Die Haftung des Staates für legislatives Unrecht: Zugleich ein Beitrag zum Staatshaftungsrecht der Europäischen Gemeinschaften, der EG-Mitgliedstaaten, der Schweiz und Österreichs [1 ed.] 9783428479016, 9783428079018

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Die Haftung des Staates für legislatives Unrecht: Zugleich ein Beitrag zum Staatshaftungsrecht der Europäischen Gemeinschaften, der EG-Mitgliedstaaten, der Schweiz und Österreichs [1 ed.]
 9783428479016, 9783428079018

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RHONA FETZER

Die Haftung des Staates für legislatives Unrecht

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 649

Die Haftung des Staates für legislatives Unrecht Zugleich ein Beitrag zum Staatshaftungsrecht der Europäischen Gemeinschaften, der EG-Mitgliedstaaten, der Schweiz und Österreichs

Von

Rhona Fetzer

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Fetzer, Rhona: Die Haftung des Staates für legislatives Unrecht : zugleich ein Beitrag zum Staatshaftungsrecht der Europäischen Gemeinschaften, der EG-Mitgliedstaaten, der Schweiz und Österreichs / von Rhona Fetzer. — Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 649) Zugl.: Konstanz, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-428-07901-9 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-07901-9

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1992/93 von der juristischen Fakultät der Universität Konstanz als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung wurden bis Oktober 1992 berücksichtigt Das Promotionsverfahren wurde am 16. 02.1993 mit der mündlichen Doktorprüfung abgeschlossen. Mein besonderer Dank gilt meinem hochgeschätzten Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Hartmut Maurer, der mein Interesse an dem Thema der vorliegenden Arbeit geweckt hat. Ohne seine wertvolle und hilfreiche Unterstützung wäre die Erstellung der Dissertation nicht möglich gewesen. Mein herzlicher Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Michael Nierhaus für die Erstellung des Zweitgutachtens. Besonders danken möchte ich auch Herrn Dr. Otmar Stöcker für seine zahlreichen weiterführenden Literaturiiinweise und seine wertvolle Unterstützung beim Korrekturlesen sowie Herrn Jae-Beom Ju, ohne dessen drucktechnische Hilfe die vorliegende Arbeit nicht in dieser Form hätte erstellt werden können, und Herrn Klaus Bayer, dessen Diskussionsbereitschaft besondere Anerkennung verdient. Dank gebührt auch Herrn Ferry Bilics, Frau Angela Caspar, Frau Cornelia Ruppert, Herrn Harald Hermes, Frau Angelika Schmid sowie Herrn Gernot Wiechmann für ihre Hilfe beim Zusammenstellen der benötigten Literatur und für die mir gewährte moralische Unterstützung. Ich danke auch allen namentlich nicht genannten Freunden und Kollegen, die mir beim Erstellen dieser Arbeit mit Rat und Tat zur Seite standen. Schließlich möchte ich an dieser Stelle auch meinen mündlichen Prüfern, Herrn Prof. Dr. Ekkehard Stein und Herrn Prof. Dr. Hans-Wolfgang Strätz meinen aufrichtigen Dank aussprechen.

Konstanz/Baden-Baden, im Februar 1993 Rhona Fetzer

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Die Haftung des Staates für legislatives Unrecht

I. Problemstellung

19

19

1. Begriffliche Klarstellung

19

2. Beispielsfälle

20

3. Die Bewertung einer Haftung für legislatives Unrecht im Verlauf der Staatshaftungsreform

23

II. Gang der Darstellung

26

1. Kapitel: Die Haftung für legislatives Unrecht vor d e n Hintergrund des Rechtsstaatsprinzips

29

I. Inhalt und Wesen des grundgesetzlichen Rechtsstaates

29

II. Staatshaftung als rechtsstaatliches Postulat

31

ΙΠ. Wesenszüge einer rechtsstaatlich geprägten Staatshaftung

35

1. Unmittelbare primäre und ausschließliche Haftung des Staates für rechtswidrige Schädigungen *

35

2. Haftung für rechtswidrig schuldlose Eingriffe der öffentlichen Gewalt

36

3. Staatshaftung für alle Tätigkeitsfelder der öffentlichen Gewalt

38

4. Haftung für legislatives Unrecht als rechtsstaatliches Postulat ?

38

a) Die Haftung bei legislativem Unrecht in der staats- und verwaltungsrechtlichen Diskussion b) Eigene Stellungnahme

38 42

nsverzeichnis

8

2. Kapitel: Die Haftung des Staates für legislatives Unrecht nach A r t 34 G G i. V . m. § 839 BGB

49

I. Der Meinungsstand in Rechtsprechung und Literatur

50

II. Die Tatbestandvoraussetzungen des Art. 34 GG i. V. m.§ 839 BGB

51

1. Der Abgeordnete als Amtsträger

51

a) Öffentliches Amt und Dienstverhältnis

53

b) öffentliches Amt und Weisungsunabhängigkeit der Abgeordneten

54

2. Verletzung einer Amtspflicht

56

a) Begriff der Amtspflicht

56

b) Amtspflichten der Abgeordneten

57

aa) Amtspflichtverletzung beim Erlaß eines Gesetzes

58

(2) Amtspflicht zur Beachtung der Bestimmungen des Rechts der Europäischen Gemeinschaften

59

(3) Amtspflicht zur Beachtung der Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention

65

(3) Amtspflicht zur Beachtung der Bestimmungen der bb)Amtspflichtverletzung durch gesetzgeberisches Unterlassen

68

(1) Die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates

69

(2) Umfang und Inhalt der Schutzpflicht

72

(3) Form der Schutzpflichtverletzung

74

(4) Handlungspflichten des Gesetzgebers aufgrund des Europäischen Gemeinschaftsrechts

75

(5) Handlungspflichten des Gesetzgebers aufgrund der Bestimmungen der EMRK

76

c) Amtspflichtverletzung durch die Abgeordneten als Organwalter eines Kollegialorgans

77

aa) Amtspflichtverletzung beim Erlaß eines fehlerhaften Gesetzes,

77

(1) Amtspflichtverletzung der Abgeordneten, die für den Gesetzesbeschluß gestimmt haben. (2) Amtspflichtverletzung bei Abgabe einer Gegenstimme

77 78

nsverzeichnis

9

(3) Amtspflichtverletzung bei Stimmenthaltung, Abgabe einer ungültigen Stimme oder unberechtigter Sitzungsabwesenheit

81

bb) Amtspflichtverletzung bei gesetzgeberischem Unterlassen (1) Amtspflichtverletzung durch Unterlassung der Gesetzgebungsinitiative

82 . .

82

(2) Amtspflichtverletzung bei Abgabe einer Gegenstimme, Stimmenthaltung, Abgabe einer ungültigen Stimme und unberechtigter Sitzungsabwesenheit . 3. Drittrichtung der Amtspflicht

84 85

a) Meinungsstand zur Drittrichtung der Amtspflichten der Abgeordneten

86

b) Verletzung drittbezogener Amtspflichten beim Erlaß eines rechtswidrigen Gesetzes - kritische Stellungnahme

88

aa) Grundrechtsverstoß als Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht

88

bb) Formelle Verfassungsverstöße als Verletzung einer drittgerichteten Amtspflicht

93

cc) Verstöße gegen subjektive öffendiche Rechte des Europäischen Gemeinschaftsrechts als Verletzung einer drittgerichteten Amtspflicht

96

dd) Verstoß gegen die Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention als Verletzung von drittgrichteten Amtspflichten

98

c) Verletzung drittbezogener Amtspflichten beim Untätigbleiben des Gesetzgebers - eigene Stellungnahme

98

aa) Verletzung drittbezogener Amtspflichten bei bestehenden grundrechtlichen Schutz- und Handlungspflichten

99

bb) Verletzung drittbezogener Amtspflichten bei Handlungspflichten aufgrund des Europäischen Gemeinschaftsrechts

102

cc) Verletzung drittbezogener Amtspflichten bei einer aus den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention resultierenden Handlungspflicht 4. Das Verschulden der Abgeordneten

. .

102 102

a) Allgemeiner Verschuldensmaßstab

102

b) Besonderheiten beim Verschulden der Parlamentsabgeordneten

104

aa) Meinungsstand in der Literatur

104

bb)Schuldhaftes Verhalten der Abgeordneten - eigene Stellungnahme

105

5. Kausaler Schaden.

111

a) Kausalität beim Erlaß eines rechtswidrigen Gesetzes

111

b) Kausalität beim Untätigbleiben des Gesetzgebers

114

nsverzeichnis

10

6. Haftungsbeschränkungen und Haftungsausschlüsse

115

a) Verweisungsprivileg 5 839 Abs. 1 Satz 2 BGB

115

b) Rechtsmittelversäumung (§ 839 Abs. 3 BGB) und Mitverschulden (§ 254 BGB). .

115

c) Indemnität der Abgeordneten - Art 46 Abs. 1 GG

117

d) Haftungsausschluß nach § 79 Abs. 2 BVerfGG

118

7. Generelle Bedenken gegen eine Anwendung des Amtshaftungstatbestandes auf die Gesetzgebung

119

3. Kapitel: Die Haftung des Staates für legislatives Unrecht nach den richterrechtlichen Staatshaftungsinstituten des enteignungsgleichen, aufopferungsgleichen und enteignenden Eingriffs

I. Die Haftung für legislatives Unrecht aus enteignungsgleichem Eingriff

122

122

1. Der Meinungsstand in Rechtsprechung und Literatur

122

2. Die Entwicklung des enteignungsgleichen Eingriffs

124

3. Der enteignungsgleiche Eingriff im Lichte des Naßauskiesungsbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts

126

a) Grundthesen des Naßauskiesungsbeschlusses

126

b) Die Reaktion der Literatur auf den Naßauskiesungsbeschluß

128

c) Die Reaktion der Rechtsprechung auf den Naßauskiesungsbeschluß

132

d) Der Fortbestand und der Inhalt des enteignungsgleichen Eingriffs - eigene Stellungnahme

134

aa) Rechtsnatur des enteignungsgleichen Eingriffs

134

bb)Rechtsgrundlage, Tatbestand und Rechtsfolge der Staatshaftung aus enteignungsgleichem Eingriff

138

(1) Grundrechte als Rechtsgrundlage der Staatsunrechtshaftung

138

(2) Der Tatbestand der grundrechtlichen Staatsunrechtshaftung

139

(3) Rechtsfolgen einer grundrechtlichen Staatsunrechtshaftung

142

(4) Rechtsfortbildungskompetenz des höheren Gerichte

143

4. Die aus dem enteignungsgleichen Eingriff entwickelte Grundrechtshaftung als Grundlage für die Haftung für legislatives Unrecht

145

nsverzeichnis

11

a) Generelle Bedenken gegen die richterrechtliche Einführung einer Grundrechtshaftung für legislatives Unrecht

145

b) Der Umfang einer Grundrechtshaftung bei legislativem Unrecht Π. Haftung für legislatives Unrecht aus aufopferungsgleichem Eingriff ΠΙ. Haftung für legislatives Unrecht aus enteignendem Eingriff

148 152 152

4. Kapitel: Weitere Haftungsinstitute bei legislativem Unrecht

I. Der Folgenbeseitigungsanspruch

157

157

1. Entwicklung, Tatbestand und Inhalt des Folgenbeseitigungsanspruches

157

2. Erstreckung des Folgenbeseitigungsanspruches auf Eingriffe durch unmittelbar wirkende Parlamentsgesetze

159

3. Umfang des Folgenbeseitigungsanspruches

162

Π. Gefahrdungshaftung

164

ΠΙ. Entschädigung nach Art. 50 EMRK bei Konventionsverletzungen.

165

1. Anwendbarkeit des Art 50 EMRK auf legislative Akte

165

2. Die materiellen Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Entschädigungsanspruchs aus Art 50 EMRK

167

IV. Entschädigung nach Art 5 Abs. 5 EMRK

168

V . Schadensersatz aufgrund eines Grundsatzes des ungeschriebenen Europäischen Gemeinschaftsrechts

169

5. Kapitel: Die Haftung der Europäischen Gemeinschaften für normatives Unrecht

I. Einführung

171

171

Π. Die Haftung für normatives Unrecht nach Art. 215 Abs. 2 EWGV und Art 188 Abs. 2 EAGV

175

1. Allgemeine Tatbestandsvoraussetzungen

175

2. Die Haftungsvoraussetzungen im einzelnen

177

a) Das schadensstifende Verhalten

177

b) Rechtswidrigkeit des schädigenden Verhaltens und Schutznonnverletzung . . . .

178

nsverzeichnis c) Kausalzusammenhang und Schaden

180

d) Subsidiarität der Schadensersatzansprüche

181

3. Die Haftung für normatives Unrecht

181

III. Die Haftung für normatives Unrecht nach Art. 34 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 EGKSV und Art. 40 Abs. 1 EGKSV

184

1. Haftung nach Art. 34 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 EGKSV

184

2. Die Haftung nach Art 40 Abs. 1 EGKSV

187

IV. Haftung für normatives Unrecht nach ungeschriebenen Haftungsinstituten

188

6. Kapitel: Haftung für legislatives Unrecht in anderen Europäischen Rechtsordnungen

I. Haftung für legislatives Unrecht in den EG-Mitgliedstaaten

189

189

1. Belgien

191

2. Dänemark

191

3. Frankreich.

192

4. Griechenland

194

5. Großbritannien

195

6. Irland

196

7. Italien

197

8. Luxemburg

198

9. Niederlande

199

10. Portugal

200

11. Spanien.

201

II. Andere europäische Rechtsordnungen

202

1. Österreich

202

2. Schweiz

203

Inhaltsverzeichnis

13

7. Kapitel: Entwarf eines Staatshaftungsgesetzes zur Regelung der Haftung für legislatives Unrecht

206

I. Allgemeine Bemerkung

206

Π. Gesetzesvorschlag

207

Zusammenfassung

212

Literaturverzeichnis

223

Abkürzungsverzeichnis

a. F.

alte Fassung

a. Α.

anderer Ansicht

ABl

Amtsblatt

Abs.

Absatz

AcP

Archiv für die civilistische Praxis

AgrarR

Zeitschrift für das Recht der Landwirtschaft, der Agrarmarkte und

AK

Alternativkommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch

Allg. VerwR

Allgemeines Verwaltungsrecht

des ländlichen Raumes

Anm.

Anmerkung

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

Art.

Artikel

AtomG

Atomgesetz

Aufl.

Auflage

AZ

Aktenzeichen

BauR

Zeitschrift für Baurecht

BaWü

Baden-Württemberg

BayVBl

Bayerische Verwaltungsblätter

BayVGH

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

BB

Der Betriebsberater

BBG

Bundesbeamtengesetz

BD

Band

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGBl

Bundesgesetzblatt

BGH

Bundesgerichtshof

BGHZ

Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs

BK

Bonner Kommentar zum Grundgesetz

BMJ

Bundesministerium der Justiz

B. Rep. D.

Bundesrepublik Deutschland

BR-DruckS

Bundesratsdrucksache

BRRG

Beamtenrechtsrahmengesetz

BT-DruckS

Bundestagsdrucksache

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts

BVerfGG

Bundesverfassungsgerichtsgesetz

BVerwG

Bundesverwaltungsgericht

Abkürzungsverzeichnis BVerwGE

Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts

bzw.

beziehungsweise

CC

Code Civil

d. h.

das heißt

DB

Der Betrieb

DDR

Deutsche Demokratische Republik

DDR GBl

Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik

ders.

derselbe

Diss.

Dissertation

DÖV

Die öffentliche Verwaltung

DRiZ

Deutsche Richterzeitung

DVB1

Deutsches Verwaltungsblatt

EAGV

Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft

EG

Europäische Gemeinschaft

EGKS

Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl

EGKSV

Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl

EinlALR

Einleitung zum Allgemeinen Preußischen Landrecht

Erl.

Erläuterung

EuG

Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften

EuGH

Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften

EuGHE

Entscheidungssammlung des Europäischen Gerichtshofes

EuGRZ

Europäische Grundrechtszeitschrift

EuR

Europarecht

Euratom

Europäische Atomgemeinschaft

EuZW

Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

EWGV

Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft

f

folgende

ff

fortfolgende

FN

Fußnote

FS

Festschrift

GG

Grundgesetz

GHfMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

GO BT

Geschäftsordnung des deutschen Bundestages

GVG

Gerichtsverfassungsgesetz

hM

herrschende Meinung

hrsg.

herausgegeben

i. V. m.

in Verbindung mit

IWB

Internationale Wirtschaftsbriefe

JA

Juristische Arbeitsblätter

JB1

Juristische Blätter

JR

Juristische Rundschau

Jura

Juristische Ausbildung

Jus

Juristische Schulung

JW

Juristische Wochenschrift

15

Abkürzungsverzeichnis

16 JZ

Juristenzeitung

KE

Kommissionsentwurf

Kom.

Kommentar

LG

Landgericht

LS

Leitsatz

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

M/D/H/S

Maunz/Düri g/Herzog/S cholz/Lerche/Papier/Randelzhofer/S chmidt

MDR

Monatszeitschrift für Deutsches Recht

MRK

Europäische Menschenrechtskonvention

-Assmann: Kommentar zum GG der Bundesrepublik Deutschland

Mûko

Münchner Kommentar zum Börgerlichen Gesetzbuch

NJ

Neue Justiz

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

Nr.

Nummer

NuR

Natur und Recht

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

OLG

Oberlandesgericht

OVG

Oberverwaltungsgericht

Rdnr.

Randnummer

RefEnt

Referentenentwürfe

RegEnt

Regierungsentwurf

RG

Reichsgericht

RGRK

Kommentar der Reichsgerichtsräte zum Bürgerlichen Gesetzbuch

RGZ

Entscheidungssammlung des Reichsgerichts

RIW/AWD

Recht der Internationalen Wirtschaft/ Außenwirtschaftsdienst

RS

Rechtssache

Rspr.

Rechtsprechung

S.

Seite

SJZ

Süddeutsche Juristenzeitung

sog.

sogenannte

std.

ständige

StHG

Staatshaftungsgesetz

u. a.

unter anderem

VB1BW

Verwaltungsblätter Baden-Württemberg

VersR

Versicherungsrecht

VerwArch

Verwaltungsarchiv

VG

Verwaltungsgericht

VGH

Verwaltungsgerichtshof

vgl. VR

Verwaltungsrundschau

WDStRL

Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

VwGO

Verwaltungsgerichtsordnung

WM

Wertpapiermitteilungen, Zeitschrift für Wirtschaft und Bankrecht

WuM

Wohnungswirtschaft und Mietrecht

vergleiche

z.T.

zum Teil

ZBR

Zeitschrift für Beamtenrecht

ZfBR

Zeitschrift für internationales Baurecht

Abkürzungsverzeichnis Zeitschrift für Handelsrecht Ziffer Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und Insolvenzpraxis Zeitschrift für Rechtspolitik

Einleitung: Die Haftung des Staates für legislatives Unrecht I· Problemstellung 1. Begriffliche

Klarstellung

Die Frage nach der Ersatzpflicht eines Hoheitsträgers, der durch die rechtswidrige Ausübung seiner hoheitlichen Befugnisse dem einzelnen Bürger Schäden zufügt, kann zu den bedeutendsten Rechtsproblemen im öffentlichen Recht gezählt werden. Dabei steht insbesondere die Problematik einer Haftung ßr sogenanntes legislatives Unrecht im Brennpunkt der Diskussion und erweist sich nach wie vor als rechtspolitischer Dauerbrenner. Unter dieser schlagwortartigen Bezeichnung versteht man die Haftung des Staates für Schäden, die unmittelbar, d. h. ohne Dazwischentreten eines verwaltungsrechtlichen Vollzugsaktes durch den Erlaß eines rechtswidrigen Gesetzes oder durch die rechtswidrige Verzögerung bzw. Unterlassung einer notwendigen gesetzlichen Regelung hervorgerufen werden.1 Dagegen kann nicht mehr von legislativem Unrecht gesprochen werden, wenn ein rechtswidriges Gesetz durch einen Vollzugsakt der Verwaltungsbehörden umgesetzt werden muß und erst hierdurch der betroffene Bürger geschädigt wird. Hierbei handelt es sich vielmehr um Verwaltungsunrecht,2 denn nur der Vollzugsakt greift schädigend in die Rechtspositionen der Bürger ein. Die Frage nach der Haftung für legislatives Unrecht ist nicht rein akademischer Natur, sondern hat in der Rechtspraxis bereits eine größere Rolle gespielt. Dies beruht darauf, daß die moderne pluralistische Gesellschaft mit ihren kom-

1 vgl. hierzu Staudinger-Schäfer § 839 BGB Rdnr. 202; Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 7; Forsthoff BB 60, S. 1138; Morvay in: Mosler (Haftung des Staates), S. 776; Moller NJW 67, S. 2338; Oldiges Der Staat 15 (1976), S. 382 ff; Katzenstein M D R 52, S. 195; Haverkate NJW 73, S. 441; Bernhardt/Stein in: Zur Reform des Staathaftungsrechts, S. 16; Weber, Diss., S. 1. 2 Forsthoff BB 60, S. 1138; Morvay, S. 776; Bernhardt/Stein, S. 16; Oldiges Der Staat 15 (1976), S. 383; Moller NJW 67, S. 2338; Weber, S. 2; a. A. Jaenicke in Mosler (Haftung), S. 128; Selmer (Aufopferungsanspruch), S. 100; Speiser (Ersatzpflicht), S. 19; Schmidt-Bleibtreu (Staatshaftungsgesetz), Rdnr. 48; Dohnold DÖV 91, S. 152; BGH NJW 87, S. 1875,1877.

Einleitung

20

plexen wirtschaftlichen und sozialen Problemen auf eine immer größer werdende Zahl von Gesetzen angewiesen ist, die einen Ausgleich zwischen den einzelnen Interessen schaffen sollen. Angesichts dieser Entwicklung kann es nicht ausbleiben, daß Gesetzgebungsmaßnahmen nicht immer den rechtlichen Anforderungen entsprechen. So hat das Bundesverfassungsgericht, dem nach Art. 100 GG das Verwerfungsmonopol bei verfassungswidrigen Gesetzen zusteht, bis einschließlich 1975 127 Bundesgesetze für verfassungswidrig erklärt. 3 Die Feststellung der Nichtigkeit eines verfassungswidrigen Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht wirkt zwar ex tunc,4 so daß der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts nur deklaratorische Wirkung zukommt, der gesetzestreue Bürger wird sich aber bis zum Ergehen der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung dem Gesetzesbefehl beugen, so daß ihm in der Zwischenzeit materielle oder immaterielle Schäden entstehen können. 2. Beispielsfälle Zur Verdeutlichung dieser Problematik seien hier einige Beispiele für Schäden, die durch legislatives Unrecht hervorgerufen wurden, dargestellt. Manche dieser Beispiele sind fiktiv, einige waren aber auch bereits Gegenstand von Gerichtsentscheidungen: 1. Das Ladenschi ußgesetz des Landes Baden vom 28. 3. 1952 sah ein Verbot vor, Ladengeschäfte mittwochs nach 13 Uhr geöffnet zu halten. Das Gesetz wurde später vom Bundesverfassungsgericht wegen Verstoßes gegen die Kompetenz des Bundesgesetzgebers aufgehoben. Ein Ladenbesitzer verlangte daraufhin vom Land Baden eine Entschädigung, weil er gezwungen war, sich bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts den Bestimmungen des rechtswidrigen Gesetzes zu fügen, und hierdurch Geschäftseinbußen zu verzeichnen hatte.5 2. Durch eine am 1. 6. 1961 in Kraft getretene Novelle des Personenbeförderungsgesetzes wurde den sogenannten Mitfahrzentralen verboten, gewerbsmäßig Mitfahrgelegenheiten zu vermitteln. Bereits vor Erlaß der Novelle waren erhebliche Bedenken gegen diese Bestimmung erhoben worden. Eine Mitfahrzentrale war aufgrund der in der Gesetzesnovelle vorgesehenen Strafen für Zuwiderhandlungen gezwungen, ihren Betrieb einzustellen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte das betreffende Gesetz wegen Verstoßes gegen die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG für verfassungswidrig und ließ dahin gestellt, ob auch ein Verstoß gegen Art 12 GG und Art 14 GG vorlag. 6 Die betroffene Mitfahrzentrale konnte erst nach Ergehen der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung nach fast dreijähriger Pause ihren Geschäftsbetrieb wiederaufnehmen. Sie verlangte daraufhin Ersatz des ihr entstanden Schadens.7 3. Ein Gesetz läßt für eine bestimmte Firmenkategorie (zum Beispiel Stahl- oder Papierindustrien) die Sonntagsarbeit zu, nimmt aber unter Verstoß gegen den Gleichheitssatz einzelne 3

vgl. hierzu Referentenentwürfe,

4

vgl. etwa BVerfGE

S. 97.

7, S. 377,387; vgl. auchA/τιΛΒΒ 60, S. 1351.

5 Entschieden vom LG Freibug, M D R 53, S. 564 f, das allerdings im Widerspruch zu der Rechtsprechung des BVerfGs davon ausging, daß der Verstoß gegen die Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes keine Gnindrechtsverletzung mit sich bringt.

*

vgl. hierzu BVerfGE

7

vgl. BGH Jus 70, S. 588.

17, S. 306 ff, 313 ff.

I. Problemstellung

21

Firmen davon aus. Gehorchen die betroffenen Firmen im Hinblick auf die angedrohten Strafen dem Verbot, so werden sie bis zur Nichtigerklärung des verfassungswidrigen Gesetzes geschädigt, da sie im Gegensatz zu den anderen Firmen Produktionseinbußen zu verzeichnen haben.» 4. Die Ölmühlen und Margarinefabriken waren nach § 19 des Milch- und Fettgesetzes und die Verordnungen über die Beimischung inländischen Rüböls verpflichtet, ihrer Produktion Rüböl beizumischen. Zuwiderhandlungen sollten nach dem Wirtschaftsstrafgesetz geahndet werden. Einzelne Firmen wurden nun dadurch geschädigt, daß sie der Verpflichtung zur Beimischung von teurem inländischem Rüböl wegen eventuell drohender Sanktionen nachkamen,9 während eine große Zahl von Firmen nach wie vor billigeres ausländisches Rüböl verwendete. Die betreffende gesetzliche Bestimmung wurde dann später vom Bundesverfassungsgericht 10 wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 GG für nichtig erklärt 5. Um die Fahndung nach einer weitverzweigt organisierten Terrorbande zu ermöglichen, schränkt ein Gesetz entgegen dem Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG die Freizügigkeit im Bundesgebiet erheblich ein. Einer der Betroffenen ficht das verfassungswidrige Gesetz erfolgreich an, hat aber in der Zwischenzeit gesundheitliche Schäden erlitten, weil er aufgrund dieser gesetzlichen Regelung seine Heimatstadt nicht verlassen und einen Heilbadeort nicht aufsuchen konnte.11 6. Ein Gesetz bestimmt unter Verstoß gegen Art 14 GG, daß ausländische Investmentgesellschaften ihren gesamten Bilanzgewinn als Steuer an das Finanzamt abzuführen haben. Grund für das Gesetz, durch das die betroffenen Unternehmen zur Liquidation gezwungen werden sollen, waren betrügerische Manipulationen einiger Immobiliengesellschaften. Vor Beginn der Liquidation wird das Gesetz für nichtig erklärt. Den Gesellschaften ist aber deshalb ein erheblicher Schaden entstanden, weil sich keine Käufer von Sparanteilen mehr fanden und der größte Teil der gekauften Anteile zurückgegeben wurde. 12 7. Ein verfassungswidriges Gesetz verbietet unter Verstoß gegen die Grundrechte aus A r t 12 GG und Art 14 GG die Herstellung und den Vertrieb von Erzeugnissen, die wie Sahne aussehen und dem gleichen Verwendungszweck dienen, ohne ausschließlich aus Milch hergestellt zu sein. Eine Firma, die bis dahin ein sahneähnliches Erzeugnis aus Milch, Erdnußöl und Eigelb hergestellt hatte, wurde durch das Gesetz gezwungen, ihre gesamte Produktion einzustellen.13 8. Das vom Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 6. 11. 1984 wegen fehlender Gesetzgebungskompetenz für nichtig erklärte Investitionshilfegesetz 14 sah die Erhebung einer Abgabe zur Förderung des Wohnungsbaues vor. Bei lohnsteuerpflichtigen Arbeitnehmern sollte die Abgabe vom Arbeitgeber zusammen mit der Lohnsteuer vom Arbeitslohn abgezogen werden. Durch die Befolgung dieses Gesetzes entstand einem Arbeitgeber ein Schaden in Höhe von circa 2300 DM, denn er war gezwungen sein Computerprogramm für die Einbehaltung der Abgabe von den Arbeitslöhnen zu ändern. 15 9. Von privaten Anlagen großräumig verursachte Luftverunreinigungen schädigen Teile des deutschen Waldbestandes erheblich. Der Gesetzgeber unterließ es trotz evidenten gesetzgeberischen Handlungsbedarfs, 16 geeignete gesetzliche Regelungen zu treffen, um einer Luftverunreinigung durch private Anlagen zu begegnen. Der Eigentümer eines land- und forst8

vgl. zu diesem Beispiel: Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 26 und Eckert, Diss., S. 52.

9

vgl. hierzu Eckert, S. 52 und Imohr DVB168, S. 629 ff. BVerfG DÖV 68, S. 319.

10 11

vgl. hierzu Speiser, Diss., S. 30, Eckert, S. 52 ff und Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 27.

12

vgl. hierzu Speiser, S. 30.

13 Dieses Beispiel ist dem Fall "La Fleurette", mit dem sich der französische Conseil d'Etat (Entscheidung vom 14. 1.1938 - Recueil des décisions du Conseil d'Etat 1938, S. 25 ff) befaßt hat, nachgebildet Vgl. hierzu auch die Ausführungen im 6. Kapitel unter Punkt 13. 14

BVerfGE

67, S. 256 ff.

15

Der BGH lehnte eine Haftung des Staates in diesem Falle ab: BGH VersR 88, S. 1046 = BB 88, S. 1701 = NJW 89, S. 101 ff. 16 Tatsächlich lag jedoch kein evidenter Handlungsbedarf vor, da der Staat bereits seit Beginn der 70iger Jahre Maßnahmen gegen die Luftverunreinigung getroffen hatte - vgl. hierzu BVerfG NJW 83, S. 2931,2932.

22

Einleitung wirtschaftlichen Betriebes klagt auf Ersatz der an seinem Wald aufgrund der Untätigkeit des Gesetzgebers entstandenen Schäden und der hierdurch erlittenen Verdiensteinbußen.17 10. $ 19 Abs. 1 AZO (Arbeitszeitordnung) enthält ein gesetzliches Verbot der Beschäftigung von Arbeiterinnen in der Nachtzeit Das Bundesverfassungsgericht erklärte diese Bestimmung kürzlich wegen Verstoßes gegen Art 3 Abs. 1, Abs. 3 GG für verfassungswidrig. 18 Eine Arbeiterin, die von einem Arbeitgeber unter Hinweis auf das bestehende Nachtarbeitsverbot nicht eingestellt wurde, verlangt von der Bundesrepublik Deutschland Ersatz ihres Verdienstausfalles. Eine andere Arbeitnehmerin, die aufgrund des Nachtarbeitsverbots von ihrem Arbeitgeber nur bei der Tagesarbeit eingesetzt wurde, verlangt von der Bundesrepublik Deutschland Ersatz der ihr entgangenen Nachtarbeitszuschläge.19 11. Die EG-Richtlinie Nr. 80/987/EWG vom 20.10. 80, die bis zum 23.10.1983 von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden sollte, verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Errichtung eines speziellen Garantiesystems, um nichterfüllte Ansprüche der Arbeitnehmer im Falle der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers zu befriedigen. Die EG-Richtlinie wird von der Bundesrepublik Deutschland nicht rechtzeitig umgesetzt.20 Arbeitnehmer, die von ihrem Arbeitgeber wegen Zahlungsunfähigkeit keinen Arbeitslohn erhielten, verlangen daraufhin vom deutschen Staat Ersatz des ihnen durch das Fehlen einer Garantieregelung entstandenen Schadens.

Gemeinsames Merkmal aller aufgeführten Beispielsfälle ist, daß der Schaden unmittelbar durch ein rechtswidriges Gesetz oder durch ein rechtswidriges Unterlassen des Gesetzgebers hervorgerufen wurde. In den meisten Fällen handelt es sich um Vermögensschäden, jedoch kann legislatives Unrecht, wie das Beispiel Nr. 5 zeigt, auch Nichtvermögensschäden hervorrufen. Die unmittelbare Schadenswirkung eines rechtswidrigen Gesetzes beruht im allgemeinen darauf, daß die Normadressaten sich im Hinblick auf die angedrohten Sanktionen den rechtswidrigen gesetzlichen Bestimmungen fügen, ohne daß es hierzu noch einer Durchsetzung durch die Verwaltungsbehörden bedürfte. Das geltende Recht kennt keine besondere Haftungsregelung für Schäden, die durch legislatives Unrecht verursacht werden. Aus diesem Grunde muß geklärt werden, inwieweit die existierenden positivrechtlichen und richterrechtlichen Haftungstatbestände auch eine Haftung für rechtswidrige Parlamentsgesetzgebung miteinschließen. Über diese Problematik ist in Rechtsprechung und Literatur eine heftige Diskussion entbrannt. Während die höchstrichterliche Rechtsprechung eine Haftung für legislatives Unrecht grundsätzlich ablehnt, nimmt die herrschende Meinung in der Literatur einen gegenteiligen Standpunkt ein.21 Auch im Verlauf der in den 70ger Jahren in Angriff genommenen Staatshaftungsreform wurde diese Problematik nicht einheitlich beurteilt.

17 vgl. hierzu auch die ablehnende Entscheidung des Bundesgerichtshofs, Β GHZ 102, S. 350 ff. = W W 88, S. 478 ff. 18

BVerfG

19

vgl. hierzu auch BVerfG NJW 92, S. 966.

NJW 92, S. 964 ff.

20 vgl. hierzu EuGH ZIP 91, S. 1610 ff - die Nichtumsetzung der Richtlinie erfolgte allerdings nicht durch die Bundesrepublik Deutschland, sondern durch Italien. 21

vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 2, 3 und 4.

I. Problemstellung

23

5. Die Bewertung einer Haftungßr legislatives Unrecht im Verlauf der Staatshaftungsrefom Bald nach Inkrafttreten des Grundgesetzes wurde die Frage aufgeworden, ob die Haftung des Gesetzgebers für unmittelbar durch rechtswidrige Gesetze hervorgerufene Schäden ein Postulat unseres grundgesetzlichen Rechtsstaates darstellt. Im Verlauf der Reformbestrebungen zum Staatshaftungsrecht, die schließlich am 2.7.81 zur Verkündung des Staatshaftungsgesetzes führten, 22 wurde dieses Problem konträr beurteilt. Die von den Bundesministern der Justiz und des Inneren im Jahre 1970 im Anschluß an den 47. Juristentag in Nürnberg eingesetzte Staatshaftungskommission schlug in ihren im Jahre 1973 vorgelegten Gesetzesentwürfen vor, auch die rechtssetzende Tätigkeit des Staates grds. in das Haftungssystem miteinzubeziehen und die Haftung des Gesetzgebers auch verfassungsrechtlich zu verankern; allerdings sollte die Haftung für legislatives Unrecht nicht im gleichen Maße wie die Haftung für Schädigungen durch die Exekutive gewährleistet sein, sondern von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig gemacht werden.* Als Grund für die besondere rechtliche Behandlung der Haftung des Gesetzgebers für rechtswidrige Schädigungen des Bürgers führte die Staatshaftungskommission zunächst die bei fehlerhaften Gesetzen bestehende Gefahr einer sich auf eine Vielzahl von Fällen ausbreitenden und deshalb unter Umständen unabsehbaren Schadenswirkung an.24 Außerdem erhob die Staatshaftungskommission deswegen Bedenken, weil "die Beurteilung der Rechtmäßigkeit gesetzgeberischen Verhaltens häufig besondere Schwierigkeiten bereitet und dementsprechend auch der Gesetzgeber selbst schwerer, als es namentlich bei der Verwaltung zuzutreffen pflegt, vorherzusehen vermag, ob ein bestimmtes Gesetz in allen Punkten der Nachprüfung standhalten wird." 25 Schließlich wurde noch das Verwerfungsmonopol der Verfassungsgerichte als Rechtfertigung für die besondere Beurteilung der Rechtsverletzungen des Gesetzgebers ins Feld geführt

22

BGBl I, S. 553 ff.

23

vgl. § 1 und § 6 des von der Kommission vorgeschlagenen StHG, Kommissionsbericht S. 15, S. 16 sowie die Begründung zu § 6 des vorgeschlagenen StHG, Kommissionsbericht S. 98 ff § 6 Kommissionsentwurf lautete: (1) Besteht die Rechtsverletzung in einem rechtswidrigen Verhalten des Gesetzgebers oder beruht sie auf einem solchem Verhalten, so ist § 3 (= Herstellung des früheren Zustandes) nicht anzuwenden. Die Rechtsfolge des § 2 (Geldersatz) tritt ein, wenn der Gesetzgeber innerhalb von achtzehn Monaten nach verfassungsgerichtlicher Feststellung der Rechtswidrigkeit keine andere Regelung trifft (2) § 79 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht bleibt unberührt 24

Kommissionsbericht,

S. 98.

25

Kommissionsbericht,

S. 98.

Einleitung

24

Aufgrund der Vorschläge der Staatshaftungskommission gab die Bundesregierung eine Reihe umfangreicher rechtstatsächlicher Untersuchungen in Auftrag, die dann zu den im Jahre 1976 veröffentlichten Referentenentwürfen führten, 26 die im wesentlichen der Linie der Staatshaftungskommission folgten, aber auch, insbesondere im Hinblick auf die Haftung für legislatives Unrecht, eine Reihe von Abweichungen enthielten. Auch in den Referentenentwürfen kam zum Ausdruck, daß eine völlige Freistellung des Gesetzgebers von der Haftung für rechtswidrige Gesetze im Hinblick auf das Rechtsstaatlichkeitsgebot des A n 20 Abs. 3 GG, an das auch der Gesetzgeber unmittelbar gebunden ist, verfassungsrechtlich nicht vertretbar ist.27 Die Referentenentwürfe schränkten jedoch die Voraussetzungen für die Staatshaftung für gesetzgeberisches Fehlverhalten gegenüber den Vorschlägen der Staathaftungskommission weiter ein28 und verzichteten außerdem auf die verfassungsrechtliche Verankerung einer solchen Haftung. 29 Im Jahre 1978 legte die Bundesregierung dann ihren eigenen Entwurf zur Reformierung des Staatshaftungsrechts den gesetzgebenden Körperschaften vor. 30 Im Gegensatz zu den Vorschlägen der Staatshaftungskommission und der Referentenentwürfe wurde die Haftung für legislatives Unrecht aus dem haftungsbegründenden Grundtatbestand völlig ausgeklammert. 31 Der Ausschluß der Haftung für die gesetzgebende Gewalt sollte jedoch nur für die sogenannten Unmittelbarkeitsfälle gelten, in denen der Bürger unmittelbar durch ein rechtswidriges Gesetz und nicht erst durch einen dazwischen geschalteten Vollzugsakt geschädigt wird. 32 Für die sogenannten Beruhensfälle, bei denen ein Bürger erst durch einen Vollzugsakt, der aufgrund eines rechts26

Herausgegeben von den Bundesministern der Justiz und des Innern, September 1976.

27

Referentenentwürfe,

S. 17.

28

§ 6 der Referentenentwürfe lautete: (1) Wird jemand durch rechtswidrige Ausübung gesetzgebender Gewalt geschädigt, so ist der Schaden in Geld zu ersetzen, wenn er durch Verletzung einer dem Geschädigten gegenüber obliegenden Pflicht zum Schutze der Grundrechtsgüter des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit der Persom, der Berufsfreiheit oder des Eigentums verursacht ist; § 2 Abs. 2 und 3 findet keine Anwendung. Satz 1 gilt auch, wenn die rechtswidrige Ausübung öffentlicher Gewalt auf dem Verhalten des Gesetzgebers beruht Die Rechtsfolgen des Satzes 1 und 2 treten erst ein, wenn die Rechtswidrigkeit durch Entscheidung eines dafür zuständigen Gerichts mit Gesetzeskraft innerhalb von achtzehn Monaten nach Bekanntgabe der Entscheidung keine andere Haftungsregelung trifft; endet die Wahlperiode vorher, beträgt die Frist zwei Jahre. 29 Referentenentwürfe S. 30, S. 98 - 102, S. 13; Statt einer Verankerung der Haftung für legislatives Unrecht im GG, wie sie die Staatshaftungskommission vorgeschlagen hatte, begnügten sich die Referentenentwürfe mit der Einfügung einer Gesetzgebungskompetenz für den Bundesgesetzgeber zur Regelung einer Staatshaftung für die Folgen legislativen Unrechts ins GG - vgl. Referentenentwürfe, S. 23. 30 Bundestagsdrucksache 215/78, S. 5.

51 32

Bundesratsdrucksache

8/2079 und 8/2080; Bundesratsdrucksache 214/78, S. 2; 215/78, S. 5.

Lücke, S. 234; Papier ZRP 79, S. 67,68.

214/78, S. 2 und

I. Problemstellung

25

widrigen Gesetzes ergeht, geschädigt wird, war kein Haftungsausschluß vorgesehen, so daß die allgemeine Haftungsnorm des § 1 Abs. 1 Satz 1 RegE StHG in diesen Fällen eingreifen sollte.33 Die Beruhensfälle sind jedochrichtiger Ansicht nach nicht dem Begriff des legislativen Unrechts zuzuordnen, sondern der Haftung für die vollziehende oder rechtssetzende Gewalt.34 Die sang- und klanglose Verabschiedung einer Haftung fur legislatives Unrecht im Regierungsentwurf wurde lapidar mit der These begründet, daß die Gewährleistung der Staatshaftung für rechtswidrige Maßnahmen der gesetzgebenden Gewalt "die Funktion der Legislative im Grundgesetzgefüge wegen der Gefahr der faktischen Beeinträchtigung der parlamentarischen Gesetzgebung in Bund und Ländern beeinträchtigen könnte."35 Im Verlauf der Staatshaftungsreform erfuhr die Haftung des Gesetzgebers für rechtswidrige Maßnahmen also eine immer größere Einschränkung. Auch das am 2.7.1981 verkündete Staatshaftungsgesetz (StHG)36 bewegte sich auf dieser Linie und Schloß dementsprechend die Haftung für rechtswidrige Gesetzgebungsakte, soweit sie unmittelbar zu einer Schädigung des Bürgers führen, von dem Anwendungsbereich des Staatshaftungsgesetzes aus. Stattdessen wurde eine Klausel eingefügt, die dem Bundes- oder Landesgesetzgeber die Möglichkeit offenhalten sollte, eine diesbezügliche Haftungsregelung zu erlassen.37 Für die sogenannten Beruhensfälle, die wie bereits erwähnt nicht dem Begriff des legislativen Unrechts, sondern je nach Erscheinungsform entweder dem Verwaltungshandeln oder der Judikative zuzurechnen sind, wurde in Übereinstimmung mit dem Regierungsentwurf eine Haftung für rechtswidrige Gesetzgebungsmaßnahmen vorgesehen.38 Nach dem Scheitern der Staatshaftungsreform wurden im Jahre 1987 durch eine gemeinsame Arbeitsgruppe des Bundes und der Länder verschiedene Modelle eines neuen Bundesstaatshaftungsgesetzes erarbeitet. Auch hierbei wurde eine Haftung für rechtswidrige Parlamentsgesetzgebung vom Anwendungsbe-

33

LUcke, S. 234; Papier, S. 67,68.

34

vgl. die Ausführungen unter Punkt I 1; Zum Teil wird hier auch unrichtigerweise von legislativem Unrecht gesprochen, vgl. Schmidt-Bleibtreu, StHG, S. 48; Jaenicke in Mosler (Haftung), S. 128; Selmer (Aufopferungsanspruch), S. 100; Speiser (Ersatzpflicht), S. 19; Schmidt-Bleibtreu (Staatshaftungsgesetz), Rdnr. 48; Dohnold DÖV 91, S. 152; BGH NJW 87, S. 1875, 1877; a. A. Forsthoff BB 60, S. 1138; Morvay, S. 776; Bernhardt/Stein, S. 16; Oldiges Der Staat 15 (1976), S. 383; Moller NJW 67, S. 2338; Weber, S. 2. 35

*

Bundesratsdrucksache

214/78, S. 10.

BGBl I S . 553.

37 § 5 Abs. 2 Satz 1 StHG. § 5 Abs. 2 StHG lautete: Besteht die Pflichtverletzung in einem rechtswidrigen Verhalten des Gesetzgebers, so tritt eine Haftung nur ein, wenn und soweit ein Gesetz dies bestimmt Die Haftung für Pflichtverletzungen der vollziehenden oder rechtsprechenden Gewalt, die ausschließlich auf dem Verhalten des Gesetzgebers beruhen, bleibt davon unberührt. 38 § 5 Abs. 2 Satz 2 StHG - im Regierungsentwurf wurden diese Beruhensfälle von der allgemeinen Haftungsnorm des § 1 Abs. 1 Satz 1 RegE StHG umfaßt - vgl. Lücke, S. 234; Papier ZRP 79,67, 68.

Einleitung

26

reich der vorgeschlagenen Haftungsregelungen ausgenommen.39 Im Jahre 1990 reichte schließlich das Bundesland Hamburg einen Gesetzesvorschlag im Bundesrat zur Neuregelung des Staatshaftungsrechtes ein. Auch bei diesem Vorschlag wird eine Haftungsgarantie für gesetzgeberisches Unrecht abgelehnt.40 Wendet man die im Verlauf der Staatshaftungsreform vorgeschlagenen Haftungsmodelle auf die eingangs geschilderten Beispiele an, dann ergibt sich, daß nur nach dem Entwurf der Staatshaftungskommission eine Haftung bei allen Beispielsfällen in Betracht gekommen wäre, dies allerdings nur, falls der Gesetzgeber nicht von der ihm in § 6 KE eingeräumten Möglichkeit, innerhalb von 18 Monaten nach verfassungsgerichtlicher Feststellung der Rechtswidrigkeit eine andere Haftungsregelung zu treffen, 41 Gebrauch gemacht hätte. Die Referentenentwürfe sahen dagegen von vornherein eine Haftung nur bei der Verletzung der Grundrechtsgüter des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit der Person, der Berufsfreiheit oder des Eigentums vor. 42 Dementsprechend hätte der von den Referentenentwürfen unterbreitete Gesetzesvorschlag nur die in den Beispielsfällen 6, 7 und 9 aufgetretenen Schäden als ersatzfähig anerkannt. Die im Regierungsentwurf und im Staatshaftungsgesetz vorgesehene Haftungsregelung ließe sogar sämtliche Beispielsfälle unentschädigt. Angesichts des Stillstandes der Staatshaftungsreform und dem immer größer werdenden Bedürfnis nach einer Haftung für legislatives Unrecht, die durch die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften über die Haftung für die Nichtumsetzung einer EG-Richtlinie43 erneut an Aktualität gewonnen hat, soll in der vorliegenden Arbeit die Frage geklärt werden, ob das geltende Recht eine Haftung für rechtswidrige Gesetzgebung vorsieht und welche Regelungsmöglichkeiten sich de lege ferenda anbieten, um mögliche Haftungsdefizite des geltenden Staatshaftungsrechts abzugleichen. IL Gang der Darstellung Da das geltende positive Recht keine ausdrückliche Haftungsreglung bei legislativem Unrecht kennt, muß, bevor man sich der Frage zuwenden kann, ob die Haftung für legislatives Unrecht eine positivrechtliche Fundierung in den allgemeinen Haftungstatbeständen findet, zunächst geklärt werden, ob sich eine solche Haftungsregelung in die verfassungsrechtliche Gesamtordnung einfügt 39 vgl. hierzu Zur Reform des Staatshaftungsgesetzes, Modellentwürfe der Arbeitsgruppen I, II, III, herausgegeben vom Bundesministerium der Justiz, Bonn 1987. 40 41

vgl. hierzu ZRP 90, S. 445 f; BRatDruckS 632/90. vgl.56Abs.lKE.

42

vgl. § 6 Abs. 1 RefEnt.

43

EuGHTIP 91, S. 1610 ff.

II. Gang der Darstellung

27

Eine Antwort auf diese Frage kann sich nur aus den Wertungen des Grundgesetzes ergeben, das durch ein hohes Maß an Rechtsstaatlichkeit und durch einen verstärkt zum Ausdruck gekommenen Grundrechtsschutz der Bürger geprägt ist 4 4 Das erste Kapitel dieser Arbeit ist deshalb der Frage gewidmet, inwieweit das materielle Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes eine Staatshaftung für legislatives Unrecht postuliert. Wie bereits ausgeführt, gingen hier die Meinungen im Verlauf der Staatshaftungsreform erheblich auseinander. Aus diesem Grunde ist es unausweichlich, sich mit den gegen die Einführung einer solchen Haftung vorgebrachten Argumenten, wozu vor allem die Befürchtung einer Beeinträchtigung der Entschließungsfreiheit des Gesetzgebers und einer Herbeiführung des Staatsbankrotts gehören, auseinanderzusetzen und zu prüfen, ob diese Befürchtungen nicht durch bestimmte Regulierungsmechanismen oder durch die Einführung einer präventiven abstrakten bundesverfassungsgerichtlichen Normenkontrolle, wie sie schon in vielen europäischen Rechtsordnungen verankert ist,45 begegnet werden kann. Im Anschluß daran wird im zweiten Kapitel geklärt, inwieweit eine solche Haftung des Staates in dem Amtshaftungstatbestand des Art. 34 GG i. V. m. § 839 BGB eine positivrechtliche Ausgestaltung gefunden hat. Dabei wird anhand der einzelnen Tatbestandsmerkmale des Amtshaftungsanspruches ausführlich erörtert, inwieweit dieser Tatbestand auch eine Haftung für Schäden begründet, die unmittelbar durch eine rechtswidrige Parlamentsgesetzgebung hervorgerufen werden. Der Schwerpunkt der Erörterung liegt hierbei in der Problematik der Verletzung von drittbezogenen Amtspflichten durch die Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Das dritte Kapitel dieser Arbeit befaßt sich dagegen mit der Frage, ob auch dierichterrechtlichen Staatshaftungsgsinstitute des enteignungsgleichen Eingriffs, des aufopferungsgleichen Eingriffs und des enteignenden Eingriffs eine tragfähige Grundlage für eine Haftung bei legislativem Unrecht bilden. Da durch die Naßauskiesungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts 46 eine Neuorientierung dieser richterrechtlichen Haftungsinstitute erforderlich wurde, wird hierbei auch der Entwicklungsstand dieser Rechtsinstitute nachgezeichnet Im vierten Kapitel wird der Frage nachgegangen, inwieweit sonstige Haftungsinstitute als Grundlage für eine Haftung bei legislativem Unrecht herangezogen werden können. Dabei werden die Rechtsinstitute des Folgenbeseitigungsanspruches und der öffentlichrechtlichen Gefahrdungshaftung sowie die Bestimmungen der Art. 50 EMRK, Art. 5 Abs. 5 EMRK und die neuerdings vom EuGH konzipierte Haftung der EG-Mitgliedstaaten aufgrund des unge44

vgl. hierzu auch Eckert, S. 54 ff.

45

vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 1 unter Punkt I I I 4. b.

46

BVerfGE

58, S. 300 ff.

Einleitung

28

schriebenen Gemeinschaftsrechts 47 näher untersucht und auf ihre Anwendbarkeit bei legislativem Unrecht geprüft. Angesichts der fortschreitenden Europäischen Integration wird im fünften Kapitel die Haftung der Europäischen Gemeinschaften für fehlerhafte Rechtssetzungsakte, die vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften bereits seit Beginn der 70er Jahre unter bestimmten Voraussetzungen praktiziert wird, dargestellt. Im Anschluß hieran wird im sechsten Kapitel im Rahmen einer rechtsvergleichenden Untersuchung der Frage nachgegangen, inwieweit die EG-Mitgliedstaaten, die Schweiz und Österreich eine Haftung für legislatives Unrecht kennen. Von einer Untersuchung der Haftungsregelungen in allen europäischen Ländern wird abgesehen, da dies den Rahmen der vorliegenden Arbeit springen würde. Eine rechtsvergleichende Untersuchung der einzelnen Haftungsregelungen empfiehlt sich vor allem deshalb, weil hierdurch die verschiedenen Haftungsstandards deutlich werden und sich hieraus der gegenwärtige Stand des deutschen Staatshaftungssystems besser beurteilen läßt Schließlich wird im siebten Kapitel dieser Arbeit der Versuch unternommen, ein Gesetz zur Regelung der Staatshaftung bei legislativem Unrecht zu konzipieren, das die Schwächen des geltenden Staatshaftungsrechts ausmerzen soll. Hierbei wird an die im Rahmen der Staatshaftungsreform unterbreiteten Gesetzentwürfe angeknüpft, die jedoch allesamt eine befriedigende Regelung der Haftung für rechtswidrige Gesetzgebung vermissen ließen und daher abgeändert werden müssen.

47

EuGH- Urteil vom 19.11.91 - ZIP91, S. 1610ff.

Kapitel 1

Die Haftung für legislatives Unrecht vor dem Hintergrund des Rechtsstaatsprinzips I. Inhalt und Wesen des grundgesetzlichen Rechtsstaates Der Parlamentarische Rat hat in Art. 20 Abs. 3 GG neben der Bindung von Exekutive und Judikative an Recht und Gesetz auch die Bindung der Legislative an die verfassungsmäßige Ordnung verankert und dem sogenannten Rechtsstaatsprinzip 1 über Art. 79 Abs. 3 GG in seinem Kernbereich unverbrüchliche Geltung verschafft. Dieses in Art 20 Abs. 3 GG zum Ausdruck gekommene Verfassungsprinzip erfährt noch eine entscheidende Ergänzung durch die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG\ die eine gerichtliche Kontrolle der öffentlichen Gewalt und damit die Beseitigung rechtswidriger hoheitlicher Maßnahmen von Verfassungs wegen gewährleistet. Schließlich - und dies ist entscheidend - verleiht Art. 1 Abs. 3 GG den Grundrechten unmittelbare Geltungskraft und bindet dadurch nicht nur die vollziehende und rechtsprechende Gewalt, sondern auch den Gesetzgeber3 an die durch die Grundrechte getroffenen fundamentalen Wertentscheidungen, die in ihrem Wesensgehalt nicht angetastet werden dürfen ( Art. 19 Abs. 2 GG). Das Rechtsstaatsprinzip hat aber nicht nur in Art. 20 Abs. 3, Art 19 Abs. 4 und Art. 1 Abs. 3 GG seinen Niederschlag gefunden, sondern 1 hM\ statt vieler Stern (Staatsrecht) Band I, S. 780; Herzog in M/D/H/S GG-Kommentar, Art 20 GG, Abschnitt VII, Rdnr. 35, 18.1ieferung zu Art. 20 GG; Katz (Staatsrecht) § 10 Rdnr. 162; auch das Bundesverfassungsgericht hat sich in seinen neueren Entscheidungen der Deutung angeschlossen, daß das Rechtsstaatsprinzip in Art 20 Abs. 3 GG seine Verankerung gefunden hat: BVerfGE 35, S. 41, 47; BVerfGE 39, S. 128, 143; BVerfGE 48, S. 210, 211; BVerGE 51, S. 356, 362; BVerfGE 56, S. 110,128; BVerfGE 58, S. 81, 97. 2 Schmidt-Assmann in M/D/H/S GG-Kom. Art. 19 I V GG, Rdnr. 15, 24. Lieferung zu Art. 19; Katz, Rdnr. 162; Lücke AöR 104, 225, 227, 229; Hesse (Verfassungsrecht), Rdnr. 202; BVerfGE 53, 115, 127. Zu beachten ist hierbei jedoch, daß das BVerfG die Gesetzgebung nicht zu der öffentlichen Gewalt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG zählt (vgl. etwa: BVerfGE 24, 33, 49; 24, 367, 401; 25, 352, 365; 45, 297, 334). Die Literatur vertritt jedoch überwiegend einen gegenteiligen Standpunkt (vgl. die zahlreichen Nachweise bei Schmidt-Aßmann in M/D/H/S GG-Kom. Art. 19 Abs. 4, Rdnr. 93, FN 12). Für die Auffassung der Literatur spricht der weite Wortlaut des Art. 19 Abs. 4 GG und die Tatsache, daß die vom BVerfG gewählte Auslegung verfassungsrechtlich keineswegs geboten ist 3 Zur Grundrechtsbindung der drei Gewalten, vgl. neuerdings die Darstellung bei Schnapp Jus 89, S. 1 ff.

30

1. Kapitel: Die Bedeutung des Rectsstaatsprinzips

kommt auch in der Gesamtkonzeption des Grundgesetzes zum Ausdruck/ Damit hat der Parlamentarische Rat, bestärkt durch die negativen Erfahrungen, die die Pervertierung des Weimarer Rechtsstaates unter der Herrschaft des NS-Regimes5 mit sich brachte, den Begriff und das Wesen des Rechtsstaates fortentwickelt und neu definiert Anstelle des formellen Rechtsstaates, der lediglich auf die Schaffung von formalen und verfahrensmäßigen Garantien gegen den Mißbrauch der Staatsgewalt ausgerichtet war,6 trat der materielle Rechtsstaat. Hierbei wurde die Ausübung der Staatsgewalt von vornherein an bestimmte oberste (positive und überpositive) Rechtsgrundsätze und Werte gebunden.7 Gleichzeitig wurde dem Staat die Verpflichtung auferlegt, für die Herstellung und Aufrechterhaltung eines materiell gerechten Rechtszustandes zu sorgen, bei dem die die Prinzipien der Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit gewahrt werden.8 Die materiale Ausrichtung des Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes zeigt sich vor allem in der Anerkennung der unmittelbaren Geltungskraft der Grundrechte (Art 1 Abs. 3 GG).9 Daneben kommt aber auch dem Bekenntnis zu den Menschenrechten und der Menschenwürde,10 der Ausrichtung an der 4 Stern, S. 779,780; Herzog in M/D/H/S, GG-Kommentar, Art 20 GG, Abschnitt V I I , Rdnr. 32; Katz, Rdnr. 162; BVerfGE 2, 380,403. 5 Der Begriff des Rechtsstaates unter der Herrschaft des Nationalsozialismus war nur noch eine zynische Verneinung seiner selbst. So definierte der Präsident des Volksgerichtshofes, Roland Freister, im Jahre 1937 den Rechtsstaat wie folgt: " Rechtsstaat ist die organisierte Lebensform des Volkes, die alle völkische Lebenskraft zur Sicherung des Rechts des Volkes auf Leben nach innen und außen zusammenfaßt (...). Das organisierte Zum-Einsatz-Bringen der geballten Ladung der völkischen Kraft zum Schutze des Volkslebens ist unser Begriff des Rechtsstaats." - Fundstelle: Informationen zur Politischen Bildung, Heft 200: Der Rechtsstaat, S. 5; In die gleiche Richtung geht die Definition des Rechtsbegriffes durch Reichsminister H. Frank: "Im nationalsozialistischen Staate kann das Recht immer nur ein Mittel sein zur Erhaltung, Sicherstellung und Förderung der rassisch-völkischen Gemeinschaft Die Einzelpersönlichkeit kann vom Recht nur noch unter dem Gesichtspunkt ihres Wertes für die völkische Gemeinschaft gewertet werden" oder als Kurzformel: "Alles, was dem Volk nützt, ist Recht, alles, was ihm schadet, ist Unrecht" - Fundstelle Bernd Rüthers: Die unbegrenzte Auslegung, S. 119. 6 Herzog in M/D/H/S, Art 20 GG, Abschnitt V I I , Rdnr. 16, 18. Lieferung zu Art 20 GG; Stern, S. 771 - 774; Böckenförde (Festschrift für Adolf Arndt), S. 53, S. 66. 7 Stern, S. 775, 777; Böckenförde, S. 72; Katz, S. 74, Rdnr. 160; Herzog in M/D/H/S, Art. 20 GG, Abschnitt VII, Rdnr. 17,13,14; Benda (Handbuch des Verfassungsrechts), S. 479. 8 Stern, S.777, S. 781 m. w. N.; Böckenförde, S. 72; Katz, § 10, Rdnr. 160,163,164; Vogel (Rechtsstaatsidee), S. 7; Krüger (Staatsrechtslehre), § 35, S. 792; Grabitz (Festschrift Hans Kutscher), S. 215; Woljf/Bachof (Verwaltungsrecht), Band I, § 11 I I b Nr. 3; Schäfer/Bonk Kommentar zum Staatshaftungsgesetz, § 1, Rdnr. 110; Menger (Verfassung und Verwaltung) S. 94, S. 105; Gueng (rechtsstaatliche Entschädigungspflicht) S. 16; auch das BVerfG sieht das Prinzip der Gerechtigkeit als wesentlichen Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips: BVerfGE 20,323,331; BVerfGE 3,225,237; BVerfGE 7, 89,92; BVerfGE 7,194,195; BVerfGE 35,41,47. 9 Schon Jerusalem SJZ 50, S. 1 ff hat den Einfluß der Grundrechte auf den Begriff des Rechtsstaates dargelegt Neuerdings vgl. die Darstellung bei Benda (Handbuch des Verfassungsrechts) S. 494; Stern, S. 777; Herzog in M/D/H/S, Art 20 GG, Abschnitt V I I , Rdnr. 19,13; Menger (Verfassung und Verwaltung), S. 93. 10 Die Garantie der Menschenwürde wird oft als materiales Grundprinzip des GG aufgefaßt, Benda, S. 480; Herzog in M/D/H/S, Art 20 GG, Abschnitt I, Rdnr. 12,18.

II. Staatshaftung als rechtsstaatliches Postulat

31

freiheitlich-demokratischen Grundordnung sowie der Anerkennung der umfassenden Sozialpflichtigkeit des Staates (Art 28 Abs. 1 Satz 1 GG, Art 20 Abs. 1 GG)11 entscheidende Bedeutung zu.12 Der Rechtsstaat der Bundesrepublik Deutschland zeichnet sich also durch zahlreiche materielle Komponenten aus und räumt dadurch der Verwirklichung der Gerechtigkeitsidee einen großen Stellenwert ein. Dies hat auch der ehemalige Bundesminister der Justiz, Hans-Jochen Vogel in seiner Schrift "Die Verwirklichung der Rechtsstaatsidee im Staatshaftungsrecht" bekräftigt und unter anderem ausgeführt, daß die materielle Komponente unseres Grundgesetzes den "sich ständig erneuernden Auftrag an alle staatliche Gewalt, im staatlichen und in dem vom Staat beeinflußbaren Bereich nach materieller Gerechtigkeit zu streben" enthält.13 EL Staatshaftung als rechtsstaatliches Postulat Ein solchermaßen am Gerechtigkeitsdenken ausgerichtetes Rechtsstaatsprinzip kann nicht ohne Wiedergutmachungsverpflichtung des Staates für rechtswidrige Schädigungen des Bürgers bestehen,14 stellt sich doch eine solche Schädigung als Verletzung der Gerechtigkeit dar. 11 Die Bundesrepublik Deutschland soll nach dem Willen des Parlamentarischen Rates ein sozialer Bundes- und Rechtsstaat sein. Die Schöpfer des GG haben damit den Rechtsstaat in zweifacher Weise neu definiert Zum einen sollte der formelle Rechtsstaat vom materiellen Rechtsstaat abgelöst werden, zum anderen sollte an die Stelle des liberalen (bürgerlichen) Rechtsstaates der soziale Rechtsstaat treten (Böckenförde, S. 66 ff). Wurde früher der Begriff des sozialen Rechtsstaates in die beiden Komponenten Rechtsstaat und Sozialstaat zerlegt und eine verfassungsrechtliche Verschmelzung dieser beiden Prinzipien ausgeschlossen (Forsthoff (Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit), S. 173,192), so hat sich heute die Auffassung durchgesetzt, daß in einem sozialen Rechtsstaat das sozialstaatliche und rechtsstaatliche Element sich gegenseitig durchdringen, so daß das Sozialstaatsprinzip mit seiner Forderung nach sozialer Gerechtigkeit den materialen Rechtsstaat des GG mit weiteren materiellen Attributen ausstattet (Stern, S. 777,785 ff,922 ff; Menger, S. 99,100,101; Hornel (Grundrechte), S. 28; Schramm (Schmidt-Troje), S. 232; Wolff/Bachof, § 11 b Nr. 5). Der materiale bürgerliche Rechtsstaat, wie man ihn bei Kant, Humboldt und Mohl findet (vgl. zum Begriff: Menger, S. 94 ff, 100), befaßte sich dagegen nicht mit der Herstellung von sozialer Gerechtigkeit, obwohl er durch das Prinzip einer rechtlich und von der staatlichen Einflußnahme freien, gleichen und kapitalbildenden Persönlichkeit die soziale Ungleichheit im Zeitalter der industrieellen Revolution selbst heraufbeschwor (Böckenförde, S. 67; Wolff/Bachof, § 11 b Nr. 4). - Als wichtigster Aspekt dieses Sozialstaatsprinzips ist die Sozialpflichtigkeit des Staates (Hilfe in sozialen Notlagen, Daseinsvorsorge, Sozialordnung etc.) zu nennen. Das Sozialstaatsprinzip stattet aber auch die freiheitlichen Grundrechte mit einem sozialen Bezug aus, vgl. hierzu Hornel, S. 28 ff. 12 Stern, S. 774,775; Herzog in M/D/H/S, Art. 20 GG, Abschnitt VII, Rdnr. 19,13,14; Katz, Rdnr. 160, 164; Hesse, § 6, Rdnr. 203; Menger (Verfassung und Verwaltung), S. 95; MaunzfZippelius (Staatsrecht), S. 85. 13 14

Vogel (Rechtsstaatsidee im Staatshaftungsrecht), S. 7.

Zur Fähigkeit des Staates, Unrecht zu tun, vgl. die ausfuhrliche Darstellung bei Kohl (Unrechtsfahigkeit des Staates), der insbesondere auch die staatstheoretische Entwicklung darlegt Auch Art. 19 Abs. 4 GG setzt die Unrechtsfahigkeit des Staates voraus.

32

1. Kapitel: Die Bedeutung des Rectsstaatsprinzips

Das dem Rechtsstaatsprinzip innewohnende Gebot staatlicher Gerechtigkeit legt dem Staat die Verpflichtung auf, im Falle einer rechtswidrigen Schädigung seiner Bürger, die durch den Primärrechtsschutz (Art 19 Abs. 4 GG) nicht abgewendet werden kann, den rechtmäßigen Zustand wiederherzustellen, oder, falls eine solche Wiederherstellung des urspünglichen Zustandes nicht mehr möglich ist, den angerichteten Schaden auf andere Weise wiedergutzumachen.15 Die bloße Aufhebung einer rechtswidrigen hoheitlichen Maßnahme gleicht in diesen Fällen nämlich die erfolgte Einbuße an Rechtsstaatlichkeit nicht aus, denn die aus einer fehlerhaften Rechtsanwendung resultierenden rechtswidrigen Folgen werden durch die bloße Beseitigung der rechtswidrigen Maßnahme nicht rückgängig gemacht. Dieses rechtsstaatliche Postulat nach einer Wiedergutmachungsverpflichtung des Staates bedeutet jedoch nichu daß ein material verstandenes Rechtsstaatsprinzip als notwendiges Korrelat einen allgemeinen Wiedergutmachungsanspruch konzipiert, so daß der geschädigte Bürger beim Fehlen einer positivrechtlichen Entschädigungsregelung stets unter unmittelbarer Berufung auf das Rechtsstaatsprinzip die Wiedergutmachung des angerichteten Schadens verlangen kann.16 Auch das dem Rechtsstaatsprinzip innewohnende Gebot der Gerechtigkeit verlangt nicht, daß in allen Fällen rechtswidriger Schädigungen eine Wiedergutmachung gewährt wird. 17 Vielmehr erfordert die fehlerhafte Rechtsanwendung eine eigene Interessensbewertung, bei der auch die durch die rechtswidrige Maßnahme hervorgerufenen Folgen und ihre Beseitigungsmöglichkeit miteinbezogen weiden müssen, da die Reaktion der Rechtsordnung auf staatliches Unrecht nicht nur in der Umkehrung und Wiedergutmachung des

15 Referentenentwürfe S. 16; Kommissionsentwurf S. 63; Stern, S. 855 ff m. w. N.; Schäfer/Bonk StHG, § 1, Rdnr. 110; Vogel S.22, 23; v. Arnim (Haftung), S. 67; Heidenhain (Amtshaftung), S. 74; Goppert (enteigungsgleicher Eingriff), S. 128,129; Grabitz, S. 215; Lücke AöR 104, S. 229,230,242; Maunz/Zippelius (Staatsrecht), S. 85; Gueng, S. 23; Maurer (Allg. VerwR) § 25 Rdnr. 6; Bethge (Grundlagen des Staatshaftungsrechts), S. 22; Weitnauer (Haftung aus Amtspflichtverletzungen), S. 5; Haas (Entschädigungspflichten), S. 59 f; Bartlsperger NJW 68, S. 1703; Kohl, S. 124,125. 16 Einen allg. öffentlich-rechtlichen Wiedergutmachungsanspruch haben Haas, S. 60 ff, 65 und Menger (Festschrift für Walter Jellinek), S. 347, 350 ff versucht zu konzipieren. Haas leitet seinen allg. Wiedergutmachungsanspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG , 34 Art 20, Art. 28 GG her. Kritisch hierzu Scheuner DÖV 55, 573, 574; Menger plädiert dagegen für einen überpositiven Wiedergutmachungsanspruch, der teilweise seinen Niederschlag in Art 34 GG gefunden hat Kritisch zu beiden Ansätzen Heidenhain, S. 132 ff; neuerdings zur Begründung eines umfassenden Wiedergutmachungsanspruchs aus den Grundrechten Redeker DÖV 87,194,198 ff m. w. N. 17 Luhmann (Öffentlich-rechtliche Entschädigung), S. 91 f; Stödter (Öffentlich-rechtliche Entschädigung), S. 47; Bender (Staatshaftungsrecht, 2. Aufl.), Rdnr. 296; ders. DÖV 69, S. 510 ff; für einen zwingend aus dem Rechtsstaatsprinzip bzw. aus den Grundrechten folgenden Wiedergutmachungsanspruch Furier (Entschädigungspflicht), VerwArchiv 33 (1928), S. 413; Tschacksch (öffentlich-rechtliche Entschädigung), S. 47,48; Konow DVB1 71, 455; ders. (Eigentumsschutz), S. 24 f; ders. JR 67,246, 247; Reddeer DÖV 87, S. 195,196.

II. Staatshaftung als rechtsstaatliches Postulat

33

geschehenen Unrechts besteht, sondern viel subtiler und differenzierter ausgestaltet ist.1® Die Wiedergutmachung der rechtswidrigen Schädigung hat nach dem oben Gesagten jedoch den Regelfall zu bilden, während die völlige Sanktionslosigkeit nur auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben muß. Im übrigen enthält das Rechtsstaatsprinzip keine für jeden Sachverhalt in allen Einzelheiten eindeutig bestimmbare Gebote und Verbote19 und kann folglich auch die nähere Ausgestaltung einer Haftung des Staates nicht in alle Einzelheiten determinieren. 20 Demgemäß bleibt festzuhalten, daß auch das materiale, durch die Grundrechte und die Sozialpflichtigkeit des Staates geprägte Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes als alleinige Grundlage für einen Wiedergutmachungsanspruch des einzelnen bei rechtswidrigen Schädigungen durch die öffentliche Hand ungeeignet ist, jedoch das in ihm wohnende Gebot der Gerechtigkeit die Begründung eines solchen Wiedergutmachungsanspruches fordert. 21 Sofern man, wie manche Autoren22 nicht aus dem materialen Rechtsstaatsprinzip, sondern direkt aus den Grundrechten einen allgemeinen Wiedergutmachungsanspruch bei rechtswidrigen Maßnahmen der öffentlichen Hand herleiten will, ergibt sich nichts anderes. Zum einen wird auch das Rechtsstaatsprinzip im wesentlichen durch die Grundrechte geprägt, so daß sich diesbezüglich eine inhaltliche Übereinstimmung ergibt, und zum anderen korrespondiert auch aus einer Verletzung der Grundrechte nichtrechtslogischein Anspruch auf Wiedergutmachung, da auch hier die Rechtsordnung wieder in sehr differenzierten Formen auf geschehenes

18 Luhmann, S. 91,92 f; Scheuing (Festschrift für Otto Bachof), S. 346,347; Bachof (Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Verfahrensrecht), Band I, S. 261 f; Bettermann DÖV 55, 528,531 ff; Maurer DÖV 66, 477, 484; BVerwG NJW 61, 1130,1131; in die gleiche Richtung gehend Rössiein (Folgenbeseitigungsanspruch), S. 74, der darauf hinweist, daß sich aus Art. 20 I I I GG rein begriffslogisch kein Unterlassungs- oder Beseitigungsanspruch herleiten läßt, sondern ein solcher Anspruch vielmehr auf dem historischen gewachsenen Verhältnis von Bürger und Staat unter der Prägung des GG beruht Den Folgenbeseitigungsanspruch stützt er trotzdem auf Art. 20 I I I GG, aber in Form " eines topisch problemorientierten Argumentierens", bei dem "unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Gesichtspunkte" entschieden werden muß; Hoffmann (Abwehranspruch), S. 45 f; Heidenhain, S. 73,74; Rupp (Grundfragen), S.172 f. 19 Schramm (Schmidt-Troje), (Staatsrecht), Band I, S. 230; Lücke AöR 104, S.227; Stern, S. 780,783; Leibholz/Rinck/Hesselberger GG-Kom Art 20 GG, Rdnr. 628 (18. Lieferung zu Art. 20 GG - 1990). BVerfGE 7, 89,92; BVerfGE 25, 269,290; BVerfGE 35, 41,47; BVerfGE 28, 264,277; BVerfGE 44,105,120; BVerfGE 45,187,246. 20 Lücke AöR 104, S. 227; Schramm, S. 230; Schenke DVB175,121,123; Heidenhain, S. 74; Scheuner DÖV 55, 573 ff, 574; Goppert, S. 139; BVerwG DVB1 60, 255, 256; Stödter, S. 47; Gueng, S. 113 ff. 21 22

vgl. hierzu auch Rössiein, S. 74.

Konow DVB1 71, 454, 455; ders. JR 67, 245, 246; Redeker, DÖV 87, S. 194 ff; vgl. auch Lücke AöR 104, S. 243. 3 Fetzer

34

1. Kapitel: Die Bedeutung des Rectsstaatsprinzips

Unrecht reagieren kann,23 wenn es auch die rechtsstaatliche Konzeption des Grundgesetzes gebietet, die Primärfunktion der Grundrechte durch einen entsprechenden Abwehranspruch24 bzw. durch eine Wiedergutmachungsverpflichtung 25 zu sichern. Schließlich darf auch nicht außer acht gelassen werden, daß auch der Regelungsgehalt der Grundrechte genausowenig wie ein material verstandenes Rechtsstaatsprinzip die nähere Ausgestaltung einer Haftung des Staates in allen Details regeln kann.26 Dies läßt sich insbesondere am Beispiel des von der Rechtsprechung und der Literatur entwickelten Folgenbeseitigungsanspruches verdeutlichen, dessen dogmatische Grundlage zum Teil im Rechtsstaatsprinzip,27 zum Teil auch in den Grundrechten28 gesehen wird. Die Herausarbeitung der tatbestandlichen Voraussetzungen blieb der Rechtsprechung und der Lehre überlassen,29 die im Wege der Dezision und nicht unter Berufung auf konkret im Regelungsgehalt des Rechtsstaatsprinzip bzw. der Grundrechte enthaltene Tatbestandsmerkmale zu einer tatbestandlichen Präzisierung des Folgenbeseitigungsanspruches gelangten.30 Entsprechendes gilt für den Inhalt und den Umfang des Folgenbeseitigungsanspruches.31

23 Martens (FS für Schack), S. 85, S. 95; Battis (Erwerbsschutz), S. 21; Schock VerwArch 79, S. 1 ff, 35; vgl. auch Hoffmann, S. 71, 79; im Ergebnis auch Bender (Staatshaftungsrecht), Rdnr. 296; vgl auch Alexy (Theorie der Grundrechte), S 236 ff, der darlegt, daß aus dem negativen Status der Grundrechte nicht rechtslogisch ein Recht auf "Nichthinderung des Erlaubten" folgt, die Relation zwischen Grundrechtsstatus und subjektivem öffentlichen Recht vielmehr "nicht-logischer" Natur ist 24

Martens, S. 95; Schock, S. 35; Redeken S. 196.

25

Konow DVB1 71, 455; ders. JR 67,245, 246; Battis , S. 21; Bender DÖV 69, 510, 511 ; vgl. auch Lücke, S.240. 26 Redeker, S. 196,197, der zwar aus den Grundrechten dem Folgenbeseitigungsanspruch als allg. Wiedergutmachungsanspruch herleitet, jedoch zugibt, daß die Grundrechte keine genauen Angaben über den tatsächlichen Umfang dieses Anspruch enthalten. a.A. Lerche AöR 104, S. 243, 244, der aus den Grundrechten einen Entschädigungsanspruch bei legislativem Unrecht herleitet 27 so BVerwGE 69, 366, 370 (3. Senat); der 4. Senat stützt den Folgenbeseitigungsanspruch auf die Freiheitsgrundrechte: BVerwG NJW 72, S. 269 = DÖV 71, S. 857; NJW 89, S. 2484; der 2. Senat legt sich nicht fest und zitiert beide Rechtsgrundlagen: BVerwG NJW 89, S. 2272,2277. 28

Schoch, S. 35 ff, Redeker, S. 196 ff.

29

vgl. hierzu auch Ossenbühl (Staatshaftungsrecht), S. 251.

30

Der Tatbestand des Folgenbeseitigungsanspruches läßt sich nach dem gegenwärtigen Stand der Rechtsprechung und Literatur wie folgt umreißen: Durch einen hoheitlichen Eingriff in ein subjektives Recht muß ein rechtswidriger Zustand geschaffen worden sein, der noch andauert In diesen Fällen hat der Betroffene einen Anspruch auf Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes, aber nur soweit die Wiederherstellung tatsächlich möglich, rechtlich zulässig und der Behörde zumutbar ist - vergi hierzu: Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, § 37, S. 259; Maurer (Allg. VwR), § 29 Rdnr. 6; Bender (Staatshaftungsrecht), Rdnr. 219 ff; VGH Ba-Wü, VB1BW 83, 141, 142; BayVGH DVB1 81, 1158, 1159; OVG Nordrhein-Westfalen DÖV 83, 1020, 1021; vgl. auch Rösslein, S. 83 ff und Rupp JA 79, 506, 509 ff, der auch die geschichtliche Entwicklung des Folgenbeseitigungsanspruches aufzeigt 31

BVerwGE 69,366 ff; Schoch, S. 23 ff.

III. Wesenszüge einer rechtsstaatlich geprägten Staatshaltung

35

ΙΠ· Wesenszüge einer rechtsstaatlich geprägten Staatshaftung Die Bedeutung eines materiell verstandenen modernen Rechtsstaatsprinzips erschöpft sich jedoch nicht in der Forderung nach einer Wiedergutmachungsverpflichtung des Staates für rechtswidrige Schädigungen des Bürgers. Bereits der Rechtsstaat der Weimarer Republik bekannte sich zum Institut der Amtshaftung (vgl. Art. 131 WRV) und damit zu der Verpflichtung des Staates, den einzelnen, der durch rechtswidrige öffentliche Maßnahmen geschädigt wurde, zu entschädigen. Die staatliche Wiedergutmachungsverpflichtung als solche ist damit keine Erfindung der materialen Rechtsstaatsidee. Anders als ein formelles Rechtsstaatsverständnis prägt ein materielles Rechtsstaatsprinzip aber auch bis zu einem gewissen Grade den Inhalt und die Ausgestaltung der von ihm postulierten Wiedergutmachungsveφflichtung der öffentlichen Gewalt. Dem steht nicht entgegen, daß das Rechtsstaatsprinzip wie oben erläutert entsprechend seiner Funktion als elementares Leitprinzip des Grundgesetzes32 keine genau bestimmbaren Gebote und Verbote enthält,33 folglich die Ausgestaltung einer Staatshaftung auch nicht in allen Einzelheiten festlegen, geschweige denn einen allgemeinen Wiedergutmachungsanspruch konzipieren kann.34 Auch wenn nämlich ein material verstandenes Rechtsstaatsprinzip keine detaillierten Entscheidungen über den Inhalt und den Umfang einer Staatshaftung treffen kann, so ändert dies nichts daran, daß dieses Verfassungsprinzip einige rechtsstaatliche Postulate aufstellt, an denen sich die Haftung des Staates für rechtswidrige Schädigungen des einzelnen zu orientieren hat.

1. Unmittelbare primäre und ausschließliche Haftung des Staates ßr rechtswidrige Schädigungen An dieser Stelle ist zunächst das Erfordernis einer unmittelbaren Staatshaftung zu nennen, die im Gegensatz zu der gegenwärtig durch Art. 34 GG angeordneten Anlehnung der Amtshaftung des Staates an die in § 839 BGB geregelte persönliche Haftung der staatlichen Organwalter 35 eine direkte Eigenhaf32 BVerfGE 20, 331; BVerfGE 2, 403; BVerfGE 25, 290; BVerfGE 49, 163 ff; Leibholz! Rinck/Hesselberger, GG-Kommentar, 18. Lieferung zu Art 2 0 , Art. 20 GG Rdnr. 627. 33

siehe oben 12; Fußnote 19.

34

siehe oben 12.

35 z. T. werden Versuche unternommen, diese an § 839 BGB " angeseilte" Amtshaftung im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip als unmittelbare Staatshaftung zu qualifizieren: Haas, S. 60 mit S. 59 und 65 ff; Hackenbroth in Brinkmann, Grundrechtskommentar zum Grundgesetz, 1967, Nachtrag 1968, Art. 34 GG, Anm. I 4 b; Jeüinek JZ 55,147,149; Bettermann JZ 61, 482, 483; dagegen zu Recht Heidenhain, S. 133 ff, 160-168, insbesondere S. 164 fund 167 ff.

36

1. Kapitel: Die Bedeutung des Recfatsstaatsprinzips

tung des Staates begründet, die von der persönlichen Haftung der staatlichen Organwalter entkoppelt ist. Diese Forderung nach einer unmittelbaren Haftung des Staates resultiert direkt aus Art 20 Abs. 3 GG und Art 1 Abs. 3 GG, denn aus diesen Bestimmungen ergibt sich, daß der Träger der öffentlichen Gewalt selbst und nicht nur seine Organwalter Adressat des Rechtsstaatlichkeitsgebotes und der Grundrechte ist. Wenn der Träger der öffentlichen Gewalt aber den aus diesem Gebot folgenden und durch die unmittelbare Geltungskraft der Grundrechte näher konkretisierten Verfassungsauftrag zur gerechten, d. h. verfassungsmäßigen und gesetzmäßigen Ausübung der ihm anveitrauten öffentlichen Gewalt verletzt, dann muß er sich als unmittelbarer Adressat dieses Verfassungsauftrages die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit auch unmittelbar zurechnen lassen.36 Die unmittelbare Zurechnung der Verletzung der Rechtsstaatlichkeit führt dann ohne weitere Zwischenschritte zu einem unmittelbaren Wiedergutmachungsanspruch des Bürgers gegen den Träger der öffentlichen Gewalt, denn ansonsten würde die in Art. 20 Abs. 3 GG und Art 1 Abs. 3 GG ausgesprochene Bindung des Staates leerlaufen. 37 Aus denselben Erwägungen muß die unmittelbare Haftung des Staates für Rechtsverletzungen der öffentlichen Gewalt durch eine primäre und ausschließliche Staatshaftung ergänzt werden. Den Bürgern muß die Möglichkeit eröffnet werden, den Staat als unmittelbaren Adressat des Rechtsstaatlichkeitsgebotes primär und ausschließlich in Anspruch zu nehmen.38 Dies folgt daraus, daß nicht die rechtswidrig handelnden Amtswalter, sondern ausschließlich die öffentliche Gewalt selbst Träger des Rechtsstaatsprinzips und damit Haftungssubjekt ist 2. Haftung ßr rechtswidrig

schuldlose Eingriffe

der öffentlichen

Gewalt

Es besteht auch Einigkeit darüber, daß zum Inhalt eines material verstandenen Rechtsstaatsprinzips auch eine umfassende Haftung des Staates für rechtswidrige Eingriffe der öffentlichen Gewalt gehört, unabhängig davon, ob der Eingriff durch schuldhaftes Verhalten verursacht wurde oder nicht.39 Diese 36 Lücke, S. 230; Kohl, S. 123, 124; Referentenentwürfe S. 1702,1703.

S. 65 ff; Vogel, S. 24; Bartlsperger,

37 Lücke, S. 230 m. w. N.; Vogel, S. 22; Begündung zum Regierungsentwurf BRatsDS 215/78, S. 26. 38 39

vgl. hierzu auch Kommissionsentwurfi

zum StHG,

S. 46.

Vogel, S. 23, S. 26 ff; Kohl, S. 124; Referentenentwürfe S. 18, S. 67 ff; Heidenhain, S. 74; Goppert, S 139; Bartlsperger, S. 1697,1703; Kommissionsbericht S. 50 ff; Begründung zum Regierungsentwurf, BR-DruckS 214/78, S. 9; Verhandlungen des 47. Deutschen Juristentages, Band II, L 144,145; vgl. auch Papier ZRP 79, S. 67,68; Schwer DB 81, S. 1499,1500 ff; Futter BB 80, S. 181, 182; Dagtoglou VerwArch 74, 345,349; zweifelnd Arndt BB 60, S. 993, 995; Herzog in M/D/H/S, Art 34 GG, Rdnr. 72, 26. Lieferung zu Art 34 GG.

III. Wesenszüge einer rechtsstaatlich geprägten Staatshaltung

37

rechtsstaatliche Forderung nach einer Entschädigung für rechtswidrige schuldlose Eingriffe der öffentlichen Gewalt stellt sich als zwangsläufige Folge einer unmittelbaren Staatshaftung dar, denn nach Aufgabe der Anlehnung des Staatshaftungsrechts an die zivilrechtlichen Haftungsvoraussetzungen des Deliktsrechts bleibt für das Erfordernis eines schuldhaften Verhaltens als tatbestandliche Haftungsvoraussetzung kein Raum mehr. Vielmehr entspringt dem Rechtsstaatsprinzip die Verpflichtung des Staates, im Falle einer Verletzung der Rechtsstaatlichkeit für eine Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes bzw., falls eine solche Wiederherstellung nicht möglich ist, für eine möglichst enge Annäherung an den rechtmäßigen Zustand Sorge zu tragen, ohne Rücksicht darauf, ob der Rechtsverstoß vorwerfbar oder vermeidbar war. Der in dem Rechtsstaatsprinzip ausgesprochene Auftrag an die staatliche Gewalt, für materielle Gerechtigkeit zu sorgen, ist nämlich bereits durch jeden rechtswidrigen Rechtsverstoß verletzt. Dann muß aber die Wiedergutmachungsverpflichtung des Staates jeden dieser rechtswidrigen Rechtsverstöße ergreifen, ohne daß als zusätzlicher Haftungsgrund noch ein schuldhaftes Verhalten herangezogen wird. Im Zivilrecht dient das Verschulden als tatbestandliche Haftungsvoraussetzung als Maßstab für einen gerechten Interessensausgleich zwischen gleichberechtigten Rechtssubjekten. Im Bereich des Staatshaftungsrechts steht dem Bürger aber der Staat in all seiner faktischen und rechtlichen Überlegenheit gegenüber. Hier geht es nicht mehr um den Ausgleich von Interessen gleichberechtigter Rechtssubjekte, sondern um die Haftung der staatlichen Gewalt, die einen starken Einfluß auf alle wichtigen Lebensgebiete unserer pluralistischen Gesellschaft ausübt Gerade der sich immer stärker ausbreitende Einfluß der staatlichen Gewalt auf das gesellschaftliche Leben - nicht nur im Hinblick auf staatliche Beschränkungen, sondern auch im Bereich der Fürsorge- und Leistungstätigkeit des Staates - erfordert die strikte Bindung der staatlichen Gewalt an die rechtsstaatliche Pflicht zur Herstellung und Aufrechterhaltung materieller Gerechtigkeit Im Rahmen dieser strikten rechtsstaatlichen Bindung der Staatsgewalt hat das Verschulden als Haftungsgrund keine Berechtigung mehr, da dies zu einer ungerechten Risikoverteilung zwischen Staat und Bürger führen würde.40 Im übrigen kann die haftungseindämmende Funktion des Verschuldens als Tatbestandsmerkmal einer Staatsunrechtshaftung auch durch andere Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt werden. Hierbei ist insbesondere an das Erfordernis einer Schutznormverletzung (§ 839 BGB spricht diesbezüglich von der Verletzung einer einem Dritten gegenüber obliegenden Amtspflicht) 40 vgl. auch Vogel, S. 26,27; Ossenbühl Jus 74, S. 811, 812, der außerdem zu Recht darauf hinweist, daß auch die herkömmlichen Tatbestände einer unmittelbaren Staatshaftung, wie ζ. B. der enteignungsgleiche Eingriff, der Aufopferungsanspruch und der Folgenbeseitigungsanspruch das Erfordernis eines Verschuldens nicht vorsehen. Einschränkend Goppert, S. 135 ff; Bettermann DÖV 55, S. 528,531.

1. Kapitel: Die Bedeutung des Rectsstaatsprinzips

38

oder an eine haftungsmindernde bzw. haftungsausschließende Mitverantwortung des Geschädigten zu denken. 5. Staatshaftungßr alle Tätigkeitsfelder

der öffentlichen

Gewalt

Als weiteres weiteres Grundprinzip einer rechtsstaatlich geprägten Staatshaftung wurde die Forderung herausgearbeitet, daß der Träger der öffentlichen Gewalt in "allen Lebensbereichen hoheitlicher Betätigung" für sein Verhalten eintritt, daß also nicht einzelne hoheitliche Tätigkeitsfelder, wie zum Beispiel Polizeiwesen, Militärwesen, Postwesen, Beurkundungswesen im ganzen von der Haftung ausgenommen werden dürfen, sondern allenfalls gewisse Haftungsmodifikationen erfahren dürfen. 4* 4. Haftung ßr legislatives Unrecht als rechtsstaatliches Postulat ? a) Die Haftung bei legislativem Unrecht in der staats- und verwaltungsrechtlichen Diskussion Kaum ein Aspekt des Staatshaftungsrechts dürfte so sehr im Brennpunkt der Diskussion gestanden haben wie die Frage, ob die Haftung des Staates für unmittelbar durch eine rechtswidrige Ausübung der parlamentarischen Gesetzgebungstätigkeit hervorgerufene Schäden (sogenanntes legislatives Unrecht) ein Postulat unseres Rechtsstaates darstellt. Wie bereits geschildert, wurde diese Frage im Verlauf der Reformbestrebungen zum Staatshaftungsrecht konträr beurteilt und erfuhr schließlich bis zu der Verkündung des Staatshaftungsgesetzes im Jahre 198142 eine immer größere Einschränkung, die letztendlich dazu führte, daß die Haftung für rechtswidrige Gesetzgebungsakte, die unmittelbar zu einer Schädigung des Bürgers führen, nicht in den Anwendungsbereich des Staatshaftungsgesetzes aufgenommen wurde, sondern stattdessen lediglich dem Bundes- oder Landesgesetzgeber die Möglichkeit eingeräumt wurde, eine entsprechende Haftungsregelung zu treffen. Damit setzte sich das Staatshaftungsgesetz in Widerspruch zu der in der verwaltungsrechtlichen Literatur vorherrschenden Auffassung. In der staats- und verwaltungsrechtlichen Literatur hatten sich nämlich bereits vor der Veröffentlichung des Vorschlages der Staatshaftungskommission im Jahre 1973, der eine Haftung des Staates für legislati41

Vogel, S. 23; Referentenentwürfe,

42

BGBl I, S. 553.

S. 17 f.

III. Wesenszüge einer rechtsstaatlich geprägten Staatshatung

39

ves Unrecht befürwortete, zahlreiche Stimmen zu Wort gemeldet, die eine Ersatzpflicht des Staates bei legislativem Unrecht vor dem Hintergrund des Rechtsstaatsprinzips forderten. Diese Entwicklung setzte jedoch erst zu Beginn der 50er Jahre ein, was unter anderem darauf zurückzuführen war, daß bis zum Ende des Ersten Weltkrieges die alte positivistische Grundauffassung weiterexistierte, daß das Gesetz als unbeschränkter und unbeschränkbarer Souveränitätsakt mit dem Recht gleichzusetzen ist und somit keinerlei Kontrollen oder Beschränkungen unterliegt.43 Diese Grundhaltung hielt sich auch noch lange Zeit unter der Geltung der Weimarer Verfassung und bewirkte, daß nie ernsthaft der Gedanke, den Staat für rechtswidrige Ausübung seiner gesetzgebenden Gewalt haftbar zu machen, zur Diskussion gestellt wurde,44 war doch die Vorstellung, daß die Legislative Unrecht tun könnte, durch die Idee von der Identität von Recht und Gesetz ausgeschlossen. Unter der Herrschaft der Weimarer Verfassung begann sich dann aber schließlich die Auffassung von der Überordnung der Verfassung über alle anderen Rechtsnomen als unabdingbare Grundordnung des Staates langsam durchzusetzen, da das Vertrauen in den Gesetzgeber im Schwinden begriffen war. 45 Außerdem bekannte sich das Reichsgericht mit seiner Entscheidung vom 4.11.192546 zu der Befugnis der Gerichte, die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zu überprüfen, und bejahte damit die Möglichkeit verfassungswidriger Gesetze. Es handelte sich bei diesemrichterlichen Prüfungsrecht jedoch nur um ein inzidentes Prüfungsrecht, dem keine Bedeutung über den gerade entschiedenen Fall hinaus zukam.47 Das Reichsgericht blieb aber trotz der Anerkennung einesrichterrechtlichen Prüfungsrechtes zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze weiterhin der gesetzespositivistischen Vorstellung verhaftet und lehnte eine Haftung für legislatives Unrecht ab.48 Das Bonner Grundgesetz setzte schließlich der Herrschaft des Gesetzespositivismus, der das staatliche Gesetz als unbeschränkten Souveränitätsakt ansah, 43 Vgl. hierzu: Schock MDR 53, S. 514; Krüger (Staatsrechtslehre), S. 69, 70; Speiser S. 23 ff; Moller NJW 67, S. 2338, 2339; Spengler JZ 54, S. 592, 593; Zur historischen Entwicklung besonders ausführlich Eckert (Haftung des States), S. 3 ff; Kohl, S. 93 ff. 44 Man war sich darüber einig, daß der Gedanke einer Haftung des Gesetzgebers dem deutschen Recht fremd ist - vgl. hierzu statt vieler: Ulrich Scheuner (Festschrift für Rudolf Smend), S. 253, 283; aA. jedoch Krückmann JW 28, 646 - Anmerkung zur Entscheidung des RG, JW 28, 102 -, der die Haftung von Abgeordneten für das Zustandekommen eines rechtswidrigen Gesetzes mit einer entsprechenden Anwendung des § 839 BGB begründete. 45

vgl. etwa Eckert (Haftung des Staates), S. 6 ff, 11 ; Spengler JZ 54, S.593.

46

RGZ 111, S. 320 ff.

47 Eckert, S. 11 m. w. N.; vgl. zum richterlichen Früfungsrecht in der Weimarer Republik: Maurer DÖV 63,683 ff. 48

vgl. hierzu RGZ 118, 325 ff.

1. Kapitel: Die Bedeutung des Rectsstaatsprinzips

40

endgültig ein Ende, indem es das Recht noch über die Verfassung stellte (vergleiche Art 20 Abs. 3 GG) und somit bestimmte Regeln des Naturrechts als überpositives, auch den Verfassungsgesetzgeber bindendes Recht anerkannte.49 Damit führte es die Entwicklung fort, die bereits während der Weimarer Republik eingesetzt hatte. Daneben fand auch das richterliche Prüfungsrecht seine verfassungsrechtliche Verankerung im Bonner Grundgesetz (vergleiche Art. 93 Abs. 1 Ziff. 2 GG, Art. 100 GG), was gegenüber der Rechtslage in der Weimarer Republik, in der das richterliche Prüfungsrecht nicht in der Verfassung geregelt war, sondern nur vom Reichsgericht als inzidentes Prüfungsrecht beansprucht worden war, einen weiteren Fortschritt darstellte. Bei dem in den genannten Neuerungen des Bonner Grundgesetzes zum Ausdruck kommenden neuen Rechtsverständnis konnte es nicht ausbleiben, daß die Frage, ob der Gesetzgeber legislatives Unrecht schaffen kann, neu überdacht wurde. Soweit ersichtlich gebührt Jerusalem 50 der Verdienst, als erster nach dem Inkrafttreten des Bonner Grundgesetz die rechtsstaatliche Forderung nach einer Haftung des Gesetzgebers für rechtswidrige Eingriffe in den geschützten Grundrechtsbereich herausgearbeitet zu haben. Damit war der Boden für die Ausbreitung der Rechtsstaatsidee in der juristischen Literatur bereitet. Der Gedanke der Rechtsstaatlichkeit blieb nun nicht mehr auf die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen beschränkt, sondern umschloß auch die Frage der Entschädigung des durch den Gesetzgeber Geschädigten.51 Die Zahl derer, die aus rechtsstaatlichen oder rechtspolitischen Gründen ein Bedürfnis für eine Haftung für legislatives Unrecht de lege lata oder de lege ferenda bejahten, vergrößerte sich ständig52 und erhielt insbesondere im Verlauf der Staatshaf49 Lesenswert zu den rechtlichen Auswirkungen des positivistischen Rechtsgedanken mit seinem Grundsatz "Gesetz ist Gesetz" im Nationalsozialismus: Radbruch SJZ 46, S. 105 ff. Radbruch führt aus, daß die nationalsozialistischen Gesetze nicht nur "unrichtiges Recht" darstellen, sonder der Rechtsnatur völlig entbehrten, also als "gesetzliches Unrecht" zu qualifizieren sind. 50 Jerusalem SJZ 50, S. 1, S. 7: Jerusalem erläutert ausführlich die Ausfüllung des Wesensgehaltes des grundgesetzlichen Rechtsstaates durch die Grundrechte und gesteht dem Bürger wegen der aus dem Rechtsstaatsprinzip resultierenden "beschränkten Aktionssphäre" des Gesetzgebers neben einem Abwehranspruch auch einen Schadensersatzanspruch bei rechtswidrigen Gesetzen zu. Er sieht dabei keinerlei Bedenken, als Anspruchsgrundlage für diesen Schadensersatzanspruch A r t 34 GG i V m § 839 BGB heranzuziehen.

» 52

Schock M D R 53, S. 514.

Haas (Entschädigungspflichten (1955), S. 66: "Rechtswidrige Eingriffe der Legislative können heute keine privilegierte Behandlung mehr beanspruchen"; Katzenstein MDR 52, 195: "Auch die Frage nach einer Entschädigungspflicht als Folge legislativen Unrechts kann durchaus gestellt werden.."; Traving (Staatshaftung....(1958), S. 120: Eine Anwendung der Staatshaftung auf rechtswidrige Gesetzesbeschlüsse würde "auch durchaus ihrer Funktion der Verwirklichung des Rechtsstaatsgedankens entsprechen"; Arndt BB 60, S. 1351,1352: "Meine Anregung zielt darauf ab,...der Bindungswirkung des Art. 1 Abs. 3 GG durch eine jeweils gesetzlich innerhalb einer bestimmten Frist zu normierende Staatshaftung Genüge zu tun"; ders. BB 60, S. 993, 995: "Es sollte untersucht werden, ob es den Grundwertentscheidungen der Verfassung nicht richtiger entspricht, in der Verfassung eine Staatshaftung für Fehler der Gesetzgebung dergestalt vorzusehen, daß..."; Forsthoff Β Β 60, S. 1135,1138: "Das Entstehen eines Rechtsschutzbedürfnisses gegenüber legisla-

. Wesenszüge einer rechtsstaatlich geprägten Staatshatung

41

tungsreform starken Zuspruch. 53 Die Bedenken des Regierungsentwurfs wurden als sogenannte Angstklauseln" qualifiziert, die ein bedenkliches rechtsstaatliches Defizit erkennen ließen.* Es existierte jedoch auch eine kleinere Minderheit, die es ablehnte, im Hinblick auf rechtsstaatliche Gesichtspunkte eine Haftbarmachung des Staates für rechtswidrige Gesetzgebung zu fordern. 55 In erster Linie wurde diese ablehnende Haltung mit der Gefahr begründet, daß der Gesetzgeber durch die Einführung einer solchen Haftungsregelung und den damit verbundenen Haftungsüberlegungen in seiner Entschließungsfreiheit beeinträchtigt werde56 bzw. ihm "der letzte Rest an Schöpfertum genommen werde und er zu einem bloßen Vollzugsorgan höherer Normen degradiert werde, dem kein Entscheidungsspielraum mehr verbleibt 57 Neben dieser Befürchtung, die Entschließungsfreiheit und Funktionsfahigkeit des Parlaments werde durch die Anerkennung einer Haftung des Gesetzgebers für die rechtswidrige Ausübung seines Gesetzgebungsauftrages beeinträchtigt, wurde auch immer wieder das Argument angeführt, eine solche

tiven Akten ist für einen Rechtsstaat die natürliche Folge"; Moller NJW 67, 2338:" Eine wirkliche Respektierung der verfassungsmäßigen Grundrechte scheint also nur gesichert, wenn ihre Mißachtung Schadensersatzfolgen auslöst"; Schock DÖV 71, S. 446 ff:" Nach rechtsstaatlicher Auffassung ist auch der Gesetzgeb«· in die Rechtsordnung dermaßen eingegliedert, daß der Staat... grds. verpflichtet ist, für den durch ein Gesetz zugefügten Schaden einzustehen"; Imohr DVB1 68, S. 629, 630 f: "Es widerspricht der Gerechtigkeit, wenn für Verluste, die aus der Rechtswidrigkeit des Gesetzes ...entstehen, kein Schadensersatz zur Verfügung gestellt wird"; Heidenhain (Amtshaftung) S. 89, Fußnote 8): " Der BGH ist gezwungen, will er folgerichtig sein, auch den enteignungsgleichen Eingriff durch Gesetze anzuerkennen"; Dilcher AcP 163 (1964), S. 193, S. 214: "Im Ergebnis wäre mit der Anerkennung eines solchen Ersatzanspruchs... den Anforderungen der materialen Gerechtigkeit genügt, die es verbieten, in einer Rechtsordnung des generellen gerechtigkeitsorientierten Schadensausgleichs die Tätigkeit der Legislativorgane....ausgleichsfrei bestehen zu lassen"\Jaenicke VVDStRL 20, 148 ff: "Eine Begrenzung des Amtshaftungsanspruches auf Verwaltungsunrecht ist heute nicht mehr gerechtfertigt"; Lücke AöR 104, S. 239 ff: " Dies alles zeigt, daß die gegenwärtig vorgesehene Ablehnung der unmittelbaren Staatshaftung für legislatives Unrecht bei gleichzeitiger Einführung einer Haftung für Unrecht der Exekutive und Judikative eine Unterscheidung in die Reform einbringt, die sachlich nicht einleuchtet und deshalb wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG als systemwidrig angesehen werden muß"; Dagtoglou, VerwArch 74, 349 ff: "Sachgerecht ist auch die Einbeziehung des legislativen Unrechts";. Ritter NJW 66, 1355: "Eine Verpflichtung (zur Folgenbeseitigung) könnte als ein Postulat der materiellen Gerechtigkeit erscheinen"; vgl. auch Mondry, S. 164 ff; Selmer (Aufopferungsanspruch), S. 101 ff. » Haverkate ZRP 77, 33,35; Dagtoglou VerwArch 79, S. 345, 354; Stern, S. 856; Oldiges, Der Staat, Bd 15, S. 382; v. Arnim, S. 67 ff; Lücke, S. 237 ff; Scheuing (FS für Bachof), S. 346; Weber (Staatshaftung), S. 130; Eckert (Haftung des Staates), S. 53 ff, 58, 61,62. 54

Bender DÖV 79, S. 109,111; Futter BB 80, S. 180,181,182.

55

Krüger (Staatsrechtslehre), § 34, S. 794 ff; Schock MDR 53, 518, der seine ablehnende Auffassung jedoch aufgab, vgl. DÖV 71, S. 446 ff; Scheuner BB 60, 1253,1256; Vogel, S. 24; Düng JZ 54, S. 5, Fußnote 9; Menger VerwArch 63 (1972), S. 85. 56 Vogel, S. 24; Begründung zum Regierungsentwurf, BRDrS 214/78, S. 9; Bender (Staatshaftungsrecht), Rdnr. 656; EuGH NJW 78, S. 1742 mit Anmerkung von Grabitz im Zusammenhang mit der Haftung der EG für normatives Unrecht 57

Krüger, S. 794 ff; Vogel, S. 24.

42

1. Kapitel: Die Bedeutung des Rectsstaatsprinzips

Ausweitung der Staatshaltung würde den Staatsbankrott herbeiführen 58 oder zumindest angesichts des betroffenen großen Personenkreises "unübersehbare Folgen" hervorrufen. 59 Gerade die genannten Argumente haben im Verlauf der Staatshaftungsreform zu einer Abkehr von der urspünglich vorgesehenen Haftung für legislatives Unrecht geführt. 60 b) Eigene Stellungnahme Es bedarf keiner umfangreicher Ausführungen, um darzulegen, daß ein am Gerechtigkeitsgedanken ausgerichtetes Rechtsstaatsprinzip eine Wiedergutmachungsverpflichtung des Staates nicht nur für rechtswidrige Maßnahmen der Exekutive und Judikative fordert, sondern gerade auch für verfassungswidrige Gesetzgebungsakte. Die Legislative kann durch die große Reichweite ihrer Entscheidungen und durch den großen Einfluß, den der Gesetzgeber heute im wirtschaftlichen und sozialen Bereich ausübt, erheblich größere Schäden anrichten als Maßnahmen der Verwaltung und Rechtsprechung, die sich häufig gegen begrenzte oder begrenzbare Personengruppen richten und deshalb in ihrem Wiikungskreis eingeschränkt sind. Der erhöhten Schadenswirkung von verfassungswidrigen Gesetzgebungsakten steht auch ein größeres Schutzbedürfnis der Bürger gegenüber.6* Man würde das Wesen des grundgesetzlichen Rechtsstaates aber veikennen, wenn man die gegen eine Haftung für legislatives Unrecht vorgebrachten Einwände von vornherein als gegenüber der materiellen Gerechtigkeitskomponente des Bonner Rechtsstaates nicht ins Gewicht fallend abtun würde. Auch die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Staates - sei es in finanzieller oder sonstiger Hinsicht - ist ein der Verfassung immanenter rechtlicher Gesichtspunkt, denn Zweck einer jeden Verfassung ist es, eine funktionierende Staatsform zu konzipieren, nicht, den Staat zu vernichten.62 Es ist sicher nicht von der Hand zu weisen, daß bei einer bestehenden Haftung für legislatives Unrecht ein rechtswidriges Gesetz eine große Schadenswirkung entfaltet und den Staat erheblichen Schadensersatzfolgen aussetzt. Auch können solche Haftungsüberlegungen zwar nicht den dem Gesetzgeber eingeräumten Gestaltungsspielraum als solchen einschränken, wohl aber dazu führen, daß der Gesetzgeber im Ein58 vgl. hierzu Scheuing (FS für Bachof)« S. 346, eine Auflistung aller wesentlichen Ablehnungsgründe bezügl. einer Haftung für legislatives Unrecht bringt Dagtoglou (Ersatzplicht des Staates), S. 11 ff. 59

Schock M D R 53, S. 518; Menger VerwArch 63 (1972), S. 85.

«>

Schäfer/Bonk

«

vgl. Scheuing FS Bachof, S. 346; Forsthoff,

62

StHG Einführung Rdnr. 123,151. BB 60,1138.

vgl. auch Gusy (Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht), S. 44 ff.

III. Wesenszüge einer rechtsstaatlich geprägten Staatshatung

43

zelfall auf den Gebrauch seiner Gestaltungsfreiheit verzichtet, um so einer eventuell bestehenden Haftungsgefahr zu begegnen. Der Gesetzgeber wird hierdurch zwar keineswegs, wie Krüger« es befürchtet, zu einem bloßen Vollzugsorgan der Verfassung degradiert, da die Verfassungsnormen im Regelfall einen viel zu allgemeinen Charakter aufweisen, um den Inhalt der Gesetze im einzelnen zu bestimmen. Der dadurch dem Gesetzgeber eingeräumte Gestaltungsspielraum ist viel zu groß, als daß sich die Tätigkeit des Gesetzgebers durch Haftungsüberlegungen zum bloßen Verfassungsvollzug reduzieren lassen würde,64 zumal die politische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers häufig nur einer Vertretbarkeits- oder Evidenzkontrolle unterliegt.65 Jedoch könnte die Entschließungsfreiheit des Parlaments durch solche Haftungsüberlegungen behindert sein, weil sich das Parlament bei seinen Entscheidungen immer der Haftungsgefahr bewußt sein muß. Andererseits dürfen weder die Befürchtung, eine Haftung für legislatives Unrecht führe zum Staatsbankrott, noch die Befürchtung, die Entschließungsfreiheit des Gesetzgebers werde hierdurch unangemessen beeinträchtigt, überbewertet werden. Auch die Staatshaftungskommission und die Referentenentwürfe haben sich mit diesen Argumenten befaßt und kamen zu den Ergebnis, daß eine Haftung für legislatives Unrecht bei entsprechenden Haftungskorrektiven keineswegs zu einer übermäßigen finanziellen Belastung des Staatshaushaltes führt. 66 So ergab sich bei einer rechtstatsächlichen Überprüfung, die im Rahmen der Referentenentwürfe vorgenommen wurde, daß eine Haftung des Gesetzgebers für Grundrechtsverletzungen lediglich einen finanziellen Mehraufwand in Höhe von einer Million jährlich verursachen würde.67 Selbst wenn der finanzielle Mehraufwand um einiges höher hegen würde, könnte angesichts des Umfanges des Bundeshaushaltes nicht von einer untragbaren finanziellen Belastung gesprochen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat bis einschließlich 1975 127 Bundesgesetze für verfassungswidrig erklärt. 68 Die rechtstatsächliche Untersuchung, die im Rahmen der Referentenentwürfe angestellt wurde, um festzustellen, ob und inwieweit der verfassungswidrige Regelungsgehalt der Normen zu Veimögensschäden hätte führen können, ergab, daß bei 49 dieser Normen keine finanziellen Auswirkungen zu verzeichnen waren und bei 46 weiteren Normen nur unbedeutende finanzielle Auswirkungen festge-

«

Krüger, S. 795.

64

zum Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers vgl.: Stern (Staatsrecht) Band I, § 3 III, insbesondere S. 85; Mainz in M/D/H/S GG-Kom. Art 70 Rdnr. 15 (20. Lieferung zu Art. 70 GG - November 1982); Schnapp Jus 89, S. 3; Stein (Staatsrecht), S. 155 ff. 65

vgl. etwa: Schwerdtfeger

66

Kommissionsentwurf,

67

Referentenentwürfe,

S. 79.

68

Referentenentwürfe,

S. 97.

(Öffentliches Recht), Rdnr. 566; Schneider NJW 80, S. 2105 ff. S. 34; Referentenentwürfe,

S. 79.

44

1. Kapitel: Die Bedeutung des Rectsstaatsprinzips

stellt werden konnten.® 31 der für verfassungswidrig erklärten Nonnen hätten erheblichere finanzielle Folgen nach sich gezogen, aber nur bei einer Norm hätte die Erklärung der Verfassungswidrigkeit schwerwiegende finanzielle Folgen für den Staatshaushalt hervorgerufen. 70 Dabei wurde mit der Fiktion gearbeitet, daß die verfassungswidrige Norm eine uneingeschränkte Schadensersatzpflicht des Staates auslöst und nicht durch bestimmte Haftungskriterien begrenzt ist.71 Die Tatsache, daß es Fälle gibt, in denen eine schwerwiegende finanzielle Belastung des Staates bei einer Haftung für legislatives Unrecht auftritt, rechtfertigt aber nicht den Ausschluß dieser Haftung, sondern allenfalls ihre sachgerechte Begrenzung.72 Dies gilt umso mehr, als solche Fälle recht selten sind, weil erst die auf einem verfassungswidrigen Gesetz beruhenden Akte der Exekutive den Schaden hervorrufen. Solche Fälle sind aber als Verwaltungsunrecht zu entschädigen. Auch in der Literatur wurde mehrfach nachgewiesen, daß eine untragbare finanzielle Belastung des Staatshaushaltes nicht zu erwarten ist, wenn bei Grundrechtsverletzungen des Gesetzgebers eine Wiedergutmachung gewährt wird. 73 Die Herbeiführung eines Staatsbankrotts ist also bei der Einführung einer Haftung für legislatives Unrecht nicht zu befürchten. Die in der Einleitung vorgestellten Beispielsfälle haben ebenfalls gezeigt, daß in der Regel keine übermäßigen finanziellen Belastungen des Staates zu erwarten sind. Zu beachten ist daneben, daß auch rechtswidrige Maßnahmen der Exekutive den Staatshaushalt in größerem Maße belasten können, wie der Fall des Nudelherstellers Birkel, der vom Land Baden-Württemberg wegen fehlerhafter behördlicher Warnungen vor Rüssigeinudeln eine Schadensersatzfor-derung in Höhe von rund 43 Millionen DM beanspruchte, zeigt. Außerdem können nach geltendem Recht auch Erstattungsansprüche der Bürger, die ihre Steuerbescheide angefochten haben, im Falle der Nichtigerklärung des zugrundeliegenden Steuergesetzes ebenfalls nicht mit der Begründung zurückgewiesen werden, daß der Staatshaushalt durch die Rückzahlung der rechtswidrig erhobenen Steuern unzumutbar belastet wird. 74 Notfalls bleibt es dem Gesetzgeber unbenommen, einer im Einzelfall unzumutbaren Belastung durch ein Schadensregulierungsgesetz Rechnung zu tragen.75 Im übrigen hat Ossenbtthl zutreffend ausgeführt, daß 09

Referentenentwürfe,

7 0

Referentenentwürfe,

S. 97.

71

Referentenentwürfe,

S. 97.

7 2

Referentenentwürfe,

S. 97,98.

S. 97.

73

v. Arnim, S. 68 f; Schenke DVB1 75, S. 127; ders. NJW 88, S. 860 f; Scheuing FS für Bachof, S. 355 - 363, 368; Teschner, S. 54; Ossenbühl (Neue Entwicklungen im Staatshaftungsrecht), S. 14; vgl. auch Imohr DVB1 68, S. 631; Kommissionsentwurf, S. 34; vgl. auch Schenke NJW 88, S. 860. 74 75

vgl. hierzu den Beispielsfall bei Arndt BB 60,1351 f.

vgl. Scheuing FS Bachof, S. 363; Dagtoglou in BK Art 34 GG Rdnr. 34 f; Schenke DVB1 75, S. 128.

III. Wesenszüge einer rechtsstaatlich geprägten Staatshatung

45

"ein Verfassungswiderspruch besteht, wenn der Sozialstaat soziale Wohltaten in Milliardenhöhe austeilt, der Rechtsstaat hingegen aus Kostengründen staatliches Unrecht bestehen oder unausgeglichen ließe".76 "Der staatsgeschädigte Bürger darf nicht deswegen leer ausgehen, weil er keine Lobby hat".77 Schließlich zeigt auch ein Blick auf die Judikatur des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, der eine Haftung der Europäischen Gemeinschaften für rechtswidrige Rechtssetzung durch die EG-Organe bejaht,78 daß bei einer Einführung einer Haftung für legislatives Unrecht keineswegs der Zusammenbruch des Staatshaushaltes droht Auch die Entschließungsfreiheit des Gesetzgebers wird durch eine solche Haftung nicht übermäßig beeinträchtigt. Der Gestaltungsfreiheit der Legislative ist bereits durch die Existenz des Bundesverfassungsgerichts, dem die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit aller Entscheidungen der Legislative zugewiesen ist, eine gewisse Grenze gesetzt. Daneben unterliegen die Akte des deutschen Gesetzgebers auch im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit dem Recht der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Menschenrechtskonvention derrichterlichen Kontrolle.79 Wenn der Gesetzgeber im Bereich des primären Rechtsschutzes, insbesondere bei den Grundrechten, einer solchen Kontrolle unterliegt, dann bedeutet dies, daß hier die Entschließungsfreiheit des Gesetzgebers bereits eingeschränkt ist, denn er muß bestrebt sein, Gesetze zu erlassen, die die zuständigen Gerichte nicht beanstanden können. Da somit bereits beim primären Rechtsschutz eine solche Beeinträchtigung der Entschließungsfreiheit des Gesetzgebers existiert, ist eine Beeinträchtigung der Entschließungsfreiheit der Legislative im Bereich des sekundären Rechtsschutzes aufgrund von Haftungsüberlegungen nicht als unzumutbare Begrenzung zu werten. Im Gegenteil, hier würde ein nicht einleuchtender Widerspruch zwischen primärem und sekundärem Rechtsschutz bestehen, wenn der Gesetzgeber zwar einerseits verpflichtet wäre, rechtswidrige Gesetze zu unterlassen, andererseits für den Erlaß solcher Gesetze nicht haftbar gemacht werden könnte,80 zumal ja, wie oben bereits dargelegt, nicht mit übermäßigen Haftungsfolgen zu rechnen ist Außerdem ist der politische Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers nach Art. 20 Abs. 3 GG begrenzt. Diese rechtsstaatliche Begrenzung bleibt nicht nur auf den primären Rechtsschutz beschränkt, sondern verlangt auch im Bereich des sekundären Rechtsschutzes Beachtung. Dies ist für die Maßnahmen der Exekutive und Judikative allgemein anerkannt. Da Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 1 Abs. 3 GG zum Aus7 6

Ossenbühl Neuere Entwicklungen im Staatshaftungsrecht, S. 28.

77

Ossenbühl, S. 28.

78

vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 5.

79

vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 4 und 5.

80

vgl. auch Lücke AöR 104, S. 239.

1. Kapitel: Die Bedeutung des Rectsstaatsprinzips

46

druck bringen, daß die rechtsstaatliche Bindung des Gesetzgebers keinesfalls geringer ist als die der beiden anderen Gewalten, ist aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten eine gewisse Einschränkung der Entschließungsfreiheit des Gesetzgebers hinzunehmen. Nicht außer acht gelassen werden darf auch, daß die Einfuhrung einer Haftung für legislatives Unrecht auch einen positiven Effekt auf den Gesetzgeber haben könnte. So ist es nicht abzuschließen, daß die am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten bei der Verabschiedung von Gesetzen zu einem höheren Maß an Sorgfalt veranlaßt würden als bisher.81 Schließlich ist noch anzumerken, daß auch das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts einer Haftung für legislatives Unrecht nicht entgegensteht, denn auch eine solche Haftung setzt im Falle der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes voraus, daß das Bundesverfassungsgericht das betreffende Gesetz für verfassungswidrig erklärt. 82 Es ist auch nicht anzunehmen, daß das Bundesverfassungsgericht bei der Einführung einer Haftung für verfassungswidrige Parlamentsgesetzgebung davor zurückschreckt, die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes festzustellen, um die Legislative vor Haftungsansprüchen zu schützen, denn das Bundesverfassungsgericht ist ebenfalls an das Rechtsstaatsprinzip gebunden. Falls man all diese Argumente nicht als ausschlaggebend betrachtet, muß man immer noch berücksichtigen, daß der Staat auch bei der Einführung einer Staatshaftung für legislatives Unrecht eine wirksame Methode anwenden kann, um ein Ausufern dieser Haftung und damit eine Belastung des Staatshaushaltes oder die Beschneidung der Entschließungsfreiheit des Gesetzgebers zu vermeiden. Hierbei wäre an die Einführung einer Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht nach Erlaß, aber vor Inkrafttreten des Gesetzes im Wege der Präventivkontrolle zu denken. Eine solche Kontrolle ist in unterschiedlicher Reichweite in den Verfassungen von Frankreich, 83 Portugal,84 Österreich, 85 Irland, 86 Italien,87 und Spanien88 vorgese81

vgl. zu dieser Überlegung: v. Arnim, S. 75.

82

Beim Erlaß eines Gesetzes, das gegen die Bestimmungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts oder gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt, tritt an die Stelle der Nichtigkeitserklärung durch das Bundesverfassungsgericht die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Gesetzes durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften bzw. durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 4 und 5. 83 Gemäß Art 41 Abs. 2, Art. 61 der französischen Verfassung von 1958 (Text abgedruckt in dtv-Taschenbuchausgabe "Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten", Stand 1987) befindet hierüber der Conseil d'Etat Eine nachträgliche Kontrolle von Gesetzen kennt das französische Verfassungsrecht nicht. - vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 6 und Cardosa da Costa (Die Verfassungsrechtssprechung im Rahmen der staatlichen Funktionen), S. 81. 84 vgl. hierzu Art 278 der portugiesichen Verfassung von 1976 (Text abgedruckt in der dtvTaschenbuchausgabe "Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten", Stand 1987) und die Ausführungen von Cardosa da Costa, S. 81 ff. 85 vgl. hierzu Art 138 Abs. 2 der österreichischen Verfassung (Text abgedruckt bei Ringhofer, Kom. zur österreichischen Bundesverfassung und die Ausführungen von Cardosa da Costa,

III. Wesenszüge einer rechtsstaatlich geprägten Staatshatung

47

hen. Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht hat eine vorbeugende Kontrolle von Zustimmungsgesetzen zu völkerrechtlichen Verträgen zugelassen, obwohl eine solche Kontrolle weder im Grundgesetz noch in einem einfachen Gesetz vorgesehen ist 8 9 Der Vorschlag zur Einführung einer Präventivkontrolle von Gesetzen war bereits in Art. 98 Ziffer 5 und Art 110 des Entwurfs von Herrenchiemsee enthalten, wurde aber von den Delegierten mit Hinweis auf die Befürchtung, daß in diesem Falle zu stark in die Kompetenz der Legislative eingriffen würde, abgelehnt90 Dieser Gefahr kann jedoch dadurch begegnet werden, daß man eine Präventivkontrolle nicht wie im Entwurf von Herrenchiemsee bereits vor Erlaß eines Gesetzes, sondern erst nach Erlaß, aber vor Ausfertigung und Veikündung eines Gesetzes einführt. In diesem Falle ist die Kompetenz des Parlamentes gewahrt, denn dieses wurde nicht an dem Erlaß eines Gesetzes gehindert und eine nachfolgende richterliche Präventivkontrolle beschneidet den Gesetzgeber nicht stärker in seinen Rechten als eine nachträgliche Normenkontrolle nach Inkrafttreten eines Gesetzes. Außerdem wäre durch eine solche Präventivkontrolle die Gefahr einer übermäßigen Haftung für legislatives Unrecht gebannt, da ein Gesetz bereits vor seinem Inkrafttreten auf seine Verfassungsmäßigkeit hin überprüft werden kann und nach einer solchen Überprüfung nur im Falle seiner Verfassungsmäßigkeit ausgefertigt und verkündet wird. Es bietet sich daher an, im Wege einer Verfassungsänderung eine präventive abstrakte Normenkontrolle einzuführen und so die Haftung für legislatives Unrecht auf die Fälle einzudämmen, in denen entweder ein verabschiedetes formelles Gesetz nicht einer vorbeugenden verfassungsgerichtlichen Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht zugänglich gemacht wurde und sich später als rechtswidrig erweist, oder in denen der Gesetzgeber unter Verstoß gegen eine ihm obliegende Handlungspflicht den Erlaß eines Gesetzes S. 81 ff; allerdings können hier nur Fragen der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern einer solchen Präventivkontrolle unterworfen werden. 86 Nach Art. 26 Abs. 1 der irischen Verfassung (Text abgedruckt in der dtv-Taschenbuchausgabe "Oie Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten", Stand 1987) kann der Staatspräsident eine Gesetzesvorlage, die vom Parlament angenommen wurde, nach Rücksprache mit dem Staatsrat an den Obersten Gerichtshof zur Entscheidung darüber verweisen, ob die Gesetzesvorlage mit der Verfassung vereinbar ist. 87 Nach Art 127 Abs. 2 der italienischen Verfassung von 1947 (Text abgedruckt in der dtvAusgabe "Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten", Stand 1987) ist auf Antrag der Regierung eine vorbeugende verfassungsgerichtliche Überprüfung eines regionalen Gesetzes, das durch ein Regionalparlament nach Ablehnung des Gesetzes durch die Regierung erneut verabschiedet wurde, möglich. Vgl. hierzu auch Cardosa da Costa, S. 81 ff. 88 In Spanien besteht nach Art. 95 Abs. 2 der spanischen Verfassung von 1978 die Möglichkeit, das Verfassungsgericht vor Abschluß eines völkerrechtlichen Vertrages mit dem Ziel anzurufen, die Frage der Verfassungswidrigkeit des völkerrechtlichen Vertrages zu klären (Text abgedruckt in der dtv-Textausgabe "Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten", Stand 1987). Vgl. hierzu auch Cardosa da Costa, S. 81 ff. 89 vgl. hierzu BVerfGE 1, S. 306, 413; BVerfGE 2, S. 143, 169; BVerfGE MaunzJ Schmidt-Bleibtreu/KleinJUIsamer, Kom. zum BVerfGG, § 78 Rdnr. 17. 90

vgl. hierzu BVerfGE

1, S. 372 ff, 404 ff; BVerfGE

2, S. 143 ff, 175 ff.

12, S. 281, 288;

48

1. Kapitel: Die Bedeutung des Rectsstaatsprinzips

unterläßt 91 Hier haben es die antragsbefugten Staatsorgane in der Hand, Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes bereits im Vorfeld nachzugehen und müssen sich daher, wenn sie diese Möglichkeit nicht wahrgenommen haben, einer Haftung für die Schäden, die durch ihre rechtswidrige Gesetzgebung verursacht wurden, unterwerfen.

vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 2.

2. Kapitel

Die Haftung des Staates für legislatives Unrecht nach Art 34 GG i. V. m. § 839 BGB Stand im 1. Kapitel die Frage im Vordergrund, ob der Rechtsstaat des Bonner Grundgesetzes eine Haftung für legislatives Unrecht postuliert, so soll nun im folgenden untersucht werden, ob das geltende positive Recht eine solche Haftung vorsieht Da für legislatives Unrecht keine besondere Haftungsregelung existiert, ist als mögliche Haftungsgrundlage in erster Linie die in Art. 34 GG i. V. m. § 839 BGB geregelte Amtshaftung heranzuziehen, die als "Zentralinstitut"1 des geltenden Staatshaftungsrechts gilt. Der Anspruch geht nicht auf Wiederherstellung des status quo ante oder eines vergleichbaren Zustandes (Folgenbeseitigung), sondern auf Schadensersatz in Geld. Zu den gesetzgebenden Körperschaften der Bundesrepublik Deutschland gehört neben dem Bundestag auch der Bundesrat Die Haftungsproblematik läßt sich jedoch auf die Haftung für die Abgeordneten des Bundestages reduzieren,2 weil dieser 1 2

vgl. etwa; Dagtoglou VerwArch 74, 345.

Die Ausführungen zu der Amtshaftung der Bundestagsabgeordneten gilt für die Abgeordneten der Länderparlamente entsprechend. Soweit die einzelnen Bundesländer nicht in ihren Verfassungen eine dem Art. 34 GG nachgebildete Amtshaftungsregelung in ihren Landesverfassungen vorsehen (vgl. hierzu Art. 97 der Bayerischen Landesverfassung, Art. 136 der Hessischen Landesverfassung oder Art. 128 der Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz), gilt hier die bundesrechtliche Regelung des Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB. Etwas komplizierter gestaltet sich jedoch die Rechtslage in den 5 neuen Bundesländern. Nach Art 9 Abs. 1 Satz 1, Art. 2 des Einigungsvertrages (BGBl I I 1990, S. 1239) i.V.m. Anlage I I Kapitel III Sachgebiet B: Bürgerliches Redit Abschnitt I I I Nr. 1 des Einigungsvertrages gilt das Staatshaftungsgesetz der DDR vom 12.5.1969 mit gewissen Modifikationen in diesen Bundesländern als Landesrecht fort (vgl. hierzu etwa Ossenbühl NJW 91, S. 1201 ff; Christof N V w Z 91, S. 536 ff; Lörler NVwZ 90, S. 830 ff). Dies bedeutet jedoch nicht, daß durch die landesrechtliche Weitergeltung des Staatshaftungsgesetzes der ehemaligen DDR in den neuen Bundesländern das Amtshaftungsrecht des Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB keine Anwendung findet; beide Haftungsinstiute gelten vielmehr nebeneinander, wie die Erläuterungen zum Einigungsvertrag ausdrücklich hervorheben (vgl. hierzu Anlage I Kapitel I I I Sachgebiet Β Abschnitt I I Nr. 1 zu Art. 232 § 10 und Christof NVwZ 91, S. 538; Ossenbühl NJW 91, S. 1207). In den neuen Bundesländern ist noch zu prüfen, ob diese auch aufgrund des Staatshaftungsgesetzes der ehemaligen DDR für rechtswidrige Gesetzgebungsmaßnahmen der Landtagsabgeordneten haften. § 1 Abs. 1 des DDR-Staatshaftungsgesetzes bestimmt, daß das jeweilige staatliche Organ oder die staatliche Einrichtung für Schäden, die einem Bürger oder seinem persönlichem Eigentum durch Mitarbeiter oder Beauftragte staatlicher Organe oder staatlicher Einrichtungen in Ausübung staatlicher Tätigkeit zugefügt werden, haftet (DDR GBl 11969, S. 34, geändert in DDR GBl 1 1988, S. 329). Ob dieser allgemein gehaltene Haftungstatbestand audi die Tätigkeit der Gesetzgebungsorgane umfaßt, ist umstritten. Lübchen NJ 69, S. 396 und Ossenbühl (Staatshaftungsgesetz), S. 398 weisen darauf hin, daß mit diesem Tatbestand nur das schadensstiftende Verhalten von Einzelpersonen umfaßt wird; demgegenüber gehen Lörler (Staatshaftungsrecht), S. 97 und Christof N V w Z 91, S. 539 offensichtlich davon aus, daß hauptamtlich tätige Parlamentsabgeordnete als Schadensverursacher in Betracht kommen. 4 Fetzer

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2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

als zentrales Gesetzgebungsorgan fungiert und ohne seine Tätigkeit die Schaffung von legislativem Unrecht undenkbar wäre. I. Der Meinungsstand in Rechtsprechung und Literatur Sowohl die verwaltungsrechtliche Literatur als auch die höchstrichterüche Rechtsprechung haben sich vielfach mit der Frage befaßt, ob die Haftung des Staates für rechtswidrige Parlamentsgesetzgebung eine positivrechtliche Grundlage im Amtshaftungstatbestand findet. Der Bundesgerichtshof vertritt inzwischen in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, daß die Abgeordneten des Bundestages bei ihrer Gesetzgebungstätigkeit keine drittgerichteten Amtspflichten gegenüber den einzelnen Bürgern wahrzunehmen haben, sofern es nicht um den Erlaß von Maßnahme- und Einzelfallgesetzen geht.3 Zur Begründung verweist der Bundesgerichtshof darauf, daß Gesetze grundsätzlich einen allgemeinen und abstrakten Charakter aufweisen, so daß der Gesetzgeber bei seiner Tätigkeit ausschließlich Aufgaben wahrnimmt, die ihm gegenüber der Allgemeinheit obliegen, nicht jedoch gegenüber bestimmten Personen, wie es zur Erfüllung des Amtshaftungstathestandes erforderlich ist Anders hege es bei den sogenannten Maßnahme- und Einzelfallgesetzen, die von vornherein nur einzelne Personen oder Personengruppen beträfen. Demgegenüber vertritt die heute ganz herrschende Meinung in der Literatur die Auffassung, daß dem Gesetzgeber bei seiner Tätigkeit die Amtspflicht obliegt, die grundrechtlich geschützten Rechtspositionen der einzelnen Bürger zu wahren, mit der Folge, daß wegen des Individualbezugs der Grundrechte beim Erlaß eines grundrechtswidrigen Gesetzes immer eine Verletzung drittgerichteter Amtspflichten vorliegt, 4 so daß bei Erfüllung der übrigen Tatbestandvoraussetzungen des Amts3 BGHZ 56, 40, 45 ff; BGHZ 84, 292, 300; BGHZ 87, 321, 335; BGH W M 73, 491,497; BGH VersR 75, 737, 738; BGH VersR 88, 85, 89 ff = NJW 88, 478, 482 = BGHZ 102, S. 350, S. 359 ff (Waldsterben); BGH VersR 88, 1046 = BB 88, 1701 = NJW 89, 101 (Investitionshilfeabgabe); vgl. auch OLG München NVwZ 86, 691, 693; OLG Köln NJW 86, 589, 591 beide zur Waldsterbensproblematik. 4 v. Arnim, S. 46 ff; Haverkate NJW 73,441,442 f; ders. ZRP 77,33,35; Oldiges Der Staat 15 (1976), S. 381, 389 f; Scheuing, FS für Bachof (1984), S. 343, 357; Schenke D V B L 75, 121, 125; ders. (Rechtsschutz), S. 90 ff; ders. NJW 88, 857, 862; ders. AgrarR 90, 184, 186; Schenke/Guttenberg DöV 91, S. 949; Fuss, Urteilsanmerkung, EuR 78, 353, 358; Maurer (Allg. VerwR), § 25 Rdnr. 51; Herdegen (Haftung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft) 1983, S. 62 ff; Kosmider (Staatshaftung fur Satzungsunrecht), Diss. 1983, S. 78 ff; Papier in M/D/H/S Kom. zum GG, Art 34 Rdnr. 179; ders. in Müko § 839 BGB Rdnr. 221; ders. D V B L 74, 577; Kimminich Jus 69, S. 354; Jacobs (Staatshaftungsrecht) 1982, Rdnr. 209; Langer N V w Z 87, 195, 197; Krüger ZBR 59, 407; Schmidt ZRP 87, 347; Speiser (Ersatzpflicht), Diss., S. 102 ff; Weber (Staatshaftung), Diss. S. 54 ff; Witte (Staatshaftung), S. 141 ff; Hackenbroth in Brinkmann GGKom. Art. 34 Amn. I 3 d; Frings (Amtshaftungsansprüche), Diss 1989, S. 56 f; Teschner (Amtshaftung), Diss. 1990, S. 54 ff; Blankennagel DVB1 81, 15, 21; BuschUnger DÖV 64, 797, 799; Jerusalem SJZ 50, Sp 1, 7; Scholz NJW 72, 1217 ff; Schock DÖV 63, 281, 286 (speziell auch zum Untätigbleiben des Gesetzgebers); ders. NJW 73, 1336, 1338; Mayer/Kopp (Allg. VerwR) § 56 V I S. 490; vgl. auch Forsthoff BB 60,1138; wohl auch Hamann/Lenz GG-Kom. Art 34 Anm.

. Die Tatbestandvoraussetzungen

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haftungstatbestandes ein Schadensersatzanspruch gegeben ist Der vom Bundesgerichtshof vertretene Standpunkt wird jedoch nach wie vor von einem Teil der Literatur geteilt5 Daneben wird in der älteren Literatur ein Amtshaftungsanspruch aus weiteren Gründen abgelehnt, wobei die Argumentation, die Parlamentsabgeordneten seien keine Amtsträger im Sinne des Amtshaftungstatbestandes6 sowie der Einwand, die Amtshaftung, die ihrem Sinn und Wesen nach auf die Haftung fur konkrete Amtshandlungen der Exekutive konzipiert sei, werde durch eine Ausdehnung auf den Bereich der legislativen Akte in ihrem Wesen verändert, 7 besonders hervorzuheben sind. Im folgenden sollen nun anhand der einzelnen Tatbestandmerkmale des Amtshaftungstatbestandes die vielfaltig vertretenen Meinungen näher erörtert und die Amtshaftungsproblematik bei rechtswidriger Parlamentsgesetzgebung einer geordneten Lösung zugeführt werden. Π. Die Tatbestandvoraussetzungen des Art 34 GG i. V. m. § 839 BGB 7. Der Abgeordnete als Amtsträger Ein Amtshaftungsanspruch setzt voraus, daß jemand in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes gehandelt hat. Mit diesem Tatbestandsmerkmal sollte der gesamte Bereich hoheitlichen Handelns in den Anwendungsbereich der Amtshaftung einbezogen werden, so daß prinzipiell nicht nur exekutives Handeln, sondern auch die Tätigkeit der Judikative und Legislative von der 5; 80 Anm. 5, Dohnold DÖV 91, 152; vgl. ferner auch Moller NJW 67, 2338 ff (Drittbezogenheit bei Verletzung der EMRK); in der Rspr.: LG Freiburg MDR 53, 564; OLG Tübingen M D R 53, 564. 5 Dagtoglou (Ersatzpflicht) S. 38 ff; ders. BK, Art 34 GG Rdnr. 432 f; Schock M D R 68, 186, 188; ders. DÖV 71, 446, 447; Detterbeck JA 9 1 , 1 , 1 1 Eckert, S. 87 ff; Wolff/Bachof (VerwR I) § 64 I b, S. 62 f; Jaenicke W D S t R L 20, 135, 149 f; Kreft-RGRK § 839 BGB Rdnr. 220; Palandt-Thomas § 839 BGB Rdnr. 19; Ossenbühl (Staatshaftungsrecht) § 7 S. 87 ff; Steinberg/Lubberger Aufopferung - Enteignung und Staatshaftung, S. 302; Bender (Staatshaftungsrecht) Rdnr. 652 ff; Traving, Diss. S. 145 ff; Menger VerwArchiv 63 (1972), S. 81, 84 ff; Soegel-Glaser § 839 BGB Rdnr. 97; Staudinger-Schäfer § 839 BGB Rdnr. 202; Boujong, FS für W. Geiger (1989), S. 433ff; Maunz in M/D/H/S Kom. zum GG (1971) Art. 34 Rdnr. 25; Drittrichtung ohne jede Ausnahme verneinend: Mondry (Gefahrdungshaftung), S, 165; Scheuner BB 60, 1256; Spengler TL 54, 693; Schock M D R 53, 515; keine drittgerichteten Amtspflichten beim Untätigbleiben des Gesetzgebers: Bettermann in Bettermann-Nipperdey-Scheuner: Die Grundrechte I I I 2, S. 839 f; a.A.: Schock DÖV 63,281,286. 6 Bettermann in Bettermann-Nipperdey-Scheuner: Die Grundrechte I I I 2, S. 836; Luhmann, S.127; Schock MDR 53, S. 515 f, der seine Ansicht jedoch später aufgab; Mondry (Gefahrdungshaftung) S.165; Eschenburg (Staat und Gesellschaft), S. 503; Pfennig (Begriff des öffentlichen Dienstes), S. 62. 7 Jaenicke (Haftung), S. 69 ff, 125; ders. W D S t R L 20,135,150; Eckert, S. 104 ff; Bender (Staatshaftungsrecht), Rdnr. 657; ähnlich auch Luhmann, S. 127; Stern W D S t R L 20,271.

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2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

Amtshaftung erfaßt wird. 8 Im folgenden soll nun die Frage geklärt werden, inwieweit die Abgeordneten des Bundestages ein öffentliches Amt im Sinne des Amtshaftungstatbestandes bekleiden. Wurde früher die Amtsträgerschaft von Parlamentsabgeordneten mit der Begründung verneint, das Parlament sei bloßes Gesellschafts- und kein Staatsorgan, 9 so ist diese Argumentation mit der Ablösung des Konstitutionalismus durch die parlamentarische Demokratie des Grundgesetzes und durch den damit einhergehenden Funktionswandel des Parlaments vom bloßen gesellschaftlichen Kontrollinstrument staatlicher Macht zum zentralen staatlichen Gesetzgebungsorgan überholt. Ebensowenig stichhaltig ist der vom früheren Schrifttum vorgebrachte Einwand, daß die Parlamentsabgeordneten kein Amt bekleiden würden, sondern nur ein (gesellschaftliches) Mandat innehätten,10 denn bereits das Grundgesetz spricht in Art. 48 Abs. 2 GG vom "Amt des Abgeordneten" und meidet den traditionsreichen Ausdruck "Mandat". Es finden sich im Grundgesetz keine Anhaltspunkte dafür, daß dem Begriff "Amt" innerhalb des Art 34 GG ein anderer Bedeutungsgehalt zukommen sollte als in Art. 48 Abs. 2 GG. Amtsträger im Sinne des Art. 34 GG ist nach allgemeiner Auffassung jede mit der Ausübung öffentlicher Gewalt betraute Person, ohne Beschränkung auf Beamte im beamtenrechtlichen Sinne.11 Der Parlamentsabgeordnete ist unter der Herrschaft des Grundgesetzes nicht mehr nur der Interessenvertreter der Gesellschaft gegenüber dem Staat, sondern Teil eines staatlichen Organs, da mit dem Untergang der Monarchie auch die bestehende Gegenüberstellung zwischen Gesellschaft (= Legislative) und Staat (=Exekutive) aufgehoben wurde.12 Dies ergibt sich auch unmittelbar aus Art. 20 Abs. 3 GG. Dort ist geregelt, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und in Form von Wahlen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung durch das Volk ausgeübt wird. Durch dieses Prinzip der Volkssouveränität ist der Gegensatz von Staat und Gesellschaft aufgehoben worden. Das Parlament übt nunmehr als Repräsentant des Volkes Staatsgewalt aus.13 Damit ist klargestellt, daß die Abgeordneten des Deutschen Bundestages als 8

vgl. hierzu Ossenbühl (Staatshaftungsrecht) § 6, S. 13.

9

vgl. hierzu: Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 12 f; Kelsen (Hauptprobleme der Staatsrechtslehre), S. 408 ff, 410 ff. 10 Tatarin-Tarnheyden in Anschütz-Thoma: Handbuch des deutschen Staatsrechts, 1930, S. 415 ff; Kelsen (Hauptprobleme der Staatsrechtslehre), S. 412; Bettermann in Bettermann-Nipperdey-Scheuner: Die Grundrechte I I I 2, S. 836; Pfennig, S. 62 ff; neuerdings: Stern (Staatsrecht I), S. 387; ders. W D S t R L 20, 271; Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kom. zum GG, Art 34 GG, Rdnr. 7. 11 hM: Maurer (Allg. VerwR), § 25 Rdnr. 13; Kreft-RGRK § 839 BGB Rdnr. 50; Papier in Müko, § 839 BGB Rdnr. 16 f, 110 f; Ruland, Der Staat 14 (1975), S. 466; Papier in M/D/H/S, GGKom. Art 34 Rdnr. 90 ff; RGZ 142,109,196 f; RGZ 151, 385,387; BGHZ 11,192,197. 12 13

vgl. Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 13.

vgl. hierzu auch: Ruland, Der Staat 14, S. 468; Speiser (Ersatzpflicht), S. 91; Eckert (Haftung des Staates), S. 86.

. Die Tatbestandvoraussetzungen

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Organwalter eines staatlichen Verfassungsorgans hoheitliche Aufgaben ausüben. Unerheblich ist hierbei, daß die Parlamentsabgeordneten bei ihrer Gesetzgebungstätigkeit als Kollegium und nicht als unabhängige Einzelpersonen tätig werden. Zwar knüpft die Amtshaftung an das Handeln des einzelnen Amtswalters an; der Amtshaftungstatbestand erlaubt aber keine Differenzierung danach, ob nur eine Einzelperson oder ein Kollegialorgan gehandelt hat. Dies ist in Rechtsprechung und Literatur auch einhellig anerkannt14 Dagegen bedarf die Frage, ob der Begriff des öffentlichen Amtes in Art 34 GG neben der Wahrnehmung einer anvertrauten öffentlichen Aufgabe auch die Existenz eines Dienstverhältnisses voraussetzt, einer näheren Prüfung. Zu klären ist auch, ob die in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verbürgte Weisungsunabhängigkeit der Parlamentsabgeordneten zu der Wertung zwingt, daß die Abgeordneten trotz allem kein Amt im Sinne des Amtshaftungstatbestandes bekleiden. a) Öffentliches Amt und Dienstverhältnis Einige Stimmen in der älteren Literatur neigen zu der Ansicht, daß die Abgeordneten nicht als Amtsträger im Sinne des Art 34 GG qualifiziert werden könnten, weil sie in keinem Dienstverhältnis zum Staat stünden.15 Aus dem Wortlaut des Art. 34 GG läßt sich jedoch nicht herleiten, daß nur bei einem bestehenden Dienstverhältnis von einem anvertrauten öffentlichen Amt gesprochen werden kann. Dem steht schon entgegen, daß ein Amt nicht nur durch ein vertragliches Anstellungs- oder Dienstverhältnis, sondern auch durch eine rein tatsächliche Heranziehung von Privatleuten (Beliehene, Verwaltungshelfer) anvertraut werden kann.16 Art 34 GG will dementsprechend durch die Formulierung " in deren Dienst er steht" erkennbar keine allgemeine Haftungsvoraussetzung normieren, sondern will nur klarstellen, daß diejenige Körperschaft, der der Amtswalter zugeordnet ist oder angehört, als Haftungssubjekt fungiert 17 Damit enthält diese Vorschrift ausschließlich eine Regelung der Passivlegitimation. Schließlich 14 Kosmider (Staatshaftung für Satzungsunrecht), S. 40, 41; Schenke DVB1 75, S. 124; Staudinger-Schäfer S 839 BGB Rdnr. 71; Röhder MDR 70, 7; Bender (Staatshaftungsrecht) Rdnr. 650; BGHZ 11,197; BGHZ 84,292,298 f. 15 Schock M D R 53, 515; Palandt-Thomas, BGB-Kom. 29. Aufl., § 839 Anm. 2 Β - beide Autoren haben in der Zwischenzeit ihre Auffassung revidiert; Mattern (Grundlinien), S. 16 f. 16 hM: vgl. etwa Dagtoglou BK Art 34 GG Rdnr. 79; v. MangoldtJKlein, Art 34 GG Amn. I I I 2 d, S. 832; Speiser (Ersatzpflicht), S. 92 ff.

Band II GG-Kom.

17 v. Arnim, S. 37; Papier in Müko § 839 BGB Rdnr. 307; Bender (Staatshaftungsrecht), Rdnr. 648; Ruland, Der Staat 14, S. 466.

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2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

wäre eine solche Differenzierung danach, ob ein Amtsträger in einem Dienstverhältnis zu seiner Körperschaft steht oder nur in einem Amtsverhältnis, willkürlicher Natur und weder nach dem Sinn und Zweck des Art 34 GG noch aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten gerechtfertigt, 18 denn vom Blickwinkel des geschädigten Bürgers aus betrachtet ist es völlig unerheblich, ob der hoheitlich tätig gewordene Amtsträger überhaupt in einem wirksamen Dienstverhältnis zu seiner Körperschaft steht. Diese Gesichtspunkte haben wohl auch die Rechtsprechung und Lehre dazu bewogen, die ehrenamtlichen Mitglieder einer kommunalen Vertretungskörperschaft 19 oder vom Staat mit hoheitlicher Gewalt beliehene Privatpersonen20 als Amtsträger im Sinne des Amtshaftungstatbestandes zu qualifizieren, obwohl diese in keinem Dienstverhältnis zum Staat stehen. b) Öffentliches Amt und Weisungsunabhängigkeit der Abgeordneten Auch die in Art 38 Abs. 1 Satz 2 GG verbürgte Unabhängigkeit der Bundestagsabgeordneten von Weisungen und Aufträgen bei der Ausübung ihrer parlamentarischen Tätigkeit steht dem Amtsveihältnis der Abgeordneten nicht entgegen. Der Amtshaftungstatbestand mag zunächst zwar auf die Tätigkeit der Exekutive mit ihrem hierarchisch gegliederten Behördenaufbau und den damit verbundenen Weisungsmöglichkeiten zugeschnitten gewesen sein.21 Bereits der Vorläufer des Art 34 GG, der Art. 131 WRV, erfuhr jedoch durch die Rechtssprechung eine extensive Auslegung.22 Zu den "Beamten" im Sinne des Art. 131 WRV wurden nicht nur die Mitglieder der revolutionären Arbeiter- und Reichsräte,23 sondern auch der Reichskanzler und die Reichsminister24 sowie der Reichspräsident25 gezählt Der Parlamentarische Rat setzte diese Entwicklung fort, indem er den Begriff "Beamter" in Art. 34 GG durch die Formulierung "jemand in Ausübung eines öffentlichen Amtes" ersetzte. Durch diese bewußt weitgefaßte Formulierung wird deutlich, daß der jeweilige Amtswalter, 18

BGHZ11,192,197

f, Speiser (Ersatzpflicht) S. 93.

19

vgl nur: BGHZ 11, 192, 197 f; BGH VersR 70, 1007 ff; BGHZ 84, 292, 298 f; Bender (Staatshaftungsrecht) Rdnr. 648. 20 BGHZ 49, 108 ff; Bender, Rdnr. 648; Beispiele für Beliehene: Schiffs- und Flugkapitäne, Jagdaufseher, Bezirksschonsteinfeger; Sachveständige des TÜV, Forsthüter, Fleischbeschauer. 21 Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 32; Eckert, S. 103 f; Jaenicke W D S t R L 20, 150; Stern W D S t R L 20,271; Schröder Jus 73, S. 359; Oldiges, Der Staat 15 (1976), S. 386. 22 vgl. Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 32; Oldiges, (Amtshaftung), S. 44 ff.

Der Staat 15, S. 386 f; Heidenhain

23

RGZ104, 260 ff; 346 ff; 362 ff.

24

RGZ 118, 325 ff; für Bundesminister vgl. BGHZ 14, S. 319,321; BGHZ 63, S. 319.

25

Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 32 m. w. N.

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

55

für dessen schädigendes Verhalten der Staat haftet, nicht in einem hierarchisch gegliederten Weisungsverhältnis stehen muß, wie dies ζ. B. bei Beamten im beamtenrechtlichen Sinne der Fall ist. Dieselbe Folgerung ergibt sich auch aus dem Wesen und der Zweckrichtung der Amtshaftung. Die Amtshaftung setzt beim Verhalten des jeweiligen Amtswalters an und verlagert dann die Haftung auf den Staat. Es handelt sich hierbei nicht um eine originäre Haftung des Staates, sondern um eine unechte Staatshaftung, die lediglich den handelnden Amtsträger von seiner persönlichen Haftung befreien will. Da nicht das Verhalten des Staates, sondern das seiner Amtswalter den haftungsbegründenden Tatbestand darstellt, kann es hier keine Rolle spielen, ob der Staat die Möglichkeit besitzt, durch Weisungen das Verhalten des betreffenden Amtswalters zu steuern. Die Begrenzung der Amtshaftung auf die Haftung für weisungsgebundene Amtsträger würde die Amtshaftung zu einer Eigenhaftung für Überwachungs- und Auswahlverschulden, ähnlich § 831 BGB umfunktionieren * Die Amtshaftung ist ihrem Wesen nach aber eine befreiende Schuldübernahme ßr fremdes Verschulden Ρ Nicht die Subsumierung der Abgeordneten unter den Amtsträgerbegriff des Art. 34 GG würde damit das Wesen der Amtshaftung verändern, sondern die Ausklammerung solcher weisungsfreier Amtsverhältnisse aus dem Amtshaftungstatbestand. Schließlich würde eine Ausklammerung der weisungsfreien Amtsträger aus dem Amtshaftungstatbestand eine rechtsstaatlich bedenkliche Haftungslage hervorrufen. Der Staat würde nur für diejenigen Amtswalter, deren Verhalten er durch Weisungen steuern kann und bei denen er so Schädigungen vermeiden kann, haften, nicht aber für diejenigen Amtsträger, bei denen er, da sie keinen Weisungen unterliegen, nicht die Möglichkeit besitzt, schädigendes Verhalten zu unterbinden. Demnach bleibt festzuhalten, daß die Weisungsunabhängigkeit der Bundestagsabgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nicht dazu zwingt, den Parlamentsabgeordneten die Amtsträgereigenschaft abzusprechen. Die Weisungsfreiheit entbindet die Abgeordneten nicht von ihrer Rechtsbindung. Gestützt wird dieses Ergebnis zudem durch § 839 Abs. 2 BGB, der auch den Spruchrichter als Amtsträger qualifiziert, obwohl dieser ebenfalls keinen Weisungen unterliegt (Art. 97 Abs. 1 GG).28 Auch in der Literatur und Rechtsprechung wird inzwischen nicht mehr bezweifelt, daß die Parlamentsabgeordneten ein Amt im Sinne des Amtshaftungstatbestandes bekleiden.29

26

so zutreffend Ruland, Der Staat 14, 469,470.

27

Bender (Staatshaftungsrecht), Rdnr. 389; Heidenhain, S. 43.

28

vgl. hierzu ausführlich Traving, S. 138 ff.

29 v. Arnim, S. 37 ff; Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 34 ff; Ossenbühl (Staatshaftungsrecht) § 6, S. 13; Bender (Staatshaftungsrecht), Rdnr. 649; Forsthoff BB 60, 1138; Haverkate NJW 73, 441; Herdegen (Haftung der EG), S. 61 ff; Jerusalem SJZ 50, Sp. 7; v. Mangoldt/Klän Band II, Art. 34

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2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

2. Verletzung einer Amtspflicht a) Begriff der Amtspflicht Weitere Voraussetzung für das Bestehen eines Amtshaftungsanspruches ist, daß die Parlamentsabgeordneten eine ihnen obliegende Amtspflicht verletzt haben. Zunächst bleibt festzuhalten, daß grundsätzlich jedes anvertraute öffentliche Amt mit bestimmten Amtspflichten verbunden ist. Unter Amtspflichten sind hier nicht die dem Staat im Außenverhältnis gegenüber seinen Bürgern obliegenden Rechtspflichten zu verstehen. Statt an dieses Außenrechtsverhältnis anzuknüpfen, orientiert sich die Amtshaftung vielmehr am Innenverhältnis der einzelnen Amtswalter (Beamten) zu ihrem Dienstherrn, dem Staat.30 Eine Verletzung von Amtspflichten hegt also immer dann vor, wenn ein Amtswalter die ihm aufgrund seines amtlichen Verhältnisses zum Staat diesem gegenüber obliegenden Amtspflichten verletzt. Diese Ausrichtung der Amtshaftung am Innenverhältnis stellt ein Relikt der überkommenen Eigenhaftung des Beamten dar. Da aber jeden Amtswalter gegenüber seinem Dienstherrn auch die Pflicht trifft, die Rechtspflichten, die dem Staat extern gegenüber seinen Bürgern obliegen, zu beachten, stellt eine Verletzung dieser externen Rechtspflichten in der Regel auch immer eine Amtspflichtsverletzung 31 dar. 32 Die für einen Amtshaftungsanspruch so bedeutsamen Amtspflichten sind weder in Art. 34 GG noch in § 839 BGB näher aufgeführt. Sie können aber aus allen denkbaren Rechtsquellen entnommen werden, wie ζ. B. dem Grundgesetz, den Bundes- und Landesgesetzen, den Rechtsverordnungen, den Satzun-

GG, S. 830; Maunz in M/D/H/S Art. 34 GG Rdnr. 16; Oldiges, Der Staat 15, S. 384; Schock NJW 63, 1338; ders. M D R 68, 188; ders. DÖV 71, 447; Schenke DVB1 75, 124; Scheuing FS Bachof (1984), S. 356; Jaenicke (Haftung) S. 125; Ruland, Der Staat 14, S. 466 f; Eckert, S. 85 ff; Speiser, S. 90 ff; Staudinger-Schäfer § 839 BGB Rdnr. 74; Witte, S. 119; S. 484; Soergel-Glaser § 839 BGB Rdnr. 97; OLG Hamburg DÖV 71,238, 239; BVerfGE 32,157,166. 30 vgl. hierzu Maurer (Allg. VerwR) § 25 Rdnr. 16; Ossenbühl (Staatshaftungsrecht), § 6, S. 38 ff; Bender (Staatshaftungsrecht), Rdnr. 484; Dagtoglou BK Art. 34 GG, Rdnr. 110; Dohnold DÖV 91,152. 31 Schenke (Rechtsschutz), S. 92; Maurer, § 25 Rdnr. 17; Teschner (Amtshaftung), S. 15; Dohnold DÖV 91,152; Papier in Müko § 839 BGB Rdnr. 166; Bender (Staatshaftungsrecht), Rdnr. 497; BGH NJW 79,642,643. 32 Etwas anderes gilt dann, wenn ein Amtswalter auf rechtswidrige Weisung seines Dienstherrn hin eine rechtswidrige Verfügung erläßt Hier handelt der Amtswalter nur nach außen hin rechtswidrig, jedoch intern amtspflichtgemäß. Der Dienstherr selbst hat aber durch die Erteilung einer rechtswidrigen Weisung eine Amtspflichtverletzung begangen, so daß der geschädigte Bürger nicht rechtlos gestellt ist Hätte der Amtswalter im vorliegenden Fall entgegen der rechtswidrigen Weisungen eine rechtmäßige Verfügung erlassen, dann wäre sein Handeln zwar rechtmäßig, aber amtspflichtwidrig. In diesem Falle könnte der Bürger aber trotzdem keinen Amtshaftungsanspruch geltend machen, weil es an einem Schaden fehlen dürfte.

. Die Tatbestandvoraussetzungen

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gen, dem Gewohnheitsrecht, den Verwaltungsvorschriften sowie den bereits angesprochenen Weisungen.33 Zum einen handelt es sich hierbei um allgemeine Amtspflichten ,34 die praktisch bei der Ausübung eines jeden Amtes zu berücksichtigen sind. Die allgemeinen Amtspflichten sind von der Rechtsprechung und Lehre im Laufe der Zeit näher herausgearbeitet worden. Daneben existieren auch spezielle Amtspflichten, die je nach Amt unterschiedlich ausgestaltet sind und sich aus bestimmten Einzelvorschriften ergeben.35 b) Amtspflichten der Abgeordneten Da die Parlamentsabgeordneten ein öffentliches Amt im Sinne des Amtshaftungstatbestandes bekleiden, und jedes Amt naturgemäß mit bestimmten Amtspflichten verbunden ist, bedeutet dies, daß auch den Abgeordneten Amtspflichten obliegen. Allerdings ist hier eine Differenzierung zwischen internen Amtspflichten und externen Rechtspflichten entbehrlich, da das Parlament im Innenverhältnis keinem "Dienstheim" im eigentlichen Sinne, sondern dem Staatsvolk selbst, das gemäß Art. 20 Abs. 3 GG die Staatsgewalt ausübt und sie den Abgeordneten anvertraut, verpflichtet ist.36 Hier besteht eine Kongruenz zwischen den internen Amtspflichten und den exteren Rechtspflichten, da das Staatsvolk zugleich als "Dienstherr" und als Summe der betroffenen Staatsbürger auftritt. Art 20 Abs. 3 GG bindet die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung. Art. 1 Abs. 3 GG verleiht den Grundrechten unmittelbare Geltungskraft gegenüber der Legislative. Dieser Bindung der Gesetzgebungsorgane korrespondiert eine entsprechende Amtspflicht der Abgeordneten als Mitglieder des zentralen Gesetzgebungsorgans "Bundestag".37 Daran ändert auch das in Art 38 Abs. 1 Satz 2 GG niedergelegte "freie Mandat" der Abgeordneten nichts. Mit der in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG geregelten Freistellung der "nur ihrem 33 Weber, S. 43; Meyer in v. Münch GG-Kom. Art 34 Rdnr. 48; Speiser, S. 82; Witte, S. 123 Fußnote 13; Schenke DVB1 75, 126; Papier in M/D/H/S GG-Kom. Art. 34 Rdnr. 147; Ossenbühl (Staatshaftungsrecht) § 6, S. 38. 34 Hierzu gehört ζ. B. die Amtspflicht zu rechtmäßigem Handeln, die Amtspflicht, die Grenzen der Zuständigkeit einzuhalten, die Amtspflicht zur fehlerfreien Ermessensausübung, die Amtspflicht, einen Antrag innerhalb einer angemessenen Frist zu bearbeiten, die Amtspflicht zur Schonung unbeteiligter Dritter, die Amtspflicht zu verhältnismäßigem Verhalten, die Amtspflicht zur Erteilung richtiger, vollständiger und klarer Auskünfte - vgl. hierzu Ossenbühl (Staatshaftungsrecht), § 6, S. 39 ff; Maurer (Allg. VerwR), § 25 Rdnr. 21. 35 Zu dieser Differenzierung zwischen allgemeinen und besonderen Amtspflichten vgl. auch Staudinger-Schäfer § 839 BGB Rdnr. 227 - 233; Jauernig-Teichmarm § 839 BGB Anm I I 1 b. 36 37

so zutreffend Witte, S. 141 Fußnote 62.

v. Arnim, S. 39; Weber, S. 46; Speiser, S. 98 ff; Haverkate NJW 73, 442, in: Isensee/ Kirchhof: Handbuch des Staatsrechts II, § 41 Rdnr. 22; a.A. Eschenburg, S. 510, der nur eine Pflicht der Abgeordneten zur Beachtung der Geschäftsordnung anerkennen will.

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2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

Gewissen unterworfenen" Abgeordneten von Bindungen an Aufträge und Weisungen soll nur gewährleistet werden, daß die Mitglieder des Parlaments vor Einflüssen (Wählergruppen, Wirtschaftverbänden etc.) geschützt werden, die von der Verfassung nicht vorgesehen oder nicht gewünscht sind.38 Die in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG getroffene Regelung besagt aber nicht, daß die Abgeordneten nur moralischen oder ethischen Pflichten unterworfen sind, sondern beinhaltet eine Rechtspflicht zur Beachtung der Verfassung nach bestem Wissen und Gewissen.39 Im übrigen ist hier auf die verfassungsrechtlich verbürgte Unabhängigkeit der Richter (Art 97 Abs. 1 GG) zu verweisen. Auch die Richter sind unabhängig und keinen Weisungen und Aufträgen, sondern nur dem Recht und Gesetz unterworfen, gleichwohl stellt § 839 Abs. 2 BGB klar, daß auch diesem Personenkreis bestimmte Amtspflichten obliegen, deren Verletzung zu einer Amtshaftung führen kann. Für die Abgeordneten des Bundestages kann nichts anderes gelten. Die dem Abgeordneten von der Verfassung auferlegten Amtspflichten sollen im folgenden näher bestimmt werden. Die Verfassung ist aber nicht die einzige Rechtsquelle, aus der sich Amtspflichten ergeben können, die von den Bundestagsabgeordneten zu beachten sind. Da die Bundesrepublik Mitglied der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Menschenrechtskonvention ist, ergeben sich weitere Amtspflichten für den deutschen Gesetzgeber. Auch auf diese Amtspflichten soll im folgenden näher eingegangen werden. aa)Amtspflichtverletzung

beim Erlaß eines Gesetzes

(1) Amtspflicht zur Beachtung der Bestimmungen des Grundgesetzes Die Pflichten der Abgeordneten als Organwalter des Kollegialorganes "Parlament" bestehen darin, bei ihrer Gesetzgebungstätigkeit die Verfassung und sonstiges höherrangiges Recht zu wahren. Die Amtspflichten beziehen sich daher darauf, Gesetze in formeller und materieller Hinsicht im Einklang mit den Verfassungsbestimmungen zu verabschieden und dabei insbesondere die durch die Verfassung gewährleisteten Grundrechte zu beachten (Art. 20 Abs. 3, Art 1 Abs. 3 GG).40 38 Maunz in M/D/H/S GG-Kom. Art. 38 Rdnr. 17; Speiser, S. 98; Schenke DVB1 75, 125; Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 36 ff. 39 Traving, S. 140; v. Mangoldt/Klän GG-Kom. Art 38 GG Rdnr. 17.

Art 38 GG, S. 889 Anm I V 4 a; Maunz in M/D/H/S

40 Dagtoglou BK Art. 34 GG Rdnr. 432; ders. (Ersatzpflicht), S. 36 f; Maurer (Allg. VerwR) § 25 Rdnr. 51; Eckert, S. 88; Witte, S. 123; Haverkate NJW 73, S. 442; v. Arnim S. 39; Traving S. 142; Oldiges, Der Staat 15, S. 384 ff; Schock MDR 68,188; Scheuing FS Bachof, S. 357.

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

59

Die Vetfassungsbindung des Gesetzgebers wird zwar angesichts der inhaltlichen Weite und Unbestimmtheit einzelner Verfassungsnormen nicht den Grad an Eindeutigkeit erreichen, den zum Beispiel die Gesetzesbindung der Exekutive erzielen kann, und ist deshalb in größerem Maße auf eine Verfassungsinterpretation angewiesen. Es darf aber nicht außer acht gelassen werden, daß das Bundesverfassungsgericht und die hL die Verfassung und insbesondere die Grundrechte weitgehend durch Auslegung konkretisiert haben. Zudem wird dem Gesetzgeber ein erheblicher politischer Gestaltungsspielraum zugebilligt.41 Die Verfassungsbindung der Abgeordneten darf deshalb nicht mit dem Hinweis auf die Unbestimmtheit der Verfassung entsprechend den politischen Bedürfnissen gelockert werden.42 Der Gedanke, daß sich die den Abgeordneten bzw. dem Parlament obliegenden Amtspflichten grundsätzlich nur aus der Verfassung ergeben können, § 839 BGB als einfachgesetzliche Norm aber den Gesetzgeber nicht zu verfassungsgemäßem Verhalten verpflichten könne, veranlaßte einige Autoren zu der Folgerung, daß ein Amtshaftungsanspruch in diesen Fällen ausscheiden müsse43 Dem Gesetzgeber könnten hier keine Amtspflichten im Sinne des Amtshaftungstatbestandes obliegen. Daran ändere auch die verfassungsrechtliche Bestimmung des Art. 34 GG nichts, denn diese Regelung bezwecke weder ihrem Wortlaut noch ihrer systematischen Stellung nach, den Gesetzgeber zur Einhaltung der Verfassung zu zwingen.44 Diese Autoren wählen jedoch einen falschen Ausgangspunkt. Die Amtspflichten, die ein Amtswalter bei der Ausübung seines Amtes zu beachten hat, sind weder in Art. 34 GG noch in § 839 BGB näher geregelt, sondern ergeben sich vielmehr aus allen denkbaren Rechtsquellen einschließlich der Verfassung und des Völkerrechts.45 Der Amtshaftungstatbestand regelt nur die haftungsrechtlichen Folgen für die Verletzung der in anderen Normen begründeten Amtspflichten. (2) Amtspflicht zur Beachtung der Bestimmungen des Rechts der Europäischen Gemeinschaften Die Amtspflichten der Abgeordneten beziehen sich nicht nur auf die Einhaltung der Verfassungsbestimmungen. Im Zeitalter der Europäischen Integration spielt vielmehr auch das Recht der Europäischen Gemeinschaften - Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), Europäische Gemeinschaft für Kohle 41

vgl. etwa Stein (Staatsrecht), § 18 I I I 2, S. 156.

42

so aber Schröder (Parlamentsrecht), S. 303.

43

Menger VerwArchiv 49 (1958), S. 379; Schröder Jus 73, 359.

44

Mengen Schröder.

45

Weber, S. 43; Meyer in v. Münch GG-Kom. Art 34 Rdnr. 48; Speiser, S. 82; Witte, S. 123 Fußnote 13; Schenke DVB175, S.126; Papier in M/G/H/S GG-Kom. Art 34 Rdnr. 147.

60

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

und Stahl (EGKS) und Europäische Atomgemeinschaft (Euratom)- eine wichtige Rolle. Das Europäische Gemeinschaftsrecht stellt eine eigene Rechtsordnung mit originärer Hoheitsgewalt dar,46 die auf dem Boden der Mitgliedstaaten gilt 4 7 Soweit das Europäische Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten unmittelbare Geltung beansprucht, besteht die Möglichkeit einer Kollision mit nationalen Rechtsnormen. Dabei ist der Konflikt zwischen dem nationalen Recht und dem Europäischen Gemeinschaftsrecht zugunsten des letzteren zu lösen. Die europäische Rechtsordnung ist den nationalen Rechtsordnungen der EGMitgliedstaaten zwar nicht übergeordnet,48 die Gemeinschaftsrechtsordnung genießt aber, sofern sie unmittelbare Geltung in den Mitgliedstaaten beansprucht, Vorrang vor den nationalen Rechtsordnungen. 49 Dieser Vorrang erstreckt sich nicht nur auf das in den drei Gründungsverträgen der Europäischen Gemeinschaften enthaltene unmittelbar wirksame primäre Gemeinschaftsrecht ,50 sondern auch auf das nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaften verabschiedete unmittelbar wirksame sekundäre Gemeinschaftsrecht 51 jeder Stufe 52 und gilt gegenüber nationalem Recht jeder Form und Stufe, also auch gegenüber den Verfassungsbestimmungen der EGMitgliedstaaten.53 Die Vonangswirkung entfaltet sich unabhängig davon, ob die entgegenstehende nationale Norm schon vor Entstehung des Gemeinschaftsrechts existierte oder erst später erlassen wurde.54 Sie bewirkt zwar nicht

46 vgl. hierzu Oppermarm (Europarecht), Rdnr. 525; Nicctaysen (Europarecht I), S. 30; Ossenbühl (Staatshaftungsrecht), S. 410; Much in Mosler (Haftung des Staates), S. 724; Zuleeg in von der Groeben/Thiesing/Ehlermann Kom. zum EWGV, Art 1 Rdnr. 29; EuGHE 64, S. 1251, 1269; EuGHE 69, S. 1,14; EuGHE 70, S. 1125,1135 ff. 47

BVerfGE 48

BVerfGE

Zuleeg; EuGHE 64, S. 1251, 1269; EuGHE 69, S. 1, 14; EuGHE 70, S. 1125, 1135 ff; 22, S. 293,296 f; BVerfGE 31, S. 145,173 f. Zuleeg, Art 1 EWGV Rdnr. 38; Pestalozzi DVB1 74, S. 717; Di Fabio NJW 90, S. 951; 37, S. 271,278.

49 Nicolaysen, S. 39 ff; Zuleeg, Art. 1 EWGV Rdnr. 37; Grabitz Kom. zum EWGV Art. 189 Rdnr. 27; Bleckmann (Europarecht) Rdnr. 751 ff; Aubin (Haftung der EWG), S. 32 ff; Oppermarm (Europarecht), Rdnr. 525,528; Runge (Recht der Europäischen Gemeinschaften), S. 146 ff; EuGHE 64, S. 1251, 1270; EuGHE 69, S. 1, 14; EuGHE 70, S. 1125, 1135 ff; EuGHE 78, S. 629, 644; BVerfGE 73, S. 339 ff; Everling DVB185, S. 1201 ff. 50 Oppermarm, Rdnr. 525; Aubin (Haftung der EWG), S. 33; EuGHE 64, S. 1251 ff, 1269 ff; EuGHE 78, S. 629 f, 644 ff; Zuleeg, Art. 1 EWGV Rdnr. 37. 51 Oppermarm, Rdnr. 525 ff; Nicolaysen, S. 39 ff; Aubin, S. 32 ff; Lenz (Bundesrepublik Deutschland als Glied der Europäischen Gmeinschaften), S. 18 ff; EuGHE 64, S. 1269 ff; EuGHE 78, S. 644 ff. 52

Oppermarm, Rdnr. 541.

53

EuGHE 64, S. 1251, 1270; EuGHE 69, S. 1, 14; EuGHE 70, S. 1125, 1136; EuGHE 78, S. 629,644; Oppermarm, Rdnr. 525, 528; Nicolaysen, S. 43; Aubin , S. 32 ff; Bleckmann, Rdnr. 752. 54 Aubin , S. 32; Oppermarm, Rdnr. 528; Nicolaysen, S. 40; EuGHE 64, S. 1251 ff, 1269 ff; EuGHE 78, S. 629,644.

. Die Tatbestandvoraussetzungen

61

die Nichtigkeit der entgegenstehenden innerstaatlichen Nonnen, schließt jedoch deren Anwendbarkeit aus.55 Die Mitgliedstaaten sind nach Art: 5 Abs. 2 EWGV und dem gleichlautenden Art. 192 Abs. 2 EAGV verpflichtet, den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht anzuerkennen und bei ihrer nationalen Gesetzgebung das vorrangige Gemeinschaftsrecht zu beachten, denn sie haben nach diesen Bestimmungen alles zu unterlassen, was die Verwirklichung der Vertragsziele gefährden könnte.56 Es würde aber eine Gefährdung der Verwirklichung der Vertragsziele bedeuten, wenn jeder Mitgliedstaat durch seine nationale Gesetzgebung das Gemeinschaftsrecht unterlaufen könnte. Art. 86 Abs. 2 EGKSV enthält eine den Art. 5 Abs. 2 EWGV und Art 192 Abs. 2 EAGV vergleichbare Regelung, so daß alle drei Europäischen Gemeinschaften ihren Mitgliedstaaten die Veipflichtung auferlegen, eine Gefahrdung der Vertragsziele zu unterlassen. Die Veipflichtung zur Beachtung des Europäischen Gemeinschaftsrechts geht sogar soweit, daß die Mitgliedstaaten kein Gesetz verabschieden dürfen, wenn ihnen bekannt ist, daß die EG-Organe für die betreffende Materie eine EG-Richtlinie erlassen wollen.57

Damit steht fest, daß sich nicht nur aus den Bestimmungen des Grundgesetzes Amtspflichten ergeben, die die Abgeordneten des deutschen Bundestages bei der Verabschiedung eines Gesetzes zu beachten haben, sondern daß sich solche Amtspflichten auch aus dem unmittelbar wirksamen Recht der Europäischen Gemeinschaften ergeben können.58 Dies hat zur Folge, daß nicht nur der Erlaß eines verfassungswidrigen Gesetzes, sondern auch die Verabschiedung eines gemeinschaftsrechtswidrigen Gesetzes einen Anwendungsfall des legisla tiven Unrechts darstellt,59 für den nach den Grundsätzen der Amtshaftung gehaftet wird. Es spielt hieibei keine Rolle, daß gemeinschaftsrechtswidrige Gesetze keineswegs nichtig, sondern nur unanwendbar sind,60 denn entscheidend ist nicht die Rechtsfolge, die die Rechtswidrigkeit eines Gesetzes nach sich zieht. Maßgebend ist vielmehr ausschließlich die Tatsache, daß ein gemeinschaftsrechtswidriges Gesetz den gesetzestreuen Bürger in seinen Rechtspositionen verletzt und ihm hierdurch einen unmittelbaren Schaden verursacht Im 55 Daig EuR 70, S. 30; Ipsen (Europäisches Gemeinschaft), S. 288; Aubin , S. 32; Oppermann, Rdnr. 540; Zuleeg, Art 1 Rdnr. 40; Bleckmann, Rdnr. 752; EuGHE 68, S. 363 ff, 373; etwas mißverständlich EuGHE IS, S. 629 ff, 644; Pestalozzi DVB1 74, S. 717. 56 Grabitz, Art 5 EWGV Rdnr. 14, Bleckmann in von der Groeben/Thiesing/Ehlermann Kom. zum EWGV Art 5 Rdnr. 5; Lenz, S. 18 ff; EuGHE 64, S. 1251,1269 ff. 57 vgl. hierzu Bleckmann in von der Groeben/Thiesing/Ehlermann Kom. zum EWGV Art. 5 Rdnr. 17 m. w. N. 58

vgl. hierzu Jarass NJW 91, S. 2669; vgl. auch Pernice NVwZ 90, S. 425.

59

vgl. etwa OLG Köln EuZW 91, S. 574 f mit Anm. von Meier, Millarg ZRP 77, S. 224 ff.

60 so aber Aubin, S. 78, der fälschlicherweise davon ausgeht, daß ein gemeinschaftsrechtswidriges Gesetz mangels Nichtigkeit im innerstaatlichen Bereich nicht rechtswidrig ist, so daß eine Haftung wegen Schaffung legislativen Unrechts nicht in Betracht komme.

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

62

übrigen unterscheidet sich hier die Sachlage trotz der unterschiedlichen Rechtsfolge nicht von der Situation bei einem verfassungswidrigen Gesetz. Ein gesetzestreuer Bürger wird ein verfassungswidriges Gesetz trotz seiner Nichtigkeit so lange befolgen, bis das Bundesverfassungsgericht sein Verwerfungsmonopol ausgeübt und das betreffende Gesetz für nichtig erklärt hat. Bei einem gemeinschaftsrechtswidrigen Gesetz wird der gesetzestreue Bürger ebenfalls dem Gesetzesbefehl so lange Folge leisten, bis die Rechtswidrigkeit dieses Gesetzes festgestellt ist. Die Prüfungs- und Verwerfüngskompetenz steht hier jedem im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufenen Gericht zu,61 wobei die Feststellung der Rechtswidrigkeit nur zwischen den beteiligten Prozeßparteien wirkt. Eine weitreichendere Wirkung kommt allerdings dem Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 169, 170, 171 EWGV, Art 141, 142, 143 EAGV und dem vergleichbaren Verfahren nach Art 88, 89, 90 EGKSV zu, in denen der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zwar einen gemeinschaftsrechtswidrigen nationalen Akt nicht für nichtig erklären kann, jedoch verbindlich feststellen kann, daß ein Mitgliedstaat durch eine bestimmte Maßnahme gegen seine Vertragspflichten verstoßen hat, also eine verbindliche Norm des europäischen Gemeinschaftsrechts nicht beachtet hat.62 Das Urteil des Gerichtshofs beansprucht Verbindlichkeit gegenüber allen staatlichen Organen des betroffenen Mitgliedstaates,63 die verpflichtet sind, den Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht zu bereinigen. Allerdings kann ein Vertragsverletzungsverfahren nicht durch Privatpersonen eingeleitet werden. Auch die Judikatur des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften bestätigt, daß die Verabschiedung eines gemeinschaftsrechtswidrigen Gesetzes, das bei den betroffenen Bürgern einen unmittelbaren Schaden hervorruft, einen Amtshaftungsanspruch auslösen kann. Der Gerichtshof hat nämlich bereits mehrfach die Forderung aufgestellt, daß der Rechtsschutz des betroffenen Bürgers, der sich auch bei mitgliedschaftlichen Verletzungen des unmittelbar wirksamen Gemeinschaftsrechts nach nationalem Recht richtet,64 so ausgestaltet sein muß, daß Klagen wegen Verletzung des unmittelbar wirksamen Gemeinschaftsrechts nicht ungünstiger gestellt werden dürfen als gleichartige Klagen gegen Verletzungen des nationalen Rechts65 und daß die nationalen Regeln die « Everiing S. 145 ff. 62

DVB1 85, S. 1201; Aubin, S. 79; EuGHE 78, S. 629 f, 644 f; BVerfGE

31,

vgl. hierzu Bleckmann (Europarecht), Rdnr. 514.

63

vgl. hierzu MiUarg ZRP 77, S. 225; Daig in von der Groeben/Thiesing/Ehlermann Kom. zum EWGV Art. 171 Rdnr. 4. 64 65

EuGHE 76, S. 1989 ff, 1998 f, EuGHE 76, S. 2043 ff, 2053.

EuGHE 76, S. 1998 f; EuGHE 76, S. 2053; EuGHE 80, S. 501 ff, 522 f; EuGHE 80, S. 1205,1226; RIW/AWD 81, S. 111 f, EuGHE 80, S. 2259,2274; EuGHE 83, S. 3595.

. Die Tatbestandvoraussetzungen

63

Ausübung der Rechte, die die nationalen Gerichte zu schützen verpflichtet sind, nicht unmöglich machen dürfen«Eine Verletzung des Europäischen Gemeinschaftsrechts muß somit gleichermaßen eine Schadensersatz auslösende Amtspflichtverletzung darstellen wie eine Verletzung von Verfassungsbestimmungen. Die Bundesrepublik Deutschland ist daher verpflichtet, dem einzelnen Bürger unter Beachtung des Gebotes des effektiven Rechtsschutzes und des Gleichheitsgebotes aufgrund des Amtshaftungstatbestandes Wiedergutmachung für den durch die Verletzung des Gemeinschaftsrechts hervorgerufenen Schaden zu leisten.67 Neuerdings ist der Gerichtshof in seinem wegweisenden Urteil vom 19.11.1991 allerdings noch einen Schritt weitergegangen, indem er sich bei gemeinschaftsrechtswidrigen Maßnahmen nicht mehr nur mit einer Wiedergutmachung nach nationalem Recht begnügt, sondern zudem eine gemeinschaftsrechtliche Haftung konzipiert hat, die er dem ungeschriebenen Gemeinschaftsrecht entnimmt® Der Gerichtshof hat hierbei betont, daß es ein Grundsatz des Gemeinschaftsrechts ist, daß die Mitgliedstaaten zum Ersatz von Schäden verpflichtet sind, die den einzelnen Bürgern durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, die diesen Staaten zuzurechnen sind.69 Dabei differenziert der Gerichtshof nicht zwischen den Verstößen der Exekutive und der Legislative gegen das Gemeinschaftsrecht, sondern bringt durch die allgemein gehaltenen Entscheidungsgründe zum Ausdruck, daß jeder Verstoß gegen die Gemeinschaftsrechtsordnung einen Entschädigungsanspruch auslöst, sofern er die vom Gerichtshof aufgestellten Haftungsvorausetzungen erfüllt. 70 Lediglich die Art des Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht soll im Hinblick auf die Haftungsvoraussetzungen von Bedeutung sein.71 Die einzelnen Haftungsvoraussetzungen hat der Gerichtshof noch nicht generell festgelegt, sondern sie nur für den Fall der Nichtumsetzung einer EG-Richtlinie näher umrissen. Die Behebung der Folgen des verursachten Schadens soll sich mangels einer ausdrücklichen gemeinschaftsrechtlichen Regelung im Hinblick auf die Modalitäten der Haftung nach dem jeweiligen nationalen Haftungsrecht richten. 72Dabei dürfen dit formellen und materiellen Voraussetzungen im nationalen Haftungsrecht der Mitgliedstaaten nicht ungünstiger ausgestaltet sein als bei ähnlichen Klagen, die nur nationales Recht betreffen, und dürfen auch nicht so ausgestal66 EuGHE 76, S. 1998 f; EuGHE 76, S. 20, 53; EuGHE 80, S. 522 f; EuGHE 80, S. 1226; EuGHE 80, S. 2574 ff; EuGHE 85, S. 3595. 67

vgl. hierzu Aubin, S. 48; Blecbmmn DVB176, S. 486.

68

EuGH ZIP 91, S. 1610,1613, vgl. auch Anm. von Meier RIW/AWD 92, S. 245, 246.

69

EuGHZlP91,

70

vgl. hierzu auch Hailbrormer

™ 7 2

S. 1613. JZ 92, S. 289.

EuGH ZW 91, S. 1613. EuGH ZIP 91, S. 1614; vgl. auch Anm. von Meier RIW/AWD 92, S. 246.

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

64

tet sein, daß sie die Erlangung einer Entschädigung praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren ,73 Zusammenfassend bleibt also festzuhalten, daß auch wenn der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften die Anspruchsgrundlage für eine Haftung für jegliche Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht neuerdings nicht mehr dem nationalen, sondern dem Gemeinschaftsrecht entnimmt, dies nichts daran ändert, daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes die materiellen Voraussetzungen des deutschen Amtshaftungstatbestandes so gestaltet sein müssen, daß sie nicht nur eine Haftung für Schäden vorsehen, die durch verfassungswidrige Gesetze hervorgerufen werden, sondern auch eine Haftung für Schäden, die durch gemeinschaftsrechtswidrige Gesetze verursacht werden.74 Die Rechtsprechung des Gerichtshofes bestätigt somit implizit, daß auch das unmittelbar wirksame Europäische Gemeinschaftsrecht den Abgeordneten des Deutschen Bundestages Amtspflichten auferlegt, die diese bei ihrer Gesetztätigkeit zu beachten haben. Allerdings entfeiten nicht alle Bestimmungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts unmittelbare Wirkung in den EG-Mitgliedstaaten. Vielmehr kommt nur denjenigen Nonnen des Gemeinschaftsrechts, die sich ihrem Wesen, ihrer Struktur und ihrem Inhalt nach dazu eignen, unmittelbare Geltung in den Mitgliedstaaten zu.75 Den EG-Organen stehen zwei verschiedene Rechtssetzungsakte zur Verfügung: die EG-Verordnungen und die EG-Richtlinien (im EGKSV: allgemeine Entscheidungen bzw. Empfehlungen). Bezüglich der Verordnungen ergibt sich bereits aus den Bestimmungen der Art. 189 Abs. 2 EWGV, Art 161 Abs. 2 EAGV und des Art. 14 Abs. 2 EGKSV eine unmittelbare Wirkung im nationalen Recht der Mitgliedstaaten. Die von den EG-Organen erlassenen Richtlinien, die nach Art. 189 Abs. 3 EWGV, Art 161 Abs. 3 EAGV und Art. 14 Abs. 3 EGKSV nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich sind, die Wahl der Mittel und der Form der Durchführung jedoch den Mitgliedstaaten überlassen, entfalten nach dem Wortlaut der betreffenden Bestimmungen erst dann unmittelbare Wirkung in den Mitgliedstaaten, wenn die nationalen Stellen tätig geworden sind. Trotzdem wird den Richtlinien vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in ständiger Rechtsprechung auch ohne Umsetzung ins nationale Recht unmittelbare Wirkung zugebilligt, wenn sie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen. 76 Die un7 3

EuGHTlP 91, S. 1614.

74

vgl. hierzu auch Fischer EuZW 92, S. 41, 44; Pieper IWB Nr. 7 vom 10. 4. 92, Fach 5 Europäische Gemeinschaften Gruppe 1, S. 53. 75 vgl. etwa EuGHE 68, S. 215 ff, 230 ff; Nicolaysen, S, 33 ff; Aubin, S. 32 ff; vgl. auch Oppermann, Rdnr. 536 ff. 7 6 EuGH ZIP 91, S. 1610, 1611; EuGH EuZW 91, S. 26, 27; EuGHE 82, S. 53 ff; EuGHE 86, S. 723, 749; vgl. auch Mögele BayVBl 89, S. 582; vgl. auch Lenz DVB1 90, S. 908 f; Pieper DVB190, S, 685 f.

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

65

mittelbare Wirkung beschränkt sich in diesen Fällen jedoch darauf, daß die einzelnen Marktbürger sich auf subjektive öffentliche Rechte, die ihnen durch eine nicht umgesetzte Richtlinie zugesprochen werden, berufen können, eröffnet aber nicht den nationalen Behörden die Möglichkeit, sich zu Lasten der Bürger auf eine Richtlinie zu berufen. 77 Vergleichbares gilt für die von den EG-Organen nach Art. 189 Abs. 4 EWGV, Art. 161 Abs. 4 EAGV und Art. 14 Abs. 4 EGKSV an die Mitgliedstaaten gerichteten und von diesen nicht umgesetzten einzelfallbezogenen Entscheidungen (im EGKSV: individuelle Entscheidungen),78 die keine Rechtssetzungsakte darstellen. Auch zahlreiche Bestimmungen des primären Gemeinschaftsrechts entfalten nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften unmittelbare Wirkung in den EG-Mitgliedstaaten.79 Das Recht der Europäischen Gemeinschaften kennt somit zahlreiche Vorschriften, die unmittelbare Wirkung in den Mitgliedstaaten entfalten und vom nationalen Gesetzgeber bei seiner Gesetzgebungstätigkeit zu beachten sind. (3) Amtspflicht zur Beachtung der Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention Die Europäische Menschenrechtskonvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag ,80 der von der Bundesrepublik Deutschland mitunterzeichnet wurde. Sie begründet völkerrechtliche Verpflichtungen zwischen den Unterzeichnerstaaten und gewährt mit ihrem Inkrafttreten als völkerrechtlicher Vertrag allen der Herrschaftsgewalt der Unterzeichnerstaaten unterliegenden Personen die in Art. 1 der Konvention genannten subjektiven Rechte und Freiheiten. 81 Daneben die Europäische Menschenrechtskonvention in allen Mitgliedstaaten mit Ausnahme von Großbritannien, Irland, Schweden, Norwegen, Dänemark, Island, Malta, Spanien und Portugal auch als innerstaatliches Recht. 82 In der Bundesrepublik sind die Rechtsätze der Europäischen Menschenrechtskonvention 77 EuGH EuR 88, S. 391, 392 ff; EuGH EuZW 91, S. 26, 27; EuGHE 82, S. 53 ff; EuGHE 86, S. 1651 ff, 1691; EuGHE 86, S. 723,748. 78 Oppernumn, Rdnr. 537, Rdnr. 466; Mögele BayVBl 89, S. 583; EuGHE 70, S. 825, 838; Lenz DVB190, S. 909. 79

Oppernumn, Rdnr. 537; Nicolaysen (Europarecht I), S. 36; EuGHE 63, S. 2; EuGHE 66,

S. 258. 80 Stern (Staatsrecht Bd I I I / l ) , § 62 I I I 6, S. 277; Ulsamer in Frowein/Ulsamer (Europäische Menschenrechtskonvention), S. 35; Frowein/Peukert Kom. zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Einführung Rdnr. 4; Oppermann, Rdnr. 69; Guradze (Europäische Menschenrechtskonvention), S. 11 ; Frowein Jus 86, S. 847, BGH NJW 66, S. 727. 81 82

Frowein Jus 86, S. 846; Stern, S. 279.

Stern, S. 279; Frowein Jus 86, S. 847; Frowein/Peukert, Einführung Rdnr. 6; Ress in Maier (Europäischer Menschenrechtsschutz), S. 260 ff; Schmidt (Rang), 1984. 5 Fetzer

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

66

durch ein Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG zum Bestandteil der innerstaatlichen Rechtsordnung geworden.83 Dadurch sind insbesondere die in Art. 1 EMRK genannten subjektiven Rechte innerstaatlich geltendes Recht geworden.84 Für die Frage, ob die Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention auch dem deutschen Gesetzgeber Amtspflichten auferlegen, die dieser beim Erlaß eines Bundesgesetzes zu beachten hat, ist zwischen der völkerrechtlichen Verbindlichkeit und der innerstaatlichen Geltung der Europäischen Menschenrechtskonvention zu unterscheiden. In völkerrechtlichen Hinsicht ist die Staatsgewalt in all ihren Formen gemäß Art 1 EMRK an die Beachtung der Konventionsrechte gebunden, so daß auch eine Pflicht des nationalen Gesetzgebers zum Erlaß von Gesetzen besteht, die mit der Konvention in Einklang stehen.85 Eine völkerrechtliche Verletzung der in Art. 1 EMRK genannten subjektiven Rechte durch den Erlaß eines konventionswidrigen nationalen Gesetzes kann im Rahmen der Individualbeschwerde nach Art 25 EMRK geltend gemacht werden, falls der betreffende Staat seine Zustimmung zu Art. 25 und Art. 46 EMRK nicht zurückzieht bzw. die meist für die Dauer von 3 bis 5 Jahren abgegebene Zustimmung erneuert.86 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kann die angegriffenen nationale Akte zwar nicht aufheben, der betreffende Staat ist aber, falls der Gerichtshof eine Verletzung der garantierten Rechte und Freiheiten feststellt, nach Art. 53 EMRK verpflichtet, sich nach der Entscheidung des Gerichtshofs zu richten und die angegriffenen Maßnahmen aufzuheben. 87 Daneben ist zu prüfen, ob die Europäische Menschenrechtskonvention den Abgeordneten des deutschen Bundestages auch als innerstaatliches Recht Amtspflichten auferlegt. Eine Verletzung solcher innerstaatlichen Amtspflichten könnte im Gegensatz zu der Verletzung der völkerrechtlichen Konventionspflichten vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden.88 Hierbei 83

Gesetz vom 7.8.52 (BGBl II, S. 685).

84

Ulsamer, S. 35; Frowein Jus 86, S. 847.

85

Frowein Jus 86, S. 847; Moller NJW 67, S. 2339; Menzel FS für Guggenheim, S. 580; Weber Diss. S. 101; Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (GHfMR) vom 9.6.58 - RS 214/56, Yearbook I I (1958/59), S. 215, 234, 235; Entscheidung des GHfMR vom 2.6.56 - RS 176/56, Yearbook II, S. 182 ff, 184, 185; Entscheidung des GHfMR vom 29.3.60 -RS 219/57, Yearbook I I I (1960), S. 214 ff, 220, 221; Entscheidung des GHfMR vom 19.5.61- RS 867/60, Yearbook I V (1961), S. 270, 276, 277; Entscheidung des GHfMR vom 17.12.63 -RS 1468/63, Yearbook V I (1963), S. 278, 324,325. 86

Menzel S. 580; Stern, S. 280.

87

Weber Diss, S. 103; Guradze , Art 50 EMRK Anm. 3; Golsong JZ 60, S. 197; Schorn (Europäische Menschenrechtskonvention), S. 403 ff; Frowein Jus 86, S. 850. 88

Stern, S. 279 f.

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

67

kommt es entscheidend auf den Rang an, den die Europäische Menschenrechtskonvention innerhalb der deutschen Rechtsordnung einnimmt. Während die herrschende Meinung in Literatur und Rechtsprechung die Auffassung vertritt, daß die Konvention weder als allgemeine Regel des Völkerrechts nach Art 25 GG noch aus sonstigen Gründen Verfassungsrang bzw. einen übergesetzlichen Rang beanspruchen kann, sondern den Rang eines einfachen Bundesgesetzes einnimmt,89 versucht ein Teil der Literatur mit verschiedenen Begründungen der Konvention Verfassungsrang 90 oder zumindest einen Ubergesetzlichen Rang 91 zuzubilligen. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, auf diesen Theorienstreit näher einzugehen. Als gesichert kann auf jeden Fall gelten, daß die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer Gesamtheit keine allgemeine Regel des Völkerrechts darstellt, denn allgemeine Regeln des Völkerrechts können nur solche Vertragsbestimmungen enthalten, die von der überwiegenden Mehrheit der Staaten als verbindlich anerkannt werden.92 Dies ist aber bei der Europäischen Menschenrechtskonvention, wenn man sie als Gesamtwerte betrachtet, nicht der Fall. Somit kann die Europäische Menschenrechtskonvention nicht über Art. 25 GG, sondern allenfalls aus anderen Gründen einen übergesetzlichen Rang bzw. einen Verfassungsrang einnehmen. Aber selbst wenn man der Europäischen Menschenrechtskonvention im Einklang mit der herrschenden Meinung nur den Rang eines einfachen Bundesgesetzes zuweist, bedeutet dies nicht, daß sie nicht in Einzelfällen innerstaatliche Amtspflichten begründen kann, die der deutsche Gesetzgeber beim Erlaß von Gesetzen zu beachten hat. Grundsätzlich folgt aus dem innerstaatlichen Rang der Europäischen Menschenrechtskonvention als einfaches Bundesgesetz zwar, daß jedes spätere Bundesgesetz die Bestimmungen der Konvention nach der allgemeinen Regel "lex posterior derogat legi priori" außer Kraft setzt,93 so daß die Konvention 89 Hesse (Verfassungsrecht), Rdnr. 278; Ulsamer, S. 36; Oppermann, Rdnr. 69; Bleckmann (Staatsrecht II), S. 43 ff; Stern, S. 278; Frowein/Peukert, Einführung Rdnr. 6; Hamann/Lenz GGKom. Art 25 Anm. Β 1, S. 388; Därig in M/D/H/S Art. 1 GG Rdnr. 57; Badura (Staatsrecht), S. 70; von Weber M D R 55, S. 386; Wendt MDR 55, S. 658; Golsong DVB1 58, S. 810 ff; von Mangoldt/Klein GG-Kom. Art 25 GG S. 677 ff; Geck DVB1 56, S. 525; Weber Diss. S. 105 ff; Hodler NJW 53, S. 532; Münch JZ 61, S. 153; Woesner NJW 61, S. 1383 ff; Seidel DVB1 75, S. 749; Herzog DÖV 59, S. 44 ff; BVerwG 52, S. 313, 334; BGH NJW 66, s. 727; OVG Münster DÖV 56, S. 438; BVerfGE 6, S. 290f, 294; BVerfGE 1, S. 3%, 411; BVerfGE 4, S. 57, 162; BVerfGE 30, S. 272, 284 f. 90 Echterhölter JZ 55, S. 691 ff; Friesenhahn (Schutz der Menschenrechte), S. 54 ff; Schorn, S. 44; Baumann in FS für Schmidt, S. 529, 530; Wetö (Europaische Konvention zum Schutze der Menschenrechte), S. 32; Krüger ZBR 55, S. 289; für Uberverfassungsrang: Klug, Gedächtnisschrift für Peters, S. 441. 91

Guradze, S. 17 ff; Ress in Maier (Europäischer Menschenrechtsschutz), S. 273 ff.

92

vgl. hierzu von Münch GG-Kom. Art 25 Rdnr. 6; Weber Diss. S. 106; Hesse (Verfassungsrecht), Rdnr. 163; BVerfGE 15, S. 25,34; BVerfGE 16, S. 27,33. 93 Menzel, S. 579; Münch JZ 61, S. 154; Baumann, S. 529 f; Menzel DÖV 70, S. 513; Wendt MDR 55,S. 658; Weber Diss. S. 103 ff; Guradze, S. 13; a. A. Herzog DÖV 59, S. 46 ff; Stern, S. 278; Bleckmann, S. 44; Düng in M/D/H/S GG-Kom. Art 1 GG Rdnr. 59.

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

68

grundsätzlich nicht als Maßstab für die Rechtmäßigkeit eines späteren Bundesgesetzes in Betracht kommt. Es ist jedoch allgemein anerkannt, daß, obwohl die Europäische Menschenrechtskonvention als Gesamtwerk keine allgemeine Regel des Völkerrechts darstellt, dies sehr wohl bei einzelnen ihrer Bestimmungen der Fall sein kann.94 Diesen Bestimmungen kommt gemäß Art. 25 GG mindestens übergesetzlicher Rang zu, so daß der deutsche Gesetzgeber hieran gebunden ist. Bei der Beurteilung, welche Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention als allgemeine Regeln des Völkerrechts qualifiziert werden können, gehen die Meinungen allerdings auseinander. Eine differenzierte Untersuchung kann hier jedoch unterbleiben, da in der Regel bei der Verletzung einer Bestimmung der Europäischen Menschenrechtskonvention zugleich auch eine Verletzung der durch das Grundgesetz gewährleisteten Grundrechte vorliegt, so daß dem Gesetzgeber beim Erlaß eines konventionswidrigen Gesetzes bereits aus diesem Grunde eine Amtspflichtverletzung zur Last zu legen ist 9 5 Es bleibt somit festzuhalten, daß die Europäische Menschenrechtskonvention dem deutschen Gesetzgeber einerseits eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Wahrung der Menschenrechte auferlegt und andererseits in ihrer Eigenschaft als innerstaatliches Recht eine innerstaatliche Verpflichtung des deutschen Gesetzgebers begründet, diejenigen Bestimmungen der Konvention, die allgemeine Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art 25 GG enthalten, zu beachten. bb) Amtspflichtverletzung

durch gesetzgeberisches Unterlassen

Eine Amtspflichtverletzung muß nicht immer auf ein positives Tun zurückzuführen sein, sondern kann auch in Form des Unterlassens erfolgen. 96 Ein Unterlassen ist jedoch nur dann rechtserheblich, wenn eine Rechtspflicht zum Handeln besteht,97 denn nur dann ist eine Pflichtverletzung durch Unterlassen einer aktiven Verletzungshandlung gleichzusetzen. Eine Rechtspflicht zum Handeln kann sich sowohl aus dem Grundgesetz, insbesondere aus den grundrechtlichen Schutz- und Handlungspflichten, als auch aus dem Recht der Euro94 Düng in M/D/H/S GG-Kom. Art 1 GG Rdnr. 57 Rdnr. 5; Weber Diss. S. 106; Stern, S. 278; Menzel FS für Guggenheim, S. 582; Oppermarm, Rdnr. 69; von Münch GG-Kom., Art. 25 Rdnr. 23; BayVGH BayVBl 66, S. 57; Bay VGH BayVBl 63, S. 351; von Stacklenberg, NJW 60, S. 1265 ff. 95

vgl. hierzu auch Weber Diss. S. 108.

96

Diese Möglichkeit wurde speziell bei gesetzgeberischem Unterlassen relativ früh erkannt: Schock NJW 63, S. 1337 f; ders. DÖV 63, 286; VG Frankfurt DRiZ 67, S. 353 f; vgl. auch Ossenbühl (Staatshaftungsrecht), § 7, S. 88. 97 Papier in M/D/H/S GG-Kom Art 34 GG Rdnr. 181; ders. in Müko $ 839 BGB Rdnr. 221; Maurer (Allg. VerwR) § 25 Rdnr. 22; Staudinger-Schäfer § 839 BGB Rdnr. 328; Schröder Jus 73, 359 vgl. auch BVerfG NJW 83, 2932; RGZ 56, 84, 92.

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

69

päischen Gemeinschaften und den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention ergeben. (1) Die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates Soweit das Grundgesetz dem Gesetzgeber Handlungspflichten auferlegt, kann daher auch die Untätigkeit des Gesetzgebers bzw. der Parlamentsabgeordneten amtspflichtwidrig sein.98 Grundsätzlich hegt es zwar im politischen Gestaltungswillen des Gesetzgebers, ob, wie und wann er eine bestimmte Materie gesetzlich regeln möchte. Da die Legislative aber nach Art. 20 Abs. 3 GG die verfassungsmäßige Ordnung zu respektieren hat, unterliegt der Gestaltungspielraum des Gesetzgebers gewissen Schranken. In diesem Zusammenhang kommt den Grundrechten, an die die Gesetzgebung unmittelbar gebunden ist, entscheidende Bedeutung zu. Außer aus den im Grundgesetz enthaltenen ausdrücklichen Gesetzgebungsaufträgen, vergleiche etwa Art. 6 Abs. 5,4 Abs. 3 Satz 2, 21 Abs. 3, 26 Abs 2 Satz 2 und 38 Abs. 3 GG, können sich Pflichten des Gesetzgebers zum Tätigwerden nämlich auch unmittelbar durch Auslegung und Konkretisierung der in den Grundrechten verkörperten Weitentscheidungen ergeben.99 Die Grundrechte gewähren dem Bürger zwar in erster Linie subjektive Abwehrrechte gegen Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die grundrechtlich geschützten Rechtsgüter.100 Die Bedeutung der Grundrechte erschöpft sich jedoch nicht in dieser Abwehrfunktion. Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung klargestellt, daß das Grundgesetz in seinem Grundrechtsteil eine objektive Wertordnung (objektive Grundsatznormen)101 aufgestellt hat, an die die Gesetzgebung nach Art 1 Abs. 3 GG unmittelbar 98 Zum Teil wird bestritten, daß ein Untätigbleiben des Gesetzgebers rechtlich in die Kategorie des Unterlassens gehört Der untätig bleibende Gesetzgeber schränke die Rechte der betroffenen Schutzbedürftigen in aktiver Form ein: Murswiek (Risiken der Technik), S. 62 ff, insbesondere S. 66; verwandte Ansätze auch bei Schwabe DVB173, S. 103,109; ders. N V w Z 83, S. 523 ff, 525. 99 Schmidt-Jortzig/Schürmann in BK Art 76 Rdnr. 153; Lerche AöR 90 (1965), S. 341, 350, 351 i.V.m. S. 347; vgl. auch BVerfGE 56, S. 71 f; BVerfG NJW 87,2287.

Ossenbühl NJW 76, 2100 f; Hesse (Verfassungsrecht), Rdnr. 279; Starck Jus 81, S. 237, 238, 240; Jarass AöR 110 (1985), S. 364; SchrammJStrunk (Staatsrecht II), § 21 S. 18; BVerfGE 7, 198,204 f (Lüth); BVerfGE 50,290,337 (Mitbestimmung). 101 Zur Doppelfunktion der Grundrechte als subjektive Abwehrrechte und objektive Grundsatznormen: BVerfGE 7, 190, 204 f; BVerfGE 23, 127, 134; BVerfGE 33, 303, 330; BVerfGE 35, 79, 114; BVerfGE 36, 321, 330; BVerfGE 37, 57, 65; BVerfGE 39, 1, 41 ff (Fristenlösung); BVerfGE 46, 160, 164 (Schleyer); BVerfGE 49, 89, 141 ff (Kalkar); BVerfGE 53, 30, 57 (Mühlheim-Kärlich); in der Literatur: Ossenbühl NJW 76, 2101; Böckenförde, Der Staat 29 (1990), S. 1 ff; Jarass AöR 110 (1985), S. 363, 364 - 371; Hesse (Verfassungsrecht) Rdnr. 279; SchrammJStrunk (Staatsrecht Π), S. 18, S. 23 f; einschränkend Müller, Der Staat 29, S. 29,33,39, der der Ansicht ist, daß nicht alle Grundrechte objektiven Gehalt beanspruchen können. Das BVerfG hat bisher jedoch kein Grundrecht aus der objektiven Wertordnung ausgenommen (vgl. hierzu Jarass AöR 110, S. 370 ff, 371 f).

70

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

gebunden ist Gleichzeitig wurde von der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung auch betont, daß die Verwirklichung dieser in den Grundrechten verankerten objektiven Wertordnung durch aktives Handeln ständige Aufgabe aller staatlichen Gewalt ist. 102 Damit hat das Bundesverfassungsgericht aus dem objektiven Gehalt der Grundrechte eine Schutzpflicht des Staates hergeleitet, dergestalt, daß die staatlichen Organe verpflichtet sind, sich schützend und fördernd vor die in den Grundrechten verbürgten Rechtspositionen zu stellen, falls diese von nichtstaatlicher Seite beeinträchtigt werden.103 In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kam hierbei dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) besondere Bedeutung zu, das Bundesverfassungsgericht hat jedoch bisher keines der Grundrechte aus der objektiven Wertordnung ausgenommen.104 Diese Herleitung der staatlichen Schutzpflicht aus der durch die Grundrechte errichteten objektiven Wertordung hat in der Literatur in der Regel Zustimmung gefunden. 105 Neuerdings begründen kritische Stimmen in der Literatur die Schutzverpflichtung des Staates jedoch mit dem Gewaltmonopol des modernen Staates, denn staatlicher Schutz stelle die Entschädigung dar für den Verzicht der Bürger auf natürliche Selbstbestimmung und die Befolgung des staatlich gesetzten Rechts.106 Dabei wird zum Teil die Schutzaufgabe des Staates auf den subjektiven Gehalt der Grundrechte (Schutzanspruch als Pendant zum Abwehranspruch) zurückgeführt 107 Dieser subjektive Ansatz, der der Schutzpflicht des Staates einen korrespondierenden Schutzanspruch des betroffenen Bürgers gegenüberstellt,108 102 vgl. insbesondere BVerfGE 39, 1, 71 ff = Sondervotum der Richterin Rupp von Brünneck und des Richters Simon; vgl. auch BVerfGE 39,1, 42; BVerfGE 56,30,57. 103 BVerfGE 39 1,42; BVerfGE 53, 30, 57; BVerfGE 56, 54,7 3 (Fluglärm); BVerfG NJW 88, 1651,1653 = BVerfGE 77, 170, 214 (Lagerung von Chemiewaffen); vgl. auch BVerfGE 79, 201 ff (V erkehrsimmissionen). 104 In einigen Entscheidungen stützt das BVerfG die staatliche Schutzpflicht nicht nur auf die Grundrechte als objektive Wertordnung, sondern auch auf das in Art. 1 Abs. 1 GG normierte Menschenwürdeprinzip: BVerfGE 39, 41; BVerfGE 46,164; BVerfGE 49,132,142. 105 Steinberg NJW 84, 458; Jarass AöR 110, 378 Ossenbühl DÖV 81, 4 ff; ders. NJW 76, 2101 f; v. Münch in ders. Kom. zum GG, vor Art 1 - 19, Rdnr. 22; Schramm/Strunk (Staatsrecht II), § 21, S. 23 ff; Hoffmann ZRP 85, 164, 168; Isensee (Das Grundrecht auf Sicherheit), S. 49; Rauschning W D S t R L 38 (1980), S. 167, 183; Böckenförde, Der Staat 29, S. 12 ff, Hoppe/Beckmann (Umweltrecht) § 4 Rdnr. 55 ff; Steinkamm in FS für Willi Geiger, S. 315; Baumann in ders. Rechtsschutz für den Wald, S. 142 ff; weitere Nachweise bei Hermes (Grundrecht auf Schutz), S. 63 Fußnote 134; einschränkend Schmidt-Assmann AöR 106 (1981), S. 207 ff. 106 Witte , S. 45 ff; Murswiek (Risiken der Technik), S. 102 ff, 104; ders. WuV 86, S. 184; Merten (Rechtsstaat und Gewaltmonopol), S. 60 ff; Bethge DVB1 89, S. 844 ff; ähnlich auch Hermes (Grundrecht auf Schutz), S 163 ff; Krüger (Allg Staatsrechtslehre), S. 769; vgl. hierzu auch Dietlein (Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten), Diss. 1991, S. 22. 107 Hermes, S. 208 ff; Murswiek (Risiken der Technik), S. 105 ff, 107; ders. WuV 86, S. 199 ff; Robbers (Sicherheit als Menschenrecht), S. 150, 186 ff; noch anders Seewald (Verfassungsrecht auf Gesundheit), S. 79 ff - Ableitung der Schut2pflicht aus den Grundrechtsschranken. 108 vergleiche etwa: Hermes, S. 208 ff; Murswiek (Risiken der Technik), S. 216 ff; Robbers, S.186 ff.

. Die Tatbestandvoraussetzungen

71

kann sicherlich einen Pluspunkt für sich verbuchen. Er vermeidet nämlich die Schwierigkeiten, vor die sich die hM gestellt sieht, wenn es darum geht, zu bestimmen, wann sich eine bestehende objektivrechtliche Schutzpflicht des Staates zu einem Schutzanspruch der betroffenen Bürger verdichtet, der gerichtlich durchsetzbar ist 1 0 9 Außerdem bewegt sich der subjektive Ansatz auf dem Boden der klassischen Auslegung der Grundrechte als subjektive Rechte par excellence. Andererseits wird hier das Problem nur verlagert, denn auch der subjektive Ansatz sieht sich außerstande, konkrete Angaben über den Umfang und die verfassungsrechtlichen Grenzen der grundrechtlichen Schutzpflichten sowie über die Art und Weise der Realisierung des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes zu treffen, die über die von der hM getroffenen Aussagen hinausgehen.110 Der subjektive Ansatz liefert gegenüber der hM also keine weiteren Erkenntnisse, wenn es um die Frage geht, wann eine Verletzung der grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates besteht.111 Deshalb greift auch der subjektive Ansatz bei dieser Fragestellung auf die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Kriterien zurück, 112 so daß die dogmatische Grundlage der grundrechtlichen Schutzpflichten letztendlich dahingestellt bleiben kann. Eine tiefergreifende Auseinandersetzung mit den verschiedenen dogmatischen Ansätzen würde zudem den Rahmen dieser Arbeit sprengen. So umstritten die dogmatische Grundlage der Schutzverpflichtung des Staates auch ist, so einhellig wird die These von der Schutzfunktion des Staates als fester Bestandteil des geltenden Verfassungsrechtes bewertet Zahlreiche Beispiele aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung haben zu dieser Entwicklung beigetragen. So hat das Bundesverfassungsgericht die Verpflichtung des Staates herausgearbeitet, effektive Strafsanktionen zugunsten des ungeborenen Lebens zu ergreifen (Fristenlösung),113 das Leben einer in Terroristenhand befindlichen Geisel zu schützen (Schleyer),114 die Risikopotentiale von technischen Großanlagen, insbesondere von Kernkraftwerken einzudämmen (Kalkar, Mühlheim-Kärlich),115 geeignete Maßnahmen gegen den von Flughäfen ausgehenden Fluglärm zu treffen (Fluglärm),116 die Bürger vor gesundheits109 vgl. hierzu die Ausführungen des BVerfGs zur Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden gegen gesetzgeberisches Unterlassen in NJW 83, 2932; NJW 87, 2287; BVerfGE 56, 54, 70 ff. 110

Hermes, S. 251 ff, 257; Robbers, S. 179 ff, 184.

111

vgl. hierzu insbesondere Robbers, S. 179 ff.

112

Robbers, S. 181 ff, 184; Hermes, S. 254, 257 ff; Murswiek

S. 185 ff. 113

BVerfGE39,

114

BVerfGE BVerfGE

46,160 ff. 49, 89 ff, BVerfGE

BVerfGE

56, 54 ff.

115 116

Iff. 53, 30 ff.

(Risiken der Technik),

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

72

schädigender und eigentumsbeeinträchtigender Luftverschmutzung zu schützen (Waldsterben),117 eine Neuregelung der Renten in Angriff zu nehmen118 sowie Vorkehrungen gegen die Verbreitung der Immunschwäche Aids zu ergreifen. 119 (2) Umfang und Inhalt der Schutzpflicht Die Schutzpflicht des Staates gegenüber Beeinträchtigungen Dritter ist nicht absolut.™ Das Bundesverfassungsgericht hat einige entscheidende Gesichtspunkte für den Umfang und den Inhalt der staatlichen Schutzpflichten herausgearbeitet. Umfang und Reichweite des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes hängen von der Bedeutung des betroffenen Rechtsgutes ab.121 Innerhalb der Wertung des Grundgesetzes kommt dem Leben ein Höchstwert zu, 122 der grundsätzlich Vorrang vor allen anderen Grundrechten beansprucht Im übrigen lassen sich aus dem Grundgesetz jedoch keine abstrakten Rangunterschiede der in den Grundrechten veibürgten Werte entwickeln, weil die Grundrechte untereinander grundsätzlich den gleichen Rang einnehmen.123 Sofern der aus einem Grundrecht folgenden Schutzpflicht des Staates andere Grundrechtspositionen entgegenstehen, sind die auftretenden Güterkollisionen wie sonst auch durch Abwägung der entgegenstehenden Grundrechtspositionen zu lösen,124 wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besondere Bedeutung zukommt.125 Dabei ist anerkannt, daß die Schutzpflicht des Staates nicht erst bei der Verletzung eines grundrechtlich geschützten Rechtsgutes einsetzt, sondern bereits bei Grundrechtsgefährdungen, 126 Was nun die Art und Weise betrifft, in der die grundrechtlichen Schutzpflichten zu erfüllen sind, so hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach betont, daß in erster Linie die staatlichen Organe in eigener Verantwortung darüber zu entscheiden haben, welche Maßnahmen zweckdienlich und geboten 117 BVerfG NJW 83, 2931 ff; in der Literatur: Hoffmann ZRP 85, 168 ff; Langer N V w Z 87, 195 ff; Bender VerwArchiv 86, 335; Schmidt ZRP 87, 345 ff; v. Hippel NJW 85, 30 ff; Murswiek N V w Z 86,611 ff; Baumann in ders Rechtsschutz für den Wald, S. 142 ff. 118

BVerfGE

119

BVerfG

120

BVerfGE

121

vgl. etwa BVerfGE

122

BVerfGE

123

Hermes, S. 253; Murswiek (Risiken der Technik), S. 167 ff; Witte S. 59 m. w. N.

124

Jarass AöR 110, S. 382 ff; Witte S. 51 ff; BVerfGE

125

BVerfGE

39, 47; BVerfGE

56, 80 ff; vgl. auch Hermes, S. 282; Witte

BVerfGE

56,78 ff; BVerfG

NJW 83, 2932; BVerfG NJW 87,2287; BVerfG NJW 88,1651,

54,11, 34 ff, 39. NJW 87, 2287; zur Aidsproblematik vgl. auch: v. Hippel ZRP 87,123 ff. 49,89,143. 39,1,42.

39,1,42; BVerfGE

46,160,164. 39,47. S. 51, 62; Jarass,

S. 384. 126

1653.

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

73

sind, um wirksamen Schutz zu gewährleisten.*27 Dieser Gestaltungsspielraum der staatlichen Organe und insbesondere des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, der aufgrund der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Wesentlichkeitstheorie häufig Adressat der grundrechtlichen Schutzpflichten sein wird, 128 ist relativ weit, jedoch nicht grenzenlos. So bezieht sich der gesetzgeberische Spielraum, sofern staatliches Handeln geboten ist, nicht auf das "OB" des Tätigwerdens.129 Auch das "WIE" des Tätigwerdens ist verfassungsrechtlichen Schranken unterworfen, denn der Gesetzgeber muß ein effektives Schutzmittel einsetzen.130 Ausreichend effektiv sind dabei nur solche Schutzmittel, die die Gefahrenpotentiale auf ein unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erträgliches Maß reduzieren. Schließlich sind gesetzgeberische Schutzpflichten auch durch zeitliche Komponenten begrenzt Dem Gesetzgeber sind in der Regel zwar Erfahrungs- und Anpassungsspielräume zuzugestehen, wenn sich neue Materien auftun, 131 da zunächst eine Auseinandersetzung mit den Äußerungen sachverständiger Personen und Gremien zu erfolgen hat Sobald sich aber herausstellt, daß sich eine neue Technologie oder ein sonstiges gesellschaftliches Phänomen zu einem ernsthaften Risikofaktor entwickelt, ist der Erfahrungsspielraum des Gesetzgebers abgelaufen. 132 Angesichts dieser Spielräume, die die Legislative im Hinblick auf den Umfang sowie der Art und Weise der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten für sich beanspruchen kann, beschränkt das Bundesverfassungsgericht seine Prüfungskompetenz auf die Kontrolle evidenter Schutzpflichtverletzungen. Als Begründung für diese Einschränkung der Kontrollbefugnis führt das Bundesverfassungsgericht an, daß es regelmäßig eine äußerst komplexe Frage sei, wie eine staatliche Schutz- und Handlungspflicht zu erfüllen ist. Je nach der Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse, der konkreten Zielsetzung und ihrer Priorität sowie der Eignung der denkbaren Mittel und Wege seien verschiedene Lösungen möglich und häufig auch Kompromisse erforderlich. 134 Eine solch 127 BVerfGE 39, 1, 44; BVerfGE 46, 160, 164; BVerfE 2923; BVerfG NJW 87, 2287; BVerfG NJW 88,1651,1653.

56, 54, 80 ff; BVerfG

128

für den Bereich des Umweltschutzes: Rauschning W D S t R L 38, S. 189.

129

Witte, S. 128; BVerfG NJW 87, 2287; BVerfG NJW 88,1653.

130

BVerfGE 39, 1, 44; BVerfGE (Grundrecht auf Sicherheit), S. 39 ff. 131

132

vgl. hierzu BVerfGE

Witte,

NJW 83, 2931,

46, 160, 165; siehe auch Hermes, S. 50 ff, S. 261; Isensee

56,82; BVerfG

NJW 83,2932; BVerfG NJW 87, 2287.

S.133.

133 BVerfGE 56, 80 f, BVerfG NJW 83, 2931, 2932; BVerfG NJW 87, 2288; BVerfGE 77, 214 f; BVerfGE 79, S. 202; siehe auch Langer N V w Z 87,195,199 ff; Badura FS für Eichenberger, S. 481, 487; Bender VerwArchiv 86, S. 356; Schmidt ZRP 87, 348; Ossenbühl (Staatshaftungsrecht), § 7, S. 88. 134

vgl. insbesondere BVerfGE

56,80 ff, BVerfG NJW 83,2931,2932.

133

74

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

komplexe Entscheidung gehöre nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung und nach dem Demokratieprinzip zunächst in den Verantwortungsbereich des vom Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgebers. Unter Zugrundelegung dieses Priifungsmaßstabs hat das Bundesverfassungsgericht dann u. a eine Verletzung der gesetzgeberischen Schutzpflichten bei gesundheitsgefährdendem Fluglärm 135, bei gesundheitsgefährdender und eigentumsbeeinträchtigender Luftverschmutzung, 136 bei dem Schutz einer in Terroristenhand befindlichen Geisel,137 bei der Aidsbekämpfung 138 und bei der wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie 139 verneint Dies ändert aber nichts daran, daß grundsätzlich die Möglichkeit einer evidenten Schutzpflichtverletzung des Staates besteht.140 (3) Form der Schutzpflichtverletzung In der Gesetzgebungspraxis lassen sich zwei verschiedene Formen der Schutzpflichtverletzung feststellen. Zum einen kann eine grundrechtliche Schutz- und Handlungspflicht dadurch verletzt werden, daß der Gesetzgeber eine Materie, die dringend einer gesetzgeberischen Regelung bedürfte, nicht durch ein formelles Gesetz regelt. Ein solches gesetzgeberisches Unterlassen wird neuerdings im Bereich der Gentechnologie diskutiert. 141 Zum anderen kann eine Schutzpflichtverletzung auch darin liegen, daß der Gesetzgeber eine ursprünglich als verfassungsgemäß angesehene Regelung nicht "nachbessert", obwohl sich aufgrund neuer Erkenntnisse herausgestellt hat, daß die ursprüngliche Regelung im Hinblick auf den Schutz der Bevölkerung nicht mehr ausreicht 142

135

BVerfGE

136

BVerfG

137

BVerfGE

138

BVerfG

139

BVerfGE

56, 82. NJW 83, 2931, 2932. 46,160,165. NJW 87,2287. 53, 30, 57 ff, BVerfGE

49, 89 ff, 130 ff.

140

für den Bereich der Gentechnologie bejaht Witte, S. 135 eine evidente Schutzpflichtverletzung des Gesetzgebers. Baumarm, S. 144 bejaht eine evidente Schutzpflichtverletzung der Exekutive beim Waldsterben. Der Gesetzgeber hat inzwischen aber ein Embryonenschutzgesetz (in Kraft getreten am 1.1.91) - vgl. hierzu Deutsch NJW 91, S. 721 ff - und ein Umwelthaftungsgesetz, das ebenfalls am 1.1.91 in Kraft getreten ist (vgl. hierzu Hager NJW 91, S. 134 ff), erlassen. Damit dürfte eine evidente Schutzpflichtverletzung des Gesetzgebers in diesen Bereichen nicht mehr aktuell sein. 141 142

Witte, S. 120 ff mit beachtlichen Gründen.

vgl. hierzu Badura FS für Eichenberger, S. 482 ff; Ladeur DÖV 86, 445, 450; Schmidt ZRP 87,348; BVerfGE 56, 54; BVerfGE 48,130; BVerfGE 50,335,377 f (Mitbestimmung).

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

75

(4) Handlungspflichten des Gesetzgebers aufgrund des Europäischen Gemeinschaftsrechts Den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften obliegt nach Art. J Abs. 1 EWGV; Art. 192 Abs. 1 EAGV und Art. 86 Abs. 1 EGKSV die Verpflichtung, im Rahmen ihrer nationalen Rechtsordnung alle Maßnahmen zu ergreifen, die zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Gemeinschaftsverträgen oder den Handlungen der EG-Organe ergeben, erforderlich sind. Aufgrund dieser Bestimmungen sind die einzelnen Mitgliedstaaten generell verpflichtet, nationales Recht, das mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, entweder dem vorrangigen EG-Recht anzupassen oder aufzuheben, um so eine einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten.^43 Daneben sind die Mitgliedstaaten nach den genannten Bestimmungen und nach Art. 189 Abs. 3 EWGV, Art. 161 Abs. 3 EAGV sowie nach Art. 14 Abs. 3 EGKSV aufgefordert, die von den EG-Organen erlassenen Richtlinien (im EGKSV: Empfehlungen) fristgerecht umzusetzen.144 Den Mitgliedstaaten verbleibt hierbei die Wahl der Form und der Mittel der Umsetzung; diese Wahlfreiheit reduziert sich grundsätzlich aber auf die Entscheidung zwischen formellem Gesetz und Rechtsverordnung sowie auf die Verteilung der Kompetenzen.145 Ein klassischer Fall legislativen Unterlassens liegt in diesen Fällen dann vor, wenn die Umsetzung einer EG-Richtlinie nicht durch den Erlaß einer nationalen Rechtsverordnung, sondern nur durch ein Tätigwerden des Gesetzgebers erfolgen kann, etwa weil bereits unvollständige oder zweideutige nationale Gesetze existieren, die dem von der Richtlinie verfolgten Zweck entgegenstehen und deshalb geändert werden müssen, oder weil die von der EG-Richtlinie geregelte Materie so komplex und bedeutsam ist, daß ihre Umsetzung ins nationale Recht nur durch ein formelles Gesetz und nicht durch eine Rechtsverordnung der Exekutive vorgenommen werden kann. Daher ergeben sich auch aus dem Europäischen Gemeinschaftsrecht Amtspflichten die dem nationalen Gesetzgeber in bestimmten Fällen eine Pflicht zum Erlaß formeller Gesetze aufgeben.

143 Grabitz EWGV-Kom., Art. 5 Rdnr. 9; Bleckmann in von der Groeben/Thiesing/Ehlermann EWGV-Kom. Art. 5 Rdnr. 5; EuGHE 73, S. 529, 534 f; EuGHE 73, S. 161, 171 f; EuGHE 77, S. 137,146; OLG Köln EuZW 91, S. 674 ff. 144 Daig/Schmidt in von der Groeben/Thiesing/Ehlermann Kom. zum EWGV, Art 189 Rdnr. 38; Grabitz Kom. zum EWGV, Art. 189 Rdnr. 57, Art. 5 Rdnr. 9; Bleckmann in von der Groeben/Thiesing/Ehlermann Art. 5 Rdnr. 4; EuGHE 84, S. 1891 ff; vgl. auch Pieper DVB1 90, S. 686. 145

siehe hierzu Nicolaysen (Europarecht I), S. 162.

76

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

(5) Handlungspflichten des Gesetzgebers aufgrund der Bestimmungen der EMRK Wie bereits an früherer Stelle erörtet, sichern die Vertragsstaaten, die die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet haben, nach Art. 1 EMRK allen Personen, die der Herrschaftsgewalt der Vertragsstaaten unterworfen sind, die in der Konvention niedergelegten Rechte und Freiheiten zu. Die Bestimmung des Art. 1 Abs. 1 EMRK legt dem deutschen Gesetzgeber zunächst die völkerrechtliche Verpflichtung auf, nur Gesetze zu erlassen, die mit den Bestimmungen der Konvention in Einklang stehen.146 Außerdem ist die Europäischen Menschenrechtskonvention durch Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG Bestandteil der deutschen Rechtsordnung geworden. Da zumindest ein Teil der Bestimmungen der Konvention allgemeine Regeln des Völkerrechts nach Art. 25 GG enthalten,147 gehen sie insoweit den innerstaatlichen Gesetzen vor und binden damit auch als innerstaatliches Recht den deutschen Gesetzgeber. Aus der völkerrechtlichen und innerstaatlichen Bindung des deutschen Gesetzgebers an die Konventionsbestimmungen erwächst aber nicht nur die negative Verpflichtung, keine Gesetze zu erlassen, die im Widerspruch zu den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention stehen, sondern auch die positive Verpflichtung zum Handeln, falls eine Rechtsmaterie einer gesetzlichen Regelung bedarf und eine solche Regelung noch nicht existiert. 148 Dies zeigt schon Art 2 EMRK, der den Vertragsstaaten die Verpflichtung auferlegt, das Recht eines jeden Menschens auf Leben gesetzlich zu schützen. Kommission und Gerichtshof haben daneben zu erkennen gegeben, daß sich auch aus anderen Rechten der Europäischen Menschenrechtskonvention positive Handlungspflichten des nationalen Gesetzgebers ergeben können. So wurde aus Art 8 Abs. 1 EMRK die Verpflichtung des Gesetzgebers hergeleitet, das Familienleben schützend zu regeln,149 aus Art. 11 EMRK wurde die Pflicht des nationalen Gesetzgebers entnommen, die Koalitionsfreiheit im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu schützen.150 Als im niederländischen Sexualstrafrecht eine Lücke entstanden war, die eine geistig unzurechnungsfähige Frau bei einer Vergewaltigung schutzlos ließ, wurde auch 146 vgl. hierzu Moller NJW 67, S. 2339; Frowein Jus 86, S. 847; Menzel FS für Guggenheim, S. 580; vgl. auch die Entscheidungen des GHfMR Yearbook II, S. 215, 234, 235; Yearbook II, S. 182 ff, 184,185; Yearbook III, S. 214, 220, 221: Yearbook IV, S. 270, 276, 277; Yearbook V I , S. 278,324,325; Weber, Diss., S. 101. 147 vgl. hierzu Düng in M/D/H/S GG-Kom., Art. 1 Rdnr. 57 FN 5; Weber Diss., S. 106; Stern (Staatsrecht BD I I I / l ) , S. 278; Menzel FS für Guggenheim, S. 582; Oppermarm (Europarecht), Rdnr. 69; von Münch GG-Kom. Art 25 GG Rdnr. 23; von Stacklenberg NJW 60, S. 1265 ff; BayVGH BayVBl 66, S. 57; BayVGH BayVBl 63, S. 351. 148

vgl. hierzu Frowein Jus 86, S. 847; zweifelnd Bleckmann (Staatsrecht II), S. 42.

149

GHfMR EuGRZ 79, S. 454.

150

GHfMR EuGRZ 81, S. 559.

77

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

dieses Fehlen einer Strafvorschrift als Verletzung der Konventionsrechte gewertet 151 Somit können nicht nur die Bestimmungen des Grundgesetzes und die Bestimmungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts, sondern auch die Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention dem deutschen Gesetzgeber und damit den Abgeordneten des deutschen Bundestages Handlungspflichten auferlegen. c) Amtspflichtverletzung durch die Abgeordneten als Organwalter eines Kollegialorgans

Während bisher der Frage nachgegangen wurde, aus welchen Rechtsquellen sich Amtspflichten ergeben, die von den Parlamentsabgeordneten bei ihrer Gesetzgebungstätigkeit zu beachten sind, soll nun untersucht werden, welche Handlungen und Unterlassungen der Abgeordneten eine Verletzung der ihne auferlegten Amtspflichten begründen. Hierbei ist zu beachten, daß ein Kollegialorgan wie das Parlament nur durch seine Mitglieder als Organwalter handeln kann. Dabei ist es im Falle einer fehleihaften Kollegialentscheidung nicht erforderlich, daß alle Mitglieder des Kollegiums ihre Amtspflichten verletzt haben.152 aa) Amtspflichtverletzung

beim Erlaß eines fehlerhaften

Gesetzes

(1) Amtspflichtverletzung der Abgeordneten, die für den Gesetzesbeschluß gestimmt haben Beim Erlaß eines rechtswidrigen Gesetzes ist die Amtspflichtverletzung auf jeden Fall denjenigen Abgeordneten zuzurechnen, die aufgrund einer beschlußfähigen Mehrheit die Verabschiedung des rechtswidrigen Gesetzes ermöglicht haben. Hieibei ist nicht erforderlich, daß die Abgeordneten, deren Abstimmungsverhalten zum Erlaß des fehlerhaften Gesetzes geführt hat, namentlich benannt oder sonst individualisiert werden,153 so daß selbst bei einer geheimen Abstimmung Raum für einen Amtshaftungsanspruch bleibt 154 151

GHflfR

152

Dagtoglou BK Art 34 GG Rdnr. 382; Teschner, S. 197.

EuGRZ 85, S. 297.

153 Bender (Staatshaftungsrecht) Rdnr. 650; Schenke DVB1 75, 124; Maurer (Allg. VerwR) § 25 Rdnr. 51; Bartlsperger NJW 68, 1687, 1700; Jaenicke (Haftung), S. 123; Dagtoglou in BK

78

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

Wie bereits dargelegt, obliegt dem einzelnen Abgeordneten nach Art. 20 Abs. 3, 1 Abs. 3 GG die Amtspflicht, die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere die darin verbürgten Grundrechte zu wahren. Außerdem haben die Parlamentsabgeordneten das Recht der Europäischen Gemeinschaften und die Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention zu beachten. Im Prinzip wird damit jedem Abgeordneten bei der Beratung und Beschlußfassung eines Gesetzes die Pflicht zur Prüfung der Vereinbarkeit der Gesetzesvorlage mit höherrangigen oder vorrangigen Rechtsnormen auferlegt. 155 Daß dies in der Realität oft nicht möglich ist, zumal das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten durch Parteiabsprachen und Fraktionsbindungen beeinflußt wird, bedarf hier keiner näheren Erörterung. Trotzdem entlasten diese Bindungen den einzelnen Abgeordneten nicht von seiner Pflicht zur rechtmäßigen Ausübung seines Amtes. Wenn sich deshalb die einzelnen Abgeordneten bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit eines vorgelegten Gesetzesentwurfs auf die Empfehlungen des Rechtsausschusses oder auf Absprachen ihrer Fraktion verlassen, dann haben sie - und durch sie auch das Parlament als Kollegialorgan - eine Amtspflichtverletzung begangen, wenn die Entscheidung des Rechtsausschusses oder der Fraktion gegen höherrangiges oder vorrangiges Recht verstößt 156 Diejenigen Abgeordneten, die dem Rechtsausschuß angehören, haben sich in zweifacher Hinsicht den Vorwurf einer Amtspflichtverletzung gefallen zu lassen, und zwar einmal bezüglich der Befürwortung der fehlerhaften Empfehlung, die dann dem Plenum zugeleitet wird, und zum anderen hinsichtlich ihrer Abstimmung im Plenum für den Erlaß der rechtswidrigen Gesetzesvorlage. (2) Amtspflichtverletzung bei Abgabe einer Gegenstimme Weitaus problematischer ist die Frage, unter welchen Bedingungen sich auch diejenigen Abgeordneten, die gegen den Erlaß eines rechtswidrigen Gesetzes gestimmt haben, den Vorwurf einer Amtspflichtverletzung gefallen lassen müssen. Eine Amtpflichtverletzung kann sich hier natürlich nicht aus ihrem Abstimmungsverhalten ergeben, sondern muß auf anderen Gründen beruhen. Das hier aufgeworfene Problem scheint auf den ersten Blick nur rein akademischer Natur zu sein, da bereits diejenigen Abgeordneten, die für den Erlaß des Art. 34 GG Rdnr. 384,193; Erman-Küchenhoff 60, S. 1305; a.A. Luhmann, S. 127. 154

§ 839 BGB Rdnr. 36; RGZ 100,102 ff; BGH W P M

vgl. hierzu insbesondere Kosmider, S. 106; Maurer (Allg. VerwR) § 25 Rdnr. 51; Weber,

S. 57. 155

so zutreffend Traving, S, 144; Weber, S. 47.

156

Traving, S. 144; Weber, S. 47.

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

79

fehlerhaften Gesetzes gestimmt haben, amtspflichtwidrig gehandelt haben und der Geschädigte den amtspflichtwidrig handelnden Amtswalter nicht zu individualisieren braucht. Es ist jedoch denkbar, daß denjenigen Abgeordneten, die den Erlaß eines fehlerhaften Gesetzes befürwortet haben, zwar eine objektive Verletzung ihrer Amtspflichten zur Last zu legen ist, ihnen aber kein Schuldvorwurf 157 gemacht werden kann. Wenn nun einzelne Abgeordnete, die zwar korrekterweise gegen den Erlaß eines solchen Gesetzes gestimmt haben, im Gegensatz zu den übrigen Mitgliedern des Bundestages aber über Sonderwissen verfügen, das ihnen die Fehlerhaftigkeit der Gesetzesvorlage deutlich vor Augen führt, und von ihnen auch verlangt werden kann, daß sie dieses Sonderwissen an die übrigen Parlamentsmitglieder weitergeben, dann ist ihnen trotz korrektem Abstimmungsverhalten eine Amtspflichtverletzung wegen unterlassener Aufklärung zur Last zu legen.158

In diesem Zusammenhang kommt dem Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages eine besondere Bedeutung zu. Der Rechtsausschuß hat die federßhrende Zuständigkeit ßr das Verfassungsrecht. Zudem wird er bei allen Vorlagen, die verfassungsrechtliche, rechtssystematische oder rechtspolitische Pro bleme aufwerfen, mitberatend beteiligt.159 Seine Mitglieder rekrutieren sich vorwiegend aus Juristenkreisen. Deshalb wird Sonderwissen speziell bei den Mitgliedern des Rechtsausschusses anzutreffen sein. Dies schließt natürlich nicht aus, daß auch einzelne Abgeordnete, die nicht dem Rechtsausschuß angehören, über besondere Rechts- und Tatsachenkenntnisse verfügen, die ihnen die Rechtswidigkeit einer Gesetzesvorlage vor Augen führt.

Fraglich ist nun, inwieweit die einzelnen Abgeordneten, seien sie nun Mitglieder des Rechtsausschusses oder nicht, verpflichtet sind, ihre besonderen Tatsachen- und Rechtskenntnisse an die anderen Abgeordneten weiterzugeben. Damit ist das Problem angesprochen, ob die Passivität dieser Abgeordneten, die ihren auf Sonderwissen beruhenden Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit einer Gesetzesvorlage keinen Ausdruck verleihen, haftungsrechtliche Folgen nach sich zieht. Zur Lösung dieser Frage ist wieder auf die Bindung des Gesetzgebers in Art. 20 Abs. 3, 1 Abs. 3 GG sowie auf die Bestimmungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts und der Europäischen Menschenrechtskonvention zurückzugreifen, denen nicht nur das Kollegialorgan, sondern auch die einzelnen Mandatsträger unterliegen. Aus dieser rechtlichen Bindung des Gesetzgebers resultiert aber eine entsprechende Mitwirkungs- und Einwirkungs157

siehe dazu unten Punkt 4. b. bb.

158

vgl. Teschner, S. 203 ff; Feldbaus S. 128; zu der entsprechenden Problematik bei Gemeinderatsentscheidungen; Eypeltauer/Strasser, S. 33 ff; S. 97 für das österreichische Recht; zustimmend Wolf NVwZ 89, 43; a.A. Schröer NVwZ 86, S. 449, 450, der nur diejenigen Gemeinderatsmitglieder haften lassen will, die für den Erlaß eines fehlerhaften Beschlusses gestimmt haben. 159 vgl. hierzu Lenz ZRP 80, S. 249; Kessler in Röhring/Sontheimer. Parlamentarismus, S. 412 ff.

Handbuch des deutschen

80

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

Pflicht der Abgeordneten, die über besondere Tatsachen- und Rechtskenntnisse verfügen und daneben auch die verfahrensrechtliche Möglichkeit besitzen, dieses Sonderwissen an die anderen Bundestagsmitglieder weiterzugeben.160 Das Parlament als Kollegialorgan ist darauf angewiesen, daß ihm von den einzelnen Mitgliedern die fur die rechtmäßige Entscheidungsfindung nötigen Kenntnisse vermittelt werden. Wenn einzelne Bundestagsmitglieder aber ihre besonderen Kenntnisse den übrigen Mandatsträgern vorenthalten, dann nehmen sie dem Parlament damit die Möglichkeit, seinen rechtlichen Pflichten nachzukommen. Dementsprechend gehört auch diese Informationspflicht als Teil der Mitwirkungspflicht zu den rechtlichen Pflichten der Abgeordneten. Das Grundgesetz enthält zwar keine ausdrücklichen Regelungen über die Mitwirkungspflichten der Bundestagsmitglieder. Dagegen ist in § 13 Abs. 1 GO BT geregelt, daß der einzelne Abgeodnete an den Arbeiten des Bundestages teilzunehmen hat, wobei er bei Reden, Handlungen, Abstimmungen und Wahlen seiner Überzeugung und seinem Wissen zu folgen hat. Trotzdem handelt es sieht bei dieser Mitwirkungsverpflichtung nicht um eine bloße parlamentarische, sondern um eine verfassungsrechtliche Pflicht der Parlamentsabgeordneten,161 die in § 13 Abs. 1 GO BT nur eine Konkretisierung erfahren hat Dies ergibt sich bereits daraus, daß der einzelne Parlamentsabgeordnete nach Art 38 Abs. 1 Satz 2 GG Repräsentant des Staatsvolkes ist. Dieses Amt des Abgeordneten setzt notwendigerweise voraus, daß der Abgeordnete an den Arbeiten des Bundestages teilnimmt, denn sonst läuft die ihm übertragene Repräsentationsaufgabe leer. 162 Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und § 13 Abs. 1 GO BT legen nun zwar den Schluß nahe, daß der Abgeordnete kraft selbstverantwortlicher Gewissensentscheidung über seine Pflichten entscheiden kann. Das in diesen Vorschriften angesprochene freie Mandat ist aber nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung (Art. 20 Abs. 3,1 Abs. 3 GG) gewährleistet, so daß die Mitwirkungspflicht der Mandatsträger nicht ethischer Natur ist, sondern rechtliche Wirkung entfaltet

Die einzelnen Abgeordneten haben auch die verfahrensrechtliche Möglichkeit, ihre besonderen Rechts- und Tatsachenkenntnisse an ihre Kollegen weiterzugeben. Die GO BT sieht vor jeder Abstimmung das Recht der Abgeordneten zur Abgabe einer Erklärung vor. Hier können die Bundestagsmitglieder ihr Sonderwissen und die sich daraus ergebenden Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit einer Gesetzesvorlage in kurzer Form darlegen und so den übrigen Abgeordneten die Möglichkeit eröffnen, ihren Standpunkt zu überprüfen. Die Mitglieder des Rechtsausschusses haben daneben noch eine weitergehendere 160

vgl. hierzu für die entsprechende Problematik beim Gemeinderat Τ eschner, S. 206 ff.

161

Klein in Isensee/Kirchhof (Handbuch des Staatsrechts, Bd II), § 41, Rdnr. 22; Troßmann (Parlamentsrecht), § 16 GO BT, Rdnr. 1 und Vorbemerkung zu Abschnitt V I GO BT Rdnr. 6.2. 162 Allerdings ist diese Mitwirkungspflicht genausowenig wie die sonstigen verfassungsrechtlichen Pflichten der Abgeordneten nicht mit Sanktionen bewehrt: Klein; Troßmann, Vorbemerkung zu Abschnitt V I GO BT, Rdnr. 6.2.

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

81

Möglichkeit, die übrigen Bundestagsmitglieder zu informieren. Wenn sie ihre besonderen Kenntnisse im Rechtsausschuß zur Sprache bringen, dann hat der Berichterstatter, der vom Rechtsausschuß ins Plenum entsandt wird, in seinem schriftlichen Bericht auch diejenigen Äußerungen der Mitglieder des Rechtsausschusses wiederzugeben, die von der Mehrheit des Rechtsausschusses als nicht maßgeblich erachtet wurden. Auch wenn der Rechtsausschuß mehrheitlich den Beschluß faßt, daß gegen die Gesetzesvorlage keine Bedenken bestehen, wird das Plenum damit trotzdem von den im Rechtsausschuß geäußerten abweichenden Auffassungen unterrichtet. Der Berichterstatter des Rechtsausschusses hat außerdem nach § 28 Abs. 2 GO BT ein uneingeschränktes Rederecht; er kann jederzeit das Wort ergreifen. Demgemäß bleibt festzuhalten, daß der einzelne Abgeordnete, der über Sonderwissen verfügt, das ihm die Rechtswidrigkeit der Gesetzesvorlage vor Augen führt, sich nicht damit begnügen darf, gegen die Gesetzesvorlage zu stimmen, sondern sein Sonderwissen weitergeben muß, wenn er sich nicht dem Vorwurf einer Amtpflichtverletzung aussetzen will. Eine andere Frage ist allerdings, ob ihm in diesem Fall auch ein Verschulden zur Last zu legen ist. (3) Amtspflichtverletzung bei Stimmenthaltung, Abgabe einer ungültigen Stimme oder unberechtigter Sitzungsabwesenheit Wie bereits erläutert, gehört zu den den Abgeordneten auferlegten rechtlichen Pflichten neben der Beachtung der verfassungsmäßigen Ordnung und der Grundrechte sowie der Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Europäischen Gemeinschaftsrecht auch die Mitwirkung an den Arbeiten des Bundestages. Daraus folgt, daß die Bundestagsmitglieder bei Gesetzesbeschlüssen, die von Rechts wegen nicht gefaßt werden dürfen, nicht über ihr Abstimmungsverhalten disponieren können.163 Sie sind verpflichtet, gegen einen Gesetzesbeschluß zu stimmen, der gegen höherrangiges Recht verstößt.164 Die Pflicht zur Abgabe einer Nein-Stimme bei rechtswidrigen Gesetzesentwürfen ist nicht ausdrücklich geregelt; sie ergibt sich aber aus Art. 20 Abs. 3, 1 Abs. 3 GG sowie aus den entsprechenden Vorschriften des Europäischen Gemeinschaftsrechts und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Der einzelne Abgeordnete hat die ihm obliegenden rechtlichen Pflichten durch aktives Tun zu erfüllen, denn bloße Passivität kann hier keine Pflichterfüllung sein. Dies gilt umso mehr, als nach Art. 42 Abs. 2 GG für einen Gesetzesbeschluß, 163

ebenso Teschner, S. 202 zur entsprechenden Problematik bei den Gemeinderatsmitglie-

dern. 164 vgl. zur entsprechenden Problematik bei Gemeinderatsmitgliedern: Teschner, Hüttenbrink, S. 96; etwas einschränkend Feldhaus, S. 126 - 128; a.A. wohl Eypeltauerl Strasser, S. 33.

6 Fetzer

82

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

soweit das Grundgesetz keine Ausnahmen vorsieht, nur die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich sind. Hierbei ist das Verhältnis der JaStimmen zu den Nein-Stimmen entscheidend. Stimmenthaltungen bleiben ebenso wie ungültige Stimmen außer Betracht.165 Durch Stimmenthaltung, Abgabe einer ungültigen Stimme oder durch Sitzungsabwesenheit kann der einzelne Abgeordneten also das Verhältnis der abgegebenen Ja- und Nein-Sümmen ungünstig beeinflussen, so daß die Möglichkeit besteht, daß eine rechtswidrige Gesetzesvorlage die Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen kann, weil einige Abgeordnete anstatt an der Sitzung teilzunehmen und gegen den Gesetzesentwurf zu stimmen, der Sitzung ferngeblieben sind oder eine ungültige Stimme abgegeben bzw. sich der Stimme enthalten haben. Die Abgeordneten verletzen also die ihnen auferlegten Amtspflichten, wenn sie sich ihrer Stimme enthalten oder eine ungültige Stimme abgeben.166 Entsprechendes gilt auch bei Sitzungsabwesenheit,167 allerdings mit der Einschränkung, daß die Sitzungsabwesenheit unberechtigt erfolgt und nicht durch genehmigten Urlaub, Krankheit oder sonstige dringende persönliche Gründe bedingt ist Eine Amtspflichtverletzung setzt nämlich ein unberechtigtes Verhalten voraus. Ob die betreffenden Abgeordneten in den angesprochenen Fällen allerdings schuldhaft gehandelt haben, ist eine andere Frage, der später noch nachzugehen sein wird. Daneben können diese Abgeordneten ebenso wie die Abgeordneten, die gegen die Gesetzesvorlage gestimmt haben, auch durch Verschweigen ihres Sonderwissens amtspflichtwidrig handeln. bb) Amtspflichtverletzung

bei gesetzgeberischem Unterlassen

Ebenfalls Probleme wirft die Frage auf, worin im einzelnen die Amtspflichtverletzung beim Untätigbleiben des Gesetzgebers besteht, wenn dieser trotz ausdrücklicher Gesetzgebungsaufträge oder bestehender Schutz- und Handlungspflichten kein Gesetz erläßt oder keine Nachbesserungen vornimmt (1) Amtspflichtverletzung durch Unterlassung der Gesetzgebungsinitiative Nach Art. 76 Abs. 1 GG werden Gesetzesvorlagen durch die Bundesregierung, aus der Mitte des Bundestages oder durch den Bundesrat eingebracht. 165

Troßmann, § 54 GO BT Rdnr. 6.

166

vgl. auch Hüttenbrink,

167

Hüttenbrink,

S. 93 - 96; Τ eschner S. 202; Feldbaus, S. 126 - 128.

S. 96; Teschner, S.201, 202; vgl. auch Feldhaus, S. 127 - 128.

83

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

Aus diesem Gesetzesinitìatìvrecht folgt zugleich die Pflicht des Bundestages, die eingebrachten Gesetzesvorlagen, sachlich zu behandeln,168 auch wenn diese Pflicht im Grundgesetz nicht ausdrücklich normiert ist. 169 Während der Bundesregierung und dem Bundesrat das Initiativrecht nur als Kollegialorgan zusteht,170 kommt beim Bundestag dieses Recht bereits einer bestimmten Anzahl von Abgeordneten, nicht jedoch dem Parlament selbst zu.171 Art 76 Abs. 1 GG enthält selbst keine näheren Angaben darüber, was unter dem Begriff "aus der Mitte des Bundestages" zu verstehen ist Diese Lücke wurde durch § 76 Abs. 1 GO BT i. V. m. § 75 Abs. 1 lit. a GO BT ausgefüllt. Danach müssen Gesetzesvorlagen der Bundestagsmitglieder von einer Fraktion oder von 5 % der Parlamentsmitglieder unterzeichnet werden.172 Das Gesetzesinitiativrecht wird heutzutage vorwiegend von der Bundesregierung wahrgenommen, wobei die Vorbereitung grundsätzlich dem jeweiligen Fachministerium obliegt. Diese Entwicklung beruht darauf, daß in den Referaten der Fachministerien geeignete Fachleute zur Verfügung stehen, die auch die betroffenen Fachkreise, Verbände und sonstige Interessenvertreter sowie Sachverständige anhören und so komplizierte und umfangreiche Gesetzesprojekte ausarbeiten können. Grundsätzlich steht es jedem Inhaber des Gesetzesinitiativrechtes frei, ob und mit welcher Gesetzesvorlage er den Gesetzgebungsprozeß einleitet. Da der Gesetzgeber aber an die Verfassung und an sonstiges höherrangiges oder vorrangiges Recht gebunden ist, kann sich das Gesetzesinitiativrecht zu einer Initiativpflicht verdichten. Eine solche Pflicht zur Einbringung von Gesetzesvorlagen kann sich aus den ausdrücklich im Grundgesetz enthaltenen Gesetzesaufträgen oder aus den aus den grundrechtlichen Schutzpflichten herleitbaren Handlungs-173 und Nachbesserungspflichten 174 des Gesetzgebers sowie aus den Bestimmungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts und der Europäischen Menschenrechtskonvention ergeben.

168 Die eingebrachten Gesetzesvorlage sind vom Bundestagspräsidenten den Abgeordneten in drucktechnischer Form zugänglich zu machen, anschließend auf die Tagesordung zu setzen und schließlich inhaltlich in zeitlich angemessener Frist zu behandeln - vgl. hierzu Schmidt-Jortzig! Schürmann in BK Art 76 Rdnr. 73 ff. 169 Schmidt-Jortzig/Schürmann in BK Art. 76 GG Rdnr. 67; v. Mangoldt/Klein Erl. ΠΙ 1 a; S. 1718; Schmidt-Bleibtreu/Klein Art 76 GG Rdnr. 3. 17 0 Schmidt-Jortzig/Schürmann in BK Art 76 Rdnr. 118; AK-Jekewitz Schmidt-Bleibtreu/Klein Art. 76 Rdnr. 4. 171

BVerfGE

1,144 LS 3c; Schmidt-Jortzig/Schürmann

Art. 76 GG

Art. 76 GG Rdnr. 18;

in BK Art. 76 Rdnr. 118.

172

Es entspricht jedoch ständiger Übung, daß die von einer Fraktion eingereichten Gesetzesvorlagen nur der Unterzeichnung durch den Fraktionsvorsitzenden oder seiner Stellvertreter mit dem Zusatz "und Fraktion" bedürfen - vgl. Troßmarm, § 97 GO BT Rdnr. 3. 173 vgl. etwa Schmidt-Jortzig/Schürmann i. V . m. 347. 17 4

Schmidt-Jortzig/Schürmann

in BK Art. 76 Rdnr. 153; Lerche AöR 90, 350 ff.

in BK Art 76 Rdnr. 157.

84

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

Es stellt sich aber immer noch das Problem, welchen der drei Initiativberechtigten die Initiativpflicht trifft Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß alle in Art. 76 Abs. 1 GG genannten Inhaber des Gesetzes-iniüativrechtes gleichermaßen zum Tätig werden aufgefordert sind.175 Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die Bundesregierung aufgrund der Leistungsfähigkeit der Ministerialbürokraüe am ehesten in der Lage ist, Gesetzesvorlagen einzubringen. Dies entbindet die anderen zur Einbringung von Gesetzesvorlagen Berechtigten und Verpflichteten nämlich nicht von einem eigenen Tätigwerden, wenn eine konkrete und evidente Handlungspflicht des Gesetzgebers besteht und erkennbar ist, daß die anderen Initiativberechtigten, insbesondere die Bundesregierung, keine Gesetzesvorlage zur Regelung einer normierungsbedürftigen Materie einbringen werden. Wenn die initiativberechtigten Abgeordneten in diesem Fall keine Gesetzesvorlage einbringen, ist ihnen eine objektive Amtspflichtverletzung zur Last zu legen. Der einzelne Abgeordnete, der als solcher nicht initiativberechtigt ist, handelt pflichtwidrig, wenn er nicht den Versuch unternimmt, die erforderliche Anzahl von Unterschriften für seine Gesetzesvorlage zustandezubringen176 oder zumindest versucht, die Bundesregierung zur Einbringung eines Gesetzesvorschlages zu veranlassen. Falls dies nicht gelingt, hat er die ihm obliegenden Amtspflichten erfüllt, denn mehr kann nicht von ihm verlangt werden. In diesem Falle handeln aber die anderen Abgeordneten, die sich ablehnend verhalten haben bzw. es unterlassen haben, die Bundesregierung zur Einbringung einer Gesetzesvorlage aufzufordern, amtspflichtwidrig. Später wird noch zu untersuchen sein, ob und wann hier auch ein Schuldvorwurf gemacht werden kann.

(2) Amtspflichtverletzung bei Abgabe einer Gegenstimme, Stimmenthaltung, Abgabe einer ungültigen Stimme und unberechtigter Sitzungsabwesenheit Neben dem Untätigbleiben beim Einbringen einer Gesetzesvorlage kann aber eine Amtspflichtverletzung auch darin liegen, daß die notwendige Mehrheit für ein rechtlich gebotenes Gesetz nicht zustande kommt. Zu den den Abgeordneten auferlegten Pflichten gehört, wie bereits mehrfach betont, neben der Beachtung der höherrangigen Rechtsnormen auch die Verpflichtung, an den Arbeiten des Bundestages teilzunehmen. Die erstgenannte Verpflichtung ergibt sich aus Art. 20 Abs. 3, 1 Abs. 3 GG sowie aus den Bestimmungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts und der Europäischen Menschenrechtskonven175

Zu den Ausnahmen: Schmidt-Jortzig!Schürmann in BK Art. 76 Rdnr. 137 ff. so andeutungsweise auch Weber S. 123; a.A. Bender (Staatshaftungsrecht), Rdnr. 660; der mit dem Hinweis, daß dem einzelnen Abgeordneten nach der GO BT nicht einmal ein Initiativrecht zustehe, eine einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht zum Tätigwerden verneint. 176

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

85

tion und wird verletzt, wenn der Abgeordnete gegen ein Gesetz stimmt, obwohl eine evidente Handlungspflicht zum Erlaß dieses Gesetzes besteht. Bleibt ein Abgeordneter unberechtigterweise der Abstimmung fern oder enthält er sich der Stimme bzw. gibt eine ungültige Stimme ab, verletzt er nicht nur die von ihm zu beachtenden Schutz- und Handlungspflichten, sondern auch seine Mitwirkungspflicht an den Arbeiten des Bundestages. Er ist in diesen Fällen nämlich sowohl zur Teilnahme an den Abstimmungen als auch zu einem entsprechendem Abstimmungsverhalten verpflichtet. 177 3. Drittrichtung

der Amtspflicht

Ein Amtshaftungsanspruch ist nicht bei jeder Verletzung einer Amtspflicht gegeben. Vielmehr setzt § 839 BGB weiter voraus, daß ein Amtsträger eine einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht verletzt hat Mit diesem Tatbestandsmerkmal soll der Kreis möglicher Anspruchsberechtigter eingeschränkt werden.178 Die Drittrichtung einer Amtspflicht bestimmt sich nach der ständigen - vom Reichsgericht begründeten und vom Bundesgerichtshof fortgeführten - Rechtsprechung179 allein nach dem Zweck, dem die einzelne in Frage stehende Amtspflicht zu dienen bestimmt ist (sog. Schutznormtheorie). Damit werden bei der Bestimmung der Drittbezogenheit einer Amtspflicht die gleichen Grundsätze angewandt wie bei der Bestimmung eines subjektiven öffentlichen Rechts, so daß die Drittbezogenheit einer Amtspflicht beim Vorliegen eines subjektiven Rechts grundsätzlich180 zu bejahen ist. 181 Alle Amtspflichten, die den Trägern öffentlicher Ämter auferlegt sind, dienen zunächst einmal dem Interesse der Allgemeinheit und des Staates.182 Wenn sich eine Amtspflicht ausschließlich in dieser Funktion erschöpft, also nur dem Staat, der öffentlichen Ordnung, der Aufrechterhaltung einer geordneten Verwaltung, der Wahrung rein dienstlicher Belange dient, dann kommt dieser 177 vgl. zur ähnlichen Rechtslage bei gesetzesgebundenen Entscheidungen des Gemeinderates - Teschner, S. 201 m. w. N. 178 BGH NJW 76, S. 184; Soergel-Glaser Krefi § 839 BGB Rdnr. 212.

§ 839 BGB Rdnr. 187; Teschner, S. 23; RGRK-

179 RGZ 140, 424, 427 m. w. N.; BGHZ 10, 122, 124; BGHZ 18, 110, 113; BGHZ 26, 232, 234; BGHZ 31,388,390. 180 anders als beim Verwaltungsunrecht will der BGH aber beim legislativen Unrecht nicht in jedem Grundrechtsverstoe, d. h. nicht in jeder Verletzung subjektiver öffentlicher Rechte eine Verletzung drittgerichteter Amtspflichten sehen - vergi etwa BGH NJW 89,101 f. 181 Scholz NJW 72, 1217 f; Papier in M/D/H/S Art 34 GG Rdnr. 166; ders. in Müko § 839 BGB Rdnr. 192; Schenke DVB1 75, 125; ders. AgrarR 90,187; Maurer (Allg. VerwR) § 25 Rdnr. 19; AK-Rittstieg Art 34 GG Rdnr. 18; Dagtoglou in BK Art. 34 GG Rdnr. 152. 182

vgl. etwa RGRK-Kreft

§ 839 BGB Rdnr. 214; BGH NJW 71,1700.

86

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

Amtspflicht keine Drittrichtung zu, auch wenn eine pflichtwidrige Amtsführung Außenstehende betreffen und deren Interessen beeinträchtigen kann.183

Wenn sich aus den die Amtspflicht begründenden Vorschriften und der Natur des Amtsgeschäftes jedoch ergibt, daß die verletzte Amtspflicht auch de Schutz der Interessen des Geschädigten bezweckt, entfaltet die verletzte Amtspflicht auch Drittwirkung und ist geeignet, einen Amtshaftungsanspruch auszulösen.184 Dabei muß eine Person, der gegenüber eine Amtspflicht zu erfüllen ist, nicht in allen ihren Belangen immer als Dritter im Sinne des Amtshaftungstatbestandes anzusehen sein. Vielmehr ist jeweils zu untersuchen, ob gerade das im Einzelfall berührte Interesse nach dem Zweck und der rechtlichen Bestimmung des Amtsgeschäftes geschützt werden soll und ob der Geschädigte zum Kreis der geschützten Personen gehört 185 a) Meinungsstand zur Drittrichtung der Amtspflichten der Abgeordneten Der Bundesgerichtshof vertritt inzwischen in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, daß die den Parlamentsabgeordneten - ob beim Tätigwerden oder beim Untätigbleiben - obliegenden Amtspflichten keine Drittwiikung gegenüber den gesetzesunterworfenen Bürgern entfalten, weil der Gesetzgeber abstrakt-generelle Regelungen treffe und insofern ausschließlich Aufgaben gegenüber der Allgemeinheit und nicht ihm gegenüber bestimmten Personen oder Personengruppen obliegende Pfichten wahrnehme.186 Nur ausnahmsweise bei sogenannten Maßnahme- und Einzelfallgesetzen könnten Belange bestimmter Personen unmittelbar durch die Gesetzgebungsaufgaben berührt werden, mit der Folge, daß ihnen gegenüber drittgerichtete Amtspflichten der Gesetzgebungsorgane bestehen. Der Bundesgerichtshof begründet seine grundsätzliche Ablehnung einer gegenüber dem gesetzesunterworfenen Bürger bestehenden drittgerichteten Amtspflicht der Bundestagsabgeordneten mit der haftungsbegrenzenden Funktion des Drittwirkungserfordernisses im Rahmen des § 839 BGB. § 839 BGB sei eine Vorschrift des Delikts183 BGHZ 65, 196, 202; BGH NJW 71, 1699, 1700; Papier in Müko § 839 BGB Rdnr. 193; RGRK-Kreft 5 839 BGB Rdnr. 214. 184 BGHZ 69, 128, 136; BGHZ 84, 292, 299; BGHZ 87, 91 ff; in der Literatur: Maurer (Allg. VerwR) § 25 Rdnr. 19; RGRK-Kreft § 839 BGB Rdnr. 215,239; Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 38 f; Feldhaus (Haftung der Gemeinderatsmitglieder), S. 48; Papier in Müko § 839 BGB Rdnr. 193. 185 BGH NJW 81, 2347; BGH NJW 77, 1875, 1877; BGH NJW 76, 103 f; Maurer (Allg. VerwR) § 25 Rdnr. 19; Papier m Müko § 839 BGB Rdnr. 198. 186 BGHZ 56, 40, 45 ff; BGHZ 84, 292, 300; BGHZ 87, 321, 335; BGH W M 73, 491,497; BGH VersR 75, 737, 738; BGH VersR 88, 85, 89 ff = NJW 88, 478, 482 (Waldsterben); BGH VersR 88, 1046 = BB 88, 1701 =NJW 89, 101 (Investitionshilfeabgabe); vgl. auch OLG München N V w Z 86,691,693; OLG Köln NJW 86, 589, 591 beide zur Waldsterbensproblematik.

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

87

rechts, welches grundsätzlich nur den unmittelbar Geschädigten Schadensersatzansprüche zubillige.187 Schließlich hegt der Bundesgerichtshof die Befürchtung, daß eine Bejahung der Drittrichtung der gesetzgeberischen Amtspflichten weitreichende Folgen für die Staatsfinanzen entfalten würde und dadurch mittelbar auch die politische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers 188 unangemessen eingeschränkt würde. Der vom Bundesgerichtshof vertretene Standpunkt wird von einer Reihe von Autoren geteilt.189 Neuerdings vertritt aber die im neueren Schrifttum hM die Auffassung, daß zumindest die Amtspflicht der Gesetzgebungsorgane zur Wahrung der verfassungsrechtlich verbürgten Grundrechtspositionen Drittwirkung gegenüber den Grundrechtsinhabern entfaltet, weil die Grundrechte auch dem Individualschutz der Bürger dienen.190 Die Grundrechte gewähren dem Bürger subjektive negatorische Abwehransprüche gegen Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die grundrechtlich geschützten Rechtspositionen.191 Durch den Erlaß eines grundrechtswidrigen Gesetzes würden damit auch Amtspflichten verletzt, die gegenüber den betroffenen Grundrechtsinhabern Drittwirkung entfalten. Einem Unterlassen des Gesetzgebers solle dann drittbezogene Wirkung zukommen, wenn 187

BGH NJW 89,101 f = VersR 88,1046 = BB 88,1701 ; BGHZ 56,40, 45.

188

BGHZ 100,136,145 ff, BGH NJW 88,478,480 f.

189 Dagtoglou (Ersatzpflicht) S. 38 ff; ders. BK, Art. 34 GG Rdnr. 432 f; Schock M D R 68, 186, 188; ders. DÖV 71, 446, 447; Detterbeck JA 91,1, 11 Eckert, S. 87 ff; Wolff/Bachof (Ve rwR I) δ 64 I b, S. 62 f; Jaenicke W D S t R L 20, 135, 149 f; Krefi-RGRK § 839 BGB Rdnr. 220; Palandt-Thomas § 839 BGB Rdnr. 19; Ossenbühl (Staatshaftungsrecht) § 7 S. 87 ff; Steinberg/Lubberger Aufopferung - Enteignung und Staatshaftung, S. 302; Bender (Staatshaftungsrecht) Rdnr. 652 ff; Traving, Diss. S. 145 ff; Menger VerwArchiv 63 (1972), S. 81, 84 ff; Soegel-Glaser § 839 BGB Rdnr. 97; Staudinger-Schäfer § 839 BGB Rdnr. 202; Boujong, FS fur W. Geiger (1989), S. 433ff; Maunz in WD/WS Kom. zum GG (1971) Art. 34 Rdnr. 25; Drittlichtung ohne jede Ausnahme verneinend: Mondry (Gefahrdungshaftung), S, 165; Scheuner BB 60,1256; Spengler JZ 54,693; Schock MDR 53,515; keine drittgerichteten Amtspflichten beim Untätigbleiben des Gesetzgebers: Bettermann in Bettermann-Nipperdey-Scheuner: Die Grundrechte I I I 2, S. 839 f; a.A.: Schock DÖV 63,281,286. 190 v. Arnim, S. 46 ff; Haverkate NJW 73,441,442 f; ders. ZRP 77, 33, 35; Oldiges Der Staat 15 (1976), S. 381, 389 f; Scheuing, FS für Bachof (1984), S. 343, 357; Schenke D V B L 75, 121, 125; ders. (Rechtsschutz), S. 90 ff; ders. NJW 88, 857, 862; ders. AgrarR 90, 184, 186; Schenke/Guttenberg DöV 91, S. 949; Fuss, Urteilsanmerkung, EuR 78, 353, 358; Maurer (Allg. VerwR), § 25 Rdnr. 51; Herdegen (Haftung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft) 1983, S. 62 ff; Kosmider (Staatshaftung für Satzungsunrecht), Diss. 1983, S. 78 ff; Papier in M/D/H/S Kom. zum GG, Art. 34 Rdnr. 179; ders. in Müko § 839 BGB Rdnr. 221; ders. D V B L 74, 577; Kimminich Jus 69, S. 354; Jacobs (Staatshaftungsrecht) 1982, Rdnr. 209; Langer N V w Z 87, 195, 197; Krüger ZBR 59, 407; Schmidt ZRP 87, 347; Speiser (Ersatzpflicht), Diss., S. 102 ff; Weber (Staatshaftung), Diss. S. 54 ff; Witte (Staatshaftung), S. 141 ff; Hackenbroth in Brinkmann GGKom. Art 34 Anm. I 3 d; Frings (Amtshaftungsansprüche), Diss 1989, S. 56 f; Teschner (Amtshaftung), Diss. 1990, S. 54 ff; Blankennagel DVB1 81, 15, 21; Buschlinger DÖV 64, 797, 799; Jerusalem SJZ 50, Sp 1, 7; Scholz NJW 72,1217 ff; Schock DÖV 63, 281, 286 (speziell auch zum Untätigbleiben des Gesetzgebers); ders. NJW 73, 1336, 1338; Mayer/Kopp (Allg. VerwR) § 56 V I S. 490; vgl. auch Forsthoff BB 60, 1138; wohl auch Hamann/Lenz GG-Kom. Art. 34 Anm. 5; 80 Anm. 5, Dohnold DÖV 91, 152; vgl. ferner auch Moüer NJW 67, 2338 ff (Drittbezogenheit bei Verletzung der EMRK); in der Rspr.: LG Freiburg MDR 53, 564; OLG Tübingen M D R 53,564. 191 BVerfGE 7, 198, 204; BVerfGE (Verfassungsrecht) Rdnr. 279.

50, 290, 337; Ossenbühl NJW 76, 2100 f; Hesse

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

88

den grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates192 subjektive Schutzansprüche des einzelnen korrespondierten. 193 b) Verletzung drittbezogener Amtspflichten beim Erlaß eines rechtswidrigen Gesetzes - kritische Stellungnahme aa) Grundrechtsverstoß

als Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht

Wenn man die vom Bundesgerichtshof vertretene Auffassung näher betrachtet, dann ergibt sich, daß der Bundesgerichtshof bei der Frage, ob den Abgeordneten bei ihrer Gesetzgebungstätigkeit drittschützende Amtspflichten obliegen, sich selbst in Widerspruch zu der von ihm geprägten Formulierung, wonach eine Amtspflicht dann drittbezogen ist, wenn "sich aus den die Amtspflicht begründenden und sie umreißenden Bestimmungen und der besonderen Natur des Amtsgeschäftes ergibt, daß der Geschädigte zu dem Personenkreis zählt, dessen Belange nach dem Zweck und der rechtlichen Bestimmung des Amtsgeschäftes geschützt und gefördert werden sollen",194 setzt. Der Bundesgerichtshof stellt hier nämlich nicht wie sonst auf die die Amtspflichten begründenden und sie umreißenden Vorschriften - dies sind im Falle der Abgeordneten nach Art. 20 Abs. 3, 1 Abs. 3 GG die Bestimmungen des Grundgesetzes sowie die Bestimmungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts und die Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention ab, sondern auf die zu erlassende Rechtsnorm. Damit erweist sich der vom Bundesgerichtshof gewählte Ausgangspunkt als konstruktiv verfehlt. Ob die Amtspflicht der Bundestagsabgeordneten, keine rechtswidrigen Gesetze zu beschließen, drittschützende Wirkung entfaltet, kann naturgemäß nur von den Bestimmungen abhängen, die die Abgeordneten bei ihrer Gesetzgebungstätigkeit zu beachten haben.195 Soweit die Parlamentsabgeordneten bei ihrer Gesetzgebungstätigkeit subjektive öffentliche Rechte - und hierzu zählen die Grundrechte zweifelsfrei 196 192

vgl. hierzu oben unter Punkt 2.b.bb. ff.

193

Witte S. 141; Langer NVwZ 87, 197; v. Arnim, S. 58 ff; Baumann in ders. Rechtsschutz für den Wald ?, S. 144. 194

vgl. etwa BGHZ 56,45; BGHZ 84,292,299.

195

vgl. hierzu v. Arnim. S. 44 ff; HaverkateNJW 73, S. 443 f; Oldiges Der Staat 15, S. 389; Speiser, S. 102 f; Schenke DVB1 75, S. 125; ders. AgrarR 90, S. 188; Scheuing FS für Bachof, S. 357; Maurer (Allg. VerwR) § 25 Rdnr. 51; Witte, S. 141; Papier in M/D/H/S Art. 34 GG Rdnr. 179. 196 BVerfGE 6, 386, 387; Papier in Müko § 839 BGB Rdnr. 192, 221; Oldiges Der Staat 15, S. 389; Jacobs (Staatshaftungsrecht), Rdnr. 209.

. Die Tatbestandvoraussetzungen

89

zu wahren haben, ist somit den Amtspflichten der Parlamentarier zur Wahrung der grundiechtlich geschützten Rechtsgüter Drittwirkung gegenüber den betroffenen Grundrechtsinhabern zuzusprechen,197 denn auch hier indiziert die Verletzung eines subjektiven öffentlichen Rechtes den Verstoß gegen eine drittbezogene Amtspflicht 198 Hier zeigen sich die Parallelen zwischen der Bestimmung eines subjektiven öffentlichen Rechts und der Bestimmung einer drittbezogenen Amtspflicht. Auch wenn eine bestimmte Rechtsnorm dem einzelnen nur dann ein subjektives öffentliches Recht gewährt, wenn sie ihm eine gerichtlich durchsetzbare Rechtsmacht verleiht, während eine drittgerichtete Amtspflicht schon dann vorliegt, wenn die Rechtsnorm auch dem Schutz bestimmter Belange des Betroffenen dient, wird bei beiden Untersuchungen auf die sogenannte Schutznormtheorie zurückgegriffen und geprüft, ob die jeweiüge Rechtsnorm zumindest auch dem Schutz der Interessen einzelner Bürger zu dienen bestimmt ist 1 9 9 Demgemäß läßt sich feststellen, daß eine drittbezogene Amtspflicht immer dann vorliegt, wenn sich die Amtspflicht auf eine Rechtsnorm bezieht, die ein subjektives öffentliches Recht gewährt;200 umkehren läßt sich dieser Satz jedoch nicht Der Bundesgerichtshof hat jedoch jüngst wieder betont, daß er, obwohl er bei der Bestimmung der Drittrichtung von Amtspflichten immer wieder auf die Schutznormtheorie zurückgreift, nicht in jeder Verletzung eines subjektiven öffentlichen Rechtes eine Verletzung drittgerichteter Amtspflichten sehen will. 201 Er hält es zwar grundsätzlich für möglich, daß die Mandatsträger bei der Gesetzgebung drittgerichtete Amtspflichten verletzen, wenn das zu erlassende verfassungswidrige Gesetz nachteilig in Grundrechte Dritter eingreift. 202 Nicht jeder Grundrechtsverstoß soll aber zugleich eine Verletzung einer drittschützenden Amtspflicht mit sich bringen. Vielmehr sei für die Verletzung drittgerichteter Amtspflichten neben einem Grundrechtsverstoß noch zusätzlich erforderlich, daß der von der Grundrechtsverletzung betroffene Personenkreis 197 Die Drittwirkung ist nicht nur bei der Verletzung eines subjektiven öffentlichen Rechtes, sondern im Hinblick auf Art 19 Abs. 4 GG und § 42 Abs. 2 VwGO auch bei Verletzung einer Schutznorm gegeben, die zumindest auch den Interessen des Geschädigten zu dienen bestimmt ist, aber dem Geschädigten keine Rechtsmacht zur Geltendmachung eines Anspruches verleiht - vgl. etwa: Oldiges Der Staat 15, S. 389 insbesondere Fußnote 38; Teschner, S. 25 ff; Papier in Müko § 839 BB Rdnr. 193; Papier in M/D/H/S Art 34 GG Rdnr. 167; vgl. auch Haverkate NJW 73,444. 198 vgl. auch Oldiges Der Staat 15, S. 387 f; Schenke DVB1 75, S. 125; ders. NJW 88, S. 862; ders. AgrarR 90, S. 187; Frings, S. 56; Detterbeck JA 91, S. 11; Maurer (Allg. VerwR) § 25 Rdnr. 51; Frings, S. 56. 199

Maurer (Allg. VerwR) § 8 Rdnr. 8 ff.

200

Oldiges Der Staat 15, 387; Papier im Müko § 839 BGB Rdnr. 192; Schenke DVB1 75, 125; Dagtoglou in BK Art. 34 GG Rdnr. 152; Teschner S. 56; Witte, S. 141. 201

BGH NJW 89, S. 101 f.

202

BGH NJW 89,101 f.

90

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

überschaubar und individuell begrenzt ist.203 Damit setzt sich der Bundesgerichtshof aber dem Vorwurf der dogmatischen Inkonsequenz aus, denn bei der Anwendung der Schutznormtheorie muß das Bestehen eines subjektiven öffentlichen Rechtes zugleich auch die Existenz einer drittbezogenen Amtspflicht nach sich ziehen. Jeder Inhaber eines subjektiven öffentlichen Rechts hat einen eigenen individuellen Anspruch auf Unterlassung rechtswidriger Eingriffe in seine Rechtspositionen. Daraus folgt zwangsläufig, daß die den Abgeordneten bei ihrer Gesetzgebungstätigkeit obliegenden Amtspflichten dem besonderen Interesse der einzelnen Grundrechtsinhaber zu dienen bestimmt sind und nicht nur dem Interesse der Allgemeinheit. Wenn der Bundesgerichtshof nun noch das Erfordernis eines überschaubaren und individuell abgegrenzten Personenkreises einführen will, um in einem Grundrechtsverstoß zugleich auch die Verletzung einer drittgerichteten Amtspflicht erblicken zu können, dann verkennt er hierbei das Wesen der Grundrechte. Die Grundrechte sind von Verfassungs wegen subjektive öffentliche Rechte des einzelnen. Somit ist automatisch ein viel größerer Personenkreis angesprochen als bei subjektiven öffentlichen Rechten, die sich aus unter der Verfassung stehenden Gesetzen ergeben. Der große Adressatenkreis der Grundrechte ändert aber nichts daran, daß jeder Grundrechtsinhaber Individulschutz beanspruchen kann. Die Heranziehung des Kriteriums des hinreichend abgrenzbaren Kreises der potentiell Berechtigten ist nur in den Fällen angebracht, in denen sich aus einer objektiven Rechtsnorm nicht bereits deutlich ergibt, daß diese Norm auch ein subjektives Recht verleiht In diesem Fällen dient dann das von der Rechtsprechung vor allem im Baurecht entwickelte Kriterium des hinreichend abgrenzbaren Kreises der potentiell Berechtigten204 dazu, die Existenz eines subjektiven öffentlichen Rechts zu ermitteln. 205 Bei den Grundrechten ist im Status-Negativus-Aspekt die Existenz eines subjektiven öffentlichen Rechts aber bereits deutlich ausgebildet, so daß es des vom Bundesgerichtshof herangezogenen Kriteriums des abgrenzbaren Personenkreises nicht bedarf. Außerdem differenziert der Amtshaftungstatbestand nicht danach, ob eine Amtspflicht sich auf eine einzelne Person oder auf eine Mehrzahl oder Vielzahl von Personen bezieht.206 Schließlich kommt hinzu, daß im Bereich des primären Rechtsschutzes zu keinem Zeitpunkt der Versuch gemacht wurde, den Anwendungsbereich der Grundrechte durch das 203 Kosmider> S. 63 f weist in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hin, daß das Merkmal des "überschaubaren und individuell begrenzten Personenkreises" kaum Trennungsschärfe aufweist. 204 vgl. etwa BVerwGE Zl % 29, 33; BVerwGE 52, 122, 128 ff; neuerdings modifizierend BVerwG N V w Z 87,409. 205 Maurer (AllgVerwR) § 8 Rdnr. 9; Langer NVwZ 87,197. 206 so zutreffend Oldiges Der Staat 15, s. 390; die Formulierung "eine einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht"hat nur sprachliche Bedeutung. Ursprünglich war sogar die Formulierung " eine gegenüber Dritten obliegende Amtspflicht" vorgesehen gewesen - siehe hierzu Oldiges, insbesondere Fußnote 41.

II.

e Tatbestandvoraussetzungen

91

Kriterium eines "überschaubaren und individuell abgrenzbaren Personenkreises" einzuschränken. Ist somit der Schutzzweck der die Amtspflicht begründenden Vorschriften für die Drittwirkung einer Amtspflicht entscheidend, dann ist damit zugleich gesagt, daß der Charakter und der Wirkungskreis der zu erlassenden Rechtsnorm keine Rolle spielt. Dagtoglou, der die Auffassung des Bundesgerichtshofes entscheidend mitgeprägt hat, führt in seiner Schrift" Ersatzpflicht des Staates bei legislativem Unrecht" zwar aus, daß die Amtspflicht des Gesetzgebers im Erlaß von Gesetzen bestehe, da die Verfassung dem Parlament die Gesetzgebungszuständigkeit anvertraue. 207 Hierzu folgert er, daß diese Bestimmungen des Grundgesetzes "zweifellos den Interessen der Allgemeinheit und nicht bestimmten einzelnen Personen" diene. Das Gesetz sei "dementsprechend abstrakt und generell". Dagtoglou verwechselt hier aber das Amtsgeschäft mit den bei der Wahrnehmung eines Amtsgeschäftes obliegenden Amtspflichten. Außerdem verkennt er, daß das Grundgesetz sich nicht damit begnügt, dem Parlament die Gesetzgebungszuständigkeit als Amtsgeschäft zuzuweisen. Vielmehr enthält das Grundgesetz auch Bestimmungen darüber, wie die Gesetzgebungstätigkeit auszuüben ist, nämlich unter Beachtung der Verfassung und der darin veibürgten Grundrechte (Art 20 Abs. 3,1 Abs. 3 GG). Wie bereits dargelegt, sind aber bei der Bestimmung der Drittbezogenheit einer Amtspflicht die die Amtspflicht begründenden Vorschriften entscheidend. Ehe Natur des Amtsgeschäftes, die ebenfalls in der vom Bundesgerichtshof verwendeten Formulierung angesprochen wird, ist dagegen nur von Bedeutung, soweit es um die Begrenzung des Kreises der Personen geht, denen gegenüber eine drittgerichtete Amtspflicht Schutz entfaltet 208 Der Amtshaftungstatbestand stellt nämlich - und dies ist auch in der Rechtsprechung anerkannt - nicht darauf ab, in wessen Interesse ein Amtswalter die ihm anvertraute Aufgabe wahrnimmt, sondern darauf, in wessen Interesse dem Amtsträger bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben Amtspflichten auferlegt sind.209 Dies zeigt sich beispielsweise auch daran, daß einem Verkehrsteilnehmer, der von einem Amtsträger, der sich auf einer Dienstfahrt befindet, verletzt wird, ein Amtshaftungsanspruch zugestanden wird. Die Dienstfahrt selbst lag sicherlich nicht im Interesse des geschädigten Verkehrsteilnehmers, wohl aber die Amtspflicht des Amtswalters, hierbei die allgemein gültigen Verkehrsregeln zu beachten. Bender, 210 der ähnlich wie Dagtoglou argumentiert, verneint eine Drittwirkung der den Abgeordneten auferlegten Amtspflichten mit der Begründung, die 207

Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 39 ff.

208

vgl. hierzu Oldiges Der Staat 15, S. 388.

209

Speiser, S. 101; Staudinger-Schäfer 358 m. w. N.; BGtf NJW 89, S. 976, 978. 210

§ 839 BGB Rdnr. 57; Teschner S. 55; BGH VersR 67,

Bender (Staatshaftungsrecht), Rdnr. 654.

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

92

Abgeordneten seien nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG Repräsentanten des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Diese Verfassungsnorm habe das Bild eines Abgeordneten vor Augen, dessen politische Tätigkeit frei von rechtlichen Verpflichtungen gegenüber einzelnen Personen oder Personengruppen sei. Auch aus Ait. 20 Abs. 3,1 Abs. 3 GG ergebe sich nur, daß der Abgeordnete nur dem Gemeinwesen nach Maßgabe der Verfassung verantwortlich sei. Bender ist sich jedoch selbst bewußt, daß seine Auffassung Angriffspunkte bietet, denn er erkennt durchaus, daß dem Staat die Verpflichtung obliegt, die Grundrechte zu respektieren, und daß mit diesen den Grundrechtsträgern gegenüber bestehenden Rechtspflichten des Staates entsprechende Amtspflichten der Abgeordneten korrespondieren. 211 Allerdings hält er dieses Argument nicht für ausschlaggebend. Bender beachtet hierbei aber nicht, daß der in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG normierte Grundsatz des freien Mandates nicht besagt, daß die den Abgeordneten auferlegten Amtspflichten nur der Allgemeinheit gegenüber bestehen. Das Staatsvolk ist keine eigene Rechtspersönlichkeit, sondern nur die Summe der einzelnen Bürger. Die Staatsbürger sind aber jeder für sich Träger der verfassungsrechtlich verbürgten Grundrechte, die nach Art 1 Abs. 3 GG unmittelbare Geltungskraft gegenüber dem Gesetzgeber entfalten. Da das freie Mandat aber, wie bereits mehrfach erläutert, nur innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen der Art 20 Abs. 3, 1 Abs. 3 GG gewährleistet ist, ist es mit den aus den Grundrechten resultierenden drittgerichteten Amtspflichten belastet. Davon geht auch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG aus, denn diese Vorschrift besagt nicht, daß der Abgeordnete außerhalb der verfassungsrechtlichen Pflichten steht, sondern nur, daß er von Einflüssen geschützt werden soll, die von der Verfassung nicht vorgesehen und auch nicht gewünscht sind.212 Schließlich ist der Auffassung Benders auch entgegenzuhalten, daß die entsprechenden Vorschriften im Beamtenrecht (§ 52 Abs. 1 Satz 1 BBG, § 35 Abs. 1 Satz 1 BRRG) ebenfalls die Formulierung enthalten, daß "der Beamte dem ganzen Volk" und nicht nur einer Partei dient. Dennoch wurde bisher noch nie in Zweifel gezogen, daß der Beamte Amtspflichten gegenüber dem einzelnen Bürger zu befolgen hat. Dasselbe gilt für den Richter, der nach A n 97 Abs. 1 GG zwarrichterliche Unabhängigkeit genießt, trotzdem aber nach § 839 Abs. 2 BGB zu dem Personenkreis zählt, der eine Amtspflichtverletzung begehen kann.

211 212

Bender, Rdnr. 654.

Maunz in M/D/H/S Art 38 Rdnr. 17; Speiser, S. 98; Schenke DVB1 75, 125; Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 36 ff.

93

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

bb) Formelle Verfassungsverstöße drittgerichteten Amtspflicht

als Verletzung einer

Nicht alle Normen in der Verfassung vermitteln jedoch subjektive öffentliche Rechte. Dies gilt insbesondere für die Kompetenzvorschriften und die Vorschriften über den Gang des Gesetzgebungsverfahrens. Aber auch der Mitwirkungspflicht der Abgeordneten an den Arbeiten des Bundestages, die in der Verfassung nicht ausdrücklich geregelt ist, steht im allgemeinen kein subjektives öffentliches Recht des Bürgers auf Tätigwerden gegenüber.213 Deshalb ist es zweifelhaft, ob mit den genannten Verfassungsverstößen die Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht einhergeht. In der Rechtsprechung ist zwar anerkannt, daß die Pflicht eines Beamten, die Grenzen seiner Zuständigkeit einzuhalten, auch im Interesse des Geschädigten besteht, wenn eine innere Beziehung zwischen der schädigenden Handlung und der Amtsausübung existiert. 214 Die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeit zwischen Bund und Ländern dient aber ausschließlich dazu, die Rechte der Bundesländer und des Bundes gegeneinander abzugrenzen. Sie soll dagegen nicht das Interesse von Einzelpersonen schützen.215 Das Bundesverfassungsgericht mißt zwar bestimmten Kompetenzvorschriften über die bloß formal abgrenzende Wirkung als Aufgabenfelder hinaus gewisse materielle Inhalte bei, die grundrechtsbeschränkenden Charakter haben. So hat das Bundesverfassungsgericht im Apothekerurteil die Vereinbarkeit von Zulassungsbeschränkungen mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 74 Nr. 19 GG hergeleitet.216 Aus Art. 73 Nr. 1, 87 a Abs. 1, 12 a Abs. 1 GG entnimmt das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung des Verfassungsgebers für die allgemeine Wehrpflicht, die einen Grundrechtseingriff rechtfertigt. 217 Im Mühlheim-Kärlich-Beschluß findet sich dann auch die These, daß in Art 74 Nr. 11 a GG die Entscheidung der Verfassung gefallen ist, daß die Erzeugung und Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken nicht gegen das Grundgesetz verstößt.218 Nach dieser Rechtsprechung entfalten die Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes auch im Verhältnis Staat - Bürger Wirkungen.219 Allerdings dienen diese Vorschriften auch unter Berücksichtigung dieser sehr weitgehenden Rechtsprechung des Bundes213

vgl. hierzu auch Teschner, S. 200.

214

BGHZ 81, 21, 27; BGHZ 65, 182, 187; vgl. auch RGRK-Krefi Dagtoglou in BK Art 34 GG Rdnr. 159.

§ 839 BGB Rdnr. 169;

215 vgl. hierzu Speiser, S. 104; Maurer (AllgVerwR), 6. Aufl.(1988), § 25 Rdnr. 52; Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 41; Scheuing FS für Bachof, S. 357 Fußnote 58; RGZ 130, 319, 328; LG Freiburg M D R 53, S. 564; a.A. Weber, S. 56. 216

BVerfGE

217

BVerfGE

12, 45, 50; BVerfGE

218

BVerfGE

53,30,56.

219

kritisch zu dieser Rechtsprechung des BVerfGs: Selk Jus 90, S. 895 ff.

7,377,401. 28, 243, 261 ; BVerfGE

48,127,159.

94

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

Verfassungsgerichtes nicht den Interessen des einzelnen, da sie in materieller Hinsicht ausschließlich Grundrechtsschranken enthalten und keine subjektiven öffentlichen Rechte vermitteln. Deshalb bleibt es dabei, daß ein Verstoß gegen die Kompetenzvorschriften als solcher keine Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht darstellt.

Wenn sich Kompetenziiberschreitungen oder sonstige formelle Verfassungsverstöße aber mit materiellen Grundrechtsverletzungen verbinden, dann liegt in dieser Grundiechtsverletzung zugleich auch die Verletzung einer drittgerichteten Amtspflicht begründet Dies beruht darauf, daß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei formellen Verfassungsverstößen zugleich auch das von seinem Schutzbereich einschlägige Grundrecht verletzt wird. 220 Falls kein spezielles Grundrecht einschlägig ist, ist auf die allgemeine Handlungsfreiheit als subsidiäres Grundrecht 221 zurückzugreifen. 222 Entsprechendes gilt auch für die Verletzung der Mitwirkungspflicht der Abgeordneten an den Arbeiten des Bundestages. Sofern die Abgeordneten mit der Verletzung dieser Pflicht auch eine Grundrechtsverletzung begehen, indem sie durch Abgabe einer ungültigen Stimme, durch Stimmenthaltung, durch unberechtigte Sitzungsabwesenheit oder durch Verschweigen von Sonderwissen den Erlaß eines grundrechtswidrigen Gesetzes ermöglichen, anstatt durch Abgabe einer Nein-Stimme und durch Aufklärung der übrigen Bundestagsmitglieder das Zustandekommen des Gesetzes zu verhindern, liegt in dieser Grundrechtsverletzung auch die Verletzung einer drittschützenden Amtspflicht begründet Daraus folgt, daß auch bei formellen Verfassungsverstößen ein Amtshaftungsanspruch in Betracht kommt, wenn die übrigen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind.223 Der Bundesgerichtshof 224 und ihm folgend Boujong 225 halten die Annahme einer Verletzung von drittbezogenen Amtspflichten bei einem Verstoß gegen Art 2 Abs. 1 GG allerdings um so weniger für tragbar, als sich der Grundrechtsverstoß gerade aus der Verletzung von Vorschriften ergeben 220

BVerfGE

13,181,190; BVerfGE

24,367, 384 ff; vgl. audi Schwabe DÖV 73,623,624.

221

Würde man das Grandrecht des Art. 2 Abs. 1 GG aus dem Anwendungsbereich einer Haftung für legislatives Unrecht ausklammern, dann würde dies ein verfassungsrechtlich nicht vorgesehenes Zweiklassensystem unter den Grundrechten entwickeln. Die im Verlauf der Staatshaftungsreform vorgeschlagene Einengung der Grundrechtshaftung auf spezifische Grundrechte ist in der Literatur auf einhellige Kritik gestoßen (vgl. etwa Jacobs (Staatshaftungsrecht), Rdnr. 329 ff; Papier ZRP 79, S. 67, 70 f; Ossenbühl Jus 78, S. 720, 721) und wurde im Staatshaftungsgesetz auch gestrichen. 222

vgl. etwa BVerfGE

6, 32,41 f; BVerfGE

223

42, 20,27 ff.

vgl. etwa Speiser, S. 105, Weber, S. 56; Scheuing FS für Bachof, S. 357 Fußnote 58; Oldiges Der Staat 15, S. 389 Fußnote 39; v. Arnim S. 49 ff; Teschner S. 53; vgl. auch Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 40 - 42; ders. in BK Art 34 GG Rdnr. 433. 224

BGH NJW 89,101 f.

225

Boujong FS für Geiger, S. 432,433 ff.

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

95

kann, die ausschließlich im Interesse der Allgemeinheit erlassen worden sind, wie dies beispielsweise bei Verletzung der Vorschriften über die Gesetzgebungszuständigkeit der Fall ist. Als Begründung wird vorwiegend angeführt, daß der Begriff des Dritten durch eine solche Auslegung seine haftungsbegrenzende Funktion verlieren würde. 226 Insbesondere bei einem Verstoß des Gesetzgebers gegen Art. 2 Abs. 1 GG, der die allgemeine Handlungsfreiheit des Bürgers umfassend schützt, würde sehr häufig auch ein amtspflichtwidriges Verhalten gegeben sein, das für die Staatsfinanzen weitreichende Folgen haben könnte.227 Die haftungsbegrenzende Funktion der drittgerichteten Amtspflicht hat den Bundesgrichtshof aber in den Fällen des Verwaltungsunrechts bisher nicht gehindert, die Drittbezogenheit von Amtspflichten auszuweiten.228 Dies liegt daran, daß die Auslegung des § 839 BGB unter dem rechtsstaatlichen Einfluß der grundgesetzlichen Ordnung einen Wandel erfahren mußte. Das Wesen des Rechtsstaates erfordert die Wiedergutmachung von Schäden, die infolge staatlichen Unrechts hervorgerufen wurden. Diese Entwicklung darf aber auch nicht vor dem Gesetzgeber haltmachen, dessen Akte immer stärkeren Einfluß auf das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben ausüben. Mit der Einßhrung der Grundrechte als Individualrechte der Bürger, die zugleich auch den wesentlichen Bestandteil des materialen Rechtsstaatsprinzipes des Grundgesetzes darstellen, hat zugleich auch die Auslegung des Begriffes einer einem Dritten gegenüber obliegenden Amtspflicht einen grundlegenden Wandel erfahren. Zwar hat der Verfassungsgeber durch die Einfuhrung des Art. 34 GG nichts an der haftungsrechtlichen Konstruktion der Amtshaftung als Übernahmehaftung für fremdes Verschulden ändern wollen.229 Die in § 839 BGB angesprochenen Amtspflichten ergeben sich aber weder aus § 839 BGB noch aus Art 34 GG, sondern sind in anderen Rechtsnormen geregelt.230 Gerade der Grundrechtsteil des Bonner Grundgesetzes enthält solche Amtspflichten, wie in Art 1 Abs. 3 GG deutlich zum Ausdruck kommt. Mit der Einßhrung der individualbezogenen Grundrechte wurde folglich der Amtshaftungstatbestand nicht angetastet, wohl aber seine Auslegung. Wenn die Verfassung dem einzelnen Bürger subjektive öffentliche Rechte im Form von Grundrechten einräumt und den Gesetzgeber zur Wahrung dieser Grundrechte verpflichtet, ohne hierbei eine Differenzierung zwischen den einzelnen Grund226

BGH NJW 89,101 f; Boujong FS für Geiger S. 432.

227

Boujong FS für Geiger, S. 433; vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch BGHZ 100, 137, 145; B G / / N J W 88,478,480 f. 228

vgl. hierzu auch Teschner, S. 55, Oldiges Der Staat 15, S. 387.

229

BVerfGE

230

61, S. 149,198 f.

Meyer in v. Münch GG-Kom. Art. 34 GG Rdnr. 48; Speiser, S. 82; Weber, S. 43; Schenke DVB175, S. 126; Witte, S. 123 Fußnote 13.

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

96

rechten vorzunehmen, dann folgt daraus, daß alle Grundrechte, auch das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG, drittbezogene Amtspflichten im Sinne des Amtshaftungstatbestandes begründen.231 Das Bundesverfassungsgericht hat schon früh festgestellt, daß bei formellen Verfassungsverstößen immer zugleich auch das von seinem Schutzbereich her einschlägige Grundrecht verletzt ist. 232 Die Grundrechte verbieten jeglichen gesetzgeberischen Eingriff, der nicht in formeller oder materieller Hinsicht im Einklang mit der Verfassung steht Damit ist es nicht zulässig, formelle Verfassungsverstöße, die zu einer Grundrechtsverletzung führen, anders zu bewerten als materielle Grundrechtsverstöße. Dies gilt auch für das umfassende Grundrecht aus Art. 2 Abs 1 GG, denn diesem Grundrecht kommt trotz seiner Subsidiarität gegenüber den anderen Grundrechten kein niedriger Rang zu. 233 Soweit der Bundesgerichtshof im Hinblick auf den subsidiär einschlägigen Art. 2 Abs. 1 GG, der die allgemeine Handlungsfreiheit der Bürger umfassend schützt, eine Ausuferung der Amtshaftung befürchtet, die nachhaltige Folgen für die Staatsfinanzen zeitigen würde, so ist ihm hier entgegenzuhalten, daß bereits mehrfach nachgewiesen wurde, daß eine erhebliche finanzielle Belastung des Staates nicht zu erwarten ist, wenn in jedem Grundrechtsverstoß zugleich auch eine Verletzung drittgerichteter Amtspflichten gesehen wird. 234 Insofern darf auf die Ausführungen in Kapitel 1 dieser Arbeit verwiesen werden. cc) Verstoß gegen subjektive öffentliche Rechte des Europäischen Gemeinschaftsrechts als Verletzung einer drittgerichteten Amtspflicht Nach den bisherigen Ausführungen entfalten die den Parlamentsabgeordneten obliegenden Amtspflichten zur Wahrung der den einzelnen Bürgern eingeräumten subjektiven öffentlichen Rechte Drittrichtung gegenüber den Rechtsinhabern. Solche vom Gesetzgeber zu beachtenden subjektiven öffentlichen Rechte finden sich aber nicht nur im Grundgesetz, sondern auch im Recht der Europäischen Gemeinschaften. Das Europäische Gemeinschaftsrecht verfügt zwar über keinen ausdrücklichen Grundrechtskatalog, der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat aber in ständiger Rechtsprechung aus den den Mitgliedstaaten gemeinsamen Verfassungsbestimmungen und aus den von den 231

Dies verkennt Boujong in FS für Geiger, S. 434.

232

vgl. etwa BVerfGE

13,181,190; BVerfGE

24,367,384 ff.

233

alle Grundrechte haben grundsätzlich den gleichen Rang, auch wenn dem Leben ein Höchstwert zukommt - vgl. etwa Hermes, S. 253; Witte, S. 59 m. w. N. 234 v. Arnim, S. 68 f; Schenke DVB175, S. 127; ders. NJW 88, S. 860 f; Scheuing FS für Bachof, S. 355 - 363, 368; Teschner, S. 54 f; Ossenbühl: Neue Entwicklungen im Staatshaftungsrecht, S. 14; vgl. auch Imohr DVB168, S. 631; Kommissionsentwurf, S. 34.

97

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

Mitgliedstaaten abgeschlossenen Menschenrechtsverträgen allgemeine innergemeinschaftsrechtliche Grundrechte entwickelt.235 Als gemeinschaftsrechtliche Grundrechte hat der Gerichtshof u. a. bisher anerkannt: die Achtung der Privatsphäre und des Familienlebens, die Unverletzlichkeit der Wohnung, den Grundsatz der Gleichbehandlung und des Diskriminierungsverbots, Religionsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Berufsfreiheit und freier Zugang zur Beschäftigung, Eigentumsschutz, freie wirtschaftliche Betätigung, Meinungs- und Veröffentlichungsfreiheit, Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und auf fairen Prozeß sowie das Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen. 236 Daneben erhob der Gerichtshof auch allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts in den Grundrechtsrang. 237 Alle diese Grundrechtsrang beanspruchenden subjektiven öffentlichen Rechte der Gemeinschaftsbürger sind vom nationalen Gesetzgeber zu gewährleisten. Daneben können auch sonstige Bestimmungen des primären Gemeinschaftsrechts sowie Vorschriften des sekundären Gemeinschaftsrechts (Verordnungen; Richtlinien) subjektive öffentliche Rechte des einzelnen begründen, die von den Mitgliedstaaten zu beachten sind.238 Hierbei ist wiederum zu berücksichtigen, daß Bestimmungen, die in EG-Richtlinien enthalten sind und inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, bereits vor ihrer Umsetzung ins nationale Recht subjektive öffentliche Rechte des einzelnen Marktbürgers festlegen können, auf die sich dieser direkt berufen kann.239 Eine Drittrichtung von Amtspflichten ist aber, wie an früherer Stelle ausgeführt, nicht nur bei subjektiven öffentlichen Rechten zu bejahen, sondern bereits schon dann, wenn eine Rechtsnorm auch dem Schutz der Interessen des Betroffenen zu dienen bestimmt ist. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften verfährt bei der Annahme einer solchen Schutznorm äußerst großzügig und spricht einer Rechtsvorschrift bereits dann Drittwirkung zu, wenn sie nur im Reflex auch individuelle Interessen des Betroffenen schützt.240 So können

235 Schweitzer/Hummer (Europarecht), Rdnr. 68.

(Europarecht), S. 218; Nicolaysen (Europarecht I), S. 58; Oppermarm

236

Nachweise bei Schweitzer/Hummer,

237

vgl. hierzu die ausführliche Darstellung bei Schweitzer/Hummer,

S. 219; Nicolaysen, S. 60 ff. S. 215 ff.

238

vgl. hierzu Pieper IWB Nr. 7 vom 10. 4. 92, Fach 5 Europäische Gemeinschaften, Gruppe 1,S. 50 f. 239 ständige Rechtsprechung des EuGH seit EuGHE 71, S. 1337 ff; EuGHE 82, S. 53 ff; EuGHE 86, S. 1651, 1691 f; EuGHE 86, S. 723, 748; EuGH ZIP 91, S. 1610 ff; Mögele BayVBl 89, S. 592; Nicolaysen, S. 37. 240 vgl. etwa EuGHE 67; S. 332, 355; Ossenbühl (Staatshaftungsrecht), S. 420 f; Grabitz EWGV-Kom. Art 215 Rdnr. 32; von Bogdandy Jus 90, S. 874; GilsdorflOliver in von der Groeben/Thiesing/Ehlermann Kom. zum EWGV, Art 215 Rdnr. 39; Nicolaysen, S. 224.

7 Fetzer

98

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

auch einzelne Bestimmungen des primären Gemeinschaftsrechts 241 und Schutzklauseln im sekundären Gemeinschaftsrecht 242 dem Schutz von Interessen des einzelnen Bürgers zu dienen bestimmt sein. Inwieweit auch Form- und Verfahrensvorschriften Drittwirkung entfalten, ist nach der Judikatur des Gerichtshofs noch nicht eindeutig geklärt. In der Regel werden diese Vorschriften nicht dem Schutze des einzelnen, sondern verwaltungstechnischen oder institutionellen Zwecken dienen, so daß ihre Verletzung mangels Schutznormqualität keine Haftungsfolgen auslöst.243 dd) Verstoß gegen die Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention als Verletzung von drittgerichteten Amtspflichten Art. 1 EMRK gewährt unmittelbar allen im Herrschaftsbereich der Vertragsstaaten lebenden Personen die in der Konvention niedergelegten Rechte und Freiheiten als subjektive Individualrechte ,244 Die dem deutschen Gesetzgeber aufgrund der Bestimmung des Art. 1 EMRK obliegenden und bei der Gesetzgebungstätigkeit zu beachtenden Amtspflichten entfalten daher ebenfalls Drittwirkung gegenüber den betroffenen Personen. c) Verletzung drittbezogener Amtspflichten beim Untätigbleiben des Gesetzgebers - eigene Stellungnahme Eine durch ein Untätigbleiben des Gesetzgebers begründete Amtspflichtverletzung entfaltet nach allgemeinen Regeln immer dann drittschützende Wirkungen, wenn durch das Untätigbleiben subjektive öffentliche Rechte oder sonstige drittschützende Rechtsnormen verletzt werden. Auch diesbezüglich ist wieder zwischen den grundrechtlichen Handlungspflichten und den aus den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Europäischen Gemeinschaftsrechts resultierenden Handlungspflichten zu unterscheiden.

241 Grabitz, S. 332,354.

A r t 215 Rdnr. 33; Nicolassen, S. 224; EuGHE 76, S. 711, 744; EuGHE 67,

242 Grabitz; Ossenbühl, S. 421; Gilsdorf ΈχΑ 75, S. 98; EuGHE 73, S. 791, 803; EuGHE 67, S. 332, 354. 243 244

vgl. etwa Gilsdorf Oliver, Art 215 EWGV Rdnr. 41.

vgl. etwa Stern (Staatsrecht Bd ΙΠ/1), S. 279; Golsong DVB1 58, S. 809; Frowein Jus 86, S. 847; von Münch GG-Kom. Art 25 Rdnr. 23; BGH NJW 66, S. 728.

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

99

aa) Verletzung drittbezogener Amtspflichten bei bestehenden grundrechtlichen Schutz- und Handlungspflichten Legislatives Unterlassen verletzt immer dann drittschützende Amtspflichten, wenn der grundrechtlichen Schutz- und Handlungspflicht des Gesetzgebers entsprechende subjektive Schutzansprüche des einzelnen korrespondieren, 245 denn das Vorliegen eines subjektiven öffentlichen Rechts begründet zugleich drittgerichtete Amtspflichten. 2« Während einige Autoren die grundrechtliche Schutzverpflichtung des Staates dem subjektiven Gehalt der Grundrechte entnehmen und ihr einen subjektiven Schutzanspruch der betroffenen Bürger gegenüberstellen,247 leiten das Bundesverfassungsgericht und die ihm folgende hM in der Literatur die staatlichen Schutzpflichten aus dem objektiven Gehalt der Grundrechte her. 248 Das Bundesverfassungsgericht hatte zunächst zu der Frage, ob den grundrechtlichen Schutzpflichten ein durchsetzbarer Anspruch der Betroffenen auf Schutz entspricht, nicht ausdrücklich Stellung genommen. Es hat jedoch mehrfach ausgeführt, daß sich nicht ohne weiteres annehmen lasse, daß ein Staatsbürger mit einer gegen gesetzgeberisches Unterlassen gerichteten Verfassungsbeschwerde Schutzpflichten des Staates geltend machen könne, die sich erst im Wege der Verfassungsinterpretation aus dem in den Grundrechten verkörperten Grundentscheidungen herleiten lassen.249 Bedenken ergäben sich hierbei vor allem aus der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Andererseits hat das Bundesverfassungsgericht auch betont, daß sich die Zulässigkeit solcher Verfassungsbeschwerden nicht von vornherein ausschließen läßt.250 Das Gericht brauchte die Frage der Zulässigkeit solcher Verfassungsbeschwerden nicht abschließend zu beurteilen, da die erhobenen Verfassungsbeschwerden nicht begründet waren.251 Aus der früheren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts läßt sich jedoch bereits der Schluß ziehen, daß ein subjektiver Schutzanspruch, der sich auch gegen die Gesetzgebung richtet, nicht grundsätzlich aus245 Witte, S. 141; Langer NVwZ 87, 197; v. Arnim S. 48 ff; Baumann in ders. Rechtsschutz für den Wald ?, S. 144; vgl. auch Hoppe/Beckmann: Umweltrecht, § 4 Rdnr. 57 ff. 246 Umgekehrt gilt dies jedoch nicht Nicht jede drittbezogene Amtspflicht läßt zugleich auch auf die Existenz eines subjektiven öffentlichen Redits schließen - vgl. hierzu Teschner, S. 58; Papier in M/D/H/S Art 34 GG Rdnr. 167. 247

Hermes, S. 208 ff, Murswiek (Risiken der Technik), S. 216 ff; Robbers, S. 186 ff.

248

ζ. B.: BVerfGE 39,1,42; BVerfGE 53, 30,57; BVerfGE 56, 54, 73; Rauschning W D S t R L 38, S. 183; Steinberg NJW 84, S. 458; Isensee (Grundrecht auf Sicherheit), S. 49; Hoffmann ZRP 85,168. 249

BVerfGE

25 0

BVerfGE

56, 54, 70 f.

251

BVerfGE

56, 54, 70 f; BVerfG NJW 83, 2932; BVerfG NJW 87,2287.

56, 54, 70 f, BVerfG NJW 83, 2932; BVerfG NJW 87,2287.

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

100

geschlossen ist 2 5 2 In seinen neueren Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht dann für den Bereich des Art. 2 Abs. 2 GG ausgeführt, daß der Betroffene die Vernachlässigung der staatlichen Schutzpflicht als Grundrechtsverletzung mit der Verfassungsbeschwerde rügen könne, wenn er schlüssig darlegen könne, daß erforderliche Schutzvorkehrungen entweder gänzlich fehlen oder offensichtlich ungeeignet bzw. völlig unzureichend sind. 2 5 3 Damit hat sich das Bundesverfassungsgericht nunmehr ausdrücklich für einen in Evidenzfällen mit der staatlichen objektiven Schutzpflicht korrespondierenden Schutzanspruch der Betroffenen ausgesprochen. Auch die hM in der Literatur, die in Anlehnung an das Bundesverfassungsgericht die Schutzverpflichtung des Staates aus dem objektiven Gehalt der Grundrechte herleitet, bejaht überwiegend unter mehr oder weniger engen Voraussetzungen das Bestehen eines Schutzanspruches.254 Ausgehend von der dogmatischen Grundlage des Bundesverfassungsgerichts und der hM ist bei der Bestimmung, ob einer Schutzpflicht auch ein subjektiver Schutzanspruch der betroffenen Bürger korrespondiert, anhand der Schutznormtheorie zu fragen, ob die im konkreten Fall angesprochene Schutzverpflichtung des Staates auch dem Schutz privater Interessen des einzelnen dienen soll und diesem dadurch eine subjektive Rechtsmacht verleiht. Allein daraus, daß grundrechtliche Schutzpflichten auch gegenüber einzelnen Personen und nicht nur gegenüber der Allgemeinheit bestehen können,255 darf nicht auf ein subjektives öffentliches Recht geschlossen werden,256 denn hierdurch ist nur die Reichweite einer Schutzpflicht angesprochen, nicht jedoch die Frage, ob sich diese Schutzpflicht auch zu einem subjektiven Schutzanspruch verdichtet hat. Da die hM die staatliche Schutzverpflichtung nicht aus dem Status negativus herleitet, der dem einzelnen Grundrechtsinhaber ein subjektives Abwehrrecht verleiht, sondern aus ihrem objektiven Gehalt als Grundsatznormen der Verfassung, ist hier nach allgemeinen Auslegungskriterien zu prüfen, ob und in welchen Fällen der staatlichen Schutzpflicht ein subjektives Recht der Betroffenen gegenübersteht. Nach den allgemein von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien ist dem objektiven Recht dann eine subjektive Rechtsmacht des einzelnen zu entnehmen, wenn der Kreis der potentiell Berechtigten hinrei252 siehe auch Hermes, S. 53; Langer NVwZ 87, S. 197, Fußnote 33; Jarass AöR 110, 380; manche Autoren gehen sogar davon aus, daß das BVerfG einen Anspruch auf gesetzgeberisches Tätigwerden bejaht habe: Isensee, S. 51; Ipsen AöR 107 (1982), S. 272; Schwerdtfeger N V w Z 82, S. 8. 253

BVerfGE

77,170,214,215; vgl. auch BVerfGE

254

79,174,201 ff.

Langer N V w Z 87, S. 197; Baumann, S. 144; Hoppe/Beckmann, § 4 Rdnr. 57; SchmidtAssmann AöR 106, S. 217; Klein DÖV 77, 707 f; Isensee, S 49 f; Witte, S. 143; Rauschning W D S t R L 38, S. 183; Badura FS für Eichenberger, S. 491 f; Dietlein (Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten), Diss. 1991, S. 173 ff. 255

BVerfGE

256

zutreffend Badura FS für Eichenberger, S. 491.

46,160,165.

. Die Tatbestandvoraussetzungen

101

chend abgrenzbar ist. 257 In diesen Fällen kann nämlich davon ausgegangen werden, daß eine Rechtsnorm zumindest auch den Interessen einzelner Bürger zu dienen bestimmt ist und diesen eine subjektive Rechtsmacht verleiht. Demnach ist vorliegend zu fragen, ob sich aus der im konkreten Verletzungstatbestand in Anspruch genommenen Schutzpflicht des Staates eine hinreichend bestimmte Handlungspflicht des Gesetzgebers ergibt, die dieser verletzt hat.258 Dies wird immer dann der Fall sein, wenn sich der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum auf ein Minimum reduziert hat und so die Handlungspflicht des Gesetzgebers evident wird. 259 Das Evidenzerfordernis spielt bereits eine Rolle bei der Frage, wann eine gerichtlich überprüfbare Schutzpflichtverletzung des Staates vorliegt. Dies bedeutet, daß mit der Feststellung, daß der Staat in evidenter Weise eine ihm obliegende Schutzpflicht verletzt hat, zugleich auch die Existenz eines entsprechenden subjektiven Schutzanspruches und damit auch das Bestehen einer drittbezogenen Amtspflicht bejaht wurde. Aus diesem Grunde kommen die hM und die Autoren, die die staatlichen Schutzpflichten nicht aus dem objektiven Gehalt der Grundrechte, sondern aus ihrem subjektiven Gehalt herleiten und ihnen dementsprechend einen subjektiven Schutzanspruch gegenüberstellen, letztendlich zu gleichen Ergebnissen. Diese Autoren gehen zwar nicht nur in Evidenzfällen vom Vorliegen eines Schutzanspruches aus, sie vertreten aber gleichwohl die Auffassung, daß der nach ihrer Meinung immer bestehende Schutzanspruch nur dann verletzt wird, wenn der Gesetzgeber die ihm eingeräumten Spielräume überschritten hat,260 also die ihm im Einzelfall obliegende Schutzpflicht evident verletzt hat. Die Pflichtverdichtung des Gesetzgebers in Evidenzfällen, die bei der hM bereits ein Problem des objektiven Rechts darstellt und in diesen Fällen zu einem subjektiven Schutzanspruch führt, verlagert sich bei dem von einigen Autoren vertretenen subjektiven Ansatz in den Bereich des subjektiven Rechts, ohne letztendlich zu anderen Endergebnissen zu führen. Deshalb kann auch hier eine Auseinandersetzung mit der dogmatischen Grundlage der staatlichen Schutzpflicht unterbleiben. Wird somit bei einer evidenten Schutzpflichtverletzung des Gesetzgebers unabhängig von der dogmatischen Grundlage dieser Pflichten ein Schutzanspruch des Betroffenen verletzt, dann ist damit zugleich auch festgestellt, daß in diesen Fällen ein Verstoß gegen drittgerichtete Amtspflichten vorliegt. 257 vgl. etwa BVerwGE 27, 29, 33; BVerwGE 52, 122,128 ff neuerdings etwas modifiziert in BVerwG N V w Z 87, 409. 258 Badura FS für Eichenberger, S. 491 f; Langer N V w Z 87, S. 197 f; Schmidt-Assmann AöR 105, S. 217; vgl. auch Witte, S. 143 ff; Klein DÖV 77, S. 707 ff; ahnlich auch Dietlein, S. 173 ff. 259 Langer NVwZ 87, 199; Badura, S. 491 f; Baumann, S. 144; Schmidt: Einführung in das Umweltrecht, S. 18; vgl. auch Witte, S. 145. 26 0

Robbers, S. 181 ff; Hermes, S. 254,257 ff; Murswiek (Risiken der Technik), S. 185 ff.

102

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

bb)Verletzung drittbezogener Amtspflichten bei Handlungspflichten aufgrund des Europäischen Gemeinschaftsrechts Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften sind verpflichtet, nationales Recht, das dem Europäischen Gemeinschaftsrecht entgegensteht, aufzuheben oder dem Gemeinschaftsrecht anzupassen.261 Sofern durch die Nichtbefolgung dieser Handlungspflicht ein dem Betroffenen zustehendes subjektives öffentliches Recht der Gemeinschaftsrechtsordnung oder eine sonstige seinen Interessen dienende Rechtnorm verletzt wird, liegt hierin die Verletzung von drittgerichteten Amtspflichten ,262 Neben dieser Anpassungspflicht obliegt den Mitgliedstaaten die Verpflichtung, EG-Richtlinien fristgerecht umzusetzen. Da diese Richtlinien häufig bereits vor ihrer Umsetzung subjektive öffentliche Rechte gewähren, hegt in der Nichtumsetzung dieser Rechte ebenfalls eine Verletzung drittgerichteter Amtspflichten. 263 cc) Verletzung drittbezogener Amtspflichten bei einer aus den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention resultierenden Handlungspflicht Art. 1 EMRK gewährt den Personen, die im Herrschaftsgebiet der Vertragsstaaten leben, subjektive Individualrechte, die wie bereits erläutert dem nationalen Gesetzgebers auch Handlungspflichten zum Schutze der dort gewährten Rechte auferlegen können.264 Diese Handlungspflichten entfalten nach allgemeinen Grundsätzen Drittrichtung gegenüber den Betroffen. 4. Das Verschulden der Abgeordneten a) Allgemeiner Verschuldensmaßstab Ansprüche aus § 839 BGB i. V. m. Art 34 GG setzen des weiteren eine schuldhafte Amtspflichtverletzung voraus. Als Verschuldensformen kommen grundsätzlich sowohl Vorsatz als auch Fahrlässigkeit in Betracht. Bei den Ab261

vgl. hierzu die Ausführungen unter I I 2. h. bb. (4).

262

vgl. auch Meier Anm. zum Urteil des OLG Köln vom 20.6.91 (EuZW 91, S. 574 ff), EuZW91, S. 576. 263

vgl. hierzu auch EuGH ZIP 91, S. 1613,1614.

264

vgl. hierzu die Ausführungen unter Punkt I I 2 b. bb. (5).

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

103

Stimmungen und Beratungen von Abgeordneten dürfte vorsätzliches Verhalten jedoch kaum relevant werden, weshalb sich die nachfolgenden Ausführungen auf fahrlässiges Verhalten beschränken. Fährlässig handelt deijenige Amtswalter, der die für einen Amtswalter erforderliche Sorgfalt außer acht gelassen hat (§ 276 Abs. 1 Satz 1 BGB). Die an die Sorgfaltspflicht zu stellenden Anforderungen richten sich nicht nach dem konkret handelnden Amtswalter, sondern nach dem "pflichtgetreuen Durchschnittsbeamten ",265 da § 276 BGB einen objektiven Fahrlässigkeitsmaßstab festlegt Maßgeblich sind also nicht die Kenntnisse und Fähigkeiten, über die der handelnde Amtsträger tatsächlich verfügt, sondern diejenigen Kenntnisse und Fähigkeiten, die für die Führung des jeweiligen Amtes im Durchschnitt erforderlich sind. Dieser objektive Verschuldensbegriff bildet nicht nur den Maßstab für das Verhalten von ausgebildeten Amtsträgern, sondern auch für ehrenamtlich tätige Laien, wie zum Beispiel Gemeinderatsmitglieder, die sich nicht auf einen laienhaften Ermessensmaßstab (Amateurstatus) berufen dürfen, 266 da andernfalls das Schadensrisiko in unzumutbarer Weise auf den betroffenen Bürger verlagert würde. Soweit solchen ehrenamtlich oder hauptberuflich tätigen Laien die eigene Sachkunde fehlt, sind sie gehalten, den Rat von Fachbehörden einzuholen oder außerhalb der Verwaltung stehende Sachverständige zuzuziehen.2^ Dies gilt auch hinsichtlich der für das Amt erforderlichen Rechtskenntnisse; hier muß sich der betreffende Amtsträger über die einschlägige Rechtsprechung und Literatur informieren, entweder durch Eigeninitiative oder durch Heranziehung von Sachverständigen.268 Da die Objektivierung des Fahrlässigkeitsmaßstabes nur dem Schutze des Verkehrs und nicht dem des einzelnen Amtswalters dienen soll, werden besondere Kenntnisse und Fähigkeiten des betroffenen Amtsträgers, die über die Kenntnisse eines pflichtgetreuen Durchschnittsbeamten hinausgehen, zu Lasten des handelnden Amtswalters berücksichtigt.269

265 Bender (Staatshaftungsrecht) Rdnr. 587 m. w. N.; Maurer (Allg. VerwR) § 25 Rdnr. 24; Witte S. 146. 266 BGH NVwZ 86, S. 504 ff; BGH NJW 89, S. 978; LG Bielefeld D W W 85, 321 ; Teschner, S. 218 ff; Papier in Müko § 839 BGB Rdnr. 243; Maurer (Allg. VerwR) § 25 Rdnr. 24; kritisch hierzu Prior BauR 87,165 ff. 267

BGH NVwZ 86, 504 ff; BGH NJW 89,978.

268

Dagtoglou in BK Art 34 Rdnr. 182 ff; v. Arnim S. 53; Krefl 289 ff m. w. N. 269

Hanau in Müko 5 276 BGB Rdnr. 78 m. w. N.

in RGRK § 839 BGB Rdnr.

104

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

b) Besonderheiten beim Verschulden der Parlamentsabgeordneten Da die Parlamentsabgeordneten bei ihrer Gesetzgebungstätigkeit als Kollegialorgan tätig werden, treten hinsichtlich der Zurechenbarkeit ihres Verhaltens Probleme auf, da die Amtshaftung an das Verhalten der einzelnen Amtswalter anknüpft, es also kein "Gesamtverschulden" des Kollegiums geben kann, sondern nur den Vorwurf an jeden pflichtwidrig handelnden Amtsträger, die objektiv gebotene Sorgfalt nicht eingehalten zu haben.270 Diese Problematik wird jedoch durch die von der hM getragene Tendenz zur Entindividualisierung der Amtshaftung etwas entschärft. Man begnügt sich bei Kollegialorganen der Verwaltung damit, daß die Mehrheit des Kollegiums271 bzw. einzelne Mitglieder oder sogar ein einzelner Amtswalter 272 schuldhaft gehandelt haben. Unerheblich ist, welchem Mitglied im einzelnen der Schuldvorwurf zu machen ist; der geschädigte Bürger braucht den konkret schuldhaft handelnden Amtswalter nicht zu benennen.273 Diese Grundsätze lassen sich auch ohne weiteres auf des Kollegialorgan "Parlament" übertragen. 274 aa)Meinungsstand in der Literatur Damit ist aber noch nichts darüber gesagt, unter welchen Bedingungen das Verhalten der Mehrheit der Bundestagsmitglieder oder einzelner Abgeordneter beim Erlaß eines rechtswidrigen Gesetzes oder beim Untätigbleiben des Gesetzgebers schuldhaft sein kann. Hier sind in der Literatur zwei konträre Grundpositionen zu verzeichnen. Einige Autoren nehmen beim Beschluß eines fehlerhaften Gesetzes regelmäßig Verschulden der Mehrheit an, da das gestaffelte und langwierige Gesetzgebungsverfahren und die Beteiligung verschiedener Organe den Abgeordneten grundsätzlich die Möglichkeit eröffne, der rechtlichen Problematik einer Gesetzesvorlage nachzugehen, so daß beim Erlaß eines rechtswidrigen Gesetzes ein Verschulden der Abgeordneten prima facie 270 vgl. Eckert, S. 95; Bender (Staatshaftungsrecht) Rdnr. 650; RGZ 89, 15; für das österreichische Recht: Eypeltauer/Strasser, S. 28. 27 1

Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 45 f; Speiser, S. 107; Schenke DVB1 75, S. 124; Eckert,

S. 95. 27 2 Teschner, S. 249; v. Arnim, S. 57 f, Kosmider (Staatshaftung) S. 106; LG Bielefeld 85,321; OLG Hamm NVwZ 88, 573, 574; BGH NJW 89,976,978.

DWW

27 3 RGZ 100,102; BGH W P M 60,1305; Schenke DVB1 75, S. 124; Dagtoglou in BK Art. 34 GG Rdnr. 384, 193; Bartlsperger NJW 68, 1700; Bender (Staatshaftungsrecht) Rdnr. 650; Maurer (Allg. VerwR) § 25 Rdnr. 51,24. 274 vgl. Eckert S. 95 f; Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 46 f; Weber, S. 57 f; Schock M D R 68, S. 188; Bender (Staatshaftungsrecht) Rdnr. 650; a.A. Luhmarm S. 127.

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

105

zu vermuten sei.275 Die Gegenauffassung vertritt die Ansicht, daß die schließlich gerichtlich festgestellte Rechtswidrigkeit eines Gesetzes genausowenig wie die unrichtige Rechtsanwendung durch einen Verwaltungsbeamten bei schwieriger Rechtslage eine Vermutung eines Verschuldens der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten in sich birgt. Für den Fall des Verwaltungsbeamten habe die Rechtsprechung276 festgestellt, daß ein Verschulden zu verneinen sei, wenn die vom Beamten vorgenommene unrichtige Auslegung eine Vorschrift betreffe, deren Inhalt Zweifel aufkommen lassen könne und durch eine höchstrichterliche Rechtsprechung noch nicht klargestellt sei. Bei dem Erlaß von Parlamentsgesetzen bestehe sogar noch ein weitaus größeres Fehlerrisiko y da die dabei vorzunehmende Interpretation von Verfassungsnormen in einem weitaus größeren Maße auf eine Konkretisierung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung angewiesen sei.277 Folglich könne auch bei der Rechtswidrigkeit eines Gesetzes nur ausnahmsweise von einem Verschulden der Parlamentsabgeordneten ausgegangen werden.278 Zur Begründung dieser Auffassung wird ausgeführt, daß gerade deshalb, weil das Gesetzgebungsverfahren tief gestaffelt ist und eine sorgfältige Prüfung rechtlicher Fragen in den Ausschüssen ermöglicht, davon auszugehen sei, daß das Parlament sich pflichtbewußt um die Rechtmäßigkeit seiner Akte bemüht.279 bb) Schuldhaftes Verhalten der Abgeordneten - eigene Stellungnahme Bei der Frage, ob den Parlamentsabgeordneten ein schuldhaftes Verhalten zur Last zu legen ist, ist vor einer vorschnellen Pauschalierung zu warnen. Es führt hier wie auch sonst in Amtshaftungsfällen kein Weg daran vorbei, die Verschuldenskomponente im Einzelfall zu untersuchen und auf die konkreten Erkenntnismöglichkeiten der Abgeordneten abzustellen.280 Hierbei ist davon auszugehen, daß den Parlamentsabgeordneten genausowenig wie den Gemein27 5 Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 44 f; ders in BK Art 34 GG Rdnr. 433; Haverkate NJW 73, S. 444; vgl. mch Weber, S. 58 ff, der allerdings einen prima- facie- Beweis für das Verschulden der Abgeordneten ablehnt und nur ein regelmäßig vorliegendes Verschulden bejaht. 27 6

BGHZ 30,22 ff; vgl auch Papier WD/WS

27 7

Schenke DVB1 75, S. 127; Eckert, S. 97 - 100; Dilcher AcP 163, S. 211 f; Detterbeck JA

Art 34 GG Rdnr. 205.

91, S . l l . 278 vgl. die gerade genannten Autoren, daß ein Verschulden der Abgeordneten nur ausnahmsweise gegeben sein wird, aber nicht auszuschließen ist, betonen auch Ossenbühl (Staatshaftungsrecht) S. 64; Scheunig FS für Bachof, S. 358; Speiser, S. 108 f; Maurer (Allg. VerwR) § 25 Rdnr. 51; Imohr DVB1 67, S. 630; Schenke NJW 88, S. 862; Schock DÖV 71, 446, 447; Schock M D R 68,188; vgl. auch Boujong FS für Geiger, S. 434. 279

vgl. hierzu v. Arnim, S. 54; Dilcher AcP 163, S. 211 f; Eckert, S. 100; vgl. auch Speiser,

S. 108. 280 vgl. auch Oldiges Der Staat 15, S. 385 Fußnote 25; Scheuing FS für Bachof, S. 358; Speiser, S. 108 f; Weber, S. 58 f; Kosmider % S. 108; Witte, S. 148.

106

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

deratsmitgliedern ein Amateurstatus zuzubilligen ist. Dies gilt umso mehr, als ein formelles Gesetz weitaus schwerwiegendere Auswirkungen zeitigen kann als ein Gemeinderatsbeschluß. Andererseits ist den Parlamentsabgeordneten, die für den Erlaß eines später für fehlerhaft erklärten Gesetzes gestimmt haben, nicht bereits prima facie ein Verschulden vorzuwerfen, da die verfassungsrechtlichen Normen teilweise eine redit geringe Stringenz aufweisen. Gegen ein prima-facie-Verschulden spricht bereits die Tatsache, daß selbst das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidungen oft nicht einstimmig trifft Allerdings kann von den Parlamentsabgeordneten, da das Gesetzgebungsverfahren ihnen zahlreiche Erkenntnismöglichkeiten zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Gesetzesvorlage an die Hand gibt, verlangt werden, daß die Frage der Rechtmäßigkeit in den Fraktions-, Ausschuß- und Plenarsitzungen sorgfältig geprüft wird. Hier kommt dem Rechtsausschuß eine besondere Bedeutung zu, denn er wird bei allen Gesetzesvorlagen, die verfassungsrechtliche, rechtspolitische oder rechtssystematische Probleme aufwerfen, beratend beteiligt.281 Soweit die Sachkunde der Mitglieder des Rechtsausschusses im Einzelfall nicht ausreicht, hat der Rechtsausschuß die Möglichkeit, Sachverständige oder Mitglieder der Bundesregierung (§ 68, § 70 GO BT), die wiederum den Sachverstand ihrer Fachministerien einbringen können, anzuhören. Sobald Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Gesetzesvorlage auftauchen, ist der Rechtsausschuß zu einer solchen Anhörung verpflichtet, wenn er nicht über die eigene Sachkunde verfügt. 282 Unterläßt er eine gebotene Nachprüfung der Rechtmäßigkeit einer Gesetzesvorlage, dann liegt ein schuldhaftes Verhalten der Parlamentsabgeordneten vor, denn das Parlament hat seine Erkenntnismöglichkeiten nicht ausgeschöpft.

Sofern sich aufgrund dieser Nachprüfung keine eindeutige Rechtswidrigkeit der Gesetzesvorlage ergibt, ist weder dem Rechtsausschuß, der den Beschluß faßt, die Gesetzesvorlage unterliege keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen oder sonstigen rechtlichen Bedenken, noch den Bundestagsabgeordneten, sich sich bei der Abstimmung im Plenum auf die Erklärung des Rechtsausschusses verlassen und für den Erlaß des vorgelegten Gesetzentwurfes stimmen, ein Verschulden zur Last zu legen. Eine eindeutige Rechtswidrigkeit wird insbesondere dann vorliegen, wenn die Gesetzesvorlage gegen eine klare und eindeutige Verfassungsbestimmung oder eine Bestimmung des Europäischen Gemeinschaftsrechts bzw. der Europäischen Menschenrechtskonvention od gegen eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften oder des Europäischen Gerichtshofs für Men-

Lenz ZRP 80, S. 249. 282

vgl. v. Arnim, S. 54; Schock DÖV 71, S. 447 FN 4; ders. M D R 68, S. 188.

. Die Tatbestandvoraussetzungen

107

schenrechte in einem gleich oder ähnlich gelagerten Fall verstößt 283 Eine eindeutige Rechtswidiigkeit wird aber auch dann vorliegen, wenn alle oder zumindest die überwiegende Mehrheit der angehörten Sachverständigen die Rechtswidrigkeit der Gesetzesvorlage bescheinigt.284 Wird aber über eine sehr strittige Rechtsfrage entschieden, zu der es noch keine Rechtsprechung gibt und zu der auch keine eindeutige Literaturmeinung existiert, dann ist den Mitgliedern des Rechtsausschusses kein Verschulden vorzuwerfen, wenn sie die Gesetzesvorlage als rechtmäßig betrachten. Genausowenig ist den Abgeordneten ein Verschulden zur Last zu legen, die sich bei der Abstimmung im Plenum, da sie über keine eigene Sachkunde verfügen, durch den Bericht des Berichterstatters des Rechtsausschusses die notwendigen Rechts- und Tatsachenkenntnisse verschaffen und entsprechend diesem Bericht für den Erlaß des vorgelegten Gesetzes stimmen. Es kann ihnen nicht zugemutet werden, die Vorbereitungsarbeit des speziell hierfür eingerichteten Rechtsausschusses kritisch zu überprüfen und sich die notwendige Sachkunde aus anderen Quellen zu beschaffen. 285 Bei solch übersteigerten Anforderungen würde das Parlament bald an die Grenzen seiner Funktionsfähigkeit gelangen. Entsprechendes gilt für die Abgeordneten, die eine ungültige Stimme abgegeben haben, sich der Stimme enthalten haben oder der Abstimmung unberechtigterweise ferngeblieben sind. Auch sie durften sich auf die Erklärung des Rechtsausschusses, die Gesetzesvorlage unterliege keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken, verlassen. Aus ihrem Abstimmungsverhalten, das zwar genauso wie die Abstimmung derjenigen Abgeordneten, die für den Erlaß des (nicht eindeutig) rechtswidrigen Gesetzes gestimmt haben, eine Amtspflichtverletzung in sich birgt, 286 kann ihnen unter den genannten Umständen kein Schuldvorwurf gemacht werden. Bei denjenigen Abgeordneten, die gegen den Erlaß des fehlerhaften Gesetzes gestimmt haben, fehlt es bereits an einer Amtspflichtverletzung, denn ihr Abstimmungsverhalten genügt den rechtlichen Anforderungen.2«7 In den Fällen, in denen aber eine evidente Rechtswidrigkeit der Gesetzesvorlage zu Tage tritt, handeln die Mitglieder des Rechtsausschusses, die für die rechtliche Unbedenklichkeit des Gesetzesentwurfs stimmen, eindeutig schuldhaft.™* Den übrigen Bundestagsabgeordneten wird in der Regel, wenn sich 283 vgl hierzu auch Eckert, S. 100; a.A. Weber, S. 59 ff, der ausführt, daß eine Nichtigkeitserklärung des BVerfGs nur dann in Betracht komme, wenn eine verfassungskonforme Auslegung nicht mehr möglich ist, so daß nichtige Gesetze immer an erheblichen Mängeln leiden würden. 284 vgl. hierzu v. Arnim, S. 55 ff; Forsthoff BB 60, 1138; ferner für die Haftung von Verordnungsunrecht Schenke AgrarR 90,189 i. V. m. Fußnote 42. 285

vgl. zu diesem Problem bei den Mitgliedern des Gemeinderats: Teschner, S. 234.

286

siehe hierzu Punkt 2.c. aa. (3).

287

siehe oben Punkt 2.c. aa. (2).

288

v. Arnim, S. 56 f.

108

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

keine deutlichen Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit der Erklärung des Rechtsausschusses ergeben, kein schuldhaftes Veihalten nachgewiesen werden können, da ihnen nicht zuzumuten ist, die Rechtsauffassung des Rechtsausschusses nochmals zu überprüfen. Sofern aber umgekehrt der Rechtsausschuß das Plenum über die offensichtliche Rechtswidrigkeit der Gesetzesvorlage informiert, die Mehrheit des Bundestages aber trotzdem entgegen den Bedenken des Rechtsausschusses für den Erlaß des Gesetzes stimmt, hat zwar der Rechtsausschuß die ihm obliegenden Sorgfaltspflichten erfüllt, die Parlamentsabgeordneten, die für den Erlaß des Gesetzes gestimmt haben, haben sich dann aber schuldhaft veihalten.

Schließlich ist noch der Fall zu untersuchen, daß einzelne Parlamentsabgeordnete über Sonderwissen 289 verfügen, aufgrund dessen sie im Gegensatz zu den übrigen Mitgliedern des Bundestages zu dem Ergebnis kommen, daß die Gesetzesvorlage in evidenter Weise gegen die Verfassung oder gegen höh rangiges Recht verstößt. Dieses Sonderwissen kann zum Beispiel darauf beruhen, daß der einzelne Abgeordnete von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften oder des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in einem ähnlich gelagerten Fall Kenntnis besitzt, die von den bisher angehörten Fachleuten übersehen wurde. Es kann aber auch darauf beruhen, daß der einzelne Abgeordnete durch Fachkreise zufällig auf einige Auswirkungen der Gesetzesvorlage aufmerksam gemacht wurde, die im Bundestag noch gar nicht zur Sprache kamen. Wenn ein einzelner Abgeordneter über ein solches Sonderwissen verfügt und erkennt, daß die Gesetzesvorlage eindeutig gegen das Grundgesetz oder gegen höherrangiges Recht verstößt, dann ist er verpflichtet, gegen den Gesetzesentwurf zu stimmen. Er handelt schuldhaft, wenn er sich in diesen Fällen der Stimme enthält, eine ungültige Stimme abgibt oder der Abstimmung unberechtigt fernbleibt 290 Im Hinblick auf Art. 42 GG genügt der Mandatsträger in diesen Fällen nur dann den (objektiven und subjektiven) Sorgfaltsanforderungen, wenn er gegen einen rechtswidrigen Gesetzesentwurf stimmt. Daneben sind die Abgeordneten, die über ein solches Sonderwissen verfügen, auch verpflichtet, ihre besonderen Kenntnisse an die übrigen Abgeordneten weiterzugeben, wenn sie hierzu die Möglichkeit besitzen. Die Bundestagsabgeordneten besitzen zwar kein uneingeschränktes Rederecht (§ 28 GO BT). Sie haben aber nach § 31 GO BT das Recht, vor einer Abstimmung eine kurze mündliche oder schriftliche Erklärung, die in das Plenarprotokoll aufzunehmen ist, abzugeben. Die Mitglieder des Rechtsausschusses können daneben ihr Sonderwissen über den Berichterstatter des Rechtsausschusses , der jederzeit das Recht hat, im Plenum 289 Sonderwissen ist beim Amtshaftungstatbestand, bei dem der allg. Fahrlässigkeitsmaßstab des § 276 Abs. 1 BGB gilt, zu berücksichtigen: Hanau in Müko § 276 Rdnr. 78. 290

Zu der Amtspflichtverletzung in diesen Fällen vgl. oben Punkt 2.c. aa. (3).

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

109

das Wort zu ergreifen (§ 28 Abs. 2 Satz 3 GO BT), im Plenum zur Sprache bringen lassen. Wenn die entsprechenden Abgeordneten ihre besonderen Kenntnisse nicht weitergeben, nehmen sie damit dem Parlament die Möglichkeit, die eindeutige Rechtswidrigkeit des Gesetzesentwurfes festzustellen und entsprechend abzustimmen. Damit ist diesen Abgeordneten aufgrund der unterlassenen Aufklärung des Plenums schuldhaftes Verhalten zur Last zu legen,291 während die übrigen Abgeordneten sich mangels besonderer Sachkunde keinem Schuldvorwurf aussetzen. Bereits oben wurde dargelegt, daß auch bei Kollegialentscheidungen das Verschulden einzelner Mitglieder genügt.292 Falls der betreffende Abgeordnete sein Sonderwissen an die übrigen Bundestagsmitglieder weitergibt, diese sich aber nicht davon abbringen lassen, für das nun auch für sie erkennbar rechtswidrige Gesetz zu stimmen, hat zwar der betreffende Abgeordnete seine Sorgfaltspflichten erfüllt, seine Kollegen haben dann aber schuldhaft gehandelt293 Falls der einzelne Abgeordnete aufgrund seines Sonderwissens nur Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Gesetzesvorlage hat, aber keinen eindeutigen Rechtsverstoß feststellen kann und deshalb zu dem Ergebnis kommt, daß die Erklärung des Rechtsausschusses seine Richtigkeit hat, ist ihm weder ein Verschulden zur Last zu legen, wenn er für das Gesetz gestimmt hat, noch wenn er sein Sonderwissen nicht weitergibt. Eine andere Frage, der später noch nachzugehen sein wird, ist, ob das schuldhafte Verschweigen von Sonderwissen auch kausal für den eingetretenen Schaden war, der über den Mehrheitsbeschluß im Plenum ausgelöst wurde. Diese Problematik ist aber im Rahmen des Verschuldens nicht zu prüfen. Auch beim Unterlassen des Gesetzgebers ist auf die konkreten Eikenntnismöglichkeiten der beteiligten Abgeordneten abzustellen. Der Gesetzgeber ist aufgrund der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten grundrechtlichen Schutz- und Handlungspflichten grundsätzlich gehalten, alle Anstrengungen zu unternehmen, um mögliche Gefahren für die Grundrechtsträger frühzeitig zu erkennen und ihnen mit den erforderlichen verfassungsmäßigen Mitteln zu begegnen.294 Dieselbe Verpflichtung ergibt sich aus den Grundrechten des Europäischen Gemeinschaftsrechts und aus den Rechten der Europäischen Menschenrechtskonvention. Wenn neue Entwicklungen eintreten, ist der Gesetzgeber veipflichtet, bei einer zwischenzeitlich aufgetretenen untragbaren Änderung der Verhältnisse zu überprüfen, ob die ursprünglich von ihm erlassenen Regelungen nachzubessern sind.295 Dies bedeutet, daß der Gesetzgeber 291

vgl. auch Teschner, S. 267 ff; EypeltauerlStrasser,

292

vgl. etwa Teschner, S. 249; v. Arnim, S. 57 f, BGH NJW 89, 978; LG Bielefeld

S. 33 ff.

S. 321. 293

vgl. auch Teschner, S. 266 i. V. m. 206 ff; v. Arnim, S. 59.

294

vgl. etwa BVerfGE

49, 89,132.

295

vgl. etwa BVerfGE

56,54, 81; BVerfGE

49,130.

D W W 85,

2. Kapitel:

110

mtshaftung und legislatives Unrecht

grundsätzlich veipflichtet ist, neuere Technologien im Auge zu behalten. Allerdings ist ihm nur in den Fällen, in denen er trotz einer evidenten Handlungspflicht nicht tätig wird, eine Amtspflichtverletzung zur Last zu legen.296 In diesen Evidenzfällen wird praktisch aber regelmäßig auch ein Verschulden des Bundestages und seiner Mitglieder vorliegen. Das Parlament wächst durch die "Zuspitzung" seiner Handlungspflicht quasi in ein Verschulden hinein.297 Der einzelne Abgeordnete handelt in dieser Situation nicht nur schuldhaft, wenn er gegen den Erlaß eines grundrechtlich gebotenen Gesetzes stimmt oder sich der Stimme enthält bzw. eine ungültige Stimme abgibt oder der Abstimmung unberechtigt fernbleibt™ sondern ihm ist auch dann ein schuldhaftes Verhalten vorzuwerfen, wenn er seine Gesetzesinitiativpflicht nicht erfüllt. 299 Obwohl der einzelne Abgeordnete kein Gesetzesinitiativrecht besitzt, sondern dieses nur zusammen mit einer bestimmten Anzahl anderer Abgeordneter ausüben kann (Fraktionsstärke oder 5 % der Bundestagsmitglieder - § 76 Abs. 1 GO BT), kann er seine Gesetzesinitiativpflicht, die in den angesprochenen Evidenzfällen besteht, dadurch erfüllen, daß er sich bemüht, die erforderliche Anzahl von Abgeordneten zur Einbringung der Gesetzesvorlage zustande zu bringen oder die Bundesregierung zur Einbringung eines Gesetzesvorschlages auffordert. Lehnen die von ihm angesprochenen Abgeordneten - dies werden in der Regel die Fraktionsmitglieder bzw. der Fraktionsvorsitzende, dessen Unterschrift nach ständiger Übung genügt,300 sein - ihre Unterstützung ab, dann ist zwar der einzelne Abgeordnete, der die Einbringung einer Gesetzesvorlage beabsichtigte, von einer schuldhaften Amtspflichtverletzung freizusprechen, nicht aber die Abgeordneten, die der Einbringung der Gesetzesvorlage die Unterstützung verweigert haben und auch keine Anstalten gemacht haben, die Aufforderung des Abgeordneten an die Bundesregierung zur Einbringung einer Gesetzesvorlage zu unterstützen. Es gibt also durchaus Fälle, in denen der Erlaß eines rechtswidrigen Gesetzes oder die Untätigkeit des Parlaments trotz bestehenden evidenten Handlungsbedarfs als Verschulden zu werten ist. Das Verschulden wird sich in diesem Fällen meist anhand der Plenar- und Ausschußprotokolle feststellen lassen. Lediglich in den Fällen, in denen das Verschulden auf ein Verschweigen relevanten Sonderwissens zurückzuführen ist, dürften sich große Beweisschwierigkeiten ergeben.

296

vgl. oben II. 3. c.

297

Witte, S. 148.

298

zu der Amtspflichtverletzung in diesen Fällen, vgl. oben 2.c. aa. (2).

299

zu der Amtspflichtverletzung in diesen Fällen, vgl. oben 2.c. aa. (1).

300

Troßmann, Parlamentsrecht, § 97 GO BT Rdnr. 3.

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

111

5. Kausaler Schaden Damit Schadensersatz aus Amtshaftung gewährt werden kann, muß weiterhin beim Verletzten ein kausaler Schaden eingetreten sein. Da § 839 BGB eine Nonn des Deliktsrechts ist, ist auch bei der Amtshaftung für die Frage der Kausalität die Adäquanztheorie maßgebend. Ein Schaden beruht demnach nur dann auf einem Verstoß gegen drittgerichtete Amtspflichten, wenn die Amtspflichtverletzung nicht hinweggedacht werden könnte, ohne daß der schädigende Erfolg entfiele, und wenn die schädigenden Auswirkungen nicht fernab jeder Wahrscheinlichkeit liegen, also nicht aufgrund einer ganz ungewöhnlichen Verkettung von Umständen eingetreten sind.301 Bei der Amtshaftung von Kollegialorganen können besondere Kausaütätsprobleme auftauchen, weil der fragliche Amtswalter nicht allein, sondern als Mitglied eines Kollegialorganes gehandelt hat. Auch hier ist wieder zwischen dem Erlaß eines rechtswidrigen Gesetzes und dem Untätigbleiben des Gesetzgebers zu unterscheiden.

a) Kausalität beim Erlaß eines rechtswidrigen Gesetzes Hier besteht eine doppelte Kausalitätsbeziehung. Das Verhalten des betreffenden Amtswalters muß ursächlich für den fehlerhaften Gesetzesbeschluß gewesen sein, während dieser wiederum ursächlich für den eingetretenen Schaden gewesen sein muß.302 Während die Feststellung der zweiten Kausalitätsbeziehung wenig Schwierigkeiten bereitet, bedarf die erste Kausalitätsbeziehung weiterer Erörterung. Ein fehlerhaftes Gesetz kann nur durch eine Mehlheitsentscheidung des Parlaments verabschiedet werden. Die conditio-sine-qua-nonFormel bedarf hier einer gewissen Korrektur Das Stimmverhalten des einzelnen Abgeordneten, der für den Gesetzesbeschluß gestimmt hat, erweist sich nämlich nur für den Fall als ursächlich im Sinne der unkonigierten conditio-sine-qua-non-Formel, daß der Beschluß des Parlaments gerade mit der jeweils erforderlichen Mehrheit gefaßt wurde. Hätte der einzelne Abgeordnete in diesem Fall nicht für den zu verabschiedenden Gesetzesbeschluß gestimmt, dann wäre es in Ermangelung der notwendigen Mehrheit nicht zum Erlaß des Gesetzes gekommen.303 Wenn für den Gesetzesbeschluß dagegen mehr als die unbedingt erforderliche Anzahl von Abgeordneten gestimmt haben, können einige Stimmen hinweggedacht werden, ohne 301 BGH NJW 65, S. 1524; Papier in Müko § 839 BGB Rdnr. 233; Maurer (Allg. VerwR) § 25 Rdnr. 26; Dohnold DÖV 91, S. 154; Witte, S. 146; Detterbeck JA 91, S. 11. 302

Teschner S. 260; Feldhaus, S. 144; OLG Hamm NVwZ 88, 573, 574.

303

vgl. für den Fall der Gemeinderäte Teschner, S. 261; Eypeltauer!Strasser,

S. 30.

112

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

daß der eingetretene Schaden entfiele. Hier könnte dann jedes Kollegiumsmitglied die Kausalität seines Verhaltens durch die Behauptung abwälzen, daß seine Stimme für den Beschluß nicht ursächlich gewesen sei, weil der Beschluß auch ohne seine Zustimmung zustande gekommen wäre. Es dürfen jedoch nicht so viele Stimmen hinweg gedacht werden, daß keine ausreichende Mehrheit mehr verbleibt, denn dann entfiele der schädigende Erfolg tatsächlich. Hier ist eine wertende Betrachtungsweise angebracht, denn im Ergebnis darf es für die Kausalität keinen Unterschied machen, ob gerade die für die Mehrheit erforderliche Anzahl der Abgeordneten für ein fehlerhaftes Gesetz gestimmt hat, oder ob die erforderliche Mehrheit sogar noch überschritten wurde. Die Äquivalenztheorie (sine-qua-non-Formel) ist deshalb dahin zu erweitern, daß auch solche schädigenden Ereignisse, die zwar zum Teil hinweggedacht weiden können, ohne daß der Erfolg entfiele, aber erst in ihrem Zusammenwirken den schädigenden Erfolg herbeigeführt haben, als kausal anzusehen sind.304 Kausalitätsprobleme stellen sich auch, wenn die Amtshaftung an das Verhalten solcher Mitglieder des Parlaments anknüpft, die gegen den Erlaß eines fehleihaften Gesetzes gestimmt haben, sich der Stimme enthalten oder eine ungültige Stimme abgegeben haben bzw. der Abstimmung unberechtigterweise ganz ferngeblieben sind.305 Diese Problematik entfaltet dann für den geschädigten Bürger eine gewisse Bedeutung, wenn nur bei diesen Abgeordneten und nicht auch bei denjenigen Abgeordneten, die für das fehlerhafte Gesetz gestimmt haben, ein Verschulden vorliegt. Teilweise wird in der Literatur pauschal die Auffassung vertreten, ein solches Verhalten könne für das Zustandekommen des fehlerhaften Gesetzesbeschlusses nicht ursächlich gewesen sein.306 Hier muß jedoch differenziert werden: Da nach Art. 42 Abs. 2 GG für einen Gesetzesbeschluß im Regelfall die Mehiheit der abgegebenen Stimmen erforderlich ist, kann ein Abgeordneter, der sich der Stimme enthält, eine ungültige Stimme abgibt oder der Abstimmung ganz fernbleibt, das Verhältnis zwischen den abgegebenen Ja-Stimmen und den abgegebenen Nein-Stimmen entscheidend beeinflussen. 307 Wenn er nicht gegen die Gesetzesvorlage stimmt, ist sein Veihalten in den Fällen einer 304 im Ergebnis auch Weber, S. 57; Feldbaus, S. 144, der hier eine kumulative Kausalität annimmt; Teschner, S. 264 will hier den Grundgedanken des § 830 BGB heranziehen; Eypeltauer/Strasser, S. 30-33 argumentieren mit einen "Kausalitätsverdacht" der einzelnen Mitglieder eines Kollegialorganes. 305 zur Amtspflichtverletzung bei einem derartigen Abstimmungsverhalten vgl. oben 2.2.3 (2), (3); zum Verschulden vgl. oben II. 4. b. bb. 306 307

Michaelis DVB178,125,130; Schröer NVwZ 86,449, 450 f.

Troßmann § 54 GO BT Rdnr. 6: Entscheidend ist nur das Verhältnis der abgegebenen Stimmen. Stimmenthaltungen bleiben ebenso wie ungültige Stimmen bei der Feststellung der Mehrheit außer Betracht

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

113

äußerst knappen Entscheidung, bei der seine Nein-Stimme zum Scheitern des Gesetzes geführt hätte, ursächlich für das Zustandekommen des Gesetzes und damit auch für den eingetretenen Schaden geworden.308 Hätte der betreffende Abgeordnete in diesen Fällen mit "Nein11 gestimmt, hätte sich die Mehrheit der abgegebenen Stimmen nämlich nicht auf den Beschluß vereinigen können. Dies gilt auch, wenn die Zahl derer, die sich der Stimme enthalten haben, eine ungültige Stimme abgegeben haben oder der Abstimmung ferngeblieben sind, größer ist als es für die Überstimmung der abgegebenen Ja-Stimmen erforderlich wäre. In den Fällen, in denen der Gesetzesentwurf eine große Mehrheit auf sich vereinigen konnte, ist zu prüfen, ob hier die Stimmen aller Abgeordneten, die sich der Stimme enthalten haben, ungültig gestimmt haben oder der Abstimmung ferngeblieben sind, ausgereicht hätten, um die existierende Mehrheit durch Abgabe einer Gegenstimme zu überstimmen. Ist dies der Fall, dann ist an der Kausalität des Verhaltens der untätig gebliebenen Abgeordneten nicht zu zweifeln, denn sie hätten gemeinsam das Zustandekommen des Gesetzes verhindern können.309 Daneben ist auch das Verhalten deijenigen Abgeordneten, die für den Gesetzeserlaß gestimmt haben, kausal geworden.310 Soweit aber die Mehrheit für das Zustandekommen des Gesetzes so überwiegend ist, daß selbst die Gegenstimmen aller untätig gebliebenen Abgeordneten die Verabschiedung des Gesetzes nicht verhindert hätten, ist ihr Verhalten nicht ursächlich geworden. Hier ist lediglich das Verhalten deijenigen Parlamentarier kausal geworden, die für den Erlaß des Gesetzes gestimmt haben. Im übrigen darf nicht außer acht gelassen werden, daß die Abgeordneten nicht nur durch ihr Abstimmungsverhalten, sondern auch durch das Verschweigen von Sonderwissen eine Amtspflichtverletzung begehen können. Die Verschweigung eines Sonderwissens ist schuldhaft, wenn der betreffende Abgeordnete seinen Kollegen nicht mitteilt, daß er aufgrund seiner besonderen Kenntnisse zu der Auffassung gelangt ist, daß das zur Verabschiedung anstehende Gesetz eindeutig rechtswidrig ist. Alle Abgeordnete, die über ein solches Sonderwissen verfügen, sind zur Weitergabe ihres Wissens verpflichtet. Dies gilt auch für die Abgeordneten, die gegen den Erlaß des Gesetzes gestimmt haben, also bei der Abstimmung im Gegensatz zu den anderen Abgeordneten korrekt gehandelt haben. Für die Kausalität muß aber festgestellt werden können, daß der fehlerhafte Gesetzesbeschluß bei der Weitergabe des betreffenden Sonderwissens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unterblieben wäre. 311 Teschner 312 meint für den vergleichbaren Fall der Gemeinderäte, daß die Mit308

vgl. auch Teschner, S. 265.

309

im Ergebnis auch Hüttenbrink,

310

vgl. hierzu auch Hüttenbrink,

311

vgl.hierzu: Teschner, S. 260.

312

Teschner, S. 266 f.

8 Fetzer

S. 105 i. V. m. S. 93. S. 105 i. V . m. S. 93.

114

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

glieder des kommunalen Kollegialorganes an das Gesetz gebunden sind und deshalb davon auszugehen ist, daß sie keinen rechtswidrigen Beschluß gefaßt hätten, wenn ihnen von besser informierten Kollegen entsprechende Kenntnisse vermittelt worden wären. Diese Auffassung mutet jedoch etwas zu optimistisch an. Beim Gemeinderat und insbesondere auch beim Parlament wird das Abstimmungsverhalten vielfach durch Parteiabsprachen, Fraktionszwänge oder sonstige politische Gegebenheiten beeinflußt, so daß die Weitergabe von Sonderwissen nicht unbedingt zu einer Ablehnung eines rechtswidrigen Beschlusses führt In diesem Fall hätten aber die Abgeordneten, die nach erfolgter Aufklärung weiterhin den Erlaß des fehlerhaften Gesetzes befürwortet haben, schuldhaft und schadensursächlich gehandelt313 Für den geschädigten Bürger wird der im einzelnen zu führende Kausalitätsnachweis dadurch erleichtert, daß der pflichtwidrig-schuldhaft handelnde Amtswalter nicht individualisiert zu werden braucht,314 so daß es für die Kausalität ausreicht, daß der Schaden bei pflichtgemäßem Verhalten aller Abgeordneten vermieden worden wäre. Deshalb ist es bei einem Schadensersatzprozeß nicht erforderlich, der Kausalitätsfrage in den Fällen nachzugehen, in denen eine geheime Abstimmung vorliegt oder das Abstimmungsverhalten aus sonstigen Gründen nicht mehr rekonstruiert werden kann. b) Kausalität beim Untätigbleiben des Gesetzgebers Ein Unterlassen ist wie bereits erläutert dann kausal für einen Schaden, wenn der konkret eingetretene Schaden bei pflichtgemäßem Tätigwerden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre. 315 Auch beim legislativen Unterlassen muß wieder eine zweifache Kausalitätsbeziehung gegeben sein. Das Verhalten der Abgeordneten muß ursächlich für das Nichtzustandekommen eines rechtlich gebotenen Gesetzes gewesen sein und das NichtZustandekommen des Gesetzes muß ursächlich für den entstandenen Schaden gewesen sein. Da dem Gesetzgeber nur in Evidenzfüllen eine Pflicht zum Tätigwerden obliegt, wird in der Regel davon auszugehen sein, daß das Unterlassen des Gesetzgebers, dessen Gestaltungsspielraum hier so eingeschränkt ist, daß der Inhalt des zu erlassenden Gesetzes bereits im wesentlichen vorgegeben ist, ursächlich für die eingetretenen Schadensfalle war. 316 Auch wenn durch ein rechtlich gebotenes Gesetz nicht alle Schadenswirkungen, die 313

v. Arnim S. 59; Teschner, S. 267.

314

vgl. etwa RGZ 100, 102; BGH W P M 60, 1305; Schenke DVB1 75, S. 124; Dagtoglou in BK Art 34 GG Rdnr. 384,193; Bartlsperger NJW 68,1700. 315

vgl. hierzu: Bender (Staatshaftungsrecht) Rdnr. 567; Teschner, S. 260.

316

für den Bereich der Gentechnologie vgl. hierzu Witte, S. 145 f.

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

115

aufgrund des Untätigbleibens des Gesetzgebers eingetreten sind, verhindert werden können, so hätten die Schadensfolgen doch erheblich reduziert werden können, was für die Kausalität ausreicht. Was die erste Kausalitätsbeziehung betrifft, so ist ebenfalls davon auszugehen, daß die eingangs geschilderten Amtspflichtverletzungen der Parlamentsabgeordneten beim Untätigbleiben des Gesetzgebers in der Regel kausal für das NichtZustandekommen eines rechtlich gebotenen Gesetzes sind. Daß die Verabschiedung eines Gesetzes neben der Einbringung einer Gesetzesvorlage auch das Zustandekommen der erforderlichen Mehrheit voraussetzt, ändert nichts daran, daß sowohl das pflichtwidrige Unterlassen bei der Einbringung einer Gesetzesvorlage als auch das pflichtwidrige Abstimmungsveihalten kausal für das NichtZustandekommen des betreffenden Gesetzes geworden sind. Auch hier gilt wieder der Grundsatz, daß beim Zusammenwirken mehrerer Ereignisse jedes Ereignis ursächlich für den eingetretenen Schaden geworden ist« 7 6. Haftungsbeschränkungen

und Haftungsausschlüsse

a) Verweisungsprivileg § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB Die Amtshaftung greift bei einem nur fahrlässigen Verhalten der schädigenden Amtswalter nur dann ein, wenn der Geschädigte nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag. Dies dürfte beim Erlaß eines rechtswidrigen Gesetzes kaum möglich sein. Beim legislativen Unterlassen wäre an eine Haftung der privaten Schadensverursacher zu denken.3« b) Rechtsmittelversäumung (§ 839 Abs. 3 BGB) und Mitverschulden (§ 254 BGB) Einem Amtshaftungsanspruch könnte auch § 839 Abs. 3 BGB entgegenstehen, wonach ein Schadensersatzanspruch entfällt, wenn der Geschädigte es schuldhaft unterlassen hat, den Schaden durch die Einlegung eines Rechtsmit317 Hier liegt ein Fall der sog. Gesamtkausalität (kumulativen Kausalität) vor, weil das Verhalten eines Abgeordneten nur im Zusammenwirken mit den anderen Abgeordneten das schädigende Ereignis herbeigeführt hat - vgl. hierzu Palandt Vorb. zu § 249 BGB Rdnr. 86; BGH VersR 70, 814 f. 318 Witte, haftungsgesetz.

S. 151 ff; vgl. auch §§ 25 ff AtomG und das am 1.1.90 in Kraft getretene Umwelt-

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

116

tels abzuwenden. Diese Vorschrift konkretisiert und verschärft die allgemeine Regelung über ein Mitverschulden des Geschädigten (§ 254 BGB) und bringt zugleich zum Ausdruck, daß dem Primärrechtsschutz der Vorrang zukommt 319 Bei einer Amtspflichtverletzung durch Erlaß eines verfassungswidrigen Gesetzes kommt als einzig mögliches Rechtsmittel zur Abwendung des Schadens die Verfassungsbeschwerde nach Art 93 Abs. 1 Nr. 4a GG in Betracht.320 Der 521 Bundesgerichtshof hat es zwar unter Berufung auf den Ausnahmecharakter der Verfassungsbeschwerde abgelehnt, die Verfassungsbeschwerde als Rechtsmittel im Sinne des § 839 Abs. 3 BGB zu qualifizieren; dieser Entscheidung lag aber ein sogenannter Beruhensfall zugrunde, für den § 90 Abs. 2 Β VerfGG maßgebend war. Auch Teile der Literatur zählen die Verfassungsbeschwerde in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht zu den Rechtsmitteln im Sinne des § 839 Abs. 3 BGB. 322 Bei den vorliegend ausschließlich interessierenden Unmittelbaikeitsfällen ist § 90 Abs. 2 BVerfGG jedoch nicht einschlägig. In den Fällen, in denen ein Gesetz unmittelbar in den Rechtskreis der Bürger eingreift, bleibt dem betroffenen Bürger als einziges Rechtsmittel die Verfassungsbeschwerde. In diesen Fällen verliert die Verfasssungsbeschwerde ihren Ausnahmecharakter, den sie gegenüber Rechtsmitteln in administrativen Amtshaftungsfällen entfaltet. Da die Amtshaftung für legislatives Unrecht ohnehin einen Sonderfall im Bereich der Amtshaftung darstellt, ist es auch nicht einsichtig, weshalb bezüglich der Rechtsmittel im Sinne des § 839 Abs. 3 BGB nicht auch eine Differenzierung zwischen legislativem Unrecht und administrativem Unrecht vorgenommen werden soll. Daher ist ein Schadensersatzanspruch zu versagen, wenn der Geschädigte die negativen Folgen eines verfassungswidrigen Gesetzes mit Hilfe einer Verfassungsbeschwerde hätte vermeiden können und die Einlegung dieses Rechtsmittels schuldhaft unterlassen hat Der betroffene Bürger wird in der Regel zunächst davon ausgehen müssen, daß ein Gesetz verfassungsgemäß ist. Erst bei entsprechender Erörterung in der Presse oder in Fachzeitschriften können sich für ihn Anhaltspunkte für die Verfassungswidrigkeit einer Norm ergeben.323 Allzu scharfe Anforderungen darf man hier nicht stellen, denn sonst würde das Bundesverfassungsgericht in einer Flut von Verfassungsbeschwerden ersticken. Ob die Nichteinlegung einer Verfassungsbeschwerde schuldhaft ist, ist nach den Umständen des Einzelfalles, nach den Kenntnissen, dem Bil319 Maurer (Allg. VerwR) § 25 Rdnr. 32; Papier in Müko § 839 BGB Rdnr. 284, 285, BGH NJW 64,195. 320 Scheuing FS für Bachof, S. 358; Schenke DVB1 75, S. 128; Dohnold DÖV 91, S. 154; Speiser, S. 117 f; v. Arnim, S. 61, Maurer (Allg. VerwR) § 25 Rdnr. 51. 321 322

BGHZ30,19,

28.

Dagtoglou in BK Art 34 GG Rdnr. 305; Papier in Müko § 839 BGB Rdnr. 286; Weber, S. 61 ff, 66. 323 V g t auch Speisen S. 118.

117

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

dungsgrad des Geschädigten, aber auch danach zu beurteilen, ob es dem Geschädigten zumutbar war, einen Rechtsrat einzuholen.324 In der Regel wird also die Nichteinlegung einer Verfassungsbeschwerde nicht schuldhaft sein, zumal der betroffene Bürger davon ausgehen kann, daß besser informierte politische Gremien ein Normenkontrollverfahren anstrengen, so daß eine Verfassungsbeschwerde entbehrlich ist In den Fällen legislativen Unterlassens wird die Nichteinlegung einer Verfassungsbeschwerde grundsätzlich ebenfalls nicht schuldhaft sein, da die Beurteilung einer evidenten Schutzpflichtverletzung sehr komplexe Fragen aufwirft. 325 Bei der Verletzung von Rechten und Freiheiten, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegt sind, ist nach Art. 25 EMRK der Rechtsweg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegeben, so daß der Betroffene gehalten ist, den drohenden Schaden durch Anrufung des Gerichtshofes abzuwenden. Daneben sind auch die deutschen Gerichte zur Feststellung von Konventionsverletzungen zuständig, da die Europäische Menschenrechtskonvention auch Bestandteil der deutschen Rechtsordnung geworden ist. Bei einem Verstoß gegen das Europäische Gemeinschaftsrecht ist jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene Gericht für die Feststellung der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit eines formellen Gesetzes zuständig,326 so daß dem Betroffenen auch hier Rechtsmittel zur Abwendung des Schadens zu Gebote stehen. Neben § 839 Abs. 3 BGB kommt § 254 BGB zur Anwendung, falls ein sonstiges Mitverschulden des Geschädigten zur Entstehung des Schadens beigetragen hat 3 2 7 Während bei § 839 Abs. 3 BGB ein Schadensersatzanspruch völlig ausgeschlossen ist, wird im Rahmen des § 254 BGB die Haftung entsprechend der Quote des Mitverschuldens gemindert. c) Indemnität der Abgeordneten - Art 46 Abs. 1 GG Art 46 Abs. 1 GG bestimmt für das Bundesrecht, daß ein Parlamentsabgeordneter weder gerichtlich noch dienstlich wegen seiner Abstimmung oder einer Äußerung, die er im Bundestag getan hat, zur Verantwortung gezogen werden darf. 328 Die ganz hM geht heute davon aus, daß die in Art 46 Abs. 1 GG 324

325 326 327

328 gen.

Speiser, S. 118; Papier in Müko § 839 BGB Rdnr. 289. vgl. auch Witte, S. 150 mit einer etwas anderen Begründung. vgl. hierzu Everting DVB185, S. 1201 ; Aubin, S. 79 ff; BVerfGE

31, S. 145 ff.

Teschner, S. 276; Maurer (Allg. VerwR) § 25 Rdnr. 32. pür die Landtagsabgeordneten gelten die besonderen Regelungen in den Landesverfassun-

118

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

geregelte Indemnität den Abgeordneten auch vor zivilrechtlichen Ersatzansprüchen schützt.329 Da die Amtshaftung nur eine Haftungsverlagerung des Ersatzpflicht des persönlich haftenden Beamten auf den Staat darstellt, 330 könnte man argumentieren, daß in den Fällen, in denen die Indemnität die persönliche Haftung der Abgeordneten ausschließt, auch die Amtshaftung des Staates ausgeschlossen wäre.331 Durch die Geltendmachung eines Amtshaftungsanspruches gegen den Staat in den Fällen des legislativen Unrechts wird die durch Art. 46 Abs. 1 GG gewährleistete Sanktionsfreiheit der Abgeordneten aber nicht angetastet. Diese Vorschrift schließt nicht die Entstehung, sondern nur die gerade gegen Abgeordnete gerichtete Verfolgung eines Schadensersatzanspruches sowie den Rückgriff des Staates auf die Abgeordneten aus.332 Würde man den Schutzbereich des Art. 46 Abs. 1 GG auch auf die Amtshaftung des Staates ausdehnen, dann würde diese Vorschrift zu dem nicht vorgesehenen Zweck mißbraucht, den Staat vor einer Inanspruchnahme durch die geschädigten Bürger zu schützen.333 Die Indemnität der Abgeordneten nach Art. 46 Abs. 1 GG führt also nicht zu einem Ausschluß der Amtshaftung für rechtswidrige Parlamentsgesetzgebung. d) Haftungsausschluß nach § 79 Abs. 2 BVerfGG Nach § 79 Abs. 2 BVerfGG bleiben vorbehaltlich der Vorschrift des § 95 Abs. 2 BVerfGG oder einer besonderen gesetzlichen Regelung die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einem für nichtig erklärten Gesetz beruhen, unberührt. Aus dieser Vorschrift könnte sich schließen lassen, daß Eingriffe durch ein verfassungswidriges Gesetz nach Ablauf der Jahresfrist des § 93 Abs. 2 BVerfGG bestehen bleiben und damit Schadensersatzansprüche ausgeschlossen sind.334 Die hM führt allerdings zutreffend aus, daß unter den Be329 Dagtoglou (Ersatzpflicht) S. 46, ders. in BK Art. 34 GG Rdnr. 436 a; Speiser, S. 109; Hamann/Lenz Art. 46 GG Anm. 3; Rinck JZ 61, 248, 250; einschränkend Ruland, Der Staat 14, S. 486. 330 Heidenhain S. 37; Dagtoglou in BK Art. 34 GG Rdnr. 10; Bender (Staatshaftung), Rdnr. 389; Speiser, S. 109; Ruland Der Staat 14, S. 464; a.A. Bettermann JZ 61, 482. 331

so Bender (Staatshaftungsrecht) Rdnr. 656; ihm folgend Eckert, S. 105 ff.

332

v. Arnim, S. 62; Haverkate NJW 73, 441; Magiern in BK Art. 46 GG Rdnr. 52, 44; Speiser, S. 114; Scheuing FS BAchof S. 357; Dohnold DÖV 91, S. 154; Schenke DVB1 75, S. 126; vgl. auch Ruland Der Staat 14, S. 486; Dagtoglou (Ersatzpflicht) S. 47 ff; ihm folgend Weber S. 68 ff. 333 so zutreffend Speiser, S. 114. 334 vgl. Jaenicke W D S t R L 20, S. 150, der allerdings gleichzeitig anführt, daß damit nicht gesagt sei, daß bereits bestehende Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche ausgeschlossen seien; ihm folgend Selmer (Aufopferungsanspruch), S. 102.

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

119

griff "Entscheidungen" in § 79 Abs. 2 BVerfGG nur Gerichtsurteile und Verwaltungsakte zu subsumieren sind.335 Damit ist klargestellt, daß § 79 Abs. 2 BVerfGG eine Ersatzpflicht des Staates bei legislativem Unrecht nicht ausschließt 7. Generelle Bedenken gegen eine Anwendung des Amtshaftungstatbestandes auf die Gesetzgebung Wie bereits eingangs angeführt, haben einige Autoren Bedenken gegen die Anwendbarkeit des Amtshaftungstatbestandes auf die Tätigkeit der Legislative erhoben, weil hierdurch das Wesen der Amtshaftung verändert würde. 336 Diese Bedenken können aber letztendlich nicht durchgreifen. Es ist zwar richtig, daß die Amtshaftung ursprünglich auf die Exekutive mit ihrem hierarchisch gegliederten Behördenaufbau zugeschnitten war. Wie bereits angesprochen hat der Amtshaftungstatbestand im Laufe der Jahre aber durch die Rechtsprechung eine extensive Auslegung erfahren. 337 Dies konnte natürlich unter dem rechtsstaatlichen Einfluß der grundgesetzlichen Ordnung nicht ausbleiben. Auch die Haftung für rechtswidrige Akte der Legislative ist ein Gebot des Rechtsstaates, so daß die Haftung für legislatives Unrecht nur eine folgerichtige Weiterentwicklung dieser extensiven Rechtsprechung darstellt. Die Auslegung des Amtshaftungstatbestandes unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ist zudem bereits im Amtshaftungstatbestand selbst angelegt, denn der Amtshaftungstatbetand enthält keine Regelung über die Amtspflichten, die der jeweilige Amtswalter bei seiner Amtsführung zu beachten hat, sondern bestimmt nur die Haftungsfolgen bei einer Verletzung dieser Pflichten. Die einem Amtswalter obliegenden Amtspflichten ergeben sich vielmehr aus allen denkbaren Rechtsquellen, insbesondere auch aus dem Grundgesetz,338 so daß hier ein Einfallstor für eine rechtsstaatliche Auslegung existiert. Der Amtshaftungstatbestand setzt auch nicht voraus, daß die handelnden Amtswalter weisungsabhängig sind. Aus ihrer historischen Entwicklung heraus ist die Amtshaftung zwar auf solche Amtswalter zugeschnitten worden.339 Wie 335 vgl. etwa Majer (Folgen verfassungswidriger Gesetze), S. 37 ff; Kneser AöR 89, S. 177 ff; Ulsamer in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/KleinJUlsamer BVerfGG § 79 Rdnr. 23; Haverkate NJW 73, 44l \ Speiser, S. 120 ff. 336 Jaenicke (Haftung), S. 69, 125; ders. W D S t R L 20, S. 150; Eckert, S. 104 ff; Bender (Staatshaftungsrecht) Rdnr. 657; Luhmann, S. 127; ähnlich auch Stern W D S t R L 20, 271. 337

vgl. etwa Oldiges Der Staat 15, S. 387; Soergel-Glaser § 839 BGB Rdnr. 23 f.

338

Meyer in v. Münch GG-Kom. Art. 34 GG Rdnr. 48; Weber, S. 43; Witte, S. 123 Fußnote 13; Speiser, S. 82; Papier in M/D/H/S Art 34 GG Rdnr. 147; Schenke DVB175, S. 126. 339 vgl. Eckert, S. 103 ff; Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 32; Jaenicke W D S t R L 20, 150; Schröder Jus 13, S. 359.

120

2. Kapitel: Amtshaftung und legislatives Unrecht

oben bereits festgestellt, 340 würde aber das Wesen der Amtshaftung als eine Übernahmehaftung für fremdes Verschulden verändert, wenn der Staat nur für weisungsabhängige Amtswalter haften würde, deren Verhalten er steuern und kontrollieren kann. Die Amtshaftung würde hier in eine Haftung für eigenes Auswahl- und Überwachungsverschulden des Staates umgestaltet, die dann eingreift, wenn er von seinen Weisungsmöglichkeiten keinen Gebrauch gemacht und so ein amtspflichtwidriges Verhalten der Amtsträger ermöglicht hat.341 Nicht die Erweiterung der Amtshaftung auf weisungsunabhängige Amtswalter, sondern ihre Beschränkung auf weisungsabhängige Amtsträger würde also das Wesen der Amtshaftung verändern. 342 Schließlich ist auch noch zu beachten, daß der Amtshaftungstatbestand expressis verbis auf Spruchrichter anwendbar ist, die ebenfalls keinen Weisungen unterliegen (§ 839 Abs. 2 BGB). Auch rechts- und staatspolitische Erwägungen sprechen nicht gegen eine Anwendbarkeit der Amtshaftung auf die Tätigkeit der Legislative. Die Rechtsprechung greift hier keineswegs in ungerechtfertigtem Maße in die Befugnisse der Legislative ein.343 Bei einer Haftung für legislatives Unrecht wird der Bereich der Gesetzgebung nicht mehr tangiert als beim Primärrechtsschutz. Auch eine Haftung für legislatives Unrecht setzt voraus, daß die Rechtswidrigkeit des betreffenden Gesetzes durch die zuständigen Gerichte festgestellt wurde. Über einen bestehenden Amtshaftungsanspruch haben zwar die Zivilgerichte zu entscheiden; sie müssen aber nur noch prüfen, ob das Verhalten der Abgeordneten kausal und schuldhaft war und ob eine Haftungsbeschränkung in Betracht kommt Die Amtspflichtwidrigkeit steht bereits aufgrund der Entscheidung der zuständigen Gerichte fest. Es bestehen auch keine Bedenken344 dagegen, daß die Mitglieder einer Zivilkammer den Abgeordneten schuldhaftes Verhalten vorwerfen; bei hohen Verwaltungsbeamten und Regierungsbeamten wurde bisher auch nicht gezögert, ihr Verhalten in einem Amtshaftungsprozeß überprüfen zu lassen. Die Anwendung des Amtshaftungstatbestandes in den Fällen rechtswidriger Gesetzesbeschlüsse entspricht auch den Aufgaben und der Funktion der Amtshaftung* 5 Die vorrangige Funktion der Amtshaftung hegt darin, dem Geschädigten einen leistungsstarken Schuldner zur Verfügung zu stellen. Diese Funktion wird bei einer Haftung für rechtswidrige Parlamentsgesetzgebung gewahrt, zumal dem geschädigten Bürger angesichts der Indemnität der Abgeordneten 340

vgl. oben II. l . b .

341

so zutreffend Ruland Der Staat 14, S. 469, 470.

342

Dies verkennt Eckert, S. 104 ff.

343

a.A. wohl Eckert, S. 107.

344

so aber Eckert, S. 107; Mondry (Gefährdungshaftung), S. 165.

345

hierzu ausfuhrlich Traving, S. 114 ff.

II. Die Tatbestandvoraussetzungen

121

überhaupt erst ein Schuldner verschafft wird. 346 Die Amtshaftung hat daneben nicht nur die Funktion, die Einsatzbereitschaft der betreffenden Amtsträger durch eine Haftungsverlagerung zu erhöhen, sondern auch die Aufgabe, die steigende Einwirkung des Staates auf die Rechtssphäre des einzelnen durch einen erhöhten Rechtsschutz abzugleichen.347 Ein solches Rechtsschutzbedürfnis besteht aber gerade gegenüber der Gesetzgebung, die im modernen Staat die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse durch ein engmaschiges Netz von Vorschriften immer enger gestaltet (Gesetzesflut). Damit bleibt festzuhalten, daß eine Amtshaftung für legislatives Unrecht weder mit dem Wesen der Amtshaftung unvereinbar ist, noch der Funktion der Amtshaftung zuwiderläuft. Zuzugeben ist allerdings, daß der Amtshaftungstatbestand den heutigen Anforderungen an eine systemgerechte und rechtsstaatliche Staatshaftung nicht gerecht wird, so daß die Haftung für legislatives Unrecht eine neue Regelung frnden sollte. Die Schwächen der Amtshaftung hegen insbesondere in der Anknüpfung an die zivilrechtliche Haftung des Amtswalters, in der Anknüpfung an interne Amtspflichten und in dem Verschuldenserfordernis. Dies ändert aber nichts daran, daß eine Haftung für legislatives Unrecht im Amtshaftungstatbestand eine positivrechtliche Grundlage gefunden hat. Es kann auch nicht befriedigen, dem geschädigten Bürger Ausgleichsansprüche vorzuenthalten, bis der Gesetzgeber selbst klargestellt hat, daß legislatives Unrecht entschädigt werden soll, denn es kann nicht angehen, den Gesetzgeber allein entscheiden zu lassen, welche Konsequenzen eine rechtswidrige Normsetzung oder -Unterlassung nach sich ziehen soll. Der Legislative darf nicht die Stellung eines Richters in eigener Sache eingeräumt werden, schon allein deswegen nicht, weil die im Grundgesetz angelegte Gewaltenteilung nur bei wechselseitiger Kontrolle der Staatsorgane funktionieren kann.348 Dieser Aspekt berechtigt zwar die Rechtsprechung nicht zur ersatzweisen Ausübung der Rechtssetzungsaufgaben der Legislative. Dies ist aber auch nicht erforderlich, denn die Rechtsprechung ist legitimiert, das geltende Recht so anzuwenden, wie es dem rechtsstaatlichen Verständnis entspricht.349 Der Frage, wie die Haftung für legislatives Unrecht angesichts der Schwächen der Amtshaftung neu geregelt werden könnte, wird später noch nachgegangen. Zunächst ist im folgenden Kapitel aber noch zu untersuchen, ob unser Recht nicht noch eine weitere Haftungsgrundlage für rechtswidrige Parlamentsgesetzgebung kennt.

346

vgl. auch Traving, S. 115 f.

347

Traving S. 119; vgl. auch Maurer (Allg. VerwR) § 25 Rdnr. 6.

348

Witte, S. 178.

349

Dies verkennt BGH BB 88,1191,1192; BGH NJW 87,1875,1877; BGH NJW 88, 478 ff.

3. Kapitel

Die Haftung des Staates für legislatives Unrecht nach den richterrechtlichen Staatshaftungsinstituten des enteignungs· gleichen, aufopferungsgleichen und enteignenden Eingriffs I. Die Haftung für legislatives Unrecht aus enteignungsgleichem Eingriff L Der Meinungsstand in Rechtsprechung und Literatur Die verwaltungsrechtliche Literatur hat sich intensiv mit der Frage befaßt, ob die Haftung des Staates für Schäden, die durch rechtswidrige Parlamentsgesetze hervorgerufen werden, auf dasrichterrechtliche Institut des sogenannten enteignungsgleichen Eingriffs gestützt werden kann. Auch die höchstrichterliche Rechtsprechung hat sich mehrfach zu dieser Problematik geäußert.1 Während der Bundesgerichtshof noch anfangs die Auffassung vertrat, daß ein entschädigungspflichtiger enteignungsgleicher Eingriff zwar nicht in einem Untätigbleiben des Gesetzgebers, wohl aber in dem Erlaß eines rechtswidrigen Gesetzes liegen könne,2 gelangte er später zu der Ansicht, daß das richterrechtlich geprägte Haftungsinstitut des enteignungsgleichen Eingriffs keine tragfähige Grundlage für den Ausgleich von Nachteilen biete, die durch ein rechtswidriges Parlamentsgesetz hervorgerufen werden, da die Haushaltsprärogative des Parlaments im Hinbück auf die zu erwartenden erheblichen finanziellen Folgen für den Staatshaushalt in möglichst weitgehendem Umfang gewahrt bleiben müsse.3 Daher müsse eine Entschädigungsregelung der Entscheidung des par-

1 vgl. etwa BGHZ 56, S. 40, 42; BGH BB 88, S. 1071 = VersR 88, S. 1046 ff = NJW 89, S. 101, 102; BGHZ 100, S. 136, 145 ff= NJW 87, S. 1875, 1877 f; BGH W M 73, S. 491, 494 ff; BGH NJW 88, S. 478, 480 = VersR 88, S. 85, 88 f = BGHZ 102, S. 350, 359; BGH DÖV 90, S. 1065,1066; vgl. auch OLG Köln NJW 86, S. 589, 592; OLG München NVwZ 86, S. 691,693. 2 3

BGHZ 56, S. 40, 42; BGH NJW 64, S. 769 ff; vgl. auch OLG Köln NJW 86, S. 589, 592.

so BGHZ 100, S. 136, 145 ff = NJWW y S. 1875,1877 f; hierauf nimmt der BGH in BB 88, S. 1701 = VersR 88, S. 1046 ff = NJW 89, S. 101, 102 und in BGH NJW 88, S. 478, 480 = BGHZ 102, S. 350, 359 Bezug. Das BVerfG hat die gegen das Urteil des BGH vom 12.3.87 {BGHZ 100, S. 136 ff) eingelegte Verfassungsbeschwerde mit der Begründung, sie habe keine ausreichende Aussicht auf Erfolg, nicht zur Entscheidung angenommen (Beschluß des BVerfGS v. 13.11.87 - AZ 1 BvR 739/87 - nicht veröffentlicht). Zur Begründung führte das BVerfG an, daß die Auffassung des BGH, die richterrechtliche Einführung eines Anspruchs bei legislativem Unrecht überschreite die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, nachvollziehbar sei und keine sachfremdem Erwägun-

I. Die Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff

123

lamentarischen Gesetzgebers überlassen bleiben. Einen solchen Ausschluß richterrechtlicher Entschädigungsansprüche befürwortet der Bundesgerichtshof aber nur bei rechtswidrigen formellen Gesetzen, nicht aber auch bei rechtswidrigen untergesetzlichen Normen, die an eigenen, nicht auf ein Parlamentsgesetz zurückzuführenden Mängeln leiden. In den letztgenannten Fällen soll der enteignungsgleiche Eingriff prinzipiell als Anspruchsgrundlage zum Tragen kommen.4 Diese Differenzierung ist in der Literatur, die, wenn auch mit unterschiedlicher Reichweite, eine Entschädigung aus enteignungsgleichem Eingriff bei Schäden, die durch den Erlaß eines rechtswidrigen Parlamentsgesetzes hervorgerufen werden, befürwortet, 5 auf Kritik gestoßen.6 Bei der Frage, ob das Institut des enteignungsgleichen Eingriffs als Anspruchsgrundlage bei legislativem Unrecht in Betracht kommt, ist zunächst zu klären, welche Ausprägung der enteignungsgleiche Eingriff durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes gefunden hat und inwieweit der Naßauskiesungsbeschluß des Bundesverfassungsgerichts 7 eine Aufgabe oder Neuorientierung dieses Instituts erforderlich macht und dessen Rechtsnatur beeinflußt Daran anschließend sind die dem enteignungsgleichen Eingriff durch die Beschränkungen richterlicher Rechtsfortbildung gesetzten Grenzen zu bestimmen, denn nur so kann zuverlässig beurteilt werden, ob und inwieweit der enteignungsgleiche Eingriff eine tragfähige Grundlage für Ausgleichsansprüche bei legislativem Unrecht bildet.

gen erkennen lasse. Auf diesen Beschluß des BVerfGs wird an späterer Stelle noch näher einzugehen sein. 4 vgl. etwa BGH DÖV 91, S. 1065,1066 = NJW 90, S. 3260 ff = JZ 91, S. 36 ff; BGHZ 78, S. 41,42; vgl. auch BGHZ 100, S. 136,147; BGHZ 92, S. 34,36. 5 Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 54 ff; ders in BK Art 14 GG Rdnr. 435 ff; Oldiges Der Staat 15, S. 395 ff; Schenke NJW 88, S. 859 ff; ders. mit Einschränkungen DVB1 75, S. 122; ders. mit Einschränkungen (Rechtsschutz), S. 89 ff; Scheuing FS für Bachof, S. 359 ff; Herdegen (Haftung der EWG), S. 64 ff; Speiser (Ersatzpflicht), S. 53 ff; Weber (Staatshaftung), S. 86 ff; Eckert (Haftung), S. 125 ff; Schock NJW 63, S. 1338; ; ders. MDR 53, S. 514, 516; Selmer (Aufopferungsanspruch), S. 100 ff; Forsthoff BB 60, S. 1138; Jaenicke W D S t R L 20, S. 151 ff; ders. in: Mosler (Haftung des Staates), S. 125 ff; Katzenstein MDR 52, S. 195; Rüfher Jura 89, S. 136 ff; Haverkate ZRP 77, S. 35; Schwabe NJW 71, S.1657 f; Kosmider (Staatshaftung), S. 146 ff; Röhder M D R 70, S. 8; Mondry (Gefährdungshaftung), S. 165 ff; Scheuner BB 60, S. 1253,1256; Murswiek N V w Z 86, S. 613; Detterbeck JA 91, S. 9 f; Hamann/Lenz GG-Kom. Art. 80 Anm. 5; Art. 14 Anm. Β 7; Kimminich Jus 69, S. 354; Ossenbühl JZ 87, S. 1027; ders. (Staatshaftungsrecht), S. 192 ff; Steinberg/Lubberger, S. 358 ff; Rüfher in Erichsen/Martens (Allg VwR), 52 I I 1 Rdnr. 56; Heidenhain (Amtshaftung), S. 89 FN 8; Luhmann (Entschädigung), S. 127 ff; vgl. auch LG Freiburg MDR 53, S. 514 ff; OLG Hamburg DÖV 71, S. 238,240. 6 Schenke NJW 88, S. 857 ff; Rüfner in Erichsen/Martens (Allg. VerwR), § 52 I I I 1, Rdnr. 56 f; Detterbeck JA 91, S. 9 f; Ossenbühl JZ 87, S. 1027; Steinberg/Lubberger, S. 362; Maurer JZ 91, S. 38; vgl. auch Luhmann (Entschädigung), S. 127 ff; a.A. Häde BayVBl 91, S. 492; Dilcher AcP 163 (1964), S. 212; Boujong FS für Geiger, S. 437; Nüßgens/Boujong (Eigentum), Rdnr. 446 ff; Aust/Jacobs (Enteignungsentschädigung), S. 83. 7

BVerfGE

58, S. 300 ff.

124

3. Kapitel: Richterrechtliche Staatshaftungsinstitute

2. Die Entwicklung des enteignungsgleichen Eingriffs Der enteignungsgleiche Eingriff wurde zu Beginn der 50er Jahre vom Großen Senat des Bundesgerichtshofs in seiner berühmt gewordenen Grundsatzentscheidung vom 10.6.52« in Anlehnung an Art. 14 Abs. 3 GG9 entwickelt, um dem vom geltenden positiven Recht her gegebenen Haftungsdefizit entgegenzuwirken. Während rechtmäßige Eingriffe in das Eigentum nach Art. 14 Abs. 3 GG zu entschädigen waren und rechtswidrig-schuldhafte Eigentumsbeeinträchtigungen einen Amtshaftungsanspruch auslösten, bestand eine Haftungslücke für rechtswidrig-schuldlose Eingriffe in das Eigentum. Der Bundesgerichtshof griff hier die Rechtsprechung des Reichsgerichts zu §§ 74, 75 EinlALR 10 auf, löste die Haftung des Staates für rechtswidrig-schuldlose Eingriffe in das Eigentum aber von dem vom Reichsgericht herangezogenen Aufopferungsgedanken und bettete ihn in das Enteignungsrecht ein.11 Er plädierte dafür, alle unrechtmäßigen schuldlosen Eingriffe der Staatsgewalt in das Eigentum "wie eine Enteignung zu behandeln" und sie zu entschädigen, "wenn sie sich für den Fall ihrer gesetzlichen Zulässigkeit sowohl nach ihrem Inhalt wie nach ihrer Wirkung als Enteignung darstellen würden und wenn sie in ihrer tatsächlichen Wiikung dem Betroffenen ein besonderes Opfer auferlegt haben".12 Damit war klargestellt, daß rechtswidrig-schuldlose Eigentumseingriffe eine Entschädigungspflicht auslösen, obwohl, nicht weil sie rechtswidrig sind.13 Der Bundesgerichtshof stützte sich hierbei auf einen Erst-recht-Schluß: Wenn der Staat schon für rechtmäßige Eingriffe der Staatsgewalt in das Eigentum eine Entschädigung vorsehe, dann müsse dies erst recht für rechtswidrig erfolgte Eingriffe gelten." Schon recht bald dehnte der Bundesgerichtshof das von ihm kreierte Institut des enteignungsgleichen Eingriffs auch auf Fälle aus, in denen der Eigentumseingriff nicht nur rechtswidrig, sondern auch schuld-

8

BGHZ 6, S. 270 ff.

9

Der BGH spricht in der genannten Entscheidung zwar nur von einer entsprechenden Anwendung des Art. 14 GG, die weiteren Ausführungen zeigen jedoch, daß eine Anlehnung an Art. 14 Abs. 3 GG gemeint ist; vgl. auch BGHZ 72, S. 273, 277. 10

RGZ 140, S. 276 ff, 285.

11

Hierbei darf allerdings nicht außer acht gelassen werden, daß der BGH immer wieder betonte, daß der Enteignungstatbestand lediglich einen - wenn auch besonders bedeutsamer - Sonderfall der Aufopferung darstelle: vgl. etwa BGHZ 13, S. 88, 91, 94 m. w. N. 12

BGHZ 6, S. 270 ff, 290.

13

vgl. hierzu Papier Jus 89, S. 635; ders. (Eigentumsgarantie), S. 36 f; Bender BauR 83, S. 8 f, Nüßgens/Boujong, Rdnr. 413. 14 Dieser Erst-recht-Schluß ist allerdings nicht zwingend, den zwischen rechtmäßigen und rechtswidrigen-schuldlosen Eingriffen besteht ein wesentlicher Unterschied: Rechtmäßige Eingriffe können nicht im Wege des Pri märrechtsschutzes angegriffen werden, sondern sind vom betroffenen Bürger zu dulden, während rechtswidrige Eingriffe angefochten werden können - vgl. hierzu Maurer (Allg. VerwR) § 26 Fdnr. 42.

I. Die Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff

125

haft erfolgte. 15 Auch hier argumentierte er wieder mit einem Erst-recht-Schluß: "Haben schon die schuldlos durch einen solchen Eingriff Geschädigten einen Anspruch auf Entschädigung nach Enteignungsgrundsätzen, so muß dies erst recht dann gelten, wenn der Eingriff nicht nur rechtswidrig, sondern auch schuldhaft war". 16 Dieser zweite Erst-recht-Schluß läßt sich mit dem Gedanken rechtfertigen, daß das Verschulden nicht Teil des Rechtsbegriffes der Enteignung ist und damit auch kein Merkmal des enteignungsgleichen Eingriffs sein kann.17

Die vom Bundesgerichtshof in seiner Grundsatzentscheidung vom 10.6.52 herangezogene Analogie zu Art. 14 Abs. 3 GG hat unübersehbar auf den Tatbestand des enteignungsgleichen Eingriffs abgefärbt und auch zu seiner Namensfindung beigetragen. Bedingt durch die Orientierung am Enteignungstatbestand wurde der enteignungsgleiche Eingriff vom Bundesgerichtshof definiert als vom Gemeinwohl orientierter hoheitlicher Eingriff in eine als Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Rechtsposition, der dem Betroffenen e Sonderopfer abverlangt. 18 Anders als bei der Enteignung verzichtete der Bundesgerichtshof jedoch bald auf die Feststellung einer eigenständigen Sonderopferlage und ließ die Rechtswidrigkeit des Eingriffs als Sonderopfe genügen.19 Damit billigte der Bundesgerichtshofs eine Entschädigung aus enteignungsgleichem Eingriff nicht nur wie bisher in den Fällen zu, in denen mit Ausnahme des Kriteriums der Rechtsmäßigkeit alle Voraussetzungen einer Enteignung erfüllt waren, sondern auch bei Eingriffen, die im Falle ihrer Rechtmäßigkeit keine Enteignungen, sondern entschädigungslos hinzunehmende Konkretisierungen der Sozialbindung des Eigentums darstellten und nur wegen ihrer Rechtswidrigkeit den Betroffenen ein Sonderopfer abverlangten.20 Die Rechtswidrigkeit des Eingriffs wurde damit vom Bundesgerichtshof zum anspruchsbegründenden Merkmal erhoben und bewirkte eine Hinwendung des enteignungsgleichen Eingriffs zu einer unmittelbaren, primären und verschul-

15

vgl. BGHZ 7, S. 296 ff; BGHZ 13, S. 88 ff.

16

BGHZ 7, S. 296 ff, 298.

17 vgl. BGHZ 13, S. 88, 92; Dieser Erst-recht-Schluß ist in der Literatur zum Teil auf Kritik gestoßen. Zu den aufgeworfenen Bedenken, vgl. etwa Maurer (Allg. VerwR) § 26 Rdnr. 54. 18 vgl. etwa Bender (Staatshaftungsrecht), Rdnr. 60 ff; Maurer (Allg. VerwR) § 26 Rdnr. 45 ff; Ossenbühl Jus 88, S. 193, 194; Goppert (enteignungsgleicher Eingriff), S. 5 ff; Trimbach, Diss. S. 40. 19

erstmals BGHZ 32, S. 208, 211, 212; vgl. auch BGHZ 73, S. 161, 166, 181; BGHZ 58,

124,137. 20 vgl. hierzu Kreft (Gutachten für BMJ), S. 10; Papier in M/D/H/S GG-Kom. Art. 14 Rdnr. 603; ders. in Müko § 839 BGB Rdnr. 29; Ipsen DVB1 83, S. 1033 f; Bender VwBlBW 84, S. 225; ders. BauR 83, S. 9 f; Maurer Die Verwaltung 83, S. 63 f; Nüßgens/Boujong, S. 414 ff.

126

3. Kapitel: Ricfaterrechtliche Staatshaftungsinstitute

densunabhängigen Staatshaftung fur rechtswidrige Eigentumsbeeinträchtigungen.2i Daneben wurde im Laufe der Zeit der Begriff des Eingriffs erweitert Anstelle des ursprünglich geforderten finalen Eingriffs trat die Unmittelbarkeit des Eingriffs ,22 so daß auch Zufallsschäden, die durch rechtswidrige behördliche Maßnahmen hervorgerufen wurden, entschädigt werden konnten. Außerdem ließ der Bundesgerichtshof neben einem positiven Tun 23 auch ein sogenanntes "qualifiziertes Unterlassendas sich seiner Wirkung nach "wie ein in den Rechtskreis des Betroffenen eingreifendes Handeln qualifizieren läßt", als Eingriff genügen.24 3. Der enteignungsgleiche Eingriff im Lichte des Naßauskiesungsbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts Nachdem der Bundesgerichtshof aufgrund des von ihm geschaffenen Haftungsinstituts des enteignungsgleichen Eingriffs nahezu 30 Jahre lang dem betroffenen Bürger Entschädigungsansprüche nach Enteignungsgrundsätzen gewährt hatte, schien die Existenz dieser Rechtsfigur durch die vom Bundesverfassungsgericht in seinem Naßauskiesungsbeschluß vom 15.7.8125 angestellten Erwägungen in Frage gestellt. a) Grundthesen des Naßauskiesungsbeschlusses Das Bundesverfassungsgericht entwickelte einen wesentlich engeren EnteignungsbegrifP 6 als der Bundesgerichtshof, für den jeder Eigentumseingriff, der nicht mehr durch die verfassungsrechtliche Eigentumsbindung gedeckt ist und deshalb für den Betroffenen ein den übrigen Bürgern nicht abverlangtes Sonderopfer darstellt, als Enteignung zu entschädigen ist 2 7 Erst nach Ergehen 21 Papier in M/D/H/S GG-Kom. Art 14 Rdnr. 603; ders. in Müko § 839 BGB Rdnr. 29; ders. N V w Z 83, S. 259; Nüßgens/Boujong aO, Rdnr. 431, 414; Bender BauR 83, S. 10; Knauber N V w Z 84, S. 756; Papier Jus 89, S. 635; Schock Jura 89, S. 530; Ipsen DVB1 83, S. 1033. 22

BGHZ 37, S. 44,47; BGHZ 48, S. 46,49; BGHZ 54, S. 384,388; BGH NJW 80, S. 770 ff.

23

Zunächst ließ der BGH nur positives Tun als Eingriff genügen: BGHZ 12, S. 52, S. 56; BGHZ 15, S. 84, S. 86. 24 BGHZ 32, S. 208, 211; BGHZ 56, S. 40, 42; BGH DVB1 69, S. 209; BGH NJW 71, S. 1172,1173.

*

BVerfGE

*

vgl. hierzu BVerfGE

27

58, S. 300 ff. 38, S. 175,180; BVerfGE

vgl. etwa BGHZ 6, S. 270 ff, 279, 280.

45, S. 297, 326.

I. Die Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff

127

der berühmt gewordenen Naßauskiesungsentscheidung28 wurde der bundesverfassungsrechtliche Enteignungsbegriff jedoch in Literatur und Rechtsprechung allgemein zur Kenntnis genommen. Das Bundesverfassungsgericht führte den Enteignungsbegriff nunmehr zurück auf die vollständige oder teilweise finale Entziehung der konkreten subjektiven Rechtspositionen, die durch Art. 14 Abs. 1 GG als Eigentum gewährleistet sind.29 Dieser finale Eigentumsentzug kann, wie in Art 14 Abs. 3 GG ausdrücklich festgelegt, nur auf zweierlei Art und Weise erfolgen, entweder durch einen Rechtssakt (Verwaltungsakt, Rechtsverordnung, Satzung etc.) aufgrund eines Gesetzes (sog. Administrativenteignung) oder unmittelbar durch ein Gesetz (sog. Legalenteignung), wobei die zweite Enteignungsform nur ausnahmsweise in Betracht kommt 30 Anders als der Bundesgerichtshof geht das Bundesverfassungsgericht also davon aus, daß eine Enteignung nicht schon dort beginnt, wo die Befugnis zur Inhalts- und Schrankenbestimmung endet und die Sozialbindung des Eigentums überschritten ist 3 1 Inhaltsbestimmung, Administrativenteignung und Legalenteignung sind jeweils eigenständige Rechtsinstitute, die das Grundgesetz deutlich voneinander abgrenzt32 Daraus folgt, daß eine die Sozialbindung überschreitende und deshalb verfassungswidrige Inhaltsbestimmung ihren Rechtscharakter als inhaltsbestimmende Vorschrift behält und sich nicht in eine den Anforderungen des Art. 14 Abs. 3 GG unterliegende Enteignungsnorm umwandelt. 33 Eine Enteignungsentschädigung kann nicht aufgrund einer verfassungswidrigen Inhaltsbestimmung, sondern nur aufgrund einer rechtmäßigen Enteignung, die die Zulässigkeitsvoraussetzungen des Art. 14 Abs. 3 GG erfüllt, gewährt werden. Dies bedeutet, daß das betreffende Enteignungsgesetz, das entweder selbst enteignet (Legalenteignung) oder die Grundlage für eine Enteignung durch Verwaltungsakt bildet (Administrativenteignung), zugleich eine Entschädigungsregelung über das Maß und die Art der Entschädigung vorsehen muß (sog. JunktimklauselJ. 34 Fehlt eine solche Entschädigungsregelung, dann können die ordentlichen Gerichte keine Enteignungsentschädigung zusprechen, denn es fehlt an einer nach Art. 14 Abs. 3 GG erforderlichen gesetz28

BVerfGE

58, S. 300 ff.

29

BVerfGE 58, S. 300, 331 ff; vgl. auch schon BVerfGE 52, S. 1, 27; vgl. auch Maurer (Allg. VerwR) § 26 Rdnr. 60; Hendler DVB1 83, S. 875 f; Schach Jura 89, S. 531. 30 BVerfGE vgl. auch BVerfGE

31 BVerfGE S. 105.

58, S. 300, 330 ff; zum Verhältnis Administrativenteignung - Legalenteignung, 24, S. 367,398 ff, 401; BVerfGE 52, S. 1, 27 ff. 58, S. 300, 320; vgl. auch BVerfGE

32

BVerfGE

33

BVerfGE

58, S. 300,320; vgl. auch BVerfGE

34

BVerfGE

58, S. 300,324.

52, S. 1, S. 27 f, Schwerdtfeger

58, S. 300,331 f. 52, S. 1, 27 ff.

Jus 83,

3. Kapitel: Ricterrechtliche Staatshaftungsinstitute

128

liehen Anspruchsgrundlage.35 Nach der ausdrücklichen Regelung des Art. 14 Abs. 3 GG ist die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte auf Rechtstreitigkeiten über die Höhe einer gesetzlich vorgesehenen Entschädigung beschränkt. Dementsprechend sind im Anwendungsbereich des Art. 14 Abs. 3 GG richterrechtlich begründete Entschädigungsansprüche positivrechtlich ausgeschlos sen.36 Der durch eine nicht den Anforderungen des Art. 14 Abs. 3 GG genügende Enteignung Betroffene hat demnach kein Wahlrecht zwischen der Anfechtung der verfassungswidrigen Maßnahme und der Entschädigung für den geduldeten rechtswidrigen Eigentumseingriff 37 Vielmehr ist der Betroffene ausschließlich darauf zu verweisen, im Falle einer rechtswidrigen Administrativenteignung den Verwaltungsrechtsweg zu beschreiten und eine rechtswidrige Legalenteignung im Wege der Verfassungsbeschwerde anzufechten. b) Die Reaktion der Literatur auf den Naßauskiesungsbeschluß

Obwohl das Bundesverfassungsgericht in seiner Naßauskiesungsentscheidung keine Aussage zu der Rechtsfigur des enteignungsgleichen Eingriffs traf, 38 sondern sich ausschließlich mit der Enteignungsproblematik des Art. 14 Abs. 3 GG befaßte, lösten die Ausführungen des Gerichts im Schrifttum zunächst große Verwirrung aus, so daß erste Stellungnahmen in der Literatur zu dem Schluß gelangten, daß der enteignungsgleiche Eingriff nicht mehr haltbar und daher zu verabschieden sei.39 Zur Begründung ihrer Ansicht verwiesen diese Autoren auf die vom Bundesverfassungsgeicht postulierte Gesetzmäßigkeit der Enteignungsentschädigung40 und auf den Ausschluß des Wahlrechts zwischen der Anfechtung eines rechtswidrigen Eigentumseingriffs und der Duldung dieser Maßnahme gegen Gewährung einer Entschädigung.41 Diese Stellungnah35

BVerfGE

58, S. 300, 319, 324.

36

vgl. hierzu Schwerdtfeger Jus 83, S. 104, 105; Götz DVB1 84, S. 395; Boujong UPR 84, S. 137; Nüßgens/Boujong, Rdnr. 429; BVerfGE 58, S. 300, 324. 37

BVerfGE

58, S. 300, 324.

38

Dies mußte vom Berichterstatter Böhmer jedoch ausdrücklich betont werden: Böhmer Beilage 1/1984 zu AgrarR 84, Heft 4/84, S. 34 f. 39 vgl. mit jeweils wechselnden Formulierungen: Scholz NVwZ 82, S. 337, 347; Rupp NJW 82, S. 1731,1733; Bull (Allg. VerwR), 1982, S. 404; Dolde NJW 82, S. 1785, 1797, insbesondere FN 202; Sendler NJW 82, S. 812, 816; Berkemann JR 82, S. 229,232; Schrödter DVB1 82, S. 323, 328; v. Brünneck (Eigentumsgarantie), S. 414 ff; Schröer NJW 84, S. 1864, 1865; Schullan VersR 84, S. 205, 208; etwas zurückhaltender: Bäumler DÖV 80, S. 339, 341 (bereits zur Entscheidung des BVerfGs vom 12.6.79); Kreft NJW 82, S. 1577, 1578; Baur NJW 82, S. 1734, 1736 (zum enteignenden Eingriff); Weber Jus 82, S. 855. 40 vgl. etwa Dolde NJW 82, S. 1797; Berkemann JR 82, S. 232; Schullan VersR 84, S. 208; Scholz N V w Z 82, S. 347; Schrödter DVB182, S. 328. 41 vgl. etwa Scholz NVwZ 82, S. 347; Rupp NJW 82, S. 1733; Berkemann JR 82, S. 232; Dolde NJW 82, S. 1797; Schröer NJW 84, S. 1864,1865.

I. Die Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff

129

men wurden jedoch bald von einer differenzierteren Auffassung verdrängt, die sich zwar veranlaßt sah, den Anwendungsbereich des enteignungsgleichen Eingriffs zu modifizieren, teilweise auch zu beschränken, jedoch an der Fortgeltung dieses Haftungsinstituts nicht zweifelte, obwohl es erforderlich wurde, die Entschädigung aus enteignungsgleichem Eingriff auf eine neue dogmatische Grundlage zu stellen.42 Aus der Vielfalt der vertretenen Meinungen lassen sich zwei Begründungsansätze herauskristallisieren. Zunächst wird mit der Feststellung argumentiert, daß sich die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundthesen (Gesetzmäßigkeit der Enteignungsentschädigung, Ausschluß des Wahlrechts zwischen Anfechtung und Entschädigung) nur auf den engen und formalisierten Enteignungsbegriff des Bundesverfassungsgerichts, d. h. auf die gezielte Entziehung von Eigentumsrechten durch Rechtsakte (Gesetz, Verwaltungsakt) beziehen. Beeinträchtigungen des Eigentums, die nicht in einem vollständigen oder teilweisen Entzug von Eigentumsrechten bestünden, oder durch einen ungezielten Rechtsakt bzw. durch einen Realakt erfolgten, würden nicht von Art. 14 Abs. 3 GG und damit auch nicht von der Enteignungsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts betroffen. 43 Daher könne in diesen Fällen der vom Bundesgerichtshof entwickelte Entschädigungsanspruch aus enteignungsgleichem Eingriff bestehen bleiben. Daneben wird, wenn auch mit unterschiedlicher Reichweite und mit unterschiedlicher Begründung, eine Entschädigung aus enteignungsgleichem Ein42 Ossenbühl NJW 83, S. 1, 3 ff, 6; ders. Jus 88, S. 194; ders. FS für Geiger, S. 476ff; ders. (Neuere Entwicklungen), S. 26; ders. (Gutachten für BMJ), S. 35 ff; ders. (Staatshaftungsrecht), S. 183 ff; ders. ZHR 91, S. 345; Maurer (Allg VwR) § 26 Rdnr. 71 ff; ders. DVB1 91, S. 784; Schwerdtfeger Jus 83, S. 104, 105, 109,110; ders. (Eigentumsgarantie), S. 38 ff; Boujong UPR 84, S. 137 ff; Kosmider (Staatshaftung), S. 160 ff; Osterloh DVB1 91, S. 908; Achterberg JA 84, S. 216, 218; Steinberg/Lubberger, S. 337 ff; Menzel DRiZ 90, S. 378; Engelhardt N V w Z 89, S. 1041; ders. NuR 86, S. 185; Aust/Jacobs (Enteignungsentschädigung), S. 91,92; Ipsen DVB1 83, S. 1029, 1033 f; Hendler DVB1 83, S. 873, 881 ff; Götz DVB1 84, S. 395; ders. AgrarR 84, S. 1 ff; Bender VB1BW 84, S. 226; ders. JZ 86, S. 88, 889; ders. BauR 83, S. 1, 8 ff; Knauber N V w Z 84, S. 755 f; Prior BauR 87, S. 157; Krohn W M 84, S. 827 f; Schwager!Krohn W M 91, S. 43; Krohn VersR 91, S. 1089; Hillermeier BayVBl 85, S. 457; Kröner ZfBR 84, S. 20, 22; Roth (Verwaltungshandeln), S. 83 ff; Papier NVwZ 83, S. 259; ders. in M/D/H/S GG-Kom. Art. 14 Rdnr. 630, 636; ders Jus 89, S. 635; ders. Jus 85, S. 186; ders. (Eigentumsgarantiee), S. 35 ff, Goppert (enteignungsgleicher Eingriff), S. 105 ff, 111; Scheuing in FS Bachof, S. 359 FN 65; Trimbach, Diss., S. 68 ff; Lege NJW 90, S. 868 ff, 872; Schernberg DVB1 91, S. 89; Kreft FS für Geiger, S. 411 ff, 414 ff; ders. (Gutachten für BMJ), S. 25 ff; Krohn/Löwisch (Eigentumsgarantie), Rdnr. 230 ff, 235 b; Nüßgens/Boujong, Rdnr. 431 ff; Rüfner in Erichsen/Martens (Allg. VerwR), § 52 III; einschränkend Battis/Felkl-Brentano JA 83, S. 498 ff; a. A. auch in neuerer Zeit Böhmer NJW 88, S. 2561, 2565 ff, der betont, daß es Aufgabe des Gesetzgebers sei, im grundrechtsrelevanten Bereich die für die Gerichte maßgeblichen Normen zu erlassen; Kreßel (Haftungsrecht), S. 123 f, der kein Bedürfnis für einen enteignungsgleichen Eingriff sieht; ebenso Heinz/Schmitt NVwZ 92, S. 520, die davon ausgehen, daß angesichts des Vorranges des Ptimärrechtsschutzes kein Anwendungsbereich für den enteignungsgleichen Eingriff mehr verbleibt; kritisch auch Schoch Jura 89, S. 534 ff; Schmitt-Kammler NJW 90, S. 2515 f, 2518, die beide eine tatbestandliche Veränderung des enteignungsgleichen Eingriffs im Hinblick auf seine Eigenart als Staatsunrechtshaftung fordern. 43 vgl. etwa Ossenbühl NJW 83, S. 3 ff; ders. (Gutachten), S. 35, 37 f; Maurer (Allg. VerwR), § 26 Rdnr. 71; Ossenbühl (Staatshafungsrecht), S. 151; Götz DVB1 84, S. 395; ders.

9 Fetzer

130

3. Kapitel: Ricfaterrechtliche Staatshaftungsinstitute

griff auch in den Fällen befürwortet, in denen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts tatbestandsmäßig eine Enteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG vorliegt, diese jedoch rechtswidrig ist. Eine Entschädigung soll hierbei nicht nur bei einem rechtswidrigen Vollzug eines verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Enteignungsgesetzes ,44 sondern auch bei einem verfassungswidrigen Enteigungsgesetz in Betracht kommen, wobei allerdings die meisten Autoren eine Einschränkung dahin machen, daß den Anforderungen der Junktimklausel des Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG Genüge getan sein muß.45 Damit bleibt festzuhalten, daß in der neuen Literatur Einigkeit über den Fortbestand des Haftungsinstituts des enteignungsgleichen Eingriffs besteht Fast sämtliche Stimmen, die den Fortbestand des enteignungsgleichen Eingriffs leugnen, äußerten sich unmittelbar im Anschluß an die Naßauskiesungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts und standen unter dem Eindruck der zu diesem Zeitpunkt herrschenden allgemeinen Unsicherheit über die Struktur und Reichweite der grundgesetzlichen Eigentumsgarantie. Einigkeit besteht auch darüber, daß der für alle Grundrechte geltende allgemeine Rechtsgrundsatz über den Vorrang des Primärrechtsschutzes (Abwehr/ Anfechtung) gegenüber dem sekundären Rechtsschutz (Entschädigung/Schadensersatz) ein Wahlrecht des Betroffenen zwischen beiden Alternativen ausschließt, so daß ein Entschädigungsanspruch aus enteignungsgleichem Eingriff nur im Betracht kommt, wenn die gerichtliche Geltendmachung des Abwehranspruches dem Betroffenen nicht möglich oder nicht zumutbar war, oder wenn die dem Betroffenen entstandenen Nachteile auch im Wege des Primärrechtsschutzes nicht hätten abgewehrt werden können.46 Dies bedeutet, daß bei Realakten und bei AgrarR 84, S. 1 ff; Bender VB1BW 84, S. 226; Schwerdtfeger Jus 83, S. 109, 110; ders. (Eigentumsgarantie), S. 39; Bender BauR 83, S. 12; im Ergebnis auch Schoch Jura 89, S. 536. 44 Die dogmatische Begründung ist jeweils unterschiedlich: vgl. Maurer (Allg VwR) § 26 Rdnr. 74; Kreft (Gutachten für BMJ), S. 30; Bender BauR 83, S. 8; ders. VB1BW 84, S. 226 und Weyreuther (Situationsgebundenheit), S. 59 FN 151 wollen hierbei die für die rechtmäßige Enteignung vorgesehene Entschädigungsregelung des Enteignungsgesetzes entsprechend heranziehen. Papier Jus 85, S. 186; ders. Jus 89, S. 635; ders. NVwZ 83, S. 259; ders. (Eigentumsgarantie), S. 37 hält eine direkte Heranziehung der gesetzlichen Entschädigungsregelung für möglich. Schmitt-Kammler FS für Wolf, S. 612 ff, 613; Krohn W M 84, S. 827 f und Lege NJW 90, S. 871 ff wollen hier das Rechtsinstitut des enteignungsgleichen Eingriffs anwenden. 45 Papier N V w Z 83, S. 259; ders. Jus 89, S. 635; ders. Jus 85, S. 186; ders. in M/D/H/S GGKom. Art 14 Rdnr. 636 ff; ders. (Eigentumsgarantie), S. 40 ff; Schmitt-Kammler FS für Wolf, S. 603 i.V.m. S. 613 FN 67; Goppert, S. 104 ff; Krohn W M 84, S. 827; Menzel DRiZ 90, S. 378; Nüßgens/Boujong, Rdnr. 432; Bender BauR 83, S. 8 ff; Schoch Jura 89, S. 535; Scheuing FS für Bachof, S. 359 F N 65; dagegen wollen Maurer (Allg VwR) § 26 Rdnr. 74; ders FS für Dürig, S. 317; Kreft FS für Geiger, S. 414 ff; ders. (Gutachten), S. 31; Lege NJW 90, S. 872; Götz DVB1 84, S. 396 und Ipsen DVB1 83, S. 1033 ff auch bei einem verfassungswidrigen Enteignungsgesetz, das nicht den Anforderungen der Junktimklalusel genügt, eine Entschädigung aus enteignungsgleichem Eingriff zubilligen. Dagegen wollen Boujong UPR 84, S. 138 und wohl auch Knauber N V w Z 84, S. 756 und Bender VB1BW 84, S. 226 bei allen verfassungswidrigen Gesetzen eine Entschädigung aus enteignungsgleichem Eingriff ausschließen. 46 vgl. etwa Ossenbühl NJW 83, S. 4; Maurer (Allg. VerwR), § 26 Rdnr. 73; Scherzberg DVB191, S. 87, 90; Papier NVwZ 83, S. 260; Götz AgrarR 84, S. 2; Papier in M/D/H/S GG-Kom.

131

I. Die Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff

Rechtsakten, bei denen dem Betroffenen die Möglichkeit genommen ist, den Schaden durch Beschreitung des Verwaltungsrechtsweges abzuwenden (zum Beispiel bei Verzögerungsschäden), weiterhin eine Entschädigung aus enteignungsgleichem Eingriff in Betracht kommt.47 Zur Wahrung des Vorrangs des Primärrechtsschutzes werden unterschiedliche dogmatische Wege vorgeschlagen. Zum Teil wird eine analoge Heranziehung der Bestimmung des § 839 Abs. 3 BGB befürwortet, 48 überwiegend wird aber aus Gründen der flexiblen Handhabung der Rechtsgedanke des § 254 BGB herangezogen.49 Auch der Bundesgerichtshof hatte bereits längere Zeit vor Ergehen des Naßauskiesungsbeschlusses anerkannt, daß bei der Entschädigung für einen enteignungsgleichen Eingriff in analoger Anwendung des § 254 BGB ein Mitverschulden des Geschädigten zu berücksichtigen ist und gegebenenfalls auch zum Ausschluß der Entschädigung führen kann.50 Als Mitverschulden gilt hierbei auch das Versäumnis des Geschädigten, den Eintritt eines Schadens durch Einlegung eines Rechtsmittels abzuwenden.51 Teilweise wird in der Literatur auch damit argumentiert, eine Sonderbelastung, die mit den Mitteln des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes nicht abgewehrt werden könne, sei als Sonderopfer anzusehen, das unter dem Gesichtspunkt des enteignungsgleichen Eingriffs zu entschädigen sei.52 Als weitere Konsequenz des Naßauskiesungsbeschlusses ist das einhellige Bestreben der Literatur zu nennen, das Haftungsinstitut des enteignungsgleichen Eingriffs auf eine neue Rechtsgrundlage zu stützen, nachdem durch die Neubestimmung des Enteignungsbegriffs eine Anbindung an Art. 14 Abs. 3 GG nicht mehr möglich ist. Überwiegend wird hierbei in Anknüpfung an die Judikatur des Reichsgerichts53 der allgemeine Aufopferungsgedanke der §§ 74, 75 EinlALR 54 herangezogen.55 Nach einer in der neueren Literatur mehrfach Art 14 Rdnr. 641, 642 f; Ossenbühl (Entwicklungen), S. 23 f; Kreft Bender JZ86,S. 893. 47

FS für Geiger, S. 404 ff;

vgl. hierzu etwa Schach Jura 89, S. 536; Kreft (Gutachten), S. 23; Kosmider, S. 163.

48

Engelhardt NVwZ 85, S. 628; Ipsen DVB1 83, S. 1037; im Ergebnis auch Hendler DVB1 83, S. 882; Götz AgrarR 84, S. 2 f; vgl. auch Konow DÖV 66, S. 327 ff; Jaenicke W D S t R L 20, S. 157; Bender (Staatshaftungsrecht), Rdnr. 721. 49 Ossenbühl NJW 83, S. 4; Papier NVwZ 83, S. 260; ders. in M/D/H/S GG-Kom. Art 14 Rdnr. 640, 641; Ossenbühl (Entwicklungen), S. 23 f; Nüßgens/Boujong, Rdnr. 434 ff; Aust/Jacobs, S. 93 f; Maurer (Allg. VerwR), § 26 Rdnr. 75; Boujong UPR 84, S. 139; Bender BauR 83, S. 9; Kreft FS für Geiger, S. 406 f; Bender JZ 86, S. 893; Papier Jus 85, S. 139; Krohn/Löwisch, Rdnr. 234; Scherzberg DVB191, S. 90; Scheuing FS fur Bachof, S. 359 FN 65. 50

BGHZ 45, S. 290.294 ff; BGHZ 56, S. 57,64 ff; BGH DVB171, S. 457,458.

51

vgl. § 254 Abs. 2 BGB; RGZ 98, S. 345; BGH VersR 66, S. 340; vgl. auch § 839 Abs. 3 BGB, § 6 StHG. 52 WolfflBachof (Verwaltungsrecht Bd I), § 60 I C 2, S. 529 f; ähnlich auch Krumbiegel (Sonderopferbegriff), S. 124 ff m. w. N.; Battis (Erwerbsschutz), S. 66. 53 54

RGZ 140, S. 276 ff, 285.

§ 74 EinlALR lautet: "Einzelne Rechte und Vortheile der Mitglieder des Staates müssen den Rechten und Pflichten zur Befoerderung des gemeinschaftlichen Wohls, wenn zwischen beiden

132

3. Kapitel: Ricterrechtliche Staatshaftungsinstitute

vertretenen Auffassung kommt dagegen ein Rückgriff auf Art. 14 Abs. 1 GG in Betracht 56 Teilweise wird der enteignungsgleiche Eingriff auch als gewohnheitsrechtlich verfestigtes Haftungsinstitut des einfachen Rechts qualifiziert. 57 c) Die Reaktion der Rechtsprechung auf den Naßauskiesungsbeschluß Nach dem Ergehen des Naßauskiesungsbeschlusses breitete sich nicht nur in der Literatur, sondern auch bei den Landgerichten und Oberlandesgerichten eine große Unsicherheit über die Folgen des bundesverfassungsgerichtlichen Enteignungskonzeptes auf den Fortbestand des enteignungsgleichen Eingriffs aus. Zum Teil wurde für eine Weitergeltung dieses Haftungsinstituts plädiert,58 zum Teil wurde der Fortbestand des enteignungsgleichen Eingriffs verneint.59 Der Bundesgerichtshof beseitigte diese Unsicherheit, indem er in seiner Grundsatzentscheidung vom 26.1.84 ausführte, daß die Naßauskiesungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts nur die Enteignung im engeren Sinne betreffe und daher keinen Anlaß gebey das Rechtsinstitut des enteignungsgleichen Eingriffs aufzugeben, soweit es sich nicht um eine Enteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG handele.60 Auch der Bundesgerichtshof hält aber gewisse Modifizierungen des enteignungsgleichen Eingriffes für geboten. Dem Vorrang des Primärrechtsschutzes vor dem sekundären Rechtsschutz trägt er in Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung« durch eine entsprechende Anwendung des § 254 BGB Rechnung, wobei er allerdings die Mithaftung des Geschädigten verschärft, indem er ein wirklicher Widerspruch (Collision) eintritt, nachstehn." § 75 EinlALR lautet: "Dagegen ist der Staat demjenigen, welcher seine besonderen Rechte und Vortheile dem Wohl des gemeinsamen Wesens aufzuopfern genoethigt wird, zu entschaedigen gehalten". 55 Boujong UPR 84, S. 138; Kröner ZfBR 84, S. 22; Bull (Allg. VerwR), Rdnr. 1185; Prior BauR 87, S. 157; Scherzberg DVB1 91, S. 88; Knauber NVwZ 84, S. 756; Hendler DVB1 83, S. 880, 881; Bender BauR 83, S. 12; Kreft (Gutachten), S. 29 ff; KrohnJLöwisch, Rdnr. 235 b; Scheuing FS für Bachof, S. 359 Fn 65; Schenke NJW 91, S. 1788. 56 Goppert, S. 165 ff; Maurer (Allg. VerwR), § 26 Rdnr. 73; ders. FS für Dürig, S. 314 ff; für den enteignenden Eingriff. Schwerdtfeger Jus 83, S. 109, 110; Götz DVB1 84, S. 396; teilweise auch Kreft FS für Geiger, S. 413,414, 415 f. 57 Ossenbühl (Entwicklungen), S. 18 f; ders. FS für Geiger, S. 476; ders. Jus 88, S. 194; Ipsen DVB1 83, S. 1029, 1037; Rüfner in Erichsen/Martens (Allg. VerwR), § 52 I I I Rdnr. 53; Papier N V w Z 83, S. 258 f; ders. in WD/WS GG-Kom. Art 14 Rdnr. 632. 58 LG Mainz, Urteil vom 5.1.84 - AZ 1 Ο 252/83 nicht veröffentlicht; OLG Celle VersR 85, S. 992 ff, 994. 59 LG München I NVwZ 83, S. 635 ff, 636; LG Münster Urteil vom 8.11.82 - A Z 1 Ο 385/82 nicht veröffentlicht. 60 BGHZ 90, S. 17 ff, 30 ff = NJW 84, S. 1169 ff, 1171 = DVBl 84, S. 391 ff, 394, seither ständige Rechtsprechung, vgl. nur BGH VersR 84, S. 390 ff; BGH NJW 87, S. 1320 ff; BGH NJW 87, S. 1875 ff; BGHBayVBl 88, S. 761 ff = VersR 88, S. 1046 = i W 8 9 , S. 101 ff. 61

BGHZ 56, S. 57, 64 ff; BGHZ 45, S. 290, 294 ff; BGH DVBl 71, S. 457,458.

I. Die Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff

133

bei einem Mitverschulden des Betroffenen den Entschädigungsanspruch nicht nur anteilig mindert, sondern ganz entfallen läßt 62 Sofern es der Betroffene schuldhaft unterläßt, den Eingriff in sein Eigentum mit den ihm zu Gebote stehenden Rechtsmitteln abzuwehren, kann er für solche Nachteile, die er durch den Gebrauch eines Rechtsmittels hätte abwehren können, keine Entschädigung verlangen.63 Als weitere Konsequenz aus dem Naßauskiesungsbeschluß des Bundesverfassungsgerichts leitet der Bundesgerichtshof den enteignungsgleichen Eingriff nicht mehr aus Art. 14 Abs. 3 GG her, da einer solchen Ableitung durch das bundesverfassungsgerichtliche Enteignungskonzept die Grundlage entzogen ist Frühere Begründungsversuche dieser Art hat der Bundesgerichtshof nunmehr ausdrücklich aufgegeben und stützt die Haftungsfigur des enteignungsgleichen Eingriffs auf den allgemeinen Aufopferungsgedanken der § 7 75 EinlALR in seiner richterrechtlichen Ausprägung ,64 Der Aufopferungsgedanke der §§ 74, 75 EinlALR gilt nach Ansicht des Bundesgerichtshofes als Gewohnheitsrecht im gesamten Bundesgebiet weiter.65 Damit kehrt der Bundesgerichtshof zur Rechtsprechung des Reichsgerichts zurück, das schon immer den Aufopferungsgedanken bei der Entschädigung von rechtswidrigen Eigentumseingriffen heranzog.66 Ein Motiv hierfür liegt sicherlich auch in der Tatsache begründet, daß durch die Anknüpfung des enteignungsgleichen Eingriffs an den Aufopferungsgedanken die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte nach § 40 Abs. 2 VwGO erhalten bleibt.67 Mit dieser Neuanknüpfung verbindet der Bundesgerichtshof jedoch keine Modifizierung der an Art. 14 Abs. 3 GG angelehnten Tatbestandsmerkmale des enteignungsgleichen Eingriffs, so daß immer noch nicht von einer tatsächlichen Loslösung dieses Haftungsinstituts von Art 14 Abs. 3 GG gesprochen werden kann. Auch das Bundesverfassungsgericht selbst, das sich in seiner Naßauskiesungsentscheidung mit keinem Wort zu der Rechtsfigur des enteignungsgleichen Eingriffs geäußert hatte,68 gab in der Folgezeit zu erkennen, daß es ebenfalls von einer Weitergeltung dieses Instituts ausgeht, ohne sich hierbei allerdings weiter mit der dogmatischen Grundlage und dem Inhalt dieses Haftungsinstituts auseinanderzusetzen.69

62 BGHZ 90, S. 17, 31 ff; BGHZ 91, S. 20, 24 ff; BGH NVwZ 86, S. 76, 78; BGH NJW 90, S. 898, 899. 63

vgl. etwa BGHZ 90, S. 17, 31 ff = DVBl 84, S. 391, 394 = NJW 84, S. 1169 ff, 1171

64

vgl. etwa BGHZ 90, S. 17,31 ff = M / W 84, S. 1169,1171 =DVBl 85, S. 391, 394.

65 BGHZ 90, S. 17, 29 ff = DVBl 84, S. 391, 394 = NJW 84, S. 1169,1171; BGHZ 6, S. 270, 275 ff; vgl. hierzu auch Kreft in RGRK § 839 BGB Rdnr. 22. 66

&

vgl. etwa RGZ 140, S. 276 ff, 285. vgl. hierzu etwa BGHZ 90, S. 17, 31 = DVBl 84, S. 391, 394 = NJW 84, S. 1169,1171.

68

vgl. hierzu der Berichterstatter Böhmer in Beilage I zu AgrarR Heft 4/84, S. 34 f.

69

BVerfGE

61, S. 149,203; Nichtannahmebeschluß vom 25.11. 83 - AZ 1 BvR 1682/82.

134

3. Kapitel: Ricterrechtliche Staatshaftungsinstitute

d) Der Fortbestand und der Inhalt des enteignungsgleichen Eingriffs - eigene Stellungnahme Die Frage nach dem Fortbestand des enteignungsgleichen Eingriffs läßt sich nur anhand einer Auseinandersetzung mit der Rechtsnatur dieses Haftungsinstitutes beantworten, denn nur so kann geklärt werden, ob der enteignungsgleiche Eingriff auch nach Ergehen des Naßauskiesungsbschlusses noch seine Berechtigung besitzt.

aa) Rechtsnatur des enteignungsgleichen Eingriffs Wie bereits dargelegt, entwickelte der Bundesgerichtshofs diese Rechtsfigur in Anlehnung an Art. 14 Abs. 3 GG, um die Haftungslücke zu schließen, die das Amtshaftungsrecht bei rechtswidrig-schuldlosen Eingriffen hinterließ.70 Bereits diese Motivation zur Begründung einer neuen Haftungsfigur zeigt, daß der enteignungsgleiche Eingriff nicht als enteignungsrechtliches Haftungssystem konzipiert werden sollte, sondern als Institut partieller, unmittelbarer, verschuldensunabhängiger Staatshaftung.71 Diese Funktion des enteignungsgleichen Eingriffs wurde jedoch von vornherein dadurch verdeckt, daß der Bundesgerichtshof sich bei der Entwicklung dieser Rechtsfigur an seine Enteignungsrechtspiechung angelehnt hat. Die Ableitung des enteignungsgleichen Eingriffs aus Art. 14 Abs. 3 GG verflüchtigte sich in späteren Entscheidungen des Bundesgerichtshofs jedoch Zusehens. Zunächst verzichtete der Bundesgerichtshof auf eine eigenständige enteignungsrechtliche Sonderopferlage, die bisher als Parallele zur Enteignung gefordert worden war, und erbückte bereits in der Rechtswidrigkeit eines Eigentumseingriffs als solcher ein Sonderopfer. 72 Damit entwickelte sich die Rechtswidrigkeit des hoheitlichen Eingriffs zum anspruchsbegründenden Merkmal, 73 entschädigt wurde gerade wegen der Rechtswidrigkeit des Eingriffs. Der Bundesgerichtshof korrigierte hierdurch die vom ihm vorgenommene Einbettung in das Enteignungsrecht und verwandelte den enteignungs70

vgl. etwa BGHZ 6, S. 270 ff.

71

vgl. hierzu Papier Jus 89, S. 633 ff; ders. in M/D/H/S GG-Kom. Art 14 Rdnr. 597; Ossenbühl (Gutachten), S. 3 ff; ders. FS fur Geiger, S. 496; Schmitt-Kammler NJW 90, S. 2516, Götz AgrarR 84, S. \\lpsen DVBl 83, S. 1033. 72 73

erstmals BGHZ 32, S. 208,211 ff.

Papier N V w Z 83, S. 259; ders. Jus 89, S. 635; ders. im M/D/H/S GG-Kom. Art. 34 Rdnr. 41; Knauber NVwZ 84, S. 756; Schoch Jura 89, S. 530; Nüßgens/Boujong, Rdnr. 414; Bender (Staatshaftungsrecht), Rdnr. 96; Wagner NJW 67, S. 2334; Olivet 86, 432; a.A. Lerche Jus 61, S. 240, F N 24 m. w. Ν.; Kreft FS für Geiger, S. 410.

I. Die Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff

135

gleichen Eingriff entsprechend seiner ursprünglichen Motivation in eine partielle, primäre, verschuldensunabhängige Staatsunrechtshaftung für rechtswidrige Eigentumseingriffe. 74 Diese Entwicklung wurde noch dadurch verstärkt, daß der Bundesgerichtshof auf die ursprünglich geforderte Finalität des hoheitlichen Eingriffs verzichtete und stattdessen eine bloß unmittelbare Beeinträchtigung des Eigentums durch eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt genügen ließ.75 Damit lösten alle rechtswidrigen unmittelbaren Beeinträchtigungen einer von Art 14 Abs. 1 GG geschützten Rechtsposition, waren sie nun durch Realakte oder durch Rechtsakte erfolgt, eine Entschädigung aus enteignungsgleichem Eingriff aus. Hierdurch erweiterte sich der Anwendungsbereich dieses Haftungsinstituts beträchtlich. Der Bundesgerichtshof bezweckte mit dieser Ausgestaltung des enteignungsgleichen Eingriffs eine möglichst lückenlose Gewährleistung des Eigentumsschutzes im Bereich des sekundären Rechtsschutzes gegenüber den immer zahlreicher und intensiver werdenden hoheitlichen Eingriffen. 76 Trotz dieser Funktion und der entsprechenden Ausgestaltung des enteignungsgleichen Eingriffs hat sich der Bundesgerichtshof aber bisher nicht dazu bekannt, daß das von ihm geschaffene Haftungsinstitut einen Fall originärer verschuldensunabhängiger Staatsunrechtshaftung für rechtswidrige Eigentumsverletzungen darstellt.77 Bis zum Erlaß des Naßauskiesungsbeschlusses begriff der Bundesgerichtshof den enteignungsgleichen Eingriff als Unterfall des vom ihm geprägten allgemeinen Enteignungstatbestandes78 und hielt dementsprechend an der Anlehnung an Art. 14 Abs. 3 GG fest. 79 Nach Erlaß der Naßauskiesungsentscheidung räumte der Bundesgerichtshof zwar ein, daß der enteignungsgleiche Eingriff nichts mit einer Enteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG gemein hat, zog aber den allgemeinen Aufopferungsgedanken der §§ 74, 75 EinlALR in seinerrichterrechtlichen Ausprägung als Grundlage heran80 und leugnete hierdurch den Rechtscharakter des enteignungsgleichen Eingriffs als partielle Staatsunrechtshaftung. Der Bundesgerichtshof bewegt sich hier in alten Bahnen, da er die Enteignung von Anfang an als Unterfall der allgemeinen 74 vgl. hierzu Schock Jura 89, S. 530; Papier Jus 89, S. 635; ders. NVwZ 83, S. 259; ders. in M/D/H/S GG-Kom. Art 34 GG Rdnr. 41; Nüßgens/Boujong, Rdnr. 431, 414; Knauher NVwZ 84, S. 756; Ipsen DVBl 83, S. 1033; Götz DVBl 84, S. 395; Scheuing FS fur Bachof, S. 359; SchmidtAssmann DVBl 87, S. 216, 218; Schenke NJW 88, S. 857, 861; Maurer Die Verwaltung 83, S. 47; Osterloh DVBl 91, S. 908; Olivet NVwZ 86, S. 432; Kommissionentwurf, S. 38 ff; Referentenentwürfe S. 55; a. A. Kreft in FS für Geiger, S. 410. 75 BGHZ 37, S. 44, 47; BGH NJW 64, S. 104; BGH DVBl 65, S. 83; BGHZ 55, S. 229, 231 ; BGHZ 56,40,42; vgl. hierzu auch Wagner NJW 66, 569 ff. 76

vgl. hierzu auch Kreft

77

vgl. hierz Kreft FS für Geiger, S. 410.

78

vgl. hierzu auch Kreft.

(Aufopferung und Enteignung), S. 15.

79

vgl. hierzu die Ausführungen in BGHZ 90, S. 17, 30, 31 ff = DVBl 84, S. 391, 394 ; NJW 84, S. 1169,1171. 80

BGHZ 90,17,20,31 ff = DVB/84, 391, 394 = NJW 84, S. 1169,1171.

136

3. Kapitel: Ricterrechtliche Staatshaftungsinstitute

Aufopferung begriff* 1 und nun, da ihm durch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts der Weg zu Art 14 Abs. 3 GG verschlossen ist, direkt auf die Aufopferung zurückgreift Außerdem zog der Bundesgerichtshof aus der Abkehrung von Art. 14 Abs. 3 GG keine Konsequenzen, denn er hält nach wie vor an den am Enteignungstatbestand orierüerten Tatbestandsmerkmalen (Sonderopfer/Allgemeinwohl) fest Die Ansicht des Bundesgerichtshofes und des ihm folgenden Schrifttums, der enteignungsgleiche Eingriff stelle einen Sondertatbestand des allgemeinen Aufopferungstatbestandes dar, steht und fällt jedoch mit der Tatsache, daß die Rechtswidrigkeit seit BGHZ 32, S. 208 ff zum anspiuchsbegründenden Merkmal erhoben wurde und damit nicht mehr nur als bloßes Unterscheidungsmerkmal zum ansonsten inhaltsgleichen Enteignungstatbestand im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs fungierte. Dies wird in der genannten Entscheidung besonders deutlich, da der Gerichtshof hier nicht mehr auf die Parallele zur Enteignung abstellt, sondern die Verletzung des Schutzbereichs des Art 14 Abs. 1 GG für maßgebend erachtet.82 Als Haftung für rechtswidrige Eigentumseingriffe kann der enteignungsgleiche Eingriff aber nicht auf den allgemeinen Aufopferungsgedanken der § 74, 75 EinlALR gestützt werden, denn dieser setzt genauso wie die in Art. 14 Abs. 3 GG geregelte Enteignung ein rechtmäßiges Verhalten der hoheitlichen Gewalt voraus ,83 Da die Enteignung, wie der Gerichtshof selbst einräumt, einen Unterfall der allgemeinen Aufofperang darstellt, müssen die VOTI Bundesverfassungsgericht im Naßauskiesungsbeschluß aufgestellten Grundsätze auch für den Aufopferungsanspruch gelten. Da in beiden Fällen prägendes Tatbestandsmerkmal ein rechtmäßig abverlangtes Sonderopfer ist, läßt sich weder das Institut der Enteignung noch das Institut der Aufopferung auf Fälle erstrecken, in denen ein rechtswidriges Verhalten des Staates vorliegt. 84 Der Bundesgerichtshof wird daher nicht an der Erkenntnis vorbeikommen, daß die Anlehnung des enteignungsgleichen Eingriffs an den allgemeinen Aufopferungsgedanken denselben dogmatischen Bedenken unterliegt wie die ursprüngliche Anknüpfung an Art. 14 Abs. 3 GG, und wird sich dazu bekennen müssen, daß das vom ihm geschaffene Haftungsinstitut eine primäre, verschuldensunabhängige Staatsunrechtshaftung darstellt.

81

vgl. etwa BGHZ 13, S. 88, 91,94; vgl. hierzu auch Kimminich Jus 69, S. 350.

82

BGHZ 32, S. 208,210; dies verkennt Kreft in FS für Geiger, S. 410.

83 so auch Ipsen DVBl 83, S. 1034; Schmitt-Kammler FS für Wolf, S. 609; Schoch Jura 89, S. 536; Goppert, S. 144; Maurer (Allg. VerwR) § 27 Rdnr, 3; Kimminich Jus 69, S. 350, Schernberg DVBl 91, S. 89; Schullan BayVBl 90, S. 364. 84 so zutreffend Ipsen DVBl 84, S. 1934; ähnlich Schmitt-Kammler Scherzberg DVBl 91, S. 89; Schullan BayVBl 90, S. 369.

FS für Wolf, S. 609;

I. Die Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff

137

Den Weg hierzu weist ihm neben der Lehre auch die aus Kompetenzgründen gescheiterte Staatshaftungsreform. 85 Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, daß der enteignungsgleiche Eingriff ein Institut der Staatsunrechtshaftung ist und mit der Enteignung nichts gemein hat Die beiden Entschädigungstatbestände überschneiden sich zu keinem Zeitpunkt, da die Enteignung ein rechtmäßiges Verhalten voraussetzt, während der enteignungsgleiche Eingriff erst bei einem rechtswidrigen Verhalten eingreift 86 Da Art 14 Abs. 3 GG bei rechtswidrigen Maßnahmen, die im übrigen in tatbestandsmäßiger Hinsicht die Voraussetzungen einer Enteignung erfüllen, nicht eingreift, findet der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit keine Anwendung, so daß es auch nicht zur Umgehung der Junktimklausel führen kann, wenn man in diesen Fällen einerichterrechtliche Entschädigung zuspricht.87 Es bestehen daher keinerlei Bedenken, die Rechtsfigur des enteignungsgleichen Eingriffs im vollen Umfang, d. h. auch in den Fällen, in denen von der Rechtmäßigkeit abgesehen begrifflich eine Enteignung im Sinne der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts vorliegt, weiterbestehen zu lassen.88 Zudem erfüllt die Entschädigung aus enteignungsgleichem Eingriff als Staatsunrechtshaftung eine ähnliche Funktion wie die verschuldensabhängige Amtshaftung und muß daher eine vergleichbare Reichweite besitzen. Da rechtswidrige Enteignungen als legislatives Unrecht durchaus einen Amtshaftungsanspruch auslösen können,89 muß gleiches für eine Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff gelten. Einer Einschränkung unterliegt die Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff jedoch. Der Betroffene muß entsprechend dem allgemeinen Vorrang des Primärrechtsschutzes vor dem Sekundärrechtsschutz den Verwaltungsrechtsweg beschreiten, um die rechtswidrige Maßnahme anzufechten, bevor er einen Entschädigungsanspruch geltend machen kann. Tut er dies nicht, so ist ihm diese Unterlassung nach der allgemeinen Regel des § 254 BGB, die auch im öffentlichen Recht Anwendung findet, als Mitverschulden anzurechnen,90 wobei 85 Der enteignungsgleiche Eingriff wurde hier in die Haftungstatbestände der §§ 1 und 2 Abs. 2 StHG aufgenommen. Vgl. hierzu die Begründung zum Regierungsentwurf des StHG, BRatDruckS 215/78, S. 25, 26; Referentenentwürfe, S. 66; Kommissionentwurf.\ Allgemeine Begründung, S. 38 ff. 86 vgl. hierzu auch Ipsen DVBl 83, S. 1034: Ein rechtswidriger Eingriff kann keine Enteignung sein. 87 Dies verkennen Papier NVwZ 83, S. 259; ders. Jura 89, S. 635; ders. M/D/H/S Art 14 Rdnr. 637; Schmitt-Kammler FS Wolf, S. 603 ff, S. 613 ff FN 67; Scheuing FS Bachof, S. 359 FN 65; Boujong UPR 84, S. 138; Nüßgens/Boujong, Rdnr. 432; Menzel DRiZ 90, S. 378, Krohn W M 84, S. 827; Bender VB1BW 84, S. 226 f; Schwerdtfeger Jus 83, S. 110; ders. (Eigentumsgarantie), S. 38; Knauher NVwZ 84, S. 756; Schach Jura 89, S. 535, die den enteignungsgleichen Eingriff in den Fällen, in denen ein wegen Verstoßes gegen die Junktimklausel verfassungswidriges Gesetz vorliegt, nicht anwenden wollen. 88

vgl. hierzu Maurer FS für Dürig, S. 317.

89

vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 2.

90

BGHZ 56, S. 57 ff; BGH NJW 65, S. 962 ff.

138

3. Kapitel : Ricfaterrechtliche Staatshaftungsinstitute

je nach Ausmaß des Mitverschuldens eine Minderung oder ein gänzlicher Ausschluß des Entschädigungsanspruches eintritt. bb) Rechtsgrundlage, Tatbestand und Rechtsfolge der Staatshaftung aus enteignungsgleichem Eingriff Es hat sich gezeigt, daß der enteignungsgleiche Eingriff als Institut der Staatsunrechtshaftung fortbesteht und daher nicht auf den von der hM herangezogenen Aufopferungsgedanken gestützt werden kann. Daher ist im folgenden zu klären, auf welche Rechtsgrundlage dieses Haftungsinstituts zurückgeführt werden kann und inwieweit der Rechtscharakter als Staatsunrechtshaftung Einfluß auf die einzelnen Tatbestandsmeikmale ausübt Die Beantwortung dieser Fragen liefert zugleich entscheidende Hinweise darauf, ob die Haftung für legislatives Unrecht im Hinblick auf die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen auf die Haftungsfigur des enteignungsgleichen Eingriff gestützt werden kann. (1) Grundrechte als Rechtsgrundlage der Staatsunrechtshaftung Begreift man den enteignungsgleichen Eingriff als eigenständiges richterrechtliches Institut der Staatsunrechtshaftung, dann steht eigentlich nichts im Wege, als Rechtsgrundlage die von dem Grundgesetz verbürgten Grundrechte heranziehen. Es ist allgemein anerkannt, daß bei der Verletzung eines Grundrechts den Betroffenen Abwehransprüche in Form von Unterlassungs- und Beseitigungsansprüchen gewährt werden.91 Daneben entspringt den Grundrechten, gleichsam als zweite Säule neben den Abwehransprüchen, ein Anspruch auf Folgenbeseitigung,92 falls eine Abwehr der Grundrechtsverletzung nicht möglich ist. Dieses grundrechtliche Rechtsschutzsysstem ist nun auf der dritten Stufe durch eine Staatsunrechtshaftung zu ergänzen, die dem Betroffenen einen Ausgleich für diejenigen Schäden gewährt, die weder auf dem Wege des Primärrechtsschutzes abgewehrt noch durch die Gewährung eines Folgenbeseiti-

91 vgl. Maurer FS für Dürig, S. 315; Ossenbühl (Staatshaftung), S. 346; Laubinger VerwArch 80 (1989), S. 261 ff; Papier in Müko § 839 BGB Rdnr. 78; Reddeer DÖV 87, S. 194, 196 f; Schoch VerwArch 79, S. 34 ff, 46, 47. 92 nach h M hat der Folgenbeseitigung entweder in Grundrechten - so etwa Maurer FS für Dürig, S. 315; Weyreuther (Gutachten zum 47. Deutschen Juristentag), S. 90 ff; Papier in Müko S 839 BGB Rdnr. 78; ders. in M/D/H/S Art 34 GG Rdnr. 58; Bender VB1BW 85, S. 201, 202; Redeker DÖV 87, S. 194; Schoch VerwArch 79, S. 34 ff; BVerwG DÖV 71, S. 857,858 - oder im Rechtsstaatsprinzip, das hauptsächlich durch die Grundrechte geprägt wird - so etwa Wallerath DÖV 87, S. 511 ff; Fiedler NVwZ 86, S. 969 f, 970; BVerwGE 69, S. 366,370.

139

I. Die Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff

gungsanspruches rückgängig gemacht werden konnten.93 Erst dann gewährleistet der status negativus der Grundrechte einen lückenlosen und effektiven Rechtsschutz. Eine Beschränkung der Staatsunrechtshaftung auf das Grundrecht des Art. 14 GG ist nicht sachgerecht. Die Beschränkung des enteignungsgleichen Eingriffs auf das Eigentum im Sinne des Art 14 Abs. 1 GG rührt von der ursprünglichen Anlehnung dieses Haftungsinstituts an Art 14 Abs. 3 GG her. Begreift man diese Rechtsfigur aber als Staatsunrechtshaftung, dann ist eine Beschränkung auf rechtswidrige Eingriffe in das Eigentum nicht mehr zulässig, denn nur die Enteignung ist per definitionem auf die durch Art. 14 GG geschützten Rechtsgüter beschränkt, nicht dagegen die Haftung für Staatsunrecht. 9* Dies folgt auch daraus, daß sich aus dem Grundgesetz keine abstrakten Rangunterschiede der in den Grundrechten verbürgten Werte entnehmen lassen, weil die Grundrechte grundsätzlich den gleichen Rang einnehmen.95 Dem Grundrecht aus Art. 14 GG kommt im Bereich der Staatsunrechtshaftung deshalb kein besonderer Rang zu, der es rechtfertigen würde, die Haftung ausschließlich auf die Verletzung von Eigentumspositionen zu beschränken. Hinzu kommt, daß auch beim primären Rechtsschutz und beim Folgenbeseitigungsanspruch nicht zwischen den einzelnen Grundrechten differenziert wird. (2) Der Tatbestand der grundrechtlichen Staatsunrechtshaftung Da die Grundrechte zu allgemein geschaffen sind, um direkt aus ihnen die tatbestandlichen Ausgestaltungen einer Staatsunrechtshaftung entnehmen zu können, bleibt die Herausarbeitung der tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsprechung und Lehre im Wege der Dezision auf der Ebene des einfachen Rechts überlassen. 96 Diesen Weg schlug bereits das Bundesverwaltungsgericht

93

vgl. hierzu Maurer FS für Dürig, S. 314; vgl. auch Steinberg/Lubberger,

S. 340 ff.

94

Eine Ausdehnung der Staatsunrechtshaftung aus enteignungsgleichem Eingriff auf rechtswidrige Eingriffe in andere Grundrechte befürworten in unterschiedliche Reichweite: Ossenbühl FS für Geiger, S. 496; ders. (Gutachten), S. 363 ff; ders. (Entwicklungen), S. 21 f; Herdegen, S. 71; Maurer (Allg VwR) § 26 Rdnr. 76; Schach Jura 89, S. 534; Schmitt-Kammler FS für Wolf, S. 610; Papier in M/D/WS GG-Kom. Art. 34 Rdnr. 42; Engelhardt NVwZ 85, S. 628; Trimbach, S. 93 ff; Schmitt-Kammler NJW 90, S. 2158 FN 23; Steinberg/Lubberger, S. 352; BVerfG Nichtannahmebeschluß vom 13.11.87- A z i BvR 739/87; aber auch wenn man mit dem BGH davon ausgeht, daß der Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff eine Ausprägung des Aufopferungsgedanken darstellt, kommt man zu einer Ausdehnung dieser Rechtsfigur auf andere Grundrechte : vgl. Schoch Jura 89, S. 534; Schenke NJW 91, S. 1780 f; Scheuing FS für Bachof, S. 362; Mayer/Kopp (Allg. VerwR), § 54 I I I 2 b; Maurer JZ 91, S. 39; einschränkend Goppert, S. 214 ff. 95 Hermes (Grundrecht auf Schutz), S. 253; Murswiek (Risiken der Technik), S. 167ff; Witte (Staatshaftung), S. 59 m. w. N. ; Lücke AöR 104, S. 240. 96

vgl. auch Maurer FS für Dürig, S. 315.

140

3. Kapitel: Ricterrechtliche Staatshaftungsinstitute

bei den grundrechtlichen Abwehransprüchen und dem Folgenbeseitigungsanspruch ein.97 Einige generelle Aussagen über die Ausgestaltung der grundrechtlichen Staatsunrechtshaftung können hier jedoch ohne weiteres getroffen werden. So ist es offensichtlich, daß alle Tatbestandsmerkmale des enteignungsgleichen Eingriffs, die noch von dessen Anlehnung an Art. 14 Abs. 3 GG herrühren y aufgegeben werden müssen. Dies betrifft zunächst das vom Bundesgerichtshof dem Art 14 Abs. 3 GG entnommene Tatbestandsmerkmal des "durch das Allgemeinwohl motivierten" Eingriffs. Das dem Enteignungsbegriff inhärente Merkmal der Gemeinwohlbezogenheit kann im Tatbestand einer Staatsunrechtshaftung keinen Platz beanspruchen.98 Auch das Tatbestandsmerkmal des Sonderopfers entspringt einer Anlehnung an Art. 14 Abs. 3 GG und erweist sich in einer Staatsunrechtshaftung als fehl am Platze,99 zumal dieses Merkmal vom Bundesgerichtshof selbst schon bald durch die Rechtswidrigkeit des hoheitlichen Eingriffs ersetzt wurde. 100 Die Aufgabe des Sonderopfers als Tatbestandsvoraussetzung ist auch im Hinblick auf die grundrechtlichen Abwehr und Beseitigungsansprüche erforderlich, denn weder die grundrechtlichen Abwehransprüche noch der Folgenbeseitigungsanspruch setzen neben der Rechtswidrigkeit der Grundrechtsbeeinträchtigung noch ein wie auch immer geartetes Sonderopfer voraus.101 Desweiteren bedarf auch der Begriff des "Eingriffs" gewisser Modifikationen. Infolge der engen Anlehnung an die Enteignung stellte der Bundesgerichtshof sich auf den Standpunkt, daß ein Eingriff positives Handeln voraussetze und demzufolge ein Unterlassen oder Untätigbleiben der öffentlichen Gewalt nicht die Voraussetzungen eines Eingriffs erfüllen könne.102 Diese Linie hielt der Bundesgerichtshof jedoch nicht strikt ein, sondern Heß neben einem positiven Tun auch ein sogenanntes "qualifiziertes Unterlassen", das sich seiner Wirkung nach "wie ein in den Rechtskreis des Betroffenen eingreifendes Recht qualifizieren läßt", als Eingriff genügen.103 Folglich lehnte der Bundesgerichtshof im Rahmen des Enteignungsrechts die in der Rechtslehre und 97

vgl. hierzu Ossenbühl (Staatshaftungsrecht), S. 253 ff.

98

Ossenbühl Jus 88, S. 194; ders. (Staatshaftungsrecht), S. 216 ff; ders. FS für Geiger, S. 496; ders (Entwicklungen), S. 22; Schoch Jura 89, S. 534; vgl. auch Goppert, S. 69 ff; Konow (Eigentumsschutz), S. 68; Mayer/Kopp, § 52 Π Ι 2 f, S. 467 f. 99 vgl. hierzu Schnütt-Kammler NJW 90, S. 2518 f; Schenke NJW 88, S. 861; Scheuing FS für Bachof, S. 360; a. A. für den Fall normativen und legislativen Unrechts Ossenbühl JZ 87, S. 1027; ders. (Staatshaftungsrecht), S. 215 f; ders. FS für Geiger, S. 491 f. 100

BGHZ 32, S. 208,210,211 ff.

101

vgl. hierzu Ossenbühl (Staatshaftungsrecht), S. 246.

102 BGHZ 12, S. 52, 56; BGHZ 15, S. 84, 86; BGHZ 32, S. 208, 211; BGH DVBl 69, S. 209; BGHZ 102, S. 350,364. 103 BGHZ 32, S. 2208, 211; BGHZ 56, S. 40, 42; BGH DVBl 69, S. 209; BGH NJW 71, S. 1171,1173; BGHZ 102, S. 350,364.

I. Die Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff

141

Rechtsprechung ansonsten anerkannte Gleichwertigkeit von positivem Tun und Unterlassen beim Bestehen einer Rechtspflicht zum Handeln ab. Bei einer von Art 14 Abs. 3 GG losgelösten Staatshaftung kann die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Unterscheidung zwischen entschädigungsrelevantem "qualifizierten Unterlassen11 und "schlichtem Unterlassen" keinen Bestand mehr haben, denn mit der Ablösung des enteignungsgleichen Eingriffs von Art. 14 Abs. 3 GG ist auch jede Berechtigung zur Anlehnung an den Enteignungsbegriff entfallen. Im Bereich einer grundrechtlichen Staatsunrechtshaftung muß es wie bei der Amtshaftung genügen, daß der Grundrechtseingriff durch ein Unterlassen trotz Bestehens einer Rechtspflicht zum Handeln erfolgt. 104 Daneben muß gefragt werden, ob die vom Bundesgerichtshof verlangte Unmittelbarkeit der Eigentumsverletzung nicht durch ein anderes Zurechnungskriterium ersetzt werden sollte. In seinen neueren Entscheidungen brachte der Bundesgerichtshof zum Ausdruck, daß er die Unmittelbarkeit als wertendes Zurechnungskriterium im Sinne der Adäquanztheorie begreift. Er stellte hier darauf ab, ob die schädigenden Auswirkungen auf eine typische Eigenart der vorgenommenen hoheitlichen Maßnahme zurückzuführen sind und nicht durch ein ganz außerhalb der hoheitlichen Maßnahme liegendes selbständiges Ereignis ausgelöst wurden.105 Da somit bereits eine Hinwendung zu der zivilrechtlichen Kausalitäts- und Zurechnungslehre erfolgt ist, sollte, um eine bessere Konturierung der Haftungszurechnung zu gewährleisten, der Begriff der Unmittelbarkeit ganz aufgegeben werden und stattdessen auf die Kausalität im Sinne der Adäquanztheorie zurückgegriffen werden.106 Eine auf die Grundrechte gestützte Staatsunrechtshaftung setzt demnach die Beeinträchtigung eines grundrechtlich geschützten Rechtsgutes durch eine rechtswidrige hoheitliche Maßnahme, die einen adäquaten Schaden verursacht, voraus. Die rechtswidrige hoheitliche Maßnahme kann auch in einem Unterlassen trotz Bestehens einer Rechtspflicht zum Handeln bestehen. Der Anspruch setzt daneben entsprechend dem allgemeinen Grundsatz des Vorranges des Primärrechtsschutzes voraus, daß der eingetretene Schaden nicht durch die Einlegung zumutbarer Rechtsmittel verhindert werden konnte. Der Begriff des enteignungsgleichen Eingriffs paßt zu einer solchen Staatshaftung nicht mehr, sondern sollte durch den Begriff "Haftungßr Grundrechtsverletzungen" ersetzt werden. 104 vgl. hierzu Schach Jura 89, S. 534; Ossenbühl (Staatshaftungsrecht), S. 213; ders. (Entwicklungen), S. 22; ders. FS für Geiger, S. 496 ff; Papier in M/D/H/S GG-Kom Art. 34 Rdnr. 43; Bender (Staatshaftungsrecht), Rdnr. 109; Luhmann (Entschädigung), S. 112 ff; Engelhardt N V w Z 85, S. 620; Stuth (Staatshaftung), S. 171; Steinberg/Lubberger, S. 358, 374; Trimbach, S. 86 ff; Schenke NJW 91, S. 1788. 105 vgl. hierzu BGH NJW 80, S. 770; BGHZ 92, S. 34, 41 f; BGH NJW 88, S. 478, 479 = BGHZ 101, S. 350,358. 106

vgl. auch Steinberg/Lubberger,

S. 374.

142

3. Kapitel: Ricterrechtliche Staatshaftungsinstitute

(3) Rechtsfolgen einer grundrechtlichen Staatsunrechtshaftung Bei einer auf die Grundrechte gestützten Staatsunrechtshaftung ist es nicht gerechtfertigt, auf der Rechtsfolgenseite lediglich eine "Entschädigung zu leisten, die hinter dem vollen Schadensersatz nach §§ 249 ff BGB zurückbleibt 107 Das materielle Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes legt dem Staat die Verpflichtung auf, im Falle einer rechtswidrigen Schädigung seiner Bürger, die auf dem Wege des Primärrechtsschutzes nicht abgewehrt werden kann, den rechtmäßigen Zustand wiederherzustellen oder, falls eine solche Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes nicht mehr möglich ist, den angerichteten Schaden wiedergutzumachen.108 Die zu zahlende "Entschädigung" muß daher so gestaltet sein, daß sämtliche Schäden des Betroffenen soweit wie möglich ausgeglichen werden. Die "Entschädigung" für Staatsunrecht darf daher nicht auf einen billigen Ausgleich beschränkt werden, sondern erfordert vollen Schadensersatz.109 Der Bundesgerichtshof hat bereits einige Schritte in diese Richtung getan, indem er den sogenannten merkantilen Minderwert und die Folgeschäden, die nicht Teil des Substanzverlustes sind, als ersatzfähige Entschädigungsposten anerkannt hat.110 Schließlich bedarf auch die Person des zum Schadensersatz Verpflichteten einer genaueren Betrachtung. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum enteignungsgleichen Eingriff soll derjenige Träger öffentlicher Gewalt entschädigungspflichtig sein, dessen Aufgaben erledigt worden sind.111 Diese Bestimmung des Anspruchsgegners rührt noch von der Anlehnung des enteignungsgleichen Eingriffs an die Enteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG her, 112 so daß mit der Abkoppelung des enteignungsgleichen Eingriffs von Art. 14 Abs. 3 GG eine Neubestimmung des Anspruchsgegners notwendig wird. Da es bei einer Staatsunrechtshaftung nicht um einen Lastenausgleich für ein zum Wohle der Allgemeinheit abverlangtes Sonderopfer geht, sondern um die Wiedergutmachung rechtswidriger Maßnahmen, ist deijenige Träger öf-

107 so Schach Jura 89, S. 534; Ipsen DVBl 83, S. 1037; Kreft FS für Geiger, S. 410; SchmittKammler FS für Wolf, S. 611, 615; Ossenbühl FS für Geiger, S. 497; ders. (Gutachten), S. 111 f; Steinberg/Lubberger, S. 371;: Trimbach, S. 116; einschränkend Ossenbühl (Entwicklungen), S. 20,

21.

108 vgl. etwa Vogel (Rechtsstaatsidee), S. 22, 23; von Arnim (Haftung), S. 67; Heidenhain (Amtshaftung), S. 74; Goppert, S. 128, 129; Lücke AöR 104, S. 229, 230, 242; SclUtfer/Bonk StHG, § 1 Rdnr, 110; Maunz/Zippelius (Staatsrecht), S. 85. 109 zum Unterschied zwischen Entschädigung und Schadensersatz: Ossenbühl (Gutachten), S. 326 ff; Maurer (Allg. VerwR) § 26 Rdnr. 82 ff; Ossenbühl (Staatshaftungsrecht), S. 220 ff. 110 Folgeschäden: BGH W M 64, S. 968 ff; BGH NJW 66, S. 493 ff; BGHZ 55, S. 294 ff; Merkantiler Minderwert: BGH NJW 81, S. 1663. 111 BGHZ 40, S. 49, 52; BGHZ 60, S. 126, 143 f; Papier Jura 81, S. 65, 78; Maurer (Allg. VwR) § 26 Rdnr. 90; Schock Jura 89, S. 534. 112

vgl. hierzu Schock Jura 89, S. 534; Maurer (Allg. VerwR) § 26 Rdnr. 90.

I. Die Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff

143

fentlicher Gewalt, der die rechtswidrige Maßnahme getätigt hat, als Haftungssubjekt heranzuziehen.113 Die Zuständigkeit für die richterrechtlich zu entwickelnde Staatsuniechtshaftung sollte weiterhin bei den Zivilgerichten verbleiben, da der enteignungsgleiche Eingriff, der den Ausgangspunkt für eine grundrechtliche Haftung für Staatsunrecht darstellt, eine Schöpfung des Bundesgerichtshofs ist, und die Zivilgerichte zudem für den Amtshaftungsanspruch nach Art 34 GG i. V. m. § 839 BGB zuständig sind. Zur Begründung einer solchen Zuständigkeit könnte Art 34 Satz 3 GG in entsprechender Anwendung herangezogen werden.114 (4) Rechtsfortbildungskompetenz der höheren Gerichte Zu prüfen bleibt nun noch, ob die vorgezeichnete Weiterentwicklung des enteignungsgleichen Eingriffs zu einer Haftung für Grundrechtsverletzungen einer gesetzlichen Grundlage bedarf, oder ob sie mangels gesetzlicher Grundlage und angesichts des Zögerns des Gesetzgebers vor der Einleitung einer neuen Staatshaftungsreform nicht auch durch die höchstrichterliche Rechtsprechung eingeführt werden kann. Grundsätzlich steht der im Rechtsstaatsprinzip verankerte Grundsatz der Gewaltenteilung mit der dadurch verbundenen wechselseitigen Kontrolle der Staatsgewalten einer ersatzweisen Ausfüllung der Rechtssetzungsaufgaben durch die Judikative entgegen. Dies gilt jedoch nicht uneingeschänkt. Die Rechtsprechung ist nämlich legitimiert, geltendes Recht so auszulegen, wie es einem rechtsstaatlichen Verfassungsverständnis spricht^ 5 Der Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit, der Ausfluß des von den Grundrechten geprägten materiellen Rechtsstaatsprinzips ist, fordert bei rechtswidrigen Schädigungen der Staatsbürger eine lückenlose Wiedergutmachung. Im Hinblick auf dieses rechtsstaatliche Postulat hat das Bundesverwaltungsgericht die grundrechtlichen Abwehransprüche bei rechtswidrigen Grundrechtsbeeinträchtigungen näher ausgestaltet und den Folgenbeseitigungsanspruch116 entwickelt Zur Gewährung eines lückenlosen Rechtsschutzes ist aber noch die Konzipierung einer unmittelbaren, verschuldensunabhängigen Haftung für rechtswidrige Grundrechtsverletzungen erforderlich. Den ersten Schritt in diese Richtung hat der Bundesgerichtshof mit der Schaffung des enteignungsgleichen Eingriffs getan. Diese Entwicklung gilt es nun im Hinblick 113 vgl. etwa Schoch Jura 89, S. 534; Maurer (Allg. VerwR) § 26 Rdnr. 90; Engelhardt N V w Z 85, S. 621, 628; Steinberg! Lubberger, S. 373; de lege ferenda auch Papier in M/D/H/S Art 14 Rdnr. 624. 114

Steinberg/Lubberger,

115

vgl. hierzu Witte (Staatshaftung), S. 178; von Arnim, S. 76 f.

116

vgl. hierzu Kapitel 4.

S. 374 wollen Art. 34 Satz 3 GG direkt anwenden.

ent-

3. Kapitel: Ricfaterrechtliche Staatshaftungsinstitute

144

auf die grundrechtlichen Gewährleistungen des modernen Rechtsstaates weiterzufuhren. Eine gewisse Stütze für eine solche Weiterentwicklung findet sich in 137 GVGy der vorsieht, daß der Bundesgerichtshof eine Entscheidung des Großen Senats herbeiführen kann, wenn die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung dies erfordert. Das Bundesverfassungsgericht hat die Kompetenz der höheren Gerichte zur Rechtsfortbildung näher konkretisiert und ausgeführt, daß es in der Natur der Tätigkeit der höheren Gerichte liege, daß sie bei der Entscheidung der ihnen unterbreiteten Einzelfälle das Prinzipielle hervoihöben und zur Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze zu gelangen suchten, an die sich die unteren Gerichte bei der Behandlung gleichartiger Fälle halten könnten. Die höheren Gerichte üben bei dieser Rechtsgestaltung nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts keine Gesetzgebung aus, sondern erfüllen eine legitime richterliche Aufgabe. 117 Die höchstrichterliche Befugnis zur Rechtsfortbildung beschränkt sich jedoch nicht nur darauf, im Rahmen von gesetzgeberischen Entscheidungen allgemeine Rechtsgrundsätze zu entwickeln. Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr betont, daß die richterliche Tätigkeit "nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers" besteht, sondern es auch Aufgabe der Rechtsprechung ist, " Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Ordnung immanent sind, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des wertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren" (schöpferische Rechtsfortsbildung).118 Der Richter muß hierbei allerdings einsichtig machen können, "daß das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt". 119 Die vom geschriebenen Gesetz hinterlassene rechtliche Lücke ist durch dierichterliche Entscheidung "nach Maßstäben der praktischen Vernunft und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft" zu schließen.120 Dabei vergrößert sich die richterliche Freiheit zur Rechtsfortbildung mit zunehmendem zeitlichen Abstand zwischen Gesetzesbefehl undrichterlichen Einzelfallentscheidung, da sich in dieser Zeitspanne auch die Rechtsanschauungen immer mehr wandeln.121 Wie bereits im 1. Kapitel ausführlich dargelegt, stellt die Einführung einer unmittelbaren, verschuldensunabhängigen Staatshaftung ein Postulat des durch 117

BVerfGE

BVerfGE 18, S. 224, 237 f; vgl. auch BVerfGE 34, S. 269, 287 f; BVerfGE 49, S. 304, 318.

118

65, S. 182,190 f; BVerfGE

BVerfGE 34, S. 269, 287; vgl. auch BVerfGE (Richterrecht), S. 59, S. 233 ff. 119

BVerfGE

120

BVerfGE

34, S. 287.

121

BVerfGE

34, S. 288 f.

34, S. 287.

26, S. 327, 337;

65, S. 182, 190 f; vgl. audi Ipsen

I. Die Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff

145

die Grundrechte geprägten modernen Rechtsstaats und des darin zum Ausdruck gekommenen Prinzips materieller Gerichtigkeit dar. Das gegenwärtige positive Staatshaftungsrecht, das auf dem Prinzip der Amtshaftung basiert, hat mit der rechtsstaatlichen Entwicklung nicht Schritt gehalten und weist daher eine Wertlücke, d. h. eine Lücke, die aus der mangelnden Konkretisierung eines grundgesetzlichen Rechtsprinzips resultiert, 122 auf. Damit liegt im Bereich der Staatsunrechtshaftung eine Situation vor, in der nach der gerade dargestellten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Raum für eine schöpferische Rechtsfortbildung ist Hinzu kommt, daß lückenfüllendes Richterrecht, wie es der Bundesgerichtshof durch dierichterrechtlichen Haftungsinstitute des enteignungsgleichen und enteignenden Eingriffs geschaffen hat, Teil der Gesamtrechtsordnung wird, weshalb es nunmehr als normative Vorgabe für die weitere Entwicklung des Richterrechts fungiert. Dies bedeutet mit anderen Worten, daß richterrechtlich entwickelte Haftungsinstitute selbst wiederum auf Lückenlosigkeit zu überprüfen 123 und gegebenenfalls weiterzuentwickeln sind. Wenn man nun noch berücksichtigt, daß der Gesetzgeber selbst erkannte, daß das geltende Staatshaftungsrecht den rechtsstaatlichen Anforderungen nicht mehr genügt, und diese Lücke durch die Einführung einer verschuldensunabhängigen Grundrechtshaftung schließen wollte,124 dann sollte eigentlich kein Zweifel daran bestehen, daß die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung nicht überschritten sind, wenn man dasrichterrechtliche Institut des enteignungsgleichen Eingriffs zur allgemeinen Staatshaftung für Grundrechtsverletzungen weiterentwickelt Dies gilt um so mehr, als die Legislative seit dem Scheitern der Staatshaftungsreform nicht in der Lage war, die geplante Schaffung einer solchen Grundrechtshaftung zu verwirklichen. 4. Die aus dem enteignungsgleichen Eingriff entwickelte Grundrechtshaftung als Grundlage ßr die Haftungßr legislatives Unrecht a) Generelle Bedenken gegen dierichterrechtliche Einfuhrung einer Grundrechtshaftung für legislatives Unrecht Der Bundesgerichtshof lehnt es ab, den enteignungsgleichen Eingriff als tragfahige Grundlage für eine Haftung für legislatives Unrecht heranzuziehen,125 da die Haftungsprärogative des Parlaments im Hinbück auf die zu er122

vgl. zu diesem Begriff Kohl (Unrechtsfähigkeit), S. 124.

123

vgl. Löwer (Staatshaftung), S. 75 ff.

124

siehe hierzu § 2 Abs. 2 StHG.

125 vgl. etwa BGHZ 56, S. 40, 42; BGH BB 88, S. 1071 = VersR 88, S. 1046 ff = NJW 89, S. 101, 102; BGHZ 100, S. 136, 145 ff= NJW 87, S. 1875, 1877 f; BGH W M 73, S. 491, 494 ff;

10 Fetzer

146

3. Kapitel: Ricterrechtliche Staatshaftungsinstitute

wartenden erheblichen Folgen für den Staatshaushalt in möglichst weitgehendem Maße gewahrt bleiben müsse.126 Zudem sei die Zuerkennung von Entschädigungsansprüchen bei legislativem Unrecht aufgrund eines richterrechtlich entwickelten Haftungsinstituts um so problematischer, als hier verschiedene Lösungen denkbar seien:127 § 5 Abs. 2 Satz 1 des für nichtig erklärten Staatshaftungsgesetzes habe eine Haftung für rechtswidrige Parlamentsgesetzgebung nur vorgesehen, "wenn und soweit ein Gesetz dies bestimmt." Demgegenüber habe der Entwurf der Staatshaftungskommission in § 6 Abs, 1 KE eine Entschädigungspflicht dann vorgesehen, "wenn der Gesetzgeber innerhalb von 18 Monaten nach verfassungsrechtlicher Feststellung der Rechtswidrigkeit keine andere Regelung trifft". Die Regelung der Haftung für legislatives Unrecht müsse daher dem Gesetzgeber überlassen bleiben. Auch hier geht es wieder um die Frage, inwieweit die Kompetenz der Gerichte zur Rechtsfortbildung reicht. Wie bereits ausgeführt, ist die Rechtsprechung legitimiert, geltendes Recht so auszulegen, wie es einem rechtsstaatlichen Verständnis entspricht 128 Art 20 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 3 GG bringen zum Ausdruck, daß die rechtsstaatliche Bindung des Gesetzgebers keineswegs geringer ist als die der beiden anderen Gewalten. Diese rechtsstaatliche Bindung bleibt nicht auf den primären Rechtsschutz beschränkt, sondern verlangt auch im Bereich des sekundären Rechtsschutzes Beachtung. Die Grundrechte, die das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG wesentlich prägen, gewähren erst dann einen lückenlosen Rechtsschutz, wenn die Bürger rechtswidrige Gesetze nicht nur im Wege der Verfassungsbeschwerde anfechten können, sondern auch einen Ausgleich für diejenigen Schäden erhalten, die durch die Beschreitung des Verwaltungsrechtsweges nicht abgewehrt werden können. Andernfalls würde ein nicht einleuchtender Widerspruch zwischen primärem und sekundärem Rechtsschutz bestehen.129 Die Gestaltungsmöglichkeiten für eine Haftung für legislatives Unrecht sind daher keineswegs so vielfältig, wie der Bundesgerichtshof dies andeutet, sondern konzentrieren sich letztlich auf eine Regelung, die eine Haftung bei rechtswidriger Parlamentsgesetzgebung bei allen Grundrechtsverletzungen einBGH NJW 88, S. 478, 480 = VersR 88, S. 85, 88 f = BGHZ 102, S. 350, 359; BGH DÖV 90, S. 1065,1066; vgl. auch OLG Köln NJW 86, S. 589, 592; OLG München NVwZ 86, S. 691,693. 126 vgl. hierzu BGHZ 100, S. 145 ff = NJW 87, S. 1875, 1877 ff; hierauf nimmt der BGH in BB 88, S. 1701 = VersR 88, S. 1046 = NJW 89, S. 101, 102 und in NJW 88, S. 478, 480 = BGHZ 102, S. 350 ff, 359 Bezug; vgl. hierzu auch Schwager/Krohn W M 91, S. 43; Boujong FS für Geiger, S. 436 ff. 127 BGHZ 100, S. 145 ff; BGHZ 102, S. 350, 359 ff; BGH BB 88, S. 1701 = VersR 88, S. 1046 = NJW 89, S. 101,102; Schwager!Krohn W M 91, S. 43; Boujong FS für Geiger, S. 436 ff. 128 129

Witte, S. 178; von Arnim, S. 76 f und die Ausführungen in Kapitel 3 I 3 bb (4)

vgl. hierzu etwa Lücke AöR 104, S. 238 ff; vgl. auch im Zusammenhang mit Art 19 Abs. 4 GG: Schenke NJW 88, S. 860; vgl. auch Steinberg/Lubberger, S. 361.

I. Die Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff

147

führt. 130 Dies ergibt sich zum einen aus Art 20 Abs. 3, Art. 1 Abs. 3 GG und zum anderen aus der Tatsache, daß zwischen den einzelnen Grundrechten grundsätzlich kein Rangunterschied besteht.131 Daher genügte weder der Regierungsentwurf, der eine Haftung für legislatives Unrecht völlig ausschloß, noch die Regelung im für nichtig erklärten Staatshaftungsgesetz, die die Haftung für rechtswidrige Gesetzgebung einem gesonderten Gesetz überlassen wollte, 132 noch die Regelung der Referentenentwürfe, die nur bei bestimmten Grundrechten eine Haftung für legislatives Unrecht vorsah,133 den rechtsstaatlichen Anforderungen. Dementsprechend bleibt als einzige Lösung nur die Einführung einer Haftung des Gesetzgebers für legislatives Unrecht, die bei der Verletzung aller Grundrechte eingreift. Eine solche Regelung sah § 6 Abs. 1 Satz 2 KE vor. Dem steht auch der Nichtannahmebeschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 13.11.1987134 nicht entgegen. In diesem Beschluß bestätigte das Bundesverfassungsgericht zwar, daß die Auffassung des Bundesgerichtshofs, die richterrechtliche Einführung einer Haftung für legislatives Unrecht überschreite die Grenzenrichterrechtlicher Rechtsfortbildung, nachvollziehbar sei und keine sachfremden Erwägungen erkennen lasse. Diese Ausführungen stehen jedoch ausschließlich im Zusammenhang mit der Frage, ob der Bundesgerichtshof durch diese Auffassung das in Art 101 Satz 2 GG niedergelegten Gebot des gesetzlichen Richters verletzt hat 1 3 5 Das Bundesverfassungsgericht stellte diesbezüglich fest, daß ein solcher Verstoß nur dann anzunehmen sei, wenn ein willkürliches Verhalten vorliege. Da die ablehnende Haltung des Bundesgerichtshofs zur Einführung einerrichterlichen Haftung für legislatives Unrecht nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts jedoch keine sachfremden Erwägungen erkennen läßt, lag ein willkürlicher Verstoß gegen Art. 101 Satz 2 GG nicht vor. Im Anschluß an diese Ausführungen wandte sich das Bundesverfassungsgericht dann der Frage zu, ob die Verweigerung einer Entschädigungspflicht gegen Art 14 GG verstößt. Dabei betonte das Bundesverfassungsgericht, daß es bei der vom Beschwerdeführer aufgeworfenen Frage bei richtiger verfassungsrechtlicher Einordnung um die Frage geht, ob sich aus den Grundrechten ein Entschädigungsanspruch für die dem Betroffenen durch die tatsächliche Befolgung eines grundrechtswidrigen Gesetzes entstandenen Schäden herleiten läßt.136 130

vgl. hierzu auch Lücke AöR 104, S. 243 ff.

131

Lücke AöR 104, S. 240; Hermes (Grundrecht auf Schutz), S. 253; Murswiek (Risiken der Technik), S. 167 ff; Witte, S. 59 m. w. N. 132

§ 5 Abs. 2 StHG.

133

§ 6 Abs. 1 RefEnt

134

Beschluß vom 13.11. 87 - AZ 1 BvR 739/87.

135

Seite 2 f des Beschlusses.

136

BVerfG Beschluß vom 13.11.87, S. 4.

3. Kapitel: Ricterrechtliche Staatshaftungsinstitute

148

Dabei stellte das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich klar, daß sich diese Frage nicht nur im Zusammenhang mit der Eigentumsgewährleistung des Art. 14 Abs. 1 GG, sondern bei allen Grundrechten, die einen Bezug zur Vermögenssphäre des Bürgers aufweisen, wie etwa die Berufs- oder Presse- oder Wettbewerbsfreiheit, stellt 137 Die weiteren Ausführungen zeigen, daß das Bundesverfassungsgericht den Betroffenen zwar keinen grundrechtlichen Entschädigungsanspruch zubilligen will, wenn sie es versäumt haben, den eingetretenen Schaden durch die Beschreitung des Primäirechtsschutzes abzuwehren, daß aber durchaus ein grundrechtlicher Entschädigungsanspruch in Betracht kommen kann, wenn ein Betroffener, der den Primärrechtsschutz in Anspruch genommen hat, im Einzelfall trotzdem Vermögenseinbußen erlitten hat 1 3 8 Da der Beschwerdeführer in dem vom Bundesverfassungsgericht zu entscheidenden Fall den Primärrechtsschutz nicht in Anspruch genommen hatte, wurde die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Auch das Bundesverfassungsgericht geht somit davon aus, daß aus den materiellen Grundrechtsverbürgungen eine Entschädigung für solche Vermögenseinbußen folgt, die vom Betroffenen nicht abgewehrt werden können. Somit ist die ablehnende Haltung des Bundesgerichtshofs als zu vordergründig abzulehnen. Dies gilt um so mehr, als der Bundesgerichtshof einen Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff bejaht, wenn durch untergesetzliche rechtswidrige Normen Schäden hervorgerufen werden (sog. normatives Unrecht). Auch hier können erhebliche finanzielle Folgen für den Staat entstehen, so daß der vom Bundesgerichtshof gegen dierichterrechtliche Einführung einer Haftung für legislatives Unrecht erhobene Einwand logischerweise auch in diesen Fällen vorgebracht werden müßte.139 Außerdem wären auch hier verschiedene Haftungsregelungen möglich, wie ein Blick auf § 6 Abs. 2 RefEnt und auf § 5 Abs. 2 StHG zeigt. b) Der Umfang einer Grundrechtshaftung bei legislativem Unrecht Die hM im Schrifttum, die eine Entschädigung aus enteignungsgleichem Eingriff bei Schäden, die durch eine rechtswidrige Parlamentsgesetzgebung hervorgerufen werden, in unterschiedlicher Reichweite befürwortet, 140 war bis137

BVerfG

138

BVerfG,

139

so auch Schenke NJW 88, S. 860.

Beschluß vom 13.11. 87, S. 4. S. 4, S. 6.

140 Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 54 ff; ders in BK Art. 14 GG Rdnr. 435 ff; Oldiges Der Staat 15, S. 395 ff; Schenke NJW 88, S. 859 ff; ders. mit Einschränkungen DVBl 75, S. 122; ders. mit Einschränkungen (Rechtsschutz), S. 89 ff; Scheuing FS für Bachof, S. 359 ff; Herdegen (Haftung der EWG), S. 64 ff; Speiser (Ersatzpflicht), S. 53 ff; Weber (Staatshaftung), S. 86 ff; Eckert (Haftung), S. 125 ff; Schock NJW 63, S. 1338; ; ders. MDR 53, S. 514, 516; Selmer (Aufopferungsanspruch), S. 100 ff; Forsthoff BB 60, S. 1138; Jaenicke W D S t R L 20, S. 151 ff; ders. in: Mosler (Haftung des Staates), S. 125 ff; Katzenstein MDR 52, S. 195; Rüfrter Jura 89,

I. Die Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff

149

her vor die Frage gestellt, ob allein die Verfassungswidrigkeit bzw. Rechtswidrigkeit eines Gesetzes zu einem entschädigungspflichtigen Sonderopfer führt. Die Meinungen waren hierbei geteilt. Während ein Teil der Literatur in konsequenter Weiterführung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bereits die Rechtswidrigkeit des Gesetzes als anspruchsbegründendes Sonderopfer genügen ließ,141 beharrten andere Stimmen auf das Vorliegen einer eigenständigen enteignungsrechtlichen Sonderopferlage. 142 Die bisherigen Ausführungen haben jedoch gezeigt, daß der enteignungsgleiche Eingriff seit BGHZ 32, S. 208 ff eine Hinwendung zu einer unmittelbaren, primären, verschuldensunabhängigen Staatsunrechtshaftung für rechtswidrige Eigentumsbeeinträchtigungen vollzog,143 die durch die Ablösung dieses Haftungsinstituts von Art 14 Abs. 3 GG noch verstärkt wurde, so daß der dargestellte Meinungsstreit hinfällig geworden ist. Dies gilt in besonderem Maße auch für die Weiterentwicklung des enteignungsgleichen Eingriffs zu einem allgemeinen Institut der Staatsunrechtshaftung für Grundrechtsverletzungen, denn im Rahmen einer solchen Haftung hat die enteignungsrechtliche Sonderopfertheorie keinerlei Berechtigung. Demgegenüber will Ossenbühl, obwohl er einräumt, daß das Haftungsinstitut des enteignungsgleichen Eingriffs den Charakter einer Staatsunrechtshaftung angenommen hat, das Sonderopfer als haftungsbegründendes Tatbestandsmeikmal bei einer Haftung für legislatives Unrecht beibehalten,144 während er im Falle des Verwaltungsunrechts davon ausgeht, daß die Rechtswidrigkeit des Eingriffs das Sonderopfer als Tatbestandsmerkmal verdrängt hat. Die Sonderopfertheorie kann jedoch nur im Bereich des Art. 14 Abs. 3 GG Anwendung finden, nicht jedoch bei einer Haftung für Staatsunrecht,145 die mit S. 136 ff; Haverkate ZRP 77, S. 35; Schwabe NJW 71, S.1657 f; Kosmider (Staatshaftung), S. 146 ff; Röhder M D R 70, S. 8; Mondry (Gefährdungshaftung), S. 165 ff; Scheuner BB 60, S. 1253, 1256; Murswiek NVwZ 86, S. 613; Detterbeck JA 91, S. 9 f; Hamann/Lenz GG-Kom Art 80 Anm. 5; Art. 14 Anm. Β 7; Kimminich Jus 69, S. 354; Ossenbühl JZ 87, S. 1027; ders. (Staatshaftungsrecht), S. 192 ff; Steinberg/Lubberger, S. 358 ff; Rüfher in Erichsen/Martens (Allg VwR), 52 I I 1 Rdnr. 56; Heidenhain (Amtshaftung), S. 89 FN 8; Luhmarui (Entschädigung), S. 127 ff; vgl. auch LG Freiburg MDR 53, S. 514 ff; OLG Hamburg DÖV 71, S. 238,240. 141 Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 58; Heidenhain (Amtshaftung), S. 89 FN 9; Luhmann (Entschädigung), S. 127 ff; Scheuing FS für Bachof, S. 360 f; Oldiges Der Staat 15, S. 399 ff; Schenke NJW 88, S. 861; Steinberg/Lubberger, S. 367 ff. 142 Weber (Staatshaftung), S. 90 ff; Speiser (Ersatzpflicht), S. 76 f; Eckert (Haftung), S. 119 ff, 125 ff; Jaenicke W D S t R L 20, S. 151 ff; ders. in Mosler (Haftung des Staates), S. 126 ff; Schenke DVBl 75, S. 121, 122; ders. (Rechtsschutz), S. 89 ff; Selmer (Aufopferungsanspruch), S. 105 ff; Schock MDR 53, S. 515; Forsthoff BB 60, S. 1138; Herdegen (Haftung der EWG), S. 69 ff; Detterbeck JA 91, S. 9; Kosmider (Satzungsunrecht), S. 149 ff. 143 Papier in M/D/H/S GG-Kom. Art 14 Rdnr. 603; ders. in Müko § 839 BGB Rdnr. 29; ders. N V w Z 83, S. 259; Nüßgens/Boujong aO, Rdnr. 431, 414; Bender BauR 83, S. 10; Knauber N V w Z 84, S. 756; Papier Jus 89, S. 635; Schach Jura 89, S. 530; Ipsen DVBl 83, S. 1033. 144

Ossenbühl JZ 87, S. 1027; ders. (Staatshaftungsrecht), S. 215 f; ders. FS für Geiger,

S. 491 f. 145 vgl. hierzu Schmitt-Kammler für Bachof, S. 360.

NJW 90, S. 2518 f; Schenke NJW 88, S. 861; Scheuing FS

3. Kapitel: Ricterrechtliche Staatshaftungsinstitute

150

einer Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG nichts gemein hat Zudem würde die ursprüngliche Funktion der Sonderopfertheorie bei einer Anwendung im Bereich der Staatsunrechtshaftung ins Gegenteil verkehrt werden, denn sie diente ursprünglich dazu, eine trotz rechtsmäßigen Handelns erfolgte Belastung abzugleichen, hatte also haftungserweiternde Funktion, während sie nun von Ossenbühl im Rahmen der Staatsunrechtshaftung als Argument für eine Haftungsbegrenzung herangezogen wird. 146 Dementsprechend ist auch in Fällen des legislativen Unrechts eine Heranziehung des Sonderopfers als Tatbestandsmerkmal nicht zulässig, zumal hier eine ungerechtfertigte Unterscheidung zwischen rechtswidrigem Verhalten der Exekutive und rechtswidriger Parlamentsgesetzgebung heraufbeschworen würde. Durch den Verzicht auf eine eigenständige Sonderopferlage sowie durch die mit der Fortentwicklung des enteigungsgleichen Eingriffs zu einer allgemeinen Grundrechtshaftung einhergehende Modifizierung der sonstigen Tatbestandsmerkmale des enteignungsgleichen Eingriffs erweitert sich der Anwendungsbereich einer Haftung für legislatives Unrecht beträchtlich. Genau wie die Amtshaftung greift die allgemeine Grundrechtshaftung bei einer materiellen Verletzung der im Grundgesetz niedergelegten Grundrechte ein. Die Grundrechts-verletzung braucht hierbei nicht auf dem Erlaß eines verfassungswidrigen Gesetzes zu beruhen, sondern kann auch durch ein Untätigbleiben des Gesetzgebers trotz bestehender evidenter grundrechtlicher Handlungspflicht erfolgen. 147 Eine entschädigungspflichtige Grundrechtsverletzung liegt aber auch dann vor, wenn sich formelle Verfassungsverstöße mit einer materiellen Grundrechtsverletzung verbinden. Dies beruht darauf, daß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei formellen Verfassungsverstößen zugleich auch das von seinem Schutzbereich her einschlägige Grundrecht verletzt wird. 148 Falls kein spezielles Grundrecht eingreift, ist auf die allgemeine Handlungsfreiheit des Art 2 Abs. 1 GG zurückzugreifen. 149 Der Anwendungsbereich der in dieser Arbeit konzipierten Haftung bei Grundrechtsverletzungen deckt sich somit mit dem Anwendungsbereich der Amtshaftung, ist aber nicht durch das schwer nachweisbare Verschuldenserfordernis belastet, so daß die Haftung für rechtswidrige Parlamentsgesetzgebung hierdurch erheblich ausgeweitet wird. Allerdings besteht auch bei der Grundrechtshaftung eine Subsidiarität des Sekundärrechtsschutzes, so daß bereits hierdurch eine wirksame Haftungsbegrenzung besteht Außerdem kann der Befürchtung, daß durch eine sol146

vgl. hierzu Scheuing FS für Bachof, S. 360 f.

147

vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 2, Punkt I I b. bb. (1).

148

vgl. BVerfGE

149

13, S. 181,190; BVerfGE

24 % S. 367,384 ff.

Dies ist insbesondere auch deshalb gerechtfertigt, weil eine Ausklammerung des Art. 2 Abs. 1 GG unter dem Grundrechten ein verfassungsrechtlich nicht vorgesehenes Zweiklassensystem errichten würde. Vgl. hierzu Jacobs (Staatshaftungsrecht), Rdnr. 329 ff; Papier ZRP 79, S. 67, 70 f; Ossenbühl Jus 78, S. 720,721.

I. Die Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff

151

che verschuldensunabhängige Haftung übermäßige finanzielle Folgen für den Staatshaushalt hervorgerufen werden, dadurch begegnet werden, daß man im Einzelfall auftretende übermäßige finanzielle Belastungen des Staates wie beim Folgenbeseitigungsanspruch durch die Einführung eines Zumutbarkeitskriteriums verhindert. 150 Im übrigen bleibt es dem Gesetzgeber unbenommen, durch eine gesetzliche Haftungsregelung übermäßige finanzielle Folgen einer richterrechtlich begründeten Ersatzpflicht bei Grundiechtsverletzungen durch den Erlaß eines Schadensregulierungsgesetzes zu korrigieren. Die Einführung einer richterrechtlichen Grundrechtshaftung bei legislativem Unrecht würde somit auch den Effekt zeitigen, daß auf den Gesetzgeber ein gewisser Druck ausgeübt würde, die längst überfällige Regelung der Staatshaltung in Angriff zu nehmen. Aber der Anwendungsbereich der Grundrechtshaftung darf im Hinblick auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften nicht auf eine Verletzung der im Grundgesetz niedergelegten Grundrechte beschränkt bleiben. Da nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs Ansprüche wegen Verletzung des unmittelbar wirksamen Gemeinschaftsrechts im nationalen Recht nicht ungünstiger ausgestaltet sein dürfen als Ansprüche, die ausschließlich auf der Verletzung von nationalem Recht beruhen,151 bedeutet dies zugleich, daß eine verschuldensunabhängige Haftung für Grundrechtsverletzungen nicht nur bei einem Verstoß gegen die Grundrechte des Grundgesetzes, sondern auch bei einer Verletzung von subjektiven Rechten des Vorrang vor dem nationalen Recht beanspruchenden unmittelbar wirksamen Europäischen Gemeinschaftsrechts zu gewähren ist Damit wäre auch der jüngst vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften aufgestellten Forderung nach einer verschuldensunabhängigen nationalen Haftung der Mitgliedstaaten für Verstöße der Legislative oder Exekutive gegen das Europäische Gemeinschaftsrecht 152 Genüge getan. Das geltende Recht kennt somit eine verschuldensunabhängige Haftung bei Grundrechtsverletzungen und bei Verstößen gegen subjektive Rechte des Europäischen Gemeinschaftsrechts. Diese Haftung kann jedoch angesichts der ablehnenden Haltung des Bundesgerichtshofs in der Praxis nicht realisiert werden, so daß nach wie vor trotzrichterlicher Rechtsfortbildungskompetenz ein Bedürfnis für eine gesetzliche Regelung der Haftung für legislatives Unrecht besteht.153

150

vgl. hierzu Lücke AöR 104, S. 245 f.

151

vgl. hierzu etwa EuGH ZIP 91, S. 1614 = M/W92, S. 165 ff; EuGHE 76, S. 2053; EuGHE 80, S. 501 ff, 522 ff; EuGHE 80, S. 1205,1226; EuGHE 80, S. 2259,2574. 152

vgl. hierzu EuGH ZIP 91, S. 1614 = NJW 92, S. 165 ff.

153

vgl. hierzu den Gesetzesvorschlag in Kapitel 7 dieser Arbeit.

3. Kapitel: Ricterrechtliche Staatshaftungsinstitute

152

Π. Haftung für legislatives Unrecht aus aufopferungsgleichem Eingriff Der aufopferungsgleiche Eingriff wurde vom Bundesgerichtshof als Gegenstück zum enteignungsgleichen Eingriff entwickelt Während der enteignungsgleiche Eingriff bei rechtswidrigen Eigentumseingriffen eingreift, findet der aufopferungsgleiche Eingriff bei rechtswidrigen Eingriffen in nichtvermögenswerte Rechte (Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, Freiheit, Leben, Ehre, Privatsphäre) Anwendung.154 Von dieser Unterscheidung abgesehen, gleichen sich die Tatbestandsmerkmale der beiden Haftungsinstitute völlig. Der aufopferungsgleiche Eingriff setzt somit nach der Judikatur des Bundesgerichtshofes einen vom Gemeinwohl motivierten Eingriff in eine nichtVermögenswerte Rechtsposition voraus, der dem Betroffenen ein Sonderopfer abverlangt.* 55 In der Literatur wurde der aufopferungsgleiche Eingriff mehrfach als Grundlage für eine Haftung bei legislativem Unrecht herangezogen.156 Tatsächlich kann für den aufopferungsgleichen Eingriff nichts anderes gelten, als für sein Gegenstück, den enteignungsgleichen Eingriff, der nach der hM in der Literatur durchaus als Grundlage für eine Haftung bei legislativem Unrecht in Betracht kommt Da es jedoch, wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, unausweichlich ist, den enteignungsgleichen Eingriff zu einer allgemeinen Grundrechtshaftung weiterzuentwickeln, geht der aufopferungsgleiche Eingriff in dieser Haftung auf, 157 so daß im folgenden, um unnötige Wiederholungen zu vermeiden, davon abgesehen wird, Ansprüche aus aufopferungsgleichem Eingriff bei rechtswidriger Parlamentsgesetzgebung näher zu erläutern.

ΠΙ· Haftung für legislatives Unrecht aus enteignendem Eingriff

Auch der enteignende Eingriff ist eine Schöpfung des Bundesgerichtshofes. Im Unterschied zum rechtswidrigen enteignungsgleichen Eingriff zeichnet sich der enteignende Eingriff nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dadurch aus, daß eine an sich rechtmäßige Eigentumsbeeinträchtigung bei einzelnen Betroffenen ungezielte, meist atypische und unvorhergesehene Nebenfolg oder Nachteile hervorruft, die die enteignungsrechtliche Opfergrenze über 154

vgl. hierzu etwa Maurer (Allg VwR) § 27 Rdnr. 3; Ossenbühl (Staatshaftungsgesetz),

S. 111 ff. 155

vgl. hierzu Maurer, § 27 Rdnr. 9 ff; Ossenbühl, S. 111.

156

Witte (Staatshaftung), S. 156 ff; Eckert, Diss., S. 139; Herdegen (Haftung der EWG), S. 70 f; Schenke NJW 91, S. 1789; Weber Diss., S. 83, 84; vgl. auch Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 55. 157 vgl. hierzu auch Steinberg/Lubberger Aufopferung - Enteignung und Staatshaftung, S. 352; Aust!Jacobs (Enteignungsentschädigung), S. 26.

. Die Haftung aus enteignem Eingriff

153

schreiten. 158 In derartigen Fällen billigte der Bundesgerichtshof aus einem rechtspolitischen Bedürfnis heraus für den von ihm als rechtmäßig erachteten Eingriff in analoger Anwendung des Art. 14 Abs. 3 GG eine Entschädigung zu.159 Der Bundesgerichtshof sprach eine Haftung aus diesem Rechtsinstitut bisher jedoch nur in den Fällen zu, in denen es durch hoheitliche Realakte oder durch Verwaltungsakte zu einzelfallbezogenen Eigentumsbeeinträchtigungen beim Bau von öffentlichen Straßen und Verkehrseinrichtungen sowie zu Eigentumsbeeinträchtigungen durch Immissionen, die von öffentlichen Anlagen ausgehen, kam.160 Dagegen ließ er bislang die Frage offen, ob eine Entschädigungspflicht aus enteignendem Eingriff auch dann besteht, wenn ein an sich rechtmäßiges Gesetz im Einzelfall zu unzumutbaren Eigentumsbeeinträchtigungen führt, die Ausnahmecharakter tragen und nur unter besonderen Umständen entstehen. 161 Im Schrifttum 162 wird diese Frage mit dem Hinweis bejaht, daß in diesen Fällen ein unabdingbares verfassungsrechtliches Bedürfnis für die Zubilligung einer Entschädigung bestehe, da der Betroffene keine Möglichkeit habe, sich gegen ein solches rechtmäßiges Gesetz im Wege des Primärrechtsschutzes zur Wehr zu setzen. Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit der enteignende Eingriff tatsächlich als Haftungsgrundlage bei legislativem Unrecht herangezogen werden kann. Da der Bundesgerichtshof auch die Figur des enteignenden Eingriffs ursprünglich in einer Analogie zu Art. 14 Abs. 3 GG entwickelt hat, ist auch hier zu klären, inwieweit sich die Eigentumskonzeption des Bundesverfassungsgerichts auf den Fortbestand dieser Rechtsfigur ausgewirkt hat. Erst dann kann geprüft werden, ob sich der enteignende Eingriff als tragfähige Haftungsgrundlage bei rechtswidriger Parlamentsgesetzgebung erweist. Vorab bleibt jedoch festzustellen, daß dieses Haftungsinstitut keine geeignete Grundlage bietet, um auftretende Masseschäden y wie sie zum Beispiel durch das Waldsterben ausgelöst wurden, auszugleichen, denn hieibei handelt es sich nicht mehr um atypische Einzelfälle, auf die die Rechtsfigur des enteignenden Eingriffs zugeschnitten ist, sondern um ein "Globalphänomen".163

158 vgl. etwa BGHZ 91, S. 20 ff, 26; BGHZ 99, S. 24, 27; BGHZ 100, S. 137,144; BGHZ 102, S. 350, 361 = NJW 88, S. 478, 480; BGH NVwZ 88, S. 1066 ff. 159

vgl. hierzu BGHZ 48, S. 98,101 ; BGHZ 54, S. 293,295 f.

160

so ausdrücklich BGH NJW 88, S. 480; zu den einzelnen Beispielen: BGHZ 54, S. 359 ff (U-Bahn-Bau); BGH NJW 80, S. 770 ff (Immissionen einer Mülldeponie); BGHZ 91, S. 20 ff (Kläranlage); BGHZ 64, S. 220 ff; BGHZ 97, S. 114 ff und BGHZ 91, S. 361 ff (Verkehrslärmimmissionen). i«

BGH NJW 88, S. 480; BGHZ 100, S. 144; vgl. hierzu auch Dohnold DÖV 91, S. 156.

162

Schenke NJW 88, S. 861, 862; Ossenbühl (Staatshaftungsrecht), S. 231; ders. (Gutachten für das BMJ), S. 321 f; vgl. auch Nüßgens/Boujong (Eigentum, Sozialbindung), Rdnr. 340; a.A. Boujong FS für Geiger, S. 439. 163

so BGH NJW 88, S. 480; vgl. auch Bender VerwArch 77 (1986), S. 335, 363,368.

154

3. Kapitel: Ricterrechtliche Staatshaftungsinstitute

Eine Haftung für legislatives Unrecht kann auf der Grundlage des enteignenden Eingriffs daher nur für die Fälle diskutiert werden, in denen ein Gesetz im Einzelfall zu Eigentumsbeeinträchtigungen führt, die Ausnahmecharakter besitzen. Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, daß die Figur des enteignenden Eingriffs im Hinblick auf das Eigentumskonzept des Bundesverfassungsgerichts im System der staatlichen Ersatzleistungen noch seine Berechtigung hat. Ähnlich wie beim enteignungsgleichen Eingriff gelangten Rechtsprechung164 und die hM im Schrifttum 165 bald nach dem Ergehen des Naßauskiesungsbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts zu dem Ergebnis, daß dem Haftungsinstitut des enteignenden Eingriffs durch das verfassungsgerichtliche Enteignungskonzept nicht die Grundlage entzogen worden sei, da enteignende Eingriffe nicht unter den engen formellen Enteignungsbegriff des Bundesverfassungsgerichts fallen würden. Vielmehr stelle der Entschädigungsanspruch aus enteignendem Eingriff das öffentlichrechtliche Gegenstück zum nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch unter Nachbarn nach § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB dar 166 und finde seine Grundlage wie der enteignungsgleiche Eingriff in dem allgemeinen Aufopferungsgedanken der §§ 75, 75 EinlALR in seiner richterrechtlichen Ausprägung.167 In der Tat betrifft der enteignende Eingriff den Ausgleich von ungezielten Folgewirkungen, die nicht Gegenstand einer Enteignung im Sinne des Art 14 Abs. 3 GG sind. Trotzdem bleibt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht ohne Auswirkungen auf die Fortgeltung dieses Haftungsinstituts. Dies ergibt sich aus folgendem: Ein Eingriff, der bei einzelnen Betroffenen unzumutbare Belastungen hervorruft, kann nicht rechtmäßig sein, sondern verstößt gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bzw. gegen den Gleichheitssatz und ist daher rechtswidrig. Dies kann nach der Pflichtexemplarent164

so insbesondere BGH NJW 84, S. 1877 ff = BGHZ 91, S. 20 ff, S. 26 f.

165

vgl. hierzu Boujong UPR 84, S. 142; Papier Jus 85, S. 185 f; ders. in M/D/H/S GG-Kom. Art. 14 Rdnr. 634 f; ders. (Eigentumsgarantie des GG im Wandel), S. 39 f; Ossenbühl NJW 83, S. 3; ders. (Neuere Entwicklungen im Staatshaftungsrecht), S. 27; ders. (Gutachten für BJM), S. 318 ff; Bender BauR 83, S. 8; Götz AgrarR 84, S. 4 ff; Hendler DVBl 83, S. 881; Schwerdtfeger Jus 83, S. 110; ders. (dogmatische Struktur der Eigentumsgarantie), S. 37; Ossenbühl (Staatshaftungsrecht), S. 227; AustfJacobs, S. 66 ff; NüßgensfBoujong, Rdr. 451 ff; Trimbach, S. 71 f; Krohn/Löwisch (Eigentumsgarantie), Rdnr. 237; Engelhardt N V w Z 85, S. 627 f; Knauber N V w Z 84, S. 755 f; Schmitt-Kammler, FS für Wolf, S. 614 f; Roth, Diss., S. 84; Krohn W M 84, S. 828; Bender JZ 86, S. 88 f; Steinberg/Lubberger, S. 243 ff; Kreft FS für Geiger, S. 416; ders. (Gutachten für BMJ), S. 302 ff; wohl auch Schullan VersR 84, S. 208; a. A. Weber Jus 82, S. 855. 166 vgl. etwa BGH NJW 84, S. 1877 = BGHZ 91, S. 20 ff, 26 f; vgl. auch BGH NJW 88, S. 900, 901; BGHZ 97, S. 114,117; BGHZ 97, S. 361, 362; Götz AgrarR 84, S. 5; Krohn/Löwisch, Rdnr. 237; Boujong UPR 84, S. 142; Nüßgens/Boujong, Rdnr. 452; Schwager/Krohn W M 91, S. 33, S. 40; Engelhardt N V w Z 89, S. 1029; Krohn W M 84, S. 828; Steinberg/Lubberger,, S. 242. 167 BGHZ 91, S. 20, 27 f = NJW 84, S. 1876, 1877; ebenso Bender BauR 83, S. 8; Hendler D V B l 83, S. 881; Krohn/Löwisch, Rdnr. 237; Krohn W M 84, S. 828; Knauber NVwZ 84, S. 755 f; Steinberg/Lubberger, S. 243 f; a. A. Schmitt-Kammler FS für Wolf, S. 614 f.

. Die Haftung aus enteignem Eingriff

155

Scheidung des Bundesverfassungsgerichts 168 nicht mehr zweifelhaft sein.169 Diese Entscheidung betraf die Klage eines Verlegers gegen eine gesetzliche Regelung, die jedem Verleger die Verpflichtung auferlegte, von jedem Druckwerk ein Exemplar kostenlos an die Landesbibliothek abzuliefern. Der betroffene Verleger stellte aufwendige und kostenintensive Druckwerke in geringer Auflage her und war daher gegenüber anderen Verlegern in besonderer Weise betroffen. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, daß die angegriffene gesetzliche Regelung zwar insgesamt mit Art. 14 GG vereinbar sei, daß die darin ausgesprochene Veipflichtung zur Ablieferung aufwendig in kleiner Auflage hergestellter Druckwerke aber gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und daher gegen Art. 14 GG verstoße. Das Gericht wies aber gleichzeitig darauf hin, daß dem Gesetzgeber die Möglichkeit eröffnet ist, solche Verfassungsverstöße durch die Gewährung einer Entschädigung, die die unverhältnismäßige und ungleiche Behandlung einzelner Verleger ausgleicht, aufzufangen (sog. ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung). 170 Fehlt eine solche gesetzliche Entschädigung, so kann das rechtswidrige Gesetz nicht durch die Gewährung einer richterlichen Entschädigung geheilt werden.171 Dies ist die Konsequenz des vom Bundesverfassungsgericht in seiner Naßauskiesungsentscheidung172 festgestellten Vorrangs des primären Rechtsschutzes vor dem Schadensersatzrecht. Dem Betroffenen steht kein Wahlrecht zwischen der Anfechtung einer rechtswidrigen Maßnahme und der Duldung einer solchen Maßnahme gegen Gewährung einer richterlichen Entschädigung zu.173 Inhaltsbestimmende Gesetze, die einzelnen Betroffenen unverhältnismäßige Belastungen auferlegen, ohne diese Belastungen durch die Gewährung einer gesetzlichen Entschädigung oder durch eine sonstige Maßnahme abzugleichen, bilden daher rechtswidrige Eingriffe, die als enteignungsgleiche Eingriffe entschädigt werden können,17 falls beim Betroffenen Schäden entstehen, die durch die Beschreitung des Primärrechtsschutzes nicht abgewehrt werden könne. Für das Haftungsinstitut des enteignenden Eingriffs besteht daher zwischen der ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung und dem enteignungsgleichen Eingriff kein Raum und kein 168

BVerGE 58, S. 137 ff; vgl. auch BVerfGE

79, S. 174,192.

169

Auch die Literatur hat mehrfach darauf hingewiesen, daß beim enteignenden Eingriff im Hinblick auf das Erfolgsunrecht eine rechtswidrige Maßnahme vorliegt: vgl. etwa: Kreßel, S. 123 f; Ossenbühl (Staatshaftungsrecht), S. 228; Schock Jura 89, S. 536; Schmitt-Kammler FS für Wolf, S. 614; Bender BauR 83, S. 8; Schmitt-Kammler NJW 90, S. 2520. 170

BVerfGE

58, S. 137 ff.

171

vgl. hierzu Maurer FS für Dürig, S. 310: Boujong FS für Geiger, S. 439; Nüßgens! Boujong, Rdnr. 340. 172

BVerfGE

58, S. 300 ff.

173

BVerfGE

58, S. 323 ff; vgl. hierzu auch Maurer (Allg. VerwR) § 26 Rdnr. 73.

174 vgl. hierzu Maurer DVBl 91, S. 786; die Literatur hat in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, daß der enteignende Eingriff im Hinblick auf das durch ihn hervorgerufene Erfolgsunrecht einen Unterfall der Haftung für rechtswidrige Eigentumseingriffe darstellt: Lege NJW 90, S. 2520; Bender BauR 83, S. 8; Ossenbühl (Staatshaftungsrecht), S. 228; Schock Jura 89, S. 536; Schmitt-Kammler FS für Wolf, S. 614.

156

3. Kapitel: Ricterrechtliche Staatshaftungsinstitute

Bedürfnis mehr. 175 Folglich kann der enteignende Eingriff nicht als Grundlage für eine Haftung bei legislativem Unrecht herangezogen werden. Zusammendfassend bleibt daher festzuhalten, daß eine Haftung für rechtswidrige Parlamentsgesetzgebung auf der Grundlage eines zur allgemeinen Grundrechtshaftung weiterentwickelten enteignungsgleichen Eingriffs in Betracht kommt, daß daneben aber kein Bedürfnis und kein Raum für eine Haftung aus aufopferungsgleichem oder enteignendem Eingriff besteht.

175

vgl. hierzu Maurer DVBl 91, S. 786.

4. Kapitel

Weitere Haftungsinstitute bei legislativem Unrecht I. Der Folgenbeseitigungsanspruch I. Entwicklung,

Tatbestand und Inhalt des Folgenbeseitigungsanspruches

Der Folgenbeseitigungsanspruch wurde Anfang der 50er Jahre zur Beseitigung der Folgen eines zunächst vollzogenen, später aber aufgehobenen rechtswidrigen Verwaltungsaktes entwickelt, wobei die maßgebliche Initiative auf die bahnbrechende Untersuchung Otto Bachof s aus dem Jahre 1951 zurückging.1 Seitdem ist der Folgenbeseitigungsanspruch durch Rechtsprechung und Lehre weiter ausgebaut und fortentwickelt worden.2 Inzwischen ist anerkannt, daß sich der Folgenbeseitigungsanspruch nicht allein auf die Beseitigung von Vollzugsfolgen eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes beschränkt, sonder sich zum allgemeinen Folgenbeseitigungsanspruch ausgeweitet hat, der auch die Beseitigung der rechtswidrigen Folgen hoheitlicher Realakte umfaßt. 3 Die Rechtsgrundlage dieses Anspruches ist noch nicht vollständig geklärt; überwiegend werden jedoch das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG4 oder die Grundrechte 5 herangezogen. Praktische Bedeutung kommt dieser unter1 Bachof: Die verwaltungsrechtliche Klage auf Vornahme einer Amtshandlung, 1951, 2. unveränderte Aufl. 1968, S. 98 ff. 2 vgl. etwa Bettermann DÖV 55, S. 528 ff; Haas System der öffentlich-rechtlichen Entschädigungspflichten, 1955, S. 63 ff; Rupp DVBl 58, S. 113,117 ff; Ringe DVBl 58, S. 378 ff; Theune BayVBl 63, S. 103 ff; Schleeh AöR 92 (1967), S. 58 ff; Rüfher DVBl 67, S. 186 ff; Rösslein (Folgenbeseitigungsanspruch), S. 68; Schwerdtfeger Jus 70, S. 122 ff; Erichsen VerwArch 76 (1972), S. 217 ff; Hoffmann DVBl 67, S. 667 ff; Papier DÖV 72, S. 845 ff; Haueisen DVBl 73, S. 739 ff; von Mangoldt DVBl 74, S. 825 ff; Rupp JA 79, S. 506 ff; Bender VB1BW 85, S. 201 ff; Broß VerwArch 76 (1985), S. 217 ff; Fiedler NVwZ 86, S. 969 ff; Führen V R 86, S. 5 ff, 7 ff; Maaß BayVBl 87, S. 520 ff; Redeker DÖV 87, S. 194 ff; Schenke Jus 90, S. 370 ff; Schoch VerwArch 79 (1988), S. 1 ff; Fiedler/Fink DÖV 88, S, 317 ff; Wallerath DÖV 87, S. 505. 3 vgl. etwa Maurer (Allg. VerwR), § 29 Rdnr, 3; Steinberg/Lubberger : Aufopferung - Enteignung und Staatshaftung, 1991, S. 375; Ossenbühl (Staatshaftungsrecht), S. 242; Böß (Folgenbeseitigungsanspruch), Diss. 1973, S. 60; Schleeh AöR 92, S. 95; Rupp JA 79, S. 507 ff; Hoffmann-Becking Jus 72, S. 513; BVerwG DVBl 71, S. 858 ff; BVerwG NJW 72, S. 269; BVerwG NJW 81, S. 239 f; BVerwG NJW 85, S. 1481. 4 vgl. hierzu etwa Bachof S. 128; Wallerath DÖV 87, S. 511 ff; Fiedler N V w Z 86, S. 969 f, 970 f; Obermayer Jus 63, S. 113; BVerwGE 69, S. 366,370. 5 Redeker DÖV 87, S. 194 ff, 196; Schoch VerwArch 79, S. 34; Schenke Jus 90, S. 372; Weyreuther (Gutachten zum 47. Deutschen Juristentag), S. 83; Ossenbühl, S. 252; Maurer FS für

158

4. Kapitel: Weitere Haftungsinstitute bei legislativem Unrecht

schiedlichen dogmatischen Grundlage nicht zu, zumal auch die Grundrechte Bestandteil des materialen Rechtsstaatsprinzips des Art. 20 Abs. 3 GG sind6 und beide Rechtsgrundlagen sich ergänzen.7 Der Folgenbeseitigungsanspruch ist somit ein öffentlich-rechtlicher Anspruch, der nach § 40 Abs. 2 VwGO vor den Verwaltungsgerichten geltend zu machen ist 8 Der Tatbestand des Folgenbeseitigungsanspruchs setzt nach allgemeiner Auffassung einen hoheitlichen Eingriff in ein subjektives Recht voraus, durch den ein rechtswidriger Zustand geschaffen wurde, der noch andauert. 9 Der hoheitliche Eingriff selbst muß nicht rechtswidrig sein, es genügt, daß der dadurch geschaffene Zustand rechtswidrig ist.10 Die Rechtswidrigkeit entfällt, wenn der rechtswidrige Zustand nachträglich legalisiert wird. 11 Grundsätzlich wird der rechtswidrige Zustand von einem materiellen Rechtsverstoß herrühren. Aber auch bei bloß formeller Rechtswidrigkeit wird ein Folgenbeseitigungsanspruch zumindest dann in Betracht kommen, wenn durch den hoheitlichen Eingriff eine Vorschrift verletzt wurde, aus deren Gehalt sich ergibt, daß die Regelung mit einer eigenen Schutzfunktion zugunsten einzelner ausgestattet ist, die es dem Betroffenen erlaubt, allein aus der Verletzung dieser Regelung die Aufhebung der hoheitlichen Maßnahme gerichtlich durchzusetzen.12

Der Folgenbeseitigungsanspruch richtet sich auf die Wiederherstellung des ursprünglich vor dem Eingriff vorhandenen oder eines gleichwertigen Zusta des durch die Beseitigung der eingetretenen rechtswidrigen Folgen.13 Hierdurch unterscheidet sich der Folgenbeseitigungsanspruch von der Naturalrestitution im Schadensersatzrecht. Doit ist der Zustand wiederherzustellen, der bestehen Dürig, S. 315; Bender VB1BW 85, S. 201, 202; Papier in Müko § 839 Rdnr. 78; von Mangoldt D V B l 74, S. 829; Erichsen VerwArch 63, S. 220; BVerwG DÖV 71, S. 857, 858; BVerwG NJW 72, S. 269 f. 6

siehe hierzu die Ausführungen im 1. Kapitel und Maurer FS für Dürig, S. 315.

7

Maaß BayVBl 87, S. 524; Maurer (Allg. VerwR) § 29 Rdnr. 5; Bachof DÖV 71, S. 860; Steinberg/Lubberger, S. 357; Bender VB1BW 85, S. 202. 8 Rupp JA 79, S. 511; Steinberg/Lubberger, S. 371; Ossenbühl, S. 281; Maurer (Allg. VerwR) § 29 Rdnr. 14; Bößy S. 137; Theune BayVBl 63, S. 106. 9 Steinberg/Lubberger, S. 378; Maurer (Allg. VerwR) § 29 Rdnr. 6; Ossenbühl, S. 359; Bender (Staatshaftungsrecht), Rdnr. 219; Rupp JA 79, S. 509 ff; Schoch VerwArch 79, S. 39; ObermayerJus 63, S. 113 ff. 10 Steinberg/Lubberger, S. 382; Ossenbühl, S. 262; Rupp JA 79, S. 510; Schoch VerwArch 79, S. 42 f; Weyreuiher, S. 67 ff, besonders S. 88; BVerwG NJW 89, S. 2277; a. A. Böß, S. 48 f; ObermayerJus 63, S. 113,115. 11

Ossenbühl, S. 263; Maurer (Allg. VerwR) § 29 Rdnr. 11; Schoch VerwArch 79, S. 52.

12

so BVerwG NJW 81, S. 239, 240; vgl. auch OVG Hamburg NJW 78, S.658 f; Ossenbühl, S. 263; Steinberg/Lubberger, S. 382. 13 vgl. hierzu Maurer (Allg. VerwR) 5 29 Rdnr. 9; Ossenbühl, S. 255; Steinberg/Lubberger, S. 383, 385; Papier in Müko § 839 BGB Rdnr, 75; Bender VB1BW 85, S, 202; Rupp JA 79, S, 510; Schoch VerwArch 79, S, 46 ff, BVerwGE 28, S, 155,165; BVerwGE 69, S, 366, 371.

I. Der Folgenbeseitigungsanspruch

159

würde, wenn das schädigende Ereignis nicht eingetreten wäre,14 so daß nicht nur der ursprüngliche Zustand wiederherzustellen ist, sondern auch Entwicklungen zu berücksichtigen sind, die ohne das schadensstiftende Ereignis zu verzeichnen gewesen wären. Es handelt sich beim Folgenbeseitigungsanspruch daher um einen verkürzten Anspruch auf Naturalrestitution, der auf die Herstellung des status quo ante begrenzt ist.15 Die Charakterisierung des Folgenbeseitigungsanspruches als verkürzten Restitutionsanspruch bedeutet nicht, daß die Rechtsfolge dieses Anspruchs niemals auf Geld gerichtet sein könnte, denn der durch den hoheitlichen Eingriff geschaffene rechtswidrige Zustand kann auch in einem finanziellen Verlust des Betroffenen bestehen; in diesem Falle kann auch im Rahmen des Folgenbeseitigungsanspruches Geldersatz gefordert werden.16 2. Erstreckung des Folgenbeseitigungsanspruches auf Eingriffe unmittelbar wirkende Parlamentsgesetze

durch

Zu prüfen bleibt nun, ob nur Eingriffe der vollziehenden Gewalt einen Folgenbeseitigungsanspruch auslösen können, oder ob auch Eingriffe in subjektive Rechte, die unmittelbar durch ein formelles Gesetz erfolgen und zu einem andauernden rechtswidrigen Zustand führen, Ansprüche auf Beseitigung der von dem fehleihaften Rechtsetzungsakt hervorgerufenen Folgen gewähren können. Bereits im Verlauf der Staatshaftungsreform ging man davon aus, daß der von der Rechtsprechung und Lehre allgemein anerkannte Folgenbeseititgungsanspruch grundsätzlich auch durch ein rechtswidriges Parlamentsgesetz ausgelöst werden kann; die Staatshaftungskommission hielt es jedoch vor allem unter Hinweis auf die bei einer Abwicklung von Masseschäden zu erwartenden verwaltungstechnischen Schwierigkeiten für sachgerecht, in dem von ihr vorgelegten Gesetzesentwurf Folgenbeseitigungsansprüche bei legislativem Unrecht abzuschließen und es dem Gesetzgeber zu überlasssen, solche Ansprüche im Einzelfall einzuführen. 17 Die Referentenentwürfe begründeten den Ausschluß von Folgenbeseitigungsansprüchen bei legislativem Unrecht mit der Gefährdung der Handlungsfreiheit des Gesetzgebers.18 Diese Bedenken sind jedoch, wie bereits im 1. Kapitel dieser Arbeit gezeigt, nicht stichhaltig. 14 vgl. etwa Steinberg/Lubberger, Ossenbühl, S. 255.

S. 383 f, Papier in Müko § 839 BGB Rdnr. 80, 54;

15 Ossenbühl, S. 255; Papier in Müko § 839 BGB Rdnr. 76; Bender (Staatshaftungsrecht), Rdnr. 221; Steinberg/Lubberger, S. 383 f; Schoch VerwArch 79, S. 45. 16

vgl. Ossenbühl S. 255; Steinberg/Lubberger,

17

Kommissionsentwurf,

18

Referentenentwürfe,

S. 385; BVerwGE 69, S. 366,371.

S. 98 f, S. 86 f; kritisch hierzu Dagtoglou VerwArch 65, S. 354. S. 99.

160

4. Kapitel: Weitere Haftungsinstitute bei legislativem Unrecht

Auch die Literatur hat sich mit dieser Problematik befaßt. Gegen die Gewährung eines Folgenbeseitigungsanspruches in den Fällen legislativen Unrechts wird zum Teil eingewendet, rechtswidrige Normen seien - anders als rechtswidrige Verwaltungsakte, die den Ausgangspunkt dieses Anspruches bildeten, - nichtig, so daß die betroffenen Bürger sie zu keinem Zeitpunkt als verbindlich hinnehmen müssen.19 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß auch ein rechtswidriges formelles Gesetz den Anschein der Gültigkeit besitzt, so daß die Betroffenen in der Regel nicht umhin können, das betreffende Gesetz bis zu seiner Verwerfung durch das Bundesverfassungsgericht zu befolgen. 20 Aufgrund des vorstehend erläuterten Inhalts des Folgenbeseitigungsanspruches und seiner verfassungsrechtlichen Fundierung im Rechtsstatsprinzip bzw. in den Grundrechten kann es keinen wesentlichen Unterschied bedeuten, ob ein rechtswidriger Zustand durch einen verwaltungsrechtlichen Einzelakt, der aufgrund eines Gesetzes erging, oder unmittelbar durch ein Gesetz hervorgerufen wurde.21 Dies ergibt sich auch aus folgender Überlegung: Der Folgenbeseitigungsanspruch hat, wie bereits dargelegt, seine Grundlage in den Grundrechten bzw. in dem durch die Grundrechte geprägten materialen Rechtsstaatsprinzip. Er bildet daher einen Unterfall des grundrechtlichen Schutzanspruches des Bürgers. Die Grundrechte gewähren dem Betroffenen zunächst einen Abwehranspruch gegen rechtswidrige Eingriffe der hoheitlichen Gewalt, der primär in einem Unterlassungsanspuch besteht22 Daneben umfaßt der Abwehranspruch, falls es zu einem rechtswidrigen Eingriff kommt, auch die Beseitigung des Verletzungsaktes selbst (sogenannter negatorischer Beseitigungsanspruch).23 Ein solcher Abwehranspruch ist auch bei grundrechtswidrigen Gesetzen gegeben und kann durch eine Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden. Der Folgenbeseitigungsanspruch tritt nun an die Stelle des grundrechtlichen Abwehrsanspruches, wenn eine vorbeugende Abwehr des Grundrechtseingriffs nicht mehr 19

Schenke DVBl 75, S. 124.

20

vgl. hierzu auch Herdegen (Haftung der EWG für fehlerhafte Rechtsetzungsakte), S. 64.

21

so auch Böß (Folgenbeseitigungsanspruch), S. 61 ff; Herdegen, S. 64, Haas (System der öffentlich-rechtlichen Entschädigungspflichten), S. 67; Schock M D R 68, S. 189; Rössiein (Folgenbeseitigungsanspruch), S. 38 f; vgl. auch Röhder MDR 70, S. 9 und Lerche (Übermaß und Verfassungsrecht), S. 169 ff, der aus seiner Ableitung des Folgenbeseitigung aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Erforderlichkeit folgert, daß sich der Anspruch auch auf nichtig erklärte Gesetze erstrecken muß, da es im Hinsicht auf den gesetzesbindenden Erforderlichkeitsgrundsatz keinen Unterschied macht, ob der rechtswidrige Zustand durch einen Verwaltungsakt aufgrund eines Gesetzes oder durch ein Gesetz selbst verursacht wurde; vgl. Fiedler/Fink DÖV 88, S. 317 ff, die darauf hinweisen, daß die Literatur bestrebt ist, den Folgenbeseitigungsanspruch auf alle Bereiche hoheitlichen Handelns auszudehnen. 22 Ossenbühl, S. 245, 246, 254; Maurer FS für Dürig, S. 314; ders. (Allg. VerwR) § 29, S. 9; Laubinger VerwArch 80, S. 261 ff, 299 ff; Müller (Beseitigungsund Unterlassungsansprüche), S. 58 ff; Schoch VerwArch 79, S. 46 f. 23 Ossenbühl, S. 245, 246; Maurer FS für Dürig, S. 314; Schoch VerwArch 79, S. 46 f; Müller, S. 60, S. 159 ff; vgl. auch Rupp DVBl 58, S. 118.

I. Der Folgenbeseitigungsanspruch

161

möglich ist, und wenn die Beseitigung des Verletzungsaktes nicht ausreicht, um den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen.24 Da der Folgenbeseitigungsanspruch derart eng mit dem grundrechtlichen Abwehranspruch, der auch bei grundrechtswidrigen Gesetzen eingreift, verknüpft ist, würde es eine systemwidrige und nicht sachgerechte Differenzierung bedeuten, wenn der Folgenbeseitigungsanspruch nicht auch auf grundrechtswidrige Gesetze erstreckt würde. Da nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Ansprüche wegen Verletzungen des unmittelbaren Gemeinschaftsrechts nicht ungünstiger ausgestaltet sein dürfen als Ansprüche, die ausschließlich auf der Verletzung von nationalem Recht basieren,25 bedeutet dies zugleich, daß ein Folgenbeseitigungsanspruch nicht nur bei einem Verstoß gegen die im Grundgesetz niedergelegten Grundrechte, sondern auch bei einer Verletzung von subjektiven öffentlichen Rechten des Vorrang beanspruchenden unmittelbar wirksamen Europäischen Gemeinschaftsrechts zu gewähren ist. Bei Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention sieht Art. 53 EMRK vor, daß sich die Vertragsstaaten nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu richten haben, dies bedeutet mit anderen Worten, daß sie die rechtswidrigen Folgen einer vom Gerichtshof festgestellten Konventionsverletzung zu bereinigen haben. Der Folgenbeseitigungsanspruch erstreckt sich nicht nur auf den Erlaß von rechtswidrigen Gesetzen, sondern greift auch bei einem pflichtwidrigen Unterlassen des Gesetzgebers trotz bestehender Rechtspflicht ein.26 Wie bereits bei der Erörterung der Frage, ob der Amtshaftungsanspruch des Art 34 GG i. V.m. § 839 BGB eine geeignete Grundlage für eine Haftung bei legislativem Unrecht darstellt, ausgeführt wurde,27 stellt ein gesetzgeberisches Unterlassen trotz Bestehens einer evidenten grundrechtlichen Schutz- und Handlungspflicht eine Grundrechtsverletzung dar, die einen Abwehranspruch begründet.28 Gleiches muß für den Folgenbeseitigungsanspruch gelten, der bei eingetretener Verletzung eines subjektiven öffentlichen Rechtes an die Stelle des grundrechtlichen Abwehranspruches tritt. 24 Maurer FS für Dürig, S. 314 f; ders. (Allg. VerwR), § 29 Rdnr. 9; Schoch VerwArch 79, S. 47; Weyreuther (Gutachten), S. 85; Ossenbühl (Staatshaftungsrecht), S. 246, 255; vgl. auch Redeker DÖV 87, S. 196 ff. 25 EuGH ZIP 91, S. 1614; EuGHE 76, S. 1998 f; EuGHE 76, S. 2053; EuGHE 80, S. 501 ff, 522 ff; EuGHE 80, S. 1205,1226; EuGHE 80, S. 2259,2574. 26 vgl. hierzu Kreßel (öffentliches Haftungsrecht), S. 79 ff; Böß (Folgenbeseitigungsanspruch), S. 63 ff, S. 67 ff; Maaß V R 85, S. 71, 73; ders. BayVBl 87, S. 525 ff; Wallerath DÖV 87, S. 513; Schleeh AöR 92, S. 96; Bachof JZ 66, S. 643; Rüfher DVBl 67, S. 188; Scholler DVBl 68, S. 414; Haueisen DVBl 73, S. 741; BVerwGE 69, S. 366, 367, 371; a. A. Maurer (Allg. VerwR) § 29 Rdnr. 7 a; Bender VB1BW 85, S. 201, 202; Papier DÖV 72, S. 851; Rösslein (Folgenbeseitigungsanspruch), S. 85 ff; OVG Koblenz DVBl 64, S. 773; wohl auch Ossenbühl, S. 260 ff; Steinberg/Lubberger, S. 379 ff. 27

vgl. hierzu Kapitel 2.

28

vgl. hierzu auch Kreßel, S. 37 ff.

11 Fetzer

162

4. Kapitel: Weitere Haftungsinstitute bei legislativem Unrecht

Für den betroffenen Bürger macht es keinen Unterschied, ob ein subjektives öffentliches Recht durch ein rechtswidriges aktives Tun oder durch ein rechtswidriges Unterlassen beeinträchtigt wurde. Als Beispiel mag hier das Waldsterben dienen: Der betroffene Waldbesitzer wäre durch den rechtswidrigen NichterlaB von schützenden Vorschriften, der zur Folge hat, daß die vorhandenen Bäume absteiben, genauso geschädigt wie durch den Erlaß eines rechtswidrigen Gesetzes, das ihm aufgibt, seine Bäume aus irgendwelchen Gründen zu beseitigen. Beides Mal ist der Gesetzgeber daher verpflichtet, durch eine Aufforstung den ursprünglichen Zustand wiedelherzustellen.29 3. Umfang des Folgenbeseitigungsanspruches Der Umfang des Folgenbeseitigungsanspruches ist in mehrfacher Hinsicht begrenzt. Anders als im Schadensersatzrecht sind beim Folgenbeseitigungsanspruch nicht alle Folgen, die durch den hoheitlichen Eingriff hervorgerufen wurden, Gegenstand des Anspruches ,30 Es besteht vielmehr Einigkeit darüber, daß vom Folgenbeseitigungsanspruch nur die durch den hoheitlichen Eingriff hervorgerufenen unmittelbaren Folgen erfaßt werden.31 In der Rechtsprechung wurde die Begrenzung des Folgenbeseitigungsanspruches auf die Beseitigung der unmittelbar verursachten Folgen im Hinblick auf Beeinträchtigungen, die erst durch ein dazwischentretendes Handeln des Betroffenen verursacht wurden, aktuell.32 Aus dem Inhalt des Folgenbeseitigungsanspruches als verkürzter Restitutionsanspruch ergeben sich weitere strukturelle Grenzen. Der Folgenbeseitigungsanspruch setzt nämlich voraus, daß die Wiederherstellung des früheren Zustandes tatsächlich möglich, rechtlich zulässig und für die staatlichen Stellen zumutbar ist.33 Die beiden ersten Einschränkungen ergeben sich zwangsläufig aus dem Inhalt des Folgenbeseitigungsanspruches, denn wenn der ursprüngliche Zustand aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht wiederhergestellt werden kann, ist eine Folgenbeseitigung sinnlos. Gegen die Zumutbarkeit der Wiederherstellung als Begrenzung des Folgenbeseitigungsanspruches wurden 29

Kreßel, S. 81.

30

vgl. etwa Ossenbühl, S. 255; Papier in Müko § 839 BGB Rdnr. 80; a. A. Böß, S. 98.

31

Steinberg/Lubberger, S. 388; Rupp JA 79, S. 510; Ossenbühl, S. 255; Rössiein, S. 87; Papier in Müko § 839 BGB Rdnr. 80; Bender (Staatshaftungsrecht) Rdnr. 273; Schoch VerwArch 79, S. 49 f; Böß, S. 98; BVerwGE 53, S. 12, 22; BVerwGE 69, S. 366, 372; kritisch hierzu Fiedler N V w Z 86, S. 975; Luhmann (Entschädigung), S. 99 f; Schoch VerwArch 79, S. 50. 32 BVerwGE 69, S. 366, 373; VGH Mannheim VB1BW 87, S. 468, 469; vgl. auch Broß VerwArch 76, S. 219. 33 vgl. etwa Maurer (Allg. VerwR) § 839 BGB Rdnr. 10; Ossenbühl, S. 266 ff; Steinberg/Lubberger, S. 389 ff; Schoch VerwArch 79, S. 50 ff; Böß, S. 102 ff; VGH BaWü VB1BW 83, S. 141.

I. Der Folgenbeseitigungsanspruch

163

in der Literatur jedoch Bedenken erhoben.34 Die Zumutbarkeit der Wiederherstelllung hat jedoch bei einem Anspruch, der nicht auf Geldersatz begrenzt ist, sondern eine, wenn auch verkürzte Naturalrestitution gewährt, durchaus ihre Berechtigung. Dies zeigt ein Blick auf die zivilrechtliche Bestimmung des §251 Abs. 2 BGB, die dem Schädiger die Möglichkeit gibt, den Geschädigten mit Geld abzufinden, falls die von § 249 BGB angeordnete Naturalrestitution nur unter unveihältnismäßigen Aufwendungen möglich ist. Allerdings sollte angesichts der verfassungsrechtlichen Verankerung des Folgenbeseitigungsanspruches und des Schutzbedürfnisses des Betroffenen die Zumutbarkeitsgrenze restriktiv gehandhabt werden.35 Eine weitere Begrenzung des Folgenbeseitigungsanspruches ergibt sich schließlich auch daraus, daß nach hM auch beim Folgenbeseitigungsanspruch ein mitwirkendes Verschulden des Betroffenen (zum Beispiel ein schuldhaftes Versäumen von Rechtsmitteln) unter Anwendung des § 254 BGB in Ansatz zu bringen ist.36 Bei legislativem Unrecht ist hier an eine schuldhafte Nichteinlegung einer Verfassungsbeschwerde zu denken. Da die Wiederherstellung des früheren Zustandes oft nicht nach der entsprechenden Verschuldensquote teilbar ist, ergeben sich hier Probleme bei der Schadensverteilung. Die Rechtsprechung stellte sich hier ursprünglich auf den Standpunkt, der Folgenbeseitigungsanspruch entfalle bei einer ins Gewicht fallenden Mitverantwortlichkeit des Betroffenen ganz.37 Der Betroffene wurde hier auf die verbleibenden Entschädigungsansprüche verwiesen. In neuerer Zeit hat das Bundesverwaltungsgericht jedoch seine Auffassung modifiziert. Ein gänzlicher Ausschluß des Anspruches auf Folgenbeseitigung soll bei überwiegender Mitverantwortung des Betroffenen nur dann in Betracht kommen, wenn sich die Verwirklichung des Anspruches als unzulässige Rechtsausübung darstellt.38 Im übrigen bejaht das Bundesverwaltungsgericht nunmehr eine Teilbarkeit des Schadens und gewährt dem Geschädigten statt einer Wiederherstellung einen Anspruch auf Geldersatz, dessen Höhe durch die Quote des Mitverschuldens bestimmt wird. 39 In dogmatischer Hinsicht wäre es jedoch zu begrüßen, wenn sich der Folgenbeseitigungsanspruch trotz der Anwendbarkeit von § 254 BGB nicht von seiner Natur als Restituti34

Führen V R 86, S.5,8; Fiedler NVwZ 86, S. 969,976; Schoch VerwArch 79, S. 51.

35

vgl. auch Steinberg/Lubberger,

S. 390.

36

Ossenbühl, S. 271; Steinberg/Lubberger aO, S. 390; Führen VR 86, S. 9; Böß% S. 121 ff; Redeker DÖV 87, S. 200; Hoffmann-Becking Jus 72, S. 509, 514; Weyreuther, S. 98; Erichsen VerwArch 72, S. 217 ff, 223; Bachof DÖV 71, 861; BVerwG DÖV 71, S. 857, 858, 859; BVerwG NJW 89, S. 2484; a. A. Rupp JA 79, S. 511; Schoch VerwArch 79, S. 54. 37 BVerwG DÖV 71, S. 859; Kritisch hierzu Rupp JA 79, S. 510 f; ders. DVBl 72, S. 233; Erichsen VerwArch 63, S. 223 ff; Fiedler NVwZ 86, S. 965; Schenke Jus 90, S. 373 ff. 38

BVerwG NJW 89, S. 2484, 2485.

39

BVerwG NJW 89, S. 2484, 2485; vgl. hierzu auch Rupp JA 79, S. 511.

164

4. Kapitel: Weitere Haftungsinstitute bei legislativem Unrecht

onsanspruch entfernt Es bietet sich hier die Möglichkeit an, bei einem Mitverschulden des Betroffenen diesem zwar einen Anspruch auf Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes zu gewähren, ihm aber gleichzeitig aufzugeben, sich an den Kosten der Wiederherstellung entsprechend dem Maße seines Mitverschuldens zu beteiligen.40 Diese Regelung könnte auch bei einem überwiegenden Verschulden des Betroffenen Anwendung finden. Im Ergebnis bleibt somit festzuhalten, daß der von der Rechtsprechung und Lehre entwickelte Folgenbeseitigungsanspruch auch als Grundlage für eine Haftung bei legislativem Unrecht in Betracht kommt, hierbei aber den von Rechtsprechung und Lehre entwickelten inhaltlichen Beschränkungen unterliegt II· Gefahrdungshaftung Neben den herkömmlichen Schadensersatz- und Entschädigungsansprüchen wird bei Schädigungen durch legislatives Unrecht zum Teil auch die Zubilligung einer öffentlich-rechtlichen Gefährdungshaftung erwogen.41 Zur Begründung für die Gewährung eines solchen Anspruches wird ausgeführt, daß die Lebenssachverhalte in heutiger Zeit so vielschichtig ausgestaltet seien, daß Gesetze im Einzelfall so unglückliche Auswirkungen hervorrufen könnten, die keine der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen beabsichtigt oder für möglich gehalten habe.42 Diese Auffassung begegnet jedoch mehreren Bedenken. Einmal davon abgesehen, daß sich die Anerkennung einer öffentlich-rechtlichen Gefährdungshaftung in Rechtsprechung43 und Literatur 44 bisher nicht durchzusetzen vermochte, 40

vgl. hierzu § 3 Abs. 3 1. Halbsatz der Referentenentwürfe

und Rupp JA 79, S. 511.

41

Mondry (Gefährdungshaftung), S. 166; auch das LG Freiburg (MDR 53, S. 564) erwägt im KGrundsatz die Anwendung einer öffentlich-rechtlichen Gefahrdungshaftung bei legislativem Unrecht 42

Mondry, S. 166.

43

Der BGH hat mehrfach die Einfuhrung einer öffentlich-rechtlichen Gefahrdungshaftung dezidiert abgelehnt: BGHZ 54, S. 332,336 f; BGHZ 55, S. 229,232 f; BGH VersR 72, S. 1047. 44 Gegen die Einfuhrung einer öffentlich-rechtlichen Gefahrdungshaftung haben sich ausgesprochen: Bettermann DÖV 54, S. 299 ff, 303; Rinck (Gefährdungshaftung), S. 13; Schock DÖV 61, S. 728 ff; Weimar JR 58, S. 96; ders. DÖV 63, S. 607; Jansen NJW 62, s. 939 ff, 945; Bull DÖV 71, S. 306; Jaenicke W D S t R L 20, S. 135 ff, 137 ff; Leisner W D S t R L 20, S. 185 ff, 221 ff; Salzwedel AöR 87, S. 96 f; Kimminich Jus 69, S. 351; WoljflBachof (Verwaltungsrecht Bd I), 5 66 Π a; Mayer/Kopp (Allg. VerwR), S. 488; Olivet NVwZ 86, S. 439; Ossenbühl, S. 312 ff. Für die Einfuhrung einer öffentlichen Gefahrdungshaftung haben sich ausgesprochen: Forsthoff (Verwaltungsrecht), § 19 I; Zeidler DVBl 59, S. 681, 685 ff; Henke W D S t R L 20, S. 178 f; Mondry, S. 41 ff; Riedel (öffentlich-rechtliche Gefährdungshaftung); Weimar NJW 76, S. 2336; Obermayer (Verwaltungsrecht), S. 163; Popper DVBl 77, S. 509, 513; vgl. auch Maurer (Allg. VerwR) § 29 Rdnr. 19.

III. Entschädigung nach Art 50 EMRK

setzt eine Gefährdungshaftung eine besondere Gefahrenlage voraus.45

165

als Haftgrund

Eine Gefährdungshaftung für legislatives Unrecht würde daher nicht schon dann eingreifen, wenn durch ein Gesetz unvorhergesehene Auswirkungen hervorgerufen werden, sondern würde voraussetzen, daß die Gesetzgebung eine gefährliche Tätigkeit darstellt Die Ausübung der Legislativtätigkeit ist in einem demokratischen Rechtsstaat aber nicht per se mit der Schaffung einer außergewöhnlichen Gefahrenlage verbunden.46 Zudem besteht, falls im Einzelfall doch einmal eine besondere Gefahrenlage durch die Tätigkeit der Gesetzgebungsorgane heraufbeschworen worden sein sollte, kein Bedürfnis für eineöffentlich-rechtliche Gefährdungshaftung, da bereits die Amtshaftung und die Haftung für Grundrechtsverletzungen (bisher: enteignungsgleicher Eingrif freine ausreichende Haftungsgrundlage für solche außergewöhnliche Schäden bieten.4« ΠΙ. Entschädigung nach Art· 50 EMRK bei Konventionsverletzungen 7. Anwendbarkeit des Art. 50 EMRK auf legislative Akte Nach Art. 50 EMRK besitzt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Möglichkeit, bei Verletzungen der durch die Europäische Menschenrechskonvention (EMRK) garantierten Rechte der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zuzubilligen, wenn er eine Entscheidung oder Maßnahme eines Vertragsstaates für konventionswidrig erklärt und dessen innerstaatliche Rechtsordnung nur eine unvollkommene Wiedergutmachung gestattet 49 Art SO EMRK statuiert zunächst eine konventionsrechtliche und damit völkerrechtliche Entschädigungspflichtig die vom Europäischen Gerichtshof zuzusprechen ist und nach Art 53 EMRK von den Vertragsstaaten zu erfüllen 45 Ossenbühl, S. 309, 313; Weber Diss. S. 94; Olivet NVwZ 86, S. 439; Maurer (Allg. VerwR) § 29 Rdnr. 17; Jaenicke W D S t R L 20, S. 135, 136; Dilcher AcP 163, S. 212; Fosthoff, S. 361; Obermayer, S. 164. 46 Weber Diss. S. 94; ahnlich auch Dagtoglou (Ersatzpflicht), S. 29; Jaenicke W D S t R L 20, S. 181 ; Leisener W D S t R l 20, S. 224,243; Salzwedel AöR 87, S. 96; Dilcher AcP 163, S. 212. 47

vgl. hierzu die Ausführungen im Kapitel 3.

48

vgl. hierzu Weber Diss. S. 95; Mayer/Kopp,

S. 488; Ossenbühl, S. 313 f.

49

Es ist streitig, ob diese Bestimmung nur eine Kompetenznorm darstellt, die dem Gerichtshof die Befugnis gibt, den aus den in der Konvention niedergelegten Grundrechten folgenden Entschädigungsanspruch zu erfüllen (so Moller NJW 67, S. 2341; GHflfR EuGRZ 74, S. 28) oder ob sie die eigentliche Entschädigungsnorm darstellt (so wohl Weber Diss., S. 100 ff; Steinberg/Lubberger, S. 407). 50

Frowein Jus 86, S. 850; Weber Diss., S. 101 ; Moller NJW 67, S. 2340 ff.

166

4. Kapitel : Weitere Haftungsinstitute bei legislativem Unrecht

ist. Da die Europäische Menschenrechtskonvention aber auch Bestandteil der deutschen Rechtsordnung geworden ist,51 führt der Ausspruch einer Entschädigung nach Art. 50 EMRK zudem zu einer innerstaatlichen Ersatzpflicht des Staates.52 Dies hat zur Folge, daß der Betroffene die festgesetzte Entschädigung im Nichtzahlungsfall nach § 40 Abs. 2 VwGO einklagen kann.53 Die in Art. 50 EMRK vorausgesetzte Konventionsverletzung kann auch durch einen Gesetzgebungsakt erfolgen. 54 Legislative Akte dürften sogar die häufigste Form der Konventionsverletzung darstellen. Im Rahmen des Art. 50 EMRK muß allerdings hier strikt zwischen der völkerrechtlichen Entschädigungspflicht und der innerstaatlichen Ersatzpflicht unterschieden werden. Während der deutsche Gestzgeber wie alle anderen innerstaatlichen Organe ohne weiteres in völkerrechtlicher Hinsicht an die Konventionsrechte gebunden ist 55 und sich bei ihrer Verletzung einer völkerrechtlichen Entschädigungspflicht nach Art 50 EMRK aussetzt, haftet er nach innerstaatlichem Recht nur dann nach Art. 50 EMRK, wenn die Konventionsrechte auch innerhalb der deutschen Rechtsordnung gesetzesfestes Recht darstellen, das vom Gesetzgeber uneingeschränkt zu beachten ist Dies ist, wie bereits früher erläutert, 56 nur insoweit der Fall, als einzelne Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention allgemeine Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG enthalten und damit den deutschen Gesetzen vorgehen.57 Der innerstaatlichen Entschädigung nach Art. 50 EMRK kommt daher im Bereich des legislativen Unrechts keine große Bedeutung zu. Auch die völkerrechtliche Entschädigungspflicht erfährt eine starke Beschränkung, da die Europäische Menschenrechtskonvention weder ein allgemeines Freiheitsrecht noch eine Garantie der Berufs- und Gewerbefreiheit beinhaltet58 Diese Einschränkung im Anwendungsbereich der Europäischen Menschenrechtskonvention wird aber dadurch gemildert, daß mit einer Konventions51

vgl. Zustimmungsgestz v. 7.8.1952 (BGBl II, S. 685).

52

Frowein Jus 86, S. 850; Moller NJW 67, S. 2342; vgl. auch Weber Diss., S. 101.

53

Frowein Jus 86, S. 850.

54 Moller NJW 67, S. 2339 ff; Weber, S. 101; Frowein Jus 86, S. 850; Guradze (Europäische Menschenrechtskonvention), Art. 50 Anm. 3; Menzel FS für Guggenheim, S. 580; GHfMR Yearbook Π (1958/59), s. 215, 235; Yearbook I I (1958/59), S. 182 ff, 184 ff; Yearbook I I I (1960), S. 214 ff, 220,221; Yearbook I V (1961); S. 270, 276,277; Yearbook V I (1963), S. 278, 324,325. 55 vgl. etwa Frowein Jus 86, S. 847; Moller NJW 67, S. 2339 ff; Menzel FS für Guggenheim, S. 580; Weber, S. 101; GHfMR Yearbook II, S. 215,234,235; Yearbook III, S. 220, 221; Yearbook IV, S. 270,276, 277. 56

siehe die Ausführungen in Kapitel 2.

57

vgl. hierzu Dürig in M/D/H/S GG-Kom. Art 1 Rdnr. 57 FN 5; Weber, S. 106; Stern (Staatsrecht UI/1), S. 278; Menzel FS für Guggenheim, S. 582; Oppermann (Europarecht), Rdnr. 69; von Münch GG-Kom. Art 25 Rdnr. 23; von Stacklenberg NJW 60, S. 1265 ff; BayVGH BayVBl 63, S. 351; BayVGH BayVBl 66, S. 57. 58

Moüer NJW 67, S. 2342 m. w. N.

167

ΠΙ. Entschädigung nach Art 50 EMRK

Verletzung in der Regel eine Verletzung der im Grundgesetz niedergelegten Grundrechte einhergeht, für die nach den Regeln der Amtshaftung 59 und der aus der Rechtsfigur des enteignungsgleichen Eingriffs entwickelten Grundrechtshaftung 60 Wiedergutmachung zu leisten ist. 2. Die materiellen Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Entschädigungsanspruchs aus Art. 50 EMRK Voraussetzung für einen völkerrechtlichen oder innerstaatlichen Entschädigungsanspruch aus Art. SO EMRK ist zunächst das Vorliegen einer Konventionsverletzung, die entweder durch ein positives Tun oder durch ein pflichtwidriges Unterlassen erfolgen kann.61 Verpflichtungen zum Handeln ergeben sich genau wie im deutschen Verfassungsrecht direkt aus den in der Konvention niedergelegten Grundrechten, so zum Beispiel aus Art 2, Art 5 Abs. 1 und Art. 11 EMRK. 62 Neben dem Vorliegen einer Konventionsverletzung ist der Nachweis eines kausalen Schadens unabdingbare Voraussetzung für eine Ersatzpflicht nach Art. 50 EMRK.63 Die Feststellung eines durch eine Konventionsverletzung hervorgerufenen Schadens führt aber nicht automatisch zu der Zubilligung einer gerechten Entschädigung, denn nach dem Wortlaut des Art. 50 EMRK hat der Europäische Gerichtshof nur "gegebenenfalls" eine Entschädigung zuzubilligen, so daß die Entscheidung über die Gewährung einer gerechten Entschädigung im billigen Ermessen des Gerichtshofes steht.64 Bei der Ausübung seines Ermessens berücksichtigt der Gerichtshof zum einen den dem Betroffenen nachweisbar entstandenen Schaden und zum anderen die dem Betroffenen entstandenen Verfahrenskosten. 65 Ersatzfähig sind nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs sowohl materielle Schäden als auch immaterielle Schäden.66 Außer den genannten Tatbestandsvoraussetzungen scheint eine Entschädigung nach Art. 50 EMRK nach seinem Wortlaut weiter vorauszusetzen, daß die 59

vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 2.

60

vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 3.

61

Frowein/Peukert Jus 86, S. 847. 62

GHflfR 63

Kom. zur EMRK Art. 50 Rdnr. 4; Steinberg/Lubberger,

S. 407; Frowein

Frowein Jus 86, S. 847; GHflfR EuGRZ 74, S. 454; GHflfR EuGRZ 81, S. 559 ff; EuGRZ 85, S. 297 ff; zweifelnd Bleckmann (Staatsrecht Π), S. 42. Frowein/Peukert

Kom. zur EMRK Art. 50 Rdnr. 6; Steinberg/Lubberger,

64

Frowein/Peukert Kom. zur EMRK Art. 50 Rdnr. 4; Steinberg/Lubberger, EuGRZ 81, S. 209,211 ; a. A. Moller NJW 67, S. 2340. 65

Frowein/Peukert,

66

Steinberg/Lubberger,

Art 50 Rdnr. 4; Steinberg/Lubberger, S. 408; Frowein/Peukert,

S. 408 f. S. 407; GHflfR

S. 407.

Rdnr. 5; GHflfR

EuGRZ 74, S. 27 ff.

168

4. Kapitel: Weitere Hafungsinstitute bei legislativem Unrecht

innerstaatlichen Gesetze nur eine unvollkommene Entschädigung vorsehen.*7 Der Europäische Gerichtshof billigte jedoch eine Entschädigung nach Art 50 EMRK auch dann zu, wenn nach innerstaatlichem Recht eine vollständige Wiedergutmachung vorgesehen, diese bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtshofs jedoch noch nicht gewährt worden war. 68 Als Rechtsfolge ordnet Art 50 EMRK die Zubilligung einer gerechten Entschädigung an. Diesescheint hinter der vollen Naturalrestitution zurückzubleiben. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist hier aber bei materiellen Schaden voller Schadensersatz zu leisten.69 In erster Linie ist der entstandene Schaden durch Naturalrestitution abzugleichen,70 falls diese nicht möglich ist, kommt Schadensersatz in Geld in Betracht,71 wobei auch Erwerbs- 72 sowie Nutzungs- und Gewinnausfälle 73 zu ersetzen sind. Bei immateriellen Schäden ist eine Genugtuung in Geld zu leisten.74 Eine Entschädigung nach Art 50 EMRK kann daher auch bei legislativem Unrecht in Betracht kommen. Dieser Vorschrift kommt allerdings aufgrund ihres subsidiären Charakters nur dann eine gewisse Bedeutung zu, wenn man dem Betroffenen nicht bereits nach den Regeln der Amtshaftung und der Grundrechtshaftung Schadensersatz zubilligt. IV. Entschädigung nach Art 5 Abs. 5 EMRK Diese Vorschrift begründet einen Schadensersatzanspruch bei einer gegen Art. 5 EMRK verstoßenden Freiheitsentziehung. Da eine Freiheitsentziehung aber schon rein begrifflich nur durch einen Vollzugsakt (Verhaftung, Unterbringung) und nicht unmittelbar durch ein Gesetz selbst erfolgen kann, kann Art. 5 Abs. 5 EMRK nicht als Anspruchsgrundlage bei legislativem Unrecht dienen.75

* 68

so WeberOìss., S. 101. vgl. hierzu Steinberg/Lubberger,

S. 407; Frowein/Peukert,

Art 50 Rdnr. 3.

69

siehe hierzu Moller NJW 67, S. 2340; Frowein/Peukert, Rdnr. 10 f, 12 ff; wohl auch Weber, S. 101; Steinberg/Lubberger, S. 408; GHflfR EuGRZ 74, S. 31. 7 0

Moller NJW 67, S. 2340.

71

Moller NJW 67, S. 2340.

72

so GHflfR

73

Moller NJW 67, S. 2340; Steinberg/Lubberger,

EuGRZ 84, S. 158 ff; Steinberg/Lubberger,

74

Moller NJW 67, S. 2340.

75

so auch Weber, S. 109.

S. 408; Frowein/Peukert,

S. 408 ; Frowein/Peukert,

Rdnr. 11.

Rdnr. 11.

V. Schadensersatz

169

V· Schadensersatz aufgrund eines Grundsatzes des ungeschriebenen Europäischen Gemeinschaftsrechts Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat mit seinem bahnbrechenden Urteil vom 19.11.1991,76 in dem die Frage einer Staatshaftung der EGMitgliedstaaten für die Nichtumsetzung einer EG-Richtlinie aufgeworfen worden war, festgestellt, "daß es ein Grundsatz des Gemeinschaftsrechts ist, daß die Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden verpflichtet sind, die den einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, die diesen Staaten zuzurechnen sind".77 Bezüglich der einzelnen Modalitäten dieser Haftung verweist der Gerichtshof auf die Schadensersatzbestimmungen der nationalen Rechtsordnungen.78 Da es sich hierbei jedoch um eine gemeinschaftsrechtliche Haftungsbestimmung handelt, hat der Gerichtshof zugleich aber auch aus dem Gemeinschaftsrecht bestimmte Haftungsvoraussetzungen entnommen. Er hat hieibei die Haftungsvoraussetzungen nicht generell beschrieben, sondern klargestellt, daß die Voraussetzungen, unter denen das Gemeinschaftsrecht einen Schadensersatzanspruch eröffnet, von der Art des Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht abhängen.79 Lediglich für den von ihm zu entscheidenden Fall, daß ein Mitgliedstaat gegen die ihm nach Art. 189 Abs. 3 EWGV obliegende Pflicht zur Umsetzung einer EG-Richtlinie nicht nachkommt, hat der Gerichtshof die gemeinschaftsrechtlichen Haftungsvoraussetzungen näher konkretisiert und ausgeführt, daß die Gewährung eines Entschädigungsanspruches in diesem Fall voraussetzt, daß die betreffende Richtlinie dem einzelnen bestimmte Rechte verleiht, deren Inhalt sich auf der Grundlage der Richtlinie bestimmen läßt, und daß ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Verstoß gegen die dem Mitgliedstaat obliegende Umsetzungspflicht und dem eingetretenen Schaden besteht.80 Was die weiteren Haftungsvoraussetzungen betrifft, so richten sich diese nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten, allerdings dürfen die Voraussetzungen nicht ungünstiger gestaltet sein als bei Klagen, die ausschließlich nationales Recht betreffen, und dürfen zudem nicht so ausgestaltet sein, daß sie die Erlangung einer Entschädigung praktisch unmöglich machen oder unzumutbar erschweren.81 Die vom Europäischen Gerichtshof konstituierte Entschädigungsverpflichtung findet gerade auch in den Fällen legislativen Unrechts Anwendung, denn 76

ZIP 91, S. 1610.

77

ZIP 91, S. 1613.

78 ZIP 91, S. 1614; vgl. auch Meier, Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 19.11.91, RIW/AWD 92, S. 246; Hailbrormer TL 92, S. 289. 79

EuGHZlP9\

80

EuGHZlP91> S. 1614.

81

EuGHZlP9l,

%

S. 1613. S. 1614.

170

4. Kapitel: Weitere Haftungsinstitute bei legislativem Unrecht

die Umsetzung einer EG-Richtlinie erfolgt entweder durch den Erlaß einer Rechtsverordnung oder durch den Erlaß eines formellen Gesetzes. Im Falle der Nichtumsetzung einer EG-Richtlinie ist daher auch dem Gesetzgeber des betreffenden Mitgliedstaates ein Verstoß gegen das Europäische Gemeinschaftsrecht vorzuwerfen. 82 Es bleibt abzuwarten, ob der Gerichtshof die Ersatzpflicht der EG-Mitgliedstaaten auch auf alle anderen Fälle der Verletzung von unmittelbar wirksamen Gemeinschaftsrecht ausdehnt. Die allgemeinen Ausführungen im Urteil vom 19.11.91 lassen aber darauf schließen, daß der Gerichtshof seine Rechtsprechung auf andere Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht ausdehnt,83 so daß die Haftung der EG-Mitgliedstaaten für legislative Verstöße gegen das Recht der Europäischen Gemeinschaften eine größere Bedeutung erlangen könnte. Eine solche Entwicklung ist zu begrüßen, denn die EG-Mitgliedstaaten werden aufgrund einer solchen Haftungsregelung eher bestrebt sein, das Recht der Europäischen Gemeinschaften ordnungsgemäß in den Mitgliedstaaten umzusetzen und so der angestiebten Rechtsvereinheitlichung im europäischen Raum Vorschub zu leisten. Nach wie vor finden viele Regelungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts nicht die ihnen gebührende Beachtung in den einzelnen Mitgliedstaaten. Die Rechtsituation der einzelnen EG-Bürger würde sich durch eine Haftung der EG-Mitgliedstaaten für legislatives Unrecht um ein Vielfaches verbessert, da er bei legislativen Verstößen eines Mitgliedstaates beim Europäischen Gerichtshof eine entsprechende Entschädigung einklagen könnte. Eine solche Entwicklung im Europäischen Gemeinschaftsrecht kann darüberhinaus nicht ohne Auswirkung auf das nationale Recht bleiben, da sich das Europäische Gemeinschaftsrecht immer stärker mit dem nationalen Recht verknüpft

82 83

vgl. hierzu auch TriantqfyUou

DÖV 92, S. 564, 565.

so auch Meier, RIW/AWD 92, S. 246; Fischer EuZW 92, S. 43; Hailbronner TL 92, S. 289; Pieper IWB Nr. 7 vom 10. 4. 92, Fach 5 Europäische Gemeinschaften, Gruppe 1, S. 56; Triantafyllou DÖV 92, S. 566.

. Kapitel

Die Haftung der Europäischen Gemeinschaften für normatives Unrecht L Einfuhrung

Wurde bislang die Frage gestellt, inwieweit die Bundesrepublik Deutschland bei einem Verstoß ihrer Gesetzgebungsorgane gegen vom deutschen Gesetzgeber zu beachtende höherrangige oder vorrangige Bestimmungen, zu denen neben den Bestimmungen des Grundgesetzes auch das unmittelbar geltende Recht der Europäischen Gemeinschaften und die Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention gehören,1 haftet, soll nun untersucht werden, inwieweit die Europäischen Gemeinschaften zur Haftung herangezogen werde können, wenn ihre Rechtsetzungsorgane durch eine rechswidrige Ausübung der ihnen eingeräumten Befugnisse die Bürger der einzelnen Mitgliedstaaten in ihren Rechtspositionen beeinträchtigen und hierdurch einen unmittelbaren Schaden verursachen. Im Zeitalter der Europäischen Integration ist die Staatshaftung für normatives bzw. legislatives Unrecht nicht mehr auf den nationalen Bereich beschränkt, sondern hat eine supranationale Dimension erreicht. Durch die Errichtung der Europäischen Gemeinschaften - Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) - sind selbständige, von der nationalen Gesetzgebung unabhängige Rechtspersönlichkeiten begründet worden, die mit originärer supranationaler öffentlicher Gewalt sowie mit eigenen Organen und einer eigenen Rechtsordnung ausgestattet sind.2 Die drei Europäischen Gemeinschaften sind in ihren Organen vereinheitlicht worden, so daß sie faktisch zu einer weitgehenden Einheit zusammengewachsen sind. In vielen offiziellen Dokumenten wird daher nur noch der Singularbegriff "Europäische Gemeinschaft" (EG) verwendet Die Organe der Europäischen Gemeinschaften werden im Rahmen ihrer hoheitlichen Gewalt auf den Gebieten, die ihnen die Grün1 2

vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 2.

vgl. hierzu etwa Ossenbühl (Staatshaftungsrecht), S. 410; Much in Mosler. Haftung des Staates für rechtswidriges Verhalten seiner Organe, S. 724; Nicolaysen (Europarecht I), S. 30; Oppermann (Europarecht), Rdnr. 525.

172

5. Kapitel: Haftung der Europäischen Gemeinschaften

dungsverträge zur Erledigung zugewiesen haben, in Form der Rechtsetzung, Rechtsprechung und Verwaltung mit unmittelbarer Verbindlichkeit 3 für die Mitgliedstaaten und die einzelnen Staatsbürger tätig. Damit steht der einzelne Staatsbürger einer weiteren Hoheitsgewalt gegenüber, die ihm durch die Beeinträchtigung von Rechtspositionen Schäden zufügen kann. Die EG-Organe erlassen jedoch bei ihrer Rechtsetzungstätigkeit keine formellen Gesetze, sondern nur Verordnungen und Richtlinien. Auch wenn die Verordnungen ihrer Tragweite und Rechtswirkungen nach innerstaatlichen Gesetzen vergleichbar sind, handelt es sich hierbei nicht um Gesetze im formellen Sinne, sondern um Exekutivakte.4 Den Begriff legislatives Unrecht, der von Generalanwalt Roemer in die Sprache des Gemeinschaftsrechts eingefühlt worden ist,5 sollte man daher vermeiden und stattdessen von normativem Unrecht sprechen. In inhaltlicher Hinsicht kommt dieser sprachlichen Unterscheidung jedoch keine besondere Bedeutung zu, da die Haftung für normatives Unrecht im Haftungssystem der Europäischen Gemeinschaften an die Stelle tritt, die die Haftung für legislatives Unrecht in den EG-Mitgliedstaaten einnimmt Die Haftung der Europäischen Gemeinschaften für normatives Unrecht, d. h. für rechtswidrige Schädigungen der Marktbürger, die unmittelbar und ohne Dazwischentreten eines Vollzugsaktes durch einen Rechtsetzungsakt der EGOrgane hervorgerufen werden, hat eine weit größere Bedeutung erlangt als die Haftung für legislatives Unrecht in den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten.6 Dies hat seinen Grund zum einen darin, daß die Organtätigkeit von Rat und Kommission weitestgehend im Bereich der Rechtsetzung liegt und die einzelnen Rechtsetzungsakte (Verordnungen und Richtlinien) oft unmittelbare Wirkung in den EG-Mitgliedstaaten entfalten: EG-Verordnungen (im EGKSV: allgemeine Entscheidungen) besitzen nach Art. 189 EWGV, Art 161 EAGV und nach Art. 14 EGKSV bereits von Gesetzes wegen allgemeine Geltungy sind in all ihren Fällen verbindlich und gelten unmittelbar d. h. ohne Transformation in das nationale Recht. Sie begründen Rechte und Pflichten nicht nur gegenüber den Mitgliedstaaten, sondern auch gegenüber jedem einzelnen Marktbürger, der von ihnen betroffen wird, und verdrängen nationales Recht, soweit dieses mit ihnen unvereinbar ist.7 EG-Verordnungen greifen daher unmittelbar in den Rechtskreis der EG-Bürger ein und können so eine hohe Schadenswirkung entfalten. Richtlinien (im EGKSV: Empfehlungen) sind nach 3

Much, S. 724; Oppermann, Rdnr. 525; von Bogdandy Jus 90, S. 872; Nicolaysen, S. 33.

4

vgl etwa Gilsdorf EuR 75, S.91.

5

Schlußantrag EuGHE 73,1258 - RS 63 -69/72.

6 vgl. etwa Oppermann, S. 73; Beyerlin in: Zur Reform des Staatshaftungsrechts, Rechtsvergleichendes Gutachten des Max- Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, S. 125; von Bogdandy Jus 90, S. 873. 7 vgl. zu dem Charakter der EG-Verordnungen: Schweitzer/Hummer S. 111 ff; Ossenbühl (Staatshaftungsrecht), S. 417; Mögele BayVBl 89, S. 581 ff.

(Europarecht),

I. Einführung

173

Art 189 EWGV, Art 161 EAGV und Art. 14 EGKSV im Gegensatz zu den EG-Verordnungen für jeden Mitgliedstaat nur im Hinblick auf das zu erreichende Ziel verbindlich, die Wahl der Form und der Mittel der Durchführung bleibt den Mitgliedstaaten überlassen.8 Nach dem Wortlaut der Gemeinschaftsverträge besitzen Richtlinien (im EGKSV: Empfehlungen) somit keine unmittelbare Geltungskraft in den Mitgliedstaaten, diese Geltung tritt erst dann ein, wenn die nationalen Stellen tätig geworden sind. Trotzdem wird den Richtlinien vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) in ständiger Rechtsprechung auch ohne Umsetzung unmittelbare Geltungskraft gegenüber den Marktbürgern zugesprochen, sofern sie "inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen M. 9 Der Gerichtshof hat aber ausdrücklich betont, daß die unmittelbare Wirkung der EG-Richtlinien sich in diesen Fällen nur darauf beschränkt, den einzelnen Marktbürgern auch ohne Umsetzung ins nationale Recht subjektive öffentliche Rechte einzuräumen, nicht aber auch den innerstaatlichen Behörden die Möglichkeit eröffnet, sich zu Lasten der Bürger auf eine Richtlinie zu berufen. 10 Da die Richtlinien also ohne Umsetzung ins nationale Recht keine Verpflichtungen für den einzelnen EG-Bürger begründen können, ist eine Schädigung des Bürgers durch normatives Unrecht hier eher selten. In Betracht kommt aber beispielsweise eine Haftung für normatives Unrecht im Hinblick darauf, daß eine Richtlinie unter Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz oder das Diskriminierungsverbot einer Gruppe von Marktbürgern subjektive öffentliche Rechte oder sonstige Vergünstigungen einräumt und andere Marktbürger von dieser Rechtsstellung ausschließt. Die Haftung für normatives Unrecht hat im Recht der Europäischen Gemeinschaften aber nicht nur deswegen so große Bedeutung erlangt, weil die Rechtsetzungsakte das Hauptinstrumentarium der EG-Organe bilden, sondern auch deswegen, weil das Gemeinschaftsrecht dem einzelnen Bürger nur ausnahmsweise einen primären Rechtsschutz gegen Rechtsetzungsakte zur Verfügung stellt 11 Dies folgt aus den engen Klagevoraussetzungen. Art 173 Abs. 2 EWGV und der gleichlautende Art. 146 Abs 2 EAGV sehen ein Klagerecht von 8

Schweitzer/Hummer,

S. 113 f; Ossenbühl, S. 417 f: Mögele BayVBl 89, S. 582.

9

ständige Rechtsprechung seit EuGHE 74, 1337 ff - RS 41/74- van Duyn; neuerdings EuGH ZIP 91, 1610, 1611, EuGH EuZW 91, 26, 27; EuGHE 82; 53 ff- RS 81/81- Becker; EuGHE 86, 1651 ff, 1691 -RS Johnston; EuGHE 86, 723, 748 - RS Marshall; vgl. auch Oldenbourg : Die unmittelbare Wirkung von EG-Richtlinien im innerstaatlichen Bereich, 1984; Grabitz EuR 71, S. 1 ff; Mögele BayVBl 89, S. 582; Nicolaysen, S. 37. 10 EuGH EuR 88, S. 391,392 f; EuGH EuZW 91, S. 26 ff; EuGHE 86, S. 723, 749; vgl. auch Mögele BayVBl 89, S. 582. 11 von Bogdandy Jus 90, S. 873; Grabitz FS für Kutscher, S. 221 ff; Grabitz Kom. zum EWGV Art. 215 Rdnr. 13, Stand 1990; Engler EuGRZ 79, S. 380; Ossenbühl, S. 418, 442; Nicolaysen, S. 224; Schwarze FS für Schlochauer, S. 931 ff, 937; Fuss FS für v. der Heydte, S. 174; OppermannIHiermaier Jus 80, S. 787 ff.

174

5. Kapitel: Haftung der Europäischen Gemeinschaften

Privatpersonen im Rahmen einer Nichtigkeitsklage lediglich für Verordnungen vor, die zwar dem äußeren Schein nach als Verordnung ergangen sind, bei denen es sich aber in Wirklichkeit um individuelle Entscheidungen handelt12 Ein Klagerecht gegen Richtlinien ist für Privatpersonen überhaupt nicht vorgesehen. Die Nichtigkeitsklage im Montanvertrag ist demgegenüber unterschiedlich ausgestaltet. Art. 33 Abs. 2 EGKSV eröffnet den der Montanunion angehörenden Unternehmen und Verbänden, nicht jedoch sonstigen Privatpersonen ein Klagerecht gegen allgemeine Entscheidungen (= Verordnungen) und Empfehlungen (= Richtlinien) im Falle des Ermessensmißbrauches. Auch im Rahmen einer Untätigkeüsklage kann der einzelne EG-Bürger gemäß Art. 175 Abs. 3 EWGV und Art. 148 Abs. 3 EAGV nicht gegen die Unterlassung einer Verordnung oder Richtlinie vorgehen.13 Anders ist die Rechtslage wieder im Montanvertrag ausgestaltet. Hier besteht ein Klagerecht der der Montanunion angehörenden Unternehmen und Verbände gegen die Unterlassung von allgemeinen Entscheidungen oder Empfehlungen. Andere Privatpersonen können jedoch wiederum kein Klagerecht beanspruchen. Schließlich belegen auch statistische Daten, weshalb die Haftung für normatives Unrecht im Europäischen Gemeinschaftsrecht eine so große Bedeutung erlangt hat Zwischen 1958 und 1980 wurden in der EWG und EGKS 42450 Verordnungen und Richtlinien erlassen, von denen 1981 noch 3161 Verordnungen und 661 Richtlinien in Kraft waren.14 Bei Schadensersatzklagen gegen normatives Unrecht spielen vor allem die EG-Verordnungen eine große Rolle.15 Der Europäische Gerichtshof ließ nach anfänglichem Zögern erstmals Anfang der 70er Jahre Schadensersatzklagen der EG-Bürger gegen normatives Handeln der EG-Organe zu.16 Die Zahl der Schadensersatzklagen stieg daraufhin, insbesondere auf dem Agrarsektor, der besonders schadensanfällig ist, sprunghaft an. Bis April 1990 waren 196 Schadensersatzklagen gegen normatives Unrecht anhängig, wovon allerdings nur 27 Erfolg beschieden war. 17 Alle drei Gründungsverträge (EWGV, EGKSV, EAGV)18 haben die Möglichkeit einer Schä12 Bleckmann (Europarecht), Rdnr. 584; Schwarze, S. 931; Ossenbühl, S. 418, 442; Nicolaysen, S. 185; Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil (Die Europäische Gemeinschaft), S. 251; Oppermarm/ Hiermaier Jus 80, S. 787 ff; EuGHE 77, S. 797 ff, 806 f. 13 Bleckmann, Rdnr. 605, 607, 608; Nicolaysen, S. 259; EuGHE 79, S. 1081,1092; EuGHE 72, S. 105 ff.

S. 196; Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil,

14

vgl. Schweitzer/Hummer,

15

so Ossenbühl, S. 418; Herdegen (Haftung der EWG für fehlerhafte Rechtsetzungsakte),

S. 111.

S. 48. « 17 18

EuGHE 71, S. 975 ff, 984 ff - RS 5/71- Schöppenstedt Nachweise bei von Bogdandy Jus 90, S. 873 FN 6.

EWGV = Vertrag über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, BGBl I I 1957, S. 766 ff. EGKSV = Vertrag über die Gründung der Europäischem Gemeinschaft für Kohle und Stahl, BGBl Π 1952, S. 447 ff. EAGV = Vertrag über die Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft, BGBl Π1957, S. 1014.

II. Die Haftung für normatives Unrecht

175

digung der EG-Bürger durch ein rechtswidriges Verhalten der EG-Organe vorausgesehen und entsprechende Haftungstatbestände geschaffen, die dem Betroffenen einen Schadenersatzanspruch gegen die Euro-päischen Gemeinschaften bei außervertraglichen (deliktischen) Schädigungen durch EG-Bedienstete oder EG-Organe gewähren: Art 215 Abs. 2 EWGV, Art 188 Abs. 2 EAGV sowie Art. 34 und 40 Abs. 1 EGKSV. Dabei stimmen die beiden erstgenannten Haftungstatbestände in ihrem Wortlaut vollständig überein, während die Bestimmungen der Art. 34 und 40 Abs. 1 EGKSV demgegenüber gewisse Unterschiede in Tatbestand und Rechtsfolge aufweisen. 19 Π. Die Haftung für normatives Unrecht nach Art 215 Abs. 2 EWGV und Art. 188 Abs. 2 EAGV 1. Allgemeine Tatbestandsvoraussetzungen Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Europäische Atomgemeinschaft ersetzen nach Art. 215 Abs. 2 EWGV und dem gleichlautenden Art. 188 Abs. 2 EAGV im Bereich der außervertraglichen Haftung den Schaden, den ihre Organe und Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursacht haben, nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Für solche Schadensersatzklagen ist nach Art. 178 Abs. 2 EWGV und A n 151 EAGV der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) mit Sitz in Luxemburg zuständig. Es handelt sich hierbei um eine originäre, von der persönlichen Haftung der Bediensteten losgelöste Haftung; eine persönliche Haftung der Bediensteten besteht daneben nicht.20 Die beiden Haftungsnormen enthalten nur eine unvollständige Definition des Haftungstatbestandes; die einzelnen Tatbestandmerkmale müssen daher anhand der allgemeinen gemeinsamen Rechtsgrundsätze der EG-Mitgliedstaaten ermittelt werden. Dabei ist es nicht erforderlich, die in sämtlichen Mitgliedstaaten geltenden Staatshaftungsregeln miteinander zu vergleichen, um festzustellen, inwieweit hier ein übereinstimmender Mindeststandard existiert.21 Dies wäre auch nicht sachgerecht, da in den einzelnen Mitgliedstaaten kaum ge-

19

S. 725 ff. 20 21

Ossenbühl (Staatshaftungsrecht), S. 433 ff; von Bogdandy

Jus 90, S. 876 ff; Much,

Ossenbühl, S. 412; Grabitz Kom. zum EWGV Art. 215 Rdnr. 62.

GilsdorflOliver in von der Groeben/Thiesing/Ehlermann: Kom. zum EWGV, Art. 215 Rdnr. 12; von Bogdandy Jus 90, S. 873; Grabitz Kom. zum EWGV, Art. 215 Rdnr. 10,11; Weis JA 80, S. 480 f.

176

5. Kapitel: Haftung der Europäischen Gemeinschaften

meinsame Grundsätze im Staatshaftungsrecht anzutreffen sind, 22 so daß eine deliktische Haftung bei einem solchen Vorgehen in den meisten Fällen ausscheiden würde. Die Literatur hat deshalb eine wertende Betrachtungsweise gefordert, die die speziellen Vertragsziele und die Besonderheiten der Gemeinschaftsstruktur berücksichtigt.23 Der Gerichthof der Europäischen Gemeinschaften, der nach allgemeiner Auffassung durch Art. 215 Abs. 2 EWGV und Art. 188 Abs. 2 EAGV ermächtigt ist, im Wege der richterlichen Rechtsschöpfung gemeinschaftsspezifische Haftungskriterien zu entwickeln,24 hat von vornherein darauf verzichtet, größere rechtsvergleichende Betrachtungen anzustellen und hat sich stattdessen vielmehr bemüht, Haftungskriterien aufzustellen, die den Besonderheiten der Europäischen Gemeinschaften Rechnung tragen.25 Dabei hat der Gerichtshof klargestellt, daß er die "allgemeinen gemeinsamen Rechtsgrundsätze der Mitgliedstaaten" nicht als Direktiven für die richterliche Rechtsfortbildung, sondern lediglich als Begrenzungen seiner Rechtsschöpfung begreift. 26 Im Laufe der Zeit hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften die Voraussetzungen für die Haftung der EWG und der Euratom näher umrissen und die Tatbestandsmerkmale einer Haftung nach Art. 215 Abs. 2 EWGV und Art. 188 Abs. 2 EAGV wie folgt formuliert: Voraussetzung für die Haftung der Gemeinschaft ist, "daß ein Tatbestand erfüllt ist, dessen Merkmale das Vorliegen eines Schadens, das Bestehen eines Kausalzusammenhanges zwischen dem geltend gemachten Schaden und dem den Organen zur Last gelegten Verhalten und die Rechtswidrigkeit dieses Verhaltens sind".27 Ob daneben auch noch ein Verschulden vorhegen muß, ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unklar. Die ersten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, die zu Art 215 Abs. 2 EWGV ergangen sind, beruhen auf dem Verschuldens22 Gilsdorf EuR 75, 73, 92, 93; Weis JA 80, S. 481; von Bogdandy Jus 90, S. 873; Heldrich EuR 67, S. 344, 348; Engler EuGRZ 79, S. 377; Grabitz FS für Kutscher, S. 217. 23 vgl. etwa Oppermarm, S. 72 Rdnr. 151; Generalanwalt Roemer EuGHE 71, S. 990; Ossenbühl, S. 413; Gilsdorf EuR 75, S. 92; Engler EuGRZ 79, S. 377; Gilsdorf/Oliver, Art. 215 EWGV Rdnr. 12; Mössner RIW/AWD 76, S. 93 f; Fuss EuR 68, S. 255 f; Much in: Mosler (Haftung des Staates), S. 727 ff; Herdegen, S. 40 ff; aA. Bleckmann„ S. 283, der sich hierbei nur an den großen Staatshaftungssystemen, insbesondere am französichen und deutschen Recht orientieren will. 24 Weis JA 80, S. 481; Grabitz Kom. zum EWGV Art 215 Rdnr. 12; Ipsen (Europäisches Gemeinschaftsrecht), S. 538; Ossenbühl, S. 413; Much, S. 728 ff; Mössner RIW/AWD 76, S. 94; von Bogdandy Jus 90, S. 873; Herdegen, S. 38. 25 vgLhierzu Mössner RIW/AWD 76, S. 94; Ossenbühl, S. 414; Weis JA 80, S. 481; Herdegen, S. 39; von Bogdandy Jus 90, S. 873; Grabitz Kom. zum EWGV Art 215 Rdnr. 14. 26 vgl. hierzu Weis JA 80, S. 481; Heldrich EuR 67, S. 348; von Bogdandy Jus 90, S. 873; Ossenbühl, S. 413; Grabitz FS für Kutscher, S. 218 ff. 27 EuGHE 71, S. 337 - RS 4/69 - Lütticke; EuGHE 82, S. 3057 ff; EuGHE 83, S. 4003 ff; EuGHE 74, S. 675 ff, 694 - RS 153/73 - Holtz+Willemsen; EuGHE 85, S. 2925 ff - RS 71+72/84 Surcouf; EuGHE 86, S. 887 - RS 59/84 - Tesi Textil; EuGHE 87, S. 123 ff - RS 253/84 - Groupement agricole; EuGHE 87, S. 4833 ff - RS 50/86 - Les Grands Moulins; EuGHE 89, S. 2087 ff - RS 326/86 - Francesconi; EuGHE 89, S. 3959 ff; EuGHE 90, S. 3469 ff, 3670.

II. Die Haftung für normatives Unrecht

177

grundsatz.28 Seit dem Lütücke Urteil aus dem Jahre 1971 wird das Verschulden aber als Tatbestandvoraussetzung nicht mehr erwähnt, auch nicht in den Entscheidungen, die den Klägern Schadensersatz zusprachen. 2* Das Schrifttum deutet das Schweigen des Gerichtshofes zum Verschulden als Anspruchsvoraussetzung in unterschiedlicher Weise. Zum Teil wird auch in neuerer Zeit noch davon ausgegangen, daß das Vorliegen der Rechtswidrigkeit das Verschulden indiziere und in aller Regel auch impliziere, so daß das Verschulden nicht ohne weiteres als Haftungsvoraussetzung entfallen sei.30 Zahlreiche andere Autoren vertreten jedoch die Auffassung, daß der Europäische Gerichtshof das Verschulden als Tatbestandsvoraussetzung ganz aufgegeben hat 31 Für die letztgenannte Auffassung sprechen einige gewichtige Gründe. Wenn der Europäische Gerichtshof seit nunmehr 20 Jahren die einzelnen Haftungskriterien ausdrücklich aufzählt und dabei mit keinem Wort mehr das Erfordernis eines Verschuldens erwähnt, kann man hieraus nicht folgern, daß der Gerichtshof das Verschulden noch als Anspruchsvoraussetzung begreift, denn die vom ihm verwendete Formel ist erkennbar abschließend. Außerdem kann man nicht über einen Zeitraum von 20 Jahren hinweg mit der Argumentation arbeiten, das Verschulden sei nach wie vor als Tatbestandsvoraussetzung aufzufassen und sei lediglich in den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, die in dieser Zeit ergangen sind, nicht zum Vorschein gekommen.32

2. Die Haftungsvoraussetzungen

im einzelnen

a) Das schadensstiftende Verhalten Das schadensstiftende Verhalten muß durch Organe oder Bedienstete der Europäischen Gemeinschaften bei der Ausübung ihrer Amtstätigkeit erfolgt »

vgl. etwa EuGHE 67, S. 332,354 - RS 3,7,13-24/66- Kampffmeyer I.

29

EuGHE 71, S. 325,337 - RS Lütticke-; später zum Beispiel EuGHE 75, S. 533 ff - RS CTNA -; EuGHE 74, S. 675 ff, 694 - RS Holtz+Willemsen-; EuGHE 73, S. 791 ff, 809- RS Wünsche-; EuGHE 73, S. 1229 ff, 1247 - RS Werhahn-; EuGHE 82, S. 3057 ff; EuGHE 85, S. 2925 ff; EuGHE 87, S. 4833 ff; EuGHE 89, S. 1553,1588. 30 Gilsdorf Oliver, Art 215 EWGV Rdnr. 44; Schwarze (Europäisches Verwaltungsrecht Bd I), S. 499 f; Meinhold RIW/AWD 89, S. 463; Ipsen (Europäisches Gemeinschaftsrecht), S. 538 ff. 31 Oppermann, S. 73 Rdnr. 151; Grabitz Kom. zum EWGV Art 215 Rdnr. 45; Ossenbühl, S. 428 f; Herdegen, S. 136 (zumindest bei rechtswidrigen Rechtsetzungsakten ist kein Verschulden erforderlich); Fuss EuR 78, S. 358 ff; Bleckmann,, Rdnr. 706; von Bogdandy Jus 90, S. 875; Schweitzer/Hummer, S. 168 f; Aubin (Haftung der Europäischen Wirtschaftgemeinschaft), S. 155; Beyerlin, S. 127, 130; Beutler/Bieber/Pipkom/Streil, S. 263; Ebenroth/Fuhrmann RIW/AWD 89, S. 604; Steinberg/Lubberger, S. 404. 32

12 Fetzer

so zutreffend Ossenbühl, S. 429.

178

5. Kapitel: Haftung der Europäischen Gemeinschaften

sein. Unter Bediensteten sind ähnlich dem deutschen haftungsrechtlichen Beamtenbegriff die Beamten und die sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften zu verstehen.33 Als haftbare Organe kommen der Rat, die Kommission, das Parlament, der Gerichtshof 34 sowie neuerdings das Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften (EuG), das durch den Beschluß des Rates vom 24.10.1988 ins Leben gerufen wurde und im Oktober 1989 offiziell seine Tätigkeit aufgenommen hat,35 in Betracht. In der Praxis wurden bisher jedoch nur Schadensersatzansprüche gegen Rat und Kommission relevant Der Begriff des haftungsauslösenden Verhaltens schließt zunächst alle Rechtshandlungen,, insbesondere auch Rechtsetzungsakte 36 mit ein. Er ist aber nicht nur auf Rechtshandlungen beschränkt, sondern erfaßt auch jegliche Art faktischen Verhaltens ein und kann nicht nur in einem positivem Tun bestehen, sondern auch durch ein Unterlassen trotz bestehender Rechtspflicht zum Handeln erfolgen. 37 Die Gemeinschaft haftet allerdings nur, wenn ihre Organe oder Bedienstete Schäden in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachen. Unter Amtstätigkeit versteht der Europäische Gerichtshof jedes Verhalten der Gemeinschaftsorgane oder Bediensteten, das eine "unmittelbare innere Beziehung" zu den von den Organen und Bediensteten wahrzunehmenden Aufgaben aufweist 38 Die Parallelen zum deutschen Amtshaftungsrecht sind unverkennbar. b) Rechtswidrigkeit des schädigenden Verhaltens und Schutznormverletzung Obwohl es in Art. 215 Abs. 2 EWGV und Art. 188 Abs. 2 EAGV nicht ausdrücklich verlangt wird, setzt eine Haftung der Gemeinschaften in Übereinstimmung mit allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten voraus, daß das schadensstiftende Verhalten rechtswidrig ist,39 d. h. gegen eine höherrangige 33

Ossenbühl, S. 414; Grabitz Kom. zum EWGV Art. 215 Rdnr. 21 ; Oppermarm, Rdnr. 153.

34

Oppermarm, Rdnr. 153; Ossenbühl, S. 414; Grabitz Kom. zum EWGV Art 215 Rdnr. 20.

35

Nicolaysen, S. 107.

36

Grabitz Kom. zum EWGV Art 215 Rdnr. 26,27; Bleckmann (Europarecht), Rdnr. 707; Schweitzer/Hummer, S. 168; std. Rspr. des EuGH seit EuGHE / l , S. 975 ff, 983 ff. 37 Gilsdorf/Oliver, Art 215 Rdnr. 30, 33; Schwarze (Europäisches Verwaltungsrecht Bd I), S. 495; von Bogdandy Jus 90, S. 874; Ossenbühl, S. 416 f; EuGHE 78, S. 2497 ff, 2504 ff - RS 14/78 - Denkavit 38 EuGHE 69, S. 329 ff - RS 9/69 - Sayag; vgl. auch Schwarze, S. 495; Grabitz, Art 215 Rdnr. 22; von Bogdandy Jus 90, S. 874; Ossenbühl, S. 419; Bleckmann, Rdnr. 705. 39 EuGHE 71, S. 975 ff, 984 - RS Schöppenstedt -; Grabitz, Art. 215 Rdnr. 31; von Bogdandy Jus 90, S. 874; Gilsdorf!Oliver, Art. 215 Rdnr. 31; Schwarze, S. 496; Ossenbühl, S. 420; Bleckmann, Rdnr. 705.

II. Die Haftung für normatives Unrecht

179

Rechtsnorm verstößt Die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens reicht jedoch für sich allein betrachtet nicht aus, um eine Haftung nach Art 215 Abs. 2 EWGV und Art. 188 Abs. 2 EAGV auszulösen. Vielmehr verlangt der Europäische Gerichtshof weiter, daß die höherrangige Norm, deren Verletzung die Rechtswidrigkeit begründet, auch den Schutz der Interessen des Geschädigte bezweckt.* 0 Dieses haftungsbeschänkende Merkmal der Schutznormverletzung findet sich nahezu in allen Rechtsordnungen der EG-Mitgliedstaaten.41 Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften verfährt bei der Auslegung dieses Kriteriums allerdings äußerst großzügig und spricht einer Rechtsvorschrift auch dann Schutzqualität zu, wenn sie in erster Linie Allgemeinbelange schützen soll und nur im Reflex auch individuelle Interessen schützt42

Zu den Schutznormen gehören neben den Individualgrundrechten 43 und den in den Grundrechtsrang erhobenen allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts (Vertrauensschutz, Verhältnismäßigkeit)44 auch andere Bestimmungen des primären Gemeinschaftsrechts 45 sowie die Schutzklauseln des sekundären Gemeinschaftsrechts. 46 Inwieweit Verfahrens- und Formvorschriften Schutznormcharakter entfalten hat der Europäische Gerichtshof bislang noch nicht geklärt, er hat allerdings für das Gebot des rechtlichen Gehörs 47 eine entsprechende Schutzrichtung anerkannt, der in Art. 190 EWGV nieder-

40 erstmals EuGHE 61, S. 435, 469 - RS Vloeberghs -; von Bogdandy Jus 90, S. 874; Fuss EuR 78, S. 355; Gilsdorf!Oliver, Art. 215 Rdnr. 38; Grabitz, Art. 215 Rdnr. 31; Schwarze, S. 496; Ossenbühl, S. 420. 41

Gilsdorf/Oliver,

Art. 215 Rdnr. 38.

42

EuGHE 67, S. 332, 355 - RS Kampffmeyer I -; Ossenbühl, S. 420 f; Grabitz• Art. 215 Rdnr. 32; von Bogdandy Jus 90, S. 874; GilsdorflOliver Art 215 Rdnr. 39; Ebenroth/Fuhrmann RIW/AWD 89, S. 604; Nicolaysen, S. 224. 43 GilsdorflOliver, Art 215 Rdnr. 40; Fuss Eur 78, S. 356; Nicolaysen, S. 224; Häde BayVBl 91, S. 493, 494; Die Gründungsverträge enthalten keine Grundrechtskataloge. Der EuGH hat jedoch aus den den Mitgliedstaaten gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen und aus den von den Mitgliedstaaten abgeschlossen Menschenrechtsverträgen (insb. MRK) allgemein innergemeinschaftliche Grundrechte abgeleitet {Schweitzer/Hummer, S. 218; Nicolaysen, S. 55 ff). Die Europäischen Gemeinschaften sind selbst nicht Mitglied der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte (Nicolaysen, S. 55 ff; Oppermann, Rdnr. 68). Als gemeinschaftsrechtliche Einzelgrundrechte hat der EuGH bisher anerkannt: Achtung der Privatsphäre und des Freiheitsrechts, Unverletztlichkeit der Wohnung, Gleichheitsgrundsatz, Diskriminierungsverbot, Religionsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsschutz, freier Zugang zur Beschäftigung, freie wirtschaftliche Betätigung, Meinungs- und Veröffentlichungsfreiheit, Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und auf fairen Prozeß, Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen (Nachweise bei Schweitzer/Hummer, S. 219; Nicolaysen S. 60 ff). 44 GilsdorflOliver, Art 215 Rdnr. 40; Nicolaysen, S. 224; Grabitz, Art 215 Rdnr. 33; Weis JA 80, S. 482; Häde BayVBl 91, S. 493; zu den allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts im Grundrechtsrang vgl. die ausführliche Darstellung bei Schweitzer!Hummer, S. 215 ff. 45

Nicolaysen, S. 224; EuGHE 76, S. 711, 744; EuGHE 67, S. 331, 354 f; Grabitz, Art. 215

Rdnr. 33. 46 Grabitz, Art 215 Rdnr. 33; Ossenbühl, S. 421; Gilsdorf EuR 75, S. 98; EuGHE 73, S. 791, 803 - RS 59/72 - Wünsche; EuGHE 67, S. 332,354 f - RS Kampffmeyer I -. 47

EuGHE 74, S. 1063,1081 f.

180

5. Kapitel : Haftung der Europäischen Gemeinschaften

gelegten Begründungspflicht bei Verordnungen und Richtlinien aber eine Schutzqualität abgesprochen.48 c) Kausalzusammenhang und Schaden Zwischen dem eingetretenen Schaden und dem fehlerhaften Verhalten der EG-Organe oder Bediensteten muß ein unmittelbarer ursächlicher Zusammenhang im Sinne der Adäquanztheorie bestehen.49 Dabei ist zu beachten, daß der Schaden nicht in einer Vermögenseinbuße zu liegen braucht, sondern daß der Europäische Gerichtshof auch immaterielle Schäden als ersatzfähig anerkennt.50 Vermögensschäden sind nach der im deutschen Recht ebenfalls geltenden Differenzhypothese zu berechnen.51 Was nun die Art der Schadensersatzleistung angeht, so braucht diese nicht immer in Geld zu bestehen, sondern kann auch in Form der Naturalrestitution gewährt werden,» da Art 215 Abs. 2 EWGV und Art 188 Abs. 2 EAGV eine direkte Haftung der Gemeinschaften begründen und ihrem Wortlaut nach nicht auf Scha-densersatz in Geld beschränkt sind. Diese Art des Schadensersatzes wird allerdings nur selten relevant werden. Bei der Bemessung des Schadensersatzes ist auch der entgangene Gewinn miteinzubeziehen,53 dieser ist jedoch nach Billigkeitsgesichtspunkten zu begrenzen, falls er auf spekulativen Faktoren beruht.54 Der Betroffene muß sich auch unter dem Gesichtspunkt der Vorteilsausgleichung die ihm durch die Rechtsverletzung entstandenen Vorteile anrechnen lassen.55 Mitwirkendes Verschulden des Betroffenen, das bei der Entstehung des Schadens mitwirkt, kann zum Ausschluß oder zur Minderung der Ersatzansprüche führen. 5* Die Scha-

48

EuGHE 82, S. 2885,2915,2919.

49

Weis JA 80, S. 482; Grabitz, Art 215 Rdnr. 29; Ossenbühl, S. 427; Gilsdorf/Oliver Art. 215 Rdnr. 61; von Bogdandy Jus 90, S. 875; Oppermarm, Rdnr. 154; Fuss EuR 68, S. 364; ßteinberg/Lubberger, S. 404. 50 EuGHE 57, S. 83, 134; EuGHE 65, S. 879, 880; EuGHE 75, S. 113, 136; EuGHE 85, S. 3539, 3592; Nicolaysen, S. 228; GilsdorflOUver, Art 215 Rdnr. 55; Schwarze, S. 508 ff; Steinberg/Lubberger, S. 404. 51

von Bogdandy Jus 90, S. 875; Grabitz, Art 215 Rdnr. 46; Nicolaysen, S. 227.

52

von Bogdandy Jus 90, S. 875; Schwarze, S. 500; Grabitz, Art. 215 Rdnr. 43; Gilsdorf/ Oliver Art 215 Rdnr. 49; Ossenbühl, S. 429; a.A. Nicolaysen, S. 229. 53 EuGHE 67, S. 332 ff, 357 ff; von Bogdandy Jus 90, S. 875; Schwarze, S. 503; Gilsdorf/ Oliver, Art. 215 Rdnr. 51; Grabitz, Art 215 Rdnr. 47; Ossenbühl, S. 430 ff. 54 EuGHE 67, S. 332 ff, 357, 358; Grabitz, Art. 215 Rdnr. 47; von Bogdandy Jus 90, S. 875 ff; Schwarze, S. 503 f; Gilsdorf/Oliver, Art. 215 Rdnr. 51. 55 EuGHE 79, S. 3017 ff, 3039 f; Grabitz, Art. 215 Rdnr. 48; von Bogdandy Jus 90, S. 875; Schwarze, S. 504. 56 Gilsdorf/Oliver, Art 215 Rdnr. 57; Schwarze, S. 506 ff; von Bogdandy Jus 90, S. 875; EuGHE 85, S. 3539, 3592 - RS 145/83 - Adams.

. Die Haftung für normatives Unrecht

181

densersatzansprüche veijähren in 5 Jahren nach Eintritt des ihnen zugrundeliegenden Ereignisses (Art. 43 der Satzung des Europäischen Gerichtshofs). d) Subsidiarität der Schadensersatzansprüche Der Europäische Gerichtshof hat bereits frühzeitig festgestellt, daß die Schadensersatzklage nach Art 215 Abs. 2 EWGV bzw. Art 188 Abs. 2 EAGV einen selbständigen Rechtsbehelf im System der Klagearien darstellt und daher nicht gegenüber dem primären Rechtsschutz nach Art. 173, 175 EWGV bzw. Art 146, 148 EAGV subsidiär ist.57 Im Bereich des normativen Unrechts scheidet zudem wie bereits ausgeführt aufgrund der engen Voraussetzungen der Art 173, 175 EWGV und der Art. 146, 148 EAGV die Möglichkeit eines primären Rechtsschutzes für den Betroffenen aus.58 Es ist daher weder in prozessualer noch in materieller Hinsicht erforderlich, daß der Betroffene vor der Erhebung einer Schadensersatzklage zunächst den Primärrechtsschutz in Anspruch nimmt. Da in den Fällen des normativen Unrechts der Schaden unmittelbar durch einen Rechtsetzungsakt der EG-Organe und ohne Dazwischentreten eines Vollzugsaktes der nationalen Behörden verursacht wird, ist es auch nicht erforderlich, die nationalen Klagemöglichkeiten auszuschöpfen. 3. Die Haftung ßr normatives Unrecht Wie bereits ausgeführt, hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Anfang der 70er Jahre die Notwendigkeit einer Haftung für normatives Unrecht erkannt 59 Ausschlaggebend hierfür war zum einen die Tatsache, daß die Europäischen Gemeinschaftsverträge keinen ausreichenden Primärrechtsschutz gegen EG-Verordnungen und EG-Richtlinien vorsehen.60 Daneben wurde auch immer wieder die mangelnde demokratische Legitimation der europäischen Rechtsetzungsorgane hervorgehoben, die nur einer unzureichenden Kontrolle

* EuGHE 71, S. 325,336; EuGHE 74, S. 675 ff, 693; EuGHE 72, S. 391, 404 f; EuGHE 73, S. 1055, 1070; Grabitz Kom. zum EWGV, Art. 215 Rdnr. 50; Weis JA 80, S. 485; Oppermann (Europarecht), Rdnr. 156; Herdegen (Haftung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft), S. 148 ff; Nicolaysen (Europarecht Bd I), S. 229 ff; Fuss FS für Ipsen, S. 618 ff. 58 Nicolaysen, S. 224,229; Ossenbühl, S. 418,442; von Bogdandy Jus 90, S. 873; Grabitz FS für den Kutscher S. 221; Grabitz EWGV Art 215 Rdnr. 13; Engler EuGRZ 79, S. 380; Fuss FS für von der Heydte, S. 174; OppermannJHiermaier Jus 80, S. 787 ff. 59 60

EuGHE 71, S. 975 ff, 983 - RS Schöppenstedt-.

von Bogdandy Jus 90, S. 873; Grabitz Kom. zum EWGV Art 215 Rdnr. 13; Ossenbühl, S. 418; Engler EuGRZ 79, S. 380; Nicolaysen, S. 224.

182

5. Kapitel: Haftung der Europäischen Gemeinschaften

durch das Europäische Parlament unterliegen.61 Daher wurde vom Europäischen Gerichtshof die Schadensersatzklage nach Art 215 Abs. 2 EWGV und Art. 188 Abs. 2 EAGV bei normativem Unrecht als Ersatz für die Lücken im primären Rechtsschutz und der unzureichenden demokratischen Kontrolle eingeführt Bislang wurde die Haftung für normatives Unrecht in der Judikatur der Europäischen Gerichtshofs nur bei Rechtsetzungsakten mit wirtschaftspolitischem Inhalt (sogenannte wirtschaftspolitische Entscheidungen) aktuell.62 Den Begriff "wirtschaftspolitische Entscheidung" faßt der Europäische Gerichtshof außerordentlich weit, da er auch Durchführungsverordnungen technischen Inhalts unter die wirtschaftspolitischen Entscheidungen einordnet.63 Der Gerichtshof wies in diesem Zusammenhang immer wieder auf das notwendige weite Ermessen der Rechtsetzungsorgane bei der Wahrnehmung wirtschaftspolitischer Befugnisse hin. 64 Aus diesem Grunde bemühte er sich von vornherein, die Haftung der Gemeinschaften für Rechtsetzungsakte mit wirtschaftspolitischem Inhalt einzudämmen und ließ die bloße Verletzung einer höherrangigen, dem Schutz des einzelnen Bürgers dienenden Schutznorm nicht genügen. Vielmehr zeichnete der Gerichtshof bereits in der sogenannten Schöppenstedt-Entscheidung,65 in der er zum ersten Mal die Möglichkeit einer Haftung für normatives Unrecht bejahte, einige erhebliche Einschränkungen dieser Haftung mit folgender Formel vor: "Da es sich um einen Rechtsetzungsakt handelt, der wirtschaftspolitische Entscheidungen miteinschließt, kann die Haftung der Gemeinschaften für den Einzelpersonen etwa durch diesen Akt entstandenen Schaden nach Art 215 Abs. 2 EWGV nur durch eine hinreichend qualifizierte Verletzung einer höherrangigen, dem Schutz der einzelnen dienenden Rechtsnorm ausgelöst werden".66 Diese Doktrin wiederholte der Europäische Gerichtshof in seinen im Anschluß an diese Entscheidung ergangenen Urteilen zur Haftung der Europäischen Gemeinschaften für normatives Unrecht nahezu wörtlich. 67 In seinen «

Gilsdorf EuR. 75, S. 96; Ossenbühl, S. 418; Stein EuGRZ 79, S. 541.

62

vgl. hierzu von Bogdandy Jus 90, S. 874; Grabitz Kom. zum EWGV Art 215 Rdnr. 37; Gilsdorf EuR 75, S. 73, 97 ff; GilsdorflOliver Art 215 Rdnr. 63. 63 vgl. hierzu Ossenbühl, S. 427; Beyerlin, S. 133 ; Grabitz, Art 215 Rdnr. 36; Gilsdorf EuR 75, S., 97; EuGHE 72, S. 391 ff; EuGHE 73, S. 1055 ff; Gilsdorf/Oliver, Art 215 Rdnr. 63; Fuss FS für von der Heydte, S. 176. 64 EuGHE 76, S. 19 ff, 30; EuGHE 75, S. 759 f, 769 ff; EuGHE 75, S. 421 ff, 432; Ipsen FS für Jahrreiß, S.95 ff; Grabitz NJW 78,1743; Hermann EuR 80, S. 65; Fuss FS für von der Heydte, S. 184; Ossenbühl, S. 422 ff; Nicolaysen, S. 225; Beyertin, S. 133; Herdegen N V w Z 84, S. 345. 65

EuGHE lì, S. 975 ff, 983.

66

EuGHE 71, S. 984 ff; kritisch hierzu Gündisch RIW/AWD 79,s.850 ff; Stein EuGRZ 79, S. 540 ff; Herdegen, S. 126 ff; Fuss FS für von der Heydte, S. 176 ff; Grabitz FS für Kutscher, S. 222 f; Aubin, S. 147 ff; Modest RIW/AWD 78, S. 32 ff; Herdegen N V w Z 84, S. 345 ff. 67 EuGHE 72, S. 405 ff; EuGHE 73, S. 803 ff, EuGHE 73, S. 1070 ff; EuGHE 73, S. 1247 ff; EuGHE 74, S. 694 ff; EuGHE 75, S. 533 ff; EuGHE 76, S. 711,744; EuGHE 78, S. 1209,12224.

II. Die Haftung f r normatives Unrecht

183

neueren Urteilen ersetzte der Gerichtshof dann den Begriff "hinreichend qualifizierte Verletzung" durch den Ausdruck "hinreichend schwerwiegende Verletzung".68 Festzuhalten bleibt somit, daß der Europäische Gerichtshof auch im Bereich des normativen Unrechts die Verletzung einer höherrangigen Schutznorm verlangt; bei wirtschaftspolitischen Rechtsetzungsakten soll aber eine einfache Rechtsverletzung nicht genügen. Für gebundene Rechtsetzungsakte, die keine wirtschaftspolitischen Entscheidungen enthalten, gilt die Haftungsbeschränkung der qualifizierten Rechtsverletzung jedoch offenbar nicht.69 Eine "hinreichend qualifizierte" bzw. "hinreichend schwerwiegende" Rechtsverletzung setzt nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs voraus, daß die Europäischen Gemeinschaften die ihnen eingeräumten Befugnisse offenkundig und erheblich überschritten haben.70 Dies soll dann der Fall sein, wenn die verletzte Norm von besonderer Bedeutung ist, wenn nur eine begrenzte und klar umrissene Gruppe von Unternehmen oder Privatpersonen betroffen ist, wenn der entstandene Schaden über die Grenzen der wirtschaftlichen Risiken hinausgeht, die eine Betätigung in dem betreffenden Wirtschaftszweig mit sich bringt und wenn die Ungleichbehandlung ohne hinreichende Begründung erfolgt ist.71 Die Parallele zur Sonderopfertheorie des Bundesgerichtshofes ist unverkennbar. Die vom Europäischen Gerichtshof verfolgte restriktive Praxis, die er mit dem bereits aus der Diskussion zur deutschen Staatshaftungsreform bekannten Argument begründet, daß die gesetzgebende Gewalt selbst dann, wenn ihre Handlungen einer richterlichen Kontrolle unterworfen sind, bei ihrer Willensbildung nicht jedesmal durch die Möglichkeit einer Schadensersatzklage behindert werden darf, wenn sie Anlaß hat, im Allgemeininteresse Rechtsnormen zu erlassen, welche die Interessen einzelner berühren können,72 hat dazu geführt, daß bislang nur etwa 7 % der erhobenen Schadensersatzkla-

68 EuGHE 85, S. 2925 f; EuGHE 85, S. 2816 ff; EuGHE 87, S. 4833 ff; EuGHE 89, S. 3959 ff; EuGHE 89, S. 1553 ff, 1554; EuGHE 90, S. 2189 ff; EuGHE 90, S. 2477 ff. 69 Nicolaysen, Art 215 Rdnr. 63.

S. 225; Grabitz Kom. zum EWGV Art 215 Rdnr. 37; GilsdorflOliver,

7 0 EuGHE 78, S. 1209, 1224 f; EuGHE 79, S. 2955, 2973; EuGHE 79, S. 3017, 3038; EuGHE 79, S. 3045, 3064; EuGHE 79, S. 3497, 3560; EuGHE 84, S. 4057, 4075; EuGHE 85, S. 2815, 2816; EuGHE 87, S. 4833 ff; EuGHE 89, S. 1553, 1588; Grabitz N U W 78, S. 1743; Hermann EuR 80, S. 65; von Bogdandy Jus 90, S. 874; Grabitz FS für Kutscher, S. 223; Ossenbühl, S. 424; Nicolaysen, S. 225; Gündisch RIW/AWD 79, S. 851; Modest RIW/AWD 79, S. 531. 71 EuGHE 77, S. 1753,17771; EuGHE 77, S. 1795, 1812; EuGHE 79, S. 3583; EuGHE 79, S. 2955, 2973; EuGHE 78, S. 1209, 1223; EuGHE 79, S. 3017, 3039; EuGHE 79, S. 3045, 3064; EuGHE 79, S. 3091, 3115; EuGHE 84, S. 4057; vgl. hierzu audi Grabitz NJW 78, S. 1743; von Bogdandy Jus 90, S. 874; Bleckmann (Europarecht), Rdnr. 706; Hermann EuR 80, S. 65 f; Ossenbühl, S. 425; Nicolaysen, S. 226 f; Gündisch RIW/AWD 79, S. 851. 72

vgl. etwa EuGHE 78, S. 1205,1224.

5. Kapitel: Haftung der Europäischen Gemeinschaften

184

gen gegen normatives Unrecht Erfolg beschieden war. Die Kritik der Literatur™ an der haftungsbegündenden Formel der "hinreichend qualifizierten Verletzung'1 wurde vom Europäischen Gerichtshof bisher nicht beachtet, so daß zu erwarten ist, daß sich die restriktive Praxis fortsetzen wird. In der Literatur mehren sich jedoch die Stimmen, die die Haftung für normatives Unrecht an einen Eingriff in subjektive öffentliche Rechte anknüpfen wollen und auf eine weitere Qualifikation der Rechtsverletzung verzichten wollen.74 Es bleibt abzuwarten, ob auch der Europäische Gerichtshof diesen Ansatz aufnimmt. Immerhin anerkennt der Gerichtshof im Gegensatz zum Bundesgerichtshof die Möglichkeit einer Haftung für rechtswidriges Verhalten der Rechtsetzungsorgane. ΠΙ. Die Haftung für normatives Unrecht nach Art 34 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 EGKSV und Art 40 Abs· 1 EGKSV Die Haftung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl unterscheidet sich im Wortlaut erheblich von den Haftungsbestimmungen im EWGund EAG-Vertrag. Maßgebend sind hier die Bestimmungen der Art 34 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 EGKSV und des Art 40 Abs. 1 EGKSV, die unterschiedlich ausgestaltete Haftungstatbestände enthalten. Art 34 Abs. 1 Satz 3 EGKSV enthält gegenüber Art. 40 Abs. 1 EGKSV eine Sonderregelung und ist damit lex specialis.75 1. Haftung nach Art. 34 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 EGKSV Art. 34 Abs. 1 Satz 3 EGKSV verpflichtet die Kommission zur angemessenen Wiedergutmachung, erforderlichenfalls zu einer billigen Entschädigung, wenn ein Unternehmen oder eine Gruppe von Unternehmen infolge einer für nichtig erklärten Entscheidung oder Empfehlung, die nach der Feststellung des Gerichtshofs mit einem die Haftung der Gemeinschaft begründenden Fehler behaftet ist, einen unmittelbaren und besonderen Schaden erlitten hat. Bleiben diese von der Kommission aufgrund des ergangenen Nichtigkeitsurteils zu er-

7 3 Herdegen, S. 126 ff; Gündisch RIW/AWD 79, S. 850 ff; Stein EuGRZ 79, S. 540 ff; Fuss FS von der Heydte S. 176 ff; Grabitz FS für Kutscher, S. 222 ff; Aubin , S. 147 ff; Modest R I W / A W D 78, S. 532 ff; Fuss EuR 78, S. 357 ff. 74 75

vgl. etwa Herdegen NVwZ 84, S. 345; Aubin, S. 154; Fuss EuR 78, S. 362.

Ossenbühl, S. 434; Meinhold RIW/AWD 89, S. 457; Much (Amtshaftung), S. 53; Steindorff JZ 53, S. 721; Knöpfte NJW 61, S. 2289; Daig (Nichtigkeitsklage), Rdnr. 427.

.

e Haftung für normatives Unrecht

185

greifenden Maßnahmen innerhalb einer angemessenen Frist aus, so kann vor dem Gerichtshof auf Schadensersatz geklagt werden (Art. 34 Abs. 2 EGKSV). Da Art. 34 Abs. 1 Satz 3 EGKSV die Haftung für Schäden, die den in Solidargemeinschaft verbundenden Montanunternehmen durch nichtige Entscheidungen und Empfehlungen der EG-Organe entstanden sind, regelt, ist er dementsprechend abschließend und restriktiv ausgestaltet worden.76 Der Grund für diese restriktive Ausgestaltung hegt zunächst darin, daß die Auswirkungen von Fehlentscheidungen der EG-Organe auf die beteiligten Unternehmen oft sehr weitreichend sind und große Schäden hervorrufen können. Der hierbei auftretenden Gefahr, daß durch die hohe Schadensanfälligkeit ein lähmender Nebeneffekt auf die Entschließungsfireiheit der EG-Organe ausgeübt wird, soll durch eine flexible Entschädigungsregelung Rechnung getragen werden.77 Hinzu kommt, daß die für den Schadensersatz notwendigen Beträge letztendlich von den umlagepflichtigen Unternehmen, deren Zahl beschränkt ist, selbst aufgebracht werden müssen.78 Die Haftung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl setzt nach Art 34 Abs. 1 Satz 3 EGKSV zunächst voraus, daß einer für nichtig erklärten Entscheidung oder Empfehlung " ein die Haftung der Gemeinschaft begründender Fehler anhaftet". Aus diesem Wortlaut ist geschlossen worden, daß nicht jeder Fehler als haftungsrelevant erachtet werden kann, sondern daß über die bloße Rechtswidrigkeit hinaus eine gewisse Schwere des Fehlers vorausgesetzt wird. 79 Der Europäische Gerichtshof hat, soweit ersichtlich, zu dieser Frage noch nicht Stellung genommen. Das Gericht erster Instanz (EuG) hatte jedoch jüngst Gelegenheit, die Voraussetzungen für die Haftung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl bei normativem Unrecht nach Art. 34 EGKSV näher zu präzisieren.80 Das Gericht hat hierbei betont, daß es aufgrund der "Notwendigkeit, im Rahmen einer einheitlichen, wenn auch mit drei Verträgen errichteten Rechtsordnung die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts im Bereich der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft für rechtswidrige Normen sowie die Kohärenz des Rechtsschutzsystems der verschiedenen Verträge bestmöglich sicherzustellen",81 angemessen erscheint, den Begriff des die Haftung begründenden Fehlers im Sinne des Art. 34 Abs. 1 Satz 3 EGKSV im Hinblick auf die Haftung für normatives Unrecht im Lichte der 7 6 von Bogdandy Jus 90, S. 876, Much, S 53 ff, Knöpfte NJW 61, S. 2289; Ossenbühl, S. 434; a. A. Meinhold RIW/AWD 89, S. 457,466. 77

Ossenbühl, S. 434; Knöpfte NJW 61, S. 2289; von Bogdandy Jus 90, S. 876.

78

von Bogdandy Jus 909, S. 876; Knöpfte NJW 61, S. 2289; Ossenbühl S. 434.

79 von Bogdandy Jus 90, S. 876 m. w. N.; Ossenbühl, S. 434; Knöpfte NJW 61, S. 2288; ähnlich Much (Amtshaftung), S. 61 ff, der ein gewisses Verschulden verlangt; a.A. Meinhold RIW/AWD 89, S. 457 f. 80

EuG EuZW 91, S. 631 ff.

81

EuG EuZW 91, S. 636; vgl. hierzu auch EuGHE 90, S. 519,523 ff.

186

5. Kapitel: Haftung der Europäischen Gemeinschaften

Kriterien auszulegen, die der Europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zu Art. 215 Abs. 2 EWGV entwickelt hat 8 2 Dies bedeutet, daß der Begriff des haftungsbegründenden Fehlers im Sinne des Art. 34 Abs. 1 Satz 3 EGKSV im Bereich des normativen Unrechts eine hinreichend schwerwiegende Verletzung einer höherrangigen, dem Schutz des einzelnen dienenden Rechtsnorm voraussetzt,83 die nur bei einer offenkundigen und erheblichen Überschreitung der Befugnisse der EG-Organe vorliegt 84 Ein Verschulden der EG-Organe ist dagegen nicht erforderlich, denn der Europäische Gerichtshof hat im Rahmen des Art. 215 Abs. 2 EWGV das Verschuldenserfordernis endgültig aufgegeben, obwohl er sich in früheren Entscheidungen zum EGKSV und zu Art 215 Abs. 2 EWGV noch am Verschuldensgrundsatz orientierte. 85 Die Zuerkennung von Schadensersatzansprüchen setzt nach Art. 34 Abs. 1 Satz 3 EGKSV weiter voraus, daß den Unternehmen ein unmittelbarer und besonderer Schaden entstanden ist. Die Unmittelbarkeit beurteilt sich nach der Adäquanztheorie.86 Der Eintritt eines besonderen Schadens setzt voraus, daß der verursachte Schaden, der auch in einem immateriellen Schaden bestehen kann,87 eine gewisse Intensität erreicht und zudem lediglich eine begrenzte Anzahl von Unternehmen befällt. 88 Dies zeigt, daß trotz unterschiedlicher Formulierung die Haftung für normatives Unrecht nach Art. 34 Abs. 1 Satz 3 EGKSV mit der Haftung nach Art. 215 Abs. 2 EWGV bzw. nach Art. 188 Abs. 2 EAGV weitgehend übereinstimmt Allerdings ist die Rechtsfolge im Rahmen des Art. 34 Abs. 1 Satz 3 EGKSV etwas differenzierter ausgestaltet In erster Linie ist Naturalrestitution geschuldet.89 Genügt diese "angemessene Wiedergutmachung" nicht zum Ausgleich des angerichteten Schadens, dann ist zusätzlich eine billige Entschädigung zu gewähren. Voller Schadensersatz kann aber grundsätzlich nicht verlangt werden.90 82

EuG EuZW 91, S. 636.

83

EuG EuZW 91, S. 636; EuGHE 71, S. 975,984 ff; EuGHE 73, S. 1055ff, 1070 ff; EuGHE 73, S. 1229, 1247 ff; EuGHE 74, S. 675 ff; EuGHE 77, S. 545 ff; EuGHE 78, S. 1209, 1224; EuGHE 85, S. 2925 ff; EuGHE 85, S. 2816 ff; EuGHE 87, S. 4833 ff; EuGHE 89, S. 3959 ff; EuGHE 90, S. 2189 ff. 84 EuG EuZW 91, S. 636, 637; EuGHE 78, S. 1209,1224 ff; EuGHE 79, S. 2955,2973; EuGHE 79, S. 3017, 3038; EuGHE 79, S. 3497, 3560; EuGHE 84, S. 4057, 4075; EuGHE 85, S. 2925 ff, EuGHE 85, S. 2816 ff; EuGHE 87, 4833 ff; EuGHE 89, S. 3955 ff; EuGHE 90, S. 2189 ff. 85

vgl. etwa EuGHE 67, S. 331, 354; vgl. auch Much, S. 61 ff.

86

Meinhold RIW/AWD 89, S. 464; vgl. auch EuGHE 63, S. 621,638 ff.

87

Much in Mosler (Haftung des Staates), S. 737.

88

Meinhold, S. 464; Much in Mosler (Haftung des Staates), S. 740; Much (Amtshaftung), S. 50; EuG EuZW 91, S. 640; EuGHE 88, S. 2425,2432. 89 90

vgl. hierzu Meinhold RIW/AWD 89, S. 465.

von Bogdandy Jus 90, S. 877, der auch darauf hinweist, daß es sich bei Art. 34 Abs. 2 EGKSV, der anstatt von einer billigen Entschädigung zu sprechen, den Begriff "Schadensersatz" verwendet, um ein Redaktions versehen der deutschen Übersetzung der nach Art 100 Abs. 1

187

. Die Haftung für normatives Unrecht

2. Die Haftung nach Art. 40 Abs. 1 EGKSV Nach Art. 40 Abs. 1 EGKSV hat die geschädigte Partei vorbehaltlich der Bestimmung des Art. 34 Abs. 1 EGKSV Anspruch auf Zueikennung einer Entschädigung in Geld durch den Gerichtshot falls in Durchführung des EGKSVertrages durch einen Amtsfehler der Gemeinschaft ein Schaden verursacht wurde. Neuerdings ist nicht mehr der Gerichtshof, sondern das Gericht erster Instanz (EuG) für solche Klagen zuständig.« Art 40 Abs. 1 EGKSV enthält im Gegensatz zu Art. 34 Abs. 1 Satz 3 EGKSV keine ausdrückliche Beschreibung der Anspruchsberechtigten. Er klammert aber die Schadensfälle des Art. 34 Abs. 1 Satz 3 EGKSV durch einen ausdrücklichen Vorbehalt aus. Als Anspruchsberechtigte kommen daher einerseits alle Personen oder Unternehmen, die nicht zu den in Art 34 Abs. 1 EGKSV genannten Montanunternehmen gehören (MontanfremdeX 92 sowie andererseits die der Montanunion angehörenden Unternehmen und Verbände, soweit sie auf andere Weise als durch die in Art 34 Abs. 1 EGKSV aufgeführten Maßnahmen geschädigt werden,93 in Betracht. Im Bereich des normativen Unrecht spielt allerdings nur die erstgenannte Gruppe eine Rolle, da für die Montanunternehmen die Haftung bei normativem Unrecht bereits voll durch Art 34 Abs. 1 Satz 3 EGKSV abgedeckt ist.94 Kernpunkt einer Haftung nach Art 40 Abs. 1 EGKSV ist das Vorhandensein eines Amtsfehlers. Zur Auslegung dieses Begriffes ist wiederum im Hinblick auf die Einheitlichkeit der Rechtsordnung und der einheitlichen Rechtsanwendung im Bereich der deliktischen Haftung die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu Art. 215 Abs. 2 EWGV heranzuziehen,95 so daß im Rahmen der Haftung für normatives Unrecht wiederum eine hinreichend schwerwiegende Verletzung einer höherrangigen, dem Schutz des einzelnen dienenden Rechtsnorm erforderlich ist. Diese Rechtsverletzung muß jedoch nicht schuldhaft erfolgt sein, da die alte Rechtsprechung zu Art. 40 Abs. 1 EGKSV, die noch auf dem Verschuldensgrundsatz basierte,96 durch die aktuelle EGKSV allein maßgebenden französischen Fassung handelt; Knöpfte Meinhold RIW/AWD 89, S. 465. 91

vgl. Beschluß des Rates vom 25.11.88 in ABl L 319.

92

Ossenbühl, S. 434; von Bogdandy Jus 90, S. 877; Knöpfte anwalt Roemer Schlußanträge EuGHE 61, S. 435,490 f6. 93

NJW 61, S. 2288 ff; a.A.

NJW 61, S. 2291; Gernerai-

Ossenbühl, S. 4358.

94

Außer den allgemeinen Entscheidungen nach Art 14 Abs. 2 EGKSV (im EWGV und EAGV = Verordnungen) und den Empfehlungen nach Art. 14 Abs. 3 EGKSV (im EWGV und EAGV = Richtlinien), die schon durch Art 34 Abs. 1 EGKSV erfaßt sind, gibt es keine Maßnahmen mit Rechtsnormqualität. 95

S. 636. 96

vgl. hierzu von Bogdandy Jus 90, S. 877; und die Ausführungen des EuG in EuZW 91, EuGHE 65, S. 1197 ff, 1231 ff.

188

5. Kapitel: Haftung der Europäischen Gemeinschaften

Rechtsprechung zu Art. 215 Abs. 2 EWGV überholt ist In der Rechtsfolge geht der Anspruch aus Art. 40 Abs. 1 EGKSV auf Entschädigung in Geld, Naturalrestitution ist ausgeschlossen.97 Zu ersetzen ist auch hier wiederum nur der unmittelbar entstandene Schaden.98 Die zu gewährende Entschädigung erreicht aber im Gegensalz zu der in Art. 34 Abs. 1 Satz 3 EGKSV angeordneten billigen Entschädigung den vollen Umfang eines Schadensersatzes.99 IV. Haftung für normatives Unrecht nach ungeschriebenen Haftungsinstituten In der Literatur finden sich vereinzelt Ansätze, den Folgenbeseitigungsanspruch, wie er im deutschen Rechtskreis entwickelt worden ist, auch im Recht der Europäischen Gemeinschaften einzuführen. Als mögliche Grundlagen eines solchen Anspruchs werden die Bestimmungen der Art 176 Abs. 1 EWGV, Art. 149 Abs. 1 EAGV und des Art 34 Abs. 1 Satz 2 EGKSV genannt.«» Auch der Europäische Gerichtshof hat in mehreren Urteilen angedeutet, daß die zuständigen Organe eine Pflicht zur Beseitigung der eingetretenen Nachteile trifft, und zwar auch im Bereich des normativen Unrechts.101 Eine ausdrückliche Anerkennung eines solchen Folgenbeseitigunganspruches ist bisher jedoch nicht erfolgt Es bleibt daher abzuwarten, ob sich im Europäischen Gemeinschaftsrecht ein solcher Anspruch durchsetzen wird. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß alle drei Gemeinschaftsverträge eine Haftung der EG-Organe für normatives Unrecht kennen und der Europäische Gerichtshof, wenn auch unter einschränkenden Bedingungen, in mehreren Fallen Schadensersatzansprüche bei normativem Unrecht zugesprochen hat

97

Ossenbühl, S. 435.

98

Much in: Mosler (Haftung des Staates), S. 737.

99

Ossenbühl, S. 435, Knöpfle NJW 61, S. 2291.

100

Fuss EuR 68, S. 359; vgl. audi Sack EuR 86, S. 252,255 f; Kreßel (Öffentliches Haftungsrecht), S. 139 ff. 101

EuGHE 80, S. 665,679; EuGHE 77, S. 1753,1754; EuGHE 77, S. 1795,1796,1813.

. Kapitel

Haftung für legislatives Unrecht in anderen Europäischen Rechtsordnungen

Angesichts des Fortschritts der europäischen Integration und der damit einhergehenden Rechtsvereinheitlichung im europäischen Raum lohnt sich ein kurzer Blick auf die Haftungsregelungen bei legislativem Unrecht in anderen europäischen Rechtsordnungen. Eine Haftung für rechtswidrige Akte der Legislative kann aber nur in den Rechtsordnungen existieren, in denen die folgenden rechtlichen Prämissen erfüllt sind: Zunächst muß die Möglichkeit bestehen, daß Akte der Gesetzgebung überhaupt rechtswidrig sein können. Dies ist nur dann der Fall, wenn der Gesetzgeber beim Erlaß von Gesetzen das bestehende Verfassungsrecht oder sonstiges höherrangiges Recht zu beachten hat1 un nicht selbst abschließend bestimmt, was rechtens ist Darüberhinaus kann eine Haftung für rechtswidrige Gesetzgebung in der Praxis nur dann verwirklicht werden, wenn die Gesetze von den Gerichten auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüft werden können.2 I· Haftung für legislatives Unrecht in den EG-Mitgliedstaaten In den EG-Mitgliedstaaten stellt sich nicht nur die Frage, ob die nationale Gesetzgebung an die jeweils existierende Verfassung gebunden ist, sondern auch die Frage, inwieweit die nationale Gesetzgebung das Recht der Europäischen Gemeinschaften zu beachten hat. Inzwischen wird in allen Mitgliedstaaten der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht anerkannt.3 In den Mitgliedstaaten, die wegen der mangelnden Bindung der Legislative an die Verfassung oder aufgrund des fehlenden richterlichen Prüfungsrechts gegenüber Parlamentsgesetzen keine Haftung für rechtswidrige Parlamentsge-

1 vgl. etwa Stein/Bernhardt in Zur Reform des Staatshaftungsrecht, Rechtsvergleichendes Gutachten des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, S. 17; Morvay in Mosler (Haftung des Staates), S. 776. 2 3

Stein/Bernhardt,

S. 17; Morvay, S. 776.

Nachweise bei Nicolaysen (Europarecht I), S. 45 ff; Oppermann (Europarecht), Rdnr. 529 ff; SchweitzeHHummer (Europarecht), S. 236 ff.

6. Kapitel: Haftung in anderen europäischen Ländern

190

setze kennen, wird daher das Problem aufgeworfen, ob aus der Bindung dieser Mitgliedstaaten an das Recht der Europäischen Gemeinschaften konkrete haftungsrechtliche Folgerungen bei einem Verstoß des nationalen Gesetzgebers gegen das Gemeinschaftsrecht hergeleitet werden können. In diesem Zusammenhang kommt dem Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften vom 19.11.19914 entscheidende Bedeutung zu. Der Gerichtshof hat in diesem Urteil ausgeführt, daß es ein Grundsatz des Gemeinschaftsrechts ist, daß die EG'Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden verpflichtet sind, die dem einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen. 5 Der Gerichtshof der Europä-ischen Gemeinschaften brachte in diesem Urteil zum Ausdruck, daß von dieser Haftung nicht nur Verstöße der Exekutive gegen das Gemeinschaftsrecht erfaßt werden, sondern auch gemeinschaftsrechtswidrige Akte der Legislative. Dies ergibt sich insbesondere aus der allgemein gehaltenen Formulierung der Entscheidungsgründe, aber auch aus der Tatsache, daß der Gerichtshof in diesem Urteil die Frage bejaht hat, daß die Nichtumsetzung einer EG-Richtlinie, die in der Praxis entweder durch ein innerstaatliches formelles Gesetz oder durch eine innerstaatliche Rechtsverordnung erfolgt, einen Schadensersatzanspruch auslöst. Der vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften festgestellte Entschädigungsanspruch ist unmittelbar im Gemeinschaftsrecht begründet, mangels einer ausdrücklichen gemeinschaftsrechtlichen Regelung obüegt es jedoch den Mitgliedstaaten, die materiellen und formellen Voraussetzungen für diesen Schadensersatzanspruch zu regeln.6 Allerdings gibt der Gerichtshof einige Vorgaben für die materiellen Voraussetzungen der Haftung. Er fordert, daß die materiellen Haftungsvoraussetzungen nicht so ausgestaltet sein dürfen, daß "sie es praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, die Entschädigung zu erlangen."7 Dies bedeutet, daß selbst in den Mitgliedstaaten, in denen eine Haftung für legislatives Unrecht unbekannt ist, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Entschädigung für legislative Verstöße gegen das Europäische Gemeinschaftsrecht zu gewähren ist Es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit die betreffenden Mitgliedstaaten die Forderungen des Gerichtshofs erfüllen werden. Eine nähere Auseinandersetzung mit dieser Problematik würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich daher ausschließlich auf die Frage, welche der Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer nationalen Rechtsordnungen eine Haftung für Parlamentsgesetze, die mit der jeweiligen Verfassung nicht in Einklang stehen, kennen.

4

ZIP 91, S. 1610 ff, 1613.

5

£ « G t f Z I P 9 1 , S . 1610 ff.