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt, S. 61 ff. [68]. 748 Aufschlussreich Hirsch, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 545 ff. und später sein Schüler Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, S. 25, passim. 744

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viel eher als Beschreibung einer Handlungseigenschaft gebraucht.749 Es ist daher durchaus zutreffend, wenn es im Zusammenhang mit den abstrakten Gefährdungsdelikten immer wieder heißt, eine abstrakte Gefahr gebe es nicht, weil ein Bezug zum Rechtsgut gerade nicht herzustellen sei.750 Die konkrete Handlung ist, sofern man mit der Zuteilung von Attributen hantieren möchte, daher nicht eine das Rechtsgut gefährdende. Allerdings lässt sich hieraus nicht die weitergehende Folgerung ziehen, die Tathandlung müsse deshalb keine gefährliche sein, weil das Gesetz selbst genau diese Feststellung der Gefährlichkeit abstrahiere; sie also von der Rechtsanwendung loslöse.751 Eindeutig und wohl allseits unstreitig ist für den Tatbestand der abstrakten Gefährdungsdelikte nur, dass eine konkrete Gefahr oder gar Verletzung nicht einzutreten braucht. Gegen diese anerkannte Gesetzmäßigkeit wird nicht verstoßen, wenn man von der jeweiligen tatbestandsmäßigen Handlung nur fordert, dass sie überhaupt (aus objektiver ex-ante Sicht) geeignet sein muss, das Rechtsgut zu schädigen. Lediglich in diesem beschränkten Umfang findet hier das Attribut der Handlung als gefährlich seine Verwendung. Ist zum Zeitpunkt der Tathandlung eine spätere Schädigung oder konkrete Gefährdung des Rechtsgutes für jedermann offensichtlich ausgeschlossen, so verbietet sich zumeist eine Bestrafung aus dem jeweiligen abstrakten Gefährdungsdelikt.752 Etwas anderes kann nur dort gelten, wo der Tatbestand zwar nicht in 749

So allerdings bisher nur Hirsch, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 545 ff. [548]: „Richtet man den Blick auf die bei den Gefährdungsdelikten über den Gefahrbegriff geführte Diskussion, so gewinnt man den Eindruck, daß die vorstehend im Zusammenhang des Notstands kritisierte Gefahrauffassung auf Unschärfen beruht, die beim Umgang mit dem bei den Gefährdungsdelikten vertretenen allgemeinen Gefahrbegriff häufig zu beobachten sind: die mangelnde Unterscheidung zwischen der Gefahr, in der sich ein Gut befindet, und der (konkreten) Gefährlichkeit einer Handlung. Um erstere geht es, wenn ein Objekt in den Wirkungskreis eines bestimmten, es mit Wahrscheinlichkeit schädigenden Ereignisses geraten ist, so dass es sich um ein Zustand handelt. Eine konkret gefährliche Handlung liegt dagegen vor, wenn einem Tätigkeitsakt konkret eine Wahrscheinlichkeit innewohnt, ein Objekt zu schädigen.“ Zu dieser Unterscheidung aber auch Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 47; Maurach/Zipf, Strafrecht AT/I, § 17 Rn. 28; Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S. 152 ff. 750 Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, S. 26 f. 751 So aber Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, S. 23 ff., gegen die dem Grunde nach zutreffenden Überlegungen von Cramer, Der Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt, S. 61 ff. Zur berechtigten Kritik an Cramer siehe Fn. 764. 752 Ähnliche Überlegungen (unter Hinweis auf zahlreiche Stimmen aus der Literatur) hat auch der BGH, in BGHSt 26, S. 121; BGHSt 34, S. 118; NStZ 1982, S. 420 ff., zum Brandstiftungsstrafrecht angestellt. Siehe dazu u. a. Heine, in: Schönke/Schröder, StGB, § 306a Rn.  2  m. w. N. Diskutiert wird eine teleologische Reduktion des § 306a Abs.  1 StGB (§ 306 Nr. 2 StGB a. F.), wenn sich der Täter vor der Brandlegung eindeutig vergewissert hat, dass sich in den betreffenden Gebäuden keine Menschen mehr befinden. Der BGH geht hier in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass eine einschränkende Auslegung allenfalls dann angenommen werden kann, wenn sich der Täter durch „absolut lückenlose Maßnahmen“ vergewissert hat und dadurch die verbotene Gefährdung nicht eintreten kann. Dies sei allerdings nur bei kleinen einräumigen Häuschen möglich, die man auf einen Blick einsehen könne (BGHSt 26, S. 121). Da die Gebäude in allen bisher zu entscheidenden Fällen nicht die zur Vergewisserung geeignete Größe besaßen, hat sich der BGH niemals ausdrücklich zu einer teleologischen

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objektiver, aber zumindest in subjektiver Hinsicht den notwendigen Rechtsgutsbezug herzustellen vermag.753 Denn das für eine Strafbarkeit erforderliche Unrecht besteht bei den Delikten mit überschießender Innentendenz in dem im Vorsatz enthaltenen Handlungsunwert.754 Auch dieser muss letztlich auf die Schädigung eines Rechtsgutes bezogen sein. Schließlich ist heute allgemein anerkannt, dass der Wert oder Unwert einer Handlung nicht nur an dem durch sie herbeigeführten Erfolgen zu messen ist, sondern auch an den mit dieser Handlung bezweckten

Reduktion bekannt, sondern eine Anwendung aufgrund fehlender Entscheidungsrelevanz dahinstehen lassen. Schon aus diesem Grund ist fraglich, ob der Gesetzgeber des 6. StrRG (BTDrucks.  13/8587, S.  47) diese einschränkende Auslegung des BGH, die er in seiner Gesetzesbegründung ausdrücklich erwähnt, auch anerkannt hat. Zumal diese Fälle dann aber doch dem neu geschaffenen Milderungstatbestand des § 306a Abs. 3 StGB unterfallen sollen (BTDrucks. 13/8587, S. 48), was einer gewissen Widersprüchlichkeit nicht entbehrt. Diese hierdurch aufgeworfenen Fragen bedürfen für das Brandstiftungsstrafrecht keiner detaillierten Auseinandersetzung. Ob nämlich durch eine Vergewisserung alle aus einem Gebäudebrand resultierenden Gefahren für Menschen (ggfs. auch für hinzueilende Retter!) beseitigt werden können, muss ernstlich bezweifelt werden. Dies ändert aber an der Richtigkeit der dogmatischen Konstruktion nichts, sondern hat nur zur Folge, dass für § 306a Abs. 1 StGB eine offensichtlich ungefährliche Handlung wohl praktisch nicht in Betracht kommen wird (so i.E. auch Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S. 155 f. mit Fn. 74 ff.). Deutlicher als in den vorhin beschriebenen „Vergewisserungsfällen“ des § 306a Abs. 1 StGB wird eine restriktive Handhabung des § 306 Abs. 1 StGB, der ein Spezialfall der Sachbeschädigung mit einem Element der Gemeingefährlichkeit (siehe nur BT-Drucks.  13/8587, S.  87; BGH, NJW 2001, S. 765 f.) darstellen soll, erwogen. Hier werden unstreitig insbesondere mit Blick auf die ernährungswirtschaftlichen Erzeugnisse (Nr. 6) solche Brandstiftungsobjekte aus dem Tatbestand ausgeklammert, die lediglich Kleinmengen ohne großen Wert (überspitzt: die auf dem Frühstückstisch stehende Packung Cornflakes) darstellen, weil ihr Inbrandsetzen oder ihre Zerstörung mittels Brandlegung regelmäßig zu „keine[r] ernsthafte[n| Gefahr für weitere Rechtsgüter“ führe (Wolff, in: LK-StGB, § 306 Rn. 43, aber auch Heine, in: Schönke/Schröder, StGB, § 306 Rn. 10; Radtke, in: MüKo-StGB, § 306 Rn. 19 ff. [„Gefährlichkeitsbezogene Begrenzung der Tatobjektsqualität“]; Herzog, in: NK-StGB, § 306 Rn. 23; Fischer, StGB, § 306 Rn. 11, jeweils m.w.N). Auch bei diesen Fallkonstellationen handelt es sich letztlich um den allen abstrakten Gefährdungsdelikten zugrunde liegenden Gedanken, dass nur eine gefährliche Handlung den jeweiligen Tatbestand erfüllen kann. Allgemein zur Berücksichtigung ungefährlicher Handlungen im Rahmen der abstrakten Gefährdungsdelikte: Heine, in: Schönke/ Schröder, StGB, Vorbem. §§ 306 ff.; Rudolphi, Festschrift für Maurach, S. 51 ff. [59 f.]; Cramer, Der Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt, S.  69 ff.; Roxin, Strafrecht AT/I, § 11 Rn. 154 ff. 753 Als Paradebeispiel dient hierfür der untaugliche Versuch, der wie alle Versuchsdelikte und ein Teil der Absichtsdelikte unstreitig ein abstraktes Gefährdungsdelikt darstellt; dazu Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen, S. 131 ff.; Cramer, Der Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt, S. 61 ff. [63]. Eine Strafbarkeit ist gemäß § 23 Abs. 3 StGB sogar dann nicht ausgeschlossen, wenn der Täter aus grobem Unverstand verkannt hat, dass der Versuch überhaupt nicht zur Vollendung führen konnte. In diesen Fällen werden auch Verhaltensweisen erfasst, die weder ex ante noch ex post geeignet sind, eine Rechtsgutsschädigung herbeizuführen. Dies steht nun allerdings nicht, wie man es zuerst meinen könnte, im krassen Gegensatz zu den bisherigen Äußerungen. Auch das hier beanspruchte Handlungsunrecht muss, was in den folgenden Ausführungen zu zeigen sein wird, rechtsgutsbezogen sein. 754 Cramer, Der Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt, S. 61 ff.

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Erfolgen.755 Bei diesen vom Täter erstrebten (eventuell nicht eingetretenen) Erfolgen kann es sich nur um die geplante Herbeiführung eines Sachverhaltes handeln, dem wiederum selbst, wäre er tatsächlich eingetreten, strafrechtliche Relevanz zukommen würde. Wie sonst könnte man die strafrechtliche Wertigkeit eines Bestrebens anders ermitteln, als durch die Wertigkeit des mit ihr erstrebten Sachverhalts.756 Gradmesser jeglichen Wertes oder Unwertes bildet im Strafrecht aber nun einmal die Verletzung oder Gefährdung von Rechtsgütern, so dass sie letztlich auch den relevanten Bezugspunkt der subjektiven Tatseite darstellen.757 Es handelt sich bei der Berücksichtigung schädigungsgeeigneter Handlungen also nicht etwa um eine mildtätige Strafausschließung eines als ungerecht empfundenen Ergebnisses, sondern um ein Gebot der strafrechtlichen Dogmatik. Jeder Strafnorm muss im Einzelfall schon aus Legitimationsgründen ein zumindest mittelbarer Bezug – sei es im objektiven oder subjektiven Tatbestand – zu dem konkret geschützten Rechtsgut entnommen werden. Zwar führen die abstrakten Gefährdungsdelikte, indem es auf die Herbeiführung eines konkret gefährdenden oder sogar schädigenden Ereignisses nicht ankommen soll, zu einer Vorverlagerung der Strafbarkeit, allerdings kann auch ihnen dieser innere Zusammenhang nicht abgesprochen werden.758 Ansonsten würde insbesondere die Steuerhinterziehung teilweise ein Verhalten erfassen, dessen Unrecht objektiv wie subjektiv schlicht in der Herbeiführung einer unrichtigen Steuerrechtslage besteht. Dass es dem § 370 AO tatsächlich nicht um die Bestrafung eines sich so darstellenden (bloßen) Verwaltungsungehorsams, sondern um etwas viel Wichtigeres, nämlich um den Schutz des Vermögenswertes „Steueraufkommen“ geht, würde dabei völlig vernachlässigt.759 755 Sog. personale Unrechtslehre, vgl. u. a. Lenckner/Eisele, Schönke/Schröder, StGB, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 52 ff. 756 Mit den Worten von Rudolphi, Festschrift für Maurach, S. 51 ff. [55], formuliert: „Eine Handlung ist und kann nur um deswillen gut oder böse sein, weil die Person mit ihr die Realisierung eines Sachverhaltswertes oder -unwertes bezweckt. Die menschlichen Verhaltensweisen beziehen ihren Wertgehalt allein daraus, daß sie andere Werte, nämlich Güterwerte erstreben.“ 757 Vgl. dazu u. a. Rudolphi, Festschrift für Maurach, S. 51 ff.; Maurach/Zipf, Strafrecht AT/1, § 17 Rn. 6; Lenckner/Eisele, Schönke/Schröder, StGB, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 54, 60. Schwierigkeiten werfen in diesem Zusammenhang die sog. Kumulationsdelikte (siehe bereits Fn. 667) auf, da bei ihnen eine Rechtsgutsschädigung durch die einzelne Tathandlung praktisch ausgeschlossen ist. Erkennt man die Legitimität dieser Deliktskategorie an, so wird man die Geeignetheit dergestalt modifizieren müssen, dass die konkrete Tathandlung zumindest vervielfältigt (als Massenhandlung) eine Rechtsgutsbeeinträchtigung nach sich zieht. 758 Zu dem Widerspruch mit dem Rechtsgüterschutz u. a. Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, S.  375 ff. [376 f.], wobei er trotz der Formulierung eines „konkret gefährlichen Verhaltens“ (a. a. O., S. 61 f.) – das dem in dieser Arbeit gewählten Ansatz stark ähnelt – nicht zu einer teleologischen Reduktion, sondern zu dem Ergebnis gelangt, dass sich eine Vielzahl der abstrakten Gefährdungsdelikte – darunter auch § 306a StGB und § 316 StGB – nicht legitimieren lassen (a. a. O., S. 380 ff.). 759 A. A. Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S.  355 ff., indem sie die vorsätzliche oder fahrlässige Normübertretung (z. B. § 306a Abs. 1 StGB: „Du sollst keine Wohnhäuser in Brand setzen!“ [Graul, a. a. O., S. 360 Fn. 655]) zur Begründung

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Letztendlich wäre bei einem anderen strafrechtlichen Verständnis die ernstzunehmende Frage aufgeworfen, wie abstrakte Gefährdungsdelikte überhaupt mit dem Grundsatz des schuldangemessenen Strafens zu vereinbaren wären, wenn sie ein Verhalten ohne jeglichen Erfolgs- oder Handlungsunwert sanktionierten.760 Den gültigen (dogmatischen) Nachweis einer auch für die abstrakten Gefährdungsdelikte erforderlichen gefährlichen Handlung erbringen die Verletzungsdelikte und konkreten Gefährdungsdelikte selbst. Dafür muss man sich zunächst die zeitliche Abfolge der aufgezeigten Delikte vergegenwärtigen. Zu Anfang vollführt der Täter eines abstrakten Gefährdungsdeliktes eine Handlung, die einen (generellen) rechtsgutsgefährdenden Charakter besitzt. Ob die Handlung nun stets geeignet sein muss, eine Schädigung des Rechtsguts auszulösen, soll für die Herleitung unbeantwortet bleiben. Denn dies gilt es hier erst zu beweisen. Unstreitig ist jedenfalls, dass es für eine Bestrafung keine Voraussetzung ist, ob die Handlung überhaupt in die Nähe eines Rechtsgutes gelangt ist. Der Tatbestand ist schließlich bereits mit der Handlung und dem ggfs. vorausgesetzten Erfolg vollendet. Gelangt nun diese gefährliche Handlung derart in die Nähe eines Rechtsgutes, dass eine Schädigung desselben letztlich nur noch vom Zufall abhängt, kommt es zu einer konkreten Gefahr dieses Rechtsgutes. Zu einer Verletzung muss es ebenfalls nicht gekommen sein, weil es sich auch bei dieser Tatbestandsstruktur um eine Vorverlagerung der Strafbarkeit handelt und die Vollendung diesmal im Zeitpunkt der konkreten Gefahr eingetreten ist. Bewirkt die Handlung des Täters nicht nur eine konkrete Gefahr, sondern geht sie noch einen Schritt weiter und schädigt sie das Rechtsgut, befindet man sich im Stadium der Verletzungsdelikte. Erst sie setzen den Eintritt einer konkreten Rechtsgutsverletzung im Tatbestand voraus. Daraus lässt sich nun zweierlei ableiten: Zum einen stellen die abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikte eine Verlagerung der Strafbarkeit zeitlich vor den Eintritt einer – somit nur drohenden – Schädigung des Rechtsgutes dar. Zum anderen bedeutet dies aber auch, dass sie notwendige Durchgangsstadien jeder Verletzungsdelikte sind. Genau diese Abfolge gibt nun in umgekehrter Richtung Aufschluss über die Voraussetzungen der abstrakten Gefährdungsdelikte. Denn in der Literatur ist heute überwiegend anerkannt, dass im Fall der Erfolgsdelikte – zu denen auch der konkrete Gefahrerfolg zählt – ein Zurechnungszusammenhang zwischen der konkreten Handlung und dem eingetretenen Erfolg bestehen muss. Die Handlung des Täters muss demnach so ausgestaltet sein, dass sie eine Gefahr für das Rechtsgut geschaffen und sich genau diese eigentümliche Gefahr im konkreten Erfolg niedergeschlagen hat.761 Entscheivon Unrecht und Schuld ausreichen lässt. Es stelle aber ein Strafbarkeitsausschließungsgrund dar, wenn sich der Täter sorgfaltsgemäß verhalte (Graul, a. a. O., S. 361). Für § 306a StGB bedeute dies (Graul, a. a. O., S. 361 Fn. 666): „Du darfst keine Wohnhäuser in Brand setzen; wenn du objektiv als sicher erscheinende Gefahrausschlussmaßnahmen ergriffen hast (und auch eine Rechtsgutsobjektsverletzung und Gefährdung tatsächlich ausgeblieben ist), wirst du wegen dieser Zuwiderhandlung nicht bestraft.“ 760 Heine, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorbem. §§ 306 ff. Rn. 3a ff. m. w. N.; aber auch schon Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. I, S. 386. 761 Siehe nur Roxin, Strafrecht AT/I, § 11 Rn. 44 ff. m. w. N.

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dend ist nun, dass Verletzungs- als auch konkrete Gefährdungsdelikte meist solche Erfolgsdelikte sind, also der tatbestandliche Erfolg in der Schädigung des Rechtsgutes selbst oder in dem Eintritt einer konkreten Gefährdung für das Rechtsgut zu erblicken ist. In diesen Fällen bedarf es gemäß der obigen Definition in einem ersten Schritt zur objektiven Zurechnung des Erfolges (=Schädigung oder Gefährdung des Rechtsgutes) überhaupt erst einmal die Vollführung einer gefährlichen Handlung. Diese hier formulierte Gefahr kann wiederum nur eine „abstrakte Gefahr“ sein, weil sie noch in keinem konkreten Zusammenhang zum Rechtsgut gebracht wird.762 Bedarf es auch bei den Verletzungs- und konkreten Gefährdungsdelikten einer abstrakt gefährlichen Handlung, so ist kein Grund ersichtlich, Gleiches nicht auch für die abstrakten Gefährdungsdelikte zu fordern. Schließlich stellen sie nur eine Vorverlagerung der Strafbarkeit dar, indem sie zeitlich allein an die Durchführung eben dieser Handlung und eines dadurch eventuell eintretenden, aber mit der Schädigung oder Gefährdung des Rechtsgutes nicht identischen Erfolges anknüpfen. So wie in jedem Verletzungsdelikt daher die (Durchgangs-)Stadien der abstrakten und konkreten Gefahr enthalten sind, so ist das abstrakte Gefährdungsdelikt notwendig ein Vorstadium, das nach genau denselben Maßstäben zu messen ist. Nur indem die Deliktskategorien ein aufeinander aufbauendes System beschreiben, können sie nachvollziehbar in Zusammenhang gebracht werden. Ferner werden die abstrakten Gefährdungsdelikte erst durch die hier vertretene Restriktion des Tatbestandes sinnvollerweise in Bezug zum jeweiligen Schutzgut gesetzt. Indem die gefährliche Handlung zugleich ein wesentliches Element der objektiven Zurechnung darstellt, wird klargestellt, dass von einer eingetretenen Verletzung des Rechtsgutes – repräsentiert durch den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges – nicht uno actu auf die rechtlich missbilligte Gefährlichkeit der Handlung geschlossen werden kann. Denn der Vollzug einer für das jeweilige Rechtsgut ungefährlichen Handlung lässt bereits jedwede Erfolgszurechnung im Keim ersticken, so dass sich eine rückwärtige Schlussfolgerung verbietet. Aus diesen Gedankengängen lässt sich nun auch die vom Gesetz beabsichtigte „Abstraktion“ der untersuchten Deliktskategorie klar formulieren. Der Gesetzgeber hat aus der Vielzahl gefährlicher Handlungen diejenigen ausgewählt, die seiner Meinung nach ein gesteigertes Schädigungspotential besitzen und unbedingt verboten gehören.763 Ist es ihm möglich, so erfasst er diese gefahrträchtigsten Handlungen in einem abschließenden Kanon, wobei schon der Vollzug dieser Handlun 762

Zutreffend Hirsch, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 545 ff. [561]. Ähnlich schon Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd.  I, S.  368 ff. [385]: „Allgemein gefasste Gefährdungsverbote würden eine geradezu unerträgliche Beschränkung menschlicher Handlungsfreiheit bilden. Deshalb hat der Gesetzgeber aus den für ein Rechtsgut gefährlichen Handlungen die gefährlichsten auszulesen. Wie sie für die Rechtswelt die unerträglichsten sind, so wird ihr Verbot als berechtigte Freiheits-Beschränkung am leichtesten ertragen. Das Maass der Gefährlichkeit aber bestimmt sich nach der Tauglichkeit des Mittels. Desshalb bedarf es in der Norm der Namhaftmachung sowol des Objekts als der Art der Gefährdung: sie dient zur Abgränzung der verbotenen von der unverbotenen Gefährdung und sie praecisirt allen, denen der Befehl gilt, was sie zu lassen haben.“ 763

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gen „generell“ verboten sein und natürlich auch strafrechtliches Unrecht darstellen soll. Für die Tatbestandsmäßigkeit einer konkreten Handlung ist es insofern nur entscheidend, ob sie zu einer dieser ausgewählten Handlungsgruppen gehört. Abstrahiert wird hierbei ausschließlich die der Handlung zugeschriebene Eigenschaft als besonders gefährlich, so dass der Nachweis, die Einzelhandlung habe diese gesteigerte Gefährlichkeit nicht besessen, für ihre Tatbestandsmäßigkeit unschädlich ist. Es kommt nach dem Willen des Gesetzgebers also nicht darauf an, ob die in Rede stehende Handlung den Eintritt einer konkreten Gefährdung oder Verletzung als wahrscheinlich erscheinen ließ.764 Nicht erfasst von dieser „Blindheit“ des Tatbestandes wird demgegenüber die Geeignetheit der konkreten Tathandlung zur Rechtsgutsverletzung, so dass sie weiterhin zum Subsumtionsvorgang zählt. Dennoch ist die Sorge unberechtigt, dem Täter wäre nun der Nachweis ermöglicht, seine Handlung habe sich im Nachhinein dann doch nicht als gefährlich herausgestellt.765 Entscheidend ist insofern nur, dass die Tathandlung zum Zeitpunkt ihrer Vornahme gefährlich war. Dies ist sie allerdings schon, wenn sie überhaupt ge­eignet ist, eine Rechtsgutsverletzung herbeizuführen. Nur diese Handlungen will der Gesetzgeber zwecks potentieller Schädigungswirkungen verbieten, was im Ergebnis aber auch bedeutet, dass sich alle abstrakten Gefährdungsdelikte somit zugleich als sog. Eignungsdelikte darstellen, unabhängig von der Tatsache, ob sie in ihrem jeweiligen Tatbestand das Merkmal der „Geeignetheit“ tragen oder nicht. Denn in einigen abstrakten Gefährdungsdelikten ist die Tathandlung so eindeutig umschrieben, dass sich die erforderliche „Geeignetheit“ schon aus der Begehungsweise selbst ergibt und nicht jeweils positiv festgestellt werden muss.766 Dies gilt bsplw. für die Fälle des § 306a Abs. 1 StGB und auch für die des § 370 AO, weil die genannte Tathandlung mit dem Eintritt eines solchen tatbestandlichen Erfolges verbunden wird, der auf eine zukünftige Schädigung des Rechtsguts erfahrungsgemäß hindeutet. Nur wenn die Handlung hier ausnahmsweise nicht geeignet sein sollte, zwingt die Schutzbestimmung der Straftatbestände zu einer 764 Dies fordern aber i.E. Cramer, Der Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt, S.  69 ff., der ein Handeln voraussetzt, dass den Eintritt einer konkreten Gefährdung wahrscheinlich macht, und (ähnlich) Hirsch, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 545 ff. [559], der eine „konkret gefährliche Handlung“ fordert, die „aus der ex-ante-Sicht eines in der Situation des Täters befindlichen objektiven Beobachters in concreto einen Schadenseintritt wahrscheinlich macht“. Dieser Ansatz ist jedoch mit der Folge verbunden, dass die abstrakten Gefährdungsdelikte viel zu nahe an die konkreten Gefährdungsdelikte heranrücken, was angesichts der klar formulierten Abstraktion nicht gewollt sein kann und auch nicht zwingend notwendig ist, um den abstrakten Gefährdungsdelikten einen strafrechtlichen Sinn zu geben. Siehe zu der hier vorgebrachten Kritik bereits (bezügl. Cramer) Zieschang, die Gefährdungsdelikte, S. 27 (jedoch nur teilweise berechtigt, da die Überlegungen Cramers mehrere Deutungsmöglich­ keiten zulassen, dazu bereits Wolter, Objektive und personale Zurechnung, S. 293 Fn. 816) und (bezügl. Hirsch) Radtke, Die Dogmatik der Brandstiftungsdelikte, S. 24 ff. 765 So auch Heine, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorbem. §§ 306 ff. Rn. 4a. Die Befürchtung teilt dagegen für § 306a Abs. 1 StGB Wolff, in: LK-StGB, § 306a Rn. 4. 766 Völlig zu Recht insofern Cramer, Der Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt, S. 69 ff. [70]; Heine, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorbem. §§ 306 ff. Rn. 3.

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Berücksichtigung in Form einer teleologischen Reduktion. Im Gegensatz dazu ist eine nachträgliche Betrachtung (ex-post) der folgenlos gebliebenen, aber dennoch unstreitig gefährlichen Handlung für die Tatbestandsmäßigkeit schon aus dem Grunde u­beachtlich, weil das abstrakte Gefährdungsdelikt bereits mit dem Vollzug der gefährlichen Handlung und dem Eintritt des eventuell vorgesehenen Erfolges vollendet ist. Es geht hier also lediglich um die Frage, welche Voraussetzungen an die im jeweiligen Tatbestand genannten vertypten Verhaltensweisen zu stellen sind. Anzumerken bleibt, dass der Zweifelsgrundsatz bei der Frage, ob eine tatrichterlich festgestellte Handlung die erforderliche Geeignetheit besitzt, schon deshalb keine Anwendung findet, weil dies eine bloße Rechtsanwendung darstellt. Die dargestellte Abstraktion enthält auch eine subjektive Komponente. Aus dem notwendigen Umstand, die Tathandlung müsse eine objektiv geeignete sein, kann nämlich nicht die an sich logische Folgerung gezogen werden, der Täter müsse dann auch die Erfolgstauglichkeit seiner Handlung erkennen. Der Gesetzgeber lässt es bei der Errichtung eines abstrakten Gefährdungsdeliktes grundsätzlich genügen, dass der Täter lediglich die Umstände kennt, aus denen sich die Geeignetheit zur Rechtsgutsverletzung ergibt. Anderenfalls würde sich in subjektiver Hinsicht eine erhebliche Annäherung an das Verletzungsdelikt ergeben, die ersichtlich nicht gewollt sein kann, weil das abstrakte Gefährdungsdelikt häufig keine überschießende Innentendenz enthält. Erkennt der Täter nämlich, dass seine Tathandlung geeignet ist, eine Rechtsgutsverletzung herbeizuführen, so erkennt er dadurch zudem die Möglichkeit der Rechtsgutsverletzung selbst und erfüllt mithin das kognitive Element des Verletzungsvorsatzes. Der Vorsatz des abstrakten Gefährdungsdeliktes in Abgrenzung zum konkreten Gefährdungsdelikt und dieses wiederum in Abgrenzung zum Verletzungsdelikt wäre allein in dem unterschiedlichen voluntativen Element auszumachen. Eine so weitreichende Konsequenz wird man nicht für jedes abstrakte Gefährdungsdelikt ziehen können. Für Straf­normen wie bsplw. § 306a Abs. 1 StGB, in denen das Rechtsgut ganz bewusst nicht im Tatbestand aufgenommen wurde, lässt sich diese Einschränkung noch recht problemlos beschreiben. Ob dies allerdings auch dann zu gelten hat, wenn der Straftatbestand zumindest in seinem Wortlaut auch das Rechtsgut, wie u. a. bei der „das Leben gefährdenden Behandlung“ in § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB, enthält, wird jedenfalls von Seiten der Literatur unter Hinweis auf das gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 StGB erforderliche Wissenselement in Frage gestellt.767 767 So die h. M. im Schrifttum zu § 224 Abs.  1 Nr.  5 StGB, siehe nur Paeffgen, in: NKStGB, § 224 Rn. 27 ff. Anders RGSt 17, S. 279 ff.; BGHSt 2, S. 160 ff. Es lässt sich allerdings schon – hier nur ausblicksartig – bestreiten, dass es sich bei dieser Körperverletzungsqualifikation überhaupt um ein echtes abstraktes Gefährdungsdelikt (teilweise auch konkretes Gefährdungsdelikt, dazu u. a. Paeffgen, a. a. O., Rn. 3, 27) handelt. Geschützt werden soll auch hier vornehmlich die körperliche Unversehrtheit, die in allen Fällen des § 224 Abs. 1 StGB aber tatsächlich verletzt wird. Natürlich stellt sich die eingetretene Körperverletzung – mag sie auch eine einfache sein – als besonders mißbilligenswert dar, wenn schon die Handlung für sich genommen geeignet war, das Leben zu beeinträchtigen. Zudem lässt eine ihrem äußeren Anschein nach das Leben gefährdende Behandlung – genauso wie es mit einer Waffe, einem gefährlichen Werkzeug etc. der Fall ist – auf ein hohes Schädigungspotential schließen. Genau hierin liegt

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Ohne an dieser Stelle eine allgemeingültige und vor allem umfassende Lösung darbieten zu wollen, drängt sich in diesem Zusammenhang jedoch folgende Überlegung auf: Für den Vorsatz ist es grundsätzlich unerheblich, dass der Täter die Einschlägigkeit der durch sein Verhalten verwirklichten Verbotsnorm erkennt (arg. § 17 StGB).768 Zur Annahme des Vorsatzes genügt es also, wenn er in einer Parallelwertung in der Laiensphäre diejenigen Umstände erkennt, die den spezifischen Unrechtsgehalt des objektiv einschlägigen Deliktes charakterisieren.769 Demzufolge führt der Täter eine konkrete Gefahr bereits dann vorsätzlich herbei, wenn er die Umstände kennt, die den Gefahrerfolg als naheliegende Möglichkeit erscheinen lassen, und er den Eintritt dieser Gefahrenlage zumindest billigend in Kauf nimmt.770 Im Gegensatz dazu muss der Täter nicht erfasst haben, dass er ein Rechtsgut in strafrechtlich missbilligter Weise konkret gefährdet hat. Blickt man nun auf die von den abstrakten Gefährdungsdelikten ausgehende Gefährlichkeit der Tathandlung, so kann man diesbezüglich zu dem Ergebnis kommen, dass die Feststellung, eine Handlung sei zur Rechtsgutsverletzung objektiv geeignet, reine Rechtsanwendung darstellt. Erst der Strafrichter hat auf normativer Ebene festzustellen, welche Gefahren mit dem Vollzug der Tathandlungen verbunden waren, so dass diese Subsumtion nicht Teil der Vorstellung des Täters sein muss. Hiernach würde es genügen, wenn der Täter die Umstände kennt, die die objektive Gefährlichkeit seiner Handlung begründen. In Anbetracht der vorhandenen Abstraktion ist dies eine nachvollziehbare Deutungsmöglichkeit, die auch mit dem Stufenverhältnis zwischen den verschiedenen Deliktsstufen im Einklang stünde. Denn für den Vorsatz müsste die durch die abstrakten Gefährdungsdelikte einhergehende Vorverlagerung ersichtlich sein. Es versteht sich von selbst, dass diese Überlegungen jedenfalls dann nicht gelten können, wenn das erforderliche Unrecht, wie es bsplw. die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs zeigt, nicht bzw. nicht allein durch den äußeren Tatbestand hergestellt werden kann. Insofern bedarf es in jedem Fall einer wertenden Betrachtung des jeweiligen abstrakten Gefährdungsdeliktes, ob auch der subjektive Tatbestand von einer Rechtsgutsverletzung abgekoppelt ist.

gerade im Vergleich zur einfachen Körperverletzung der Sinn der angesprochenen Strafschärfung! Natürlich lässt sich nicht leugnen, dass dadurch zugleich der Schutz des menschlichen Lebens bezweckt wird. Dies haben aber alle Körperverletzungsdelikte gemein, weil die körperliche Integrität und das menschliche Leben schon denklogisch einen inneren Bezug zueinander aufweisen (zur Konkurrenz siehe alleine Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, § 212 Rn. 17 ff.). Es wäre daher wohl treffender, den Schutz des menschlichen Lebens in § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB dogmatisch als bloßen Reflex zu begreifen. Der geführte Streit um die Art der Gefährdung löst sich damit zugunsten der Rechtsprechung praktisch auf. 768 Vgl. u. a. Freund, in: MüKo-StGB, Vor §§ 13 ff. Rn. 295 ff. m. w. N. 769 Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, § 16 Rn. 8/9. 770 BGHSt 22, S. 67 (zu § 315c StGB); Groeschke, in: MüKo-StGB, § 315c Rn. 64 f.; Herzog, in: NK-StGB, § 315c Rn. 21.

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b) Konsequenzen für die Steuerhinterziehung aa) Objektiver Tatbestand Für den Tatbestand der Steuerhinterziehung wurde die Wirkungsweise der Tathandlung mehrfach formuliert. Sie ist deshalb eine gefährliche Handlung, weil sie geeignet ist, das Steueraufkommen zu schädigen und dies im Nachhinein erfahrungsgemäß auch tatsächlich geschieht. Sogar dort, wo die Tathandlung scheinbar keinerlei Schaden beim Steueraufkommen auszulösen vermag, verbirgt sich eine solche Handlung. In den Fällen des Kompensationsverbotes besteht diese Gefährlichkeit in der drohenden Änderbarkeit der Steuerfestsetzung, bei der Steuerverkürzung insolventer Steuerpflichtiger in der nachträglichen Genesung ihrer wirtschaftlichen Situation, bei der Erlangung eines unrichtigen Feststellungsbescheides in der bevorstehenden Berücksichtigung im eigentlichen Festsetzungsverfahren. Die Tatbestandsmäßigkeit dieser Konstellationen ist daher unter dogmatischem Blickwinkel durchaus berechtigt. Ganz allgemein muss nach dieser Einordnung der abstrakten Gefährdungsdelikte mit einer im Steuerstrafrecht inhaltlich unrichtigen Formulierung gebrochen werden. An mancher Stelle ist die Rede davon, dass es für eine vollendete Steuerhinterziehung genüge, wenn die Tathandlung das Rechtsgut (Steueraufkommen) abstrakt gefährde oder umgekehrt, dass sich die Annahme einer Strafbarkeit deshalb verbiete, wenn eben dieses Steueraufkommen nicht abstrakt gefährdet sei. Es bedarf keiner weiteren Darlegung mehr, dass es  – soweit man die Steuerhinterziehung als abstraktes Gefährdungsdelikt klassifiziert – eine „abstrakte Gefährdung des Steueraufkommens“ nicht gibt, sondern insoweit nur von einer für das Rechtsgut gefährlichen Handlung oder allenfalls von einer bestehenden Gefahr gesprochen werden kann.771 Ferner sind durchaus Einzelfälle denkbar, in denen trotz augenscheinlicher Tatbestandsmäßigkeit eine Schädigung des Rechtsgutes niemals eintreten kann. Es versteht sich nach dem Vorbenannten von selbst, dass eine Strafbarkeit dann zu unterbleiben hat. Dieser Gedanke ist dem Steuerstrafrecht heute schon für einige Fallgruppen nicht fremd. Insofern wurde bereits für eine Ausnahme vom Kompensationsverbot geltend gemacht, dass die Nichterklärung steuermindernder Gründe jedenfalls dann keine Gefahr für das Steueraufkommen darstellt, wenn eine spätere isolierte Berücksichtigung lediglich der mindernden Tatsachen ausgeschlossen ist. In diesen Fällen kann daher nicht mehr von einer für das Steueraufkommen gefährlichen Handlung gesprochen werden.772 Hierher gehören auch die schon angesprochenen Steuererstattungs- bzw. Steuervergütungsfälle, in denen dem Steuer­pflichtigen gegen den Fiskus (steuerrechtlich) zwar einen Zahlungsanspruch 771

Zutreffend insofern Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn.  11 a. E.: „In diesen Fällen [beim Eingreifen des Kompensationsverbotes, Anm. d. Verf.] kommt es nicht einmal zu einer konkreten Gefährdung des staatlichen Vermögens; die Handlung[!] ist nur abstrakt gefährlich.“ 772 Vgl. Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 74; siehe bereits Fn. 701.

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zusteht, die Regelungen des Kompensationsverbotes aber dennoch zu einem hinterziehbaren Steueraufkommen führt. Auch in diesen Fällen wird sich häufig die Schlussfolgerung ziehen lassen, dass das Rechtsgut im Zusammenhang mit der Tathandlung nicht verletzt werden kann. Insofern bedarf es nicht des von der Rechtsprechung beschrittenen und von Teilen der Literatur gebilligten (Hilfs-)Weges über die Annahme eines Tatbestandsirrtums gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 StGB als sog. Irrtum über das Kompensationsverbot773.774 bb) Subjektiver Tatbestand – zugleich: Ist die Steuerhinterziehung ein Blankett? Die mit der Einordnung als abstraktes Gefährdungsdelikt einhergehenden Folge­ wirkungen betreffen nicht zuletzt den subjektiven Tatbestand der Steuerhinterziehung. Dieser ist allerdings schon aufgrund der Ausgestaltung des Tatbestandes enger mit dem Rechtsgut verbunden, als man es bei vielen abstrakten Gefährdungsdelikten aus dem Kernstrafrecht – wie bsplw. in den §§ 306a Abs. 1, 316 StGB – gewohnt ist. Schließlich ist das Rechtsgut, indem sich der Vorsatz auf die Merkmale „Steuerverkürzung“ und „Erlangung eines nicht gerechtfertigten Steuervorteils“ beziehen muss, auch im subjektiven Tatbestand präsent. Zur Tatbestandsmäßigkeit des hier in Rede stehenden § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO genügt es nämlich nicht, dass der Täter bedingt vorsätzlich unrichtige oder unvollständige Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen gegenüber einer Behörde macht und zudem diejenigen Umstände kennt, die seine Steuerpflicht begründen. Mit der von der ganz herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Lehre vertretenen „Steueranspruchstheorie“775 ist es zur Verwirklichung einer vorsätzlichen Steuerhinterziehung sogar erforderlich, dass der Täter hinsichtlich der Steuerverkürzung die Entstehung des materiellen Steueranspruchs dem Grunde und der Höhe nach sowie seine unzureichende Festsetzung durch die Tathandlung für möglich hält und dies zudem billigend in Kauf nimmt.776 Hinsichtlich der Erlangung ungerechtfertigter Steuervorteile muss es der Täter mindestens für möglich halten und billigend in Kauf nehmen, dass ihm der gewährte Vorteil nicht zusteht.777 Die Ausgangslage für einen den Vorsatz ausschließenden Irrtum liefert demzufolge das gesamte Steuerrecht. Ohne Vorsatz handelt exemplarisch derjenige Steuerpflichtige, der für seine einmalige, als unentgeltlich vereinbarte Vermittlungstätigkeit im Nachhinein unaufgefordert eine Provisionszahlung erhält, jedoch 773

Zu diesem Begriff u. a. Meine, wistra 2002, S. 361. Siehe: b)  Unberechtigte Systemkritik (S.  182), dort unter Fn.  731. Zu den noch übrig bleibenden Fällen des „Irrtums über das Kompensationsverbot“ siehe: (4) Die Steueranspruchstheorie und das Kompensationsverbot (S. 216). 775 Grundlegend Welzel, NJW 1953, S. 486 ff.; weitere Nachweise bereits in Fn. 538. 776 Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 661 m. w. N. 777 Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 243. 774

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die einkommensteuerliche Relevanz (§ 22 Nr. 3 EStG)778 nicht zu erkennen vermag. Gibt der Steuerpflichtige diese Provisionszahlung irrigerweise nicht in seiner Einkommensteuererklärung an, so geschieht dies nicht in dem Bewusstsein, die Festsetzung des materiell entstandenen Steueranspruchs zu verhindern oder zu verzögern. (1) Keine überschießende Innentendenz, sondern Vorsatz bezüglich der gefährlichen Handlung Aus alledem lässt sich allerdings nicht der Schluss ziehen, die Steuerhinterziehung wäre als Vermögensdelikt mit einer überschießenden Innentendenz ausgestaltet. Zum einen ist eine vom Täter zu erstrebende Verletzung des Steueraufkommens aufgrund der eindeutigen Tatbestandsausgestaltung nicht auszumachen. Immerhin knüpfen die Erfolge (Steuerverkürzung und Vorteilserlangung) nur an eine unrichtige steuerverfahrensrechtliche Gestaltung an, so dass sich in Erman­ge­ lung einer im Tatbestand formulierten Verletzungsabsicht der Vorsatz ausschließ­ lich hierauf beziehen muss.779 Zum anderen ist es heute unumstritten, dass die Steuerhinterziehung im Gegensatz zu dem ihr artverwandten Betrug ebenfalls keine über den Vorsatz hinausgehende Bereicherungsabsicht voraussetzt. Zwar wurde dies noch bis zum Inkrafttreten der Abgabenordnung (1977) vereinzelt deshalb anders gesehen, weil der Steuerhinterziehungstatbestand mit den Worten „Wer zum eigenen Vorteil oder zum Vorteil eines anderen“ eingeleitet und daraus teilweise auf eine Vorteilsabsicht geschlossen wurde.780 Ganz überwiegend ging man jedoch schon damals in Übereinstimmung mit der Gesetzesbegründung von einer anderen Deutung aus. Der strittige Wortlaut sollte nämlich nur klarstellen, dass eine Hinterziehung nicht nur von dem Steuerpflichtigen und seinem Vertreter, sondern von jedem Dritten begangen werden konnte.781 Der Gesetzgeber der Abgabenordnung (1977) hat diesen Streit mit Streichung des umstrittenen Wortlautes nunmehr eindeutig entschieden.782 778

BFH, BStBl. II 2005, S. 44. Ganz h. M. Siehe insofern schon zutreffend RGSt 60, S. 182 ff. [186 f.]; „Nicht erforderlich ist zunächst, daß der Angeklagte ‚darauf ausgegangen‘ ist, ‚endgültig‘ die Steuern zu verkürzen oder ihre Minderung herbeizuführen, da der gesetzliche Tatbestand weder eine absichtliche noch eine endgültige Verkürzung der Steuern verlangt. Ebensowenig kommt es darauf an, ob der Angeklagte den Vorsatz gehabt hat, einen ‚vermögensrechtlichen Schaden‘ herbeizuführen oder einen Zustand zu schaffen, durch den die ‚wirtschaftliche Lage der Reichsfinanzverwaltung‘ ungünstiger gestaltet wurde, als bei einer vorschriftsmäßigen Erfüllung der steuerlichen Pflichten.“ Aus dem Schrifttum u. a. Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 239. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Ausführungen von Roxin, Strafrecht AT/I, § 12 Rn. 107, ungenau, wenn er anführt, der Täter müsse eine Vorstellung von seiner ihm auferlegten Steuerschuld haben, da er ansonsten nicht die für den Vorsatz erforderliche „Schädigung des Fiskus“ in laienhafter Weise erfasse. 780 Vgl. OLG Frankfurt, NJW 1973, S. 722 f. 781 E. Becker, RAO, § 359 Anm. 2a. 782 BT-Drucks. 7/4292, S. 43 f. 779

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

Der auf die objektiven Tatumstände bezogene und insofern kongruente Tatvorsatz muss sich im Hinblick auf den Taterfolg der Steuerverkürzung also nur auf die unzutreffende Steuerfestsetzung beziehen.783 Aus diesem Grund scheitert eine Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung insbesondere dann nicht, wenn der Täter bereits zum Zeitpunkt der relevanten Tathandlung eine rechtzeitige Zahlung in zutreffender Höhe ins Auge gefasst hat, so dass nach vermögensrechtlichen Maßstäben eine Schädigung des Rechtsgutes eigentlich ausgeschlossen ist.784 In gleicher Weise hindert die Kenntnis von der Vermögenslosigkeit des Steuerpflichtigen die Annahme des subjektiven Tatbestandes ebenfalls nicht, auch wenn dadurch prinzipiell ausgeschlossen ist, dass das Steueraufkommen durch die begangene Tathandlung überhaupt einen Schaden nehmen kann. Des Weiteren genügt es zur Tatbestandsmäßigkeit, wenn der Täter aufgrund unrichtiger oder unvollständiger An­gaben bewusst und gewollt einen zu niedrigen Gewinnfeststellungsbescheid erwirkt, ohne aber eine spätere Berücksichtigung bei der eigentlichen Steuerfestsetzung ernsthaft zu planen. Denn dies ändert nichts daran, dass der Täter schon zu diesem Zeitpunkt einen bewussten und gewollten ungerechtfertigten Steuervorteil erhält. Hiervon unberührt bleibt hingegen die anfänglich geäußerte Erkenntnis, dass sich der Vorsatz, indem er auf den objektiven Tatbestand bezogen ist, um das Rechtsgut herum bewegt. Denn es wurde letztlich nur deutlich, dass allein die Verletzung des Steueraufkommens selbst nicht Bestandteil des Tatbestandes ist. Betrachtet man einmal diese Nähe zum Rechtsgut, so erweist sich dieses Phänomen als durchaus vereinbar mit den dargelegten Grundsätzen abstrakter Gefährdungsdelikte. Schließlich ist nur erforderlich, dass der Täter die Umstände kennt, die die Gefährlichkeit seiner Handlung begründen.785 Diese Umstände decken sich nun exakt mit denen des objektiven Tatbestandes der Steuerhinterziehung. Wird die Finanzbehörde in Unkenntnis über Besteuerungsgrundlagen gelassen und daraufhin die Steuer zu niedrig festgesetzt, stellt dies eine für das Steueraufkommen gefährliche Handlung dar. Nichts anderes gilt für einen vom Täter erwirkten Steuervorteil, auf den er keinen Anspruch hat. Dass dem Täter die Tragweite seiner Handlung in Bezug auf das Steueraufkommen nicht bewusst sein muss, ergibt sich bereits aus dem Fehlen einer überschießenden Innentendenz. Das Prinzip der gefährlichen Handlung findet daher seine logische Konsequenz im subjektiven Tatbestand. Zu diesen die Gefährlichkeit der Handlung begründenden Umständen gehört notwendigerweise auch die Kenntnis des Steueranspruchs, der durch eine zu niedrige Festsetzung in dem Steuerbescheid letztendlich „verkürzt“ wird. Durch sie wird doch erst die Grundlage gesetzt, dass zumindest ein Teil des Steueraufkommens nicht eingetrieben werden kann. Schon aus diesem Grund ist die von der ganz überwiegenden Meinung vertretene Steueranspruchstheorie eine strafrechtliche Notwendigkeit. 783

Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 238. Ausdrücklich schon RGSt 60, S. 182 ff. [186]. 785 Siehe zu dieser subjektiven Begrenzung abstrakter Gefährdungsdelikte bereits: 3. Folgen für die Tatbestandsauslegung (S. 187 ff.) a. E. 784

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(2) Richtigkeit der Steueranspruchstheorie Doch selbst wer dem in dieser Arbeit vertretenen Ansatz in Bezug auf die Gefährlichkeit der Tathandlung nicht zu folgen vermag, wird zu keinem abweichenden Ergebnis gelangen können. Der Täter kann auch bei einer solchen Deutung nur dann strafrechtliches Handlungsunrecht begründen, wenn er nicht nur die bloßen zur Steuerverkürzung führenden Tatsachen kennt, sondern er zudem den sich daraus ergebenen Steueranspruch laienartig erfasst.786 Dies wurde spätestens seit Einführung des einheitlichen Steuerhinterziehungstatbestandes in der Reichsabgabenordnung (1919) nur ganz vereinzelt anders gesehen,787 wenn auch nicht immer so deutlich formuliert.788 An diesem Unrechtserfordernis kom 786

Allen voran zu § 359 RAO (1919) der „Vater der Reichsabgabenordnung“ E. Becker, RAO, Anm.  2: „Eine andere Frage ist, ob der Tatbestand [der Steuerhinterziehung, Anm.  d. Verf.] nicht zu weit gefaßt ist, so daß Handlungen darunter fallen, die nicht strafbar sein sollten. Dem steht entgegen, daß der Vorsatz auf Verkürzung der Steuereinnahmen gerichtet und daß er gefasst sein muß, um einen, wie sich aus dem Worte ‚verkürzen‘ ergibt, widerrechtlichen Vorteil für sich oder einen anderen zu erzielen. Dieser Vorsatz liegt nur vor, wenn der Täter weiß, daß Steuern geschuldet werden und daß sein Verhalten dazu führt, die Steuerbeträge wider das Gesetz zu mindern oder wegfallen zu lassen. Jeder Irrtum über die Steuerpflicht, auch der unentschuldbare schließt den Vorsatz aus.“ 787 BayObLG, DB 1981, S. 874 f.; Maiwald, Unrechtskenntnis und Vorsatz im Steuerstrafrecht, S. 15 ff.; Meyer, NStZ 1986, S. 443 ff.; ders., NStZ 1987, S. 500 f. (Replik auf Thomas, NStZ 1987, S. 260 ff.); Roxin, Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale, S. 147, wobei er seine Auffassung nun ausdrücklich widerrufen hat, siehe ders., Strafrecht AT/I, § 12 Rn. 107 (dort insbesondere Fn.  195); Müller, Vorsatz und Erklärungspflicht im Steuerstrafrecht, S.  127 ff. Siehe aber auch neuerdings die von Allgayer, in: Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- und Steuer­ strafrecht, AO, § 369 Rn.  28, zust. Jäger, in: Klein, AO, § 370 Rn.  173, formulierte Abkehr von der Steueranspruchstheorie. Diese Abkehr wurde vom 1. Senat des BGH, NZWiSt 2012, S. 71 ff. [73] = wistra 2011, S. 465, zwar angesprochen, aber noch offengelassen. Vgl. auch AG Köln, ZWH 2013, S. 371 ff. (allerdings ohne eine stichhaltige Begründung und ohne eine Fundstelle). Zu Recht ablehnend: Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 662; ders., wistra 2012, S. 365 ff.; Wulf, Stbg 2012, S. 19 ff.; Duttge, HRRS 2012, S. 359 ff. Die Auffassung von Allgayer, a. a. O., soll im weiteren Verlauf widerlegt werden. 788 Anders noch für das Steuerstrafrecht u. a. in RGSt  11 (1885), S.  426 ff. [435]; weitere Nachweise aus der Rechtsprechung des RG bei Backes, Zur Problematik der Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum im Steuerstrafrecht, S. 61 ff. Dort unterwarf das RG den Irrtum über steuerrechtliche Vorschriften noch dem unbeachtlichen „Rechtsirrtum über das Straf­ gesetz“ mit der Folge, dass die einzige Irrtumsvorschrift im RStGB (1871) § 59 StGB a. F. nicht zur Anwendung kam. Dies führte allerdings dann nicht zu einer Bestrafung, wenn die Strafnormen der Einzelsteuergesetze eine entsprechende Hinterziehungsabsicht forderten bzw. (genauer:) durch den Nachweis ihres Fehlens die aufgestellte Schuldvermutung(!) beseitigt wurde (so bsplw. § 137 Vereinszollgesetz, GBl. d. Norddeutschen Bundes 1869, Nr. 30, S. 317 ff.; § 23 Abs. 2 Gesetz, betreffend die Erhebung von Reichsstempelabgaben, RGBl. 1881, S. 185 ff.). In diesen Fällen vermochte das RG diese Absicht aufgrund eines Irrtums über die Steuerpflichtigkeit nicht festzustellen (siehe RGSt, a. a. O., S. 435 f.; RG, JW 1909, S. 524). Spätestens nach Einführung der RAO (1919) ging das RG, u. a. in RGSt 61, 259 ff. [263], wie es für das Kernstrafrecht und sogar für Blanketttatbestände bereits Gang und Gäbe war (siehe RGSt  4, S.  233 ff. [235 f.]; 36, S.  362 ff. [Irrtum über blankettausfüllende Vorschrift]; Olshausen, StGB, § 59 Anm. 2; krit. zur damaligen Rspr. des RG bezgl. Irrtümer über Blankett­

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

men sogar diejenigen Vertreter nicht vorbei, die die Steuerhinterziehung insbesondere im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal Steuerverkürzung (noch) als Blanketttatbestand789 auffassen wollen,790 und hiernach die Annahme eines tatbestände Warda, Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstraf­ gesetzen, S. 22 ff.), nun auch im Steuerstrafrecht vermehrt dazu über, den Irrtum in Bezug auf nicht strafrechtliche (hier also: steuerrechtliche)  Vorschriften als „außerstrafrechtlichen Irrtum“ einem Tatirrtum gemäß § 59 StGB a. F. gleichzustellen und daher bereits den Vorsatz auszuschließen (siehe Welzel, NJW 1953, S. 486 ff.; E. Becker, RAO, § 359 Anm. 2 [zit. bereits in Fn. 786]; für das Strafrecht allgemein: Maurach/Zipf, Strafrecht AT/1, § 37 Rn. 7 f.). Die steuerstrafrechtliche Irrtumsvorschrift des § 358 RAO (1919) bzw. § 395 RAO (1931 [RGBl. I 1931, S. 161]) („Straffrei bleibt, wer in unverschuldetem Irrtum über das Bestehen oder die Anwendbarkeit steuerrechtlicher Vorschriften die Tat für erlaubt gehalten hat.“) war daher für die hier fraglichen Fälle aufgrund des Vorrangs des § 59 StGB a. F. gar nicht anwendbar (RGSt  61, S. 238 f.; BGHSt 5, S. 90 ff.; E. Becker, RAO, § 358 Anm. 4.), obwohl der Gesetzgeber mit dieser Regelung (als Vorbild diente die sog. „Irrtumsverordnung“ [RGBl. 1917, S. 58]) eigentlich genau diese Steuerrechtsirrtümer im Blick hatte (siehe dazu die Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Drucks. Nr. 1460 [Bd. 339, Anlage zu den Stenographischen Berichten], Zu § 355 [S. 1408].) und ganz bewusst mit der damals noch vorherrschenden Ansicht des RG, dass der „Irrtum über die Strafbarkeit eines Verhaltens strafrechtlich bedeutungslos sei“, brechen wollte (E.  Becker, RAO, § 358 Anm.  1). An der Bedeutungslosigkeit dieser Irrtumsvorschrift änderte auch die Einfügung des Absatzes 2 in § 395 RAO (RGBl. I 1934, S. 925 ff. [936]) („Wer aus Mangel an Sorgfalt, zu der er nach den Umständen verpflichtet und nach seinen persönlichen Verhältnisses fähig war, die Tat für erlaubt gehalten hat, wird wegen Fahrlässigkeit bestraft.“) nicht, obwohl man sich damit im Falle eines steuerrechtlichen Verbotsirrtums für die Vorsatztheorie entschied (Hartung, Steuerstrafrecht, § 395 Anm. II). Dogmatisch wurde die Beachtlichkeit steuerrechtlicher Irrtümer auch mit der Tatbestandsstruktur der Steuerhinterziehung begründet. Damals sah sich das RG gezwungen, den unbestimmten Tatbestand der Steuerverkürzung um das ungeschriebene Merkmal des steuer­ unehrlichen Verhaltens zu präzisieren; dazu später eingehend: A. Die Tathandlung des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO (S. 288). Ein solches „frauduloses“ Verhalten sei nur dann gegeben, wenn der Täter durch sein unehrliches Handeln bewusst die Verkürzung einer Steuer herbeigeführt habe (so ausdrücklich RGSt 60, S. 182 ff. [185]). Der BGH hat die Irrtumsfrage zum Steueranspruch seit seinem Bestehen noch nie anders entschieden und sich daher zumindest im Ergebnis dem RG angeschlossen. Hieran änderte auch die grundlegende Entscheidung des GrS, BGHSt 2, S. 194 ff., nichts, obwohl er die vom RG zuletzt noch vorgenommene Unterscheidung zwischen Tatsachen- und Rechtsirrtum ausdrücklich aufgab und sie nach Maßgabe der nunmehr vertretenen Schuldtheorie durch den Tatbestands- und Verbotsirrtum ersetzte. Fortan sah der BGH, in BGHSt 5, S. 90 ff. (sog. Kakaobutter-Entscheidung, bezugnehmend auf Welzel, NJW 1953 S. 486 ff.), den Steueranspruch als einen Umstand des Tatbestandes an, auf den sich der Vorsatz erstrecken muss. Auch dem Gesetzgeber, BT-Drucks. V/1982, S. 23, blieb diese – wie er selbst betonte – „gesicherte“ Rspr. nicht verborgen. Denn er strich im Jahr 1968 mit dem 2. AO-ÄndG (BGBl. 1968, S. 953) die bis dahin bestandene Irrtumsregelung des § 395 RAO (1931), die wegen des angenommenen Tatbestandsirrtums gemäß § 59 StGB a. F. zu jederzeit ein Schattendasein fristete. Siehe zur geschichtlichen Entwicklung der Irrtumslehre im Steuerstrafrecht Backes, a. a. O., S. 61 ff.; Bachmann, Vorsatz und Rechtsirrtum im Allgemeinen Strafrecht und im Steuerstrafrecht, S. 145 ff. 789 Siehe zur allgemeinen Begriffsbestimmung des „Blankettstaftatbestandes“ die Ausführungen unter: (3) Ist die Steuerhinterziehung ein Blankett? (S. 210). 790 Zur Steuerhinterziehung als Blanketttatbestand kommt der BGH in stetiger Rspr., siehe nur BGHSt  20, S.  177 ff. Für die Literatur grundlegend schon Warda, Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, S.  13 f., Joecks, in: Franzen/Gast/

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für den Tatvorsatz unbeachtlichen Subsumtionsirrtums791 im Grunde viel näher läge.792 Handelt es sich bei der vom unvollständigen Strafblankett in Bezug genommenen außerstrafrechtlichen Ausfüllungsnorm doch um einen Teil  des Straftatbestandes selbst, so dass die Vorstellung des Täters, seine Tathandlung erfülle den Tatbestand dieser Bezugsnorm und sei mithin strafrechtliches Unrecht, nach der Gesetz gewordenen Schuldtheorie793 nicht zum Vorsatz dieses zusammengesetzten Deliktes gehört.794 Bezogen auf die Steuerhinterziehung würde die Annahme eines Blanketttatbestandes nämlich bedeuten, dass die zur Steuerverkürzung und nicht gerechtfertigten Vorteilserlangung herangezogenen steuerrechtlichen Vorschriften einen unmittelbaren Bestandteil der Strafnorm bildeten. Insbesondere die einkommensteuerrechtlichen Vorschriften über die Einkunftsarten – bsplw. §§ 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 5, 20 EStG (Kapitaleinkünfte) – wären, weil sie den vom Täter verkürzten Steueranspruch konstituieren, somit Teil des Steuer­ hinterziehungstatbestandes. Ausgehend von einer auf diese Art und Weise gebildeten Strafnorm dürfte sich ein den Vorsatz ausschließender Irrtum gemäß § 16 StGB nur dann ergeben, wenn der Täter einen Umstand nicht kennt, der zu diesem zusammengesetzten Tatbestand gehört. Weiß der Täter aber bsplw., dass er einem nahen Angehörigen ein Darlehen gewährt und Zinszahlungen erhalten hat, so kennt er damit all jene Umstände, die den steuerrechtlichen und zugleich strafrechtlichen Tatbestand (der über die Blankettverweisung auch § 20 Abs.  1 Nr. 7 EStG inkorporieren würde: „Zu den Einkünften aus Kapitalvermögen gehören Erträge aus sonstigen Kapitalforderungen jeder Art, wenn […] ein Entgelt für die Überlassung des Kapitalvermögens zur Nutzung zugesagt oder geleistet worden ist“) begründen. Der reine Steuerrechtsirrtum, wie bsplw. die Vorstellung, eine Darlehensvergabe an nahe Angehörige könne keine Einkommensteuer­ pflicht aus Kapitalerträgen begründen, würde sich bei dieser Deutung als einen für den Vorsatz unbeachtlichen Irrtum über die Strafbarkeit eines konkreten Verhaltens (sog. Subsumtionsirrtum) darstellen.795 Weil genau diese SchlussJoecks, Steuerstrafrecht, Einl. Rn. 5. Mehrfach bestätigt vom BVerfG, zuletzt in NJW 2011, S. 3778 ff., m. w. N. Jedoch kommen auch diese Vertreter uneingeschränkt zur Steueranspruchstheorie, siehe die Nachweise unter Fn. 775. Denn auch sie sahen das zur Zeit der RAO in den Tatbestand hineingelesene Merkmal der Steuerunehrlichkeit als nicht erfüllt an, wenn der Täter keine Vorstellung von dem bestehenden Steueranspruch hatte (so allen voran Warda, a. a. O., S. 48 f.); hierzu schon Fn. 788. 791 BGHSt 9, S. 341; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 315; Roxin, Strafrecht AT/I, § 12 Rn. 101. 792 Vgl. nur Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 44 ff. [47]. 793 Die in § 17 StGB mit Wirkung vom 1.1.1975 durch das StrafrechtsÄndG, BT-Drucks. V/4095, S.  9, festgeschrieben wurde. Zur Einführung der Schuldtheorie bereits BGHSt  2, S. 194; zur Verfassungsmäßigkeit des § 17 S. 2 StGB BVerfGE 41, S. 121. 794 So die überwiegende Ansicht zu Blankettstrafgesetzen, statt vieler Puppe, in: NK-StGB, § 16 Rn. 60 ff. m. w. N.; Warda, Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, S. 32 ff. 795 Diese Schlussfolgerung ist aber nicht für alle Fälle des Steuerrechtsirrtums zwingend. Siehe hierzu die späteren Ausführungen unter: (3) Ist die Steuerhinterziehung ein Blankett? (S. 210).

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

folgerung selbst von den Vertretern der These, die Steuerhinterziehung sei ein Blanketttatbestand, bisher nicht gezogen wurde, ist die Diskussion um den Tatbestandscharakter der Steuerhinterziehung jedenfalls in diesem Punkt eine rein akademische geblieben.796 Wie ließe sich – und dies vollkommen unabhängig von der Unterscheidung zwischen Blanketttatbestand und normativem Tatbestandsmerkmal – eine vorsätzliche „Steuerverkürzung“ auch auf andere Weise erfassen?797 Soweit gemäß § 370 Abs. 4 S. 1 AO objektiv eine Diskrepanz zwischen der festgesetzten und eigentlich geschuldeten Steuer erforderlich ist, bedarf es zur subjektiven Erfassung dieses Erfolgsunrechts schon denklogisch immer einer laienartigen Vorstellung darüber, dass überhaupt eine Steuer geschuldet wird.798 Denn nur darauf aufbauend kann sich in dem Täter erst das Bewusstsein von einer unzureichenden Realisierung infolge der Steuerfestsetzung (=Steuerverkürzung) bilden. Der denklogische Schritt ist letztlich nicht anders als beim Tötungsvorsatz gemäß § 212 Abs. 1 StGB, bei dem der Täter doch genauso die Möglichkeit erkannt haben muss, dass seine Tathandlung einen lebenden Menschen trifft. Der tatbestandliche Erfolg der Steuerverkürzung, mag er sich im Wesentlichen auf rechtlicher Ebene bewegen, muss demnach genauso wie jeder aus rein tatsächlichen Umständen bestehende Erfolg vom Vorsatz umfasst sein.799 Genau dies verkennt Allgayer, wenn er zwischen einem Irrtum über steuerrechtliche Vorschriften (insofern Verbotsirrtum) und der Fehlvorstellung über Besteuerungsgrundlagen (dann Tatbestandsirrtum) unterscheiden will.800 Eine solche Sicht führt ohne Umweg wieder in die pauschale Differenzierung vom Rechts- und Tat(sachen)irrtum, die nicht einmal vom Reichsgericht – aus guten Gründen – strikt durchgehalten wurde.801 Es hat sich daher in der heutigen Strafrechtsdogmatik die Unterscheidung zwischen Tatbestands- und Verbotsirrtum durchgesetzt,802 wobei dieses neu etablierte Begriffspaar etwas vollkommen ande 796

Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 45 ff. Zur Unbeachtlichkeit der Deliktseinordnung nun auch Ransiek, wistra 2012, S.  365 ff. [366]: „Führt man diese Diskussion dann ausschließlich unter den Stichworten ‚Steueranspruchstheorie‘ contra ‚Vorsatz bei Blankettstraftatbeständen‘, sieht es zudem so aus, als folge das Ergebnis aus dem jeweiligen theoretischen Grundverständnis der Norm und als bewege man sich in einem Rahmen, für den nähere gesetzliche Vorgaben fehlen. Dem ist energisch zu widersprechen. Entscheidend für die Bestimmung der an den Vorsatz zu stellenden Anforderungen ist der Wortlaut des § 370 AO.“ Ähnl. Überlegungen hat bereits Schlüchter, wis­ tra 1985, S. 43 ff., angestellt. 798 Vgl. nun auch „geläutert“ Roxin, Strafrecht AT/I, § 12 Rn. 107. Siehe auch die Entgegnung von Ransiek, wistra 2012, S. 365 ff., auf die „Gedankenspiele“ des BGH, NZWiSt 2012, S.  71 ff.  =  wistra 2011, S.  465. Es ist bemerkenswert, dass bereits Schlüchter, wistra 1985, S. 43 ff. [45 ff.], die wesentlichen Begründungselemente der Steueranspruchstheorie stichhaltig aus der allgemeinen Strafrechtsdogmatik hergeleitet hat; erschreckend daran ist, dass dies in der heutigen Zeit in Vergessenheit geraten ist. Diesen Umstand lässt auch das AG Köln, ZWH 2013, S. 371 ff., vermissen. 799 So ausdrücklich Welzel, NJW 1953, S. 486 ff. [487]; zust. BGHSt 5, S. 90 ff. 800 Allgayer, in: Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, AO, § 369 Rn. 28. 801 Siehe Fn. 788. 802 Grundlegend BGHSt 2, S. 194. 797

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res meint als das damalige. Wie bereits Welzel richtig erkannt hat, können Rechtsirrtümer auch Tatbestandsirrtümer und umgekehrt Tatsachenirrtümer auch Verbotsirrtümer sein.803 Sofern nun Allgayer daher feststellt, dass steuer­strafrechtliche Tatbestände keine Besonderheiten aufweisen, die ein Abweichen von allgemeinen Grundsätzen rechtfertigen würden, ist das genau der entscheidende Punkt.804 Ein Tatumstand muss nicht notgedrungen etwas Tatsächliches sein, sondern kann je nach Ausgestaltung des Tatbestandes auch rein im rechtlichen Bereich liegen.805 Wer diesen Gedanken verfolgt, der kann nun die allgemeinen Regelungen ohne Probleme anwenden. Fehlt dem Täter die Kenntnis eines Rechtsinstitutes, das zugleich ein Merkmal des Tatbestandes bildet, so handelt er gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 StGB nicht vorsätzlich. Dies gilt ohne Einschränkung für den Steueranspruch, der notgedrungen zur Steuerverkürzung gehört. Sogar dem Gesetzgeber schienen diese Erkenntnisse so unumstößlich, dass er die verbliebene Irrtumsvorschrift in § 358 RAO (1919) bzw. später § 395 RAO (1931) im Jahre 1968 ersatzlos strich und damit zugleich die Anwendbarkeit des Tatbestandsirrtums ausdrücklich anerkannte.806 Gerade diese gesetzgeberische Entscheidung wird bei der heutigen Diskussion um die Anforderungen an den Vorsatz bei der Steuerhinterziehung vernachlässigt.807 Natürlich wird der Steueranspruch hierdurch nicht etwa selbst zu einem Merkmal des gesetzlichen Tatbestandes, sondern er ist das notwendige Element der Steuerverkürzung. Auf diese Weise ergibt sich seine Beachtlichkeit für den Vorsatz, selbst wenn er nicht expressis verbis im Tatbestand genannt ist.808 Blickt man 803 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S.  167; siehe dazu auch Roxin, Strafrecht AT/I, § 12 Rn. 104 ff. („nicht zerlegungsfähige gesamttatbewertende Umstände“). 804 Allgayer, in: Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, AO, § 369 Rn. 28. 805 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 167; ders, NJW 1953, S. 486 ff. 806 Siehe bereits Fn. 788 a. E.; BT-Drucks. V/1982, S. 23: „Der Grund für die Einfügung dieser Vorschrift ist weggefallen. […] Der Tatbestandsirrtum wird, auch wenn er in dem Irrtum über Rechtssätze und Rechtsbegriffe besteht, nach § 59 StGB beurteilt. Bei Steuervergehen stellt der Irrtum über das Bestehen oder den Umfang einer steuerrechtlichen Pflicht stets ein Tatbestandsirrtum dar […]. Ein Fall des Verbotsirrtums ist danach im Steuerrecht kaum denkbar.“ 807 Dies wird nicht nur von Allgayer, in: Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, AO, § 369 Rn. 28, sondern auch vom BGH, NZWiSt 2012, S. 71 ff. [73] = wistra 2011, S. 465, und Jäger, in: Klein, AO, § 370 Rn. 173, bisher verkannt. Es bleibt nur zu wünschen, dass sich der für das Steuerstrafrecht zuständige 1. Senat des Bundesgerichtshofs an diese wohl in Vergessenheit geratene ausdrückliche Entscheidung des Gesetzgebers erinnert. 808 Anders darf man auch Welzel, NJW 1953, S.  486 ff., nicht verstehen, selbst wenn er den Steueranspruch als Tatobjekt der Steuerhinterziehung kennzeichnet und diesen sodann zum Teil  der inneren Tatseite erklärt. Das Tatobjekt wird natürlich nicht schon als solches ein eigenständiges Merkmal des gesetzlichen Tatbestandes! Dies hat auch Welzel (a. a. O., S.  486) wohl nicht anders gemeint; denn er schreibt: „Ist aber das Objekt der Verkürzungshandlung nicht die tatsächliche Steuereinnahme, sondern der objektiv bestehende Steueranspruch, so schält sich damit überhaupt erst das richtige Tatobjekt der Steuerhinterziehung heraus: eben der konkrete Steueranspruch des Staates gegen den Steuerpflichtigen. Dadurch wird auch der Inhalt des Vorsatzes der Steuerhinterziehung erst bestimmbar: der Täter muß den bestehenden Steuer­anspruch kennen und ihn gegenüber der Steuerbehörde in der oben an-

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

zudem auf das voluntative Element des Vorsatzes, so drängt sich ferner die Frage auf, was der Täter im Hinblick auf die Steuerverkürzung ansonsten billigend in Kauf nehmen soll, wenn nicht die gemessen an der materiellen Steuerschuld zu niedrige Steuerfestsetzung. Der damit verbundene Vorwurf, der Täter habe diesen eingetretenen Erfolg zum Zeitpunkt seiner Tathandlung nicht nur vorhergesehen, sondern zudem auch gewollt, ist daher ohne die Kenntnis vom Steueranspruch schier undenkbar.809 Die geäußerten Bedenken gegen einen vom Steueranspruch befreiten Hinter­ ziehungsvorsatz beschränken sich jedoch nicht nur auf den tatbestandsmäßigen Erfolg, sondern setzen sich an den in § 370 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AO beschriebenen Tathandlungen fort. Erst die Vorstellung vom Steueranspruch bildet dort den alles entscheidenden Bezugspunkt. So kann das „Machen unrichtiger oder unvollständiger Tatsachen“ bzw. das „pflichtwidrige Inunkenntnislassen“ über steuerlich erhebliche Tatsachen nur unter Berücksichtigung der gesetzlichen Steuerpflicht in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden. Ist eine Tatsache doch nur deshalb „steuerlich erheblich“, weil sie ihrerseits die Grundlage eines Steueranspruchs bildet, so kann die Tathandlung – sowohl das unrichtige oder unvollständige Erklären als auch das pflichtwidrige Unterlassen einer Erklärung – nur dann vorsätzlich begangen werden, wenn der Täter eine entsprechende Vorstellung innehat.810 Wer nun mit Maiwald gegen die Steueranspruchstheorie die Bedeutungslosigkeit des Verbotsirrtums anführen will,811 dem muss im Grunde Recht gegeben werden. Nimmt man das Wissen um die geringwertige Steuerfestsetzung in den Verkürzungsvorsatz mit auf, dann wird sich die Möglichkeit eines Verbotsirrtums kaum stellen. Denn gleichzeitig folgt aus diesem Wissen das notwendige Unrechtsbewusstsein, so dass schon eine Trennung zwischen Verbotsirrtum und Tatbestandsirrtum kaum möglich ist.812 Hieraus wurde allerdings die Folgerung abgeleitet, dass, wenn sich die Kenntnis von der Steuerpflicht nicht von dem Unrechtsbewusstsein trennen lasse, ein Verbotsirrtum vorliegen müsse. Denn es handele sich bei dem Steueranspruch gerade aufgrund dieser Untrennbarkeit um ein gesamttatbewertendes Merkmal das mit dem Rechtswidrigkeitsurteil identisch

gegebenen irreführenden Weise verkürzen wollen.“ Welzel hat damit zutreffend als erster erkannt, dass eine Steuerverkürzung ohne Steueranspruch nicht denkbar ist und der darauf bezogene Vorsatz nur durch die Kenntnis vom Steueranspruch überhaupt erst „bestimmbar“ wird. Die Kritik von Warda, Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, S. 46 f., und zuletzt Weidemann, wistra 2006, S. 132 f.; ders., Festschrift für Herzberg, S.  299 ff. [302 f.], Welzel habe die Funktionsweise des Tatobjektes verkannt, ist daher nicht berechtigt. 809 Thomas, NStZ 1987, S. 260 ff. [262]. 810 Vgl. Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 47. 811 Maiwald, Unrechtskenntnnis und Vorsatz im Steuerstrafrecht, 21 ff.; früher auch Roxin, Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale, S. 147. 812 Maiwald, Unrechtskenntnis und Vorsatz im Steuerstrafrecht, 21 ff. m. w. N.

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sei.813 Hierfür genüge es in subjektiver Hinsicht, genauso wie für das Merkmal der Verwerflichkeit im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB, dass der Täter die zur Gesamttatbewertung gehörenden Voraussetzungen kenne. Irre der Täter hingegen über die Einschlägigkeit des gesamttatbewertenden Merkmals und damit in der Konsequenz über die Rechtswidrigkeit seines Tuns selbst, dann sei lediglich ein Verbotsirrtum gegeben.814 Folgerichtig müsse auch im Fall eines Irrtums über die Steuerpflicht danach unterschieden werden, ob der Täter einen tatsächlichen den Steueranspruch begründenden Umstand nicht kenne oder ob er lediglich glaube, keine Steuern zahlen zu müssen.815 Dieser Ansicht wurde insbesondere von Bachmann zu Recht entgegengehalten, dass der Steueranspruch – wie bereits oben dargelegt – kein eigenes Tatbestandsmerkmal, sondern selbst Voraussetzung der Steuerverkürzung ist.816 Des Weiteren könne nicht allein deswegen von einem gesamttatbewertenden Merkmal ausgangen werden, weil eine laienhafte Bewertung einer steuerrechtlichen Subsumtion erforderlich sei.817 Letztlich lasse sich auch ein Verbotsirrtum erst dann begründen, wenn die vorangehende Frage nach dem Vorhandensein des Vorsatzes positiv beantwortet werde. Zum Vorsatz gehöre aber nun einmal die Kenntnis des Steuer­

813 Zu dieser Begründung siehe Roxin, Strafrecht AT/I, § 12 Rn. 108 [Fn. 198]; Maiwald, Unrechtskenntnnis und Vorsatz im Steuerstrafrecht, 21 ff. [23 f.]. Zur Herleitung Roxin, Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale, S. 81 f.: „Alle bisher aus dem Kreise der Welzelschen Rechtspflichtmerkmale beigebrachten Beispiele haben – wie sich herausgestellt hat – eines gemeinsam, das sie vor gewöhnlichen Tatumständen (auch rechtlich-normativer Art) auszeichnet: Die Kenntnis eines solchen Merkmals bringt dem Täter entweder immer […] oder doch wenigstens im Regelfall […] die formelle Rechtswidrigkeit seines Tuns mit logischer Notwendigkeit zum Bewußtsein, während sonst weder einzelne Tatumstände noch ihre Gesamtheit notwendig geeignet sind, dem Täter das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit zu vermitteln. Wenn man den Ausdruck ‚Rechtspflichtmerkmal‘ (anders als Welzel) so versteht, daß damit alle Merkmale gemeint sind, die den Täter unmittelbar seine Rechtspflicht erkennen lassen, so ist diese Benennung in der erörterten Fällen durchaus zutreffend. Man könnte diese Merkmale auch, weil sie neben ihrer beschreibenden Funktion im Normalfall die sonst dem Rechtswidrigkeitsurteil vorbehaltene Gesamtbewertung der Tat in sich schließen, als ‚gesamtbewertende‘ oder ‚rechtswidrigkeitsumschließende‘ Umstände bezeichnen.“ Aus diesen Gedanken könnte man nun – wie es Roxin anfangs getan hat – folgern, dass auch der Steueranspruch ein solches Merkmal ist. Denn mit der Kenntnis um den entstandenen Steueranspruch macht sich – um bei den allgemeinen Ausführungen Roxins zu bleiben – der „Täter in den meisten Fällen das Verbotene seines Tuns mit logischer Zwangsläufigkeit klar“ (Roxin, a. a. O., S. 82). 814 Allgemein Roxin, Strafrecht AT/I, § 10 Rn. 45 ff.; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 66; Puppe, in: NK-StGB, Vor §§ 13 ff. Rn. 27; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 456 f. 815 So früher Roxin, Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale, S. 147; zust. Maiwald, Unrechtskenntnnis und Vorsatz im Steuerstrafrecht, 21 ff.; Müller, Vorsatz und Erklärungspflicht im Steuerstrafrecht, S. 135 ff. 816 Bachmann, Vorsatz und Rechtsirrtum im Allgemeinen Strafrecht und im Steuerstrafrecht, S. 176 f. 817 Bachmann, Vorsatz und Rechtsirrtum im Allgemeinen Strafrecht und im Steuerstrafrecht, S. 177.

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anspruchs, so dass sich die weitergehende Frage nach dem Anwendungsbereich des Verbotsirrtums in Irrtumsfällen überhaupt nicht stelle.818 Diesen Ausführungen von Bachmann gibt es wenig Neues hinzuzufügen. Das einzige, woran hier überhaupt erinnert werden muss, ist die begrenzte Legitimation des Verbotsirrtums selbst. Soweit sich die Strafrechtswissenschaft scheinbar um den Verlust bzw. den fehlenden Anwendungsspielraum dieses Irrtums sorgt, ist das nichts anderes als eine contradictio in adiecto. Denn das Strafrecht hat ihn in seinem grundlegenden Anwendungsbereich, dass also der Täter trotz vollständiger Umstandskenntnis in Bezug auf die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale das von ihm verwirklichte Unrecht infolge einer unzutreffenden Subsumtion einfach nicht erkennt, nicht von Anfang an gebraucht. Es wurde ihm erst aufgezwungen, als die Tatbestände so komplex wurden, dass selbst von einem verständigen Bürger das relevante Kennen­müssen von Recht und Unrecht seiner Handlungen nicht mehr erwartet werden konnte.819 Der Verbotsirrtum ist damit zum Teil das Eingeständnis des Gesetzgebers, dass er ein vom Adressaten der Ver- und Gebotsnorm losgelöstes Strafrecht geschaffen hat. Immerhin räumt er damit unumwunden die Möglichkeit ein, dass von einem Täter trotz vollständiger Kenntnis der den Tatbestand erfüllenden Umstände (mitsamt der dort verankerten Rechtsgutsverletzung oder Gefährdung) die Unrechtseinsicht nicht immer erwartet werden kann. Schon dieser Blickwinkel macht den prinzipiellen Ausnahmecharakter des § 17 StGB deutlich. Wenn nun aber bei der Steuerhinterziehung aufgrund der Tatbestandsstruktur die Unrechtseinsicht mit dem Vorsatz einhergeht und dadurch der Verbotsirrtum zugunsten des Tatbestandsirrtums zurückgedrängt wird, dann kann alleine dieser Umstand – auch bei den Vertretern der Schuldtheorie – grundsätzlich keine tiefgreifenden Bedenken hervorbringen. Letztlich gerät eine von der Steueranspruchstheorie abweichende Auffassung sogar in systematische Widersprüche. Denn auch das Rangverhältnis der Steuer­ hinterziehung zur leichtfertigen Steuerverkürzung gemäß § 378 Abs.  1 AO ließe sich ohne eine Vorstellung vom Steueranspruch nicht sinnvoll beschreiben. Schließlich wird der Täter im Falle des § 378 Abs. 1 AO nur allzu häufig die von § 370 Abs. 1 AO ebenfalls geforderte Tatsachenkenntnis aufweisen, wobei ihm noch zusätzlich die Voraussetzung der groben Fahrlässigkeit vorgeworfen werden muss. Die Steuerhinterziehung geriete, wenn bei ihr lediglich diese Tatsachenkenntnis genügen würde, in diesen Fällen zum Auffangtatbestand selbst für eine mangels Fahrlässigkeit nicht vorhandene Ordnungswidrigkeit. Das strafrechtliche Gefüge dieser Vorschriften wäre damit praktisch auf den Kopf gestellt und die leichtfertige Steuerverkürzung wohl um ihren typischen Anwendungsbereich beraubt. Der Täter muss daher zur Unrechtsbegründung zwingend nicht nur die zum Steueranspruch führenden tatsächlichen Umstände, sondern darüber hinaus das juristische Ergebnis kognitiv erfassen. Man stelle sich im Vergleich dazu nur den Aufschrei im Kernstrafrecht vor, der entstünde, wenn man das Erfordernis von der Vorstel 818 Bachmann, Vorsatz und Rechtsirrtum im Allgemeinen Strafrecht und im Steuerstrafrecht, S. 176; zust. Tiedemann, ZStW 107, S. 597 ff. [644]. 819 Siehe grundlegend BGHSt 2, S. 194 [202 f.]; Vogel, in: LK-StGB, § 16 Rn. 1.

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lung der Rechtswidrigkeit des beabsichtigten Vermögensvorteils aus dem Betrugstatbestand streichen würde. Aus alledem lässt sich letztlich nur eine Schlussfolgerung ziehen: Die ganz herrschende Steueranspruchstheorie ist, worauf Welzel erstmals zutreffend hingewiesen hat,820 eine notwendige dogmatische Folge der Tatbestandsstruktur der Steuerhinterziehung selbst, so dass auch nicht auf das noch während der Reichsabgabenordnung zur Tatbestandsbegrenzung von der Rechtsprechung implementierte Merkmal der Steuerunehrlichkeit821 zurückgegriffen werden muss.822 Im Übri­gen lässt sich die Steueranspruchstheorie problemlos auf das Merkmal der Erlangung eines nicht gerechtfertigten Steuervorteils anwenden. Auch bei dieser Erfolgsalternative geht es nämlich, freilich etwas versteckt, um einen steuerlichen Anspruch, diesmal nur in entgegengesetzter Richtung. Der Täter behauptet das Recht auf einen steuerlichen Vorteil, der ihm in Wirklichkeit überhaupt nicht zusteht. In diesem Fall kann sich das Handlungsunrecht der zweiten Erfolgsalternative erst durch die Kenntnis von der fehlenden Existenz eines solchen Anspruchs auf den vom Täter begehrten Steuervorteil ergeben. Erst hierdurch wird in subjektiver Hinsicht eine ausreichende Beziehung zum Steueraufkommen, als das entscheidende Tatobjekt der Vorteilserlangung, hergestellt. 820

Welzel, NJW 1953, S. 486 ff. Hierzu später eingehend unter: A. Die Tathandlung des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO (S. 288). 822 Schon im Ansatz fehl geht daher die Annahme von Müller, Vorsatz und Erklärungspflicht im Steuerstrafrecht, S.  127 ff., die Steueranspruchstheorie wolle lediglich den Umstand abmildern, dass „das Steuerrecht angesichts seiner sozialethischen Neutralität keinen dem Kernstrafrecht entsprechenden Unrechtsimpuls“ vermittle. Dies stelle das „eigentliche hinter der Irrtumsabgrenzung stehende Sachproblem“ dar (Müller, a. a. O., S. 135). Mag dies auch von Vertretern der Steueranspruchstheorie – wie Müller ebenfalls erkennt – selbst immer gern angeführt werden, so ist diese Erwägung doch insgesamt unzutreffend. Natürlich enthält das Steuerrecht selbst keinen Unrechtsimpuls, weil es lediglich um die Entstehung und Durchsetzung eines Steueranspruchs geht (dies erkennt auch Müller, a. a. O., S. 132, dort mit Verweis auf Thomas, NStZ 1987, S. 260 ff.). Entscheidend ist nun aber Folgendes: Auch die zivilrechtlichen Vorschriften über das Eigentum enthalten für sich genommen keinen eigenständigen Unrechtsmakel, weil es ihnen nur um die Ausgestaltung von Rechten an einer Sache geht. Der notwendige „Unrechtsimpuls“ kommt erst dadurch zustande, dass eine Beeinträchtigung der durch außerstrafrechtliche Normen geschaffenen Rechtsinstitute unter Strafe gestellt wird. Dieser ist aber bei dem Diebstahlstatbestand (aus dem Kernstrafrecht) genauso vorhanden wie bei dem Tatbestand der Steuerhinterziehung. Ebenfalls auf Unverständnis stoßen die von Höll, Vorsatz bei der Steuerhinterziehung, S. 86 ff., geäußerten Erkenntnisse, die Steueranspruchslehre sei „bislang nicht überzeugend begründet worden“, ferner sei sie „überflüssig“, weil sich die von ihr gezogene Rechtsfolge ohnehin aus den allgemeinen Anforderungen an den Vorsatz ergebe (Höll, a. a. O., S. 107 ff.). Diese Ausführungen bedürfen einer Richtigstellung: In Anbetracht der bisherigen Erörterungen lässt sich die Behauptung von einer fehlenden dogmatischen Begründung nicht halten. Denn es ist der große Gewinn der „Steueranspruchstheorie“, dass sie die allgemeingültigen Anforderungen an den Vorsatz auf die Steuerhinterziehung übertragen hat. Mehr (aber auch nicht weniger) wollte Welzel, NJW 1953, S. 486 ff., nicht sagen, als er in dem genannten Aufsatz (den sich der BGH, BGHSt 5, S. 90 ff. [sog. Kakaobutter-Entscheidung], zu eigen gemacht hat) den Grundstein für die Steueranspruchstheorie gesetzt hat. 821

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(3) Ist die Steuerhinterziehung ein Blankett? Gelangt man selbst dann zur Steueranspruchstheorie, wenn man mit dem Bundesgerichtshof und einigen Stimmen aus der Literatur die Steuerhinterziehung als Blanketttatbestand begreifen möchte, so sagt dieses Auslegungsergebnis für den Tatbestandscharakter durch einen gezielten Rückschluss eine ganze Menge aus.823 Die steuerrechtlichen Ausfüllungsnormen, auf die der Tatbestand unstreitig Bezug nimmt, können wegen der geltenden Tatbestandsbeschreibung nur einen unselbständigen Teil der Tatbestandsmerkmale Steuerverkürzung und Erlangung eines ungerechtfertigten Steuervorteils bilden. Schließlich sind diese zwar bei dem dort vorzunehmenden Vergleich zwischen der festgesetzen (Ist-) und der geschuldeten (Soll-)Steuer bzw. zwischen dem tatsächlichen (Ist-) und dem materiell-rechtlich zu beanspruchenden (Soll-)Vorteil heranzuziehen. Das strafrechtlich relevante Ergebnis der unzureichenden Steuerfestsetzung bzw. der ungerechtfertigten Vorteilsgewährung kann jedoch vollständig dem Tatbestand des § 370 AO entnommen werden. Genau dieses Ergebnis, das sich aus der vorherigen Herleitung der Steueranspruchstheorie ergibt, spricht bereits grundlegend gegen die Annahme eines Blanketttatbestandes. Versteht man doch hierunter allgemein nur einen Tatbestand, der die unter Strafe gestellte Handlungsweise nicht selbst (im Strafgesetz) vollständig enthält. Im Gegensatz zu einem vollständigen Straftatbestand mit normativen Merkmalen, bei denen nur eine Wertung ggfs. aus dem außerstrafrechtlichen Bereich erforderlich ist,824 wird bei Blankettstrafgesetzen schon im Vorfeld das strafrechtliche Ver- oder Gebot überhaupt erst durch die Ausfüllungsnorm aus dem außerstrafrechtlichen Bereich verständlich.825 Wendet man dies auf die Steuer­ hinterziehung an, so muss aus der Unselbständigkeit des Steuerrechts – denn das Strafrecht verweist nicht auf konkrete Merkmale aus einem Steuergesetz, sondern auf eine aus diesen Gesetzen stammende Rechtsfolge (Steueranspruch) – nun im Umkehrschluss gefolgert werden, dass sich das Merkmal der Steuerverkürzung als vollständig erweist und insofern nur auf das steuerrechtliche Ergebnis (Steuer­ anspruch) Bezug nimmt.826 Im Hinblick auf die Tatbestandsvariante des § 370 823 Vgl. zur Notwendigkeit der Steueranspruchstheorie auch bei Annahme eines Blanketttatbe­ standes Ransiek, wistra 2012, S. 365 ff. [366 f.]; ders., in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 662. 824 Roxin, Strafrecht AT/I, § 19 Rn. 58. 825 Für das allgemeine Strafrecht: BGHSt 6, S. 30 [40 f.]; Warda, Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettgesetzen, S.  5, passim; Maurach/Zipf, Strafrecht AT/1, § 8 Rn. 30 f.; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 111; Roxin, Strafrecht AT/I, § 5 Rn. 40; Schmitz, in: MüKo-StGB, § 1 Rn. 53; Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorbem. § 1 Rn. 3; Dannecker, in: LK-StGB, § 1 Rn. 148 f. 826 Dies ist heute die überwiegende Ansicht im Schrifttum: Welzel, NJW 1953, S.  486 ff.; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn.  27; ders., HRRS 2009, S.  421 ff. [424]; ders., Festschrift für Tiedemann, S.  171 ff. [186 ff.]; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 13 ff. u. 322 ff.; Wulf, wistra 2001, S. 41 ff. [43 f.]; ders., Stbg 2012, S. 19 ff.; Tiedemann, ZStW 107 S. 643 f.; Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 22; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn.  46; Puppe, in: NK-StGB, § 16

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Abs. 1 Nr. 1 AO handelt es sich jedenfalls insgesamt nicht um einen Tatbestand, der die Zuwiderhandlung gegen ein sich aus den Steuergesetzen originär ergebendes Ver- oder Gebot unter Strafe stellt.827 Dies ließe sich zwar mit einem Gebot zur Steuerzahlung noch konstruieren, ist allerdings ersichtlich nicht Anknüpfungspunkt der Sanktion. Vielmehr wird das vertypte Unrecht der Steuerhinterziehung abschließend durch den Tatbestand charakterisiert, indem die dort vorausgesetzte Täuschung eine zu niedrige Steuerfestsetzung bewirken muss.828 Dem Tatbestand kann daher das vollständige Verbot entnommen werden: „Du sollst nicht durch unrichtige oder unvollständige Angaben über steuererhebliche Tatsachen entweder eine Steuerverkürzung herbeiführen oder hierdurch ungerechtfertigte Steuervorteile erlangen.“829 Dass es zur genauen Klärung der Strafbarkeit stets der Heranziehung steuerrechtlicher Wertmaßstäbe bedarf, die mitunter schwierige Rechtsfragen bereithalten, kann schon deswegen kein anderes Ergebnis rechtfertigen, weil es sich dabei um kein gültiges Abgrenzungskriterium zwischen Blankett­ tatbeständen und einem vollständigen Tatbestand mit normativen Merkmalen handelt.830 Anderenfalls müsste das Merkmal „fremd“ im Diebstahlstatbestand, da es einer bisweilen nicht minder komplexen zivilrechtlichen Prüfung bedarf, doch mit dem gleichen Argument ein Blankett sein. Richtig ist hieran nur, dass die aufgezeigten Tatbestände des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO sowie § 242 Abs. 1 StGB zwar ihr zugrundeliegendes Verbot, nebst der darin enthaltenen Unrechtstypisierung, hinreichend beschreiben, aber zu ihrer weitergehenden Auslegung die Heranziehung außerstrafrechtlicher Normen unentbehrlich ist.831 Denn ihnen kommt die wichtige Aufgabe zu, die Tatobjekte des Straftatbestandes (Steueranspruch und Steueraufkommen) zu konstituieren, welche sich – indem zwischen Tatobjekt und Rechtsgut eine direkte Ableitungsbeziehung besteht – letztlich als der von § 370 AO geRn. 22; ­Dannecker, in: LK-StGB, § 1 Rn. 149; ders., Festschrift für Achenbach, S. 83 ff. [88 f.]; Walter, Festschrift für Tiedemann, S. 969 ff.; ferner die von Warda betreute Dissertation von v. d. Heide, Tatbestands- und Vorsatzprobleme bei der Steuerhinterziehung, S. 170 ff. [199 ff.]; aber auch Bachmann, Vorsatz und Rechtsirrtum im Allgemeinen Strafrecht und im Steuerstrafrecht, S. 167 ff.; Backes, Zur Problematik der Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum im Steuerstrafrecht, S. 158 f.; Fissenewert, Der Irrtum bei der Steuerhinterziehung, S. 193 ff. 827 Zur Unterlassungsvariante des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO siehe die weiteren Ausführungen. 828 Siehe nur v.  d.  Heide, Tatbestands- und Vorsatzprobleme bei der Steuerhinterziehung, S. 170 ff.; Dannecker, in: LK-StGB, § 1 Rn. 149. 829 Vgl. insofern auch Wulf, wistra 2001, S. 41 ff. [44]. 830 Dies verkennen u. a. Maiwald, Unrechtskenntnis und Vorsatz im Steuerstrafrecht, S. 15 f.; Warda, Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettgesetzen, S.  13 f.; Ransiek, Festschrift für Tiedemann, S. 171 ff. [172]. 831 BVerfGE  78, S.  205 [213 f.]; Schlüchter, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, S.  23; v.  d.  Heide, Tatbestands- und Vorsatzprobleme bei der Steuerhinterziehung, S.  172: „Bei normativen Tatbestandsmerkmalen verschiebt sich mit der Veränderung rechtlicher Wertvorstellungen nur der Anwendungsbereich der strafrechtlichen Gebots- oder Verbots­normen, während bei den Blankettnormen sich der Inhalt des rechtlichen Sollens, das materielle Verbot oder Gebot, mit der Änderung der ausfüllenden Vorschrift selbst verändert. Insofern konstituieren die das „Blankettmerkmal“ ausfüllenden Normen erst das vollständige Strafgesetz; normative Tatbestandsmerkmale beschreiben lediglich dessen Inhalt.“

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

schützte Gegenstand darstellen.832 Durch das Steuerrecht wird also in einem ersten Schritt das zu schützende Gut überhaupt erst konstituiert und dann in einem zweiten Schritt durch den Tatbestand der Steuerhinterziehung dem strafrechtlichen Schutz unterstellt. Das Merkmal der Steuerverkürzung, sowie die steuerliche Erheblichkeit der Tatsache und die Erlangung ungerechtfertigter Steuervorteile können sich demnach nur als ein normatives Tatbestandsmerkmal darstellen.833 Des Weiteren lässt sich aus den vorangegangenen Ausführungen zur Steueranspruchstheorie und dem Blankettcharakter eine weitere Schlussfolgerung ziehen. Sofern der Einordnung des § 370 AO als Blanketttatbestand (mit der Blankettverweisung „Steuerverkürzung“ und „ungerechtfertigter Steuervorteil“) durch die allseits anerkannte Steueranspruchstheorie die eigene Widersprüchlichkeit vorgehalten wird,834 ist diese Kritik nur teilweise berechtigt. Denn würde sich – was allerdings in dieser Arbeit soeben widerlegt wurde – die Steuerhinterziehung als echtes Blankett erweisen, so wäre nicht jeder Steuerrechtsirrtum stets nur als ein (wohl weitestgehend vermeidbarer) Verbotsirrtum zu qualifizieren.835 Entscheidend ist nämlich der Umstand, dass sich der Tatbestand eines Blanketts zwar aus mehreren Normen zusammensetzt, jedoch die dort genannten Merkmale – auch der Ausfüllungsnorm – natürlich vom Vorsatz umfasst sein müssen. Die Blankettstrafgesetze sind daher, wenn man sie erst einmal zusammengesetzt hat, nach den für jeden Straftatbestand geltenden Regeln zu behandeln.836 Für die Steuerhinterziehung hieße es, dass der Täter die relevanten Umstände im Hinblick auf die den Steueranspruch begründenden steuerrechtlichen Vorschriften kognitiv und voluntativ erfassen muss. Oder anders gewendet, ein für den Tatvorsatz relevanter Irrtum gemäß § 16 Abs. 1 StGB kann sich durchaus dann ergeben, wenn der Täter die Merkmale der steuerrechtlichen Vorschriften kognitiv nicht zutreffend erfasst. Sollten diese Merkmale nicht nur solche deskriptiver, sondern auch normativer Natur sein (zu denken wäre bsplw. an „zugeflossen“ im Sinne des § 11 Abs. 1 S. 1 EStG oder auch an „Arbeitslohn“ im Sinne des § 38 Abs. 1 EStG), muss der Täter auch die dahinter stehende (hier: steuerrechtliche) Wertung, der Vorgang habe also eine steuerrechtliche Auswirkung, zumindest laienartig erfassen.837 Es zeigt sich also, dass 832 Hierzu Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, Rn. 100, 108; zust. Dannecker, in: LK-StGB, § 1 Rn. 149; ders., Festschrift für Achenbach, S. 83 ff. [87]; v. d. Heide, Tatbestands- und Vorsatzprobleme bei der Steuerhinterziehung, S. 194 ff. 833 Siehe Fn. 826. 834 So u. a. Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 47: „Im Ergebnis treffen diese Auffassungen [die Steueranspruchstheorie, Anm. d. Verf.] zwar zu, mit der Einordnung des § 370 AO als Blankettstrafgesetz sind sie aber nicht zu vereinbaren.“ 835 So aber u. a. Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 22 a. E.; Weidemann, wistra 2006, S. 132 f. 836 Dies ist weitgehend unstreitig! Siehe nur Warda, Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, S.  36 f.; ders., JR 1950, S.  546 ff. [550 f.]; Welzel, MDR 1952, S. 584 ff. [586]; Puppe, in: NK-StGB, § 16 Rn. 60; Sternberg-Lieben, in: Schönke/ Schröder, StGB, § 15 Rn. 100 ff. 837 Zur „Parallelwertung in der Laiensphäre“ bei normativen Tatbestandsmerkmalen BGHSt 3, S.  248 [255]; zum Begriff erstmals Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd.  III, S. 146 ff.; Vogel, in: LK-StGB, § 16 Rn. 25 ff. m. w. N. Zum Steuerstrafrecht ganz konkret das BayObLG, DB 1981, S.  874 ff. [875]: „Im vorliegenden Fall wird die Blankettbestimmung ‚über steuerlich erhebliche Tatsachen‘ des § 370 AO durch § 11 Abs. 1 S. 1 EStG ausgefüllt; sie ist zu lesen, wer ‚über zugeflossene Einnahmen‘ falsche Angaben macht. ‚Zugeflossen‘ ist ein normatives Tatbestandsmerkmal. Bei einem solchen genügt für den Vorsatz nicht schon

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Blanketttatbestände durchaus normative Tatbestandsmerkmale enthalten können, weshalb die geläufige Unterscheidung zwischen Blanketttatbeständen und Tatbeständen mit normativen Merkmalen irreführend ist. Man wird wohl treffender zwischen „vollständigen“ und „unvollständigen“ Tatbeständen unterscheiden müssen. Lässt man sich daher auf den Gedanken ein, die Steuerhinterziehung wäre ein Blanketttatbestand durch und durch, dann darf nicht jeder Irrtum über steuerrechtliche Normen automatisch zu einem unbeachtlichen Subsumtionsirrtum degradiert werden, sondern kann zum Teil einen Tatbestandsirrtum darstellen.838 Irrt der Täter nämlich nicht nur über die bloße Subsumtion eines Sachverhaltes unter ein Steuergesetz, sondern fehlt ihm schon die für normative Tatbestandsmerkmale erforderliche Wertvorstellung, so kann ihn nicht der Vorwurf einer vorsätzlichen Steuerhinterziehung treffen, sondern es bliebe nur Raum für eine leichtfertige Steuerverkürzung gemäß § 378 AO. Da diese Arbeit ohnehin davon ausgeht, dass es sich bei der Steuerhinterziehung um einen vollständigen Straftatbestand mit den normativen Merkmalen Steuerverkürzung und nicht gerechtfertigte Vorteilserlangung handelt, muss insoweit keine Antwort auf die Frage gefunden werden, welche Tatbestandsmerkmale in den einschlägigen Steuergesetzen wohl ein solches – für den Vorsatz relevantes – normatives Gepräge besitzen. Es liegt der Gedanke nicht fern, dass die Steuergesetze aufgrund ihrer bewusst allgemein gehaltenen – fast schon konturenlosen – Regelungen839 vorwiegend bewertungsbedürftige Tatbestandsmerkmale enthalten.

Nimmt man abschließend § 370 Abs.  1 Nr.  2 AO in den Blick und untersucht diesen Unterlassungstatbestand der Steuerhinterziehung auf seinen Deliktscharakter (Blanketttatbestand oder vollständiger Tatbestand mit normativen Tatbestandsmerkmalen) hin, so wird man hier jedoch unter Zugrundelegung der vorangegangenen Ausführungen zu einem anderen Ergebnis gelangen müssen. Das pflichtwidrige In-Unkenntnis-Lassen der Finanzbehörde wird schließlich erst durch das Hineinlesen der konkreten Erklärungspflicht aus dem jeweiligen Ein­ zelsteuergesetz zu einer Verhaltensnorm vervollständigt und ist dementsprechend zu Recht ein Blankett.840 die Kenntnis der reinen Tatsachen.“ Ähnlich Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 335, für die Unterlassungsvariante (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO). Aber auch der BGH, wistra 2010, S. 29 f. [30] für das in § 41a Abs. 1 EStG enthaltene Merkmal „Arbeitgeber“: „Der Angeklagte wusste auch um sämtliche Umstände, die seine Stellung als Arbeitgeber begründeten. Bei der gegebenen Sachlage hat er daher auch den für die Unrechtsbegründung wesentlichen Bedeutungsgehalt des Tatbestandsmerkmals ‚Arbeitgeber‘ i. S. v. § 266a StGB und § 41a EStG und – daraus folgend – die damit einhergehenden Pflichten erfasst. Die Einlassung des Angeklagten, er sei gleichwohl davon ausgegangen, keine Arbeitgeberstellung gegenüber den [von ihm angestellten, Anm.d.Verf.] Prospektverteilern einzunehmen, ist nicht geeignet, ein anderes Ergebnis zu begründen. […] Denn ein solcher Irrtum würde vorliegend lediglich einen den Vorsatz des Angeklagten nicht berührenden Subsumtionsirrtum darstellen […].“ Dieses Urteil, das die Tatvariante des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO betrifft, bedarf allerdings in Gänze der Klarstellung (dazu sogleich auf S. 231). An dieser Stelle soll es nur belegen, dass auch der BGH den Ausfüllungsnormen des Steuerrechts einen normativen Charakter zuweist. 838 So schon vollkommen zu Recht für das Steuerstrafrecht Schlüchter, wistra 1985, S. 43 ff. [45]; ähnl. nun auch Ransiek, wistra 2012, S. 365 ff. [367]. 839 Als Paradebeispiel dient sicherlich § 22 Nr. 3 EStG (sonstige Einkünfte aus Leistungen). 840 Siehe hierzu Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 17; Puppe, in: NK-StGB, § 16 Rn. 61; Bachmann, Vorsatz und Rechtsirrtum im Allgemeinen Strafrecht und im Steuerstrafrecht, S. 194; Wulf, wistra 2001, S. 41 ff. [43].

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Aus diesem Ergebnis werden wiederum teilweise Folgerungen für den subjektiven Tatbe­ stand abgeleitet, die alles andere als unumstritten sind. Um nun die bisherigen Ausführungen zu den Vorsatzanforderungen bei der Steuerhinterziehung abzurunden, soll auf diese besondere Problematik der Blankettverweisung im Unterlassensbereich näher eingegangen werden. Im Kern geht es hierbei um die Frage, ob die fehlende Kenntnis von dem Bestehen der verletzten Erklärungspflicht ein Tatbestandsirrtum oder doch eher ein Verbotsirrtum darstellen soll. Die Rechtsprechung und ein Teil der Literatur will Letzeres annehmen.841 Für die Rechtsprechung wird hierbei wohl der Schulterschluss zum Kernstrafrecht im Vordergrund stehen. Dort wird der Irrtum über Handlungspflichten seit jeher deshalb als Verbotsirrtum angesehen, weil die bloße Pflicht zum Handeln – das zentrale Anliegen der Gebotsnorm – ähnlich der Pflicht, eine Handlung zu unterlassen – Ausfluss der Verbotsnorm – außerhalb des äußeren Tatbestandes stehe, auf den sich der Vorsatz zu erstrecken habe.842 Ähnlich argumentiert die Literatur, indem sie auf die Wirkung von Blanketttatbeständen verweist, wonach die Kenntnis um die Einschlägigkeit der Strafnorm und damit auch der Erklärungspflicht selbst nicht zum Vorsatz gehöre.843 Anders sei dies nur dann zu beurteilen, wenn der Blankettbegriff „pflichtwidrig“ auf ein normatives Tatbestandsmerkmal verweise, so dass es zusätzlich einer laienartigen Wertvorstellung über dieses Merkmal bedürfe.844 Die Gegenansicht innerhalb der Literatur – vertreten u. a. von Hellmann – stellt demgegenüber die Unterschiede zwischen dem allgemeinen und dem Steuerstrafrecht besonders heraus. Der Täter könne den sozialen Unwert einer Steuerhinterziehung doch erst erkennen, wenn er eine Vorstellung von seiner Erklärungspflicht habe.845 Liegen die dogmatischen Argumente auch auf der Seite der Rechtsprechung und überwiegenden Lehre, so wird sich zumindest in der Praxis eine genaue Auseinandersetzung häufig deshalb nicht stellen, weil der Täter bei jeder Tatvariante des § 370 AO durch die Tathandlung entweder Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Vorteile erlangt haben muss. Der Täter muss demzufolge ohnehin wissen, dass er bzw. ein Dritter entweder eine Steuer schuldet oder er auf den gewährten Vorteil keinen Anspruch hat. Der fehlenden Vorstellung über die Erklärungspflicht wird daher häufig entweder der Irrtum zugrunde liegen, überhaupt keine Steuern zu schulden bzw. den Vorteil rechtmäßig erlangt zu haben, oder andererseits eine bloße Schutzbehauptung darstellen. Denn es ist zumindest bei einem steuerlich nicht völlig unerfahrenen Bürger zu einem Großteil ausgeschlossen, dass er die tatsächlich bestehende Steuerschuld und ihre unzureichende Festsetzung für möglich hält und billigend in Kauf nimmt, aber dennoch glaubt, jedenfalls insgesamt nicht zu einer Erklärung verpflichtet zu sein.846 841

BGH, wistra 1986, S. 219; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 334 ff.; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, AO, § 370 Rn. 236; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 665 ff.; Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 144d. 842 BGHSt 16, S. 155 (unechtes Unterlassungsdelikt);19, S. 295 [298 f.] (echtes Unterlassungs­ delikt). 843 Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 13 ff. u. 329 ff.; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 668. 844 Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 335. 845 Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 235. 846 Ohne Weiteres denkbar ist eine solche Konstellation jedoch im Falle der Berichtigungspflicht gemäß § 153 AO. Hat ein Steuerpflichtiger eine unrichtige oder unvollständige Erklärung abgegeben und ist dies geeignet, eine Steuerverkürzung herbeizuführen, so ist er zur unverzüglichen Berichtigung verpflichtet. Hier kann ein Steuerpflichtiger durchaus dem Trugschluss erliegen, dass er zur Beseitigung für ihn günstiger Fehler nicht verantwortlich ist.

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Einen beide Ebenen – also sowohl die Erklärungspflicht als auch die Steuerverkürzung – betreffenden Irrtum hatte zuletzt der Bundesgerichtshof zu entscheiden.847 Dort hatte es ein Arbeitgeber unterlassen, die entstandene Lohnsteuer für seinen Arbeitnehmer anzumelden und – steuerstrafrechtlich allerdings unbeachtlich – abzuführen848. Das Tatgericht und auch der Bundesgerichtshof sah eine Lohnsteuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO in Verbindung mit § 41a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG trotz der Einlassung des Angeklagten, er sei nicht von einer Arbeitgeberstellung ausgegangen, als erfüllt an. Schließlich habe der Angeklagte die Umstände, die seine Stellung als Arbeitgeber begründen, gekannt und auch die Bedeutung des Tatbestandsmerkmals „Arbeitgeber“ nebst der daraus folgenden Pflichten zutreffend erfasst. Die Fehlvorstellung des Angeklagten stelle demnach nur einen für den Tatvorsatz unbeachtlichen Subsumtionsirrtum dar.849 Dies kann nach den vorangestellten Ausführungen nur eingeschränkt gelten. Richtig ist, dass im Hinblick auf das (echte) Blankettmerkmal „pflichtwidrig“ die vorsätzliche Verwirklichung der in Bezug genommenen Tatbestandsmerkmale der Ausfüllungsnorm des § 41a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG genügt. Folgerichtig muss der Täter weder die Einschlägigkeit der Ausfüllungsnorm, die mit ihr einhergehenden Erklärungspflicht, noch die Strafbarkeit erkennen.850 Soweit diesbezüglich normative Tatbestandsmerkmale (hier insbesondere: Arbeitgeber, Lohn, Lohnsteuer) vorausgesetzt sind, muss der Täter neben den tatsächlichen Umständen auch die notwendige Bedeutungskenntnis aufweisen. Der Bundesgerichtshof hat diese Erfordernisse als vom Tatgericht hinreichend festgestellt angesehen. Es lässt sich an dieser Stelle allerdings schon danach fragen, ob der Angeklagte nicht etwa über das ebenfalls zur Erklärungspflicht gehörende Merkmal „Lohnsteuer“ geirrt hat. Teilweise bestehen diese Pflichten nämlich nicht losgelöst von dem verwirklichten Steueranspruch, sondern machen ihn zugleich zu ihrer Voraussetzung.851 Ist demnach der Steueranspruch selbst ein die Erklärungspflicht konstituierendes Tatbestandsmerkmal, so muss sich der Vorsatz denklogisch – mitsamt seiner für normative Merkmale notwendigen Bedeutungskenntnis  – hierauf erstrecken. Dieser Umstand findet bisher nicht genügend Beachtung, so dass sich auch der Bundesgerichtshof nur mit den subjektiven Anforderungen des Merkmals „Arbeitgeber“ befasste. Spätestens beim Vorsatz bezüglich der Steuerverkürzung hätte es dann aber zum Schwur kommen müssen. Da diese Voraussetzung notgedrungen die Kenntnis des Steueranspruchs einschließt, hätte die Einlassung des Angeklagten entweder als Schutzbehauptung entlarvt oder als Tatbestandsirrtum gewertet werden müssen.852 Der Bundesgerichtshof tat nichts von beidem, sondern ignorierte vielmehr auch dieses Merkmal der Steuerhinterziehung.

847

BGH, wistra 2010, S. 29 f. [30]; siehe bereits Fn. 837. Siehe aber § 380 Abs. 1 AO. 849 Siehe Fn. 837. 850 Vgl. Schlüchter, wistra 1985, S. 43 ff. [49]; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 329. 851 Vereinfacht ausgedrückt: Erst wenn der Steuerpflichtige eine Steuer schuldet, ist er zur Erklärung verpflichtet. Siehe neben § 41a EStG auch § 25 Abs. 3 S. 1 EStG i.Vm. § 56 EStDV („Gesamtbetrag der Einkünfte mehr als“). 852 So auch Weidemann, wistra 2010, S. 463 ff.; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 662. 848

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

(4) Die Steueranspruchstheorie und das Kompensationsverbot Letztlich können auch die Wirkungen des Kompensationsverbotes gemäß § 370 Abs. 4 S. 3 AO für den Vorsatz relevant sein. Ist nämlich bei Eingreifen des Kompensationsverbotes nicht schon der objektive Tatbestand mangels einer für das Steueraufkommen gefährlichen Handlung (Steuererstattungsfälle) zu verneinen,853 so kann der Täter durchaus dem Irrtum unterliegen, der letztlich hinterzogene Steuer­ anspruch sei durch nicht erklärte Minderungsgründe wesentlich geringer. Auch diese Fehlvorstellung lässt sich mit der geltenden Steueranspruchstheorie nahtlos in Einklang bringen. Denn der Täter irrt in den geschilderten Fällen letztlich genauso über den für die Steuerhinterziehung maßgeblichen Steueranspruch, wie wenn er aufgrund von ihm angenommener, aber aus rechtlichen Gründen nicht bestehender steuerrechtlicher Minderungsgründe den verkürzten Steueranspruch nicht erkennt. Nur weil der vom Täter hinterzogene Anspruch in den Fällen des Kompensationsverbotes zumindest teilweise aufgrund strafrechtlicher Vorschriften entstanden ist, kann plötzlich kein von der vorherrschenden Steueranspruchstheorie abweichendes Ergebnis gelten. Schließlich würde niemand die Erheblichkeit dieses Irrtums in Frage stellen, wenn das Kompensationsverbot keine (steuer-)strafrechtliche, sondern eine rein steuerrechtliche Vorschrift wäre. Aus welchen Vorschriften sich der verkürzte Steueranspruch letztendlich ergibt, spielt für den auf genau diesen Anspruch bezogenen Verkürzungsvorsatz überhaupt keine Rolle. Dieser Umstand wird bisher nicht selten verkannt, indem die beschriebenen Fälle von einem erheblichen Teil der Lehre als „Irrtum über das Kompensationsverbot“ bezeichnet werden und man sodann zu dem Ergebnis gelangt, dass sich der Irrtum rein auf das strafrechtliche Verbot beziehe und daher ein Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB darstellen müsse.854 Diese Schlussfolgerung lässt sich natürlich nach dem bisher Dargestellten schon deshalb nicht halten, weil die hier in Rede stehenden Fallgestaltungen richtigerweise als „Irrtum über den (strafrechtlichen) Steueranspruch aufgrund des Kompensationsverbotes“ bezeichnet werden müssen und daher ein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum gemäß § 16 StGB viel näher liegt.855 Natürlich gilt dieser nur in Höhe der bewusst nicht erklärten Minderungsgründe, so dass im Übrigen der Vorwurf der Steuerhinterziehung weiterhin bestehen bleibt.856 853

Siehe bereits: b) Unberechtigte Systemkritik (S. 182) und aa) Objektiver Tatbestand (S. 197). So aber Ransiek, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 674; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 155; Bachmann, Vorsatz und Rechtsirrtum im Allgemeinen Strafrecht und im Steuerstrafrecht, S. 181 f.; Schindhelm, Das Kompensationsverbot im Delikt der Steuerhinterziehung, S. 181 ff. 855 So bereits E. Becker, RAO, § 359 Anm. 7: „Dem Steuerpflichtigen muß bewußt sein, daß durch sein Verhalten die Steuer im Ergebnis geringer festgesetzt wird. Das ist nicht der Fall, wenn er aus irgendwelchen Gründen – z. B. weil er das Gerede im Ausschuß scheut – einen Spekulationsgewinn verschweigt, zur Ausgleichung aber sein Einkommen aus Arbeit entsprechend höher angibt.“ 856 Meine, wistra 2002, S. 361 ff. [364]; a. A. Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 247, der den BGH, wistra 1991, S. 107 f., dahingehend verstehen will, dass ein ent 854

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Verfehlt wäre es nun, mit Meine die ersatzlose Streichung des Kompensationsverbotes zu fordern.857 Unwidersprochen führt die Annahme eines Tatbestand­irrtums zu einer erheblichen Einengung der Regelungswirkung des § 370 Abs. 4 S. 3 AO; ihre Nutzlosigkeit kann daraus nicht hergeleitet werden. Sofern nämlich der Zweck des Kompensationsverbotes heutzutage darin gesehen wird, eine spätere isolierte Doppelberücksichtigung von Minderungsgründen zu verhindern,858 muss sich der Vorsatz auf diese Verfahrenssituation beziehen: Greift das Kompen­sationsverbot ein, so ist es für den Vorsatz nach dem bereits Dargestellten grundsätzlich erforderlich, dass der Täter in einer Parallelwertung in der Laiensphäre (in Bezug auf das Tatbestandsmerkmal Steuerverkürzung oder Erlangung eines un­gerechtfertigten Steuervorteils) die unzureichende Festsetzung eines zum Teil originär strafrechtlichen Steueranspruchs erkennt. Hierfür ist es aber keineswegs unbedingte Voraussetzung, dass dem Täter die genauen Wirkungen des Kompen­sationsverbotes vertraut sind.859 Die für den Vorsatz erforderliche Bedeutungskenntnis kann im Hinblick auf den spezifischen Regelungszweck des Kompensationsverbotes bereits angenommen werden, wenn der Täter die Gefahr der Doppelberücksichtigung von verschwiegenen Minderungsgründen erkennt und einen solchen Ausgang billigend in Kauf nimmt. Schließlich wird man in subjektiver Hinsicht nicht mehr verlangen können, als die laienhafte Kenntnis von genau der Situation, vor der § 370 Abs. 4 S. 3 AO den Fiskus schützen will. Ferner wird ein Tatbestandsirrtum ohnehin nicht mehr in Betracht kommen, wenn dem Steuerpflichtigen die Wirkungen des Kompensationsverbotes genau bekannt sind.860 In der Praxis wird es sich daher nicht selten lohnen, nach einschlägiger Vorerfahrung des Beschuldigten Ausschau zu halten und eine entsprechende Einlassung des Angeklagten als Schutzbehauptung zu entlarven. cc) Exkurs: Steuerhinterziehung trotz geleisteter Steueranrechnungsbeträge? Die vorbenannte Strafbarkeitsbegrenzung abstrakter Gefährdungsdelikte könnte ferner für eine bisher in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung problematisierte Fallgruppe von praktischer Bedeutung sein. Es geht dabei um die Frage, ob eine Steuerhinterziehung in Form der Steuerverkürzung auch dann zu bejahen ist, wenn sprechender Irrtum, der nicht zum völligen Entfallen des Steueranspruchs führt, nur im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigen werden muss. 857 Meine, wistra 2002, S. 361 ff. [364 a. E.]. 858 Siehe ausführlich: 1. Verletzung oder Gefährdung? (S. 169). 859 Zu Recht zweifelnd auch Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 155: „Ob deshalb allerdings schon dann, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Steuerpflichtige seinen Erstattungsanspruch kennt, der Nachweis des Tatvorsatzes ‚nicht vorstellbar‘ ist, erscheint zu weitgehend […].“ 860 Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn.  132, spricht von einem Tatbestandsirrtum der „nur einmal möglich ist“. Zust. Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 155.

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

der Täter zwar eine gesamte Einkunftsquelle verschweigt (z. B. Lohn), aber hierauf tatsächlich bereits Beträge in der Vergangenheit entrichtet wurden, die nach Maßgabe des § 36 Abs. 2 EStG (z. B. Lohnsteuer) auf die festgesetzte Einkommensteuer angerechnet werden müssen.861 Dieses vornehmlich steuerstrafrechtliche Problem ist bisher unter dem steuerrechtlichen Gesichtspunkt der Verlängerung der Festsetzungsverjährung nach Maßgabe des § 169 Abs. 2 S. 2 AO in Erscheinung getreten. Wie bereits im 1. Teil dieser Arbeit erläutert, verlängert sich die Festsetzungsfrist von 1 bzw. 4 Jahre auf 10 Jahre, soweit eine Steuer hinterzogen wurde. Liegt ein Fall der leichtfertigen Steuerverkürzung gemäß § 378 AO vor, so wird die Frist immerhin auf 5 Jahre ausgeweitet. Will also die Finanzbehörde eine getroffene Steuer­festsetzung über die reguläre Festsetzungsfrist hinaus ändern, etwa weil ihr neue Einkunftsquellen zur Kenntnis gelangt sind, muss dem Steuerpflichtigen diesbezüglich eine Steuerhinterziehung bzw. leichtfertige Steuerverkürzung nachgewiesen werden. In diesen Fällen sei, so die Gesetzesbegründung, die Ermittlung der zutreffenden Steuerfestsetzung durch die unrichtigen Angaben des Steuerpflichtigen oder Dritten derart erschwert, dass ein längeres „Offenhalten“ des Steuerfalles gerechtfertigt erscheine.862 Blickt man nun einmal auf den zu erfüllenden Steuerhinterziehungstatbestand, so kann man für die skizzierten Fälle das eigentliche Problem in der strikten Trennung der unterschiedlichen Verfahrensstadien ausmachen. Die Anrechnung von Steuerabzügen oder Vorauszahlungen durch die sog. Anrechnungsverfügung ist nämlich Teil  des sich erst an die Steuerfestsetzung anschließenden Erhebungsverfahrens.863 Eine Berücksichtigung geleisteter Anrechnungsbeträge findet daher im Festsetzungsverfahren nicht statt, so dass die Nichterklärung einer Einkunftsquelle, mag dafür auch ein Steuerabzug oder Vorauszahlungen vorgenommen worden sein, unweigerlich zu einer zu niedrigen Festsetzung der Jahressteuer und damit (formal) zu einer tatbestandsmäßigen Steuerverkürzung nach Maßgabe des § 370 Abs. 4 S. 1 AO führt. Die tatsächlich geleisteten Anrechnungsbeträge können daher allenfalls im Rahmen der Strafzumessung, wenn es also um die Ermittlung des tatsächlich eingetretenen Steuerschadens als entscheidenden Unrechtsfaktor geht, Eingang in die strafrechtliche Bewertung finden.864 Demzufolge haben sowohl das Finanzgericht München als auch auch das Schleswig-Holsteinische Finanzgericht in einem so gelagerten Fall den objektiven Tatbestand der Steuer­ hinterziehung mit der Begründung bejaht, die Einbehaltung und Abführung der 861 Zu diesen hier in Rede stehenden Steueranrechnungsbeträge kommen für die vorliegenden Fälle insbesondere die Einkommensteuer-Vorauszahlung gemäß § 37 EStG, die bereits genannte Lohnsteuer gemäß §§ 38 ff. EStG und die Kapitalertragsteuer gemäß §§ 43 ff. EStG in Betracht. Für die Kapitalertragsteuer düfte sich allerdings mit Einführung der Abgeltungswirkung gemäß § 32d EStG (ab dem Veranlagungszeitraum 2009) das hier aufgezeigte Problem weitestgehend erledigt haben. Siehe dazu Wulf, Stbg 2009, S. 133 ff. [136 f.]. 862 BT-Drucks. VI/1982, S. 150. 863 BFH, BStBl. III 1967, S. 214; Ettlich, in: Blümich, EStG, § 36 Rn. 51. 864 BGH NStZ 2002, S. 485; Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 1029.9; Lindwurm, AO-StB 2007, S. 218 ff. [220].

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Kapitalertragsteuer (vor Einführung der Abgeltungswirkung) durch die auszah­lende Stelle berühre weder die Erklärungspflicht noch die Höhe der Einkommensteuer.865 Der Bundesfinanzhof hat in seinen daraufhin ergangenen Revisionsentscheidungen die hier aufgeworfene steuerstrafrechtliche Problematik allerdings unbeantwortet gelassen. Bezüglich der Entscheidung des Finanzgericht SchleswigHolstein habe diese Fragestellung schon deshalb offen bleiben können, weil die Anrechnungsvoraussetzungen nicht vollständig vorgelegen hätten, so dass die Beträge – unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – steuerstrafrechtlich ohnehin nicht zu berücksichtigen seien.866 Hinsichtlich der Entscheidung des Finanzgericht München  – bei der sämtliche Voraussetzungen für eine Anrechnung gegeben waren – sei eine Verlängerung der Festsetzungsverjährung aufgrund einer begangenen Steuerhinterziehung gemäß § 169 Abs. 2 S. 2 AO schon dem Grunde nach ausgeschlossen. Dies sei nur dann anzunehmen, wenn dem Fiskus ein „Anspruch auf Abschlusszahlung“ zustehe, so dass es auf eine Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung nicht ankomme.867 Dies bedarf einer kurzen Erläuterung des der zuletzt genannten Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhaltes: Dort hatte sich nämlich nicht etwa das steuerpflichtige Ehepaar gegen eine eventuell für sie nachteilige Änderung ihres Steuer­ bescheides durch die Finanzbehörde gewehrt, sondern selbst eine Änderung (im Ergebnis) zu ihren Gunsten geltend gemacht. Denn die von ihnen nicht angegebenen Einkünfte aus Kapitalvermögen hätten im Fall ihrer Angabe unter gleichzeitiger Anrechnung der tatsächlich geleisteten Kapitalertragsteuer letztendlich sogar zu einer Steuererstattung geführt. Da aber eine Anrechnung der bereits gezahlten Kapitalertragsteuer nach Maßgabe des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG nur dann erfolgen kann, wenn zugleich die dazugehörigen Steuern festgesetzt werden, hätte es also zuerst einer Korrektur des Einkommensteuerbescheides in Höhe der bisher nicht angegebenen Kapitalerträge bedurft.868 Diese nachträgliche Änderung begehrten die Steuerpflichtigen jedoch erst nach Eintritt der regelmäßigen Festsetzungsverjährung, so dass sie eine Selbstanzeige bzw. strafbefreiende Erklärung (nach dem StraBEG) abgaben und nun strafbefreit auf die zehnjährige Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 S. 2 AO verwiesen. Gegen eine solche Verfahrensweise wandte sich der Bundesfinanzhof mit der nachvollziehbaren Überlegung, die in Rede stehende Fristverlängerung verfolge allgemein nicht den Zweck, dem „Steuerhinterzieher“ eine für ihn günstige Änderung über die regelmäßige Festsetzungsverjährung hinaus zu ermöglichen, sondern wolle nur dem geschädigten Steuergläubiger die Mög 865 FG München, EFG 2006, S. 473 f. = wistra 2006, S. 470; FG Schleswig-Holstein, EFG 2008, S. 95 ff. 866 BFH, BStBl. II 2009, S. 842 (fehlende Bescheinigung der Kapitalertragsteuer gemäß § 45a Abs. 2 EStG). Kritisch dazu Wulf, Stbg 2009, S. 133 ff., indem es steuerstrafrechtlich allein darauf ankommen soll, ob Kapitalertragsteuer tatsächlich angemeldet und auch abgeführt wurde. 867 BFH, BStBl. II 2008, S. 659. 868 Zu dieser besonderen Voraussetzung wird sogleich noch einmal ausführlich zurückzu­ kommen sein. Siehe zur Anrechnungsvoraussetzung insbesondere die Nachweise in Fn. 881.

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

lichkeit einräumen, hinterzogene Steuern über einen längeren Zeitraum einzutreiben. Aus diesem vom Bundesfinanzhof hergeleiteten Verbot der Besserstellung des Steuerhinterziehers ergibt sich schließlich die steuerverfahrensrechtliche Einschränkung, dass § 169 Abs. 2 S. 2 AO nur dann zur Anwendung kommen soll, wenn dem Fiskus tatsächlich ein Schaden entstanden ist – ihm also noch ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis zusteht, der bisweilen noch nicht realisiert wurde. Aus diesem Ergebnis will insbesondere Rolletschke den Taterfolg der Steuer­ verkürzung entsprechend der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zu § 169 Abs. 2 S. 2 AO um den sog. Anspruch des Fiskus auf Abschlagszahlung modifizieren.869 Schließlich sei die Steuerhinterziehung ein Gefährdungsdelikt, das sich auf die Realisierung des kraft Gesetzes verwirkten Steueranspruchs beziehe. Gefährdet sei dieser Steueranspruch nur in der nicht titulierten Höhe, wobei es hierbei nur um den Betrag gehe, wie er sich aus der Anrechnungsverfügung und nicht schon aus der vorhergehenden Festsetzungverfügung ergebe. Hiergegen spreche auch nicht das Kompensationsverbot gemäß § 370 Abs. 4 S. 3 AO, soweit man bei dem sich so darbietenden Verkürzungsbegriff die Anrechnungsbeträge als Minderungsgründe berücksichtigen müsse, da diese unmittelbar auf die verschwiegenen Einnahmen zurückgingen.870 Die vorbenannte Lösung Rolletschkes ist allerdings nicht frei von Bedenken. Gegen sie spricht nämlich schon die vorherrschende steuerverfahrensrechtliche Gesetzmäßigkeit. „Tituliert“ wird nach Maßgabe des § 218 Abs. 1 AO die gesetzlich entstandene Steuerforderung weder durch die Anrechnungsverfügung noch durch das sich auf die Abschlusszahlung (§ 36 Abs.  4 S.  1 EStG)871 beziehende Leistungsgebot, sondern allein durch die vorgelagerte Steuerfestsetzung. Nur sie bildet die Grundlage der sich anschließenden Erhebung und Vollstreckung.872 Über die sich direkt aus dem Gesetz ergebende Trennung von Festsetzungs- und Erhebungsverfahren bestehen aus steuerverfahrensrechtlicher Sicht also keine ernstzunehmenden Zweifel.873 Will Rolletschke dennoch die vom Steuerpflichti 869

Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn.  102a; ders., wistra 2006, S. 471 f. (Anm. zu FG München, EFG 2006, S. 473 f.); ders., wistra 2009, S. 332 ff.; zust. Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 50a; Wulf, Stbg 2009, S. 133 ff.; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 404. Ähnlich aber auch schon Lindwurm, AO-StB 2007, S. 218 ff. [220 ff.], der bei der Ermittlung des Verkürzungserfolges auch die erhobenen Steuern (Steuer-Ist) berücksichtigen will. Demzufolge müsste man auch die festgesetzten bzw. angemeldeten und geleisteten Vorauszahlungen berücksichtigen. 870 Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn.  102a; ders., wistra 2009, S. 332 ff. [333]. Ähnlich aber auch Wulf, Stbg 2009, S. 133 ff. 871 Soweit in dieser Vorschrift vom „Steuerbescheid“ gesprochen wird, ist dies nicht im technischen Sinn zu verstehen, sondern meint den Bescheid, der die Steuerfestsetzung und die Anrechnungsverfügung verbindet. Siehe dazu Ettlich, in: Blümich, EStG, § 36 Rn. 244. 872 Heute ganz h. M. (siehe schon Fn.  73  – 2.  Unterabsatz); u. a. Kruse, in: Tipke/Kruse, AO, § 249 Rn. 2; Beermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 249 Rn. 21; Intemann, in: Pahlke/Koenig, AO, § 218 Rn. 5. 873 Zu dieser steuerrechtlichen Wirkung im Rahmen der Lohnsteuerhinterziehung siehe auch BGHSt 56, S. 153 ff.

1. Abschn.: Der strafrechtliche Charakter der Steuerhinterziehung 

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gen geleisteten Vorauszahlungen bereits bei der Feststellung des Taterfolges berücksichtigen, so kann er zu diesem Ergebnis nur gelangen, wenn er den Begriff „Steuer­festsetzung“, wie er in § 370 Abs. 4 S. 1 AO für die Steuerverkürzung verwandt wird, anders versteht als im übrigen Steuerverfahrensrecht. Für das Steuer­ strafrecht müsste die Steuerfestsetzung also auch das Erhebungsverfahren mit einschließen. Natürlich wäre eine solche Deutung, wie es Lindwurm bereits aufgezeigt hat, durchaus im Bereich des Auslegbaren.874 Es stellt sich dann allerdings die Frage, ob ein solches Ergebnis nicht mehr schadet, als dass es nutzt. Immerhin wird bei dieser Deutung im selben Gesetz ein einheitlicher Begriff, der noch dazu von erheblicher Bedeutung ist, verschiedenartig verstanden. Im Sinne der Normenklarheit sollte auf die soeben dargestellte Lösung daher allenfalls dann zurückgegriffen werden, wenn kein anderer Ausweg besteht. Dass aber eventuell ein solcher vorhanden ist, gilt es im weiteren Verlauf aufzuzeigen. Schon verschiedenenorts wurde nachgewiesen, dass die unterlassene Zahlung einer im Bescheid zutreffend festgesetzten Steuer für den Tatbestand der Steuerhinterziehung unbeachtlich ist, weil es nur darauf ankommt, ob dem Steuergläubiger durch die Festsetzung bzw. Anmeldung die Möglichkeit zur weitergehenden Realisierung der Steuerforderung mittels Zwangsvollstreckung gegen den Willen des Steuerpflichtigen eingeräumt wurde. Hieraus muss zugleich gefolgert werden, dass eine vorgenommene Zahlung eine einmal begründete oder noch zu begründene Steuerhinterziehung nicht entfallen lässt. Denn eine Zahlung des Steuerpflichtigen ohne die dazugehörige Festsetzung führt selbst dann zu einem Erstattungsanspruch, wenn der gesetzliche Steueranspruch tatsächlich existiert. Erst durch die Steuerfestsetzung – gleichgültig welcher Rechtsgrundtheorie man folgen mag – kann sich der Fiskus auf den gesetzlichen Steueranspruch berufen.875 Aus diesem Grund sind für den Tatbestand der Steuerhinterziehung geleistete Zahlungen auf einen existierenden Steueranspruch solange unbeachtlich, bis dieser nicht in einem konkreten Steuerbescheid festgesetzt wurde. Der Steuerpflichtige handelt demgemäß sogar dann tatbestandsmäßig, wenn er trotz fehlender Festsetzung keinen Erstattungsanspruch geltend machen will. Auch hier erweist sich die Steuerhinterziehung, weil eine Beeinträchtigung des Rechtsgutes in diesen Fällen nicht gesichert ist, als abstraktes Gefährdungsdelikt. Denn auch in den Fällen geleisteter Zahlungen wird man von einer an sich gefährlichen Tathandlung ausgehen müssen. Immerhin hat es der Steuerpflichtige bis zur Zahlungsverjährung gemäß den §§ 228 ff. AO jederzeit in der Hand, seinen Erstattungsanspruch durchzusetzen, mag er dies anfänglich auch nicht geplant haben. 874

Lindwurm, AO-StB 2007, S. 218 ff. [221 f.]. BFH/NV 1998, S. 1455 ff. (im Falle einer Zahlung auf ein unwirksamen Steuerbescheid entstehe der Erstattungsanspruch ungeachtet der materiellen Rechtslage bereits im Zeitpunkt der Zahlung) und die ganz h. M. im Schrifttum, siehe u. a. Boeker, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 37 Rn. 36; Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, § 37 Rn. 29, 42; Söhn, Festschrift für Kruse, S. 239 ff. A. A. BFH (7. Senat), BStBl. II 1997, S. 112; BFH/NV 1996, S. 866 ff., sofern es bei der Tilgungswirkung allein auf die materielle Rechtslage und nicht auf die Steuerfestsetzung ankommen soll; gegen diese Auslegung ausdrücklich und überzeugend Söhn, a. a. O. 875

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

Es ist daher zu konstatieren, dass abstrakten Gefährdungsdelikten ein genereller Minimalismus gemein ist, der sich als Segen und Fluch zugleich darstellt. Einerseits bewahren sie den Rechtsanwender vor einer zuweilen schwierigen Feststellung der Rechtgutsschädigung. Andererseits geraten sie wegen ihrer Abkopplung vom Rechtsgut selbst in Gefahr, das Strafrecht zu konterkarieren, indem sie teilweise ein Unrecht anzeigen, wo es bei genauerem Hinsehen keines gibt. Nun ergibt sich Letzteres für die hier angesprochenen Steueranrechnungsfälle, die einen wesentlichen Unterschied zu den bloßen Zahlungen aufweisen. Dazu muss man sich zuerst die genauen steuerverfahrensrechtlichen Wirkungen von Vorauszahlungen vergegenwärtigen. Den durch einen Steuerabzug erhobenen Steuern oder entrichteten Vorauszahlungen liegt jeweils eine Festsetzung der Finanzbehörde bzw. einer dieser gleichstehenden Anmeldung zugrunde.876 Die Zahlung dieser Beträge geschieht somit steuerverfahrensrechtlich nicht ohne formellen und materiellen Rechtsgrund.877 Mit dieser Entrichtung auf die entstandene Vorauszahlungsschuld als eigenständiger Steueranspruch erlangt der Steuerpflichtige zugleich einen Erstattungsanspruch unter der aufschiebenden Bedingung, dass die Jahressteuer geringer ist als die Summe der geleisteten Vorauszahlungen.878 Ergeht nach Ablauf des Veranlagungszeitraumes der Jahressteuerbescheid, so tritt dieser Verwaltungsakt an die Stelle der bisherigen Festsetzung bzw. Anmeldung, die sich damit gemäß § 124 Abs. 2 AO auf andere Weise erledigt hat. Die weitere Realisierung richtet sich nun alleine nach der endgültigen Festsetzung der Jahressteuer, so dass eine weitere Vollstreckung aus dem Vorauszahlungsbescheid oder der Anmeldung der Steuerabzugsbeträge nicht mehr erfolgen darf.879 Erst aus dieser mit dem endgültigen Steuerbescheid verbundenen Ablösefunktion wird man nicht bereits mit dem Wortlaut des § 370 Abs. 4 S. 1 AO argumentieren können, die Steuer sei doch „in voller Höhe festgesetzt“ worden, gleichgültig ob dies zum Teil im Jahressteuerbescheid und im Vorauszahlungsbescheid oder mittels Anmeldung geschehe. Die maßgebliche Höhe der Steuerfestsetzung ergibt sich bei diesem Verständnis daher allein aus dem ergangenen Jahressteuerbescheid, ohne Berücksichtigung ggfs. festgesetzter Vorauszahlungen oder angemeldeter Steuerabzüge. Obwohl demzufolge ein durch und durch tatbestandsmäßiges Verhalten gegeben ist, kann der Steuerpflichtige keinen Profit aus der von ihm geschaffenen Steuerrechtslage schlagen. Die gezahlten, aber im Jahressteuerbescheid verschwiegenen 876

Die Vorauszahlungen werden gemäß § 37 Abs. 3 S. 1 EStG i.Vm. § 167 Abs. 1 S. 2 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt. Die Lohnsteueranmeldung gemäß § 41a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO und die Anmeldung der einbehaltenen Kapitalertragsteuer gemäß § 45a Abs. 1 S. 1 EStG steht nach Maßgabe des § 168 S. 1 AO einer Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich. 877 Boeker, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 37 Rn. 45. 878 BFH, BStBl. II 1979, S. 639. 879 BFH (GrS), BStBl. II 1995, S. 730; Brockmeyer/Ratschow, in: Klein, AO, § 37 Rn. 7; Boeker, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 37 Rn. 46.

2. Abschn.: Rechtsgutsbeeinträchtigung durch „Fristerschleichung“ 

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und somit nicht ausgewiesenen Anrechnungsbeträge können von der Finanz­ behörde nicht in einem getrennten Verfahren erstattet werden, sondern müssen als ordnungsgemäße Anrechnungsbeträge im Rahmen der Veranlagung gemäß § 36 Abs. 4 EStG berücksichtigt werden.880 Gibt der Steuerpflichtige bei der Finanzbehörde an, dass Vorauszahlungen geleistet oder Steuern im Wege des Steuer­abzuges erhoben wurden, so ist er gleichzeitig gezwungen, die entsprechende Einkunftsquelle offenzulegen. Der Fiskus wird dann die bisher verschwie­genen Einkünfte berücksichtigen881 und zugleich eine Änderung der Anrechnungsverfügung nach der Vorschrift des § 130 Abs. 1 AO vornehmen.882 Ist es demzufolge schlichtweg ausgeschlossen, dass lediglich die Steuerzahlungen bei der Festsetzung berücksichtigt werden, ohne gleichzeitg die bisher verheimlichte Einkunftsquelle in Ansatz zu bringen, so kann das Rechtsgut zu keiner Zeit einen relevanten Schaden nehmen. Die Handlung stellt sich in diesen Fallgestaltungen daher objektiv als ungefährlich dar, so dass ein tatbestandsmäßiges Verhalten hierin nicht erblickt werden kann. Abweichendes wird nur dann zu gelten haben, wenn – wie in der Entscheidung des Finanzgerichts Schleswig-Holstein – die Voraussetzungen für eine rechtmäßige Anrechnung tatsächlich nicht gegeben sind, weil bsplw. eine Bescheinigung (als materielle Voraussetzung für eine Anrechnung) bisher nicht vorgelegt worden ist und auch zukünftig nicht vorgelegt werden kann. In diesen Fallkonstellationen ist weiterhin von einer gefährlichen Tathandlung auszugehen, da der Täter sich durch die niedrigere Steuerfestsetzung faktisch eine Anrechnung verschafft, die er materiell-rechtlich nicht beanspruchen kann; und somit droht, dass das Steuer­aufkommen um die selbstverschaffte Anrechnung vermindert wird.

2. Abschnitt

Rechtsgutsbeeinträchtigung durch „Fristerschleichung“ Nachdem das Rechtsgut der Steuerhinterziehung präzisiert und der Tatbestand in das strafrechtliche Deliktsgefüge eingepasst wurde, steht nun die Antwort auf die Frage aus, ob die Fälle der „Fristerschleichung“ einen entsprechenden Bezug zum geschützten Steueraufkommen aufweisen. Von entscheidender Bedeutung ist 880 BFH, BStBl. II 2008, S. 353; Ettlich, in: Blümich, EStG, § 36 Rn. 43; Brockmeyer/Ratschow, in: Klein, AO, § 37 Rn. 37. 881 Dies ist sogar für eine Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen zwingende Voraussetzung! Denn eine solche Anrechnung kann gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG nur dann geschehen, wenn die durch Steuerabzug erhobene Einkommensteuer auf die bei der Veranlagung erfassten Einkünfte entfällt. Die gezahlte Lohnsteuer kann also nur dann angerechnet werden, wenn genau diese Lohnzahlungen als Einkünfte in der Veranlagung erfasst wurden, siehe dazu Gosch, in: Kirchhof, EStG, § 36 Rn. 7. 882 BFH, BStBl. II 2008, S. 504. Zur Korrektur der Anrechnungsverfügung siehe Ettlich, in: Blümich, EStG, § 36 Rn. 55 ff.

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

dabei der Gedanke, dass das staatliche Vermögen nur insoweit von § 370 AO geschützt wird, als es aus Steuern im Sinne des § 3 Abs. 1 AO stammt.883 Soweit es für die streitigen Fälle immer nur darum geht, dass eine – gemessen am materiellen Steuerrecht – grundsätzlich rechtswidrige Steuerforderung durch den Täter angegriffen wird, muss dieser Forderungsbestandteil notgedrungen zum geschützten Steueraufkommen gehören. Erst dann kann die „Fristerschleichung“ überhaupt in den Anwendungsbereich der Steuerhinterziehung geraten.

A. Die Unbeachtlichkeit der Erfolgseinordnung – zugleich: Das Meinungsspektrum der „Fristerschleichung“ I. Die „Fristerschleichung“ als unproblematischer Fall der Vorteilserlangung? Diese vor die Klammer gezogene Auslegung – denn sie arbeitet nicht erst an den einzelnen Tatbestandsmerkmalen des § 370 AO  – ist ferner unabhängig davon vorzunehmen, ob man die „Fristerschleichung“ im Weiteren unter den Erfolg der Steuerverkürzung oder der Vorteilserlangung subsumieren will. Natürlich ließe sich, ohne an die Grenzen des Wortlautes zu stoßen, in der erneuten Bekanntgabe eines noch nicht bestandskräftigen Steuerbescheides sowie in der Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ein Vorteil mit steuerrechtlichem Bezug erkennen, der schon wegen der nicht gegebenen Änderungsvoraussetzungen als ungerechtfertigt erscheint.884 Die Fälle der „Fristerschleichung“ lassen sich also mit Leichtigkeit unter den Erfolg der ungerechtfertigten Erlangung eines Steuervorteils subsumieren, ohne dass es darüber hinaus eines tiefergehenden Bezugs zum Steueraufkommen bedarf. Bei genauerer Betrachtung widerspricht ein solches Auslegungsergebnis jedoch schon aus dem Grund eklatant den gesetzlichen Wertungen der Steuerhinterziehung, weil sich eine solche Deutung weit am Rechtsgut vorbei bewegt. Schließlich wurde bereits darauf hingewiesen, dass ein Steuervorteil, damit er überhaupt unter den Oberbegriff „Steuerhinterziehung“ gefasst werden kann, eine den Steuer­ertrag mindernde Wirkung bzw. (genauer) ein darauf bezogenes gefährliches Verhalten darstellen muss.885 Wäre dies nicht der Fall, so würde die Steuerhinterziehung mit ihrer Erfolgsalternative Steuervorteil in weiten Teilen nicht das Steueraufkommen, sondern die bloße unrechtmäßige Inanspruchnahme finanzbehördlicher Tätigkei 883

Siehe: a) Die überwiegende Ansicht in Rechtsprechung und Lehre (S. 152). So i.E. Schützeberg, PStR 2010, S. 95 ff., der die Rechtsprechung des BGH zur Steuerhinterziehung durch Feststellungsbescheide auf die Fälle der „Fristerschleichung“ überträgt. In dieser Folgerung zustimmend Weidemann, PStR 2010, 143 f. Siehe hierzu: II. Lösung über BGHSt 53, S. 99? (Schützeberg und Weidemann) (S. 226). 885 Siehe bereits: 1. Der „Steuerbetrug“ (S.  147); dort insesondere die Nachw. in Fn.  585. Für die Fälle der „Fristerschleichung“ ausdrücklich Rolletschke, PStR 2006, S. 163 ff. 884

2. Abschn.: Rechtsgutsbeeinträchtigung durch „Fristerschleichung“ 

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ten unter Strafe stellen. Natürlich soll hier nicht geleugnet werden, dass jede Verwaltungstätigkeit letztendlich aus dem Steueraufkommen finanziert wird. Dass eine solche Schädigung staatlicher Ressourcen dennoch nicht vom Tatbestand der Steuerhinterziehung erfasst sein kann, steht außer Frage. Zum einen ließe sich nicht widerspruchsfrei begründen, warum das Erschleichen einer hoheitlichen Tätigkeit nur im Steuerrecht rigoros unter Strafe gestellt wäre. Im Gegensatz dazu kann sich nämlich im allgemeinen Verwaltungsverfahren (insbesondere nach dem VwVfG des Bundes) eine Strafbarkeit aufgrund einer Täuschung grundsätzlich nur wegen Betruges gemäß § 263 Abs. 1 StGB ergeben. Da dort aber der Eintritt eines Vermögensschadens vorausgesetzt wird und das damit zum Schutzgut erkorene Vermögen nach überwiegender Ansicht nur die im „Wirtschaftsverkehr relevanten Gegenstände“886 umfasst, muss für eine dahinge­ hende Tatbestandsmäßigkeit ein so gearteter wirtschaftlicher Schaden eingetreten sein.887 Dieser kann natürlich dann angenommen werden, wenn für ein staatliches Handeln eine Gegenleistung verlangt wird und der Täter diese Leistung aufgrund seiner Täuschung bsplw. unberechtigt kostenlos erhält.888 Da jedoch die finanz­ behördliche Tätigkeit einschließlich des Einspruchsverfahrens grundsätzlich kostenfrei ist,889 kann sich nach betrugsrechtlichen Grundsätzen eine entsprechende Strafbarkeit gerade nicht ergeben.890 Zum anderen – und dies dürfte wohl der entscheidende Punkt sein – würden die tatbestandlichen Erfolge bei dieser Deutung ihre Gleichwertigkeit verlieren, indem die Vorteilserlangung zu einem alles umfassenden und vor allem vom Rechtsgut losgelösten Merkmal geriete. Dies zeigt ein Vergleich, welche typischen Verhaltensweisen von den tatbestandlichen Erfolgen unzweideutig erfasst werden. Die Steuerverkürzung hat es zur Aufgabe, diejenigen Verhaltensweisen unter Strafe zu stellen und mithin zu verbieten, die das Eintreiben der gesetzlich entstandenen Steueransprüche vereiteln, indem sie durch ein täuschendes Verhalten unzureichend gemäß § 370 Abs. 4 S. 1 – 1. Hs. AO festgesetzt werden. Dass das Steueraufkommen hierdurch allerdings nicht hinreichend geschützt wird, liegt bei einer Betrachtung der steuerrechtlichen Gesetzmäßigkeiten auf der Hand. Schließlich kann es darüber hinaus in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn der Bürger selbst als Steuergläubiger auftritt und sich eines Steueranspruchs (insbesondere eines Steuer­ vergütungsanspruchs nach Maßgabe des § 370 Abs. 3 S. 2 AO) gegen den Fiskus berühmt, der ihm in dieser Art und Weise nicht zusteht. Auch das schmälert in unmittelbarer Weise die Eintreibung des staatlichen Steueraufkommens, so dass in diesen Fällen von einer „Hinterziehung von Steuern“ gesprochen werden kann. Die 886

Cramer/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 263 Rn. 78a. BGHSt 38, S. 345; Cramer/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 263 Rn. 78a m. w. N. 888 BayObLG, NJW 1955, S. 1567 f.; Hefendehl, in: MüKo-StGB, § 263 Rn. 416; Cramer/ Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 263 Rn. 78a; Tiedemann, in: LK-StGB, § 263 Rn. 146. 889 Rüsken, in: Klein, AO, § 178 Rn. 1. 890 Ähnl. BGH, NJW 1955, S. 1526 (Studienplatzerschleichung); Cramer/Perron, in: Schönke/ Schröder, StGB, § 263 Rn. 78a. 887

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

Erlangung ungerechtfertigter Steuervorteile lässt sich daher bildlich am ehesten mit dem „Griff in die (Steuer-)Kasse“891 und die Steuerverkürzung mit dem „Vorbeigehen an der (Steuer-)Kasse ohne Bezahlung“892 beschreiben. Es handelt sich dem äußeren Erscheinungsbild nach um zwei unterschiedliche Konstellationen,893 deren Gemeinsamkeit im Erhalten und Behalten des Steueraufkommens zwecks weiterer Verwendung zu erblicken ist. Dieser Schutzbereich des § 370 AO ist hingegen dann nicht betroffen, wenn zwar ein Verwaltungsverfahren unrechtmäßig betrieben, hierbei aber auf die Steuereintreibung selbst nicht eingewirkt wird. Eine solche Vorgehensweise betrifft letztlich allein die weitere Verwendung von Steuermitteln, indem sie zur Durchführung eines Verwaltungsverfahrens – mag es auch ein steuerrechtliches sein – eingesetzt werden. Ein strafrechtlicher Schutz findet in diesem Bereich nur partiell etwa durch den Subventionsbetrug gemäß § 264 StGB oder im weiteren Sinn durch das Vortäuschen einer Straftat gemäß § 145d StGB statt.894 Für die Strafbarkeit einer Steuerhinterziehung kann jedoch in keinem Fall jedweder steuerverfahrensrechtliche Vorteil genügen, der von der Finanzbehörde zu Unrecht gewährt wurde. Vielmehr muss eine gültige Tathandlung zugleich eine gefährliche Verhaltensweise für das Steueraufkommen darstellen, so dass nicht nur die Auslegung der Steuerverkürzung, sondern auch des ungerechtfertigten Steuervorteils unweigerlich zum Begriff des Steueraufkommens führt, wie er letztlich § 3 Abs. 1 AO zugrunde liegt.895 II. Lösung über BGHSt 53, S. 99? (Schützeberg und Weidemann) An dieser Überlegung kommt man entgegen den Ausführungen von Schützeberg896 auch mit der bereits angesprochenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Steuerhinterziehung durch Feststellungsbescheide nicht vorbei.897 Dort ist nur die Rede davon, dass ein Steuervorteil in einer „hinreichend konkreten Gefährdung des Steueranspruchs“ gesehen werden kann. Unterstellt man einmal die Wahrheit dieser These, dass nämlich eine „konkrete Gefährdung“ – die in dieser Arbeit allerdings schon widerlegt wurde – erforderlich ist und zudem der „Steueranspruch“ des Fiskus – dessen Schutz doch im Grunde der Steuerverkürzung obliegt – erfasst wird, dann trägt diese Entscheidung dennoch nichts zur Klärung un 891 Natürlich nur mittelbar durch den Finanzbeamten, indem dieser den ungerechtfertigten Steuervorteil gewährt. Vgl. zum Begriff „Griff in die Kasse“ auch die Rspr. des BGH, NStZ 2012, S. 331 ff., zum großen Ausmaß gemäß § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO. 892 Wobei auch eine zu geringe oder verspätete „Bezahlung“ (= Festsetzung nicht in voller Höhe oder nicht rechtzeitig gemäß § 370 Abs. 4 S. 1 AO) genügt. 893 A. A. Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 23 Rn. 35, der hierin nur eine unterschiedliche Sicht auf das angegriffene Rechtsgut erblickt. Hierzu später ausführlich unter: 2. Die „Frist­ erschleichung“ als ungerechtfertigter Steuervorteil (S. 279). 894 Siehe Hellmann, in: NK-StGB, § 264 Rn. 9 f.; Zopfs, in: MüKo-StGB, § 145d Rn. 5. 895 Völlig zu Recht Ransiek, in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 426. 896 Schützeberg, PStR 2010, S. 95 ff. 897 BGHSt 53, S. 99; siehe dazu bereits eingehend Fn. 719 u. 720.

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serer Fälle der „Fristerschleichung“ bei.898 Allein „gefährdet“ wird, um bei dem Duktus der Entscheidung zu bleiben, nur der Anspruch in überschießender unrechtmäßiger Höhe aus dem Steuerbescheid. Genau dieser wird aber nach materiellem Steuerrecht von dem Steuerpflichtigen überhaupt nicht geschuldet. Soweit daher Schützeberg zu Recht erkennt, dass „die Finanzbehörde durch einen wahrheitswidrig begründeten Antrag auf Wiedereinsetzung eines bestandskräftigen Steuerbescheides beraubt“899 wird, ist damit allein das Problem aufgeworfen, aber keineswegs schon beantwortet. Der gleichsam (im darauffolgenden Satz) von ihm gezogene Schluss, dies stelle eine hinreichende Gefährdung des Fiskalvermögens dar,900 ist und bleibt eine Behauptung, die es erst noch zu beweisen gilt. Dieser Frage müsste sich letztlich auch der Bundesgerichtshof stellen, wenn er mit einer „Fristerschleichung“ befasst wäre. Ähnlich fehl gehen auch die Ausführungen Weidemanns, indem er Schützeberg insofern beipflichtet, als dass die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Steuer­hinterziehung aufgrund von Feststellungsbescheiden in den Fällen der Wiedereinsetzungserschleichung zu einem ungerechtfertigten Steuervorteil und demzufolge konsequent zu einer Strafbarkeit führen müsse.901 Dem kann schon aus den bereits dargelegten Gründen gegen die Ausführungen Schützebergs nicht zugestimmt werden. Soweit Weidemann dann allerdings zu dem Ergebnis gelangt, dass  – aufbauend auf den Folgerungen von Schützeberg  – selbst eine „erschlichene Wiedereinsetzung gegen den Grundlagenbescheid als ungerechtfertigter Steuervorteil“ angesehen werden müsste, weil dies zuerst die richtige Feststellung von Besteuerungsgrundlagen, dann die zutreffende Titulierung des Steueranspruchs und letztlich den Steueranspruch selbst gefährde, zeigt sich im Grunde, dass ihm wohl eine ganz andere Fallgestaltung vorschwebte: Mit der erschlichenen Wiedereinsetzung sollte erst die spätere – auch nach materiellem Recht – unrichtige Feststellung von Besteuerungsgrundlagen bewirkt und als Letztes die falschen Feststellungen im Festsetzungsverfahren eingereicht werden. Es geht Weidemann also nicht um die Frage der Fristerschleichung im Falle einer überschießenden Steuerfestsetzung, sondern vielmehr um die ursprüngliche Entscheidung des Bundesgerichts 898 Die hier „ausgeklammerten“ Umstände werden bei der „Fristerschleichung“ nochmal eine entscheidende Rolle spielen: 2. Die „Fristerschleichung“ als ungerechtfertigter Steuervorteil (S. 279). 899 Schützeberg, PStR 2010, S. 95 ff. 900 Wobei insofern schon die Formulierung von Schützeberg, PStR 2010, S. 95 ff.: „In diesen Fällen dürfte […] die Verletzung des Fiskalvermögens hinreichend gefährdet sein […].“, unglücklich ist. 901 Weidemann, PStR 2010, S.  143 ff.: „Wenn aber bereits die Gefährdung des Steueranspruchs für die Qualifizierung als Steuervorteil genügt, dann ist folglich jede  – auf dem Tätigwerden der Finanzbehörde beruhende – Besserstellung des Steuerpflichtigen, auch wenn das Stadium der Festsetzung noch nicht erreicht ist, Steuervorteil, somit auch die Wieder­ einsetzung. Diese Konsequenz leitet Schützeberg mit Recht aus der zitierten BGH-Entscheidung ab.“

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

hofs zu der Strafbarkeit von unrichtigen Feststellungsbescheiden. Diese treibt er geradezu auf die Spitze, wenn er den dortigen Ausgangsfall um eine Wiedereinsetzungserschleichung nach vorne verlagert und nun mit der vom Bundesgerichtshof gegebenen Definition des Steuervorteils immer noch zu einer Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung gelangt. Weidemann beweist damit auf eindrucksvolle Art und Weise, dass der Bundesgerichtshof jegliche Abgrenzungssystematik zwischen den beiden Erfolgen der Steuerhinterziehung (Steuerverkürzung und ungerechtfertigter Steuervorteil) außer Acht gelassen hat. Denn unbeantwortet ließ der Bundesgerichtshof die sich geradezu aufdrängende Frage, ob ein ungerechtfertigter Steuervorteil auch dann angenommen werden kann, wenn die steuerliche Vergünstigung vom Täter nur zu einer späteren Steuerverkürzung benutzt wird.902 So berechtigt diese Kritik Weidemanns an der Entscheidung des Bundesgerichtshofs auch sein mag, sagt sie dennoch erst einmal nichts über die in dieser Arbeit behandelten und von Schützeberg ins Auge gefassten Fälle einer überschießenden Steuerfestsetzung aus. Schließlich hat letzterer die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Steuerhinterziehung durch Feststellungbescheide doch nur deshalb herangezogen, weil sie dort den Erfolg des ungerechtfertigten Steuervorteils präzisiert. Schützeberg hat also lediglich versucht, die Fälle der „Frist­ erschleichung“ unter die Definition des Bundesgerichtshofs zum ungerechtfertigten Steuervorteil zu subsumieren, ohne allerdings der Frage nachzugehen, welcher „Steueranspruch“ bzw. (allgemeiner) welches Steueraufkommen denn nun gefährdet sein soll. Das von Weidemann aufgezeigte Problem, ob schon das Gewähren einer unberechtigten Wiedereinsetzung selbst eine vollendete Steuerhinterziehung darstellen kann, wird erst später akut, wenn nämlich feststeht, dass die allein im Steuerbescheid ausgewiesene Steuerforderung zum strafrechtlich geschützten Steueraufkommen gehört. Soweit der Bundesgerichtshof in der Erlangung des unrichtigen Grundlagenbescheides bereits einen ungerechtfertigten Steuervorteil erblickt, ist es aus dieser Warte betrachtet nur ein kleiner Schritt hin zur Gewährung einer ungerechtfertigten Wiedereinsetzung. Sollte daher in einer „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ gesondert über die Wiedereinsetzung entschieden werden, wäre damit  – wenn man einmal die Vergleichbarkeit der Entscheidung über die Wiedereinsetzung mit dem Ergehen von Grundlagenbescheiden unterstellt – die Steuerhinterziehung bereits vollendet.903 Insgesamt handelt es sich jedoch um ein nachrangiges Problem, das erst anhand der konkreten Tatbestandsmerkmale und ihrer Auslegung gelöst werden kann. Steht dabei doch die Abgrenzung zwischen den Erfolgsalternativen der Steuerhinterziehung im Vordergrund.

902

Zur Abgrenzung der Erfolgsalternativen später unter: 2. Die „Fristerschleichung“ als ungerechtfertigter Steuervorteil S. (279). 903 Siehe zu diesem gesonderten Problem am Ende dieser Arbeit: 2. Die „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ (S. 302).

2. Abschn.: Rechtsgutsbeeinträchtigung durch „Fristerschleichung“ 

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III. Die übrigen Ansichten zur „Fristerschleichung“ 1. Rolletschke und Weyand Die vorherigen Ausführungen haben also gezeigt, dass sich entgegen den Ansichten von Schützeberg und Weidemann die Fälle der „Fristerschleichung“ nicht unabhängig von der Frage des „Steueraufkommens“ unter den Erfolg der Vorteils­ erlangung subsumieren lassen. In ähnlicher Weise muss auch Rolletschke und Weyand widersprochen werden, wenn sie für die Steuerhinterziehung nun umgekehrt folgern, dass die lediglich bestandskräftig festgesetzte, aber materiellrechtlich nicht geschuldete Steuer nicht dem Schutz des § 370 AO unterfällt.904 Schließlich durchbreche der Täter einer „Fristerschleichung“ nur die formelle Bestandskraft, die jedoch im Fall der Steuerverkürzung letztlich ohne Bedeutung sei.905 Demzufolge sei auch in Fällen einer Schätzungsveranlagung infolge einer unter­lassenen Abgabe der Steuererklärung nicht der letztlich festgesetzte, aber bestandskräftige Schätzungsbetrag maßgebend, sondern allein die materielle Steuer­schuld.906 Zutreffend an diesen Ausführungen ist die Tatsache, dass die Bestandskraft für die Steuerhinterziehung im Normalfall unerheblich ist. Gibt der Steuerpflichtige eine unrichtige Steuererklärung gegenüber der Finanzbehörde ab und erreicht er dadurch eine Steuerfestsetzung, die hinter der materiellen Steuerschuld

904 Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn.  119; ders., Steuerstrafrecht, Rn. 96; ders., PStR 2006, S. 163 ff.; Weyand, PStR 2007, S. 134. So neuerdings auch Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 433. Nicht ganz eindeutig sind die Äußerungen von Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 124, sofern sie (unter ausdrücklicher Berufung auf Rolletschke, a. a. O.) zwar feststellen, dass allein in der Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand noch kein Steuervorteil liege, allerdings auch davon ausgehen, dass die zu Unrecht gewährte Wiedereinsetzung die „fehlende Rechtfertigung eines später erlangten weiteren Steuervorteils“ begründen könne. Aus diesen Äußerungen wird nun nicht klar, was mit dem „weiteren Steuervorteil“ gemeint sein soll. Wird nämlich aufgrund der Wieder­ einsetzung erfolgreich das Einspruchsverfahren betrieben, erlangt der Steuerpflichtige eine Herabsetzung seiner festgesetzten Steuerschuld. Betrachtet man dies nun als Vorteil, der aufgrund der Wiedereinsetzung nicht gerechtfertigt ist, dann spricht das doch im Grunde für die Strafbarkeit der „Fristerschleichung“! Insofern bliebe nur die berechtigte Frage, ob diese bereits mit der Wiedereinsetzungsentscheidung – soweit diese überhaupt gesondert ergeht – vollendet ist. Soweit man die Kommentierung von Schmitz/Wulf, a. a. O., in diese Richtung verstehen darf, muss ihnen aber ebenfalls der Vorwurf gemacht werden, dass bis hierher noch nicht der Bezug zum Steueraufkommen  – was aber auch von Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 123 als erforderlich erachtet wird – geklärt wurde. 905 Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 119; ähnlich aber auch Weyand, PStR 2007, S. 134: „Das Interesse des Staates an der Sicherung des ‚wahren‘ Steuer­ aufkommens, mithin das von § 370 AO geschützte Rechtsgut, wurde hierdurch [durch die Frist­erschleichung, Anm. d. Verf.] nicht berührt. Die Bestandskraft von Bescheiden als solche ist […] für die Frage der Steuerverkürzung ohne Belang.“ 906 Siehe Fn. 904.

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

zurück bleibt, dann ändert sich an dieser eingetretenen Steuerverkürzung nichts, wenn die zu niedrige Steuerfestsetzung (Ist-Steuer) bestandskräftig wird. Gleiches gilt, wenn der Steuerpflichtige die Abgabe seiner Steuererklärung insgesamt unterlässt und die Finanzbehörde daraufhin eine Schätzung vornimmt, die wertmäßig ebenfalls nicht die gesetzliche Steuerschuld erreicht. In diesen Fällen ist bereits mit der unzutreffenden Steuerfestsetzung eine vollendete Steuerhinterziehung gegeben, so dass es auf ein Erwachsen in Bestandskraft überhaupt nicht mehr ankommen kann.907 Genauso wenig ist der Strafrichter an eine nachträgliche  – ggfs. bereits bestandskräftige  – Steuerfestsetzung gebunden, wenn die Finanzbehörde nach Entdeckung der Steuerhinterziehung eine Änderung der Steuer­ fest­ setzung auf die nach ihrer Ansicht zutreffende Steuerhöhe (Soll-Steuer) vorgenommen hat. Anderenfalls wäre das dem Strafrichter in § 396 Abs. 1 AO eingeräumte Aussetzungsermessen stillschweigend in eine Aussetzungspflicht umgewandelt, was angesichts der eindeutigen Gesetzgebungsgeschichte nicht über­ zeugen kann.908 Entgegen Rolletschke und Weyand lässt sich daraus allerdings nichts für die Fälle der „Fristerschleichung“ ableiten. Denn diese sind schon deshalb von den übrigen Fällen der Steuerhinterziehung grundverschieden, weil sich die Tathandlung erst im Nachhinein gegen eine zu hohe bestandskräftige Steuerfestsetzung richtet. Soweit diese Fallkonstellation insbesondere von Rolletschke als „Durchbrechung der formellen Bestandskraft“909 beschrieben wird, mag das zwar das Problem sprachlich auf den Punkt bringen, es droht damit aber auch ein ernstzunehmendes Missverständnis. Denn immerhin sieht sich der Steuerschuldner einer Forderung aus dem Steuerbescheid gegenüber, die er durch unwahre Tatsachen gegenüber der Finanzbehörde unweigerlich zum Erliegen bringt. Diese Forderung ist damit das zutreffende Objekt, gegen das sich die Tathandlung richtet und nicht nur allein die formelle oder auch materielle Bestandskraft. Nicht anders stellt sich die Rechtslage in dem von Rolletschke gebildeten Fall dar, dass der Steuerpflichtige die Abgabe seiner Steuererklärung pflichtwidrig unterlässt und es daraufhin zu einer überhöhten Schätzung kommt, die dann sogar in Bestandskraft erwächst910.911 Gibt der Steuerpflichtige nunmehr vor, den Festsetzungsbescheid nicht erhalten zu haben oder erfindet er Wiedereinsetzungsgründe, um dadurch im späteren Einspruchsverfahren mittels Einreichens der geforderten

907

Vgl. Rolletschke, Steuerstrafrecht, Rn. 63. Ausführlich bereits unter: b) Bindung der Strafgerichte an den bestandskräftigen Steuerbescheid? (S. 56). 909 Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 119; ähnlich Weyand, PStR 2007, S. 134; aber auch Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 154b. 910 Hiervon ist allerdings nur auszugehen, wenn die Finanzehörde den „Schätzungsbescheid“ nicht mit einem Nachprüfungsvorbehalt gemäß § 164 Abs. 1 S. 1 AO versehen hat; siehe hierzu BMF AEAO, Zu § 164 Tz. 4. 911 Rolletschke, PStR 2006, S. 163 ff.; ders., Steuerstrafrecht, Rn. 96, ders., in: Rolletschke/ Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 119. 908

2. Abschn.: Rechtsgutsbeeinträchtigung durch „Fristerschleichung“ 

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Steuererklärung gegen die Schätzung vorzugehen, wendet er sich damit gegen die allein im Steuerbescheid ausgewiesene Forderung. Daher muss auch Rolletschke und Weyand das Versäumnis entgegengehalten werden, dass sie sich nicht zuerst damit auseinandergesetzt haben, ob eine bestandskräftige überschießende Steuer­ festsetzung zum Steuer­aufkommen gehört. Im Vergleich zu den übrigen Fällen der Steuerhinterziehung handelt es sich bei der „Fristerschleichung“ also um eine vollkommen andere Art der Deliktsverwirklichung, bei der die geschuldete Steuer (Ist-Steuer) sich eventuell unter Berücksichtigung steuerverfahrensrechtlicher Kriterien bemisst. Soweit Rolletschke für die soeben geschilderte Fallgestaltung sogar zu dem Ergebnis gelangt, dass „niemand auf den Gedanken kommen [wird], dem Steuerpflichtigen eine vollendete Steuerhinterziehung in Höhe des bestandskräftigen Schätzungsbetrages vorzuwerfen“912, bleibt eine solche Folgerung zwar noch abzuwarten, undenkbar ist dies nach bisherigem Kenntnisstand aber bei weitem nicht. 2. Joecks Nach Joecks kann sich eine „Fristerschleichung“ durch eine unrichtige Ände­ rung des bestandskräftigen Steuerbescheides ergeben, wenn der Steuerpflichtige im Rahmen des § 173 Abs.  1 Nr.  2 AO tatsächlich angefallene Werbungskosten nachträglich geltend macht und zugleich ein einschlägiges grobes Verschulden durch unzutreffenden Vortrag herabmildert.913 Zweifelhaft sei insofern, ob es sich um eine Steuerverkürzung handele, da die Steuer nicht materiell geschuldet werde. Allerdings tituliere der bestandskräftige Steuerbescheid den Steueranspruch; dies spreche dafür, dass auch das „Erwirken der Durchbrechung der Bestandskraft“ von der Steuerhinterziehung erfasst werde. Ferner sei fraglich, ob der Täuschende Vorsatz habe „bzw. ob man solche Fälle wirklich anklagen sollte; der Steuerpflichtige ist mit der Bestandskraft des Bescheides i. d. R. hinreichend bestraft.“914 Natürlich hat Joecks Recht, wenn er die Fälle der „Fristerschleichung“ auf das Änderungsverfahren erweitert, indem der Steuerpflichtige prinzipiell eine Änderung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu seinen Gunsten erschleichen kann. Allerdings wird dem Steuerpflichtigen angesichts der eingeschränkten Berichtigungsmöglichkeit, den Unsicherheiten im Zusammenhang mit dem Maßstab des groben Verschuldens und dem strengeren Beweismaß des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO der Weg in die bereits dargestellten Fälle der „Fristerschleichung“ (Grundfall und „Erschleichen der Wiedereinsetzung“) wohl um einiges leichter fallen. Im Übrigen muss auch Joecks derselbe Vorwurf gemacht werden, dass nämlich die Titulierung eines vermeintlichen Steueranspruchs überhaupt noch nichts besagt, solange

912

Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 119. Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 154b. 914 Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 154b. 913

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

nicht geklärt ist, ob dieser Anspruch zum Steueraufkommen gehört. Sollte diese Frage dann aber bejaht werden, wäre es geradezu widersprüchlich, mit Joecks an eine besondere Milde der Strafverfolgungsorgane zu appellieren. Schließlich wäre festgestellt, dass ein vollwertiger Steueranspruch entstanden ist, der dem Schutzbereich des § 370 AO unterfällt. Eine weitere Differenzierung in besonders und weniger schützenswerte Steueransprüche liegt sowohl dem wertneutralen Steuer­ recht als auch dem Steuerstrafrecht fern. Im Übrigen wäre der Steuerpflichtige, wenn die Staatsanwaltschaft von einer Anklage in den Fällen der „Fristerschleichung“ generell absähe, mit seinem überschießenden bestandskräftigen Steuerbescheid doch erst „bestraft“, wenn er mit seiner „Fristerschleichung“ entdeckt würde. Der Steuerpflichtige stünde also vor der – vom Verfasser nicht ganz ernst gemeinten – Wahl, ob er sich entweder sofort mit seinem Steuerbescheid abfindet oder ob er eine „Fristerschleichung“ riskiert. Im denkbar schlimmsten Fall würde er dann entdeckt und müsste sich gleichsam mit seinem Steuerbescheid abfinden. Dass dem strafrechtlichen Verbot der Steuerhinterziehung damit seiner Appellfunktion für die Fälle der Fristerschleichung beraubt wäre, versteht sich von selbst. 3. OLG Hamm v. 14.10.2008 – 4 Ss 345/08 (steuerstrafrechtliche Seite) a) Die Entscheidungen zur „Fristerschleichung“ (AG Münster, LG Münster, OLG Hamm) In dem vom Oberlandesgericht Hamm915 in letzter Instanz entschiedenen Fall zur „Fristerschleichung“ zeigt sich eine ganz ähnliche Begründungsstruktur wie in der bereits dargestellten Literatur: In erster Instanz hat das Amtsgericht Münster den falschen Tatsachen­vortrag des Angeklagten in der an das Finanzgericht gerichteten Klageschrift im Hinblick auf den verpäteten Erhalt des Steuerbescheides als versuchte Steuerhinter­ ziehung gemäß §§ 370 Abs.  1, Abs.  2, 369 Abs.  2 AO in Verbindung mit §§ 22, 23 StGB gewertet.916 Zur Tatbestandsverwirklichung fehle der tatbestandliche Erfolg, da eine Steuererstattung ausgeblieben sei.917 Den Tatentschluss hat das Amtsgericht Münster sodann im Wesentlichen mit folgenden Erwägungen angenommen: „Der Angeklagte hatte Tatentschluss zur Steuerhinterziehung. Es ging ihm bei seinen An­ gaben in der Klageschrift darum, die längst verstrichene Klagefrist zu umgehen, um so den

915

Siehe bereits zur steuerrechtlichen Seite: IV. OLG Hamm v. 14.10.2008  – 4 Ss 345/08 (steuerrechtliche Seite) (S. 134). 916 AG Münster v. 22.02.2007 – 114 Cs 68/06, S. 13 ff. 917 AG Münster v. 22.02.2007 – 114 Cs 68/06, S. 15.

2. Abschn.: Rechtsgutsbeeinträchtigung durch „Fristerschleichung“ 

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bereits bestandskräftigen Umsatzsteuerbescheid 1997 betreffend seiner Mandantin, die Firma F im Wege der Klage aufheben zu lassen und eine Steuererstattung zugunsten seiner Mandantin zu erhalten[.] […] Ob möglicherweise der Steuerbescheid hinsichtlich der Umsatzsteuer 1997 wegen der vom Finanzamt zugrundegelegten Bemessungsgrundlage falsch ist und der niedrigere Pachtzins hätte zugrundegelegt werden müssen, kann keine Auswirkung haben. Es ist eine förmliche Betrachtungsweise auch nach dem Schutzzweck der Norm anzuwenden. § 370 AO schützt als Vermögensdelikt den Anspruch des Steuergläubigers auf den vollen Ertrag der Steuern, also einen wirksamen und durchsetzbaren Anspruch des Staates. Der durch die Klage angefochtene Steuerbescheid titulierte den Umsatzsteueranspruch 1997 gegen die Fa. F. Der Bescheid war bestandskräftig, da er nicht erst im Mai 2004 zugestellt wurde und war wirksame Grundlage für die bereits erfolgte Zahlung der Umsatzsteuer 1997. Die Klage konnte die Klagefrist nicht mehr einhalten und war daher unzulässig. Diese Umstände waren den Angeklagten aufgrund seiner langjährigen Erfahrung als Steuerberater auch bestens bekannt.“918

In der vom Angeklagten eingelegten Berufung sprach das Landgericht Münster ihn aus rechtlichen Gründen frei und verwarf zugleich die auf den Strafausspruch beschränkte Berufung der Staatsanwaltschaft.919 Es ließ dabei ausdrücklich offen, ob der Angeklagte tatsächlich versucht habe, die Klagefrist vor dem Finanz­gericht zu erschleichen. Denn die allein vom Angeklagten möglicherweise erstrebte Frist­ erschleichung sei insgesamt nicht geeignet, eine Steuerhinterziehung zu begründen. Insofern habe sich nämlich nicht feststellen lassen, dass der Angeklagte vor dem Finanzgericht auch materiell-rechtlich wahrheitswidrig vortragen wollte. Gehe man daher zum einen davon aus, dass der vom Angeklagten zugunsten seiner Mandantin geltend gemachten „Erstattungsanspruch“920 überhaupt nicht bestanden habe, also die finanzgerichtliche Klage ohnehin abgewiesen worden wäre, könne der wahrheitsgemäße Vortrag in der Sache weder eine Steuerverkürzung noch ein ungerechtfertigter Steuervorteil darstellen.921 Schwieriger sei zum anderen der Fall zu beurteilen, dass der Steuererstattungsanspruch materiell-rechtlich bestanden haben sollte. Das Landgericht Münster führt zu dem dadurch aufgeworfenen Fall der „Fristerschleichung“ aus: „Weniger eindeutig ist die Rechtslage, wenn der Steuererstattungsanspruch hier materiellrechtlich bestanden haben sollte. Dann wäre dieser mit Ablauf der Klagefrist bestandskräftig zurückgewiesen. Für die Mandantin des Angeklagten wäre ihr Zahlungsanspruch damit faktisch verloren gewesen. Für den Staat wiederum hätte sich eine unerwartete Steuereinnahme ergeben, das – bildlich gesprochen – versuchte Herausnehmen des Geldes aus der Staatskasse durch unwahren Vortrag zur Bestandskraft könnte als versuchte Steuerhinterziehung anzusehen sein, so die Argumentation der Steuerbehörde und der Staatsanwaltschaft. Dieser Fall ist – soweit ersichtlich – noch nicht entschieden. Es gibt Literaturquellen,

918

AG Münster v. 22.02.2007 – 114 Cs 68/06, S. 13 ff. (unveröffentlicht). LG Münster  v.  30.04.2008  – 4 Ns 110/07, S.  2 ff.; zur Berufung der StA OLG Hamm v. 14.10.2008 – 4 Ss 345/08 = wistra 2009, S. 80. 920 Zu den steuerrechtlichen Ungenauigkeiten bereits unter: IV. OLG Hamm v. 14.10.2008 – 4 Ss 345/08 (steuerrechtliche Seite) (S. 134). 921 LG Münster v. 30.04.2008 – 4 Ns 110/07, S. 3 f. 919

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

die sich mit diesem Thema beschäftigt haben und die sagen, dass die ‚Fristerschleichung‘ keine Steuerhinterziehung sei. Dabei wird damit argumentiert, dass Steuerhinterziehung stets nur dann in Betracht komme, wenn das ‚Steuer-Ist‘ hinter dem ‚Steuer-Soll‘ zurückbleibe. Wenn es aber der Bürger durch eine Fristerschleichung erreiche, dass ihm die Steuer zuerkannt werde, die ihm nach dem Steuertatbestand zustehe, seien Steuer-Ist und SteuerSoll identisch. Als weiteres Argument wird angeführt, dass nach den Steuergesetzen nur das ‚wahre‘ Steueraufkommen geschützt werde. Zu fragen sei deshalb allein, ob die in Rede stehende Steuerforderung tatsächlich begründet wurde. Wenn dies zu bejahen sei, führe eine Fristerschleichung nicht zur Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung, da das ‚objektive Steueraufkommen‘ hierdurch nicht tangiert werde. Die Kammer hat sich dieser Ansicht angeschlossen. Der Bundesgerichtshof hat in einem früheren Urteil zu komplett erfundenen Steuersachverhalten (Scheinfirmen, die Vorsteuer-Abzüge geltend machten) einmal ausgeführt, hierbei handele es sich nicht um Betrug im Sinne von § 263 StGB (so noch das Landgericht), sondern um Steuerhinterziehung. Dazu hat der Bundesgerichtshof gesagt, für § 370 AO komme es entscheidend darauf an, ob der vom Täter erstrebte Vorteil ausschließlich auf steuerrechtlichen Regelungen beruhe. Dies lässt sich in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem es um den Vorwurf der versuchten Fristerschleichung geht, schwerlich feststellen, denn im entscheidenden Vorwurf geht es dann um verfahrensrechtliche Vorschriften zur Klagefrist, die mit der Frage des Bestehens des Steuererstattungsanspruches zunächst nichts zu tun haben. Der Wortlaut des § 370 AO spricht auch von Falschangaben zu ‚steuer­ lich erheblichen‘ Tatsachen. Die Definition dazu lautet: Tatsachen sind steuererheblich, wenn sie a) das Entstehen oder die Höhe einer Steuer oder b) die Erhebung oder Vollstreckung eines Steueranspruches betreffen. Weder a) noch b) lassen sich hier bejahen. Es geht bei der Fristerschleichung insbesondere nicht um das Entstehen einer Steuer, die sich allein nach dem materiellen Recht richtet. Was bliebe[,] wäre der eher fade Beigeschmack, dass unwahrer Sachvortrag im Klage­verfahren nicht strafrechtlich verfolgt werden kann. Dies ist jedoch bei dem sogenannten Prozessbetrug nach § 263 StGB nicht anders, wenn der verfolgte zivilrechtliche Anspruch tatsächlich besteht. In diesen Fällen mangelt es letztlich an der Rechtswidrigkeit des erstrebten Vorteils. Andererseits: Würde man der Ansicht der Anklage folgen, und würde man allein auf das Bestehen eines Steuerbescheides abstellen, dann käme eine Steuer­hinterziehung sogar ohne Steuerentstehungstatbestand in Betracht, also an reinen Fantasiesteuern, solange diese nur bestandskräftig festgesetzt sind. Dies dürfte vom Schutzzweck des § 370 AO, der das auf der Grundlage des Gesetzes geplante Steueraufkommen schützen soll, nicht umfasst sein.“922

Das Oberlandesgericht Hamm hat schließlich in letzter Instanz die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Münster mit Beschluss verworfen. Es pflichtete der Rechtsansicht der Vorinstanz bei, dass allein eine „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ keine Steuerhinterziehung begründen könne.923 Denn dies sei nach einhelliger Meinung in Literatur und Rechtsprechung nur an-

922

LG Münster v. 30.04.2008 – 4 Ns 110/07, S. 4 ff. (unveröffentlicht). OLG Hamm v. 14.10.2008 – 4 Ss 345/08 = wistra 2009, S. 80. Dass es sich streng genommen nicht um einen Fall der Wiedereinsetzungserschleichung handelt, wurde bereits erörtert. Siehe hierzu: IV. OLG Hamm v. 14.10.2008  – 4 Ss 345/08 (steuerrechtliche Seite) (S. 134). 923

2. Abschn.: Rechtsgutsbeeinträchtigung durch „Fristerschleichung“ 

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zunehmen, wenn ein materieller Steueranspruch des Staates beeinträchtigt werde, der sich allein aus den materiellen Steuergesetzen ergebe. Demzufolge stelle es entsprechend einer früheren Entscheidung des Bundesgerichtshofs auch keine Steuerhinterziehung dar, wenn ein Steuerberater unter Vorlage gefälschter Belege einen nicht bestehenden Steueranspruch des Finanzamtes zu Fall bringen wolle.924 Ferner habe der Strafrichter eigenständig zu beurteilen, ob eine Steuer verkürzt werde. Eine Bindungswirkung rechtskräftiger Entscheidungen gebe es insofern nicht. Letztlich sei auch bei einer Betrugsstrafbarkeit allein relevant, ob der Anspruch aus materiellen Gründen bestehe.925 b) Die Auseinandersetzung mit den von den Strafgerichten vorgebrachten Argumenten Die vorbenannten Entscheidungen zur „Fristerschleichung“ rekurrieren im Wesentlichen auf die bereits dargestellten Stellungnahmen aus der Literatur. Es verbleibt daher bei der letztlich auch von den Strafgerichten unbeantworteten, aber in dieser Arbeit für notwendig erachteten Frage, ob eine überschießende Forderung zum „Steueraufkommen“ gehört. Zur Vermeidung von Redundanzen widmet sich die weitere Auseinandersetzung nur den von den Strafgerichten erstmals vorgebrachten Argumenten: aa) Keine steuerlich erheblichen Tatsachen und kein steuerrechtlicher Vorteil Das Landgericht Münster hat neben einer Beeinträchtigung des „wahren“ Steuer­aufkommens ferner nicht festzustellen vermocht, dass der Angeklagte gegenüber der Finanzbehörde unrichtige Angaben über steuerlich erhebliche Tat­ sachen gemacht und dadurch einen steuerrechtlichen Vorteil erlangt hat. Einerseits seien steuerliche Tatsachen nur dann erheblich, wenn diese die Entstehung einer Steuer, deren Höhe oder die Erhebung oder Vollstreckung eines Steueranspruchs beträfen. Dies sei bei einer „Fristerschleichung“ nicht gegeben, weil sich das Entstehen einer Steuer allein nach materiellem Recht richte. Andererseits müsse der vom Täter erstrebte Vorteil ausschließlich auf steuerrechtlichen Vorschriften beruhen, was bei einer „Fristerschleichung“ nicht der Fall sei, weil es nur um verfahrensrechtliche Vorschriften zur Klagefrist gehe. Diese Ausführungen können allerdings schon deshalb nicht überzeugen, weil das vom Landgericht Münster gefundene Auslegungsergebnis unter dem Vorbehalt steht, dass die im Steuerbescheid ausgewiesene Forderung für die Steuer 924

BGH, wistra 1983, S. 114 ff. OLG Hamm v. 14.10.2008 – 4 Ss 345/08 = wistra 2009, S. 80.

925

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

hinterziehung insgesamt nicht von Bedeutung ist. Nur dann lässt sich überhaupt der Schluss ziehen, dass die (rein) steuerverfahrensrechtlichen Regelungen über die Wiedereinsetzung für das Steueraufkommen und damit für die Steuerhinterziehung unerheblich sind. Zu der vorgelagerten Frage, ob eine rechtswidrige, aber bestandskräftige Steuerforderung zum Steueraufkommen zählt, haben die mit der „Fristerschleichung“ befassten Gerichte keine Stellung bezogen, so dass die nachgelagerte Subsumtion schon dem Grunde nach nicht tragen kann. Gleiches gilt im Übrigen für das vom Landgericht Münster vorgetragene Argument, die Steuerhinterziehung schütze keine „reinen Fantasiesteuern“. Gelangt man nämlich zu dem Ergebnis, dass eine überschießende, aber letztlich in einem Steuerbescheid bestandskräftig festgesetzten Steuerforderung zum Steueraufkommen gehört, dann lässt sich nicht so einfach von einer aus der Luft gegriffenen Forderung sprechen, auch wenn sie nicht auf einem materiell-rechtlichen Steuerentstehungstatbestand beruht.926 bb) Die „Fristerschleichung“ als artverwandter Fall des Prozessbetruges (1) Der „atypische“ Prozessbetrug Soweit das Landgericht Münster und schließlich auch das Oberlandesgericht Hamm auf die artverwandte Situation des Prozessbetrugs927 gemäß § 263  StGB verweisen und feststellen, dass zur Bejahung der Absicht einer rechtswidrigen Bereicherung ein tatsächlicher Anspruch bestehen müsse, hilft dieser Vergleich ebenfalls nicht weiter. Zwar begeht nach ganz überwiegender Meinung derjenige keinen Betrug, der durch Täuschung einen prozessual aussichtsreichen, aber materiell nicht bestehenden Anspruch abzuwehren oder (im umgekehrten Fall) einen prozessual verlorenen aber materiell bestehenden Anspruch durchzusetzen versucht.928 Schließlich stehe das vom Täter verfolgte Ziel im Einklang mit der Rechtsordnung, woran auch die Benutzung eines unlauteren Mittels (Täuschung)

926 Der vom LG Münster v. 30.04.2008 – 4 Ns 110/07, S. 4 ff., verwendete Begriff ist allerdings missverständlich. Von einer „reinen Fantasiesteuer“ lässt sich doch nur dann sprechen, wenn die Finanzbehörde eine Steuerart festgesetzt hat, die schon dem Grunde nach überhaupt nicht existiert. In diesen Fällen wäre die Steuerfestsetzung einer erfundenen Steuer aber ohnehin nach § 125 Abs. 1 AO nichtig, weil der Steuerbescheid dann an einem offenkundig schwerwiegenden Fehler leiden würde. In den Fällen der „Fristerschleichung“ geht es demgegenüber um die Festsetzung einer an sich anerkannten Steuer, die allerdings nicht vollständig vom materiellen Steueranspruch gedeckt ist. 927 Zu den rechtlichen Problemen des Prozessbetrugs (insbesondere zum Dreiecksbetrug) siehe nur Lackner, in: LK-StGB, 10. Aufl. (1988), § 263 Rn. 304 ff. 928 Hierbei handelt es sich um den sog. (straflosen) „Selbsthilfebetrug“. Zu beiden (inhaltlich identischen) Fallkonstellationen BGHSt 42, S. 268.

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nichts ändern könne.929, 930 Jedoch lässt sich diese Argumentation auf die Fälle der „Fristerschleichung“ nicht widerspruchsfrei übertragen. So ist bei der „Frist­ erschleichung“ gerade fraglich, ob die „Rechtsordnung“ einer überschießenden Steuerforderung durch die einschlägigen steuerverfahrensrechtlichen Vorschriften der Bestandskraft nicht doch eine schützenswerte Position verleiht. Wehrt sich der Steuerpflichtige in diesen Fällen etwa nicht gegen eine Steuerforderung, die er von Rechts wegen zu akzeptieren hat und sind die mit der Bestandskraft einhergehenden Rechtswirkungen nicht zugleich ein wesentlicher Aspekt der Rechtsordnung? Im Gegensatz dazu wird beim „typischen“ Prozessbetrug, bei dem in aller Regel über den zivilrechtlichen Anspruch vor den Zivilgerichten aktuell noch gestritten wird, eine solche Rechtsposition nicht begründet. Denn ein rechtskräftiges Urteil, das die streitgegenständlichen Vermögensverhältnisse zum Zwecke der Rechtssicherheit abschließend regelt, liegt zum Zeitpunkt der Tathandlung überhaupt noch nicht vor. Natürlich ließe sich ein zur „Fristerschleichung“ vergleich 929 Grundlegend schon (entgegen RGSt 72, S. 133 [136]) BGHSt 3, S. 160 [162 f.]: „Den Tatbestand des Betrugs erfüllt es nicht. Denn hierfür ist erforderlich, daß der Täter einen rechtswidrigen Vermögensvorteil für sich oder einen anderen erstrebt. Dafür, ob ein Vermögensvorteil rechtswidrig ist oder nicht, ist allein das sachliche Recht maßgebend. […] Entspricht das von einem Täter verfolgte Ziel der Rechtsordnung, so kann es keinesfalls schon dadurch, daß rechtswidrige Mittel zu seiner Verwirklichung angewandt werden, selbst rechtswidrig werden. Dies gilt auch für den Fall der Lüge im Rechtsstreit, die einem begründeten Anspruch zum Siege verhilft oder verhelfen soll.“ Ähnl. u. a. auch BGHSt 42, S. 268; Hefendehl, in: MüKoStGB, § 263 Rn.  739; Cramer/Perron, in: Schönke/Schröder, § 263 Rn.  174. Demgegenüber hatte das RG, a. a. O., einen Vermögensschaden und eine beabsichtigte rechtswidrige Bereicherung mit der Begründung erwogen, dass die in einem Zivilprozess täuschende Klägerin ihren materiell gegebenen Anspruch verfahrensrechtlich (also ohne Täuschung) nicht hätte durchsetzen können. Sie habe daher einen wirtschaftlich verlorenen Anspruch durch unwahre Tatsachen werthaltig gemacht. Zweifelnd aus anderen Gründen auch Arzt, in: Arzt/Weber, Strafrecht BT, § 20 Rn. 125 (Bringe der Täter mittels Täuschung einen „dubiosen Anspruch“ – wenn also das materielle Recht aus tatsächlichen Gründen nicht mehr zweifelsfrei geklärt werden könne – zum Erliegen, dann entwerte er ihn zu Unrecht. Denn die materielle Rechtslage sei doch gerade zweifelhaft, so dass nicht von einem Sieg des materiellen Rechts gesprochen werden könne.). 930 Dieses Problem wird in der Rspr. und Literatur weitestgehend im Rahmen der Rechtswidrigkeit der beabsichtigen Bereicherung behandelt. Jedenfalls nach dem von der Rspr. überwiegend zugrunde gelegten wirtschaftlichen Vermögensbegriff (vgl. die Nachweise bei Cramer/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 263 Rn. 80) wird es in diesen Fällen nicht bereits an einem Vermögensschaden fehlen. Soweit der Täter einem materiellen Anspruch erst mittels Täuschung im Zivilprozess zur Durchsetzung verhilft, existiert dieser Anspruch (aus Sicht der gegnerischen Partei: diese Schuld)  zwar rechtlich, ist jedoch nach wirtschaftlichen Bewertungsmaßstäben aufgrund der mangelhaften prozessualen Durchsetzbarkeit im Wert erheblich gemindert. Ähnlich verhält es sich, wenn der Täter einen zwar materiell nicht gegebenen aber prozessual sicher durchsetzbaren Anspruch ebenfalls durch eine Täuschung zum Erliegen bringt. In diesem umgekehrten Fall wird man dem durchsetzbaren Anspruch – gleichgültig ob dieser materiell-rechtlich besteht oder nicht – einen wirtschaftlichen Vermögenswert beimessen müssen. Siehe hierzu BGHSt 42, S. 268 (Vermögensschaden und Rechtswidrigkeit der beabsichtigten Bereicherung verneint); Piech, Der Prozeßbetrug im Zivilprozeß, S. 109 ff.; Wessels/Hillenkamp, Strafrecht BT/2, Rn. 583; Lackner, in: LK-StGB, 10. Aufl. (1988), § 263 Rn. 317; Hefendehl, in: MüKoStGB, § 263 Rn. 738 f., 334 ff. (dort zum Vermögensschaden auf der Grundlage eines von ihm vertretenen normativ-ökonomischen [oder auch integrierten] Vermögensbegriffs).

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

barer Fall konstruieren, in dem bsplw. ein Beklagter durch Versäumnisurteil gemäß § 331 ZPO zur Zahlung einer Schuld verurteilt wird, die er materiell-rechtlich überhaupt nicht schuldet. Lässt er nun die zweiwöchige Einspruchsfrist nach Maßgabe des § 339 ZPO tatenlos verstreichen, erwächst das Urteil in formelle und damit zugleich auch in materielle Rechtskraft.931 Sollte der Beklagte daraufhin einen tatsächlich nicht gegebenen Wiedereinsetzungsgrund gemäß § 233 ZPO erfinden, wäre das parallele Problem beim Betrug aufgeworfen. In einem solchen Fall stünde der Rechtsanwender wahrlich vor der Frage, ob der Beklagte das in Rechtskraft erwachsene Urteil mitsamt des titulierten Anspruchs zu respektieren hat und die durch Täuschung erwirkte Wiedereinsetzung nebst der dadurch ermöglichten Klageabweisung eine beabsichtigte rechtswidrige Bereichung darstellt. Ähnlich wie der „Fristerschleichung“ wurde auch diesem besonderen (atypischen) Fall des Prozessbetrugs – soweit ersichtlich – bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt.932 Exemplarisch zeigt dies die Kommentierung von Tiedemann, bei dem es heißt: „Die Rechtswidrigkeit des unmittelbar aus dem Vermögen des Geschädigten angestrebten Vorteils ist […] danach zu bestimmen, dass auf den Vorteil kein Rechtsanspruch besteht. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich nach Zivil- und öffentlichem Recht […]. Selbst wenn eine Forderung bereits tituliert ist, hat der Strafrichter die außerstrafrechtliche Rechtslage ohne Bindung an die Entscheidung des Zivil­ gerichts (usw.) zu beurteilen (und ausreichende Feststellungen dazu zu treffen, BayObLG, StV 1990, S. 165).“933 Für die Vielzahl der für den Betrugstatbestand relevanten Fälle sind diese Ausführungen sicherlich zutreffend. Wird der vom Täter erstrebte Vermögensvorteil nach der Tat tituliert oder (umgekehrt) vom Zivilgericht abgewiesen,934 besteht überhaupt kein Anlass, von der herkömmlichen Zweigleisigkeit der Verfahren abzurücken. Denn schon allein aufgrund der unterschiedlichen im Zivil- und Strafprozess geltenden Verfahrensgrundsätze, man denke nur an den im Zivilrecht geltenden Beibringungsgrundsatz,935 erscheint eine Übernahme von Verfahrensergebnissen (hier: Bestehen oder Nichtbestehen einer Forderung) für das Strafrecht überaus fraglich. Auch die Regelung des § 262 StPO 931

Stöber, in: Zöller, ZPO, § 705 Rn. 5; Vollkommer, in: Zöller, ZPO, Vor § 322 Rn. 6 ff. Siehe nur die zu diesem Problem „schweigenden“ Monographien zum Prozessbetrug von Jänicke, Gerichtliche Entscheidungen als Vermögensverfügung im Sinne des Betrugstatbestandes, 471 ff. [472]; Piech, Der Prozeßbetrug im Zivilprozeß, S. 109 ff. und S. 154 f., die sogar eine Möglichkeit des Prozeßbetruges aufgrund einer Gewährung der Wiedereinsetzung erörtert [154 f.], jedoch die sich aufdrängende Fragestellung übersieht: „Wenn hingegen die Täuschung des Antragstellers zu dem Zweck erfolgt, eine Wiedereinsetzung wegen Versäumung einer Frist zu erhalten, um gegen eine Entscheidung vorzugehen, die materiell unrichtig ist, liegt mangels Schadens bzw. Bereicherungsabsicht ein strafloser Selbsthilfebetrug vor.“ 933 Tiedemann, in: LK-StGB, § 263 Rn. 264 ff.; ähnlich auch Kindhäuser, in: NK-StGB, § 263 Rn. 372. Zu dem angegebenen Urteil des BayObLG, StV 1990, S. 165, siehe die weiteren Aus­ führungen unter: (2) BayObLG v. 28.11.1989 – RReg 4 St 188/89 und RGSt 20, S. 56 (S. 240). 934 Es wird also im Zivilprozess festgestellt, dass dem Täter die durch Täuschung erlangte Bereicherung nach rein zivilrechtlichen Grundsätzen (jedenfalls zum Zeitpunkt der zivilrechtlichen Entscheidung!) zusteht. 935 Vgl. Greger, in: Zöller, ZPO, § 263 Rn. 10. 932

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hat daher nach wie vor seine Daseinsberechtigung und soll daher für diese Fälle überhaupt nicht in Abrede gestellt werden. Fraglich ist aber, ob diejenigen Fälle genauso behandelt werden sollen, in denen der Täter einen gegen ihn gerichteten, bereits rechtskräftig titulierten Anspruch durch eine Täuschung (im Rahmen einer Erschleichung der Wiederseinsetzung oder auch im Nachhinein durch eine vorgegebene Erfüllung) zu Fall bringt. Kann sich der Täter nun ebenfalls – eventuell nach einem jahrelangen Zivilprozess – darauf berufen, dass er den titulierten Anspruch materiell überhaupt nicht schuldet und das rechtskräftige Urteil fehlerhaft ergangen ist? Wer dies bejaht, der muss dann gleichfalls anerkennen, dass ein in Rechtskraft erwachsener Anspruch nur „zivilrechtliche Rechtssicherheit“ bewirken kann. Schließlich kann der Täter im Strafrecht weiterhin seine Einwendungen wirksam gegen den titulierten Anspruch geltend machen. Insbesondere für den Zivilprozess ist dieses Ergebnis folgenschwer, weil die richtige Titulierung eines Anspruchs schon aufgrund des Beibringungsgrundsatzes nicht zwingend erfolgen muss. Ferner sorgen zahlreiche Präklu­ sionsvorschriften wie etwa § 296  ZPO gezielt dafür, dass eine Partei mit ihrem Vortrag ausgeschlossen ist und somit die Gefahr einer materiell-rechtlich falschen Entscheidung zu tragen hat. Es entspricht demnach der zivilprozessualen Wirklichkeit, dass ein Urteil auch dann ergehen kann (eventuell sogar muss), wenn es augenscheinlich nicht der materiellen Rechtslage entspricht. Diese prozessualen Gesetzmäßigkeiten werden somit über die „strafrechtliche Hintertüre“ wieder negiert, indem man der durch die Rechtskraft entstandenen Rechtsposition den strafrechtlichen Schutz verwehrt. Besteht zwischen dem Straf- und Zivilrecht ein solch tiefgreifender Wertungswiderspruch, so ist damit letztlich auch gesagt, dass es die vielbeschworene „einheitliche Rechtsordnung“936 jedenfalls in dem hier aufgezeigten Bereich nicht gibt. Dabei wäre es im Grunde ein Leichtes, zu dem Ergebnis zu gelangen, dass rechtskräftige Zivilurteile für das Strafrecht beachtlich sein können. Jedenfalls für den Betrug ergibt sich ein potentieller Anknüpfungspunkt aus den Tatbestandsmerk­malen des Vermögensschadens und des beabsichtigten rechtswidrigen Vermögensvorteils selbst. Folgt man dem Gedanken, dass ein unanfechtbares Zivilurteil gerade zur Herstellung des Rechtsfriedens eine endgültige Vermögenszuordnung trifft, so steht der im Zivilprozess unterlegenen Partei der streitgegenständliche Vermögensbestandteil nicht mehr zu. Verschafft sie sich diesen mittels Täuschung dennoch, so erlangt sie auf Kosten der obsiegenden Partei eine wirtschaftliche Besserstellung, die sie schon 936 Siehe nur die für den Betrugstatbestand herangezogene „Einheit der Rechtsordnung“ als Hauptargument für den in der Literatur vertretenen juristisch-ökonomischen Vermögensbegriff u. a. Cramer/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 263 Rn. 83. Zumindest in diesem Punkt folgerichtig sind die Ausführungen von Tiedemann, in: LK-StGB, § 263 Rn. 268, wenn er davon spricht, dass „die Rechtswidrigkeit sich nach materiellem Recht als Widerspruch zur außerstrafrechtlichen materiellen Rechtsordnung bestimmt“. Es muss dann aber die Frage erlaubt sein, ob sich die Rechtsordnung überhaupt sinnvoll in einen formellen und materiellen Teil trennen lässt, ohne dabei in eigene Wertungswidersprüche zu verfallen.

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angesichts des entgegenstehenden Urteils zum Tatzeitpunkt nicht mehr beanspruchen konnte. Die erlangte Bereicherung stellt sich, wenn man einmal die materielle Rechtslage zugunsten der durch ein Urteil geschaffenen Vermögenszuordnung zurücktreten lässt, aus dieser Warte sogar als eine rechtswidrige dar. Letztlich geht es hierbei um die Frage, ob eine „Vermögenszuordnung durch Urteil“ genauso beachtlich für den Tatbestand des § 263 StGB sein kann, wie jede andere privatrechtliche Vermögensdisposition. Oder mit Blick auf das Rechtsgut formuliert: Kann ein Richterspruch, mit dem endgültig über eine zivilrechtliche Position entschieden wird, nicht ebenso gut zu demjenigen „Vermögen“ einer Person gezählt werden, das durch den Betrug strafrechtlichen Schutz vor Täuschungshandlungen genießt? (2) BayObLG v. 28.11.1989 – RReg 4 St 188/89 und RGSt 20, S. 56 Mit diesem besonderen Problem des Vermögensbegriffs hat sich das Bayerische Oberste Landesgericht in der von Tiedemann zitierten Entscheidung937 nicht auseinandergesetzt, obwohl es sich allem Anschein nach um einen solchen atypischen Fall des Prozessbetruges handelte. Zwar lässt sich der veröffentlichten Entscheidung nicht genau entnehmen, ob sich die Täuschungshandlung gegen bereits rechtskräftig titulierte Ansprüche richtete. Allerdings wird schon allein aus dem Umstand, dass das Gericht hierzu keine ausdrücklichen Feststellungen getroffen hat, ein mangelndes Problembewusstsein ersichtlich. Selbst wenn man diese sich aufdrängende, aber vom Bayerischen Obersten Landesgericht nicht einmal gestellte Frage fürs Erste unbeantwortet lässt, so kann man anhand der Entscheidung zumindest erahnen, welche weitreichenden Konsequenzen mit einer bloß am materiell-rechtlichen Anspruch ausgerichteten Rechtswidrigkeit der beabsichtigen Bereicherung für den Betrugstatbestand verbunden sind: Laut den Gründen hatte der spätere Angeklagte den mit der Zwangsvollstreckung aus mehreren gerichtlichen Urteilen beauftragten Gerichtsvollzieher über seine Eigentumsverhältnisse (vergeblich) zu täuschen versucht, weil er die Urteile für „falsch und ungerecht“ hielt und sich daher nicht daraus verpflichtet sah. Das Bayerische Oberste Landesgericht folgte der Verurteilung des Landgerichts wegen versuchten Betruges gemäß §§ 263, 22 StGB nicht. Schließlich sei es eine Voraussetzung für die Bestrafung wegen versuchten Betruges, dass der Angeklagte sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil verschaffen wolle. Dem stünden aber die Feststellungen des Tatrichters entgegen, der Angeklagte habe sich nicht für verpflichtet gehalten, die aus seiner Sicht falsch titulierten Ansprüche zu befriedigen. Denn ein rechtswidriger Vermögensvorteil sei jedenfalls dann nicht gegeben, wenn eine Täuschung nur der Abwehr eines unbegründeten Anspruchs 937 BayObLG v. 28.11.1989 – RReg 4 St 188/89 = StV 1990, S. 165; Tiedemann, in: LK-StGB, § 263 Rn. 264 ff.

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diene. Ob dieser Anspruch bestehe, richte sich letztlich nur nach sachlichem Recht, so dass auch eine Titulierung von Ansprüchen bedeutungslos sei. Die Abwehr von Ansprüchen mit rechtswidrigen Mitteln mache nicht zugleich auch ihr Ergebnis rechtswidrig. Doch selbst wenn die Ansprüche nach materiellem Recht bestünden – das Gericht meint wohl aufgrund der bloßen Tatsachenvorstellung des An­ geklagten938  –, führe die irrige Rechtsannahme, der titulierte Anspruch existiere dennoch nicht, zu einem die Strafbarkeit ausschließenden Tatbestandsirrtum.939 Hierbei wurde vom Bayerischen Obersten Landesgericht zu Recht erkannt, dass ein Tatbestandsirrtum940 über ein normatives Tatbestandsmerkmal (hier also die Rechtswidrigkeit der vom Täter beabsichtigten Bereicherung) auch gegeben sein kann, wenn der Täter zwar die für die rechtlichen Wertungen relevanten Umstände in tatsächlicher Hinsicht erfasst hat, daraus dann aber die falschen rechtlichen Schlüsse zieht und die für das Handlungsunrecht entscheidende Bedeutungskenntnis nicht aufweist.941 Dies soll angesichts der weitreichenden Erörterungen zu den subjektiven Voraussetzungen der Steuerhinterziehung in keinster Weise angefochten werden.942 Diese Ausführungen zeigen jedoch auch, dass ein gegebenenfalls sogar rechtskräftiges Urteil über einen zivilrechtlichen Anspruch nicht einmal dann strafrechtlichen Schutz genießt, wenn es gemäß der materiellen Rechtslage ergangen ist. Schließlich wird dem Täter weiterhin die Möglichkeit eingeräumt, an seiner Überzeugung von der Falschheit des Urteils festzuhalten und somit im Ergebnis straffrei sogar gegen einen berechtigten Anspruch mittels Täuschung vorzugehen.943 In der Gerichtspraxis wird es daher wohl häufig auf die Widerlegung der vom Angeklagten vorgebrachten Schutzbehauptung hinauslaufen, er habe doch geglaubt, materiell-rechtlich „im Recht“ zu sein.944 In Anbetracht der bisherigen Ausführungen drängt sich die Frage auf, warum man dem Täter überhaupt einen solchen Einwand zugestehen will. Es soll nun nicht für eine Abschaffung des Rechtswidrigkeitsmerkmals im Betrugsstrafrecht plädiert werden, sondern allein für eine Änderung seines Bezugspunktes, indem die Maßgeblichkeit des materiellen Anspruchs ab Eintritt der Rechtskraft durch die zumindest faktisch wirkende Vermögenszuordnung des Urteils überlagert 938

Immerhin geht es nur um eine Bestrafung wegen versuchten Betruges, so dass hier ohnehin nur die Vorstellung des Täters ausschlaggebend sein kann. 939 BayObLG, StV 1990, S. 165 a. E. 940 Da in dem vorliegenden Fall nur die Bestrafung wegen Versuchs im Raum stand, handelte es sich genau genommen nicht um eine Frage des „Irrtums“, sondern allein um die Voraussetzung des Tatentschlusses. Die Anforderungen an die Bedeutungskenntnis sind dann aber im Ergebnis dieselben. 941 Vgl. hierzu BGHSt 42, S. 268. 942 Ausführlich unter: (2) Richtigkeit der Steueranspruchstheorie (S. 201). 943 Ganz h. M., siehe nur BGHSt 3, S. 160 [163]; Hefendehl, in: MüKo-StGB, § 263 Rn. 740 ff.; Cramer/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 263 Rn. 175; Tiedemann, in: LK-StGB, § 263 Rn. 268; Vogel, in: LK-StGB, § 253 Rn. 30 (zur Epressung). 944 Dieses Problem sieht für den Prozessbetrug (allgemein) auch Arzt, in: Arzt/Weber, Strafrecht BT, § 20 Rn. 125 (dort in Fn. 164).

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wird. Denn das in Rechtskraft erwachsene Urteil vermag zwar nach überwiegender Ansicht die materielle Rechtslage nicht zu verändern, allerdings wird das materielle Recht zwischen den beteiligten Parteien bindend festgestellt und dadurch letztendlich Rechtssicherheit erzeugt.945 An diesem Ergebnis kommt man auch über eine unterschiedliche Ausgestaltung des Vermögensbegriffs nicht vorbei, weil die Wirkung der Rechtskraft nicht nur einer rein wirtschaftlichen Bewertung des Vermögens entspricht, sondern auch die Rechtssphäre der betroffenen Parteien unmittelbar berührt.946 Aus diesem Blickwinkel erscheint es daher zumindest rechtfertigungsbedürftig, dass sich nach der ganz überwiegenden Ansicht in Rechtsprechung und Lehre ein Angeklagter vor dem Strafgericht mit zivilrechtlichen Einwendungen gegen den Vorwurf des Betruges verteidigen kann, obwohl sie aus Gründen der Rechtssicherheit bereits zum Tatzeitpunkt von keinem Zivilgericht mehr hätten berücksichtigt werden dürfen. Dabei hat die ganz überwiegende Ansicht den richtigen Ansatz schon gefunden, ihn jedoch bisher nicht zu Ende­ gedacht: Sofern insbesondere das Bayerische Oberste Landesgericht als auch Tiede­mann zu Recht davon ausgehen, dass der Strafrichter die außerstrafrechtliche

945 Zur sog.  formellen Rechtskrafttheorie, siehe Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 151 Rn. 3 ff.; zum Öffentlichen Recht u. a. Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im Öffentlichen Recht, S. 111 f. [112]. Hiernach kommt es insbesondere nicht darauf an, ob das Urteil die materielle Rechtslage auch zutreffend feststellt. Soweit teilweise die Rede davon ist, dass die Parteien im Falle eines unrichtigen aber rechtskräftigen Urteils „mit einer Art doppelter Rechtsordnung leben“ (Saenger, in: HK-ZPO, § 322 Rn. 11) müssen, ist dieses Bild missverständlich. Es kann sich nur um unterschiedliche Facetten einer einheitlichen Rechtsordnung handeln, so dass mit Eintritt der materiellen Rechtskraft der materielle Anspruch zum Zwecke der Rechtssicherheit in den Hintergrund gerückt wird. Des Weiteren wird der Gegenansicht (sog. materielle Rechtskrafttheorie) die Ausformung zugeordnet, ein rechtskräftiges Urteil begründe eine unwiderlegliche Vermutung (bzw. Fiktion, siehe Fn. 103) für seine Richtigkeit (siehe für das Zivilrecht: Pohle, Gedenkschrift für Calamandrei, S. 377 ff., dort allerdings wirklich unter dem Gedanken einer materiellen Rechtsbegründung). Es muss jedoch ernsthaft bezweifelt werden, dass man diesen und ähnliche (Überlagerung der Rechtswidrigkeit durch Eintritt der Rechtskraft) Schlüsse nur nach der materiellen Rechtskrafttheorie ziehen kann. Immerhin werden die faktischen Wirkungen (insbesondere die mit der materiellen Rechtskraft notwendigerweise einhergehende Präklusionswirkung, siehe nur Gottwald, in: MüKo-ZPO, § 322 Rn. 139) eines rechtskräftigen, eventuell aber unrichtigen Urteils von keiner Seite geleugnet (siehe jedenfalls für das Steuerrecht Fn. 973). Es ist daher keine Untertreibung, wenn dem Meinungsstreit über die Wirkungsweisen der Rechtskrafttheorien weitgehend nur theoretische Bedeutung (siehe nur Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, § 322 Rn. 24 ff.; Gottwald, in: MüKo-ZPO, § 322 Rn. 13 m. w. N.) beigemessen wird. Zu den vergleichbaren Wirkungen der Bestandskraft: a) Der Wandel von der rechtswidrigen zur einheitlich bestandskräftigen Steuerforderung (S. 248). 946 Dies wird man selbst unter Zugrundelegung des juristischen Vermögensbegriffs, wonach zum Vermögen einer Person alle Vermögensrechte und -pflichten gehören (Hefendehl, in: MüKo-StGB, § 263 Rn. 294) folgern müssen. Schließlich wird auch hiernach ein rechtskräftig abgewiesener, aber materiell-rechtlich weiterhin bestehender Anspruch (formelle Rechtskrafttheorie, siehe Fn. 945) nicht ohne erhebliche Abstriche zum Vermögen gehören. Sofern nach diesem Vermögensbegriff insbesondere das Zivilrecht als „Zuteilungsordnung“ verstanden wird, die die Bestandteile des Vermögens verbindlich festlegt (vgl. Gallas, Festschrift für Schmidt, S. 401 ff. [408]), muss auch die Rechtskraft als notwendiges Element dazugehören.

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(bsplw. zivilrechtliche) Rechtslage eigenständig festzustellen habe,947 muss dieser folgerichtig auch wie ein Zivilrichter die zum Tatzeitpunkt vorliegende rechtskräftige Vermögenszuordnung berücksichtigen und dem Täter den Einwand, das Urteil entspreche nicht dem materiellen Recht, abschneiden. Bei diesem Ansatz wäre schließlich auch ein entsprechender Irrtum des Angeklagten für den Tatbestand wohl weitestgehend irrelevant.948 Denn es genügt für den subjektiven Tatbestand (Vorsatz hinsichtlich des Vermögensschadens und der Absicht eines rechtswidrigen Vermögensvorteils), dass der Täter zum Tatzeitpunkt von dem (wirksamen) rechtskräftigen Urteil mitsamt seiner vermögensrechtlichen Folgen wusste.949 Betrachtet man das Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts noch einmal genauer, dann wird man feststellen, dass dem Gericht die Problematik des Falles durchaus bewusst gewesen sein muss. So verweist es nämlich auf eine Entscheidung des Reichsgerichtes aus dem Jahr 1889, die einen vergleichbaren Sachverhalt  – diesmal allerdings im Gewand einer Erpressung  – zum Gegenstand hatte.950 Dort hatte nach einem durchgeführten Wechselprozess der Beklagte die Zwangsvollstreckung aus einem Urteil (vergeblich) zu verhindern versucht, indem er dem Vertreter der Klägerin, der zugleich im Prozess als Partei unter Eid vernommen wurde, androhte, ihn (insbesondere) wegen Meineides zu denunzieren, wenn er nicht die weitere Zwangsvollstreckung unterlasse. Nach den Feststellungen des Tatgerichtes ist der Beklagte hierbei davon ausgegangen, dass der Klägerin der geltend gemachte Anspruch materiell-rechtlich nicht zustand und das falsche Urteil nur aufgrund eines geleisteten Meineides ergangen ist.951 Trotz dieser Feststellung war die Strafkammer davon überzeugt, dass der Beklagte (und spätere Angeklagte im Strafprozess) durch eine Drohung absichtlich eine rechtswidrige Bereicherung herbeiführen wollte und verurteilte ihn daher wegen versuchter Erpressung gemäß §§ 253, 43 RStGB (1871). Denn das ergangene Urteil habe „formelles Recht geschaffen“, kraft dessen die Klägerin zur Zwangsvollstreckung 947 BayObLG, StV 1990 S.  165; Tiedemann, in: LK-StGB, § 263 Rn.  264; ähnlich auch­ Hefendehl, in: MüKo-StGB, § 263 Rn. 731; Kindhäuser, in: NK-StGB, § 263 Rn. 372. 948 Eine vergleichbare Wirkungsweise ist dem Strafrecht durchaus bekannt. Mit der in § 258 Abs. 2 StGB unter Strafe gestellten Vollstreckungsvereitelung hat der Gesetzgeber dem rechtskräftigen Strafausspruch – sogar ganz ausdrücklich (BT-Drucks. 7/550, S. 250) – einen eigenständigen Schutz zukommen lassen. Es macht sich hiernach sogar derjenige strafbar, der einem aufgrund eines offensichtlichen Fehlurteils rechtskräftig Verurteilten zur Flucht verhilft. Schon infolge der ausdrücklichen Tatbestandsausgestaltung darf auf die dem Urteil zugrunde liegende materielle Rechtslage nicht mehr zurückgegriffen werden (vgl. Cramer/Pascal, in: MüKoStGB, § 258 Rn. 32; Stree/Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB, § 258 Rn. 26, m. w. N.). Folgerichtig ist auch die entsprechende Vorstellung des Täters, das zu vollstreckende Urteil sei wider des materiellen Rechts ergangen, für die Tatbestandsverwirklichung insgesamt unbeachtlich. 949 Die für den Vorsatz erforderliche Bedeutungskenntnis (in der Laiensphäre) würde hiernach bereits vorliegen, wenn der Täter weiß, dass er aufgrund der Rechtskraft zur Hinnahme des Titels gezwungen ist. Dies wird sich häufig schon aufgrund der Erteilung einer ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung im Zivilprozess nachweisen lassen. 950 RGSt 20, S. 56. 951 RGSt 20, S. 56 [58].

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befugt gewesen sei. Indem der Beklagte dieses formelle Recht durch Bedrohung habe beseitigen wollen, habe er bewusst gegen das Recht und damit rechtswidrig gehandelt.952 Diesem Auslegungsergebnis trat das Reichsgericht vehement entgegen und rügte ausdrücklich, dass die Strafkammer das Merkmal der Rechts­ widrigkeit der beabsichtigten Bereicherung verkannt habe: „Die rechtlichen Ausführungen des Urteils [der Strafkammer, Anm. d. Verf.] gipfeln [sic!] in den Sätzen: ‚Sobald ein Urteil vollstreckbar sei, habe der Gläubiger das Recht zur Vollstreckung, unabhängig davon, ob durch das Urteil etwa das materielle Recht verletzt werde. Der Schuldner, welcher den vollstreckenden Gläubiger durch Drohung auch nur zu einem Vergleiche nötigen wolle, sei unzweifelhaft ein Erpresser, möge er in noch so gutem Glauben an sein materielles Recht handeln.‘ Diese Auffassung ist unhaltbar; sie vermischt in unzulässiger Weise das Ziel der Handlung mit den zur Erreichung des Zieles aufgebotenen Mitteln. […] Besteht ein Recht auf ein Vermögensvorteil, oder glaubt der Thäter, daß es bestehe, so fehlt eine notwendige Voraussetzung zur Anwendung des §. 253.“953

Diesen Ausführungen gibt es wenig Kritisches hinzuzufügen. Die von der Strafkammer aus dem bloßen Vorliegen eines sogar nur vorläufig vollstreckbaren Urteils hergeleitete Rechtswidrigkeit der Bereicherung kann nicht überzeugen.954 Schließlich ist es erst die Rechtskraft, die überhaupt geeignet sein kann, das materielle Recht zu überlagern und dadurch für Rechtssicherheit zu sorgen. Ob allerdings das Urteil vor dem Einsatz des Nötigungsmittels bereits in Rechtskraft erwachsen ist, ergibt sich – und dies ist bis hierhin der einzige Kritikpunkt  – aus den Urteilsgründen des Reichsgerichts ebenfalls nicht. Dennoch hat sich das Reichsgericht im weiteren Teil seines Urteils auch mit den Folgen der Rechtskraft auseinandergesetzt: „Auch das vollstreckbare Urteil schafft kein unantastbares Recht. Ist das Urteil noch nicht rechtskräftig, so kann es durch die gewöhnlichen Rechtsmittel angefochten und beseitigt werden; ist es rechtskräftig, so bleibt nach §. 543 C. P. O. die Möglichkeit, durch Anstellung einer Restitutionsklage die Beseitigung der Entscheidung und die Wiederaufnahme des Verfahrens herbeizuführen. Hat der Gegner durch Leistung eines Parteieides, auf welche das Urteil gegründet ist, sich einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Verletzung der Eidespflicht schuldig gemacht (§. 543 Nr. 1 C. P. O.), so beanspruchte der Verletzte keinen rechtswid 952

Wiedergabe durch das RG, RGSt 20, S. 56 [58]. RGSt 20, S. 56 [58 f.]. 954 Obwohl die Strafkammer (wiedergegeben in RGSt  20, S.  56 [58]) auf eine Erkenntnis des preußischen Obertribunals vom 4.April 1876, veröffentlicht bei Oppenhoff, Die Rechtsprechung des königlichen Obertribunals in Strafsachen, Bd. 17 (1876), S. 248 ff., verwiesen hat, die in einer identischen Fallgestaltung zutreffend auf die Rechtskraft des titulierten Anspruchs abgestellt hat [249 f.]: „Nun kann es aber keinem Bedenken unterliegen, daß der Vermögensvortheil, welcher dem Angeklagten L. durch die Drohung hat verschafft werden sollen, ein rechtswidriger gewesen ist. Denn dem bedrohten B. stand rechtskräftig eine Forderung an L. zu, deren Execution er nachgesucht hatte, und wenn B., wie L. in dem von dem Angeklagten P. concipierten Schreiben begehrte, den Executionsauftrag zurückgenommen und eine Quittung ausgestellt hätte, ohne Zahlung empfangen zu haben, so hätte L dadurch eine Verbesserung seiner Vermögenslage erreicht, auf welche er dem ergangenen Civilerkenntnisse gegernüber kein Recht hatte.“ 953

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rigen Vermögensvorteil, wenn er die Befreiung des Urteils verlangt. Dem steht, soweit es sich um die Anwendung des §. 253 StGB’s handelt, gleich, wenn der Thäter glaubt, daß jene Voraussetzung vorliege. […] Ein Vermögensvorteil war die Beseitigung des vollstreckbaren Schuldtitels allerdings für ihn [den Beklagten und späteren Angeklagten, Anm.  d. Verf.], aber ein Vermögensvorteil, auf welcher er seiner Überzeugung nach ein Recht hatte.“955

Diese Ausführungen halten einer näheren Überprüfung nicht stand. Soweit die Rechtskraft wie auch die Bestandskraft nicht zwingend eine Unabänderbarkeit bedeuten, spricht dieser Umstand  – anders als es das Reichsgericht angenommen hat – nicht gegen, sondern im Grunde für die Rechtswidrigkeit der beabsichtigten Bereicherung in den hier einschlägigen Fällen. Natürlich kann die Rechtskraft eines Urteils durch das Institut der Wiederaufnahme des Verfahrens beseitigt und in engen Grenzen durch eine Schadensersatzklage gemäß § 826 BGB durch­brochen werden.956 Jedoch zeigt schon ein kurzer Blick auf die zivilprozessualen Regelungen zur Wiederaufnahme gemäß den §§ 578 ff. ZPO, dass es sich ganz ausdrücklich um Ausnahmeregelungen handelt, die erhebliche Hürden (bsplw. die §§ 581, 582 ZPO) auf diesem Weg hin zur Eliminierung der Rechtskraft bereithalten.957 Es bedarf daher in jedem Fall eines förmlichen Verfahrens, um den bereits eingetretenen Zustand der Rechtssicherheit offiziell wieder zum Erliegen zu bringen. Folgerichtig kann einer Prozesspartei auch nicht das Recht zustehen, sich diese Vorteile eigenhändig zu verschaffen und darauf zu verweisen, dass eine Wiederaufnahme oder Schadensersatzklage gemäß § 826 BGB im konkreten Fall erfolgreich gewesen wäre. Denn anders als beim sonst maßgeblichen materiellen Anspruch, kann in den hier einschlägigen Fällen nicht davon gesprochen werden, der Täter habe sich durch unlautere Mittel (Täuschung oder Nötigung) nur das verschafft, was ihm sowieso zugestanden hätte. Der Täter ist hierzu überhaupt nicht befugt, weil der rechtskräftige Titel schließlich immer noch existiert.958 Es bleibt der unterlegenen Prozesspartei daher nichts anderes übrig, als den förmlichen Weg der Wiederaufnahme oder Schadensersatzklage gemäß § 826 BGB zu beschreiten. Dies ist wohl der entscheidende Unterschied im Vergleich zu den sonstigen Fällen des Betrugs und der Erpressung. Letztlich kann es für die Frage nach einer Strafbarkeit nicht einmal einen Unterschied bedeuten, dass der Täter nach der begangenen Tathandlung eine Wiederaufnahme des Verfahrens erfolgreich betreibt. Immerhin lag zum Tatzeitpunkt ein rechtskräftiges Urteil vor, so dass die beabsichtigte Bereicherung auch zum entscheidenden Zeitpunkt rechtswidrig war. Eine spätere Rückgängigmachung dieser Rechtslage berührt eine bereits gegebene Tatbestandsmäßigkeit nicht. Genausowenig kann eine spätere Rückzahlung, Aufrechnung oder auch der 955 RGSt 20, S. 56 [59 f.]. So für die Fälle der sog. „Selbsthilfeerpressung“ auch Vogel, in: LK-StGB, § 253 Rn. 35, 30. 956 Greger, in: Zöller, ZPO, Vor § 578 Rn. 1. Zur überwiegend anerkannten Schadensersatzklage im Falle missbräuchlicher Erschleichung eines Titels gemäß § 826 BGB siehe nur RGZ 61, S. 359 [356]; BGHZ 40, S. 130; 101, S. 380. 957 Siehe bereits die Erläuterungen zur Wiederaufnahme des finanzgerichtlichen Verfahrens unter: 2. Die „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ (S. 132). 958 Aus dem Zivilprozessrecht: Pohle, Gedenkschrift für Calamandrei, S. 377 ff. [385 f.].

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Verzicht des Opfers auf die Rückabwicklung der rechtswidrigen Bereicherung etwas an einem tatbestandsmäßigen Betrug oder einer Erpressung ändern. (3) Schlussfolgerung für die „Fristerschleichung“ Für die in dieser Arbeit zu behandelnden Fälle bleibt daher festzuhalten, dass im Rahmen der Betrugsstrafbarkeit vergleichbare Fälle existieren, deren rechtliche Behandlung aber letztlich genauso Zweifel aufwerfen. Sichere Erkenntnisse lassen sich für die Fälle der Steuerhinterziehung schon allein deshalb nicht ableiten. Ferner ist zu bedenken, dass in Anbetracht der Verschiedenheit der Rechtsgebiete (Steuerrecht und Zivilrecht) und der Straftatbestände (Steuerhinterziehung und Betrug) keine rechtsgebietsübergreifende Antwort auf die Frage nach einer Strafbarkeit in Fällen einer „Fristerschleichung“ gefunden werden kann. cc) BGH v. 08.03.1983 – 5 StR 7/83 Letztlich hat das Oberlandesgericht Hamm auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1983 verwiesen, in der ein Steuerberater die Finanzbehörde durch die Vorlage unrichtiger Belege an der nachteiligen Änderung einer unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (zur Zeit der Entscheidung noch als „vorläufige“ Steuerfestsetzung gemäß § 100 Abs. 2 RAO bezeichnet) stehenden Steuer­ festsetzung seiner Mandanten hindern wollte.959 Der Bundesgerichtshof hob die Verurteilung des Steuerberaters wegen versuchter und vollendeter Steuerhinterziehung – der Vorgang betraf mehrere Wirtschaftsjahre – auf, weil nicht ausgeschlossen werden konnte, dass er den Steuerbeamten nur von einer „irrigen Rechtsauffassung“ abhalten wollte. Soweit der Angeklagte daher seine Mandanten nur von einer ungerechtfertigten Mehrbelastung habe bewahren wollen, könne dies den (inneren) Tatbestand der Steuerhinterziehung nicht begründen.960 Bei isolierter Betrachtung ist gegen diese vom Oberlandesgericht Hamm angeführte Entscheidung nichts einzuwenden. Schließlich muss der Täter einer Steuerhinterziehung immer auch erkennen, dass er einen entstandenen Steueranspruch in Mitleidenschaft zieht oder einen Steuervorteil zu Unrecht erhält.961 Regelmäßig wird es hieran fehlen, wenn der Täter – wie im vorbenannten Fall – über eine Täuschung nur zu einer seiner Meinung nach zutreffenden Steuerfestsetzung gelangen will. Allerdings betrifft diese Sachverhaltskonstellation die Fälle der „Fristerschleichung“ schon deshalb nicht, weil es um die Änderung einer Steuerfestsetzung ging, die unter dem 959

BGH v. 08.03.1983 – 5 StR 7/83 = wistra 1983, S. 114 ff. BGH v. 08.03.1983 – 5 StR 7/83 = wistra 1983, S. 114 ff. 961 Siehe: (2) Richtigkeit der Steueranspruchstheorie (S. 201). Zu der hier angesprochenen Entscheidung des BGH, wistra 1983, S. 114 ff., sogar ausdrücklich Schlüchter, wistra 1985, S. 43 ff. [46]. 960

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Vorbehalt der Nachprüfung stand und daher überhaupt nicht in materieller Bestandskraft erwachsen konnte.962 Die Mandanten des Angeklagten standen daher zu keiner Zeit vor dem in den Fällen der „Fristerschleichung“ immanenten Problem, dass sie die unzutreffende Steuerfestsetzung aufgrund der eingetretenen Bestandskraft schlichtweg zu akzeptieren hatten. Entgegen dem Oberlandesgericht Hamm trägt die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Lösung der „Fristerschleichung“ ebenfalls nichts bei.

B. Steuern im Sinne des § 3 Abs. 1 AO I. Geldleistung zur staatlichen Einnahmeerzielung auferlegt Die Abgabenordnung ist mitsamt ihrer Strafvorschriften nach Maßgabe des § 1 Abs. 1 AO grundsätzlich nur auf Steuern (einschließlich der Steuervergütungen) anwendbar. Die vorangegangenen Erläuterungen zum Rechtsgut der Steuerhinterziehung haben gezeigt, dass unter „Steuern“ nicht jedwede Forderung des Staates zu verstehen ist, die durch eine Finanzbehörde eingetrieben wird.963 Gemäß der in § 3 Abs. 1 AO enthaltenen Begriffsbestimmung der Steuer muss es sich als erste Voraussetzung um eine von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen auferlegte Geldleistung handeln, die keine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellt und zumindest deren Nebenzweck in der Erzielung von Einnahmen liegt. Nur Forderungen, die diesem Anforderungsprofil entsprechen, werden vom Tatbestand der Steuerhinterziehung erfasst und damit zugleich seinem generellen Schutzbereich unterstellt.964 Ausgeschlossen sind daher insbesondere die steuerlichen Nebenleistungen.965 Denn einerseits kommt den Zwangsgeldern, Verspätungs- und Säumniszuschlägen lediglich ein Beuge- und Sanktionscharakter zu, so dass sie demnach nicht zweckgemäß der Einnahmeerzielung dienen  – auch wenn sie letztlich genau dafür verwendet werden.966 Andererseits stellen auf eine Steuer­forderung anfallende Zinsen eine die Steuer letztlich ausschließende Gegenleistung für auf Zeit überlassenes bzw. vorenthaltenes Geldkapital dar. Soweit die überwiegende Ansicht in Rechtsprechung und Lehre dennoch zu einer Strafbarkeit wegen der Hinterziehung von Zinsen gelangt, kann sich dies nur über die Anwendungsregel des § 239 Abs. 1 S. 1 AO (in Verbindung mit § 3 Abs. 1 AO) ergeben.967 An diesen Voraussetzungen müssen sich schließlich auch die Fälle der „Frist­erschleichung“ messen lassen. 962

Siehe: a) Allgemeines (S. 54). Siehe hierzu bereits S. 159. 964 BGHSt 43, S. 381; 51, S. 356; BFH, BStBl. II 1997, S. 600. 965 Siehe zu den steuerlichen Nebenleistungen insgesamt: bb) Das Steueraufkommen als konkreter Vermögensbestandteil (S. 159). 966 Zur mehrfachen Zwecksetzung von Säumniszuschlägen siehe Fn. 639. 967 Siehe S. 162. 963

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1. Staatliche Einnahmeerzielung durch Unteilbarkeit der Steuerforderung Betrachtet man denjenigen Teil der Steuerforderung, der von dem materiellen Steuerrecht nicht gedeckt ist, so wird man zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass auch dieser uneingeschränkt und allein der staatlichen Finanzierung dient. Dem liegen die folgenden Überlegungen zugrunde. a) Der Wandel von der rechtswidrigen zur einheitlich bestandskräftigen Steuerforderung Vor Eintritt der formellen sowie materiellen Bestandskraft des Steuerbescheides hat es der Steuerpflichtige selbst in der Hand, die zu hohe Steuerfestsetzung erfolgreich anzugreifen und insbesondere bei bereits durchgeführter Vollstreckung einen Erstattungsanspruch geltend zu machen. Der überschießende Steuer­ anspruch ist daher nichts anderes als auflösend bedingt für den Fall, dass es zu seiner  – im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung noch ungewissen  – Aufhebung im Rechtsbehelfs- oder Änderungsverfahren kommt.968 Soweit dieser Bedingungseintritt zu Anfang noch maßgeblich vom Willen des Steuerpflichtigen abhängt, ändert sich dies mit Ablauf der in Rede stehenden Rechtsbehelfsfrist. Nun ist mit Eintritt der Bestandskraft der Steuerfestsetzung ein Zustand eingetreten, der nach dem unbestreitbaren Willen des Gesetzes von Dauer sein soll.969 Ab diesem Zeitpunkt wird dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise Vorrang vor dem Bedürfnis nach Rechtsrichtigkeit eingeräumt.970 Dies bringt es von Natur aus mit sich, dass materielle Fehler ganz bewusst in Kauf genommen werden müssen, um das Vertrauen in den Bestand der jeweils festgesetzten Steuer nicht zu gefährden. Dieser Prinzipienwechsel (von Rechtsrichtigkeit zu Rechtssicherheit) wird rechtstechnisch schon allein dadurch bewerkstelligt, dass der Steuerpflichtige seiner Einwendung beraubt wird, die Steuerfestsetzung sei im Vergleich zur materiellen Steuer zu hoch und damit rechtswidrig.971 Er hat es daher zu akzeptieren, dass die Finanzbehörde – eventuell sogar „sehenden Auges“ – einen ungesetzlichen, aber wirksamen Verwaltungsakt vollstreckt.972 Indem die Rechtswidrigkeit eines die Steuer festsetzenden Verwaltungsaktes ganz bewusst als unerheblich qualifiziert und die titulierte Forderung somit jeglichem Makel der 968

Vgl. Söhn, Steuerrechtliche Folgenbeseitigung durch Erstattung, S. 149 f. BT-Drucks. VI/1982, Zu § 41, S. 113. 970 Siehe zu dem inneren Widerspruch des Rechtsstaatsprinzips bereits: 3. Die steuerliche Wirkung einer zu hohen – unrichtigen – Steuerfestsetzung (S. 40). 971 Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, § 37 Rn. 34: „Die formelle Bestandskraft (Unanfechtbarkeit) des Steuerbescheides überlagert dessen materielle Fehlerhaftigkeit. Der Stpfl. kann sich nicht mehr darauf berufen, dass der festgesetzte Steueranspruch nicht besteht […].“ Zustimmend auch Hein, DStR 1990, S. 301 ff. 972 Vgl. Beermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 257 Rn. 15 ff. 969

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Rechtswidrigkeit enthoben wird, verbietet sich schon rein faktisch eine Trennung der Forderungsbestandteile in einen rechtmäßigen und einen unrechtmäßigen Teil. Diese Differenzierung wird durch die Präklusion von Einwendungen stillschweigend aufgehoben, so dass die Steuerforderung hinsichtlich ihrer weiteren Realisierung einheitlich nur noch als eine bestandskräftige angesehen werden kann.973 Natürlich hat diese mit dem Eintritt der Bestandskraft einhergehende Wirkung nichts mit der früher zur Rechtswirksamkeit fehlerhafter Verwaltungsakte vertretenen Auffassung gemein, dass ein von der Obrigkeit erlassener Akt seine Rechtmäßigkeit bezeuge oder dem Verwaltungsakt auch im Fall der Rechtswidrigkeit eine zu beachtende Staatsautorität innewohne.974 Sie ändert ferner nichts daran, dass eine überschießende Steuerfestsetzung auch nach Eintritt der Bestandskraft

973 Diese Wirkungen werden von niemandem ernsthaft in Zweifel gezogen. Eine allgemeine Formulierungsweise hat sich allerdings noch nicht durchgesetzt. Siehe für das Steuerverfahrensrecht ganz ausdrücklich u. a. v.  Wallis, Festschrift für Döllerer, S.  693 ff. [698]: „Auch der sachlich unrichtige Steuerbescheid erwächst in Bestandskraft mit der Folge, daß die Unrichtigkeit nicht mehr berichtigt werden kann. Die Richtigkeit oder Unrichtigkeit steht nicht mehr in Rede.“ Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, § 37 Rn.  34 (zitiert in Fn.  971); Blesinger, in: Kühn/v. Wedelstädt, AO, § 37 Rn. 10: „Mit der Unanfechtbarkeit des der Leistung zugrunde liegenden Verwaltungsakts kann sich der Steuerpflichtige nicht mehr darauf berufen, dass der von ihm erfüllte (oder zu erfüllende) Anspruch keinen „rechtlichen Grund“ habe […]. Der Mangel der materiell-rechtlichen Begründetheit wird insoweit „geheilt“ durch die Unanfechtbarkeit […].“Zu den vergleichbaren Wirkungen der Rechtskraft (zur Vergleichbarkeit der Bestandskraft und der Rechtskraft siehe u. a. BVerfGE  60, S.  253) schon der RFH, RFHE 11, S. 85 [86 f.]: „Wenn die Beschwerdeführerin der Ansicht Ausdruck gibt, es liege in der Grundregel allen Rechtes, daß eine zu Unrecht geschehene Leistung auf irgendeinem Wege wieder auszugleichen und gutzumachen sei und im Steuerstreit die richtige Steuer festzustellen sei, so scheitern diese Darlegungen daran, daß durch jede rechtskräftige Entscheidung die richtige Steuer als festgestellt gilt. […] Gerade mit Rücksicht darauf, um endgültige Verhältnisse herbeizuführen, hat das Recht die Einrichtung der Rechtskraft geschaffen, damit diese alle weiteren Erörterungen über den entscheidenden Fall abschneidet. Daß der Steuerpflichtige, der allerdings einem starken Gegner gegenübersteht, zu seinem Rechte kommt, ist vom Gesetz nicht dadurch gewährleistet, daß der Begriff der Rechtskraft abweichend vom bürgerlichen Rechte ausgestaltet ist, sondern durch eine Reihe besonderer Vorschriften, namentlich durch sorgfältige Gestaltung des Rechtsmittelweges. Dadurch wird, soweit es überhaupt bei der Unvollkommenheit des menschlichen Tuns möglich ist, die Findung des richtigen Rechtes gesichert.“ Später hat der BFH, BStBl. III 1965 S. 491, dies auch bei noch nicht bestandskräftigen Steuer­ bescheiden angenommen. Ganz ähnliche Überlegungen hat Ossenbühl, DÖV 1967, S. 246 ff. [248 f.] im Bereich des allgemeinen Verwaltungsrechts (Rücknahme von Wohngeldbescheiden mit anschließender Rückforderung) angestellt. Früher auch schon (damals noch als „Rechtskraft“ von Verwaltungsakten bezeichnet) Lizius, StuW 1942, S.  817 ff. [822]; Baring, NJW 1952, S. 1073 ff. [1074]. 974 O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 3. Aufl. (1924), Bd. I, S. 92 ff. [95]: „Die Obrig­ keit aber, wenn sie innerhalb ihrer allgemeinen Zuständigkeit bestimmt, bezeugt damit zugleich, daß die besonderen Voraussetzungen für die Gültigkeit ihres Aktes gegeben sind.“ Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, S.  173. Eine solche Ansicht lässt sich jedenfalls heute nicht mehr mit dem verfassungsrechtlichen Gesetzmäßigkeitprinzip vereinbaren; siehe ausführlich hierzu Söhn, Steuerrechtliche Folgenbeseitigung durch Erstattung, S. 78 ff.

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

weiterhin materiell rechtswidrig bleibt.975 Es hat sich weder der Verwaltungsakt noch sein Bezug zum materiellen Steuerrecht verändert, sondern allein die aus der Rechtswidrigkeit zu ziehenden Schlussfolgerungen. Eine durchgeführte Rechtsprüfung wird dem Steuerpflichtigen daher auch weiterhin attestieren müssen, dass der Fiskus von ihm einen zu hohen Steueranspruch eingefordert hat. Ab Eintritt der Bestandskraft muss dieses Testat allerdings den Zusatz tragen, dass die Rechtswidrigkeit für alle Beteiligten von nun an unbeachtlich ist. Doch darf man nicht die Augen davor verschließen, dass es häufig nicht einmal zu einer nachträglichen Feststellung kommen wird. Ist im Fall einer bestandskräftigen Steuerfestsetzung weder eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand noch ein Änderungstatbestand ersichtlich einschlägig, gibt es von Seiten der Finanzbehörde oder des Finanzgerichts zu keiner Zeit einen Anlass, die Rechtmäßigkeit ernstlich zu bezweifeln, so dass die vom Steuerpflichtigen gegen die bestandskräftige Steuerfestsetzung vorgebrachte Einwendung der Rechtswidrigkeit nichts anderes bleiben wird als eine ungeprüfte Behauptung. Diese rechtssichere Steuerforderung wird somit niemals in ihre verschiedenen Bestandteile (rechtmäßig und rechtswidrig) zerlegt, sondern als einheitliche behandelt und steht als „Steueraufkommen“ Bund, Ländern und Gemeinden nach Maßgabe der Art. 106 ff. GG zu. Dies ist bei weitem nicht selbstverständlich, denn anderenfalls – also bei einer vorgenommenen Trennung – müsste man sich die Frage stellen, wem die Ertragshoheit an einer rechtswidrigen Forderung aus dem Steuerbescheid zukäme. Eine ausdrückliche Regelung findet sich hierzu weder im Finanzverfassungsrecht gemäß den Art. 106 ff. GG noch einfachgesetzlich in § 3 Abs. 5 AO. Fasst man die von der Bestandskraft ausgehenden Wirkungen daher einmal in ihrer Gesamtheit zusammen, so lässt sie sich wohl am treffendsten als „Überlagerung der Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides durch den Eintritt der Bestandskraft“ auf den Punkt bringen.976 Im Gegensatz zum Steuerverfahren – bei dem dieser Mechanismus nicht beschrieben werden muss, sondern einfach hingenommen werden kann – ist dies für die Fälle der „Fristerschleichung“ deshalb von großer Bedeutung, weil erst der herausgearbeitete Charakter der überschießenden Steuerforderung im Hinblick auf die in § 3 Abs. 1 AO enthaltenen Steuermerkmale Aufschluss gibt. Diese Folgerung gilt natürlich erst recht, wenn die in Rede stehende Steuerfestsetzung nicht nur bestandskräftig geworden, sondern sogar eine rechts 975 So zu Recht Söhn, Steuerrechtliche Folgenbeseitigung durch Erstattung, S. 153 ff. [154]; Jesch, Die Bindung des Zivilrichters an Verwaltungsakte, S. 21. 976 Vgl. Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, § 37 Rn. 34 (zitiert in Fn. 973). Teilweise wird diese Wirkung auch dahingend umschrieben, dass ab Eintritt der Bestandskraft die zutreffende Steuer als festgesetzt gilt (vgl. bereits RFHE 11, S. 85, ebenfalls zitiert in Fn. 973). Es ist allerdings fraglich, ob eine auf diese Art formulierte „Rechtmäßigkeitsfiktion“ vollends überzeugen kann. Immerhin hat der Steuerbescheid durch Eintritt der Bestandskraft ein neues Stadium erreicht, in dem die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit nicht mehr interessiert (vgl. v. Wallis, Festschrift für Döllerer, S. 693 ff., zitiert in Fn. 973). Es bedarf daher im Grunde keiner dahingehenden Fiktion. Kritisch zu einer Fiktion insbesondere Söhn, Steuerrechtliche Folgenbeseitigung durch Erstattung, S. 153 ff. [154].

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kräftige Entscheidung gemäß § 110 Abs. 1 FGO durch die Finanzgerichte herbeigeführt wurde. Der bestandskräftige Steuerbescheid weist demzufolge immer nur eine einheitliche Steuerforderung aus, die bis zu ihrer ausnahmsweisen Änderung zu beachten ist. Insofern ist nämlich noch zu berücksichtigen, dass das Prinzip der Rechtssicherheit und sein genereller Vorrang vor der Rechtsrichtigkeit im Fall der Bestandskraft nicht unumkehrbar ausgestaltet ist. Sie wird also, anders als es bei der materiellen Rechtskraft von gerichtlichen Entscheidungen der Fall ist, nicht nur ausnahmsweise, sondern regelmäßig mittels dafür ausdrücklich vorgesehener Normen durchbrochen.977 Im Einzelfall können Umstände doch noch zur Rechtsrichtigkeit – also zur Herauf- oder Herabsetzung auf die materiell geschuldeten Steuer  – zwingen, wenn gemessen am Rechtsstaatsprinzip ansonsten ein untragbarer Zustand entstünde. Aus diesem Grund ist einerseits für die formelle Bestandskraft eine Ausnahme durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO bzw. § 56 FGO) vorgesehen, wenn der Steuerpflichtige ohne sein Verschulden die Rechtsbehelfsfrist versäumt hat. Andererseits ist eine partielle Durchbrechung der materiellen Bestandskraft bei Eingreifen von Änderungstatbeständen vorgesehen, wenn bsplw. der rechtswidrige Steuerbescheid durch arglistige Mittel erwirkt wurde (§ 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2c) AO) oder der Steuerpflichtige die aus seiner Sicht zu hohe und damit rechtswidrige Steuerfestsetzung selbst nicht grob schuldhaft verursacht hat (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO). Diese Einzelfallregelungen ändern jedoch nichts an dem durch die Bestandskraft eingetretenen Zustand, dass sowohl der Steuerpflichtige als auch die Finanzbehörde auf den im Steuerbescheid festgehaltenen Anspruch in voller Höhe vertrauen dürfen. Sie erweisen sich vielmehr als Rückausnahmen, denen nur dann Beachtung geschenkt werden darf, wenn sie tatsächlich zu einer Änderung der Steuerfestsetzung führen.978 Wird daher die Rechtssicherheit an einem äußerlichen Errichtungsakt der Finanz­behörde geknüpft, so kann sie nur durch einen äußerlichen Vernichtungsakt (als actus contrarius) zugunsten der Rechtsrichtigkeit zurückgedrängt werden. Anderenfalls, wenn also bereits die bloße „Änderbarkeit“ einer bestandskräftigen Steuerfestsetzung dieses Vertrauen wieder zunichtemachen könnte, bliebe von der Bestandskraft überhaupt keine Wirkung übrig. Schließlich wäre mit einer so geschaffenen (zweiten) Unsicherheit im wahrsten Sinne des Wortes die Rechtssicherheit ihrer eigenen Wirkung beraubt. Um zu dem eingangs formulierten Ergebnis zu gelangen, dass die an sich rechtswidrige Steuerforderung uneingeschränkt der staatlichen Finanzierung dient, bedarf es nur noch der Zusammenfügung der bereits hergeleiteten Ergebnisse. Soweit sich ab Eintritt der Bestandskraft eine Trennung der verschiedenen Forderungsbestandteile verbietet, kann es sich im Umkehrschluss somit insgesamt nur um eine einheitliche „bestandskräftige Steuer“ handeln. Für die Einordnung 977

Siehe nur v. Wallis, Festschrift für Döllerer, S. 693 ff. Ähnlich Ossenbühl, DÖV 1967, S. 246 ff.

978

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

einer Geldforderung als Steuer teilt somit der rechtswidrige Teil einer Forderung das Schicksal des rechtmäßigen und es handelt sich demzufolge in voller Höhe um eine einheitliche Geldleistung die der staatlichen Einnahmeerzielung dient, ohne zugleich Gegenleistung für eine besondere Leistung zu sein. Die überschießende Steuerforderung vollzieht demzufolge einen Wandel von einer anfänglichen Geldleistungspflicht, die aus materiell-rechtlicher Sicht überhaupt nicht existieren durfte und damit folgerichtig auch nicht zur Erzielung von Einnahmen bestimmt sein konnte, zu einer insgesamt bestandskräftigen Steuerforderung. Von nun an muss ihr schon aus Gründen der Rechtssicherheit uneingeschränkt Beachtung geschenkt werden, solange sie nicht durch einen ausdrücklichen Akt seitens der Finanzbehörde oder des Finanzgerichtes aufgehoben oder geändert wird. Diese Übrigen auch dann einzutreten, wenn die Steuerfest­ Wirkungen pflegen im ­ setzung nicht nur zu einem Teil, sondern insgesamt aus einer überschießenden und mithin rechtswidrigen Steuerforderung bestehen sollte. Denn das Ziel der Bestandskraft kann auch in ­diesen Fällen kein anderes sein als die Erzeugung von Rechtssicherheit. b) Unbeachtlichkeit der Rechtsgrundtheorien Letztlich ist es für das formulierte Ergebnis vollkommen unbeachtlich, welcher Rechtsgrundtheorie man bereit ist, den Vorzug zu geben. Die von einer rechtswidrigen, aber bestandskräftigen Steuerfestsetzung ausgehenden Wirkungen werden uneingeschränkt nicht nur von der formellen, sondern auch von der materiellen Rechtsgrundtheorie anerkannt. Für die aus der Bestandskraft hergeleiteten Überlagerung der Rechtswidrigkeit und für die daraus folgende Untrennbarkeit der Steuerforderung stellt es keinen Unterschied dar, ob dem rechtswidrigen Steuerbescheid entweder nur eine „formelle Leistungsverpflichtung“ bzw. ein „formelles Behaltensrecht“ (im Falle der Zahlung) zukommen oder dieser selbst den Rechtsgrund darstellen soll.979 Beide Rechtsgrundtheorien kommen daher auf zwei unterschiedlichen Wegen zum selben Ziel. Dies kann allerdings schon aus dem Grunde nicht verwundern, weil sich eine hiervon abweichende Deutung am ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers vorbeibewegen würde, der zudem erkennbar Niederschlag in der Abgabenordnung gefunden hat. Zum einen hat er ausdrücklich anerkannt, dass ein Steuerbescheid „auch konstitutiv wirken [kann], soweit die festgesetzte Steuer nicht der tatsächlich entstandenen Steuer entspricht.“980 Daher geht auch von einer überschießenden Steuerfestsetzung ein bindender Leistungsbefehl aus, der bis zu seiner Aufhebung durch die Finanzbehörde oder das Finanz­ 979 Siehe hierzu als Vertreter der materiellen Rechtsgrundtheorie ausdrücklich Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, § 37 Rn. 34 (zitiert bereits in Fn. 973), und Söhn, Steuerrechtliche Folgenbeseitigung durch Erstattung, S. 81 ff. [103 f.], 153 ff., als Vertreter der (modifizierten) formellen Rechtsgrundtheorie. 980 BT-Drucks. VI/1982, Zu § 199, S. 168.

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gericht wirksam bleibt. Zum anderen hat er dem Steuerpflichtigen das Recht, eine Aufhebung rechtswidriger Steuerbescheide zu verlangen, nicht grenzenlos, sondern nur „nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften auf dem Rechtsbehelfsweg oder durch Berichtigung“981 gewährt. Auf die weitergehende Frage, ob dieser allein aus dem Steuerbescheid zu entnehmende Leistungsbefehl eine Steuer darstellt, geben weder die Rechtsgrundtheorien noch der Gesetzgeber Aufschluss. Sie können es schon allein deshalb nicht, weil eine Forderung nicht durch einen Bestimmungsakt zur Steuer wird, sondern allein dadurch, dass sie die Begriffsmerkmale des § 3 Abs. 1 AO erfüllt.982 Nur in diesen Fällen ist der Anwendungsbereich der Abgabenordnung – mitsamt ihrer Regelungen über das Steuerstrafrecht  – eröffnet. Zugleich ergibt sich hieraus auch der weitere Untersuchungsgegenstand. Der überschießende (rechtswidrige)  Forderungsbestandteil  – als Teil  einer einheitlichen, bestandskräftigen Steuerforderung – muss den weiteren Begriffsmerkmalen des § 3 Abs. 1 AO unterfallen, um legitim als „Steuer“ im Sinne der Abgabenordnung gelten zu können. 2. Auferlegt von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen Der herausgearbeitete Gedanke, dass ab Eintritt der Bestandskraft einer festgesetzten Steuer nicht mehr zwischen ihrer Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit unterschieden werden darf, setzt sich bei der Frage fort, ob eine Geldleistung von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen auferlegt wird. Will man dies mit der ganz überwiegenden Ansicht nur dann annehmen, wenn der Rechtsgrund der Verpflichtung einseitig und ohne Rücksicht auf den Willen des Verpflichteten durch hoheitlichen Akt in Gestalt eines Gesetzes bestimmt wird,983 so ergeben sich für 981

BT-Drucks. VI/1982, Zu § 41, S. 113. Dies gilt jedenfalls für den verfassungsrechtlichen Steuerbegriff, der aber  – da die Art. 104a ff. GG keine Legaldefintion der Steuer beinhaltet – aus der Steuerdefinition des § 3 Abs. 1 AO entnommen wird. Das Vorliegen einer Steuer wird daher (weitestgehend) einheitlich anhand der dort enthaltenen Merkmale bestimmt, BVerfGE 7, S. 244; Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, § 3 Rn. 2a, 7b; Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 3 Rn. 43, 70. Etwas anderes wäre nur dann gegeben, wenn der Gesetzgeber die in § 3 Abs. 1 AO enthaltene Steuer­ definition ändern und somit ggfs. abweichend vom verfassungsrechtlichen Steuerbegriff bestimmen würde (Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, § 3 Rn. 2a (a. E.). Zur möglichen Abweichung der Steuerbegriffe später unter: 2. Tatbestandsmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung – keine die Steuer begründenden Merkmale (S. 260). 983 BFH, BStBl. II 1995, S. 438 (Troncabgabe); BStBl. II 2011, S. 547 (Dublin-Docks-Gesellschaften); Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, § 3 Rn. 10; Neumann, in: Beermann/Gosch, AO, § 3 Rn. 12: Pahlke, in: Pahlke/Koenig, AO, § 3 Rn. 13. Zum Streit, ob der Begriff „auferlegt“ entgegen der überwiegenden Ansicht nicht an die das Steuergesetz erlassende, sondern vielmehr an die ertragsberechtigte Körperschaft (siehe u. a. Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 3 Rn. 75 ff.) anknüpft, kommt es für die in dieser Arbeit zu beantwortende Fragestellung nicht an. Schließlich ist davon auszugehen, dass der rechtmäßige Forderungsbestandteil eine „Steuer“ im Sinne des § 3 Abs. 1 AO darstellt. 982

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den rechtswidrigen Teil einer Steuerforderung keine davon abweichenden Schlussfolgerungen. Zwar ließe sich gegen eine Auferlegung durch Gesetz zu Recht anführen, ein aus dem Steuergesetz abzuleitender Rechtsgrund wäre insofern überhaupt nicht vorhanden, sondern könne nur dem Steuerbescheid selbst entnommen werden. Eine solche Sicht entspricht zwar dem materiellen Recht, allerdings lässt sie den an dieser Stelle tragenden Gedanken unberücksichtigt, dass eine Überprüfung der festgesetzten Steuer aufgrund der einschlägigen Verfahrensvorschriften überhaupt nicht mehr stattfinden darf. Soweit sich demzufolge eine Trennung der verschiedenen Forderungsbestandteile verbietet, kann es sich im Umkehrschluss somit insgesamt nur um eine einheitlich bestandskräftige Steuer handeln. Für die Einordnung einer Geldforderung als Steuer teilt somit der rechtswidrige Teil einer Forderung das Schicksal des rechtmäßigen. Natürlich soll der Umstand nicht unterschlagen werden, dass im Falle einer überschießenden Steuerforderung in Wahrheit überhaupt kein Steuergesetz (genauer: kein Steuertatbestand) einschlägig ist. Dies ist aber eine Frage, die letztlich erst später am weiteren Steuermerkmal der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung („allen auferlegt wird, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft“) akut wird.984 Für die an dieser Stelle zu betrachtende Auferlegung helfen schon die bereits formulierten Wirkungen der Bestandskraft weiter. Letztlich lässt sich die Auferlegung einer unrechtmäßig geforderten Geldleistung nicht etwa deshalb anzweifeln, weil dem Steuerpflichtigen im steuerlichen Ermittlungsverfahren erhebliche Mitwirkungspflichten obliegen, mit denen er direkten Einfluss auf die Feststellung der Besteuerungsgrundlagen nehmen kann. Indem der Bürger das Ermittlungsverfahren – bsplw. durch von ihm in seiner Erklärung nicht angegebene Steuerminderungsgründe – unzureichend betreibt, wird er allein dadurch nicht „Herr über seine eigene Steuerschuld“ und zugleich eine Steuer nicht zu einer freiwilligen Spende. Zum einen könnte somit die Qualität jeder Steuer bestritten werden, sofern sie nicht allein von der Finanzbehörde ermittelt und festgestellt wird. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass eine Steuer bereits dann entsteht, wenn der dazugehörige Steuertatbestand erfüllt wird, ohne dass es dazu eines Verwirklichungswillens seitens der am Steuerverfahren Beteiligten bedarf.985 Nur insoweit wird die sich aus dem Steuergesetz ergebende Geldleistung dem Bürger gegenüber einseitig bestimmt. Die nachträgliche, in weitem Umfang dem Steuerpflichtigen auferlegte, Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes ist davon vollkommen verschieden. Denn sie kann an der bereits von Gesetzes wegen entstandenen Leistungspflicht nichts mehr ändern.986 Ist man daher zu der zutreffenden Auffassung gelangt, dass das steuerrechtliche Ermittlungsverfahren für das 984 Zu den weiteren Merkmalen der Tatbestandsmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung siehe später ausführlich: II. Entstehung der Leistungspflicht durch Tatbestandserfüllung (S. 257). 985 BFH, BStBl. II 1990, S. 939; Schuster, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 38 Rn. 26. 986 Ähnl. BFH, BStBl.  II  2011, S.  547 (Dublin-Docks-Gesellschaften); Wernsmann, in: Hübsch­mann/Hepp/Spitalter, AO, § 3 Rn. 79.

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Merkmal der Auferlegung unbeachtlich ist, dann muss dies zugleich für die Fälle gelten, in denen die im Steuerbescheid geforderte Geldleistung in einem Teil die gesetzmäßige Steuer übersteigt. Denn ab Eintritt der Unabänderbarkeit der Steuer­ festsetzung darf eine Teilung in einen rechtmäßigen und einen rechtswidrigen Teil nicht mehr stattfinden, so dass die in einem Steuerbescheid geforderte Geldleistung in gesamter Höhe als „von einem Steuergesetz auferlegt“ gelten muss. 3. Kein unmittelbarer Sanktionscharakter Nach dem bisherigen Ergebnis stellt eine von der Finanzbehörde materiellrechtlich zu Unrecht geltend gemachte Forderung eine zur Einnahmeerzielung dienende Geldleistung dar. Eine solche Auslegung erschiene jedoch dann nicht mehr gerechtfertigt, wenn die rechtswidrig eingeforderte Geldleistung vorwiegend einen sanktionierenden Charakter vergleichbar den steuerlichen Nebenleistungen besäße. Eine solche Überlegung liegt schon deswegen nicht fern, weil insbesondere das Verstreichenlassen der Einspruchsfrist gemäß § 355 Abs. 1 S. 1 AO und die bei grobem Verschulden eintretende Änderungssperre nach gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO jeweils an ein Fehlverhalten des Steuerpflichtigen anknüpfen. Sie erwecken daher den Anschein, dass der Steuerpflichtige seine Versäumnisse mit einer zu hohen Steuerschuld letztendlich „bezahlen“ muss. Man nehme einmal den aus Sicht des Steuerpflichtigen schlechtesten Fall an, dass also nach Abgabe einer grob mangelhaften Einkommensteuererklärung, in der erhebliche Werbungskosten nicht angeführt werden, der Steuerpflichtige die Einspruchsfrist ebenfalls tatenlos verstreichen lässt. Dies bedeutet zugleich, dass eine Durchbrechung der eingetretenen materiellen Bestandskraft zugunsten des Steuerpflichtigen (Berücksichtigung der vergessenen Werbungskosten und Herab­ setzung der festgesetzten Einkommensteuer) gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO aufgrund des entgegenstehenden groben Verschuldens nicht mehr möglich ist. Nun wird man in einem solchen Fall aus der dem Steuerpflichtigen verwehrten Änderung unzweifelhaft eine belastende Wirkung erkennen müssen. Immerhin wird er gezwungen, den bestandskräftigen und nicht mehr abänderbaren Steuerbescheid auch in unzutreffender Höhe zu akzeptieren. Wer nun sogar bestärkt durch die Aussagen des Gesetzgebers davon ausgeht, dass der Ausschlussgrund des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO („kein grobes Verschulden“) dazu dienen soll, den Steuerpflichtigen ganz bewusst zu einer ordnungsgemäßen Mitwirkung zu veranlassen, der muss dann natürlich die Nichtberücksichtigung günstiger Tatsachen folgerichtig als Sanktion begreifen.987 Diese Wirkung beruht schließlich auf einer Pflichtverletzung des Steuerpflichtigen. 987

So ausdrücklich der BFH, BStBl. II 1989, S. 920 [921]: „Durch das Merkmal des groben Verschuldens in Nr. 2 des § 173 AO 1977 soll der Steuerpflichtige dazu angehalten werden, zu seinem Verantwortungsbereich gehörende und steuerlich relevante Tatsachen rechtzeitig vorzubringen (vgl. Entwurf einer Abgabenordnung AO 1974, BT-Drucks. VI/1982 S. 153 zu

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Diese im Ansatz zutreffende Folgerung stellt jedoch nur die eine Hälfte der Medaille dar; dreht man sie, so bietet sich ein ganz anderer Bezugspunkt: Bereits mehrfach war die Rede davon, dass der Gesetzgeber zwischen dem Interesse nach materieller Richtigkeit des Rechts einerseits und dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit andererseits einen verträglichen Ausgleich schaffen muss. Dieser von ihm anzustrebende Kompromiss – mehr kann man bei zwei widerstreitenden Prinzipien nicht verlangen  – muss eine sachgerechte Begründung enthalten, warum einmal der Rechtsrichtigkeit und ein anderes Mal der Rechtssicherheit Vorrang eingeräumt werden soll. Dem Gesetzgeber obliegt also nichts Geringeres als die schwierige Aufgabe, ein willkürfreies, den Anforderung der Verfassung genügendes System zu schaffen.988 Nun kann man jedenfalls dort, wo der Steuerpflichtige selbst zur Rechtswidrigkeit der ihn betreffenden Steuerfestsetzung in einer nicht mehr entschuldbaren Weise beigetragen hat, guten Gewissens der Rechtssicherheit Vorrang gewähren, wenn dadurch der materiell entstandene Steueranspruch nicht beeinträchtigt wird. Genau dies betrifft den Fall des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, der eine Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen ermöglicht. Im Grunde nicht anders ist aber mit der Rechtsprechung und Literatur auch dann zu entscheiden, wenn die Rechtswidrigkeit einer Steuerfestsetzung allein auf eine Ermittlungspflichtverletzung der Finanzbehörde zurückzuführen ist.989 Diesmal verbietet sich eine Heraufsetzung auf die materiell geschuldete Steuer gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO, weil der ordnungsgemäß mitwirkende Steuerpflichtige zu Recht auf den Bestand der Festsetzung vertrauen darf. Knüpft das Gesetz demzufolge an die Verletzung der Mitwirkungspflicht seitens des Steuerpflichtigen oder der Ermittlungspflicht seitens der Finanzbehörde an und macht es diese zu einer Voraussetzung der Durch­ brechung der materiellen Bestandskraft, geschieht dies primär aus dem Zweckgedanken der Änderungsvorschriften heraus und nicht zur Sanktionierung eines Fehlverhaltens.990 Denn erst die Verletzung einer aus dem Steuerverfahren resultierenden Pflicht bietet den sachlogischen Grund zur Auflösung des dargelegten Prinzipienwiderspruchs zwischen Rechtsrichtigkeit und Rechtssicherheit. Wer dies anders sehen möchte, der muss nicht zuletzt nachvollziehbar begründen, wie dieser Sanktionsgedanke auf den angesprochenen Änderungstatbestand des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO übertragen werden kann. Findet nämlich eine nachträgliche Erhöhung auf die tatsächlich geschuldete Steuer nur deshalb nicht statt, weil § 154). Trägt ein Steuerpflichtiger steuerlich relevante Tatsachen grob schuldhaft erst nach Eintritt der Bestandskraft vor, so muß er es hinnehmen, daß der Bescheid, […], grunsätzlich unabänderbar bleibt.“ Zust. u. a. Koenig, in: Pahlke/Koenig, AO, § 173 Rn. 110. 988 Zum diesem „Abwägungsmechanismus“ aus dem allgemeinen Verwaltungsrecht (§§ 48 ff. VwVfG) siehe bereits Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 421 ff. [427 f.]. 989 Siehe Fn. 341. 990 Vgl. v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 173 Rn. 262 und 273: „Es geht […] nicht darum, den Steuerpflichtigen (nachträglich) zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen anzuhalten oder solches zu bestrafen, sondern allein darum, bestimmte Konsequenzen daraus zu ziehen, dass derjenige, dem die Korrektur zugute kommen soll, maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass es überhaupt zu einem Korrekturfall […] gekommen ist.“

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der Finanzbehörde eine Verletzung ihrer Ermittlungspflicht vorgeworfen werden kann, so müsste das doch gleichermaßen auf eine „Bestrafung der Finanzbehörde“ hinauslaufen. Natürlich kann man diesen Schluss schon deshalb nicht ziehen, weil die Finanzverwaltung bei der Eintreibung von Steuern nicht aus eigenem, sondern als Sachwalter eines fremden Interesses tätig wird und daher auf die in Rede stehende Art und Weise überhaupt nicht bestraft werden kann. Dieser Vergleich verdeutlicht das schon formulierte Ergebnis, dass die materielle Bestandskraft mitsamt der Vorschriften über ihre Durchbrechung gemäß §§ 172 ff. AO allein die Frage betreffen, ob der bereits bestandskräftige besondere Steuerverwaltungsakt zugunsten der Rechtsrichtigkeit und zulasten der Rechtssicherheit doch noch geändert werden darf. Erst sekundär tritt dann als Folge einer versagten Änderung einer zu hohen Steuerfestsetzung die problematisierte Belastungswirkung ein und zugleich bildet sich das an jeden Steuerpflichtigen gerichtete Handlungsgebot heraus, die auferlegten Mitwirkungspflichten gefälligst zu erfüllen. Beides stellt jedoch bloß eine mittelbare Wirkung einer verweigerten Bestandskraftdurchbrechung dar, die dem Gesetzeszweck selbst nicht zu entnehmen ist. Einer überschießenden, aber unabänderbaren Steuerforderung entspringt demnach kein unmittelbarer Sanktionscharakter, der die Annahme einer Steuer ausschließen würde.

II. Entstehung der Leistungspflicht durch Tatbestandserfüllung Eine ursprünglich rechtswidrige und nunmehr insgesamt bestandskräftige Steuer­ forderung stellt sich nach dem bisherigen Verlauf der Untersuchung als eine Geldleistung dar, die – ohne eine Gegenleistung für eine besondere Leistung zu sein – der Einnahmeerzielung dient und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen auferlegt wird. Dieses Ergebnis wurde ganz wesentlich mit den Wirkungen der Bestandskraft begründet, die letztlich dafür sorgen, dass eine Steuerforderung jedenfalls solange nicht mehr in einen rechtmäßigen und einen rechtswidrigen Bestandteil zerlegt werden darf, bis sie ausnahmsweise doch noch durch die Finanzbehörde oder das Finanzgericht aufgehoben oder geändert wird. Im weiteren Verlauf gilt es zu klären, ob die übrigen Voraussetzungen des Steuerbegriffes aus § 3 Abs. 1 AO erfüllt sind. Noch nicht erörtert wurde bisher die Wendung, dass es sich bei einer Steuer um eine Geldleistung handeln muss, die allen auferlegt wird, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft.

1. Die Fälle der „Fristerschleichung“ Blickt man auf die „überschießende“ Steuerforderung, so wird man allerdings ohne Umschweife feststellen müssen, dass es per definitionem an einem gesetzlichen Steuertatbestand fehlen wird, der diese Leistungspflicht begründet. Eine

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Ausnahme könnte man allenfalls erwägen, wenn die Finanzbehörde die Steuer – bis auf vom Steuerpflichtigen vergessene Minderungsgründe (bsplw. Werbungskosten) – ordnungsgemäß festgesetzt hat. Hier ließe sich noch argumentieren, dass die festgesetzte Steuer durch die Erfüllung eines Steuertatbestandes auch tatsächlich entstanden ist. Soweit dagegen die Finanzbehörde einen Sachverhalt zu Unrecht für erwiesen oder umgekehrt für nicht erwiesen (Fehler auf Sachverhaltsebene)  oder einen Tatbestand rechtsirrig als gegeben oder umgekehrt als nicht gegeben (Fehler auf Rechtsebene) erachtet hat, mangelt es an einer Tatbestandsmäßigkeit. Eine Unterscheidung dieser Fallgruppen (vergessene Werbungskosten und sonstige Fälle) empfiehlt sich jedoch im Ergebnis nicht. Denn die genannten Steuermerkmale der Tatbestandsmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung stellen lediglich eine einfachgesetzliche Normierung der heute991 ohnehin aus dem Verfassungsrecht zu entnehmenden Anforderungen an legitime Eingriffe in die Freiheit des Bürgers dar.992 Zum einen ergibt sich der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung – soweit kein anderes Freiheitsrecht betroffen ist  – zumindest aus der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG und (ergänzend) aus dem Rechtsstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 3 GG.993 Eine Steuer darf demnach nur erhoben werden, wenn sie sich auf ein formelles Gesetz stützen kann, das selbst die wesentlichen Voraussetzungen und die dazugehörige Rechtsfolge nennt.994 Für die Finanzverwaltung folgt dar 991 Ein solches (verfassungsrechtliches) Selbstverständnis lag zu der Zeit als O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd.  I, 2. Aufl. (1914), S.  331, diese beiden Merkmale formulierte, noch nicht (insbesondere im Hinblick auf gleichheitswidrige Steuerprivilegien) vor. Siehe zur Geschichte dieser Steuermerkmale insbesondere die Kommentierung von Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 3 Rn. 181 ff. 992 Siehe hierzu insbesondere BVerfGE 84, S. 239 (Art. 3 GG); 87, S. 153 (Art. 2 Abs. 1 GG). Allg. zu diesen Steuermerkmalen Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 2 Rn.  19; Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 230 ff.; Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 3 Rn. 180 ff.; Neumann, in: Beermann/Gosch, AO, § 3 Rn. 26 ff.; Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, § 3 Rn. 32 ff. Zur Tatbestandsmäßigkeit ausführlich Selmer, Festschrift für Starck, S. 435 ff., der zwischen einer Tatbestandsmäßigkeit im engeren (grundrechtlicher Gesetzesvorbehalt) und im weiteren (unmittelbare Verknüpfung von gesetzlichem Tatbestand und Rechtsfolge) Sinne unterscheidet. 993 Siehe bereits allgemein die Nachw. in Fn. 992; Papier, Die finanzgerichtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, passim. Zum Verhältnis der grundrechtlich verbürgten Gesetzesvorbehalte und dem aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleiteten „allgemeinen“ Vorbehalt des Gesetzes als wesentliches Element der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung u. a. Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 4 Rn. 650 ff.; krit. dagegen Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 316 ff. [320] m. w. N., der dem Rechtsstaatprinzip und dem daraus hergeleiteten allgemeinen Vorbehalt des Gesetzes keine eigenständige Bedeutung (neben den grundrechtlichen Gesetzvorbehalten) zukommen lassen will (Kunig, a. a. O., S. 326). 994 Zu den Anforderungen an die Bestimmtheit von Steuergesetzen (insbesondere im Hinblick auf die Auslegungsbedürftigkeit und die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen) BVerfGE 13, S. 318; 21, S. 209; 63, S. 312; 78, S. 214. Siehe zur Herleitung des zwingenden Parlamentsvorbehalts Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, passim.

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aus eine strikte Bindung an die geltenden Steuergesetze.995 Zum anderen folgt das Gebot zu einer gleichmäßigen Besteuerung schon aus dem Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG und legt fest, dass sich die Errichtung von Steuergesetzen nach dem Kriterium der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu orientieren (Rechts­setzungsgleichheit) und die Finanzverwaltung die Steuern gleichmäßig im Fall ihrer Tatbestandsverwirklichung festzusetzen (Rechtsanwendungsgleichheit) hat.996 Misst man die in dieser Arbeit zur Begutachtung anstehenden Fälle, dass also ein Bürger zu einer nicht von einem Steuergesetz gedeckten und insoweit überschießenden Steuerforderung herangezogen wird, an diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben, so stellt diese finanzbehördliche Einzelfallentscheidung einerseits einen nicht gerechtfertigten Eingriff (zumindest) in die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG dar. Die Heranziehung zu einer von der Finanzbehörde rechtswidrig festgesetzten Steuer verstößt somit unweigerlich gegen den grundrechtlich verbürgten Gesetzesvorbehalt und widerspricht demzufolge den Anforderungen an eine gesetzmäßige Besteuerung.997 Damit hat es aber nicht sein Be 995 Vgl. u. a. BFHE 91, S. 511; BFH, BStBl. II 1990, S. 423. Die Tatbestandsmäßigkeit wird auch als Gesetzmäßigkeit der Besteuerung bezeichnet. 996 BVerfGE 82, S. 60; Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 3 Rn. 200 ff. m. w. N. 997 Vgl. hierzu schon die Ausführungen von Kelsen, VVDStRL (1928) Heft 5, S. 30 ff. [39 f.]: „Sofern die Verfassung ausdrücklich den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Vollziehung im allgemeinen, und im besonderen die Forderung der Gesetzmäßigkeit der Verordnung aufstellt, bedeutet die Gesetzmäßigkeit der Vollziehung zugleich  – indirekt  – Verfassungsmäßigkeit und umgekehrt.“ Siehe für das GG heute u. a. die Herleitung des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs des BVerfG („keine Superrevisionsinstanz“) von Di  Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art.  2 Rn.  67: „Ausgangspunkt ist hier zunächst die Überlegung, dass ein mit Eingriffswirkung verbundener staatlicher Einzelakt nur dann nach Art. 20 Abs. 3 GG gesetzmäßig und damit gemessen an der Freiheitsverbürgung des Art. 2 Abs. 1 GG grundrechtskonform ist, wenn auch tatsächlich die Voraussetzungen einer gesetzlichen Eingriffsermächtigung und ein womöglich eröffnetes Ermessen (§ 40 VwVfG) rechtsfehlerfrei ausgeübt wurde. An sich ist daher aufgrund der weiten Auslegung des Art.  2 Abs.  1 GG jede gegen einfaches Recht verstoßende behördliche oder richterliche Entscheidung, […], verfassungswidrig und müsste spätestens im Verfassungsbeschwerdeverfahren nach § 95 Abs.  2 BVerfGG aufgehoben werden. Das Bundesverfassungsgericht, das sich als Hüter der Verfassung und gerade nicht als Superrevisionsinstanz ansieht, prüft hier aber nicht wie die herkömmlichen Instanzgerichte die Richtigkeit eines Urteils schlechthin, […]. Entscheidend ist nur, ob eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts hinsichtlich Art.  2 Abs.  1 GG anzunehmen ist.“ Ausführlich zu diesem „Elfes-Problem“ (genannt nach der Elfes-Entscheidung BVerfGE 6, S. 32) Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, S. 29 ff. [56 ff.], 171 ff. [171]: „Nicht nur ein gegen direkte verfassungsrechtliche Bindung verstoßender, sondern auch ein mit dem einfachen Recht unvereinbarer Grundrechtseingriff leidet unter dem Mangel, daß er nicht auf Grund eines Gesetzes erfolgt. Damit verletzt er ein Spezialgrundrecht oder zumindest die allgemeine Handlungsfreiheit des Art.  2 Abs.  1 GG. Die betroffene Person ist in solchen Fällen in ihrem Grundrecht verletzt. Sie hat also, anders gewendet, ein Grundrecht auf Freiheit von rechtswidrigen Grundrechts­eingriffen. Die Erkenntnis ist allgemein akzeptiert.“ Für das Steuer­recht vgl. BVerfGE 20, S. 230 [235 f.]; Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 4 Rn. 332 a. E.

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wenden, weil daraus andererseits auf das Merkmal der Gleichheit der Besteuerung geschlossen werden kann. Soweit aus Art. 3 Abs. 1 GG wiederum eine Pflicht zur gleichmäßigen Anwendung der Steuergesetze hergeleitet wird, liegt zugleich ein nicht gerechtfertigter Eingriff in den allgemeinen Gleichheitssatz nahe.998 Immerhin wird in willkürlicher Art und Weise ein einzelner Bürger zu einer – aufgrund des Verstoßes gegen den grundrechtlich verbürgten Gesetzesvorbehalt – nicht legitimierbaren Steuer veranlagt. Die Heranziehung zu einer überschießenden Steuer stellt sich in allen in dieser Arbeit beschriebenen Fällen demnach nicht nur als rechtswidrig im Sinne steuerrechtlicher Normen, sondern sogar zugleich auch als verfassungswidrig dar. Allerdings soll dadurch nicht der Schluss nahegelegt werden, die somit verfassungswidrige Steuerfestsetzung könne erfolgreich mit einer Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht nach Maßgabe des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a) GG in Verbindung mit §§ 13 Nr. 8a), 90 ff. BVerfGG angefochten werden. Dies wird man für die Fälle der „Fristerschleichung“ generell nicht folgern können.999 Auf die Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde kommt es an dieser Stelle jedoch überhaupt nicht an, weil es vorliegend alleine um die Überprüfung geht, ob die überschießende Forderung aus dem Steuerbescheid unter die Merkmale des in § 3 Abs. 1 AO enthaltenen Steuerbegriffs subsumiert werden kann. Hierfür lässt sich aber feststellen, dass die nicht von einem Steuergesetz gedeckte und damit „zu hohe“ Steuerforderung nicht dem verfassungsrechtlich vorgesehenen Gesetzesvorbehalt entspricht und sich demzufolge auch nicht mit dem Merkmal der Tatbestandsmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung vereinbaren lässt. Stellen rechtswidrige Steuerforderungen am Ende überhaupt keine Steuern im Sinne der Abgabenordnung dar? 2. Tatbestandsmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung – keine die Steuer begründenden Merkmale Einem solchen Auslegungsergebnis widerspricht jedoch die ganz überwiegende Ansicht im Steuerverfahrensrecht. Danach soll unter den einfachgesetzlichen Steuer­begriff des § 3 Abs. 1 AO auch eine Steuer gefasst werden, die den Anforderungen der Tatbestandsmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht genügt. Denn es handele sich bei beiden Prinzipien zwar um wesentliche Elemente der Besteuerung, die sich – wie unlängst dargelegt – aus dem verfassungsrechtlichen verankerten Rechtsstaatsprinzip, dem grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt und dem Gleichheitssatz ergäben. Allerdings seien dies nur Rechtmäßigkeitsvoraussetzun-

998 Zum inneren Beziehungszusammenhang von Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung siehe Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 3 Rn.  202 f. u. § 4 Rn. 332 a. E.; Birk, StuW 1989, S. 212 ff. [213]: „Gesetzmäßigkeit der Besteuerung heißt aber auch Bindung der Verwaltung an das Gesetz und sichert so die Rechtsanwendungsgleichheit.“ 999 Hierauf wird später noch einmal zurückzukommen sein: a) Vorrang des Rechtsschutzes durch die Fachgerichte (S. 264).

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gen, so dass eine diesen Anforderungen nicht genügende Steuer insofern rechtsund verfassungswidrig sei, aber keine „Abgabe anderer Art“ darstelle.1000 Für die Fälle der „Fristerschleichung“ bedeutet diese Ansicht, dass es für die Einordnung als Steuer auf eine gemessen am materiellen Steueranspruch – als logische Folge der richtigen Subsumtion eines Sachverhaltes unter die Tatbestände eines Steuergesetzes – zutreffende Steuerfestsetzung gar nicht ankommt. Die überschießende Steuerforderung stellt demnach eine – wenn auch rechtswidrige – Steuer dar. Der vorbenannten Auffassung könnte sich jedoch das sog. „Zinsurteil“ des Bundesverfassungsgerichts entgegenhalten lassen, in dem die Gleichmäßigkeit und auch die Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung zu einem die Steuer „konstituie­ renden Merkmal“ erhoben wird.1001 Dieses Urteil steht jedoch nur in einem schein­ baren Widerspruch zur überwiegenden Ansicht im Steuerrecht. Ausgangspunkt ist hierbei die Überlegung, dass für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit einer normierten „Geldleistungspflicht“ die Anforderungen an ihre Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit in jedem Fall erfüllt sein müssen, gleichgültig ob man sie letztlich als Steuer, Sonderabgabe oder im Falle verfassungswidriger Steuern als „Abgabe anderer Art“ bezeichnen will.1002 Für die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene verfassungsrechtliche Prüfung ergibt sich daher nur ein begrifflicher, aber keineswegs inhaltlicher Unterschied, so dass man die in Rede stehenden Merkmale ruhigen Gewissens als für den verfassungsrechtlichen Steuer­ begriff konstituierend ansehen kann.1003 Im Gegensatz dazu lässt sich dies auf den einfachgesetzlichen Steuerbegriff nicht folgenlos übertragen. Würde man nämlich die vom Bundesverfassungsgericht für notwendig erachteten Merkmale der 1000 Ausdrücklich BFH, BStBl.  II  1995, S.  438 [443]: „Eine als Steuer konzipierte Abgabe verliert ihre Eigenschaft als Steuer auch nicht dadurch, daß ihre Rechtsgrundlage dem Rechtsstaatsprinzip (Art.  20 Abs.  3 GG), insbesondere dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, nicht genügt, weil die gesetzliche Regelung unvollständig oder unbestimmt ist bzw. eine Verordnungsermächtigung nicht dem Bestimmtheitsgrundsatz genügt. Dadurch wird ggf. die Erhebung der Steuer rechtswidrig, da eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechende Rechtsgrundlage fehlt.“ Aus der Literatur u. a. Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, § 3 Rn. 32; Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 3 Rn. 184 f.; Neumann, in: Beermann/Gosch, AO, § 3 Rn. 26; Pahlke, in: Pahlke/Koenig, AO, § 3 Rn. 5. 1001 BVerfGE 84, S. 239 [270 f.] (sog. Zinsurteil); ähnl. auch Selmer, Festschrift für Starck, S. 435 ff. [442]. 1002 So i.E. auch Neumann, in: Beermann/Gosch, AO, § 3 Rn. 27, wenn er dem BVerfG im Zinsurteil (Fn.  1001) einen „logischen Bruch“ vorwirft. Denn nach Auffassung des BVerfG würde es sich mangels Tatbestands- oder Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht um eine Steuer im Sinne des § 3 Abs. 1 AO handeln. Dies hätte dann zur Folge, dass diese „Abgabe ande­rer Art“ im Rahmen ihrer Verfassungsmäßigkeit wiederum an denselben Voraussetzung gemessen werden müsste. Hierbei hätte man dann festzustellen – was natürlich ohnehin schon feststeht! –, dass diese Abgabe verfassungswidrig ist. Daraus ergibt sich im – von Neumann, a.a.O, allerdings nicht direkt gezogenen – Umkehrschluss, dass sich die verfassungsrechtliche Prüfung zwar begrifflich aber auf keinen Fall inhaltlich verändert. 1003 Zum verfassungsrechtlichen Steuerbegriff siehe bereits Fn. 982. Auch die Ausführungen von Selmer, Festschrift für Starck, S. 435 ff., beschränken sich auf den verfassungsrechtlichen Steuerbegriff.

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Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung auf den einfachgesetzlichen Steuerbegriff anwenden, so fiele damit zumindest eine auf einem verfassungswidrigen Steuergesetz beruhende Zahlungspflicht unweigerlich aus dem Anwendungsbereich der Abgabenordnung heraus. Schließlich wären die Finanzbehörden in einem solchen Fall zum Erlass einer Steuerfestsetzung schon sachlich unzuständig und im Zweifel das Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) des Bundes oder eines Landes einschlägig.1004 Im Ergebnis würde der Streit über die Verfassungsgemäßheit eines Steuergesetzes an einem unbeachtlichen Punkt (sachliche Zuständigkeit) entzündet, der inhaltlich am eigentlichen Problem (legitime Rechtsgrundlage der Steuerfestsetzung) vorbeiführt. Da allerdings für das Steuerverfahrensrecht ein solcher Schluss von keiner Seite ernstlich erwogen wird und für die in dieser Arbeit zur Untersuchung anstehenden Fälle einer rechtswidrigen finanzbehördlichen Entscheidung überhaupt nicht gezogen werden kann,1005 stellen die Merkmale der Tatbestandsmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung keine die Steuer konstituierende Merkmale dar. Dies bedeutet zugleich, dass zwischen dem verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Steuerbegriff also doch ein inhaltlicher Unterschied besteht, der aber mit keinen weiteren als den hier dargestellten Auswirkungen verbunden ist. Für die Fälle der „Fristerschleichung“ muss es demzufolge bei dem bereits formulierten Ergebnis verbleiben, dass es für die einfachgesetzliche Einordnung als Steuer im Sinne des § 3 Abs. 1 AO nicht auf die Rechtmäßigkeit der finanzbehördlichen Einzelfallentscheidung ankommen kann.

1004 Vgl. BFH, BStBl. II 1995, S. 438. Dort hatte das FG (EFG 1993, S. 704 ff.) die Steuereigenschaft der niedersächsischen „Troncabgabe“ verneint, weil es eine vorherige Entscheidung des BVerfG (BVerfGE  28, S.  119) auch hinsichtlich den dortigen Ausführungen zur Steuer­eigenschaft der Troncabgabe für bindend gemäß § 31 Abs.  1 BVerfGG erachtet hatte. Daher sei – so das FG – bereits mangels Steuer im Sinne des § 3 Abs. 1 AO die sachliche Zuständigkeit des FA zu verneinen und der erlassene Verwaltungsakt aufzuheben. Dem trat der BFH in der angegebenen Entscheidung mit der Begründung entgegen, das FG habe das Vorliegen einer Steuer unzulässigerweise verneint. Zum einen sei die Entscheidung des BVerfG hinsichtlich ihrer Ausführung zur Steuereigenschaft nicht bindend und zum anderen seien – entgegen der Ansicht des BVerfG – alle Merkmale der Steuer erfüllt, wozu aber die Merkmale der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht zählten (siehe hierzu Fn. 1000). Hinsichtlich der Anwendung des VwVfG siehe (am Beispiel des Marktordnungsrechts) Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, § 1 Rn. 56; vgl. auch BFHE 99, S. 281. 1005 Die rechtswidrige finanzbehördliche Entscheidung verstößt zwar gegen die Tatbestandsmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung, allerdings wird man daraus nicht folgern können, dass auch eine (nur) unrichtige Steuerfestsetzung mangels Steuereigenschaft aus dem Anwendungsbereich der AO herausfällt. Denn die AO sieht für diese Fälle ausdrückliche Regelungen (§§ 172 ff. AO und schließlich auch das Einspruchsverfahren gemäß §§ 347 ff. AO) vor.

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3. Verfassungsrechtliche Überlegungen zu den Wirkungen der Bestandskraft Stellen die Merkmale der Tatbestandsmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung für das Steuerverfahrensrecht keine eigentlichen Steuermerkmale dar, so bedarf es im Grunde auch keiner weiteren Überlegungen, ob die aus der Bestandskraft bereits abgeleitete Wirkung (Überlagerung der Rechtswidrigkeit) über das Fehlen der genannten Merkmale hinweghilft. Dennoch erscheint eine dahingehende Auseinandersetzung bereits deshalb unumgänglich, weil bis hierher festgestellt wurde, dass eine von einem Steuergesetz nicht gedeckte Steuerforderung ohne Einschränkungen verfassungswidrig ist. Nun wird man aber eine als zutiefst ungerecht empfundene Steuer nicht ruhigen Gewissens unter das strafrechtlich geschützte „Steueraufkommen“ subsumieren können.1006 Es bedarf dann also doch einer stichhaltigen Begründung, warum die bereits festgestellte Verfassungswidrigkeit in den Fällen der „Fristerschleichung“ nicht mehr von auf das Steueraufkommen durchschlagender Bedeutung sein soll. Die Antwort auf diese drängende Frage muss lauten, dass wiederum die Bestandskraft der Steuerfestsetzung das entscheidende Rechtsinstitut darstellt. Denn mit dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Steuerfestsetzung ist die aus dem Rechtsstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 3 GG unmittelbar folgende Kollisionslage bis auf Weiteres entschieden, so dass ab diesem Zeitpunkt der Rechtssicherheit auf Kosten der Rechtsrichtigkeit Vorrang gewährt wird. Die verfassungsrechtlich garantierte Rechtssicherheit bringt es dann unweigerlich mit sich, dass auch eine materiell-rechtlich falsche und somit letztlich sogar verfassungswidrige Entscheidung als unerheblich qualifiziert werden muss.1007 Ist man gezwungen, diese rechtlichen Konsequenzen als wesentliches Element der Rechtssicherheit zu akzeptieren, so lässt sich der bereits formulierte Gedanke der Überlagerung der Rechtswidrigkeit durch den Eintritt der Bestandskraft auch für den hier besonders sensiblen Bereich des Verfassungsrechts übertragen. Denn mit Eintritt der Bestands- oder Rechtskraft kann die mit der überschießenden Steuerfestsetzung einhergehende Verfassungswidrigkeit in gleicher Weise nicht mehr wirksam geltend gemacht werden. Diese Rechtsfolge bedarf allerdings noch einer verfassungsrechtlichen Präzisierung, die sich aus zwei Elementen – dem Vorrang des fachgerichtlichen Rechtsschutzes und der Regelung des § 79 BVerfGG – zusammensetzt.

1006 Zu diesem besonderen Problem siehe nur Nolte, Hinterziehung verfassungswidriger und „verfassungswidrig“ genannter Steuern, S. 1 ff.; Salditt, Festschrift für Tipke, S. 475 ff. (hierzu bereits die Ausführungen zum Rechtsgut auf S. 167); Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 51 ff. 1007 Ausdrücklich zur Bestandskraft von Verwaltungsakten BVerfGE 60, S. 253 [268 f.] (zitiert in Fn. 141) und schon BVerfGE 2, S. 380 [403 f.] (zitiert in Fn. 140).

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a) Vorrang des Rechtsschutzes durch die Fachgerichte Die vorangegangenen Erläuterungen haben gezeigt, dass eine überschießende Steuerfestsetzung durch die Finanzbehörde einen verfassungswidrigen Eingriff darstellt. Der naheliegende Gedanke, der von einer rechtswidrigen Festsetzung betroffene Bürger könne zumindest über das Verfassungsrecht die Aufhebung verlangen, erweist sich schon deswegen als falsch, weil auch das Verfassungsrecht in Gestalt der Verfassungsbeschwerde keinen immerwährenden Schutz gegen grundrechtswidrige Eingriffe bietet. Vielmehr wird von dem Betroffenen verlangt, dass er den durch die Fachgerichte gewährten Primärrechtsschutz sucht und den grundrechtswidrigen Eingriff bereits auf dieser Ebene beseitigt. Im Kern liegt dem Prinzip der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde eine Zuständigkeitsverteilung zwischen den Fachgerichten und den Verfassungsgerichten zugrunde,1008 wie sie sich in den Fällen der „Fristerschleichung“ sehr gut beobachten lässt. Schon allein dadurch, dass der Steuerpflichtige den rechtswidrigen Steuerbescheid nicht rechtzeitig durch Einspruch und finanzgerichtliche Klage anficht, beraubt er sich damit selbst der Möglichkeit einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung mit Hilfe der Verfassungsbeschwerde. Denn diese setzt gemäß Art.  94 Abs. 2 S. 2 GG in Verbindung mit § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG voraus, dass der Beschwerdeführer im Rahmen des ihm durch Art.  19 Abs.  4 S.  1  GG garantierten Rechtsschutzes versucht, die Grundrechtsverletzung von den Fachgerichten beseitigen zu lassen. Erst nach erfolgter Rechtswegerschöpfung sind die Verfassungsgerichte dazu berufen, eine von den Fachgerichten nicht beseitigte (oder erst durch sie geschaffene) Verfassungswidrigkeit zu revidieren.1009 Hieran wird es in den Fällen der „Fristerschleichung“ stets fehlen, weil der Steuerpflichtige seine Rechtsbehelfsfristen tatenlos verstreichen ließ, so dass ihm zwingend das Rechtsschutzbedürfnis zu versagen ist. Auf die Einhaltung der in § 93 Abs.  1 S.  1  BVerfGG für eine zulässige Verfassungsbeschwerde erforderlichen Monatsfrist, an der es in aller Regel ebenfalls mangeln wird, kommt es daher nicht mehr an. Dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit wird in Fällen des bestandskräftigen oder sogar rechtskräftigen Normvollzugs auch auf der Ebene des Verfassungsrechts bereits durch formelle Voraussetzungen wirksam Rechnung getragen. Der Adressat einer verfassungswidrigen, aber letztlich bestandskräftigen Steuerfestsetzung ist demnach – wie es einfachrechtlich nicht anders der Fall ist – mit dem Einwand der Verfassungswidrigkeit präkludiert.

1008 Vgl. BVerfGE 107, S. 395 (Plenumsbeschluss zur vorrangigen Gewährung fachgerichtlichen Rechtsschutzes [auch] gegen Verstöße des Art.  103 Abs.  1 GG); Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn.  572; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein, BVerfGG, § 90 Rn. 293; Starck, in: Umbach/Clemens/Döllinger, BVerfGG, § 90 Rn. 21; Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, S. 169 ff., passim. 1009 Vgl. u. a. BVerfGE  68, S.  384; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein, BVerfGG, § 90 Rn. 377 ff., 383 ff.

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Nicht nur die Fälle der „Fristerschleichung“ zeigen, dass der an einem Rechtsanwendungsfehler leidende Normvollzug nur ausnahmsweise noch auf der Ebene des Verfassungsrechts von den Verfassungsgerichten beseitigt werden kann. Sollte sich nämlich eine rechtswidrige Steuerfestsetzung trotz rechtzeitiger und ordnungsgemäßer Anfechtung spätestens vor den Finanzgerichten und dem Bundesfinanzhof nicht korrigieren lassen, so wird sich an der vorhandenen Verfassungswidrigkeit ungeachtet der Einschaltung der Verfassungsgerichte häufig überhaupt nichts ändern. Schließlich ist der Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts bei der Urteilsverfassungsbeschwerde1010 gegen Normvollzugsakte der Exekutive und Judikative auf die „Verletzung spezifischen Verfassungsrechts“1011 beschränkt.1012 Diese Eingrenzung soll das Bundesverfassungsgericht vor einer – im Grunde erforderlichen – Überprüfung der zutreffenden Rechtsanwendung durch die Verwaltung und Gerichte bewahren. Zugleich handelt es sich um die notwendige Abgrenzung der Entscheidungsbefugnisse des gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a) GG für Grundrechtsverletzung zuständigen Bundesverfassungsgerichts von den für die Anwendung des einfachen Rechts jeweils zuständigen Fachgerichts.1013 Seit jeher übt sich das Bundesverfassungsgericht daher in Zurückhaltung, wenn es mit dem Ziel angerufen wird, die Entscheidung eines Fachgerichtes dahingehend zu überprüfen, ob es das einfache Recht zutreffend angewandt hat. Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Verfassungsbeschwerde demnach nur dann Erfolg haben, wenn das Fachgericht gegen das aus Art. 3 Abs. 1 GG hergeleitete Willkürverbot verstoßen hat.1014 Dies soll nicht schon bei jeder fehlerhaften Anwendung des einfachen Rechts anzunehmen sein, sondern erst dann vorliegen, wenn „eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise mißdeutet wird“1015. Das Verbot willkürlichen Richterspruchs gilt aber auch für die den Fachgerichten obliegende und der Rechtsanwendung vorausgehenden Tatsachenfeststellung.1016 Der von einer rechtswidrigen Steuerfestsetzung Betroffene wird also in den Fällen schlichter Fehler bei der Anwendung einfachen Rechts, sei es durch eine fehlerhafte Ermittlung der steuererheblichen Tatsachen oder einer fehlerbehafteten Subsumtion, mit dem dadurch geschaffenen Einwand der Verfassungswidrigkeit in aller Regel kein Gehör finden. Für überschießende, aber letztlich bestandskräf 1010 In aller Regel wird sich die Verfassungsverletzung nicht unmittelbar gegen eine Behördenentscheidung richten, sondern gegen die sie bestätigenden Fachgerichtsentscheidungen. Dafür sorgt schon Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG und § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG. Siehe hierzu nur Starck, in: Umbach/Clemens/Döllinger, BVerfGG, § 90 Rn. 19 ff. 1011 Sog. Heck’sche Formel aus BVerfGE 18, S. 85 [92 f.] (sog. Patent-Beschluss). 1012 Vgl. zu Art. 2 Abs. 1 GG BVerfGE 6, S. 32 (sog. Elfes-Urteil); Di Fabio, in: Maunz/­Dürig, GG, Art.  2 Rn.  67 f. Allgemein Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein, BVerfGG, § 90 Rn. 315 ff. 1013 Ausf. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, S. 169 ff. 1014 Seit BVerfGE 4, S. 1 [7]; Zur „Rechtsbindungskontrolle“ Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, S. 277 ff. 1015 BVerfGE 87, S. 273 [279]. 1016 Siehe bsplw. BVerfGE 57, S. 39 [42].

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

tige Steuerforderungen ergibt sich dies unweigerlich aus der formellen Voraussetzung des § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG. b) Der Rechtsgedanke des § 79 BVerfGG Der Betroffene einer überschießenden Steuerforderung hat sich ab Eintritt der Bestandskraft selbst das Recht genommen, die Verfassungswidrigkeit zu beseitigen. Damit ist die verfassungsrechtliche Ausgangslage aber noch nicht vollständig beschrieben. Bisher wurde nämlich außer Acht gelassen, dass dem Betroffenen auch Wirkungen treffen können, die von einer erfolgreich eingelegten Verfassungsbeschwerde eines Dritten oder von einer abstrakten oder konkreten Normenkontrolle ausgehen. Hierfür sieht § 79 BVerfGG – der direkt nur für die abstrakte Normenkontrolle, aber über die §§ 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 S. 3 BVerfGG ebenfalls für die konkrete Normenkontrolle und die Verfassungsbeschwerde Geltung beansprucht – eine zentrale Regelung vor.1017 Stellt demnach das Bundesverfassungsgericht in einem der genannten Verfahren fest, dass ein Bundesgesetz mit dem Grundgesetz oder ein Landesgesetz mit dem Grundgesetz oder dem sonstigen Bundesrecht unvereinbar ist, dann erklärt es das Gesetz nach Maßgabe der §§ 78 S. 1, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 S. 1, S. 2, 31 Abs. 2 BVerfGG für nichtig. Hat das Bundesverfassungsgericht nun aber genau eine solche Feststellung getroffen, so stellt sich die weiterführende Frage, welche Auswirkungen damit für die aufgrund dieses – nach herrschender Auffassung von Anfang an nichtigen  – Gesetzes erfolgten, aber bereits unanfechtbaren Akte der öffentlichen Gewalt verbunden sind.1018 Auch in diesem Fall tritt der bereits mehrfach angesprochene Prinzipienwiderspruch zwischen Rechtsrichtigkeit (Nichtigkeit aller Einzelakte die auf ein nichtiges Gesetz beruhen) und Rechtsfrieden (Unantastbarkeit unanfechtbarer Entscheidungen) offen zu Tage.1019 Diese Konfliktlage wurde vom Gesetzgeber gesehen und durch § 79 BVerfGG einer Lösung zugeführt. Wie 1017

§ 79 BVerfGG betrifft also insbesondere Fälle, in denen der Betroffene einer überschießenden Steuerfestsetzung die Verfassungsbeschwerde (nach Erschöpfung des Rechtswegs) nicht selbst erhoben oder durch Anfechtung der Steuerfestsetzung im Rechtsmittelverfahren vor den Finanzgerichten Anlass zu einer konkreten Normenkontrolle gegeben hat. Denn im ersten Fall wird der Beschwerdeführer bereits durch § 95 Abs. 2 BVerfGG (trotz eingetretener Rechtskraft) geschützt. Im zweiten Fall wird das noch rechtshängige aber ausgesetzte Ausgangsverfahren vor den Finanzgerichten fortgeführt. Siehe hierzu Bethge, in: Maunz/SchmidtBleibtreu/Klein, BVerfGG, § 79 Rn. 3 ff. 1018 Zum Streit, ob eine verfassungswidrige Norm von Anfang an nichtig ist (Grundsatz der ipso-iure-Nichtigkeit ex tunc) oder erst durch den Nichtigkeitsausspruch des BVerfG seine Geltung verliert, u. a. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein, BVerfGG, § 31 Rn. 139 ff. Dieser Meinungsstreit spielt aber für die Regelung des § 79 BVerfGG keine entscheidende Rolle, vgl. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein, BVerfGG, § 79 Rn. 18. 1019 Siehe nur Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1378; M. Graßhof, in: Umbach/Clemens/Döllinger, BVerfGG, § 79 Rn. 1; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein, BVerfGG, § 79 Rn. 2; Steiner, Festgabe BVerfG, Bd. I, S. 628 ff. [630 ff.].

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es in § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG zum Ausdruck kommt, hat er sich auch für den Vollzug verfassungswidriger Normen prinzipiell zugunsten der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens entschieden.1020 Ähnlich sehen es auch die Regelungen des § 183 VwGO, § 154 FGO und die landesrechtlichen Parallelvorschriften vor.1021 Im Grunde entspricht dies genau der geltenden Rechtslage, wie sie sich schon aus den einzelnen Verfahrensordnungen im Hinblick auf rechts- und bestandskräftige Entscheidungen ergibt.1022 Den vorbenannten Vorschriften, allen voran § 79 Abs. 2 S. 1, S. 4 BVerfGG, kommt daher in Bezug auf die Gewährung von Rechtssicherheit weitestgehend nur eine klarstellende Funktion zu.1023 Ihr eigentlicher Regelungsgehalt weist in eine ganz andere Richtung; nämlich partiell zurück zur Rechtsrichtigkeit.1024 Insbesondere § 79 BVerfGG ist unzweideutig zu entnehmen, dass es der Gesetzgeber nicht bei der einseitigen Vorranggewährung der Rechtssicherheit belassen, sondern Einschränkungen für rechtskräftige Strafurteile (§ 79 Abs. 1 BVerfGG) und für die zukünftige Vollstreckung sonstiger Entscheidungen (§ 79 Abs. 2 S. 2 BVerfGG) vorgesehen hat. Demzufolge erfährt der ab Eintritt der Bestands- oder Rechtskraft generell zukommende Schutz hoheitlicher Entscheidungen über § 79 Abs. 1, Abs. 2 S. 2 BVerfGG dann eine Durchbrechung, wenn der Bürger auf den Bestand eines unerkannt verfassungswidrigen Gesetzes vertraut und unter diesem Eindruck seine ihm zustehenden Rechte nicht gegen den aufgrund dieses Gesetzes ergangenen Normvollzugsaktes (gerichtlich) geltend ge 1020 Hierzu schon der Regierungsentwurf BT-Drucks. I/788, Zu § 72, S. 34: „Die Entscheidung des Gerichts, daß eine Norm nichtig ist, berührt die Rechtskraft eines auf Grund dieser Norm ergangenen Urteils und die Rechtsbeständigkeit eines anspruchsbegründenden Verwaltungsaktes nicht. Das verlangt die Rechtssicherheit.“ Diese Entscheidung des Gesetzgebers steht auch im Einklang mit der Verfassung, siehe u. a. BVerfGE 2, S. 380 [403 f.]; BVerfGE 7, S. 194 (zu dem gleichlautenden § 26 Abs. 5 EStG [BGBl. I 1957, S. 1793]). 1021 Die § 183 VwGO und § 154 FGO regeln den Fall, dass ein Landesverfassungsgericht die Nichtigkeit von Landesrecht feststellt oder Vorschriften des Landesrechts für nichtig erklärt. Die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen der Verwaltungs- und Finanzgerichte sollen davon unberührt bleiben. Zu weiteren landesrechtlichen Regelungen siehe nur § 40 Abs. 3 HessStGHG (Hessen) und § 26 Abs. 4 S. 1 VerfGHG (Rheinland-Pfalz). 1022 M. Graßhof, in: Umbach/Clemens/Döllinger, BVerfGG, § 79 Rn. 1. 1023 So treffend formuliert von Steiner, Festgabe BVerfG, Bd. I, S. 628 ff. [641]: „Das BVerfG verweigert dem Fehler der „verfassungswidrigen Grundlage“ eine Sonderrechtsfolge innerhalb der allgemeinen Lehre vom fehlerhaften Verwaltungsakt.“ Vgl. auch Pietzner, in: Schoch/ Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 183 Rn.  6 f. Zur „beschränkt konstitutiven“ Wirkung u. a. Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, S. 276 ff., hinsichtlich der Berechtigung (aber eben nicht Verpflichtung) der Verwaltungsbehörde, den verfassungswidrigen Verwaltungsakt noch rückwirkend zu beseitigen. Jedenfalls für das Steuer­verfahrensrecht ist eine Aufhebung nach Inkrafttreten der AO (1977) bereits deshalb ausgeschlossen, weil kein erforderlicher Änderungstatbestand einschlägig ist. Zur alten (§ 222 RAO) und neuen (§§ 173, 176 Abs. 1 Nr. 1 AO [1977]) Rechtslage Ipsen, a. a. O., S. 288 ff. Ähnlich zur konstitutiven Wirkung Pietzner, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 183 Rn. 31. 1024 Treffend Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 75: „Gäbe es § 79 nicht, wäre die Wiederaufnahme bei Strafurteilen nicht zulässig […], die Vollstreckung aus nicht anfechtbaren Entscheidungen auch nach der Entscheidung des BVerfG zulässig […].“

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

macht hat. Der darin gleichzeitig zum Ausdruck kommende „Schutz des Vertrauens in die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen“1025 rechtfertigt eine Privilegierung des Bürgers.1026 Demgegenüber weckt der hoheitliche Normvollzug nicht das gleiche Vertrauen in seine Rechtmäßigkeit. Stammt die Verfassungswidrigkeit einer hoheitlichen Entscheidung demzufolge aus einer fehlerhaften Anwendung des einfachen Rechts, so ist es dem Betroffenen grundsätzlich zumutbar, sich eigenhändig mit den dafür vorgesehenen Rechtsmitteln dagegen zu wehren.1027 Für die in dieser Arbeit zu betrachtenden Fälle der „Fristerschleichung“ lassen sich aus dem skizzierten1028 Regelungsbereich des § 79 BVerfGG nun folgende wichtige Schlüsse ziehen. Gründet sich die Verfassungswidrigkeit einer überschießenden Steuerfestsetzung allein in einfachen Ermittlungs- oder Rechtsfehlern, so sind die in § 79 BVerfGG vorgesehenen Einschränkungen der Rechtssicherheit insgesamt nicht anwendbar. In diesen Fällen wird es keine nach § 79 Abs. 2 BVerfGG erforderliche Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Norm oder eine verfassungskonforme Auslegung1029 durch das Bundesverfassungsgericht geben.1030 Wird damit der Rechtssicherheit uneingeschränkt Vorrang gewährt, so muss letzten Endes genau das gelten, was zu § 79 Abs. 2 S. 1, S. 4 BVerfGG für einen aufgrund verfassungswidrigen Gesetzes ergangenen, aber bereits unanfechtbaren Normvollzugs mit Wirkung für die Vergangenheit ebenfalls gefolgert wird: Ein ohne gesetzliche Ermächtigung ergangener und insofern rechtswidriger Verwaltungakt ist dennoch wirksam und bildet selbst den Rechtsgrund für die von ihm geforderte und auch eingetriebene Leistung (Grundsatz der Verselbständigung des 1025 M.  Graßhof, in: Umbach/Clemens/Döllinger, BVerfGG, § 79 Rn.  2, mit Verweis auf BVerfGE 20, S. 230 [235 f.]. 1026 Vgl. BVerfGE 20, S. 230 [235 f.].; ausdrücklich M. Graßhof, in: Umbach/Clemens/Döllinger, BVerfGG, § 79 Rn. 2; ders., NJW 1995, S. 3085 ff. 1027 Siehe schon BVerfGE 20, S. 230 [235 f.]: „Bei einem Verfassungsverstoß der Verwaltung ist dem Staatsbürger sogar noch eher zuzumuten, hiergegen mit den gegebenen Rechtsmitteln, notfalls mit der Verfassungsbeschwerde vorzugehen, als bei einem mit dem Rechtsschein der Verfassungsmäßigkeit versehenen Gesetz.“ 1028 Die gebotene Darstellung der Voraussetzungen und Wirkungen des § 79 BVerfGG ist natürlich nicht abschließend. Siehe insbesondere zur analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG zum einen auf Fälle in denen sich das BVerfG darauf beschränkt hat, die Verfassungswidrigkeit einer Norm ohne ihre gleichzeitige Nichtigkeit festzustellen BVerfGE 81, S. 363 [384]; M.  Graßhof, in: Umbach/Clemens/Döllinger, BVerfGG, § 79 Rn.  27; Bethge, in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein, BVerfGG, § 79 Rn. 59 (zur Weitergeltungsanordnung) und zum anderen auf Fälle verfassungskonformer und sogar (jedenfalls für das Zivilrecht) verfassungsorientierter Normauslegung BVerfGE 115, S. 51 [65 f.]; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein, BVerfGG, § 79 Rn. 33 ff. Für die in dieser Arbeit angestrebten Folgerungen sind tiefergehende Ausführungen jedoch nicht notwendig. 1029 Siehe hierzu Fn. 1028. 1030 Es ist unstreitig, dass § 79 BVerfGG insbesondere für Anwendungsfehler des einfachen Rechts, soweit sie das Bundesverfassungsgericht in einer Verfassungsbeschwerde überhaupt einmal gerügt haben sollte, nicht anwendbar ist. Siehe nur zu § 79 Abs. 1 BVerfGG: Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein, BVerfGG, § 79 Rn. 32; M. Graßhof, NJW 1995, S. 3085 ff.; allgemein: ders., in: Umbach/Clemens/Döllinger, BVerfGG, § 79 Rn. 2.

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Einzelakts).1031 Zur sicheren Abwendung dieses verfassungswidrigen Zustandes bleibt dem Betroffenen nichts anderes übrig, als den Verwaltungsakt anzufechten. Lässt er diese Rechtsschutzmöglichkeit verstreichen, erwächst der Verwaltungsakt unweigerlich in Bestandskraft. Der ihm anhaftende Fehler, dass er ohne eine tragfähige Ermächtigungsgrundlage ergangen ist, wird faktisch geheilt. Denn nunmehr kann dem rechtswidrigen Normvollzugsakt nicht einmal seine Verfassungswidrigkeit als wirksame Einwendung entgegengehalten werden.1032 Diese unumstößliche aus § 79 Abs. 2 S. 1, S. 4 BVerfGG zu folgernde Gesetzmäßigkeit, dass sogar ein auf einem verfassungswidrigen Gesetz beruhender Verwaltungsakt für bereits erbrachte Leistungen weiterhin die wirksame Rechtsgrundlage bildet, lässt also einen direkten Rückschluss auf Verwaltungsakte zu, deren Verfassungswidrigkeit auf einer bloß fehlerhaften Rechtsanwendung beruht. Wird es in diesen Fällen eine von § 79 BVerfGG geforderte und durch § 31 Abs. 2 BVerfGG erfolgte „Verbriefung“ der Verfassungswidrigkeit durch das Bundesverfassungsgericht nicht geben, so wird niemand den Rechtsanwendungsfehler – nicht einmal mit dem scharfen Schwert des Verfassungsrechts – anfechten können. Denn die Ausnahmeregelung des § 79 BVerfGG, die zurück in die Rechtsrichtigkeit führt, ist schon nicht einschlägig, so dass es bei der bereits eingetretenen Rechtssicherheit verbleiben muss. Der auf einem Rechtsanwendungsfehler beruhende Verwaltungsakt muss damit ganz im Sinne der Rechtssicherheit unweigerlich als nicht verfassungswidrig gelten. Im Ergebnis sind dies genau die Grundannahmen, aus denen bereits die einfachrechtliche „Überlagerung der Rechtswidrigkeit“ hergeleitet wurde. Wie sich also zeigt, gelten die mit der Bestandskaft einhergehenden Wirkungen sogar für das Verfassungsprozessrecht. c) Die logischen Folgen – ius viligantibus scriptum est1033 Die verfassungsrechtliche Ausgangslage ist eindeutig. Dem Adressaten eines fehlerhaften Verwaltungsakts trifft die prozessrechtliche Obliegenheit, sich um die Behebung des verfassungswidrigen Zustands innerhalb des ihm durch Art. 19 1031 Ausführlich Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, S. 38 ff., S. 276; Pietzner, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 183 Rn. 6 f.; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein, BVerfGG, § 79 Rn. 67. Zum Verwaltungsakt als Rechtsgrund vgl. auch BVerfGE 108, S. 1 [33]; Bethge/Rozek, JuS 1995, S. 806 ff. 1032 Ausdrücklich Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein, BVerfGG, § 79 Rn. 66 ff. [72]: „Die von der Nichtigerklärung (oder Unvereinbarerklärung) der Norm unberührte Bestandskraft des Verwaltungsakts schließt die Berufung auf dessen Rechtswidrigkeit (oder auf eine Rechtsgrundlosigkeit) als Rückabwicklungsgrund aus. Man kann es auch so formulieren: § 79 Abs. 2 BVerfGG legalisiert die Normvollzugsakte.“ Zust. M. Graßhof, in: Umbach/Clemens/ Döllinger, BVerfGG, § 79 Rn.  33; Pietzner, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 183 Rn. 6 f.; Lechner/Zuck, BVerfGG, § 79 Rn. 8. 1033 Digesten 42,8,24 a.E: „ius civile viligantibus scriptum est“ = Das (zivile) Recht ist für die Wachsamen geschrieben worden, aus: Benke/Meissel, Juristenlatein.

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

Abs. 4 S. 1 GG zugesicherten Individualrechtsschutzes selbst zu sorgen. Kommt er dieser Verantwortung nicht nach, so kann es nicht verwundern, dass er die nachteilige Rechtsfolge der Unvernichtbarkeit des gesetzlosen Normvollzugs zu tragen hat. Dies ist letztlich die notwendige Begrenzung eines lückenlosen Rechtsschutzsystems, wie es vom Grundgesetz gefordert und von den einzelnen Verfahrensordnungen umgesetzt wird.1034 Es muss im Umkehrschluss jedoch auch bedeuten, dass die Verfassung zur Aufrechterhaltung der Rechtssicherheit die eigene Verfassungswidrigkeit bewusst in Kauf nimmt. Die allgemeine aus dem römischen Recht stammende Regel, dass nur dem Wachen das Recht, hier also die Einzelfallgerechtigkeit, zu Gute kommen kann, hat sich auch aus dem besonderen Blickwinkel des Verfassungsrechts bestätigt.1035 Im Übrigen fügen sich die in der Abgabenordnung vorgesehenen Durchbrechun­ gen der Bestandskraft (Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Änderungsnormen)1036 in dieses Bild. Soweit sie nämlich geeignet sind, das bereits erreichte Ziel der Rechtssicherheit wieder zu verlassen und zur Rechtsrichtigkeit zu gelangen, können dagegen keine verfassungsrechtlichen Bedenken angemeldet werden. Immerhin wird dem Gesetzgeber bei der von ihm vorzunehmenden Abwägung der widerstreitenden Prinzipien ein breiter Entscheidungsspielraum zugebilligt.1037 Auch diese gesetzlich eingeräumte Rückkehr in die Rechtsrichtigkeit kann die bereits formulierte und auch verfassungsrechtlich abgesicherte „Überlagerung der Rechtswidrigkeit durch Eintritt der Bestandskraft“ nicht anfechten, weil dieser Weg auch tatsächlich beschritten werden muss. Insbesondere in den Fällen der „Fristerschleichung“ kann es also nicht genügen, dass möglicherweise die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung oder Änderung der Steuerfestsetzung ebenfalls gegeben sind. Die Rechtssicherheit entfaltet solange auf Kosten der Rechtsrichtigkeit ihre Wirkung, bis die bestandskräftige Steuerfestsetzung nicht doch ausnahmsweise in den dafür vorgesehenen Verfahren aufgehoben oder geändert wird. Für die weitere Prüfung ist damit die wichtige Vorfrage geklärt, ob die Verfassungswidrigkeit der zu hohen Steuerfestsetzung immer noch ein durchschlagendes Gewicht besitzt. Sie tut es schon deshalb nicht, weil ab Eintritt der Bestandskraft die Verfassungswidrigkeit überhaupt keine Rolle mehr spielt.

1034

Vgl. BVerfGE  60, S.  253 [268 f.]; Steiner, Festgabe BVerfG, Bd.  I, S.  628 ff. [632 f.]; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 8, 234; Huber, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 382. 1035 Für das Verfassungs(prozess)recht ausdrücklich hierzu Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein, BVerfGG, § 79 Rn. 5; M. Graßhof, in: Umbach/Clemens/Döllinger, BVerfGG, § 79 Rn. 2. 1036 Siehe zu den möglichen Durchbrechungen der Bestandskraft: a)  Der Wandel von der rechtswidrigen zur einheitlich bestandskräftigen Steuerforderung (S. 248). 1037 Siehe nur BVerfGE 22, S. 322 [329]; Steiner, Festgabe BVerfG, Bd. I, S. 628 ff. [632].

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III. Das steuerrechtliche Ergebnis Eine überschießende, aber bereits bestandskräftige Steuerforderung stellt sich ab Eintritt der Bestandskraft uneingeschränkt als Steuer im Sinne des § 3 Abs. 1 AO dar. Dafür sorgt schon die mit der Bestandskraft ganz bewusst einhergehende Rechtssicherheit. Sie bewirkt, dass eine im Steuerbescheid titulierte Steuerforderung nicht mehr in eine rechtmäßige und eine rechtswidrige Steuer getrennt werden darf. Teilt damit der rechtswidrige Teil der Forderung das Schicksal des rechtmäßigen, kann es sich schließlich nur um eine einheitlich bestandskräftige Steuer handeln. Dass daneben möglicherweise die Voraussetzungen für eine Durchbrechung der Bestandskraft über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder die Änderungsnormen gegeben sind, spricht nicht gegen die formulierte „Überlagerung der Rechtswidrigkeit“. Soweit die mit der Bestandskraft bezweckte Rechtssicherheit zugunsten der Rechtsrichtigkeit doch noch beseitigt werden kann, bedarf es dazu ebenfalls eines formalen Aktes durch die Finanzbehörde. Im Übrigen ist die fehlende Tatbestandsmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht geeignet, diesen Befund zu trüben, weil sie schon keine die Steuer (im Sinne der Abgabenordnung) konstituierenden Merkmale darstellen. Doch selbst wenn man sie als notwendig ansehen würde, verbliebe es bei dem formulierten Ergebnis. Denn das Grundgesetz erkennt einen an sich verfassungswidrigen Zustand an, wenn dies zur Durchsetzung eines zentralen Verfassungsgrundsatzes notwendig ist.1038 Indem schließlich auch auf verfassungsrechtlicher Ebene der Rechtssicherheit Vorrang vor der Rechtsrichtigkeit gewährt wird, bedingt dies zugleich ein „Sich-Abfinden mit dem gesetzlosen Normvollzug“.

C. Die Wirkungen für die Steuerhinterziehung – Übertragung der steuerrechtlichen Ergebnisse auf das Rechtsgut der Steuerhinterziehung Eine rechtswidrige Steuerforderung erweist sich ab Eintritt der Bestandskraft des Steuerbescheides ganz legitim als Steuer im Sinne des § 3 Abs.  1 AO. Dieses rein steuerrechtliche Ergebnis muss im Folgenden darauf untersucht werden, ob die so entstandene Steuer auch zum strafrechtlich geschützten „Steueraufkommen“ gehört. Natürlich wäre es jetzt übereilt, vom Steuerrecht reflexartig auf das Strafrecht zu schließen. Schon die Eigenart des Strafrechts, dass mit ihm ein besonderes „Unwerturteil“ verknüpft ist, weckt seit jeher das Bestreben zu einer eingrenzenden Handhabe (sog. Ultima-ratio-Prinzip). Dies ist auch der Steuerhinterziehung nicht fremd.1039 Allerdings darf nicht unbemerkt bleiben, dass zu 1038

Siehe BVerfGE 60, S. 253 [268 f.]. Zur möglichen Eingrenzung im Fall der Hinterziehung verfassungswidriger aber mit einer Weitergeltungsanordnung vom BVerfG versehenen Steuern siehe nur Schmitz/Wulf, in: MüKoAO, § 370 Rn. 65 ff.; weitere Nachweise bereits in Fn. 1006. 1039

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

mindest die Begründungslast ihre Richtung geändert hat. Für das Steuerrecht ist nämlich mit der Steuerentstehung auch die Schlussfolgerung verbunden, dass die rechtswidrige, aber bestandskräftige Steuerforderung unweigerlich zum Steueraufkommen gehört. Soweit die Steuerhinterziehung genau diesen spezifischen Vermögensbestandteil schützen soll,1040 sprechen diese Annahmen für sich und damit letztlich auch für eine Strafbarkeit in den Fällen der „Fristerschleichung“. Die Begründung muss also von nun an in die entgegengesetzte Richtung gehen, also nicht mehr was für, sondern was grundlegend gegen eine Einbeziehung der Fälle der „Fristerschleichung“ in den Schutzbereich der Steuerhinterziehung spricht. I. Kein entgegenstehender Wille des Gesetzgebers (historische Auslegung) Die Fälle der „Fristerschleichung“ ließen sich jedenfalls nur dann schwer unter den Tatbestand der Steuerhinterziehung subsumieren, wenn sich der Gesetzgeber strikt gegen eine Einbeziehung ausgesprochen hätte. 1. Das Bedürfnis zu einer Klarstellung Das Bedürfnis zu einer solchen Klarstellung existiert nicht erst seit der Reform der Abgabenordnung aus dem Jahre 1977, bei der insbesondere die Änderungsvorschriften noch einmal verschärft wurden,1041 sondern bereits seit dem Inkrafttreten der reichseinheitlichen Regelung aus dem Jahre 1919. Denn dem Steuerpflichtigen wird zumindest seit der Reichsabgabenordnung (1919) ganz eindeutig die Geltendmachung nachträglicher Minderungsgründe (Tatsachen und Beweismittel) oder Rechtsfehler erschwert, die eine Berichtigung der Steuerfestsetzung zu seinen Gunsten ermöglichen. So sahen vor den heutigen §§ 172 ff. AO (1977) insbesondere die zwischen den Jahren 1931 und 1977 geltenden §§ 222 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 4, 224 RAO (1931)1042 1040 Ausführlich bereit unter: bb) Das Steueraufkommen als konkreter Vermögensbestandteil (S. 159). 1041 Zum Vergleich insbesondere v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 173 Rn. 5 ff. 1042 RGBl.  I  1931, S.  161 ff. § 222 Abs.  1 RAO: „Hat bei Steuern, bei denen die Verjährungsfrist mehr als ein Jahr beträgt, das Finanzamt nach Prüfung des Sachverhaltes einen beson­deren, im Gesetz selber vorgesehenen schriftlichen Bescheid […] erteilt, so findet, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist, eine Änderung des Bescheides […] nur statt: Nr.  1 wenn neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die eine höhere Veranlagung rechtfertigen, und die Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen ist; Nr. 2. wenn durch eine Betriebsprüfung vor dem Ablauf der Verjährungsfrist neue Tatsachen und Beweismittel bekannt werden, die eine niedrigere Veranlagung rechtfertigen; […] Nr.  4. wenn bei einer Nachprüfung durch die Aufsichtsbehörde vor dem Ablauf der Verjährungsfrist Fehler aufgedeckt werden, deren Berichtigung eine niedrigere Veranlagung rechtfertigt.“ § 224  RAO: „Wenn bei einer

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keine wesentlich andere Rechtslage vor. Gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 2 RAO (1931) war eine nachträgliche Berücksichtigung von für den Steuerpflichtigen günstigen Tatsachen oder Beweismitteln nur dann möglich, wenn sie im Rahmen einer Betriebsprüfung bekannt wurden, auf deren Durchführung der Steuerpflichtige aller­ dings keinen Anspruch hatte.1043 Diese im Vergleich zu § 222 Abs. 1 Nr. 1 RAO (1931) besondere Einschränkung zu Lasten des Steuerpflichtigen wurde gerade damit begründet, dass das nachträgliche Bekanntwerden meist auf einer Mitwirkungspflichtverletzung des Steuerpflichtigen beruht.1044 Nicht einmal die damals für § 222 Abs.  1 Nr.  1, Nr.  2 RAO (1931) von der obergerichtlichen Rechtsprechung und Finanzverwaltung angewandte, aber in der Literatur höchst umstrittene „Gesamtaufrollung“1045 verhalf dem Steuerpflichtigen zu einer erleichterten Steueränderung zu seinen Gunsten. Er konnte nämlich nicht (trickreich) steuererhöhende Tatsachen oder Beweismittel nachreichen und somit über die Änderungsnorm des § 222 Abs.  1 Nr.  1 RAO (1931) eine gleichzeitige Berücksichtigung viel höherer Minderungsgründe geltend machen. Denn lagen nur die Änderungsvoraussetzungen des § 222 Abs.  1 Nr.  1 RAO (1931) vor, so konnte die ursprüngliche Steuerfestsetzung trotz der Gesamtaufrollung nicht zu Gunsten des Steuerpflichtigen berichtigt werden.1046 Ferner war eine Herabsetzung der Steuerfestsetzung aufgrund von sonstigen Fehlern gemäß den §§ 222 Abs. 1 Nr. 4, 224 RAO (1931) nur durch eine Kontrolle der Aufsichtsbehörde möglich.1047 Der Steuer­ pflichtige konnte zwar die Überprüfung durch die Aufsichtsbehörde anregen, einen Rechtsanspruch hatte er hierauf aber nach überwiegender Ansicht ebenfalls nicht.1048 Denn der Gesetzgeber habe dem Steuerpflichtigen zur Fehlerbeseitigung

Nachprüfung durch die Aufsichtsbehörde vor dem Ablauf der Verjährungsfrist Fehler aufgedeckt werden, deren Berichtigung eine Herabsetzung der Steuer rechtfertigt, so ist, soweit nicht die Vorschrift des § 224 Abs. 1 Nr. 4 Platz greift, die Steuerfestsetzung zu berichtigen.“ Zur geschichtlichen Entwicklung des § 222 RAO (insbesondere zur Anwendung des § 19 Abs. 3 Steuervereinfachungsverordnung [StVVO v. 14.09.1944, RGBl. I, S. 202], der am Ende des 2. Weltkriegs eine schrankenlose Änderbarkeit von Steuerbescheiden vorsah [hiergegen wendete sich aus Gründen der Rechtssicherheit insbesondere der Oberste Finanzhof  – OFH  –, StuW 1948 Nr. 22; ihm zust. der BFH, BStBl. III 1952, S. 84]) E. Becker/Riewald/Koch, RAO, § 222 Anm. 1b). 1043 Tipke/Kruse, RAO, Bd. I, 1. Aufl., § 222 Rn. 28. 1044 E. Becker/Riewald/Koch, RAO, § 222 Anm. 1b). 1045 Vgl. nur RFHE 15, S.  156; RFH, RStBl. 1932, S.  939; BFH, BStBl. 1959, S.  52; BVerfGE 19, S. 290 (Wiederaufrollung stellt kein Verstoß gegen das GG dar). E. Becker/Riewald/Koch, RAO, § 222 Anm. 4a): Danach bedeutet Gesamtaufrollung, dass der ganze Steuerfall (tatsächlich wie rechtlich) wieder aufgerollt werden muss. Es ist also eine komplett „neue Steuerfestsetzung so zu treffen, als wenn sie die erste wäre, […].“ 1046 Siehe nur E.  Becker/Riewald/Koch, RAO, § 222 Anm.  4a); Kühn/Kutter, RAO, § 222 Anm. 1; Tipke/Kruse, RAO, Bd. I, 1. Aufl., § 222 Rn. 19 a. E. 1047 Ähnlich war schon die Berichtigungsmöglichkeit nach § 213 RAO (1919) ausgestaltet: „Wenn bei einer Nachprüfung durch die Aufsichtsbehörde vor Ablauf der Verjährungsfrist Fehler aufgedeckt werden, deren Berichtigung eine Herabsetzung der Steuer rechtfertigt, so ist die Steuerfestsetzung zu berichtigen.“ 1048 E. Becker/Riewald/Koch, RAO, § 222 Anm. 5d) Abs. 6 f. m. w. N.

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

das weitreichende Instrument der Rechtsbehelfe an die Hand gegeben, so dass eine Berichtigung durch die Aufsichtsbehörde die Ausnahme bilden müsse.1049 Wie sich zeigt, wurde dem Steuerpflichtigen zu jeder Zeit (seit 1919) eine Geltendmachung von Minderungsgründen und Rechtsfehlern erschwert. Ferner wurde dies schon immer damit begründet, dass der Steuerpflichtige seine ihm durch das Verfahrensrecht auferlegten Mitwirkungspflichten nachkommen müsse und ihm zur Beseitigung von Fehlern eine Anfechtungslast treffe. Hieraus lässt sich ein Schluss eindeutig ziehen. Es hat schon im Geltungsbereich der Reichsabgaben­ordnung für den Steuerpflichtigen genügend Anlässe gegeben, eine Frist zu erschleichen, wobei ihm dabei auch schon damals ganz vergleichbare Mittel zur Verfügung standen. Insbesondere gewährte ihm auch das damalige Recht im Falle einer unverschuldeten Fristversäumung „Nachsicht“ gemäß der §§ 68 f. RAO (1919). 2. Keine Äußerung des Gesetzgebers Seitdem und solange das Steuerverwaltungsverfahren strikte Rechtsbehelfsfristen und eingeschränkte Änderungsvorschriften vorsieht, stellen die Fälle der „Frist­erschleichung“ für den Steuerpflichtigen einen leichten Ausweg dar. Dennoch hat sich der Gesetzgeber im Rahmen der Steuerhinterziehung zu keiner Zeit zu dieser besonderen Fallgestaltung geäußert. Die Gründe hierfür können jedenfalls nicht an einem mangelnden Interesse liegen. Betrachtet man alleine die reichhaltige Kasuistik zu den Verschuldensmaßstäben der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und der Änderungsvoraussetzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, so ist die praktische Relevanz,1050 sich nicht nur (steuerrechtlich) legaler Mittel zur Bescheid­ korrektur zu bedienen, unbestreitbar. Man wird sogar davon ausgehen können, dass die Erschleichung der Wiedereinsetzung wohl die häufigste „Fristerschleichung“ darstellt.1051 Es lässt sich also nur mutmaßen, warum dem Gesetzgeber die Möglichkeit, eine „Fristerschleichung“ könne eine Steuerhinterziehung darstellen, bisher überhaupt nicht in den Sinn gekommen ist. Zum einen wird dies wohl auf den Umstand zurückzuführen sein, dass die dem unanfechtbaren Verwaltungsakt heute überwiegend zugeschriebene Eigenschaft der „materiellen Bestandskraft“ eine Entwicklung der Verwaltungswissenschaft darstellt, die – anders als das anerkannte Institut der materiellen Rechtskraft – noch nicht lange in (halbwegs) gesicherten Bahnen 1049

BFH, BStBl. I 1956, S. 290; E. Becker/Riewald/Koch, RAO, § 222 Anm. 5d) Abs. 7. Siehe nur als „Kostprobe“ die Darstellungen bei Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 110 Rn. 68 ff.; v. Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 173 Rn. 280 ff. 1051 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1519 f., spricht sogar davon, dass 90 v.H. Wiedereinsetzunganträgen keinen Erfolg haben. Man wird davon ausgehen können, dass auch dem Steuerpflichtigen bzw. seinem Berater diese „Erfolgsquote“ bekannt ist. Das Bestreben, der erstrebten Wiedereinsetzung auch durch unrichtige Tatsachen „auf die Sprünge zu helfen“, wird man daher wohl nicht leugnen können. 1050

2. Abschn.: Rechtsgutsbeeinträchtigung durch „Fristerschleichung“ 

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verläuft.1052 Zum anderen wird er unter dem Eindruck des strafrechtlichen „Dogmas“ vom allein maßgeblichen materiellen Anspruch (sowohl beim Betrug als auch im Rahmen der Steuerhinterziehung mit dem Steueranspruch)1053 bisher nicht auf den Gedanken gekommen sein, dass sich eine Steuer auch originär aus einem Steuerbescheid ergeben kann, die wiederum geeignet ist, den Gegenstand einer vom Steuerpflichtigen begangenen Steuerhinterziehung zu bilden. 3. Schlussfolgerungen für die historische Auslegung Dass sich der Gesetzgeber bisher nicht für eine Anwendung des Tatbestandes der Steuerhinterziehung auf die Fälle der „Fristerschleichung“ ausgesprochen hat, lässt sich nun allerdings nicht – auch nicht mit einem Umkehrschluss – als Argument gegen eine Einbeziehung deuten. Dies würde vielmehr voraussetzen, dass sich der Gesetzgeber überhaupt einmal klarstellend zu dem generellen Anwendungsbereich der Steuerhinterziehung geäußert hat. Nur dann ließe sich nämlich der Schluss ziehen, dass Fälle, die nicht dem von ihm ausdrücklich umrissenen Anwendungsbereich angehören, auch nicht erfasst werden sollen. Der Gesetzgeber ist dem Rechtsanwender jedoch eine generelle Erklärung über den Anwendungsbereich der Steuerhinterziehung schuldig geblieben.1054 Man wird sogar noch einen Schritt weiter gehen können: Der Gesetzgeber hat die Steuerhinterziehung bereits deswegen nicht abschließend bestimmen wollen, weil er sich dazu überhaupt nicht in der Lage sah. Bereits mit Schaffung des ersten (reichs-)einheitlichen Hinterziehungstatbestandes in § 359 RAO (1919) verwies er in der Gesetzbegründung ausdrücklich auf den im Vergleich zum vorherigen Recht „lückenschließenden“ Charakter des neuen Tatbestandes, ohne allerdings klarzustellen, welche Lücken durch die Steuerhinterziehung eigentlich geschlossen werden sollten. Der Gesetzgeber war hierbei vielmehr von dem Bestreben beseelt, einen allgemeingültigen Straftatbestand gegen die Hinterziehung von Steuern zu schaffen, der sämtliche strafwürdigen Verhaltensweisen erfassen sollte.1055 Dieses Bedürfnis gründete in den 1052 Siehe alleine zu den unterschiedlichen Begrifflichkeiten: Seibert, Die Bindungswirkungen von Verwaltungsakten, S. 132 ff. Dass aber für die Gewährung von Rechtssicherheit die Bestandskraft und Rechtskraft ganz ähnliche Institute sind, hat auch das BVerfG, BVerfGE 60, S. 253 [268 f.], ausdrücklich betont. 1053 Hierzu bereits die gegen die „Fristerschleichung“ vorgebrachten Argumente der Strafgerichte und deren Entkräftung: bb) Die „Fristerschleichung“ als artverwandter Fall des Prozessbetruges (S. 236). 1054 Angefangen mit der reichseinheitlichen Regelung des § 359 RAO (1919), siehe hierzu die Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Drucks. Nr.  759 (Bd. 338, Anlage zu den Stenographischen Berichten), Zu § 356, S. 598. 1055 Er übernahm dabei ganz ausdrücklich die Tatbestandsstruktur der im Jahre 1918 geschaffenen Hinterziehungstatbestände aus den §§ 31 UStG, § 13 MineralwässerStG, § 22 WeinStG, § 42 BierStG, § 155 BranntwMonG, siehe bereits: 1. Der „Steuerbetrug“ (S. 147). Sie enthielten aber ebenfalls keine nähere tatbestandliche Präzisierung, siehe bereits die Nachweise in Fn. 571.

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

negativen Erfahrungen mit den zuvor geltenden Straftatbeständen.1056 Die in den Einzelsteuergesetzen enthaltenen Vorgängerregelungen hatten sich nämlich gerade aufgrund ihrer Anknüpfung an ganz spezifische Einzelhandlungen, die allerdings leicht umgangen werden konnten, als zu starr erwiesen.1057 Demzufolge hat sich der Gesetzgeber der Reichsabgabenordnung (1919) also ganz bewusst gegen die Schaffung eines auszisilierten Straftatbestandes entschieden. Die damit für die Rechtsanwendung verbundenen Ungewissheiten sind bis heute spürbar. Schließlich ist zum einen das Verhältnis zwischen den tatbestandlichen Erfolgen nach wie vor hoch umstritten.1058 Zum anderen ist dem Tatbestand noch immer die Scheu des Gesetzgebers förmlich abzulesen, die Steuerhinterziehung all zu sehr zu determinieren. So heißt es bei den näheren Begriffsbestimmungen in § 370 Abs. 4 AO, dass (S. 1) Steuern „namentlich dann verkürzt sind, wenn […]“ und dass (S. 2) Steuervorteile „auch Steuervergütungen“ sind. Der Gesetzgeber will durch diese Formulierungen ganz ausdrücklich der Gefahr entgegenwirken, dass die einzelnen Begriffsbestimmungen vom Rechtsanwender als abschließend betrachtet werden.1059 1056 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Drucks. Nr. 759 (Bd. 338, Anlage zu den Stenographischen Berichten), Zu § 356, S. 598: „Bedenklich ist weiter, daß manche Fälle [nach den alten Strafvorschriften, Anm. d. Verf.] nicht getroffen werden, die strafbar sein müßten, z. B. wenn jemand, der für einen anderen in einer Steuererklärung oder einem Antrag auf Erstattung oder Vergütung wissentlich unwahre Angaben gemacht hat, nach außen nicht als Vertreter auftritt, sondern die Erklärung von dem Steuerpflichtigen, dem kein böser Glaube nachgewiesen werden kann, unterschrieben wird, oder jemand es mit allerlei Schlichen einrichtet, daß er gar nicht zu einer Erklärung aufgefordert wird, oder, wenn dies geschieht, abreist und unter falschem Namen wieder auftaucht. Diesen Unzuträglichkeiten und Lücken entgeht man, wenn man grundsätzlich die zum eigenen Vorteil oder zum Vorteil eines anderen begangene vorsätzliche Steuerverkürzung als solche bestraft und ihr die Erschleichung nicht gerechtfertigter Steuervorteile zur Seite stellt.“ Zum „unbefriedigenden Zustand“ vor Einführung des § 359 RAO (1919) insbesondere E. Becker, RAO, § 359 Anm. 1. 1057 Ausdrücklich E.  Becker, RAO, § 359, Anm.  1: „Andererseits bot die Art, wie namentlich das Besitzsteuergesetz und die von ihm abhängigen wichtigen Gesetze die Sache behandelten, zwar den Vorteil, fest umrissene Tatbestände zu geben, zugleich aber den Nachteil, daß es halbwegs geschickten Personen leicht war, der Strafe zu entgehen.“ Vgl. auch die Gesetzesbegründung, Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Drucks. Nr. 759 (Bd. 338, Anlage zu den Stenographischen Berichten), Zu § 356, S. 598 (teilw. schon in Fn. 1056 zitiert). 1058 Siehe nur Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 119, der vollkommen zu Recht konstatiert, dass eine Abgrenzung der Erfolgsalternativen bereits deswegen erforderlich scheine, weil der Gesetzgeber in § 370 Abs. 4 S. 1, S. 2 AO viel Mühe auf eine Erläuterung der unterschiedlichen Erfolge verwendet habe. Worin allerdings die genaue Unterscheidung zu erblicken sei, bleibe weitestgehend unklar und umstritten. Siehe näher zur Vorteilserlangung Patzelt, Ungerechtfertigte Steuervorteile und Verlustabzug im Steuerrecht, S. 79 ff. Dort auch zu den Vorgängerregelungen der Steuerhinterziehung (Nachweise bereits in Fn. 569), die gleichsam keine Begriffsbestimmung enthielten. Zur Abgrenzung der Taterfolge sogleich unter: 2. Die „Fristerschleichung“ als ungerechtfertigter Steuervorteil (S. 279). 1059 Vgl. Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 70; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 391.

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An diesen ganz bewusst geschaffenen Unklarheiten soll nun aber von Seiten des Verfassers keine zu große Kritik geübt werden. Dem Gesetzgeber wird es in Anbetracht des mannigfaltigen und zum Teil hoch komplexen Steuerverwaltungsverfahrens weitestgehend unmöglich sein, alle denkbaren Fallgestaltungen mit einem Strafcharakter (also einer abstrakten Gefährdung des Steueraufkommens) ausdrücklich im Gesetz oder in seiner Gesetzesbegründung zu erfassen. Er tut daher gut daran, die weitere Präzisierung der Rechtsprechung und Literatur zu überlassen, wie es nicht zuletzt beim artverwandten Tatbestand des Betrugs, bei dem schon seit jeher über den Vermögensbegriff gestritten wird, auch nicht anders ist. Hat sich der Gesetzgeber demzufolge zu keiner Zeit abschließend zur Anwendung der Steuerhinterziehung geäußert, dann kann daraus für die „Fristerschleichung“ aber nur eine einzige Schlussfolgerung gezogen werden. Die historische Auslegung ist nach allen Seiten hin offen. II. Die Fälle der „Fristerschleichung“ – Steuerhinterziehung ohne gesetzlichen Steueranspruch Eine Einbeziehung der „Fristerschleichung“ in den Schutzbereich der Steuerhinterziehung erschiene jedoch dann unmöglich, wenn dies mit der tatbestandlichen Ausgestaltung nicht in Einklang zu bringen wäre. Soweit nämlich die in dieser Arbeit behandelten Fälle eindeutig gegen die Grundkonzeption des Straftatbestandes verstoßen sollten, erübrigt sich dann auch eine Einzelbetrachtung der Tatbestandsmerkmale der Steuerhinterziehung. Auch dies ist letztlich Ausfluss der methodologischen Rechtsgutsbestimmung, bei der bereits bekannte Elemente einer Strafnorm zur genaueren Auslegung des Rechtsgutes herangezogen werden können.1060 Im Grunde ist die hier aufgeworfene Fragestellung in dieser Arbeit bereits größtenteils beantwortet. Nun müssen die einzelnen Elemente nur noch zu einem Ganzen zusammengefügt werden. 1. Nochmals zu den typischen Fällen der Steuerhinterziehung1061 Es wurde bereits am Anfang dieser Arbeit gezeigt, dass der Tatbestand der Steuer­ hinterziehung keine generelle Bindung des Strafrichters an einen Steuerbescheid vorsieht. Schließlich begeht der Täter eine tatbestandliche Steuerverkürzung, wenn er durch unrichtige Angaben bewirkt, dass die Finanzbehörde den materiell entstandenen Steueranspruch nicht in voller Höhe festsetzen kann. Die Steuerfestsetzung 1060

Siehe: 2. Der methodologische Rechtsgutsbegriff (S. 142). Die nun folgende Darstellung nimmt Bezug auf die bisherigen Erläuterungen zur Bindungswirkung von Verwaltungsakten in: aa) Die typischen Fälle der Steuerhinterziehung (S. 57). 1061

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

bleibt daher wertmäßig hinter dem gesetzlichen Steueranspruch zurück und die Steuer wird dadurch im Sinne des § 370 Abs. 4 S. 1 – 1. Hs. AO „verkürzt“. Ebenfalls tatbestandsmäßig handelt der Täter, wenn er die Finanz­behörde durch unrichtige Tatsachen zur Gewährung einer vermögenswerten Steuervergünstigung veranlasst, auf die er in dieser Form (genauer: gemäß dieser Rechtsgrundlage) keinen Anspruch hat, so dass der Täter einen nicht gerechtfertigten Steuervorteil im Sinne des § 370 Abs. 4 S. 2 AO erlangt. All diesen Begehungsweisen ist gemein, dass die Finanzbehörde zu einer Steuerfestsetzung oder sonstigen Verfügung veranlasst wurde, auf die der Täter nach dem materiellen Recht keinen Anspruch hat. Soweit in diesen ganz typischen Fällen jeweils unstreitig eine Steuerhinterziehung erkannt werden muss, hat der Strafrichter dabei – wie jeder andere Anwender des § 370 AO auch – festzustellen, was der Täter nach Maßgabe des materiellen Steuerrechts beanspruchen konnte und was nicht. Erst hieraus kann sich überhaupt die Tatbestandsmäßigkeit, dass also ein aus den Steuern generierter Vermögensbestandteil durch die Tathandlung abstrakt gefährdet wurde, ergeben. Im Rahmen dieser Feststellung kann insbesondere der Strafrichter an einen finanzbehördlichen Verwaltungsakt schon deshalb nicht gebunden sein, weil das ihm vom Gesetzgeber ganz bewusst eingeräumte Aussetzungsermessen gemäß § 396 AO leer laufen würde. Denn er wäre sonst verpflichtet, im Rahmen der Steuerverkürzung die Heraufsetzung auf die materiell geschuldete Steuer und im Fall der Erlangung ungerechtfertigter Steuer­ vorteile die Aufhebung der Gewährung durch die Finanzbehörde abzuwarten. Des Weiteren muss berücksichtigt werden, dass die Steuerhinterziehung in einigen Fällen – insbesondere beim Eingreifen des Kompensationsverbotes – weitestgehend vom materiellen Steuerrecht abgekoppelt ist. So sollen gemäß § 370 Abs. 4 S. 3 AO vom Steuerpflichtigen nicht erklärte Minderungsgründe bei der Ermittlung der Steuerverkürzung und anderweitige Anspruchsgrundlagen für die Ermittlung des ungerechtfertigten Steuervorteils außer Betracht bleiben. Eine blinde Übernahme der geänderten Steuerverwaltungsakte nach Tataufdeckung kann daher schon teilweise aus dem Grunde nicht erfolgen, weil die materielle Steuerrechtslage für die Tatbestandsmäßigkeit überhaupt nicht von Belang ist. Aus alledem wird daher zu Recht gefolgert, dass dem Strafrichter bei der Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit der Steuerhinterziehung die volle Entscheidungskompetenz einzuräumen ist. Er hat also alle Tatbestandsmerkmale eigenständig mit den dafür vorgesehenen Mitteln des Strafverfahrensrechts unter Berücksichtigung der dort zum Schutze des Beschuldigten und Angeklagten vorgesehenen Schutzgarantien – allen voran die Beweislastregel in dubio pro reo – zu bestimmen. Dies bedeutet aber andererseits nicht, dass der Strafrichter über jeden Verwaltungsakt hinweggehen dürfte, als wäre er überhaupt nicht existent. Auch in diesen typischen Fällen zwingt nämlich schon der Tatbestand der Steuerhinterziehung – unabhängig von der vollständigen Entscheidungskompetenz über das materielle Steuerrecht  – zu einer klaren Beachtung von finanzbehördlichen Entscheidungen. Immerhin muss der Strafrichter den Verkürzungserfolg aus einer Differenz zwischen der materiell geschuldeten und der tatsächlich festgesetzten (oder an­

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gemeldeten) Steuer entnehmen. Diesbezüglich hat er den von der Finanzbehörde ergangenen Steuerbescheid (Steuerfestsetzung in exakter Höhe) als reine Tatsache zu berücksichtigen und muss sie seiner Subsumtion zugrunde legen.1062 Nicht anders ist es mit dem Erfolg der ungerechtfertigten Vorteilserlangung. Nach Maßgabe des § 370 Abs. 4 S. 2 – 2. Hs. AO sind die Vorteile erlangt, wenn sie zu Unrecht gewährt oder belassen werden, wobei es auf die steuerverfahrensrechtliche Verfügung ankommen soll. Auch hiernach hat der Strafrichter als bloße Tatsache festzustellen, dass die Finanzbehörde einen vorteilhaften Verwaltungsakt erlassen hat. Schon aufgrund des Umstands, dass das Ergehen eines Steuerbescheides auf die (einfache)  Ebene der Subsumtion von Tatsachen reduziert wird, handelt es sich schließlich um einen Fall der Tatbestandswirkung.1063 Dies erlaubt nun eine wichtige Schlussfolgerung: Muss der Strafrichter im Rahmen der Rechtsanwendung schon über den ganz natürlichen Weg der Subsumtion einen Verwaltungsakt sogar in den ganz typischen Fällen der Steuerhinterziehung berücksichtigen, wäre es daher falsch zu behaupten, der Steuerhinterziehung sei überhaupt keine Bindungswirkung von Steuerbescheiden zu entnehmen. Ist demnach sogar für die ganz typischen Fälle der Steuerhinterziehung eine Beachtlichkeit von bereits ergangenen Steuerbescheiden durchaus anerkannt, so verbietet sich bei der „Fristerschleichung“ jedenfalls die Argumentation, dem § 370 AO sei jede Bindungswirkung fremd und eine Steuerfestsetzung für eine Strafbarkeit insgesamt unbeachtlich. 2. Die „Fristerschleichung“ als ungerechtfertigter Steuervorteil Für die „Fristerschleichung“ läuft letztlich alles auf die Frage hinaus, ob sich der Hinterziehungstatbestand in den bereits formulierten typischen Fällen erschöpft, oder um eine weitere Fallgruppe erweitert werden muss. Bereits am Anfang dieser Arbeit wurde insofern darauf hingewiesen, dass es sich bei den hier zu lösenden Fällen gerade nicht um ein Problem der Entscheidungskompetenz des Strafrichters hinsichtlich steuerrechtlicher Vorfragen handeln kann. Maßgeblich ist in den Fällen der „Fristerschleichung“ allein, ob sich eine Steuerforderung darüber hinaus auch aus einem bloßen Steuerbescheid ergeben kann, der dann vom Strafrichter – vermittelt durch den Tatbestand des § 370 AO – Beachtung geschenkt wer 1062

Zu Recht Weidemann, GA 1987, S. 205 ff. [208 f.]. Weidemann, GA 1987, S. 205 ff. [209]: „Es ist müßig, diese Erscheinung als „Tatbestandswirkung“ zu bezeichnen, denn das Ergebnis folgt bereits aufgrund der Subsumtion unter die einzelnen Tatbestandsmerkmale. Das Besondere am Tatbestand des § 370 AO ist lediglich, daß das Merkmal der Steuerverkürzung einen Steuerfestsetzungsakt voraussetzt. Dies kann der Steuerbescheid oder auch – als letzter Akt der Steuerfestsetzung – ein Urteil des Finanzgerichts sein.“ Auch wenn Weidemann es anzuzweifeln scheint, so hat er doch exakt die Tatbestandswirkung in ihrer Reinform beschrieben. Hierzu allgemein bereits: (2) Die anerkannten Abweichungsverbote (S. 67). 1063

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

den muss.1064 Dies hat letztlich mit einer Prüfung des materiellen Rechts überhaupt nichts zu tun, weil ein gesetzlicher Steueranspruch im Sinne des § 38 AO in überschießender Höhe nicht entstanden ist und daher auch nicht vom Strafrichter festgestellt werden kann. Bis hierher hat sich jedenfalls für das Steuerrecht gezeigt, dass sich eine „Steuer“ auch aus einem überschießenden, aber bestandskräftigen Steuerbescheid ergeben kann. Ferner ist damit auch geklärt, dass eine rechtswidrige Steuerforderung mit Eintritt der formellen und materiellen Bestandskraft unweigerlich zum Steueraufkommen gehört, welches sogar das Rechtsgut der Steuerhinterziehung bildet. Kann also dieser Sonderfall etwa deshalb nicht zu einer Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung führen, weil diese Fallgestaltung trotz des eindeutigen Rechtsgutsbezugs gegen die Gesetzmäßigkeiten des Straftatbestandes verstößt? Die Erfolgsalternativen Steuerverkürzung und nicht gerechtfertigte Erlangung von Steuervorteilen, so wie sie heute von der ganz überwiegenden Ansicht verstanden werden, geben hierauf schließlich eine klare Antwort. a) Die Abgrenzung der Steuerverkürzung von der ungerechtfertigten Vorteilserlangung und die scheinbaren Folgen für die „Fristerschleichung“ Der Gesetzgeber hat ab dem Jahre 1919 der (reichs-)einheitlichen Steuerhinterziehung mit der Vorteilserlangung (neben der Steuerverkürzung) eine weitere Erfolgsalternative an die Seite gestellt, um einen alle strafwürdigen Handlungen erfassenden Tatbestand zu schaffen.1065 Da sich der Gesetzgeber aber nie zu dem Verhältnis von Steuerverkürzung und Vorteilserlangung geäußert hat, ist die Abgrenzung schon die gesamte Geltungsdauer der (Reichs-)Abgabenordnung über umstritten.1066 Es ließe sich sogar behaupten, dass zu diesem Streitstand nahezu­ alles Erdenkbare vertreten wird. Ein Teil der Literatur hält bereits eine klare Abgrenzung für entbehrlich. Denn aus der bloßen Einordnung als Steuerverkürzung oder Erlangung eines ungerechtfertigten Steuervorteils ergäben sich keine unterschiedlichen Anforderungen an die Tatbestandsverwirklichung oder die Verjährung.1067 Schließlich handele es sich bei den Erfolgen nur um zwei unterschiedliche Blickwinkel hinsichtlich des vom Täter vorgenommenen Rechtsgutsangriffs. Die Steuerverkürzung beschreibe daher nur die Gefährdung des Steueranspruchs aus Sicht des Staates und die Vorteilserlan 1064

Siehe bereits: (1) Die atypischen Fälle der Steuerhinterziehung (S. 65). Zur gesetzgeberischen Intention: 2. Keine Äußerung des Gesetzgebers (S. 274), dort insbesondere Fn. 1056. 1066 So auch Patzelt, Ungerechtfertigte Steuervorteile und Verlustabzug im Steuerstrafrecht, S. 73 ff. 1067 Ausdrücklich Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 372. 1065

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gung aus der Sicht des Täters.1068 Ähnlich verfährt auch seit jeher die Rechtsprechung, die beliebig zwischen den beiden Erfolgsalternativen zu wechseln scheint.1069 Als eindeutiges Beispiel aus jüngerer Zeit dient die Entscheidung des 1. Senats des Bundes­ gerichtshofs zur (von ihm angenommenen) Strafbarkeit in Fällen erschlichener Feststellungsbescheide.1070 Soweit die zu geringe Feststellung von Besteuerungsgrundlagen für den Täter erst dadurch Sinn hat, dass er diesen bindenden Steuerbescheid zur späteren Steuer­ festsetzung gebraucht und damit seine Steuerschuld reduziert, handelt es sich aus dieser Warte betrachtet unstreitig um eine Vorbereitung zu einer späteren Steuerverkürzung (durch Berücksichtigung des Feststellungsbescheides im späteren Festsetzungsverfahren). Aus diesem Grund ging der 3. Senat des Bundesgerichtshofs zuvor noch davon aus, dass der vom Täter angestrebte „Steuervorteil“ (das Gericht meint hier eigentlich die Steuerverkürzung) erst mit Bekanntgabe der Steuerfestsetzungen erlangt (bzw. eingetreten) sei.1071 Der 1. Senat widersprach diesem Auslegungsergebnis und sieht seitdem in ständiger Rechtsprechung in der Bindungswirkung des Feststellungsbescheides einen ungerechtfertigten Steuervorteil: „Wie die Vorschrift des § 370 Abs. 4 S. 1 AO zeigt, genügt z. B. für eine Steuerverkürzung schon die zu niedrigere Festsetzung von Steuern, also eine konkrete Gefährdung des Steueranspruchs […]. Die hinreichend konkrete Gefährdung des Steueranspruchs genügt auch für die Annahme eines nicht gerechtfertigten Steuervorteils. Da hier im Hinblick auf die Bindungswirkung von Grundlagenbescheiden (§ 182 Abs. 1 S. 1 AO) die für die Kommanditgesellschaft – auch der Höhe nach – festgestellten Besteuerungsgrundlagen des Gewinnfeststellungsbescheids ohne weiteres Zutun der Angeklagten oder der Kommanditisten in die Folgebescheide einzubeziehen waren, lag eine solche Gefährdung hier vor […].“1072 Hierzu kann man aber letztlich nur gelangen, wenn man von der völligen Austauschbarkeit der Erfolgsalternativen ausgeht und ihnen keinen exklusiven Anwendungsbereich zuerkennen will. Im Grunde erübrigt es sich, überhaupt zwischen den Tatbestanderfolgen zu unterscheiden.1073

In der Literatur ist man sich demgegenüber weitgehend einig, dass es prinzipiell einen Unterschied zwischen der Steuerverkürzung und Vorteilserlangung geben muss. Schließlich habe auch der Gesetzgeber eine Differenzierung in § 370 Abs. 4 S. 1, S. 2 AO vorgenommen.1074 Allerdings gestalte sich eine weitere Abgrenzung 1068 Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 23 Rn. 35; zust. Weidemann, Festschrift für Schwind, S. 491 ff. [494]. 1069 Dies hat schon das BVerfG, NJW 1995, S. 1883 f., (Freistellung im Beitreibungsverfahren als Steuervorteil) festgestellt. Vgl. zur Steuerhinterziehung im Beitreibungsverfahren auch Bansemer, wistra 1994, S. 327 ff. [329]. 1070 Angefangen mit BGHSt 53, S. 99. Siehe dazu die Erläuterung in Fn. 720 und Fn. 723. Die berechtigte Kritik von Weidemann wurde bereits erörtert unter: I. Lösung über BGHSt 53, S. 99? (Schützeberg und Weidemann) (S. 226). 1071 BGH, NStZ 1984, S. 414 f. (3. Senat). 1072 BGHSt 53, S. 99 [106 f.]. Gegen die Annahme einer „konkreten Gefahr“ siehe bereits die Erläuterungen in Fn. 723. 1073 So spricht der 1. Senat des BGH, wistra 2012, S. 482 ff., bsplw. nur von einer „Steuerhinterziehung im Beitreibungsverfahren“ ohne überhaupt klarzustellen, welcher Erfolg einschlägig sein soll. 1074 Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 119 (hierzu bereits Fn. 1058); Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 71; Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 113; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 95 ff.

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schwierig, weil der „Steuervorteil“ aus materieller Sicht auch jede Steuerverkürzung erfasse. Jede Verkürzung eines Steueranspruchs stelle naturgemäß eine ungerechtfertigte Besserstellung und damit zugleich einen Steuervorteil dar.1075 Der Erfolg der Vorteilserlangung drohe daher auszuufern, so dass es sich, wolle man der Steuerverkürzung überhaupt einen eigenständigen Regelungsbereich überlassen, insofern nur um einen besonderen Vorteil aus dem Bereich des Steuerrechts handeln könne.1076 Die weitergehende Differenzierung wird überwiegend anhand der unterschiedlichen Verfahrensabschnitte im Besteuerungsverfahren durchgeführt. Da die Steuerverkürzung nach Maßgabe des § 370 Abs. 4 S. 1 AO eine zu geringe oder nicht rechtzeitige Steuerfestsetzung voraussetze, müsse in der Steuerfestsetzungsphase der Erfolg der Vorteilserlangung insgesamt zurücktreten und gelte nur für die übrigen Verfahrensstadien.1077 Versucht man die Fälle der „Fristerschleichung“ auf die bisher dargestellten Ansichten zu den tatbestandlichen Erfolgen der Steuerhinterziehung anzuwenden, so wird man sehr schnell an ihre (vermeintlichen) Grenzen stoßen. Wer nämlich mit dem Bundesgerichtshof und einem Teil  der Literatur auf eine Abgrenzung völlig verzichten und stattdessen nur nach einer „Gefährdung des Steueranspruchs“ fragen will, der wird zu einem klaren Ergebnis kommen müssen. In dieser Arbeit wird zumindest durch die Erschleichung der Wiedereinsetzung zu keiner Zeit der „Steueranspruch“ gefährdet, weil es sich hierbei nur um den Anspruch handeln kann, der gemäß § 38 AO (1977) durch Verwirklichung eines Steuertatbestandes entsteht. Dieser materiell-rechtliche Steueranspruch bildet aber gerade nicht den strafrechtlichen Focus dieser Arbeit. Etwas anderes kann man nur für den gebildeten „Grundfall“ der Fristerschleichung annehmen, indem der Täter die Bekanntgabe seines Steuerbescheides leugnet und damit letztlich auch den tatsächlich entstandenen Steueranspruch zumindest für eine geraume Zeit (nämlich bis zu Erlass eines gleichlautenden anfechtbaren Steuerbescheides) an der Fortsetzung hindert.1078 Lässt man diese Feinheiten mal beiseite und beschränkt sich auf die in dieser Arbeit gestellte Frage, ob eine rechtswidrige, aber bestandskräftige Forderung aus dem Steuerbescheid hinterzogen werden kann, dann ist dies bis hierher mit einem klaren „Nein“ zu beantworten. Nicht viel anders sieht es aus, wenn man mit der überwiegenden Ansicht in der Literatur nach Verfahrensabschnitten unterscheiden will. Handelt es sich in den Fällen der „Fristerschleichung“ doch stets um 1075 Hierzu bereits E. Becker, RAO, § 359 Anm. 3: „Man sieht, wie dicht die Fälle [der beiden Erfolge, Anm. d. Verf.] aneinander grenzen; richtiger sagte man vielleicht, ineinander über­ gehen; […].“ Siehe aus der heutigen Literatur u. a. Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 95; Wulf, JuS 2008, S. 206 [210]. 1076 Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 95 f. 1077 Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 120; Joecks, in: Franzen/Gast/ Joecks, Steuerstrafrecht, AO, § 370 Rn. 98. Nach Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 113, soll diese Unterscheidung allerdings dazu führen, dass Vorteils­ erlangung zu einem Verletzungsdelikt wird. Eine stichhaltige Begründung bleibt er jedoch schuldig; siehe insbesondere Fn. 706. 1078 Dazu später unter: 1. Der Grundfall (S. 299).

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die – untechnisch gesprochen – Wiederaufnahme des Festsetzungsverfahrens, so dass damit allein der Anwendungsbereich der Steuerverkürzung eröffnet wäre und eine Tatbestandsmäßigkeit mit den gleichen Erwägungen verneint werden müsste. Setzt die Steuerverkürzung doch ebenfalls einen materiellen Steueranspruch voraus, dessen zutreffende und rechtzeitige Festsetzung vom Täter verhindert wird.1079 b) Die Unbeachtlichkeit des materiellen Steueranspruchs für den Erfolg der ungerechtfertigten Vorteilserlangung – BGHSt 40, S. 109 Das bisher Dargestellte kann aber nur ein vorläufiges Ergebnis bilden. Denn sowohl die vorgestellten Ansichten aus der Literatur als auch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Erschleichung von Feststellungsbescheiden lassen einen gewichtigen Umstand vermissen, der in dieser Arbeit bereits im Rahmen der Rechtsgutsbeschreibung herausgearbeitet wurde. Die Steuerhinterziehung setzt nach heute ganz herrschender Ansicht in Rechtsprechung und Lehre nicht notwendig einen materiellen Steueranspruch voraus, so dass eine tatbestandsmäßige Steuerhinterziehung sogar derjenige begehen kann, der einen Steuervergütungsanspruch eines insgesamt nicht existierenden Steuerpflichtigen vortäuscht.1080 Die zuvor insbesondere in der Rechtsprechung vorherrschende Unterscheidung zwischen einem in Mitleidenschaft gezogenen materiellen Steueranspruch, der dann zu einer Strafbarkeit nach § 370 AO führen sollte, und den übrigen Fällen, bei denen eine Strafbarkeit nach § 263 StGB verblieb, erübrigt sich seitdem. Denn diese willkürlich anmutende Dichotomie der Hinterziehungsfälle wurde im Jahre 1994 durch einen „Rechtsprechungswandel“1081 endgültig vom Bundesgerichtshof  – nicht zuletzt auf Drängen der Literatur – zugunsten einer generellen Anwendung der Steuerhinterziehung aufgehoben.1082 Schließlich kann das Steueraufkommen – also der „Anspruch des Steuergläubigers auf den vollen Ertrag jeder einzelnen Steuer“1083 – auch ohne einen materiellen Steueranspruch tangiert werden. Damit dient § 370 AO nach heute weitestgehend unumstrittener Ansicht umfassend dem Schutz des gesamten Steueraufkommens.1084

1079

Ganz h. M., ausdrücklich schon E. Becker, RAO, § 359 Anm. 2: „Es muß sich um Verkürzung von Steuereinnahmen handeln, d. h. es muß ein Steueranspruch entstanden sein.“ Ferner heute: BGH v. 7.04.1978 – 5 StR 48/78, Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 74; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 398; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 23. 1080 Siehe oben: aa) Die Herleitung der heutigen Ansicht – zugleich: Abgrenzung von den Tatobjekten (S. 152). 1081 Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 91. 1082 Endgültig mit der Entscheidung BGHSt 40, S. 109. 1083 BGHSt 36, S. 100 [102]; 40, S. 109. 1084 Die Stimmen aus der Literaur sind bereits in Fn. 598 wiedergegeben.

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Letztlich darf auch nicht die zuvor genannte und zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Steuerhinterziehung bei erschlichenen Feststellungsbescheiden als eine Abkehr von diesem eingeschlagenen Weg verstanden werden. Der 1. Senat spricht im Zusammenhang mit dem Steuervorteil nur davon, dass ein solcher „auch“ bei einer konkreten Gefährdung des Steueranspruchs vorliegen könne. Eine dahingehende Folgerung, eine nicht gerechtfertige Vorteilserlangung sei „nur“ im Fall einer solchen Steueranspruchsgefährdung gegeben, würde weit über den Aussagegehalt der Entscheidung hinausgehen. Natürlich wäre es passender gewesen, wenn der Bundesgerichtshof schlicht von einer Gefährdung des Steueraufkommens gesprochen hätte, die auch in einer Gefährdung des Steueranspruchs liegen kann.

Mit dieser (Neu-)Strukturierung des Rechtsgutes muss dann aber auch eine Änderung der tatbestandlichen Erfolge einhergehen, die bisher nicht ausreichend beachtet wurde. Häufig trifft man nämlich nicht nur bei der Steuerverkürzung, sondern auch bei der Vorteilserlangung die Formulierung an, dass der „Steueranspruch“ gefährdet sein müsse,1085 obwohl diese Kautele doch schon längst – und das von nahezu allen – überwunden ist. Diese Folgerung wurde in der hier dargestellten Ausdrücklichkeit bisher nur in der Kommentierung von Schmitz und Wulf hervorgebracht.1086 Sie wollen daraus eine generelle Abgrenzung zwischen den Erfolgsalternativen herleiten. Da nur Steueransprüche verkürzt werden könnten, komme der ungerechtfertigte Steuervorteil vor allem dann zum Einsatz, wenn der Täter einen Vermögensvorteil aus dem Steueraufkommen erlange, ohne dass es dabei zu einer Tangierung des Steueranspruchs gekommen sei.1087 Ob diese Art der tatobjektsbezogenen Abgrenzung (Steueranspruch als Tatobjekt der Steuerverkürzung und Steueraufkommen als Tatobjekt der Vorteilserlangung) für alle denkbaren Fälle überzeugen mag, braucht an dieser Stelle nicht abschließend behandelt werden. Entscheidend ist nur, dass auch die Steuerhinterziehung – wie es sowohl 1085

Vgl. Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 372: „Das Gesetz stellt beide Erfolgsvarianten zudem gleichberechtigt nebeneinander; ihr gemeinsamer Nenner ist die Gefährdung des staatlichen Steueranspruchs (s. Rdnr. 57 f.).“ Erst aus der dortigen Verweisung lässt sich entnehmen, dass der konkrete „Steueranspruch“ wohl nicht gemeint sein kann. Ferner Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 23 Rn.  35: „Beide Begriffe [Steuerverkürzung und Erlangung eines ungerechtfertigten Steuervorteils, Anm.  d. Verf.] richten sich übereinstimmend auf den Taterfolg der konkreten Gefährdung des staatlichen Steueranspruchs, […].“ Siehe auch noch bis zur 137. Ergänzungslieferung (2010) Dumke, in: Schwarz, AO, § 370 Rn. 103, indem er den Steuervorteil dort als günstige Gestaltung des Steuerrechtsverhältnisses beschreibt, „die sich auf die Realisierung des einzelnen Steueranspruchs (s. Rz. 1) auswirkt, also zur Folge hat, dass die Finanzbehörde den Anspruch nicht, nicht rechtzeitig oder nicht in voller Höhe […] geltend machen kann oder die Verwirklichung des Anspruchs gefährdet ist.“ Dieses Missverständnis ist nun in der Neukommentierung beseitigt worden, siehe Wedel/Dumke, in: Schwarz, AO, § 370 Rn. 2. Noch vor der „Rechtsprechungswende“ (BGHSt 40, S.  109) wurde auch der Steuervorteil ganz in dem Sinne einer „Gefährdung des Steueranspruchs“ verstanden. Siehe bsplw. die Monographien von Patzelt, Ungerechtfertigte Steuer­ vorteile und Verlustabzug im Steuerstrafrecht, S.  73 ff.; Fuhrop, Der Steuervorteilsbegriff, S. 86 ff.; Grothe, Steuerhinterziehung außerhalb des Festsetzungsverfahrens und im Mineralölsteuerverfahren, S. 42 ff. 1086 Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 74. 1087 Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 74; Wulf, JuS 2008, S. 206 ff. [210].

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der Bundesgerichtshof als auch Schmitz und Wulf ausdrücklich klargestellt haben – nicht notwendig einen materiellen Steueranspruch voraussetzt. Da man im Hinblick auf den Erfolg der Steuerverkürzung nur schwer von einem materiellen Steuer­anspruch abrücken kann, wird in diesen Fällen der tatbestandliche Erfolg des nicht gerechtfertigten Steuervorteils einschlägig sein.1088 Damit lässt sich für die „Fristerschleichung“ unumwunden feststellen, dass aus der Ausgestaltung des Tatbestandes der Steuerhinterziehung keine Einwände hervorgebracht werden können, die gegen eine Einbeziehung sprechen. Die „Fristerschleichung“ ist durchaus geeignet, einen nicht gerechtfertigen Steuervorteil zu bewirken. Damit sind die wesentlichen Weichen gestellt und alles Weitere muss einer genauen Subsumtion unter den Tatbestand der Steuerhinterziehung vorbehalten bleiben.1089 3. Die strafrechtsdogmatische Herleitung – die Gestaltungswirkung als das maßgebliche Abweichungsverbot in den Fällen der „Fristerschleichung“ Mit dem Ergebnis, dass eine „Fristerschleichung“ die Erlangung eines nicht gerechtfertigten Steuervorteils darstellen kann, lassen sich nunmehr auch die dogmatischen Wirkungen eines überschießenden Steuerbescheides für den Tatbestand der Steuerhinterziehung begründen. Insofern steht nämlich noch die Beantwortung der bereits zu Anfang dieser Arbeit gestellten Frage aus, ob mit einem Steuerbescheid ein Abweichungsverbot verbunden sein kann.1090 Der Strafrichter wird an einen bestandskräftigen Steuerbescheid „gebunden“, soweit der Täter mittels unrichtiger oder unvollständiger Angaben eine konstitutiv aus diesem Bescheid ergebende und damit überschießende Steuerforderung widerrechtlich reduziert. Diese Wirkung kommt schon allein dadurch zustande, dass ab Eintritt der Bestandskraft die nicht von einem Steuergesetz gedeckte Forderung automatisch dem Steueraufkommen anwächst und somit dem durch die Steuerhinterziehung garantierten (strafrechtlichen) Schutz unterstellt wird. Die eigenmächtige Herausnahme dieser (nun vollwertigen) Steuerforderung aus der „Steuerkasse“ ist schließlich genauso geeignet, den Tatbestand des § 370 AO zu erfüllen, wie es unstreitig bei dem Erschleichen von Steuervergütungen oder der minderwertigen Festsetzung eines tatsächlich entstandenen Steueranspruchs der Fall ist.

1088 Siehe nur BGHSt 40, S. 109; 51, S. 356; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 432, obwohl er zuvor noch vom erforderlichen Steueranspruch (zitiert in Fn. 1085) spricht; Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 197 ff.; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 91. 1089 Siehe dazu unten: 3. Abschnitt: Die Subsumtion der „Fristerschleichung“ unter den Tatbestand der Steuerhinterziehung (S. 288). 1090 Siehe: bb) Die Fälle der „Fristerschleichung“ (S. 65).

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

Das Bindungsproblem wird also auf die bloße Rechtsanwendung der Strafnorm beschränkt. Schon aus diesem Grund kann die allein dem Verwaltungsakt anhaftende materielle Bestandskraft nicht geeignet sein, die soeben formulierte Bindung auszulösen. Nicht weil der Steuerbescheid bestandskräftig geworden ist, muss der Strafrichter ihm Beachtung schenken und somit dem Tatbestand der Steuerhinterziehung zugrunde legen, sondern allein, weil ein Straftatbestand an ihn anknüpft. Der Blick des Richters wandert also nicht vom bestandskräftigen Verwaltungsakt zum Strafgesetz, sondern umgekehrt, der Strafrichter hat beim Blick in das Strafgesetz all diejeniegen Umstände zu berücksichtigen, die eine Tatbestandsvoraussetzung bilden. Des Weiteren kann sich für die Steuerhinterziehung eine Bindungswirkung aus der materiellen Bestandskraft bereits deswegen nicht ergeben, weil sie dann zwingend für alle bestandskräftigen Steuerbescheide angenommen werden müsste. Ein Abweichungsverbot wäre folgerichtig auch in den alltäglichen Fällen gegeben, in denen der Täter in seiner Steuererklärung falsche Angaben gemacht und somit eine Steuerfestsetzung erwirkt hat, die hinter dem gesetzlichen Steueranspruch zurückbleibt. Dass dies letztlich für eine Abschaffung des Steuerstrafrechts sorgen würde, ist in dieser Arbeit bereits genauso thematisiert worden, wie die Unhaltbarkeit einer solchen Folgerung. Schließlich läuft dies der durch § 396 AO und seiner Historie zum Ausdruck kommenden „Bindungsfreiheit des Strafrichters“ in eklatanter Weise zuwider.1091 Ebenfalls aus dem Kreis der in Betracht kommenden Abweichungsverbote ausscheiden muss die Tatbestandswirkung. Ihre Annahme würde nämlich bedeuten, dass der Tatbestand der Steuerhinterziehung das Ergehen eines überschießenden Steuerbescheides als reine Tatsache voraussetzte. Die rechtlichen Wirkungen, mit der eine überschießende und schließlich auch bestandskräftige Steuerforderung verbunden sind, wären insofern nicht Teil des Tatbestandes und demzufolge aus dem gesamten Subsumtionsvorgang verbannt. Dem lässt sich schon entgegenhalten, dass § 370 AO mit der Steuerverkürzung und Erlangung ungerechtfertigter Steuervorteile eindeutig normative Tatbestandsmerkmale benennt, die sich sogar ganz maßgeblich auf steuerrechtlicher Ebene bewegen.1092 Von einem Tatbestand, der schwierige Rechtsfragen allein dadurch ausklammert, dass er an das bloße Ergehen oder Existieren verwaltungsbehördlicher Rechtsakte anknüpft, kann also keine Rede sein. Vielmehr ist die Steuerhinterziehung auch in den Fällen der „Frist­erschleichung“ weit davon entfernt, die Verletzung einer sich aus dem Steuer­bescheid ergebenden „formellen Gehorsamspflicht“ unter Strafe zu stellen.

1091

Dazu bereits: aa) Die typischen Fälle der Steuerhinterziehung (S. 57). Zum Deliktscharakter der Steuerhinterziehung siehe oben: b) Subjektiver Tatbestand – zugleich: Ist die Steuerhinterziehung ein Blankett? (S. 198). 1092

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Somit verbleibt nur die Gestaltungswirkung als das maßgebliche Abweichungsverbot. Denn der überschießende Steuerbescheid statuiert zulasten des Adressaten originär eine Leistungspflicht, soweit er über den bereits von Gesetzes wegen entstandenen Steueranspruch hinausgeht. Entscheidend für die Begründung einer Bindungswirkung ist nun zum einen, dass das Ergehen dieses konstitutiven Rechtsaktes als Teil der Rechtswirklichkeit auch von keinem Rechtsanwender mehr geleugnet werden kann. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass der Tatbestand der Steuerhinterziehung genau an diese Leistungspflicht anknüpft, indem sie ab Eintritt der Bestandskraft des Steuerbescheides zum Steueraufkommen gehört und daher auch hinterzogen werden kann. Ferner ist hierdurch geklärt, dass die „Fristerschleichung“ einerseits nur eine weitere eigenständige Begehungsweise der Steuerhinterziehung darstellt und andererseits die althergebrachten Erscheinungsformen unangetastet lässt. Denn eine generelle Bindungswirkung des Strafrichters an jeden wie auch immer gearteten Steuerbescheid ist mit der angenommenen Gestaltungswirkung gerade nicht verbunden. Der Rechtsanwender hat in Fällen einer zu geringen Steuerfestsetzung auch weiterhin den materiellen Steueranspruch eigenständig festzustellen und daraus den Erfolg der Steuerverkürzung zu bestimmen. Nur soweit der Steuerbescheid eine zu hohe Forderung ausweist, gehört der nicht von einem Steuergesetz gedeckte Bestandteil dann zum geschützten Steueraufkommen, wenn der Bescheid in Bestandskraft erwächst. Ab diesem Zeitpunkt hat ihn der Steuerpflichtige in voller Höhe zu akzeptieren und kann ihn nachträglich nur auf dem Wege eines tatsächlich durchgeführten Wiedereinsetzungs- oder Änderungsverfahrens beseitigen. Veranlasst der Steuerpflichtige demgegenüber die Finanzbehörde zu einer Herausgabe der überschießenden Steuerforderung aufgrund unrichtiger Tatsachen, so wird damit unweigerlich der Tatbestand der Steuerhinterziehung angesprochen. Es darf allerdings nun nicht das Missverständnis entstehen, die Gestaltungswirkung sorge in den Fällen der „Fristerschleichung“ dafür, dass der Strafrichter die Steuerrechtslage nicht mehr eigenständig zu prüfen habe. Er hat sie letztlich genauso zu prüfen wie die Finanzbehörde und das Finanzgericht, die sich aus Gründen der Rechtssicherheit aber ebenfalls nicht mehr über eine bestandskräftige Steuerfestsetzung hinwegsetzen dürfen. Auch im Strafrecht sorgt genau die beschriebene Wirkung der Bestandskraft dafür, dass eine von Anfang an rechtswidrige Steuerforderung nach Ablauf der Einspruchs- oder Klagefrist zum Steueraufkommen gehört. Sofern dies zum einen der entscheidende Brückenschlag zum Tatbestand der Steuerhinterziehung darstellt und zum anderen die Steuerhinterziehung eben nicht nur den materiellen Steueranspruch zum Gegenstand hat, muss daraus insgesamt der Schluss gezogen werden, dass dem Strafrichter keine Sonderrolle im Hinblick auf die ihm nach wie vor eingeräumte Prüfungskompetenz zukommen kann. Damit ist letztlich auch für den Tatbestand der Steuerhinterziehung das vertretene Dogma vom „materiellen Anspruch“ widerlegt.

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

3. Abschnitt

Die Subsumtion der „Fristerschleichung“ unter den Tatbestand der Steuerhinterziehung – zugleich: Zusammenfassung der Ergebnisse Bestreitet der Steuerpflichtige den Zugang seines ihm bereits bekannt gegebenen Steuerbescheides oder erfindet er im Wiedereinsetzungsverfahren tatsächlich nicht gegebene Wiedereinsetzungsgründe, um dadurch letztlich eine zu hohe, aber bereits bestandskräftige Steuerforderung mittels Einspruchs oder Klage zu Fall zu bringen, dann wird durch ein solches Verhalten der Taterfolg der Erlangung ungerechtfertigter Steuervorteile angesprochen. Dies ist das Ergebnis der bisherigen Arbeit. Nunmehr fehlt allerdings noch die genaue Subsumtion unter den gesamten gesetzlichen Tatbestand der Steuerhinterziehung. Hierzu sind die Fragen zu beantworten, ab wann genau der Taterfolg der ungerechtfertigten Vorteils­erlangung in den Fällen der „Fristerschleichung“ einzutreten pflegt und ob auch die ü­ brigen Tatbestandsmerkmale erfüllt sind. In den Fällen der „Fristerschleichung“ wird es letztlich auf die Begehung der ersten Tathandlungsvariante (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) hinauslaufen, so dass sich die weiteren Ausführungen hierauf beschränken. Allgemein setzt diese Begehungsform der Steuerhinterziehung voraus, dass der Täter den Finanzbehörden oder anderen Behörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht und dadurch Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt.

A. Die Tathandlung des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO Die heute in § 370 Abs. 1 AO enthaltenen Tathandlungen (Nr. 1–Nr. 3) wurden erst durch die Abgabenordnung (1977) eingeführt. Sie sollten dem seit der Reichsabgabenordnung (1919) problematischen Zustand begegnen, der mit der unklaren Formulierung des § 359 Abs. 1 RAO (1919)1093 einherging. Damals sah die Steuerhinterziehung keine näher umgrenzte Tathandlung voraus, durch die eines der Taterfolge herbeigeführt werden musste. Stattdessen war nur von einem „Erschleichen“ nicht gerechtfertigter Steuervorteile und dem „Bewirken“ einer Verkürzung von Steuereinnahmen die Rede. Große Unsicherheit verursachte die Handhabung des Merkmals Bewirken, weil es sprachlich jede kausale Herbeiführung einer Verkürzung erfasste, und sogar vor der schlichten Nichtzahlung einer festgesetzen 1093

RGBl. 1919, S. 1993 ff. § 359 Abs. 1 RAO (1919) lautete: „Wer zum eigenen Vorteil oder zum Vorteil eines anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erschleicht oder vorsätzlich bewirkt, daß Steuereinnahmen verkürzt werden, wird wegen Steuerhinterziehung mit Geldstrafe bestraft.“

3. Abschn.: Die Subsumtion der „Fristerschleichung“

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Steuer kein Halt zu machen schien.1094 Schon im Vergleich zur Tathandlungsalternative des Erschleichens, das begrifflich eine „trügerische Machenschaft“1095 voraussetzte, drängte sich eine tatbestandliche Einschränkung geradezu auf. Das Reichsgericht fand sie im Erfordernis des „steuerunehrlichen Verhaltens“.1096 Demzufolge müsse der Täter einer Steuerhinterziehung stets ein „frauduloses, d. h. ein unehrliches, steuerwidriges Verhalten offenbart haben, durch das, ihm bewußt, die Wirkung einer Verkürzung der Steuereinnahmen als Folge seines Handelns oder seiner Unterlassung herbeigeführt worden ist.“1097 Trotz der schein 1094 Dazu eingehend Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 28 ff.; Samson/ Horn, NJW 1970, S. 593 ff. 1095 RGSt 60, S. 97 [98]. 1096 Siehe u. a. RGSt 60, S. 182 [185] und später BGH (u. a. BGHSt 2, S. 338 [340]). Der Behauptung, u. a. von Kohlmann, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 9, und Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 31, das RG und nach ihm der BGH habe die Steuerunehrlichkeit zeitweise auf ein rein finales Verhalten im Sinne einer Täuschung beschränkt und insoweit nicht bloß ein In-Unkenntnis-Lassen der Steuerbehörde ausreichen lassen, kann nicht gefolgt werden. Ungeachtet der z. T. missdeutigen Formulierungen in einzelnen Entscheidungen (z. B. „hinterlistige Weise […] zu täuschen unternommen hat“ in BGHSt 2, S. 338 [340]) wurde von den Gerichten zu keiner Zeit generell in Abrede gestellt, dass auch ein bloßes Verschweigen von Umständen den Tatbestand erfüllen kann. Die von der Gegenseite angeführten Entscheidungen (RGSt 63, 95 [99]; 71, S. 216 [217]; 76, 195 [198]; RG, RStBl. 1938, S. 889 ff. [890]; BGHSt 2, 338 [340]; OLG Hamm, BB 1960, S. 653; BayOblG, BB 1964, S. 950) behandelten, soweit überhaupt ein Unterlassen im Raum stand, im Wesentlichen Fälle, die die Nichtabführung von Lohnsteuer durch den steuerentrichtungspflichtigen Arbeitgeber zum Gegenstand hatten. Häufig befand sich das anstellende Unternehmen in finanziellen Schwierigkeiten, so dass die Lohnsteuer zwar angemeldet und auch einbehalten, dann aber zum Ausgleich von Liquiditätsengpässen nicht an den Fiskus abgeführt wurde. Eine Tatbestandsmäßigkeit wurde hierbei aber nur deshalb abgelehnt, weil der Finanzbehörde der steuererhebliche Sachverhalt vom Steuerpflichtigen mitgeteilt und sie demzufolge gerade nicht in Unkenntnis gelassen wurde (BGHSt, a. a. O. [341]: „Das bloße Unterlassen der Lohnsteuerabführung ist auch bei erwiesener Böswilligkeit keine Steuerhinterziehung. Es muß, wie bei allen anderen Unterlassungstaten, eine rechtliche Verpflichtung zum Handeln durch Untätigkeit verletzt sein. Hier kommt nur die Verletzung einer gegenüber der Steuerbehörde bestehenden Offenbarungspflicht in Betracht. Diese Verpflichtung hat aber der Angeklagte hier nicht verletzt, vielmehr erfüllt, indem er durch monatliche Lohnsteueranmeldungen die volle Aufklärung gegeben hat. Daher hat das Landgericht mit Recht die Erregung eines Irrtums (§ 402) und besonders eine Steuerunehrlichkeit (§ 396) verneint.“) Die späteren Entscheidungen weichen daher von der zu Anfang der RAO (1919) getroffenen Auslegung des Steuerhinterziehungstatbestandes nicht ab! Dies belegt eindrucksvoll ein Vergleich mit der bereits am 7.07.1925 ergangenen Entscheidung des RG, JW 1925, S. 1900 f. [1901]: „Der Angekl., der nach den Urteilsfeststellungen bei der Erfüllung seiner Steuerpflicht nur säumig gewesen ist, im übrigen aber zahlungswillig und zahlungsfähig war, auch nichts getan hat, um die Geltendmachung der Steuerforderung durch die Steuerverwaltung, die, wie er wußte, dieser im Hinblick auf § 42 der DurchfBest. nicht verborgen bleiben konnte, zu vereiteln oder zu erschweren, hat sich einer Steuerhinterziehung i. S. des § 359 RAO der RAbgO nicht schuldig gemacht; […].“ Die hier zitierten Entscheidungen des RG und des BGH sind in ihren rechtlichen Erwägungen identisch, so dass auch letztlich die Entscheidung des BGH vom 24.09.1953, NJW 1953, S. 1841 f., keine Rückbesinnung, so aber i.E. Kohlmann, a. a. O., auf eine längst vergangene Rechtsprechung des RG darstellt. Zur Strafbarkeit im Falle unterlassener Zahlungen nach dem Verfahrensrecht der RAO siehe bereits Fn. 610. 1097 RGSt 60, S. 182 [185].

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

baren Klarheit dieser Formel blieb die Einordnung dieses Merkmals sowohl in verfassungsrechtlicher als auch strafrechtsdogmatischer Hinsicht umstritten.1098 Der Gesetzgeber sah sich daher im Rahmen der allgemeinen Reform der Abgabenordnung (1977) zugleich dazu veranlasst, das ungeschriebene Merkmal der Steuerunehrlichkeit im Steuerhinterziehungstatbestand festzuschreiben, indem er es mit betrugsähnlichen Handlungsweisen versah.1099 So sieht die Steuerhinterziehung in § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO heute als aktive Handlungsvariante das Machen unrichtiger oder unvollständiger Angaben gegenüber der Finanzbehörde vor. In § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO wurde die ebenfalls in der Reichsabgabenordnung – im Rahmen des unehrlichen Verhaltens – bereits anerkannte Unterlassungsvariante durch das pflichtwidrige In-Unkenntnis-Lassen der Finanzbehörde tatbestandlich fixiert. In Anbetracht der nicht unerheblichen Wirksamkeitsdauer des „neuen“ Rechts muss man der Überlegung, der Gesetzgeber habe das ungeschriebene Merkmal der Steuerunehrlichkeit nur präzisiert, so dass die bisherige Rechtsprechung zur Reichsabgabenordnung (bis 1977) auch weiterhin gelte1100, heute keinen gesteigerten Bedeutungsgehalt mehr beimessen. Als weitere besondere, aber in dieser Arbeit nicht weiter interessierende Unterlassungsvariante besteht noch der § 370 Abs. 1 Nr. 3 AO in einer Nicht-Verwendung von Steuerzeichen und -stemplern.1101 I. Das Machen unrichtiger oder unvollständiger Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen gegenüber einer Finanzbehörde oder einer anderen Behörde Der Tatbestand der ersten Handlungsvariante setzt grundlegend ein Machen unrichtiger oder unvollständiger Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen gegenüber einer Behörde voraus. Es handelt sich hierbei letztlich nur um eine andere Umschreibung der aus § 263 Abs.  1 StGB bekannten Täuschungshandlung. Die enge Verwandtschaft zwischen der Steuerhinterziehung und dem Betrug tritt daher an dieser Stelle am deutlichsten zu Tage, was aber nicht zu der Annahme verleiten darf, dass sich gesicherte Grundsätze der jeweiligen Tatbestände ungeprüft übernehmen lassen. 1098 Siehe dazu die Ausführungen bei Kohlmann, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 10 (insbesondere in Fn. 4). 1099 BT-Drucks. VI/1982, S.  193 f.; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 105 ff.; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 198; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 32. 1100 Ähnl. Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 118. 1101 Es handelt sich hierbei um eine Sonderkonstellation, weil im Gegensatz zu den Varianten des § 370 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 AO nicht auf die Sachverhaltsermittlung der Finanzbehörde eingewirkt wird, sondern der Steuerpflichtige seine ihm auferlegte Pflicht verletzt, Steuerzeichen oder Steuerstempler zu verwenden. Steuerzeichen im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 3 AO sind heute nur noch die Tabaksteuerbanderolen gemäß § 17 TabStG.

3. Abschn.: Die Subsumtion der „Fristerschleichung“

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1. Das Machen unrichtiger oder unvollständiger Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen Das Angabenmachen geschieht ganz allgemein durch ausdrückliches oder zumindest konkludentes Erklären.1102 Im Gegensatz zu § 263 Abs. 1 StGB verlangt der deutlichere Wortlaut des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO einen Kommunikationsakt zwischen dem Täter und der Finanzbehörde, der allerdings nicht notwendigerweise durch wörtliche Erklärung erfolgen muss, sondern der Finanzbehörde auch aufgrund einer sonstigen natürlichen Handlung (konkludent) zur Kenntnis gebracht werden kann.1103 Unbestreitbar werden alle Äußerungen in schriftlicher, mündlicher oder nunmehr elektronischer Form erfasst. Sie stellen aufgrund der gesetzlich vorgesehenen Steuererklärung gemäß § 149 AO (in Verbindung mit den Einzelsteuergesetzen) das Hauptanwendungsfeld dieser Begehungsweise dar. Hieran hat sich auch nach der Einführung der elektronischen Steuererklärung (ELSTER) gemäß den §§ 150 Abs. 6, Abs. 7, 87a Abs. 6 AO in Verbindung mit der Steuerdaten-Übermittlungsverordnung (StDÜV) nichts geändert.1104 Dies gilt sogar für diejenigen Erklärungen (Lohnsteuer- und Umsatzsteuervoranmeldung), die bis zum 31.12.2012 gemäß § 6 Abs.  1 S.  2 StDÜV a. F. keine der tatsächlichen Unterschrift vergleichbare qualifizierte Signatur tragen mussten. Schließlich wird die Tatbestandsmäßigkeit einer Handlung nicht dadurch beeinträchtigt, dass die Erklärung nicht den gesetzlichen Vorgaben entspricht, also bsplw. die erforderliche Unterschrift unter der formalisierten Steuererklärung nach amtlichen Vordruck fehlt.1105 Unter Umständen wird insbesondere im Falle einer fehlenden Unterschrift nur die Urheberschaft des Erklärenden schwer zu ermitteln sein.1106 Eine genaue Klärung, von wem die Angaben stammen, ist im Falle der in Rede stehenden Tatvariante aber schon deshalb zwingend notwendig, weil ein tatbestandsmäßiger Kommunikationsakt nicht nur von dem Steuerpflichtigen selbst, sondern auch von jedem Dritten vorgenommen werden kann. Nicht selten geraten daher weitere Personen – insbesondere der steuerliche Berater des Steuerpflichtigen – in den Kreis der weiteren Verdächtigen. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO ist daher im Gegensatz zu der Unterlassungsvariante des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO (bei der Täter nur der sein kann, den eine vom Tatbestand geforderte Erklärungspflicht trifft) und der enger ausgestalteten leichtfertigen Steuerverkürzung gemäß § 378 Abs. 1 AO („wer als Steuerpflichtiger oder bei Wahrnehmung der Angelegenheiten eines

1102

U. a. Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 201. Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn.  81; a. A. Joecks, in: Franzen/ Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 122, der § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO nur auf wörtliche Erklärungen anwenden will und dies aus dem Wortlaut herleitet. 1104 Statt vieler Schmitz/Wulf, in: MüKO-AO, § 370 Rn. 202. 1105 BGH, wistra 2003, S. 20 f. 1106 Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn.  120a; Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 28. 1103

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

Steuerpflichtigen“) kein Sonderdelikt.1107 Gerade im Hinblick darauf, dass eine förmliche Steuererklärung häufig von mehreren Personen gefertigt wird, sei es, weil der Steuerberater die Erklärungsvordrucke nach Maßgabe der vom Steuerpflichtigen abgegebenen Belege „vorbereitet“ und ihm danach zur Unterschrift vorlegt oder aber, weil Ehegatten im Rahmen der Zusammenveranlagung gemäß §§ 26, 26b EStG eine gemeinsame Erklärung abgeben,1108 stellt sich damit immer die Frage nach der Urheberschaft der erklärten Tatsachen und mithin nach der Täterschaft selbst. Nach überwiegender Ansicht kann unmittelbarer Täter insofern nur derjenige sein, der ganz entscheidend darüber bestimmt, mit welchem Inhalt die Erklärung (auch über fremde Steuersachen) in den Rechtsverkehr gelangen soll und sie auch tatsächlich der Behörde bekannt macht.1109 Für den Regelfall der Steuererklärung auf amtlichen Vordruck ist dies nur derjenige, der die geforderte Unterschrift leistet und damit die Verantwortung für die erklärten Tatsachen übernimmt.1110 Ferner besteht ebenfalls Einigkeit, dass eine eigenhändige Täterschaft zumindest dann ausscheidet, wenn lediglich eine Aufbereitung der Steuererklärung im Auftrag des Steuerpflichtigen durch den steuerlichen Berater oder eigene Angestellte erfolgt.1111 Macht der steuerliche Berater demgegenüber eigene Anga 1107 Siehe nur BGHSt 38, S. 37 [41]; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 90 ff., m. w. N. Zu dem Charakter der leichtfertigen Steuerverkürzung als Sonderdelikt Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 378 Rn. 6 f. A. A. sind Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 253 ff. [260], indem sie im Rahmen ihrer Überlegung zur Kausalität dazu kommen, dass die meisten Fälle der Steuerhinterziehung (selbst bei einer vorhandenen Erklärung!) solche des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO seien und daher – damit es nicht zu einem Ungleichgewicht komme – die Steuerhinterziehung insgesamt als Sonderdelikt gesehen werden müsse.Vgl. allerdings zur Einordnung des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO als „Sonderdelikt“ nunmehr BGH v. 09.04.2013 – 1 StR 586/12 = NJW 2013, S. 2449. Demnach sei der Unterlassungstatbestand der Steuerhinterziehung (in Abkehr von der bisherigen Rspr.) zwar ein Delikt, das ­„Jedermann“ verwirklichen könne. Allerdings komme eine mittäterschaftliche Zurechnung bereits aufgrund des abweichenden Wortlauts nicht in Betracht, so dass eine täterschaftliche Verwirklichgung stets eine Erklärüngspflicht (u. a. für den Verfügungsberechtigten gemäß § 35 AO) voraussetze. 1108 Siehe hierzu BFH, NJW 2002, S. 2495 f.; OLG Karlsruhe, NJW 2008, S. 162 ff.: Die bloße Mitunterzeichnung der gemeinsamen Steuererklärung könne weder eine Mittäterschaft noch eine Beihilfe an einer Steuerhinterziehung des Ehepartners begründen. 1109 Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 107 ff. m. w. N. Ob es – wie Ransiek, a.a.O, Rn. 107.6 f., anführt – zur eigenhändigen Täterschaft ebenfalls bedarf, dass die Erklärung „in eigener Person“ vom Täter abgegeben wurde, ist jedoch fraglich. Für die überwiegenden Fälle der Steuerhinterziehung, bei denen nämlich das Steuererklärungsformular postalisch­ verschickt oder doch zumindest durch einen autorisierten Boten übermittelt wird, ist bei einer solchen Sicht zwingend ein Rückgriff auf die Zurechnungen über die mittelbare Täterschaft und Mittäterschaft erforderlich. Natürlich ist dies für sich genommen noch kein gültiges Argument gegen eine solche Auslegung. Doch wer sagt, dass ein „Machen eigener Angaben“ nicht auch „durch einen (äußerlich erkennbaren) Boten“ geschehen kann? Der Wortlaut der Steuerhinterziehung lässt eine solche Deutung durchaus zu und vermeidet zudem die sonst erforderlichen Zurechnungsfiguren. 1110 Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 79; Rolletschke, in: Rolletschke/ Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 27 ff.; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 107.4. 1111 Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 114 ff.

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ben, indem er bsplw. in einem Einspruchs- oder Klageverfahren selbst wahrheitswidrig vorträgt, begründet dies den Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO. Gegenstand der Erklärungen müssen ferner Tatsachen sein, d. h. konkrete vergangene oder gegenwärtige Zustände der Außenwelt oder des menschlichen Innenlebens, die eine steuerliche Erheblichkeit besitzen. Steuerlich relevant sind solche Tatsachen, zu denen auch Beweismittel zählen, die der Subsumtion unter eine steuerliche Norm dienen.1112 Im Gegensatz zu einigen Stimmen aus der Literatur gelingt eine weitergehende Abgrenzung über die Tatbestandsmerkmale des gesetzlichen Steuertatbestands oder Steueranspruches nicht.1113 Dem steht nämlich schon entgegen, dass die Steuerhinterziehung zum einen auch ungerechtfertigte Steuervorteile (ohne jeglichen Bezug zu einem Steueranspruch!) erfasst und zum anderen ebenfalls ganz unstreitig im Erhebungs- oder Vollstreckungsverfahren begangen werden kann. Täuscht der Steuerpflichtige etwa wider besseren Wissens vor, dass er Zahlungen geleistet hat, die auf die festgesetzte Steuerschuld angerechnet werden können, so hat dies streng genommen nichts mit dem materiellen Steuertatbestand zu tun. Gleiches gilt für die unstreitigen Fälle der Steuerhinterziehung, wenn der Steuerpflichtige die Vollstreckung einer bereits festgesetzten Steuer verhindern will, indem er seine Zahlungsunfähigkeit vortäuscht.1114 Handelt es sich dabei doch nach einhelliger Ansicht um typische Begehungsweisen der Steuerhinterziehung im Beitreibungsverfahren.1115 Geht man deshalb zu Recht davon aus, dass die steuerliche Erheblichkeit letztlich nichts anderes meint als einen direkten Bezug zum Steuerrecht, so ist die Wirkungsweise dieses Merkmals durchaus zweifelhaft. Es wird wohl allein als „Vorfilter“ dazu dienen, nicht steuerrelevante Angaben für eine eventuell dennoch eintretende Steuerverkürzung oder einen erlangten ungerechtfertigten Steuervorteil verantwortlich zu machen.1116 Die Frage nach 1112

So zutreffend weit gefasst von Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 43. 1113 Dies erkannte (1989) schon Grote, Steuerhinterziehung außerhalb des Festsetzungsverfahrens und im Mineralölsteuerverfahren, S. 80 ff. Siehe zu den engeren Deutungen nur Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 232; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 230. 1114 Hierzu u. a. BGH NZwiSt 2012, S. 470 ff. m. w. N. 1115 Siehe nur BGH, NStZ 1992, S. 599 f. [600]: „Im Beitreibungsverfahren sind steuerlich erhebliche Tatsachen i. S. d. § 370 I Nr. 1 AO auch Umstände, die für die Entscheidung des Finanzamtes, ob und welche Vollstreckungsmaßnahmen ergriffen werden sollen, von Bedeutung sind.“ BGH, NStZ-RR 2012, 372 ff.; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 76; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 230; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 130. 1116 Ähnlich Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 231, dort auch zu dem genannten Beispiel, dass ein Finanzbeamter dem Steuerpflichtigen anbietet, höhere Werbungskosten anzuerkennen, wenn er sich zu dem ortsansässigen Fußballverein bekennen würde. Gebe der Steuer­ pflichtige nun wahrheitswidrig vor, er sei Fan dieser Fußballmannschaft, so handele es sich schon nicht um eine steuererhebliche Tatsache. Entgegen der Ansicht von Schmitz/Wulf, a. a. O., wird eine steuererhebliche Tatsache jedoch sehr wohl dann vorliegen, wenn der Steuerpflichtige gegenüber der Finanzbehörde vorgibt, er habe sich schon vorher auf eine bestimmte Sachbehandlung verständigt. Natürlich ist es zutreffend, dass eine „Zusicherung“ in der AO nicht gesetzlich geregelt ist. In diesen Fällen wird aber doch regelmäßig (insbesondere in den Fällen

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

der Zurechnung der getätigten Angaben zu dem eingetretenen Taterfolg stellt sich also in diesen Fällen erst gar nicht. Des Weiteren setzt § 370 Abs.  1 S.  1 AO voraus, dass diese Angaben über steuer­erhebliche Tatsachen unrichtig oder unvollständig sind. Unrichtige Angaben liegen vor, wenn zwischen dem tatsächlich Erklärten und der Wirklichkeit ein objektiver Widerspruch besteht.1117 Im Hinblick auf das weitere Merkmal der unvollständigen Angabe handelt es sich um einen Sonderfall der unrichtigen Angabe. Es dient letztlich nur der Klarstellung, dass das (teilweise) Unterlassen von Angaben sehr wohl ein Tun darstellen und mithin der Tatvariante des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO unterfallen kann. Diese Einordnung ist nicht nur von akademischer Natur, sondern wird bereits dann relevant, wenn nicht der Steuer­pflichtige, sondern ein nicht zur Erklärung verpflichteter Dritter die unvollständigen Angaben vornimmt. Würde man diese Fälle allein unter die Unterlassensvariante des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO fassen, so könnte der Dritte mangels der die Strafbarkeit konstituierender Pflicht den Tatbestand überhaupt nicht begehen.1118 Entscheidend für die Einordnung als unvollständiges Angabenmachen im Sinne eines Tuns muss aber sein, dass die getätigte Erklärung den falschen Anschein erweckt, vollständig zu sein.1119 Also nur dann, wenn den Angaben ein dahingehender konkludenter Erklärungswert zukommt, kann das teilweise Unterlassen auch unter betrugsdogmatischen Gesichtspunkten ganz legitim als Tun gewertet werden.1120 Der wohl am häufigsten vorkommende Fall der unvollständigen Angaben stellt sicherlich die Steuererklärung dar, in der einzelne Besteuerungsgrundlagen (bsplw. Einkunftsquellen) vom Steuerpflichtigen verschwiegen werden. Die geforderte konkludente einer durchgeführten „tatsächlichen Verständigung“ [siehe hierzu Fn. 20]) ein bereits durchgeführtes Beweisverfahren (deren Durchführung gemäß § 88 Abs. 1 S. 2 AO ohnehin im Ermessen der Finanzbehörde steht) vorgetäuscht. Die Aussage des Steuerpflichtigen, man habe sich „geeinigt“, wird daher häufig die konkludente Aussage enthalten, dass ganz bestimmte Beweise (nicht selten eine Auskunft des Steuerpflichtigen selbst) vorgelegen hätten. Hierbei handelt es sich dann aber doch genauso um eine steuererhebliche Tatsache (in Gestalt eines Beweismittels), wie die unzutreffende Erklärung des Steuerpflichtigen, die Finanzbehörde habe sich schon über die Ordnungsgemäßheit seines Arbeitszimmers (§§ 4 Abs.  1 S.  1 Nr.  6b, 9 Abs. 5 S. 1 EStG) durch Inaugenscheinnahme vergewissert. Nur in den Fällen, in denen der Steuerpflichtige gegenüber der Finanzbehörde vortäuscht, man habe sich allein auf rechtlicher Ebene verständigt, wird man eine steuererhebliche Tatsache ausschließen können. Hierzu ist die Steuerverwaltung aufgrund der strikten Gesetzesbindung gerade nicht befugt. 1117 Statt vieler Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn.  78 ff., dort auch zu der Frage, ob dieses Merkmal als „Täuschung“ ganz im betrugsrechtlichen Sinne verstanden werden könne. Dies werfe deswegen Probleme auf, weil der Täuschungsbegriff des § 263 Abs. 1 StGB nach überwiegender Ansicht auch mit der subjektiven Komponente der „bewussten Irreführung“ (siehe nur Rengier, BT/I § 13 Rn. 5) ausgestattet sei. Dies lässt sich auf die Steuerhinterziehung schon deswegen nicht übertragen, weil die Merkmale des § 370 Abs.  1 Nr. 1 AO auch für die leichtfertige Steuerverkürzung Verwendung finden und schon deshalb kein subjektives Element enthalten können; siehe die Nachweise bei Hellmann, a. a. O. 1118 Vgl. auch Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 249. 1119 Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 46b. 1120 Vgl. nur Cramer/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 263 Rn. 14/15.

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Vollständigkeitserklärung ergibt sich hierbei schon aus dem Umstand, dass grundsätzlich alle Besteuerungsgrundlagen für den betreffenden Veranlagungszeitraum angegeben werden müssen und dies in dem entsprechenden Erklärungsvordruck auch tatsächlich versichert wird. 2. Das Angabenmachen gegenüber der Finanzbehörde oder einer anderen Behörde Die Angaben über unrichtige oder unvollständige steuererhebliche Tatsachen müssen schließlich einer Finanzbehörde oder einer anderen Behörde gegenüber gemacht werden. Die Finanzbehörden werden abschließend in § 6 Abs. 2 AO genannt. Da aber nicht nur Finanzbehörden die für ein Steuerverfahren maßgeblichen Erklärungen entgegennehmen,1121 hat der Gesetzgeber den potentiellen Adressatenkreis auch auf jede andere Behörde – nach Maßgabe des § 6 Abs. 1 AO jede Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt – erweitert.1122 Ob eine solche Ausdehung jedenfalls in der ihr vom Gesetzgeber zugedachten Anwendungsform wirklich notwendig ist, wurde bisher zu Recht bezweifelt.1123 Denn die Entscheidung der „anderen Behörde“ führe nicht bereits selbst zu einer Steuer­ verkürzung. Benutze der Täter diese erschlichene Bescheinigung aber im Rahmen seiner Steuerveranlagung, dann mache er erst gegenüber der Finanzbehörde durch Vorlage dieser fremden Entscheidung eine unrichtige Angabe und begehe daher eine Steuerhinterziehung.1124 Mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Strafbarkeit in den Fällen erschlichener Feststellungsbescheide ist nun durchaus eine andere Deutung möglich.1125 Aus dieser Warte betrachtet, könnte man nämlich in der für den Steuerpflichtigen günstigen, aber unzutreffenden Entscheidung einer anderen Behörde durchaus die Erlangung eines ungerechtfertigen Steuervorteils erblicken, so dass eine Steuerhinterziehung bereits im Vorfeld vollendet wäre. Ungeachtet dieser neueren Anwendungsfragen tat der Gesetzgeber dennoch gut daran, den Tatbestand in der dargestellten Weise zu erweitern. Hierdurch werden über den Regelungsmechanismus des § 369 Abs. 2 AO in Verbindung mit § 11 Abs. 1 Nr. 7 StGB zugleich die (Finanz-)Gerichte erfasst.1126 Das Steuerauf-

1121

Siehe nur §§ 82 f., 92 ff. WoBauG. BT-Drucks. VI/1982, S. 194. 1123 Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 90. 1124 Die unrichtige Erklärung gegenüber der Finanzbehörde kommt dadurch zustande, dass jeder Vorlage einer fremden Bescheinigung der konkludente Erklärungswert innewohnt, diese nicht auf unlautere Weise erlangt zu haben. 1125 Siehe bereits die Nachweise in Fn. 720. 1126 Statt vieler OLG München, NZWiSt 2013, S. 31; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, AO, § 370 Rn. 253. Klarstellend sei darauf hingewiesen, dass § 6 Abs. 1 AO als reine finanzbehördliche Verfahrensvorschrift auch keine Sonderregelung darstellen kann, die eine Anwendung des § 11 Abs. 1 Nr. 7 StGB über den Verweis des § 369 Abs. 2 AO („soweit die Strafvorschriften der Steuergesetze nichts anderes bestimmen“) ausschließt; vgl. Ransiek, in: Kohlmann, a. a. O. 1122

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

kommen wird demnach auch vor täuschungsbedingten Verfügungen der Finanz­ gerichte im Steuerprozess geschützt. II. Das unrichtige oder unvollständige Angabenmachen in den Fällen der „Fristerschleichung“ In den Fällen der „Fristerschleichung“ nimmt der Steuerpflichtige sowohl in dem Grundfall als auch in der Erschleichung der Wiedereinsetzung eine taugliche Tathandlung im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO vor. 1. Der Grundfall Der Steuerpflichtige macht in dem formulierten Grundfall der „Fristerschleichung“ insgesamt zwei für den Tatbestand der Steuerhinterziehung relevante Angaben. Zum einen gibt er gegenüber der Finanzbehörde oder dem Finanzgericht an, einen ihm bereits bekannt gegebenen Steuerbescheid nicht erhalten zu haben. Da dies nicht der Wahrheit entspricht, handelt es sich bei dieser Erklärung um eine unrichtige Tatsache. Dieser vom Steuerpflichtigen vorgetäuschte Nichteintritt der Bekanntgabe der Steuerfestsetzung besitzt ferner eine steuerliche Erheblichkeit, weil die Bekanntgabe als direkte Wirksamkeitsvoraussetzung eines Verwaltungsaktes der Subsumtion unter die steuerlichen Normen der §§ 124 Abs. 1, 122 AO dient. Weitere Voraussetzungen trägt das Merkmal der steuerlichen Erheblichkeit nicht.1127 Zum anderen lässt sich auch an die spätere Einspruchs- oder Klageerhebung nach Erhalt des inhaltsgleichen, aber noch nicht bestandskräftigen Zweitbescheides anknüpfen. Indem der Steuerpflichtige nämlich diesen erneut bekannt gegebenen Steuerbescheid anficht, ohne den bereits existierenden Erstbescheid zu erwähnen, tätigt er nunmehr unvollständige Angaben über steuererhebliche Tatsachen gegenüber der Finanzbehörde oder dem Finanzgericht.1128 Schon in Anbetracht des mit einer bestandskräftigen Steuerfestsetzung verbundenen Abweichungsverbotes ist die vorbehaltlose Anfechtung einer Steuerfestsetzung zugleich mit der konludenten Erklärung versehen, dass es vorherige oder nachträgliche davon abweichende Steuerfestsetzungen nicht gegeben hat. Das mag im Rahmen der „Fristerschleichung“ vielleicht auf den ersten Blick sonderbar erscheinen, weil es sich insofern nur um zwei inhaltsgleiche Steuerbescheide handelt. Maßgeblich muss jedoch der Gedanke sein, dass der vom Steuerpflichtigen verleugnete Erstbescheid im Gegensatz zum erschlichenen Zweitbescheid nicht mehr angefochten werden kann. Indem 1127 Siehe zu der begrenzten Wirkungsweise der steuerlichen Erheblichkeit bereits die Ausführungen unter: 1. Das Machen unrichtiger oder unvollständiger Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen (S. 291). 1128 Siehe zur vom Steuerpflichtigen vorgetäuschten Untätigkeitsklage vor dem Finanzgericht bereits Fn. 501.

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der Steuerpflichtige diesen Teil der relevanten Verfahrenshistorie aus seinem Vortrag ausklammert und der übrige den konkludenten Erklärungswert der Vollständigkeit enthält, handelt es sich unweigerlich um unvollständige Angaben. 2. Die „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ Zu keinem abweichenden Ergebnis gelangt man in Fallkonstellationen, in denen der Steuerpflichtige Wiedereinsetzungsgründe vortäuscht, um dadurch die Bestandskraft seiner ihm gegenüber ergangenen Steuerfestsetzung zu umgehen und eine Berichtigung dieser im Einspruchs- oder Klageverfahren zu erreichen. Soweit die angegebenen Wiedereinsetzungsgründe nicht der Wahrheit entsprechen, handelt es sich ebenfalls um unrichtige Tatsachen, die bereits deshalb als steuerlich erheblich zu qualifizieren sind, weil sie der Subsumtion unter die Steuernormen des § 110 AO bzw. § 56 FGO dienen. Hat nicht der Steuerpflichtige, sondern der Steuerberater für seinen Mandanten eigene Angaben zum tatsächlichen Hergang der Fristversäumnis gemacht, um dadurch ein mangelndes Verschulden vorzutragen, begeht er selbst die Tathandlung des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO, wenn dieser Vortrag nicht der Wahrheit entspricht. Aus diesem Grund hat nicht zuletzt im Fall des Oberlandesgerichtes Hamm der angeklagte Steuerberater insofern tatbestandsmäßig gehandelt, als er gegenüber dem Finanzgericht wahrheitswidrig vorgab, den streitgegenständlichen Steuerbescheid verspätet erhalten zu haben. Soweit demgegenüber das Landgericht Münster in der Berufungsinstanz die steuerliche Erheblichkeit der vom Angeklagten vorgetragenen Verspätung abgelehnt hat, weil diese vorgetäuschten Tatsachen nicht das Entstehen einer Steuer nach materiellem Recht zum Gegenstand hätten, liegt diesem Ergebnis ganz augenfällig eine falsche Auffassung vom abgelehnten Tatbestandsmerkmal zugrunde.1129 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass steuererhebliche Tatsachen auch im Beitreibungsverfahren erklärt und ebenso wenig auf einen existierenden Steueranspruch bezogen sein müssen.1130 Aus diesem Grund verbietet sich zugleich eine ohnehin nicht durchführbare Trennung zwischen formellem und materiellem Steuerrecht – man denke nur an einen erschlichenen Zahlungsaufschub gemäß § 223 AO. Es kann daher nur darauf ankommen, dass die in der Erklärung des Täters enthaltenen falschen Tatsachen überhaupt eine steuerliche Relevanz besitzen. Das haben Tatsachen aber schon, wenn sie der Subsumtion unter eine Steuernorm dienen können. Jede weitere tatbestandliche Einschränkung muss sodann den übrigen Voraussetzungen der Taterfolge vorbehalten bleiben.

1129

Nachweis unter: a) Die Entscheidungen zur „Fristerschleichung“ (AG Münster, LG Münster, OLG Hamm) (S. 232). 1130 Siehe: 1. Das Machen unrichtiger oder unvollständiger Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen (S. 291).

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

B. Die Erlangung eines ungerechtfertigten Steuervorteils I. Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse Die vorliegende Arbeit hat bisher die Erkenntnis zu Tage gefördert, dass ab Eintritt der Bestandskraft die mit einer überschießenden Steuerfestsetzung einhergehende Rechtswidrigkeit nicht mehr als Einwand gegen eine weitere Realisierung vorgebracht werden kann. Die Rechtswidrigkeit einer solchen Steuerforderung wird solange von der Bestandskraft überlagert, bis der Steuerbescheid nicht doch noch durch die Finanzbehörde aufgehoben oder geändert wird. Dies hat insgesamt zur Folge, dass sich die rechtswidrige Steuerforderung zugleich ganz legitim als „Steuer“ im Sinne des § 3 Abs. 1 AO darstellt. Tiefgreifende verfassungsrechtliche Bedenken – immerhin handelt es sich insoweit um eine grundrechtswidrige Steuer – lassen sich hiergegen schon deswegen nicht erheben, weil auch dieser von einem materiellen Steuergesetz nicht gedeckte Zustand zugunsten der Rechtssicherheit (als elementarer Bestandteil des Rechtsstaatsgebotes) von allen am Steuerverfahren Beteiligten akzeptiert werden muss. Mit diesem vorwiegend steuerrechtlichen Ergebnis gehen nun ebenfalls Auswirkungen auf den Tatbestand der Steuerhinterziehung einher. Stellt sich nämlich eine rechtswidrige, aber bestandskräftige Steuerforderung legitim als „Steuer“ dar, so wächst sie zugleich dem strafrechtlich geschützten Rechtsgut „Steueraufkommen“ an. Auch diese rechtswidrige Steuerforderung wird damit unweigerlich dem strafrechtlichen Schutz des § 370 AO unterstellt. Diese rechtsgutsdogmatische Betrachtung lässt sich nun in einem weiteren Schritt auf die konkrete Subsumtion herunterbrechen. Im Rahmen der „Fristerschleichung“ kann nämlich nur der tatbestandliche Erfolg der Erlangung ungerechtfertigter Steuervorteile angesprochen sein. Denn einerseits fehlt in den Fällen der „Fristerschleichung“ stets ein materieller Steueranspruch, so dass eine Steuerverkürzung ohnehin ausscheiden muss. Andererseits enthält der Erfolg der ungerechtfertigten Vorteilserlangung gerade das Tatobjekt des „Steueraufkommens“. Zu diesem gehört nicht zuletzt auch die überschießende, aber letztendlich bestandskräftige Steuerforderung. Schon aus dem Prinip der Bestandskraft zur Durchsetzung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit verbietet sich nun jede weitere Differenzierung. Letztlich hat sich sogar rechtstechnisch gezeigt, dass das Problem der „Fristerschleichung“ nichts anderes ist als eine bloße Subsumtionsfrage. Es ist die im Tatbestand der Steuerhinterziehung ohnehin angewandte „Tatbestandswirkung“, mit der sich das dargebotene Phänomen beschreiben lässt. Die „Fristerschleichung“ ist also in Bezug auf die Handhabung mit der Steuerhinterziehung überhaupt nichts Besonderes. Was allerdings bislang noch fehlt, ist die genaue Einordnung, wodurch der angesprochene Taterfolg infolge der „Fristerschleichung“ verwirklicht wird.

3. Abschn.: Die Subsumtion der „Fristerschleichung“

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II. Erfolgseintritt Diese Arbeit hat gezeigt, dass im Falle einer „Fristerschleichung“ in Bezug auf die rechtswidrige Steuerforderung allein der Taterfolg der Erlangung eines ungerechtfertigten Steuervorteils in Betracht kommen kann. Hierdurch ist zwar das Ob, aber keinesfalls schon das Wie der Tatbestandsverwirklichung geklärt. Immerhin gibt es in den thematisierten Fällen eine ganze Reihe von Handlungen des Steuerpflichtigen, die daraufhin zu unterschiedlichen behördlichen Entscheidungen führen. Es muss im Folgenden darum gehen, den Moment der Tatbestandsverwirklichung genau zu bestimmen. Hierzu hält die Strafbestimmung selbst wichtige allgemeine Implikationen bereit. Insofern weist nämlich § 370 Abs. 4 S. 2 – 2. Hs. AO für den Taterfolg der Vorteilserlangung darauf hin, dass solche Vorteile (schon) dann erlangt sind, „soweit sie zu Unrecht gewährt oder belassen werden“. Die steuerliche  – einen direkten Bezug zum Steueraufkommen aufweisende  – Besserstellung muss demzufolge durch die Maßnahme einer Finanz- oder anderen Behörde vermittelt werden. Es handelt sich also um ein willentliches Tätigwerden oder Unterlassen seitens der Behörde, das den Steuerpflichtigen in eine Lage versetzt, die er nach der zutreffenden Rechtslage nicht hätte beanspruchen können.1131 Hierfür ist es allerdings nicht notwendig, dass die Tätigkeit der Behörde den rechtsförmlichen Charakter eines Verwaltungsaktes besitzt, so dass auch jede tatsächliche Leistungsbewirkung ausreicht.1132 Gemäß dem in § 370 Abs. 4 S. 3 AO angeordneten Kompensationsverbot ist ein Steuervorteil ferner bereits dann ungerechtfertigt erlangt, wenn der Täter diese konkrete Besserstellung materiell-rechtlich nicht beanspruchen konnte. Dass er unter Umständen auf eine andere Weise einen äquivalenten Vorteil erlangen konnte, hindert die Erfolgsverwirklichungen daher nicht. Insofern wird das Steueraufkommen vor der (abstrakten) Gefahr einer doppelten Inanspruchnahme geschützt. Diese allgemeinen Vorgaben müssen zur Lösung der verschiedenen Fälle der „Fristerschleichung“ verwendet werden. 1. Der Grundfall Gibt der Steuerpflichtige entweder gegenüber der Finanzbehörde oder dem Finanzgericht vor, den in Wahrheit bereits bestandskräftigen Steuerbescheid oder (für den Fall der verstrichenen Klagefrist) den unanfechtbaren Einspruchsbescheid nicht erhalten zu haben, so erreicht er dadurch ganz konkret, dass die Finanz­ 1131

Vgl. Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 181 f.; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 428. 1132 Deutlich wird dies insbesondere, wenn der Täter (eventuell sogar der Finanzbeamte selbst) ein insgesamt nicht existierendes Unternehmen erfindet und in seinem Namen Steuervergütungsansprüche geltend macht. In diesen Fällen kann ein wirksamer Verwaltungsakt schon deswegen nicht ergehen, weil es den entsprechenden Adressaten überhaupt nicht gibt. Dennoch hat der BGH, BGHSt 51, S. 356, zu Recht entschieden, dass spätestens mit dem Erhalt der tatsächlichen Leistung ein Vorteil vom Täter erlangt wird. Siehe hierzu auch Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 121a.

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behörde von einer weiteren Beitreibung der festgesetzten Steuer Abstand nimmt. Durch diese unrichtigen Angaben unterlässt die Finanzbehörde ganz bewusst jede weitere Realisierung dieser bestandskräftigen Steuerforderung, obwohl sie nach dem Legalitätsprinzip hierzu weiterhin uneingeschränkt verpflichtet ist. Der Steuerpflichtige wird so gestellt, als hätte niemals eine Steuerfestsetzung stattgefunden. Er erlangt demzufolge bereits zu diesem frühen Zeitpunkt einerseits einen konkreten Steuervorteil in Höhe der rechtswidrigen Festsetzung. Damit ist der eingetretene Erfolg aber noch nicht hinreichend beschrieben. Denn die Angabe des Steuerpflichtigen, den Steuerbescheid niemals erhalten zu haben, sorgt andererseits zugleich dafür, dass auch der rechtmäßige Teil  der Steuerfestsetzung nicht mehr beigetrieben wird. Auch dies stellt mit der gleichen Argumentation einen ungerechtfertigten Steuervorteil in Höhe des im Bescheid zutreffend festgesetzten Steueranspruchs dar. Von einer Steuerverkürzung wird man hierbei – trotz der vereitelten Realisierung des materiellen Steueranspruchs  – nicht ausgehen können, weil dieser Taterfolg nach althergebrachter Auffassung eine nachteilige Differenz zwischen der gesetzlich entstandenen Steuer (Steuer-Soll) und der konkreten Steuerfestsetzung (Steuer-Ist) voraussetzt. In dem hier zur Prüfung anstehenden Grundfall liegt jedoch eine bezogen auf den materiellen Steuer­anspruch zutreffende Steuerfestsetzung vor, die auch angesichts der Täuschung weiterhin wirksam ist, von der aber die Finanzbehörde letztlich nichts weiß. Nur wer den Erfolg der Steuerverkürzung um diese Fallvariante erweitern will, was angesichts des Wortlautes in § 370 Abs. 4 S. 1 AO („namentlich“) durchaus möglich erscheint, kann zu einem anderen Ergebnis gelangen. Die vorliegende Arbeit geht jedoch einen anderen Weg, um eine deutlichere Abgrenzung zwischen den Taterfolgen weiterhin aufrecht zu halten. Demzufolge erlangt der Steuerpflichtige bereits ganz zu Anfang seiner „Fristerschleichung“ einen einheitlichen Steuervorteil in voller Festsetzungshöhe (also des rechtmäßigen und rechtswidrigen Teils). Der weitergehende Umstand, dass die Finanzbehörde kurze Zeit später einen inhaltsgleichen Steuerbescheid bzw. Einspruchsbescheid erlässt, hindert die Tatbestandsverwirklichung dagegen nicht. Es darf insofern nur nicht außer Acht gelassen werden, dass durch die zwingend mit dem Leugnen der Bekanntgabe erfolgende Zweitfestsetzung der Steuerpflichtige nur temporär von seiner Steuer „befreit“ wird. Auch diese Unterscheidung ist der Steuerhinterziehung wohl bekannt. Bisher unterschied nämlich sowohl die obergerichtliche Rechtsprechung als auch die Literatur zwischen einer Steuerhinterziehung (überwiegend in Gestalt der Steuerverkürzung) auf Dauer und auf Zeit.1133 Habe sich der Steuerpflichtige 1133

Vgl. BGHSt 38, S. 165; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 493 m. w. N. Zwar wird vorwiegend von einer „Steuerverkürzung“ auf Dauer gesprochen, siehe nur Ransiek, a. a. O.; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 76 ff.; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 107 ff., allerdings sind identische Fallgestaltungen auch hinsichtlich des Taterfolges der Vorteilserlangung durchaus möglich. Da im Übrigen eine genaue Unterscheidung zwischen den Taterfolgen bisher nicht gefunden wurde, fällt eine Beschränkung der Steuer­hinterziehung auf Dauer allein auf den Taterfolg der Steuerverkürzung ohnehin schwer.

3. Abschn.: Die Subsumtion der „Fristerschleichung“

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nur einen zeitlichen Aufschub (insbesondere durch Steuerverkürzungen im Rahmen von Steuervorauszahlungen bzw. Steueranmeldungen) verschaffen wollen, so belaufe sich der objektiv eingetretene Erfolg nur auf den eingetretenen Zinsausfall und nicht auf die Höhe des nominell unzutreffend festgesetzten Steueranspruchs.1134 Legt man diese Unterscheidung einmal zugrunde, dann muss dies für den hier aufgeworfenen Grundfall der „Fristerschleichung“ bedeuten, dass der erlangte Steuervorteil in Höhe der rechtmäßigen Steuer nur ein solcher „auf Zeit“ ist. Diesen will der Steuerpflichtige nämlich zu keiner Zeit vollständig zum Erliegen bringen. Sein Ziel ist es vielmehr, dass nur dieser materielle Steueranspruch von der Finanzbehörde festgesetzt und beigetrieben wird. Anders verhält es sich mit dem rechtswidrigen Teil der festgesetzten Steuer. Dieser soll von der Finanzbehörde gerade nicht mehr realisiert werden können, was schon dadurch zum Ausdruck kommt, dass die daraufhin bekannt gegebene Zweitfestsetzung vom Steuerpflichtigen durch Einspruch oder Klage angefochten werden soll. Der eingetretene Erfolg ist daher insofern ein solcher „auf Dauer“ und beläuft sich somit zwangsweise auf den nominellen Betrag der rechtswidrigen Festsetzung. Allerdings darf nun ebenfalls nicht unerwähnt bleiben, dass die vorbenannte Unterscheidung zwischen der Steuerhinterziehung auf Dauer und auf Zeit vom Bundesgerichtshof und einem Teil  der Lehre nicht mehr vorgenommen wird, so dass sich der tatbestandsmäßige Erfolg in jedem Fall an dem unzutreffend festgesetzten Steueranspruch (im Fall der Steuerverkürzung) und der nominellen Schmälerung des Steueraufkommens (im Fall des ungerechtfertigten Steuer­ vorteils) bemisst und sich folglich nicht nur auf den bloßen Verspätungsschaden beschränkt.1135 Dass sich der Steuerpflichtige nur einen zeitlichen bedingten Aufschub verschaffen wollte, kann sich nach diesem neuen Ansatz lediglich im Rahmen der Strafzumessung auswirken.1136 Letztlich sorgt das Betreiben des Einspruchs- oder Klageverfahrens und die daraufhin vorgenommene Korrektur der Steuerfestsetzung im Nachgang für einen erneuten ungerechtfertigten Steuervorteil in Höhe des rechtswidrigen Teils. Dieser wird nun endgültig durch die Reduzierung auf die gesetzlich geschuldete Steuer zum Erliegen gebracht. Dass es sich hierbei um eine das Steueraufkommen schmälernde Maßnahme durch die Finanzbehörde oder das Finanzgericht handelt, die

1134

BGHSt 38, S. 165. Nun die Rechtsprechungswende in BGHSt  53, S.  221 (Umsatzsteuervoranmeldungen) und BGHSt 56, S. 153 (Lohnsteueranmeldung); Jäger, in: Klein, AO, § 370 Rn. 110; zur zutreffenden Herleitung dieser neuen Rspr. schon vorher Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 77: „Vielmehr geht es [bei der Steuerverkürzung auf Zeit, Anm. des Verf.] alleine um eine Quantifizierung des vom Tatvorsatz getragenen Verkürzungserfolges. […] Die Verkürzung auf Dauer und auf Zeit unterscheiden sich also nicht im Erfolgs-, sondern im Handlungsunrecht durch das entsprechende Vorstellungsbild des Täters  […].“ Zust. Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 493 ff. 1136 Jäger, in: Klein, AO, § 370 Rn. 110. 1135

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der Steuerpflichtige zu dieser Zeit nicht mehr beanspruchen konnte, bedarf am nun angekommenen Ende der vorliegenden Arbeit keiner weiteren Begründung mehr. Fasst man das strafrechtliche Ergebnis zusammen, so verwirklicht der Steuer­ pflichtige mit seiner Fristerschleichung gleich in zweifacher Hinsicht den Tatbestand der Steuerhinterziehung (zum einen durch die zuerst verursachte Abstandnahme der Steuerbeitreibung in gesamter Festsetzungshöhe und zum anderen durch die endgültige Reduzierung im Einspruchs- oder Klageverfahren in Höhe des rechtswidrigen Teils der Steuerfestsetzung). Da allerdings der Steuerpflichtige nicht mehrfach für ein und dieselbe von ihm begangene Fristerschleichung bestraft werden kann, wird man an der Annahme einer mitbestraften Vor- oder Nachtat nicht vorbeikommen. Geht man nun davon aus, dass bereits durch die vom Steuerpflichtigen verursachte Abstandnahme der Steuerbeitreibung das gesamte Unrecht der Fristerschleichung (rechtswidriger Teil der Steuerfestsetzung) und noch dazu ein weiteres Unrecht in Form der vereitelten Beitreibung der rechtmäßigen Steuer verwirklicht wird, so liegt die Annahme einer mitbestraften Nachtat wohl am nächsten. Immerhin würde dieses weitergehende Unrecht durch eine angenommene mitbestrafte Vortat nicht erfasst. Es handelt sich also im Hinblick auf die erneute Vorteilserlangung nur um eine Perpetuierung des zuvor verwirklichten Unrechts (Abstandnahme von der Steuerbeitreibung durch Erlass des erneut anfechtbaren Steuerbescheides), das vollumfänglich in dieser ersten Erfolgsverwirklichung enthalten ist und kein Bedürfnis zu einer weiteren (doppelten) Bestrafung weckt.1137 2. Die „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ Anders als im vorbenannten Grundfall verhält es sich, wenn der Steuerpflichtige tatsächlich nicht gegebene Wiedereinsetzungsgründe erfindet und daraufhin erfolgreich das Einspruchs- oder Klageverfahren betreibt. Hier wird man, weil es ansonsten keiner vorherigen Maßnahme der Finanzbehörde oder des Finanzgerichtes bedarf, erst durch Reduzierung der Steuerfestsetzung mittels Einspruchsbzw. Abhilfebescheides einerseits oder mittels Urteils andererseits die Erlangung eines ungerechtfertigten Steuervorteils erkennen können. Denn hierdurch wird der rechtswidrige Bestandteil der festgesetzten Steuerforderung unweigerlich in Mitleidenschaft gezogen. Im Gegensatz zum vorher behandelten Grundfall der „Frist­ erschleichung“ ist der vom Steuerpflichtigen erlangte ungerechtfertigte Steuervorteil allein auf die rechtswidrige Steuerfestsetzung beschränkt. Schließlich wird weder der rechtmäßige Teil der Steuerfestsetzung angegriffen, noch seine Vollziehung durch den erhobenen Einspruch automatisch gehemmt.

1137 Allg. zum fehlenden Strafbedürfnis in Fällen der „mitbestraften Nachtat“ siehe Stree/ Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§ 52 ff. Rn. 129.

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Zu diesem Ergebnis gelangt man selbst dann, wenn die Finanzbehörde oder das Finanzgericht der beantragten Wiedereinsetzung nicht erst in der Endentscheidung, sondern bereits vorab und gesondert stattgegeben haben sollte. Entgegen der Annahme von Weidemann sorgt dies nicht etwa für eine Vorverlagerung des Vollendungszeitpunktes, selbst wenn man einmal die vom Bundesgerichtshof vertretene Strafbarkeit in Fällen erschlichener Feststellungsbescheide über Besteuerungsgrundlagen als richtig unterstellt.1138 Denn die ggfs. gesondert gewährte Wiedereinsetzung ist im Verhältnis zur späteren Einspruchsentscheidung oder zum Endurteil steuerverfahrenstechnisch nur ein unselbständiger Bestandteil, der gerade nicht eigenständig angefochten werden kann.1139 Mit Blick auf den Tatbestand der Steuerhinterziehung fehlt es demnach schon an einer  – dem Feststellungsbescheid vergleichbaren  – eigenständigen Entscheidung, die vom Täter in Anbetracht der später noch erfolgenden Steuerfestsetzung gesondert erschlichen werden kann. Über die vom Bundesgerichtshof angenommene Vorteilserlangung in Fällen erschlichener unrichtiger Feststellungsbescheide muss in dieser Arbeit daher nicht weiter entschieden werden. 3. Keine Änderung der Steuerfestsetzung erforderlich Die Fälle der Fristerschleichung“ fügen sich – dies hat die vorliegende Arbeit bisher zu zeigen vermocht – in das Regelungssystem der Steuerhinterziehung ein, ohne mit den wichtigen Grundsätzen des Tatbestandes zu brechen. Dies gilt letztlich sogar für die in der Literatur nur vereinzelt bestrittene Trennung zwischen dem Straf- und Steuerverfahren.1140 Sollte nämlich eine „Fristerschleichung“ nach erfolgreicher Reduzierung der rechtswidrigen Steuerfestsetzung entdeckt werden, so muss sich der Steuerpflichtige zum einen darauf einstellen, dass wegen des Verdachtes der Steuerhinterziehung ein Steuerstrafverfahren eingeleitet wird und zum anderen darauf, dass die Finanzbehörde im Steuerverfahren versucht, die gewährte Reduzierung rückgängig zu machen. Diese beiden Verfahren werden aber schon 1138 Weidemann, PStR 2010, S. 143 ff., zu seiner eigentlich verfolgten Argumentation siehe bereits: II. Lösung über BGHSt 53, S. 99? (Schützeberg und Weidemann) (S. 226). 1139 Zur gesonderten Entscheidung der Wiedereinsetzung durch die Finanzbehörde: BFH, BStBl. II 1987 S. 7; 1990, S. 277 ff.; Tipke, in: Tipke/Kruse, AO, § 110 Rn. 102; a. A. Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 110 Rn. 592 f. Zur gesonderten Entscheidung der Wiedereinsetzung durch das FG (nach überwiegender Ansicht im Steuerrecht) mittels Zwischenurteils gemäß § 155 FGO i. V. m. §§ 238 Abs. 1 S. 2, 303 ZPO: BFH, BStBl. II 1969, S. 320 = BFHE 95, 86; Stapperfend, in: Gräber, FGO, § 56 Rn. 57; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, FGO, § 56 Rn. 584; Tipke, in: Tipke/Kruse, FGO, § 56 Rn. 29; Musielack, in: MüKo-ZPO, § 303 Rn. 7 (keine selbständige Anfechtbarkeit von Zwischenurteilen). Dass die von einem FG gewährte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Maßgabe des § 56 Abs. 5 FGO unanfechtbar ist, spielt für die hier betrachtete Rechtsnatur (selbständig oder unselbständig) einer solchen Entscheidung keine wesentliche Rolle. 1140 Ausführlich bereits unter: b) Bindung der Strafgerichte an den bestandskräftigen Steuerbescheid? (S. 56), zur abweichenden Ansicht von P. Kirchhof, dort u. a. in Fn. 194.

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deswegen vollkommen unabhängig voneinander geführt, weil das materielle Recht (also sowohl die steuerlichen Änderungsvorschriften als auch der Tatbestand der Steuerhinterziehung) gerade nicht voraussetzt, dass in dem jeweils anderen Verfahren bindende Feststellungen oder Entscheidungen getroffen werden. Folgerichtig lässt weder eine im Strafverfahren gerichtlich bestätigte Steuerhinterziehung einen unmittelbaren Schluss auf das Steuerverfahren zu, noch muss die aufgrund der „Fristerschleichung“ unter Verstoß der Bestandskraft geschaffene Steuerfestsetzung geändert werden, bevor man zur Tatbestandsmäßigkeit der Steuerhinterziehung im Strafverfahren gelangen kann. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass eine Änderung der Steuerfestsetzung (auf die anfänglich im bestandskräftigen Bescheid ausgewiesene Steuer) nicht mehr möglich ist, kann dieser Umstand die zuvor schon verwirklichte Steuerhinterziehung bereits deswegen nicht mehr nachträglich entfallen lassen, weil nun einmal der Tatbestand eine solche Voraussetzung überhaupt nicht vorsieht. Der Strafrichter ist daher ebenso wenig gezwungen, die Verurteilung wegen Steuerhinterziehung mit Erwägungen zur Änderbarkeit der Festsetzung zu stützen.

C. Ursachen- und Zurechnungszusammenhang zwischen Tathandlung und Taterfolg I. Allgemein zum Erfordernis eines Ursachen- und Zurechnungszusammenhangs Nach ganz überwiegender Ansicht setzt die Tatvariante des § 370 Abs.  1 Nr. 1 AO keinen Irrtum beim zuständigen Sachbearbeiter der Finanzbehörde voraus.1141 Denn zum einen sucht man ein solches Merkmal – ganz im Gegensatz zum artverwandten Betrug  – im Tatbestand der Steuerhinterziehung vergebens. Zum anderen wird man aus praktischen Erwägungen den Irrtum nicht einmal als ungeschriebenes Merkmal in den Tatbestand hineinlesen können. Bereits ein vergleichender Blick auf die Praxis der Betrugsverfahren zeigt nämlich, mit welchen beweistechnischen Schwierigkeiten man anderenfalls bei der Anwendung des § 370 AO zu kämpfen hätte. Denn für das Irrtumsmerkmal des Betruges ist nämlich unbestritten, dass dem Strafrichter eine umfassende Feststellungspflicht obliegt. Er hat im Rahmen der Beweisaufnahme zu klären, ob ein Irrtum beim Getäuschten auch tatsächlich vorgelegen hat.1142 Für die Steuerhinterziehung würde es bedeuten, dass der an der Steuerfestsetzung beteiligte Finanzbeamte in der Beweisaufnahme als Zeuge vernommen werden müsste. Um einen Irrtum zweifelsfrei 1141 Siehe zur überwiegenden Ansicht in Rspr. und zu Stimmen in der Literatur BGHSt 51, S. 356 [361 f.]; BGH, wistra 2009, S. 398; NJW 2011, 1299; zuletzt BGH v. 21.09.2012 – 1 StR 391/12; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 577 ff. m. w. N. A. A. Hoff, Das Handlungsunrecht der Steuerhinterziehung, S. 67 ff. 1142 Siehe nur Tiedemann, in: LK-StGB, § 263 Rn. 87, m. w. N.

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feststellen zu können, müsste sich der Finanzbeamte an die konkrete, den strafrechtlichen Vorwurf bildende Steuerfestsetzung erinnern und diesbezüglich bezeugen, dass er von der Ordnungsgemäßheit der abgegebenen Erklärungen ausgegangen ist. Dass dies in Anbetracht der Massenhaftigkeit des Steuerverfahrens eine fast schon unmögliche Forderung darstellt, braucht nicht näher erläutert werden. Der Festsetzungsbeamte wird sich daher regelmäßig – selbst bei Vorhalt des Steuerbescheides – nicht an den konkreten Festsetzungsvorgang erinnern können. Infolgedessen wäre der Irrtum bei diesen Voraussetzungen nicht hinreichend festgestellt. Nun wird man allerdings nicht einmal im Betrugsstrafrecht bei diesem Ergebnis verbleiben können. Denn auch dort sind standardisierte Massenverfahren (z. B. Abrechnungsbetrug durch Kassenärzte) und ihre Beweisschwierigkeiten hinsichtlich des Irrtumsmerkmals durchaus bekannt. Zur Lösung dieses Problems hat die obergerichtliche Rechtsprechung in derart gelagerten Fällen zur großzügigen Annahme des sachgedanklichen Mitbewusstseins durch die Tatgerichte gemahnt und somit die Anforderung an die tatrichterliche Feststellung abgesenkt.1143 Überträgt man dies auf die Steuerhinterziehung, so wird der Strafrichter fast ausnahmslos zu dem Ergebnis kommen müssen, dass trotz augenfälliger „Erinnerungslücken“ der Festsetzungsbeamte bei Auswertung der Erklärung dennoch davon ausgegangen ist, dass die Angaben richtig und vollständig sind. Wer diesen Gedankengang verfolgt, der wird sich für die Steuerhinterziehung nun aber ernsthaft die Frage stellen müssen, welchen Sinn ein mit aller Kraft in den § 370 AO hineingelesenes Merkmal haben soll, wenn man sodann in nahezu all diesen Strafverfahren wieder von ihm abrücken müsste. Infolgedessen kann man nur zu dem Ergebnis gelangen, dass die erste Tatvariante der Steuerhinterziehung ohne Irrtum auskommen muss. Ferner hat sich bisher auch nicht die überwiegend in der Literatur vertretene Ansicht durchzusetzen vermocht, den Tatbestand der Steuerhinterziehung, wenn schon nicht mit einem Irrtum, dann doch zumindest mit dem ungeschriebenen Merkmal der „Unkenntnis der Finanzbehörde vom wahren Sachverhalt“ zu verse­ hen.1144 Zur Begründung eines solchen Merkmals wird in der Literatur angeführt, dass ansonsten ungerechtfertigte Unterschiede zwischen der ersten und zweiten Tatvariante des § 370 Abs. 1 AO entstünden. Schließlich gehöre bei der Unterlassungsvariante (Nr. 2) die Unkenntnis schon expressis verbis zum Tatbestand, so dass sich der Steuerpflichtige, der seine Erklärung bewusst zurückhalte, nicht der vollendeten Steuerhinterziehung strafbar machen könne, wenn die Finanzbehörde (d. h. der Finanzbeamte)  Kenntnis von den steuerrelevanten Sachverhalt habe. Demgegenüber müsse für die Handlungsvariante (Nr.  1) ohne eine in den Tat-

1143

Vgl. BGH, NStZ 2007, S. 213 ff. Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 198 f.; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 198 ff.; Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 239 ff.; Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 Rn. 125. A. A. Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 577 ff. 1144

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bestand hineingelesene Unkenntnis eine vollendete Steuerhinterziehung angenommen werden.1145 Die obergerichtliche Rechtsprechung und ein Teil  der Literatur haben diese Unterscheidung jedoch insbesondere mit dem Regelbeispielen des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2, Nr. 3 AO gerechtfertigt. Diese setzten nämlich voraus, dass sogar ein zuständiger Finanzbeamter im Rahmen einer Steuerhinterziehung seine Befugnisse oder seine Stellung missbrauche, indem er bsplw. fiktive Steuerpflichtige erfinde und ungerechtfertigte Erstattungsansprüche geltend mache. Nach dieser gesetzlichen Konzeption müsse man von einer strafbaren Steuerhinterziehung ausgehen, obwohl der Finanzbeamte volle Tatsachenkenntnis besitze, was letztlich grundlegend gegen das ungeschriebene Merkmal der Unkenntnis spreche.1146 An dieser bestechenden Argumentation wird man letztlich nur vorbei kommen, wenn man die vorbenannten Regelbeispiele allein auf den unzuständigen Finanzbeamten beschränkt, so dass es auf seine Kenntnis (als Zurechnungsbasis für die Finanz­ behörde) nicht ankommt.1147 Die Folge wäre aber wiederum eine Einschränkung der Regelbeispiele, die in diesem Ausmaß vom Gesetzgeber nicht gewollt sein kann, weil das Unrecht der Steuerhinterziehung in Fällen involvierter Amtsträger doch gerade bei angenommener Zuständigkeit ein besonders hohes ist. Demzufolge muss auch dem ungeschriebenen Merkmal der Unkenntnis vom wahren Sachverhalt eine Absage erteilt werden. Allerdings folgt aus dem Ablehnen ungeschriebener Tatbestandsmerkmale keineswegs, dass Tathandlung und Taterfolg nur für sich genommen vorliegen müssen. Bereits aus dem Gesetz („und dadurch“) ergibt sich eine innere Wechselbeziehung dergestalt, dass gerade die gemachten unrichtigen oder unvollständigen Angaben die Steuerverkürzung oder den erlangten ungerechtfertigten Steuervorteil herbeiführen müssen. Demzufolge wird wie auch bei Erfolgsdelikten aus dem allgemeinen Strafrecht ganz einhellig (allerdings mit unterschiedlicher Begründung) neben dem notwendigen Ursachen- auch ein hinreichender Zurechnungszusammenhang gefordert.1148 Dies wiederum setzt erstens voraus, dass die unrichtigen oder unvollständigen Angaben ursächlich für die gemessen an der materiellen Steuerschuld zu niedrige Steuerfestsetzung oder die ungerechtfertigte Vorteilsgewährung sind.1149 Zweitens muss sich gerade die Gefahr des Angabemachens von unrichtigen oder unvollständigen steuererheblichen Tatsachen in der unzutref-

1145

Vgl. Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rn. 198 ff. [200]. BGH, BStBl. II 1999, S. 854; BGHSt 51, S. 356 [361 f.]. 1147 Siehe nur Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 1101. 1148 Ausführlich zum Steuerstrafrecht Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 577 ff. Die Rspr. verlagert den Zurechnungszusammenhang in den Vorsatz und nimmt bei fehlendem Zusammenhang einen Irrtum über den Kausalverlauf an, allg. hierzu m. w. N. aus Rspr. und Lit. Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, Vor §§ 13 Rn. 71 ff. 1149 Zu Problemen kann insofern die zu Recht in die Kritik geratene (vgl. nur Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§ 13 Rn. 74 f.) „conditio-sine-non-Formel“ führen, siehe nur als Bspl. für eine m. E. „überspitzte“ Anwendung Schmitz/Wulf, in: MüKo-AO, § 370 Rn. 255; Wulf, Handeln und Unterlassen im Steuerstrafrecht, S. 48 ff. 1146

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fenden Steuerfestsetzung oder dem erlangten ungerechtfertigten Steuervorteil realisiert haben.1150 II. Die Fälle der „Fristerschleichung“ Mag der vorbenannte Zurechnungszusammenhang insbesondere in Fällen problematisch sein, in denen die Finanzbehörde über einen Dritten zwar von den zutreffenden steuererheblichen Tatsachen erfahren hat, aber aus „ermittlungstaktischen Gründen“ dennoch erklärungsgemäß und mithin unzutreffend veranlagt.1151 Für die Fälle der „Fristerschleichung“ werden sich diese Fragen jedoch schon deswegen nicht stellen, weil die Finanzbehörde selbst bei positiver Kenntnis von dem bestandskräftigen Steuerbescheid (Grundfall) keinen weiteren Bescheid erlassen darf bzw. bei Gewissheit über das Nichtvorliegen von Wiedereinsetzungsgründen (Erschleichung der Wiedereinsetzung) der Einspruch oder die Klage zwingend als unzulässig verworfen bzw. abgewiesen werden muss. Denn im Gegensatz zur erstmaligen Steuerfestsetzung, bei der es der Finanzbehörde sogar angesichts teilweise unzutreffend erklärter Besteuerungsgrundlagen bewusst darum gehen kann, eine vorerst partielle Beitreibung zu ermöglichen, ist dieser Weg in den Fällen der Fristerschleichung angesichts der eindeutigen Wirkungen der Bestandskraft verwehrt. Auch im Übrigen muss man davon ausgehen, dass entweder die unrichtige Angabe des Steuerpflichtigen, keinen Steuerbescheid erhalten zu haben, oder die unzutreffende Geltendmachung von Wiedereinsetzungsgründen die spätere Erlangung des ungerechtfertigten Steuervorteils in zurechenbarer Weise verursacht hat. Der Ursachen- und Zurechnungszusammenhang wird demnach in den in dieser Arbeit behandelten Fällen zumeist keine Probleme bereiten.

D. Tatvorsatz und kein Verbotsirrtum in den Fällen der „Fristerschleichung“ Zu guter Letzt wird man selbst an der Annahme des Tatvorsatzes in den Fällen der „Fristerschleichung“ nicht vorbeikommen. Der Steuerpflichtige wird sich zwar erwartungsgemäß mit der Behauptung versuchen zu verteidigen, er habe doch niemals geahnt, dass eine rechtswidrige Steuerforderung ab Eintritt der Bestandskraft eine vollgültige „Steuer“ darstellen und mithin hinterzogen werden könne. Dem Steuerpflichtigen muss darauf aber entgegnet werden, dass es auf eine solche Vorstellung im Rahmen des zum objektiven Tatbestand spiegelbildlichen Tatvorsatzes überhaupt nicht ankommt und ein dahingehender Irrtum folglich auch nicht schädlich sein kann. 1150 Ähnl. Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 370 Rn.  200a, der nach Verantwortungsbereichen unterscheidet. 1151 Siehe BGH v. 21.09.2012 – 1 StR 391/12.

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Ausreichend ist insofern, dass der Täter einer Steuerhinterziehung die objektiv vorausgesetzten Umstände kognitiv in einer Parallelwertung in der Laiensphäre1152 erfasst und sich zumindest mit ihnen (insbesondere mit dem vorausgesehenen Erfolg) willentlich abfindet.1153 Der Täter hat im Fall der „Fristerschleichung“ in seiner Laiensphäre unstreitig erkannt, dass mit der bestandskräftigen Steuerfestsetzung eine Zahlungsverpflichtung entstanden ist, der er sich nicht mehr auf einfachem Wege entziehen kann. Immerhin weist schon die mit dem Steuer- bzw. Einspruchsbescheid versehene Rechtsbehelfsbelehrung auf die zeitliche eingeschränkte Korrekturmöglichkeit hin. Ferner wird allein die Wahl zur „Fristerschleichung“ die Angabe des Steuerpflichtigen unglaubwürdig erscheinen lassen, er sei auch nach Verstreichen der Rechtsbehelfsfrist von einer einfachen Änderungsmöglichkeit des Steuerbescheides ausgegangen. Denn es muss dann die ernsthafte Nachfrage erlaubt sein, warum der Steuerpflichtige sich dann nicht für diesen einfachen Korrekturweg entschieden habe. Der Steuerpflichtige weiß also von einer Zahlungsverpflichtung gegenüber dem Fiskus, die er sodann durch unrichtige oder unvollständige Angaben zu Fall bringen will, indem er entweder die Bekanntgabe eines in Wahrheit wirksamen Steuerbescheides leugnet oder Wiedereinsetzungsgründe erfindet. Dass der Steuerpflichtige hierbei die steuerliche Erheblichkeit dieser Angaben erkannt hat, wird er ebenfalls, weil der gesamte Vorgang der „Frist­ erschleichung“ dieses Wissen grundlegend voraussetzt, nicht abstreiten können. Sogar die zur Erlangung des ungerechtfertigten Steuervorteils führenden Maßnahmen der Finanzbehörde hat er zutreffend vorhergesehen und sie auch beabsichtigt. Somit hat er aber alle Umstände erkannt, die das Handlungsunrecht der Steuer­ hinterziehung im Fall der „Fristerschleichung“ voraussetzt. Was nach alledem übrig bleibt, ist die dahingehende Fehlvorstellung des Steuerpflichtigen, dass es sich bei der durch eine Täuschung geschmälerten Zahlungsverpflichtung nicht um eine „Steuer“ handelt. Soweit diese Fehlvorstellung nun dazu führt, dass der Steuerpflichtige den Bezug zum Tatbestand der Steuerhinterziehung nicht herzustellen vermag, handelt es sich insofern nur um einen für den Vorsatz unbeachtlichen Subsumtionsirrtum, bei dem der Täter zwar die gesamten für den objektiven Tatbestand relevanten Umstände laienartig erfasst, aber dennoch nicht aus eigener Erkenntnis zu einer Strafbarkeit gelangt.1154 Dieser Subsumtionsirrtum wird in den Fällen der „Fristerschleichung“ nicht einmal ein die Schuld ausschließender Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB darstellen. Dieser würde nämlich allgemein voraussetzen, dass der Täter das begangene Unrecht seiner Tat nicht erkennt. Mit Unrecht darf nun jedoch nicht das Wissen um die Strafbarkeit selbst gleichgesetzt werden. Vielmehr liegt das erforderliche „Unrechtsbewusstsein“ bereits dann vor, wenn der Täter eine (bedingte) Vorstellung davon hat, dass er mit seiner Handlung überhaupt gegen irgendwelche ge 1152

Siehe die Nachweise bereits in Fn. 837. Ausführlich unter: b) Subjektiver Tatbestand – zugleich: Ist die Steuerhinterziehung ein Blankett? (S. 198). 1154 Vgl. Joecks, in: MüKo-StGB, § 16 Rn. 7. 1153

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setzlichen Bestimmungen verstößt.1155 Der entscheidende Maßstab ist demzufolge nicht etwa das Wissen von einer genauen „Strafrechtswidrigkeit“, sondern das viel allgemeinere Bewusstsein von der bloßen „Rechtswidrigkeit“1156 der Handlung, so dass folgerichtig die Vorstellung von Verstößen gegen das Verwaltungsrecht genügt.1157 Knüpft man an diese ganz überwiegende Ansicht in Rspr. und Lehre an, so ergibt sich in den Fällen der „Fristerschleichung“ der Rest von selbst. Denn dem Steuerpflichtigen ist jedenfalls bewusst, dass er gegen verwaltungsrechtliche Vorschriften verstößt, indem er ein Verwaltungsverfahren mittels Täuschung manipuliert und sich dadurch einer unliebsamen Zahlungsverpflichtung entledigt. Die „Fristerschleichung“ geht daher mit dem Bewusstsein der „Steuerrechtswidrigkeit“ notwendig einher. Mehr bedarf es zur Unrechtseinsicht nicht.

E. Endergebnis Die „Fristerschleichung“ ist ausnahmslos als Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO strafbar. Dies gilt sowohl im Falle des Leugnens, den maßgeblichen Steuerbescheid erhalten zu haben, als auch im Falle des Erfindens tatsächlich nicht gegebener Wiedereinsetzungsgründe. Die Gemeinsamkeit des „Grundfalles“ und der „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ ist in dem Umstand zu erblicken, dass durch Täuschung eine originär aus der Steuerfestsetzung entspringende „überschießende“ Leistungsverpflichtung zum Erliegen gebracht wird, die ab Eintritt der Bestandskraft des Bescheides zum Steueraufkommen gehört und folgerichtig auch dem strafrechtlich garantierten Schutz der Steuerhinterziehung unterfällt. Ob eine Reduzierung auf andere Weise möglich gewesen wäre – etwa über die Änderungsvorschriften der §§ 172 ff. AO – kann den Täter einer „Frist­ erschleichung“ demgegenüber nicht entlasten. Denn solange die bestandskräftige Steuerfestsetzung in der Welt ist, zwingt sie zur Beachtung. Aus Sicht des Strafrechts handelt es sich bei diesem Zusammenspiel von formeller Leistungsverpflichtung und Straftatbestand um einen Fall der sog. Gestaltungswirkung. Der Tatbestand der Steuerhinterziehung dient dem Schutz des Steuer­aufkommens, zu dem auch die konstitutive Leistungsverpflichtung aus dem nunmehr bestandskräftigen Steuerbescheid gehört. Der Strafrichter ist also allein deshalb an die Steuerfestsetzung „gebunden“, weil schon die Typik des Straftatbestandes ihn dazu veranlasst. Dass er dabei einem rechtswidrigen und mithin verfassungswidrigen Leistungsbefehl Beachtung schenken muss, kann für sich genommen keine tiefgreifenden Bedenken bereiten. Hat sich doch der (Steuer-) Gesetzgeber mit dem Eintritt der Bestandskraft von Steuerverwaltungsakten ganz

1155

So bereits RGSt 70, S. 141; BGHSt (GrS) 2, S.  194; 11, S.  266; Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, § 17 Rn. 5 m. w. N. 1156 Siehe schon grundlegend BGHSt (GrS) 2, S. 194. 1157 Rudolphi, in: SK-StGB, § 17 Rn. 5.

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2. Teil: Die Steuerhinterziehung durch „Fristerschleichung“ 

gezielt für die Rechtssicherheit auf Kosten der materiellen Rechtsrichtigkeit entschieden. Des Weiteren hat die vorliegende Arbeit gezeigt, dass es sich im Hinblick auf die vom Steuerpflichtigen verwirklichte Erfolgsalternative nur um die Erlangung eines nicht gerechtfertigten Steuervorteils handeln kann. Denn diese setzt im Gegensatz zur Steuerverkürzung nach heute ganz überwiegender Ansicht keinen tatsächlich existierenden Steueranspruch voraus. In dem letzten Abschnitt dieser Arbeit wurde als Schlusselement gezeigt, dass sich die „Fristerschleichung“ ganz konkret unter den Tatbestand der Steuerhinterziehung subsumieren lässt. Im Grundfall der „Fristerschleichung“ handelt der Steuerpflichtige bereits dadurch tatbestandsmäßig, dass er schlicht den Erhalt des Steuerbescheides leugnet und die Finanzbehörde daraufhin von einer weiteren Realisierung Abstand nimmt. Für die „Erschleichung der Wiedereinsetzung“ ist demgegenüber der unrichtige Vortrag im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entscheidend, der sodann im Rechtsbehelfsverfahrens zu einer­ Reduzierung der an sich bereits bestandskräftigen Steuerfestsetzung durch die Finanzbehörde führt. Nimmt man einmal Abstand von den einzeln zu Tage geförderten Ergebnissen, so bleibt festzuhalten, dass diese Arbeit eine neue Begehungsweise der Steuerhinterziehung aufgezeigt hat. Ermöglicht wurde dies allerdings erst durch eine konsequente Zusammenführung der Erkenntnisse des Steuer- und Strafrechts. Die Fälle der „Fristerschleichung“ zeigen nämlich eindrücklich, wie untrennbar die beiden unterschiedlichen Rechtsdisziplinen verzahnt sein können. Entscheidend ist dabei, dass insbesondere die strafrechtliche Dogmatik trotz des eigentümlich anmutenden „Steuerstrafrechts“ nicht außer Acht gelassen werden darf. Dieser Gefahr hat die vorliegende Arbeit entgegenzuwirken versucht, indem es die Wirkungsweise des Rechtsgutes für den Tatbestand der Steuerhinterziehung herausgestellt und diese sodann mit steuerverfahrensrechtlichen Gegebenheiten verbunden hat.

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Sachverzeichnis Abweichungsverbot  67, 285 Änderungsverfahren siehe Steuerfestsetzung Anmeldungssteuern 39 Bekanntgabe siehe Steuerbescheid Bekanntwerden von Tatsachen  94 Bestandskraft –– allgemein 52 –– formell 53 –– materiell 54 Beweislast –– allgemein 26 –– bezgl. Bekanntgabe  37 –– bezgl. groben Verschuldens  108 Bindungswirkung siehe Steuerbescheid Blanketttatbestand 210

–– über das Kompensationsverbot  216 –– Verbotsirrtum 206 Kirchensteuer 159 Kompensationsverbot –– allgemein 171 –– Irrtum 216 Merkmal, gesamttatbewertendes  207 Mitbewusstsein, sachgedankliches  305 Mitwirkungspflichten –– allgemein 39 –– Verstoß gegen  97 Nachtat, mitbestrafte  302 Nebenleistungen, steuerliche  161

Deliktsnatur 168

offenbare Unrichtigkeit  113

Einspruch 73 Erfolgsdelikt 168 Erhebungsverfahren 49 Erlass aus Billigkeitsgründen  114 Ermittlungsverfahren, steuerliches  17 Erstattungsanspruch 41

Präklusion 127 Prozessbetrug 236

Festsetzungsfrist 84 Festsetzungsverfahren 28 Feststellungsbescheide 180 Gefahr, abstrakte  187 Gefährdungsdelikt 169 Gestaltungswirkung  67, 285 Handlung, gefährliche  188 Handlungsobjekt 144 Innentendenz, überschießende  199 Irrtum –– allgemein siehe Steueranspruchstheorie –– in den Fällen der „Fristerschleichung“  307

Rechtsbehelfsbelehrung 75 Rechtsgrund –– allgemein 41 –– formelle Rechtsgrundtheorie  46 –– materielle Rechtsgrundtheorie  43 Rechtsgut –– methodologischer Rechtsgutsbegriff  142 –– Steuerhinterziehung 147 –– systemkritischer Rechtsgutsbegriff  139 Regelungswirkung siehe Steuerbescheid Sonderdelikt 292 Steueranrechnung 217 Steueranspruch 28 Steueranspruchstheorie 201 Steuerbegriff  159, 247 Steuerbescheid –– Bekanntgabe 34 –– Bindung 56

Sachverzeichnis –– Korrektur siehe Steuerfestsetzung, Ände­ rung –– Regelungswirkung  29, 47 –– Zustellung 36 Steuerfestsetzung –– allgemein 31 –– Änderung 81 –– Rechtswidrigkeit 82 –– unrichtige 40 Steuervergütung 151 Steuerverkürzung, leichtfertige  208 Tatbestandsirrtum siehe Steueranspruchstheorie Tatbestandsmerkmal, normatives  211 Tatbestandswirkung  67, 279, 286 Tatobjekt siehe Handlungsobjekt

327

Umsatzsteuer 135 Umsatzsteuervergütungen 153 Unbilligkeit –– persönliche 118 –– sachliche 115 Unterlassungstatbestand 213 Veranlagungssteuern 34 Verfassungswidrigkeit 260 Verschulden –– kein grobes  97 –– Unbeachtlichkeit des groben  106 Vollstreckungsverfahren 50 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand  78 Zustellung siehe Steuerbescheid