Die großen Themen der Philosophie: Eine Anstiftung zum Weiterdenken 9783863127848

Was können wir wissen? Wer sind wir? Gibt es einen letzten Grund der Wirklichkeit? Was sollen wir tun? Volker Steenblock

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Die großen Themen der Philosophie: Eine Anstiftung zum Weiterdenken
 9783863127848

Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
1 Das Staunen zu Beginn oder: Warum Philosophie?
1.1 Was ist Philosophie?
1.2 Jeder philosophiert!
1.3 Die großen Themen der Philosophie
Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur
2 Was die Welt im Innersten zusammenhält: Von den Kosmologien der Antike zu den modernen Naturphilosophien
2.1 Ein Prinzip als Urgrund der Welt
2.2 Die Neuzeit: Natur wird zum Objekt
2.3 Die Naturvorstellungen unserer wissenschaftlich geprägten Zivilisation ...
2.4 … und ihr ökologisches Bewusstsein
Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur
3 Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Die Metaphysik und ihre Bestreitung
3.1 Auf der Suche nach dem höheren Sinn – Aufstieg und Herrschaft der Metaphysik
3.2 Der Sturz der Königin: Die Bestreitung der Metaphysik
3.3 Heidegger und die Überbietung der Metaphysik
3.4 Metaphysik heute?
Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur
4 Am Anfang war das Wort – Sprachphilosophie
Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur
5 Was können wir wissen? – Erkenntnistheorie
5.1 Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde
5.2 Besser eine schöne Illusion als eine schlechte Wirklichkeit?
Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur
6 Wissenschaft und Technik prägen unser Leben
6.1 Was ist Wissenschaft?
6.2 Einen Tiger reiten – Wissenschaft und Technik als doppeldeutige Macht
6.3 Natur- contra kulturwissenschaftliche Bildung?
Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur
7 Was sollen wir tun? Ethik und Lebenskunst
7.1 „Ethik" – Ein Begriff aus der Antike
7.2 Ethik als Nutzenkalkül – Der Utilitarismus
7.3 Der kategorische Imperativ – Kants berühmte Moralformel
7.4 Der schwierige Nietzsche – Moralkritik in der Moderne
7.5 Auf der Suche nach einer Instanz: Letztbegründung und Diskursethik
7.6 Der Preis des Fortschritts: Angewandte Ethik
7.7 Leben statt gelebt zu werden!
Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur
8 Politik – Realismus und Utopie
8.1 Der Mensch – politisches Lebewesen oder Wolf seines Mitmenschen?
8.2 Politik als Lernprozess: Menschenrechte und Gewaltenteilung
8.3 Das Neue oder das Alte – wo liegt die Beweislast?
Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur
9 Was ist Kultur?
Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur
10 Gibt es einen Sinn in der Geschichte?
10.1 Nur ein Kreislauf des Lebens? – Anfänge des Geschichtsdenkens
10.2 Das große Drama – Geschichtstheologie und Geschichtsphilosophie
10.3 Fortschritt oder Katastrophe des Menschengeschlechtes?
10.4 Wir müssen uns geschichtlich verstehen
Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur
11 Die Kunst gibt zu denken – Ästhetik
11.1 Autonome Kunst und ästhetische Erfahrung
11.2 Versachlichung der Welt, Überforderung des Menschen – Kunst als Kompensation?
11.3 Das radikale Kunstwerk – Theorie der Avantgarde
11.4 Die Abenteuer der marxistischen Ästhetik im 20. Jahrhundert
11.5 Heute alles nur Design?
Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur
12 Was dürfen wir hoffen? Religionsphilosophie
12.1 Was bedeutet die Religion für den Menschen?
12.2 Zur Frage nach Ursprung und Sinn
12.3 Wo ist Gott angesichts des Leidens? Das Theodizee-Problem
12.4 Gibt es ein Weiterleben nach dem Tod?
12.5 Die Philosophie und die Religionskritik
12.6 Wiederkehr der Religion?
Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur
13 Was ist der Mensch? Philosophische Anthropologie
13.1 Krone der Schöpfung oder Mängelwesen?
13.2 Naturhafte neuronale Maschine oder Vernunftwesen?
13.3 Wahrhaft Menschen müssen wir erst werden – Der Mensch als Aufgabe seiner selbst
Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur
14 Zum Abschluss
Verzeichnis der Zum Weiterdenken angebotenen Textauszüge nach Philosophen in chronologischer Reihenfolge
Anmerkungen
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Volker Steenblock

Die großen Themen der Philosophie 2. Auflage

Volker Steenblock

Die großen Themen der Philosophie Eine Anstiftung zum Weiterdenken

2. Auflage

Für Inga

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 2., überarbeitete Auflage 2011 © 2011 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 1. Auflage 2003 Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Janß GmbH, Pfungstadt Einbandabbildung: The chicken or the egg © picture-alliance / Design Pics Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-23886-6 Die Buchhandelsausgabe erscheint beim Primus Verlag. Einbandabbildung: The chicken or the egg © picture-alliance / Design Pics Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M. www.primusverlag.de

ISBN 978-3-89678-767-5 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-71292-2 (für Mitglieder der WBG) eBook (epub): 978-3-534-71294-6 (für Mitglieder der WBG) eBook (PDF): 978-3-86312-783-1 (Buchhandel) eBook (epub): 978-3-86312-784-8 (Buchhandel)

Inhalt

Inhalt

Zum Umgang mit diesem Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Das Staunen zu Beginn oder: Warum Philosophie? . . . . . 1.1 Was ist Philosophie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Jeder philosophiert! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die großen Themen der Philosophie . . . . . . . . . . Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur

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4 Am Anfang war das Wort – Sprachphilosophie . . . . . . . . . Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur . .

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5 Was können wir wissen? – Erkenntnistheorie . . . . . . . . . 5.1 Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde . . . . . . .

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2 Was die Welt im Innersten zusammenhält: Von den Kosmologien der Antike zu den modernen Naturphilosophien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Ein Prinzip als Urgrund der Welt . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Neuzeit: Natur wird zum Objekt . . . . . . . . . . . 2.3 Die Naturvorstellungen unserer wissenschaftlich geprägten Zivilisation … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 … und ihr ökologisches Bewusstsein . . . . . . . . . . . Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur . 3 Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Die Metaphysik und ihre Bestreitung . . . . . . . . . . . . 3.1 Auf der Suche nach dem höheren Sinn – Aufstieg und Herrschaft der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der Sturz der Königin: Die Bestreitung der Metaphysik . 3.3 Heidegger und die Überbietung der Metaphysik . . . . 3.4 Metaphysik heute? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur

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Inhalt

5.2 Besser eine schöne Illusion als eine schlechte Wirklichkeit? . Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur . . 6 Wissenschaft und Technik prägen unser Leben . . . . . . . . . 6.1 Was ist Wissenschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Einen Tiger reiten – Wissenschaft und Technik als doppeldeutige Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Natur- contra kulturwissenschaftliche Bildung? . . . . . . . Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur . .

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7 Was sollen wir tun? Ethik und Lebenskunst . . . . . . . . . 7.1 „Ethik“ – Ein Begriff aus der Antike . . . . . . . . . . . . 7.2 Ethik als Nutzenkalkül – Der Utilitarismus . . . . . . . . 7.3 Der kategorische Imperativ – Kants berühmte Moralformel 7.4 Der schwierige Nietzsche – Moralkritik in der Moderne . . 7.5 Auf der Suche nach einer Instanz: Letztbegründung und Diskursethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Der Preis des Fortschritts: Angewandte Ethik . . . . . . . 7.7 Leben statt gelebt zu werden! . . . . . . . . . . . . . . . Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur .

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8 Politik – Realismus und Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Der Mensch – politisches Lebewesen oder Wolf seines Mitmenschen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Politik als Lernprozess: Menschenrechte und Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Das Neue oder das Alte – wo liegt die Beweislast? . . . . . Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur .

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9 Was ist Kultur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur . .

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10 Gibt es einen Sinn in der Geschichte? . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Nur ein Kreislauf des Lebens? Anfänge des Geschichtsdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Das große Drama – Geschichtstheologie und Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Fortschritt oder Katastrophe des Menschengeschlechtes? . . 10.4 Wir müssen uns geschichtlich verstehen . . . . . . . . . . Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur . .

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Inhalt

11 Die Kunst gibt zu denken – Ästhetik . . . . . . . . . . . . . 11.1 Autonome Kunst und ästhetische Erfahrung . . . . . . . 11.2 Versachlichung der Welt, Überforderung des Menschen – Kunst als Kompensation? . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Das radikale Kunstwerk – Theorie der Avantgarde . . . . 11.4 Die Abenteuer der marxistischen Ästhetik im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5 Heute alles nur Design? . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur .

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12 Was dürfen wir hoffen? Religionsphilosophie . . . . . . . . . 12.1 Was bedeutet die Religion für den Menschen? . . . . . . . 12.2 Zur Frage nach Ursprung und Sinn . . . . . . . . . . . . 12.3 Wo ist Gott angesichts des Leidens? Das Theodizee-Problem 12.4 Gibt es ein Weiterleben nach dem Tod? . . . . . . . . . . 12.5 Die Philosophie und die Religionskritik . . . . . . . . . . 12.6 Wiederkehr der Religion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur . .

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13 Was ist der Mensch? Philosophische Anthropologie . . . . . . 13.1 Krone der Schöpfung oder Mängelwesen? . . . . . . . . . 13.2 Naturhafte neuronale Maschine oder Vernunftwesen? . . . 13.3 Wahrhaft Menschen müssen wir erst werden – Der Mensch als Aufgabe seiner selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur . .

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Verzeichnis der Zum Weiterdenken angebotenen Textauszüge nach Philosophen in chronologischer Reihenfolge . . . . . . . . . . . .

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Zum Umgang mit diesem Band

Zum Umgang mit diesem Band

Philosophie ist eine spannende Angelegenheit: der Versuch, Antworten zu finden auf Fragen, die jede(r) von uns sich, sei es allein, sei es im Gespräch, immer schon stellt: nach Glück und einem gelingenden Leben, nach moralischer Verantwortung, nach Sinn und Ursprung der Welt, nach Wahrheit, nach der Bedeutung der Kunst für uns, nach Tod und Weiterleben. Wir können als Menschen gar nicht leben, ohne uns über solche Themen Gedanken zu machen. Denn jeder trägt im Innersten, in Schule, Ausbildung, Beruf, in allen Phasen seines Lebens, im Alter, seine „Lebensphilosophie“ mit sich herum – freilich mehr oder weniger bewusst und explizit. Dass Philosophie jede(n) angeht, bedeutet jedoch nicht im Sinne einer Entleerung des Begriffs zu Gesinnungskundgebung und bloß vagen Debatten, dass „alles“ Philosophie ist, von der „Produkt-Philosophie“ aus den medienbekannten Werbewelten bis zu einer „Freizeit-Philosophie“. Es gibt vielmehr eine Tradition „großer Themen“, zu denen der vorliegende Band eine Einladung aussprechen möchte. Sein Ziel ist es, unser aller lebensweltliches Interesse mit der Professionalität des Denkens zu vermitteln und das Gespräch beider zu erleichtern. Um dies zu erreichen, verknüpft die Konzeption dieses Buches Einführungen zu den „großen Themen“ der Philosophie mit Materialien, Arbeitsanregungen und Literaturangaben, die dem Leser einen ersten Zugang zum eigenen Philosophieren erlauben. (1) Die Einführungen zu den klassischen Themenfeldern der Philosophie gehen im Folgenden zugleich „systematisch“ und „historisch“ vor. Sie nennen systematisch wichtige Frageansätze und entsprechend einschlägig wichtige Antwortversuche von Philosophen, Positionen und Denkrichtungen. Diese werden im Sinne eines Lehrbuches vorgestellt. (2) Durch die Abschnitte Zum Weiterdenken erfüllt die vorliegende Darstellung auch Funktionen eines Studien- und Arbeitsbuches. Ihr Anliegen ist es, auf kritische Prüfung und Weiterverfolgung, auf eigene Zugriffe und eigenes Philosophieren neugierig zu machen. Hierzu dienen: – mehr als 40 anerkannt wichtige bzw. besonders interessante Textausschnitte, sozusagen „Perlen“ aus grundlegenden philosophischen Werken. Die Überschriften dieser Texte wurden im Allgemeinen neu vorangestellt

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Zum Umgang mit diesem Band

und geben einen ersten Hinweis zu ihrem Verständnis; Begriffserläuterungen erfolgen in den Texten in [Klammern]; hinzu treten: – text- und bilderschließende Arbeitsanregungen; – schließlich ermöglichen auch weiterführende Literaturangaben viele Zugänge zur Philosophie. Viel Vergnügen!

1 Das Staunen zu Beginn oder: Warum Philosophie?

„Denn jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt.“ Heinrich Heine

Das Staunen zu Beginn

„Welcher Philosophie würde es bedürfen, um darüber hinwegzukommen!“ Dies ist die Reaktion des Philosophen Ludwig Wittgenstein auf das Schicksal seines Bruders, des Pianisten Paul Wittgenstein, der 1914 an der russischen Front seinen rechten Arm verlor.1 Sie bringt die erstaunliche und bedenkenswerte Vorstellung ins Gespräch, Philosophie könnte für unser Leben eine direkte, prägende, auch tröstende Bedeutung gewinnen. Was kann die Philosophie für uns bedeuten? Ist sie nicht viel eher eine schwer verständliche wissenschaftliche Disziplin, eine Sache der Universitäten und der Tradition großer Koryphäen?

1.1 Was ist Philosophie? Was ist Philosophie?

„Das Wesen der Philosophie“ ist nicht einfach zu bestimmen.2 „Die Philosophie gibt es weder in der Geschichte noch in der Gegenwart. Es gibt immer nur eine Vielzahl von Perspektiven, mit denen philosophische Köpfe innerhalb und außerhalb der Institutionen auf letzte Fragen letzte Antworten zu geben versuchen.“ Diese Stellungnahme des Philosophen Willi Oelmüller (1930–1999) lässt schon erahnen, dass man es bei der weltweit an ungezählten Bildungsorten und Universitäten, aber auch im Alltagsleben betriebenen Philosophie und ihrer zweieinhalbtausendjährigen Geschichte mit einer durchaus vielgestaltigen Erscheinung zu tun hat. Philosophie ist ein Bemühen, das sich in immer neuen Lebenssituationen in Auseinandersetzung mit der Welt bildet. „Philosophie“ entstammt – dem Wort wie der Sache nach – dem antiken Griechenland und bedeutet „Freude haben“, „Gefallen finden“ (philein) an Wissen und Bildung (sophía). Philosophie bedeutet die Bereitschaft, über die Welt zu staunen – statt sie einfach, wie sie ist, hinzunehmen. Sie ist ein Verlangen nach Orientierung und Reflexion, sie zielt auf einen „Eros des Denkens“. „Philosophie“ wird oft auch mit „Liebe zur Weisheit“3 übersetzt. Das ist

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Das Staunen zu Beginn

durchaus bescheiden gemeint, liegt doch die Betonung auf der „Liebe“ zu Orientierung, Erkenntnis und Reflexion und nicht auf deren Besitz. Von Sokrates (469–399 v. Chr.) – einem der ersten Philosophen und zugleich einem der berühmtesten – wird bekanntermaßen bis in unsere Alltagswelt hinein der Spruch kolportiert: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Bei „Weisheit“ denkt man an ein abgeklärtes Alter und womöglich ist in der Tat das Denken etwas, worin man mit zunehmendem Alter immer noch besser werden kann. Aber über sich selbst nachzudenken und sich zur Welt in ein bewusstes Verhältnis zu setzen – dafür ist es, das ist offensichtlich, nie zu früh und nie zu spät: Die Philosophie behandelt die Grundfragen unserer Existenz. Es ist unmöglich, auf der Welt zu sein, zu leben – und über diese ungeheure Tatsache nicht zu staunen und nach einem „Sinn“ des Ganzen zu fragen. Der Philosophie geht es damit um Fragen, die wir alle uns, sei es allein, sei es im Gespräch, schon einmal gestellt haben. Jede(r) kann und muss sich fragen: Wenn ich meine „Lebensziele“ angeben müsste – welche würde ich nennen? Welche Werte zählen im menschlichen Miteinander? – und er ist mitten im Philosophieren. Nun gibt es aber auf der anderen Seite den Hinweis, dass nicht im Sinne bloßer Gesinnungskundgebung und vager Debatten „alles“ Philosophie sein kann. In der Werbung und in den Medien ist gelegentlich die Rede von „Unternehmensphilosophie“, „Produkt-Philosophie“ oder einer durch die richtige Zigarettenmarke oder einen griechischen Anisschnaps zu erlangenden „neuen Lebensphilosophie“. Das kann’s ja wohl nicht sein, wird natürlich mit Recht eingewandt.4 Nicht schon Philosophie sind auch alle generellen und diffusen Vorstellungen und Lebenseinschätzungen vom oftmalig unbefragten Alltagshedonismus im einschlägigen „Partyalter“ bis zu „Freut euch des Lebens, eh’ es vergeht“ am Stammtisch.

1.2 Jeder philosophiert! Jeder philosophiert!

Und doch besteht ein Zusammenhang: Diese alltagsweltlichen Situationen artikulieren leichter, was im Alltag häufig verschüttet ist: die letzte Ebene unserer Auffassungen, die „Grundkoordinaten“ unserer Einstellungen und Wertungen, von denen aus wir unser Leben gestalten. Manchmal sind es auch Ausnahmesituationen: Erschütterungen, Zweifel, Konflikte, Ängste, Todeserfahrungen, aber auch Erfahrungen von Glück und Staunen, von Überschwang und Liebe, in denen sich die Möglichkeit eröffnet, in eine Dynamik des eigenen Denkens hineinzukommen und ihm die Fragen und Antwortversuche der Philosophiegeschichte zu vermitteln. Philosophieren bedeutet, den Weg vom weniger Bewussten und Unexpliziten zur Reflexion und zum „selbsteigenen Gebrauch der Vernunft“ zu gehen,

Jeder philosophiert!

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wie es Immanuel Kant (1724–1804) formuliert hat. Es ist keine geringe Tradition des deutschen philosophischen Denkens, die jeden von uns zu Reflexion und Philosophie auffordert. Wilhelm von Humboldt (1767–1835) hat mit einer solcher geistigen „Arbeit am Ich“ das Wesen des Menschen verbunden (im Anhang an dieses Kapitel: Zum Weiterdenken finden sich Texte hierzu: Sokrates, Kant, Hegel, Humboldt). Hierzu bedarf es der Philosophie als Fachwissenschaft, wenn man so will: der professionellen Philosophen. Die sind aber für unsere aus dem Lebensalltag erwachsenden Fragen kein ganz einfacher Partner. Man muss nämlich gar nicht besonders böswillig sein, um zu finden, an der Universität würden vor allem abstrakte und entlegene Detailprobleme behandelt, kurz: etwas, das mit unseren Fragen und unserer Wirklichkeit nicht allzu viel zu tun zu haben scheint. Was Fachphilosophen schreiben, lesen zumeist Fachphilosophen: Kritiker haben von den Universitätsphilosophen schon einmal gesagt, dass sie einen Selbstbedienungsladen beliefern, in dem sie selbst die einzigen Kunden sind. So nachvollziehbar aber dies Ungenügen an manchen Spezialitäten des Forschungsbetriebes in Vergangenheit und Gegenwart sein mag, so blind die akademische Philosophie oftmals für die Lebenswelt ist: so leer droht auch eine alltagsweltliche Reflexion zu bleiben, die sich nicht zugleich abarbeitet an den Inhalten der philosophischen Tradition. Diese Inhalte kennen zu lernen – so sagt es Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) – heißt Philosophieren. Als Universitätsdisziplin muss die Philosophie auch praxisbezogene Themen erst einmal argumentativ und wissenschaftlich behandeln; noch manche erfolgreiche Einführung in die Philosophie hält es in diesem Sinne äußerst solide.5 Die Philosophie muss zugleich aber sehr wohl, wie man gesagt hat, „menschlich mit Menschen über Menschliches reden“ – sie entstammt ja der Öffentlichkeit! Einer der frühen Orte des Philosophierens ist die Agorá in Athen, auf der ein Sokrates seine Mitbürger mit Philosophie konfrontiert: er begibt sich auf den Markt, in das Zentrum des öffentlichen Lebens. Heute müsste man in die Einkaufszonen unserer Städte oder in die Medien gehen, um die Menschen so zu erreichen. In diesem Sinne öffnet sich die Philosophie gerade in den letzten Jahren einem breiten interessierten Publikum. Seminare und Kurse zu den „Großen Themen“ an den Bildungsorten füllen sich, neue Zugangsweisen erschließen sich vom Philosophieren mit Kindern über die Schulen und das Studium im Alter bis zum Internet. Zur Philosophie hinzuführen, unternimmt seit langem ein traditionsreiches Genre von „Einleitungen“. Bereits Friedrich Paulsen, einer der ersten Pädagogen und Philosophen an der Berliner Universität, ein Pionier, hat sich hierum bemüht.6 Ein frühes, schon hilfreicheres Beispiel ist auch die „Einführung in die Philosophie“ von Karl Vorländer, auf den zudem eine erfolgreiche Philosophiegeschichte zurückgeht. Unter dem gleichen Titel hat der Philo-

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Das Staunen zu Beginn

soph Karl Jaspers (1883–1967) in der ihm eigentümlichen Diktion einen „Wille[n] zur philosophischen Lebensführung“ gefordert. Für die Gegenwart schon des 20. Jahrhunderts muss Jaspers eine „Selbstvergessenheit im Verzehrtsein durch den Betrieb“ konstatieren: „Geordnet durch die Uhr, abgeteilt in absorbierende oder leerlaufende Arbeiten, die immer weniger den Menschen als Menschen erfüllen, bringt sie es zu dem Extrem, dass der Mensch sich als Maschinenteil fühlt, das wechselnd hier und dort eingesetzt wird, und, wenn freigelassen, nichts ist und mit sich nichts anfangen kann. Und wenn er gerade beginnt, zu sich zu kommen, will der Koloss dieser Welt ihn doch wieder hineinziehen in die alles verzehrende Maschinerie von leerer Arbeit und leerem Vergnügen der Freizeit.“ Hier gegen bedarf es einer besonderen Anstrengung, eines „Sichherausreißens“ und des Entschlusses zur „philosophischen Lebensführung“. Jaspers fordert: „Nicht vergessen, sondern innerlich aneignen, nicht sich ablenken, sondern innerlich durcharbeiten, nicht erledigt sein lassen, sondern durchhellen, das ist philosophische Lebensführung“.7

1.3 Die großen Themen der Philosophie Die großen Themen der Philosophie

Viele Einführungen in die Philosophie benennen ihre Themen und Teilgebiete im Geiste Immanuel Kants. Der schrieb: „Das Feld der Philosophie […] lässt sich auf folgende Fragen bringen: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen“.8 Auch wenn sich die großen Themengebiete erst im Laufe der Geschichte professionell entwickeln, werden ihre Grundfragen doch von Anfang an gestellt und etablieren sich zu „Disziplinen“ der Philosophie; ihnen gehen die folgenden Kapitel dieses Buches nach: Was etwa Erkenntnis überhaupt sei, wie sie zustande kommt und wo ihre Grenzen liegen: das ist ein Grundthema der Philosophie von Anfang an (Kapitel 5). Im 20. Jahrhundert gelingt im Zusammenhang mit Erkenntnisfragen der Sprachphilosophie ein großer Bedeutungszuwachs: „Sprache“ erscheint eine Zeitlang als neuer Schlüssel zu allen alten Problemen (Kapitel 4). Von „Erkenntnis“ möchte man im Allgemeinen verlangen, dass sie „wahr“ bzw. „zutreffend“ ist: eng mit der Erkenntnistheorie verbunden ist darum auch die Frage, in welchem Sinne man von „Wahrheit“ reden kann. Das Spektrum reicht dabei von den grundsätzlichen Welterklärungsansprüchen der Metaphysik (Kapitel 3) bis zu der Auffassung, dass alle „Wirklichkeit“ nur eine kul-

Die großen Themen der Philosophie

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turelle Konstruktion darstelle. Vor allem die Natur- und die Wissenschaftsphilosophie (Kapitel 2 und 6) machen in der Moderne der klassischen Metaphysik, die vom Grund der Welt, von Gott und der unsterblichen Seele handelte, zunehmend den Rang streitig. Was wir heute von der Welt zu wissen glauben, ist von den Ergebnissen der empirischen Wissenschaften, und was wir für vernünftig halten, von ihrem Denkstil entscheidend geprägt. Zudem ist es der große Einfluss von Wissenschaft und Technik in unseren Lebens- und Weltverhältnissen, der zum Nachdenken zwingt. Der bis hierher skizzierten, auf Wissen ausgerichteten „theoretischen“ Philosophie steht die Praktische Philosophie gegenüber. In traditionalen Gesellschaften regeln, z. B. in Vergegenwärtigung der in den Mythen überlieferten Weltdeutungen, unbefragt in Geltung stehende Normen und Institutionen das soziale, sittliche und politische Handeln. In Umbruchszeiten aber und wenn die Legitimität institutionalisierter Sittensysteme in Zweifel gezogen wird, entstehen die Kantische Frage: „Was sollen wir tun?“ und ein Bedarf nach philosophischer Reflexion über Werte und Normen. In der Ethik geht es entsprechend nicht um das Sein und seine Erkenntnis, sondern um ein Sollen, um menschliche Praxis und Lebensweise. Ethische Sätze beschreiben keine Sachverhalte, sondern sind normativ und präskriptiv [auf Werte ausgerichtet, schreiben etwas vor]. Auch die Fragen nach Glück und Lebenskunst gehören zur Ethik (Kapitel 7). Das Politische entsteht, ähnlich wie das Ethische, indem das Individuum sich mit der Grundtatsache konfrontiert sieht, nicht alleine auf der Welt zu sein, sondern sich zusammen mit anderen vorfindet, mit denen es sich auseinander zu setzen hat, deren es aber auch bedarf (Kapitel 8). Die Bemühungen der Kultur- und Geschichtsphilosophie (Kapitel 9 und 10; beide sind Hervorbringung vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts) fragen nach den treibenden Kräften und bewegenden Faktoren der Kultur und nach „der einen Geschichte“ mit womöglich angebbarem Ziel bzw. nach einem Fortschritt oder Rückschritt des Menschengeschlechtes. Der Begriff Ästhetik bezeichnet die philosophische Reflexion auf die Künste und das Schöne oder auch, wie man für die Gegenwart formuliert hat, auf die „nicht mehr schönen“ Künste (Kapitel 11). Neben der Theologie hat auch die Religionsphilosophie (Kapitel 12) immer schon über Fragen nach Religion, Gott und Jenseits nachgedacht. Und noch vor aller Biologie fragt die philosophische Anthropologie (Kapitel 13) nach dem Wesen des Menschen und nach der Bestimmung humaner Existenz. All diese hier genannten Themenfelder werden im Folgenden im Einzelnen vorgestellt und erläutert, um einen ersten Eindruck von den fachlichen Debatten der Philosophie zu geben, wie sie den Lauf ihrer Entwicklung bestimmen. Diese Lektüre mag inspirieren, sich selbst mit Textauszügen und Ideen auseinanderzusetzen: hierzu werden Materialien, Arbeitsanregungen und

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Das Staunen zu Beginn

Literatur Zum Weiterdenken angeboten. Im Folgenden geht es dabei zunächst einmal um den richtigen Zugang zur Philosophie.

Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur

Zum Weiterdenken

Sokrates Er hätte als Sohn einer der führenden Familien Athens hohe Ämter bekleiden können. Aber der griechische Philosoph Platon ging schon früh bei dem geradezu plebejischen Sokrates in eine Lehre des Denkens und beschäftigte sich mit der Philosophie, um schließlich selbst einer ihrer herausragenden Vertreter zu werden. Sokrates selbst hat nichts geschrieben. Platon ist es, der ihn in seinen Dialogen auftreten lässt. In seiner Schrift „Symposion“ („Das Gastmahl“) findet sich eine der schönsten Antworten auf die Frage, was das Philosophieren denn eigentlich ausmacht. Der Dialog ist wohl zwischen 384 und 379 v. Chr. verfasst worden; sein Untertitel lautet übrigens: „Von der Liebe“. Eingeladen hat der Dichter Agathon. Unter den Gästen ist auch Sokrates. Die Teilnehmer der fröhlichen und heiteren Runde beschließen auf Vorschlag des Arztes Eryximachos, den Abend mit einem philosophischen Gespräch zu verbringen (und deshalb nicht allzu viel zu trinken). Thema des Gesprächs soll der Eros sein. Der Reihe nach werden dann Lobreden auf den Gott der Liebe gehalten. Seine Schönheit, seine Macht usw. werden gepriesen. Sokrates freilich gibt, statt eine solche Rede zu halten, ein Gespräch wieder, das zwischen ihm und einer gewissen Diotima stattgefunden habe. Der Kern dessen, was Sokrates (Platon) zu sagen hat, ist in den längeren Ausführungen der Diotima enthalten. Diese „gottgeweihte“ Diotima, Seherin aus Mantineia, eine wohl von Platon erfundene Figur, macht deutlich: Wirkliche Philosophen sind nicht die, die – gottgleich müssten sie ja sein! – alles wissen. Und die, die sich nicht für Wissen interessieren – die sind erst recht keine Philosophen. Philosophen sind gerade die, nicht wissen, aber zu wissen verlangen. Hierfür steht der „Eros des Denkens“. Der strebend-verlangende „Eros“, Namensgeber unserer, auch im Symposion zunächst durchaus sexuell verstandenen „Erotik“, kann darüber hinaus zugleich als eine Würdigung des Sokrates verstanden werden, der bekanntermaßen von äußerer Gestalt (nicht nur wegen der berühmten aufgeworfenen Nase) nicht eben gut aussehend gewesen sein soll. Eros erweist sich nämlich im „Symposion“ gerade nicht als die schöne und ideal-jugendliche Gestalt, als die er in der Kunst häufig dargestellt wird. Er ist kein Engel, kein überirdischer Liebesgott, der seine Pfeile verschießt und so die Liebe zwischen den Getroffenen entfacht. Sondern Eros ist, der Diotima zufolge, ein unansehnliches und „struppiges“ Zwischenwesen, das doch zugleich dem Schönen, Weisen und Guten verfallen ist und ihm

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unaufhörlich nachstellt. „Gerade durch seinen Mangel“ so hat man formuliert, „ist dieser Eros reich: Anders als die Götter, die Weisheit und Schönheit besitzen, und anders als die Törichten, die beides nicht vermissen, kann Eros nach Weisheit und Schönheit streben, kann philosophieren – und lieben“.9 Philosophie als Eros des Denkens Wer also, sprach ich, Diotima, sind denn die Philosophierenden, wenn es weder die Weisen sind noch die Unverständigen? – Das muss ja schon, sagte sie, jedem Kinde deutlich sein, dass es die zwischen beiden sind, zu denen auch Eros gehören wird. Denn die Weisheit gehört zu dem Schönsten und Eros ist Liebe zu dem Schönen, so dass Eros notwendig weisheitsliebend ist, und also als philosophisch in der Mitte zwischen den Weisen und Unverständigen steht. Und auch davon ist seine Herkunft Ursache; denn er ist von einem weisen und wohlbegabten Vater, aber von einer unverständigen und dürftigen Mutter. Dies also, lieber Sokrates, ist die Natur dieses Dämons. Was du aber glaubtest, das Eros sei, ist nicht zu verwundern. Du glaubtest nämlich, wie ich aus dem, was du sagst, vermuten muss, Eros sei das Geliebte, nicht das Liebende. Daher, meine ich, erschien dir Eros so wunderschön. Denn das Liebenswerte ist auch in der Tat das Schöne, Zarte, Vollendete, Seligzupreisende. Das Liebende aber hat ein anderes Wesen, so wie ich es beschrieben habe. – Darauf sagte ich, Wohl denn, Freundin, denn du hast wohl gesprochen. Wenn nun aber Eros ein solcher ist, welchen Nutzen gewährt er den Menschen? Dies, o Sokrates, sprach sie, will ich nun versuchen dich zu lehren. […] Als nämlich Aphrodite geboren war, schmausten die Götter, und unter den übrigen auch Poros, der Sohn der Metis. Als sie nun gespeist, kam, um sich etwas zu erbetteln, da es doch festlich herging, auch Penía, und stand an der Tür. Poros nun, berauscht vom Nektar, denn Wein gab es noch nicht, ging in den Garten des Zeus hinaus und schwer und müde, wie er war, schlief er ein. Penía nun, die ihrer Dürftigkeit wegen den Anschlag fasste, ein Kind mit Poros zu erzeugen, legte sich zu ihm und empfing den Eros. Deshalb ist auch Eros der Aphrodite Begleiter und Diener geworden wegen seiner Empfängnis an ihrem Geburtsfest, und weil er von Natur ein Liebhaber des Schönen ist und Aphrodite schön ist. Als des Poros und der Penía Sohn aber befindet sich Eros in solcherlei Umständen. Zuerst ist er immer arm, und bei weitem nicht fein und schön, wie die meisten glauben, vielmehr rau, unansehnlich, unbeschuht, ohne Behausung. Auf dem Boden immer umherliegend und unbedeckt schläft er vor den Türen und auf den Straßen im Freien, und ist der Natur seiner Mutter gemäß immer der Dürftigkeit Genosse. Und nach seinem

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Vater wiederum stellt er dem Guten und Schönen nach, ist tapfer, keck und rüstig, ein gewaltiger Jäger, allezeit irgend Ränke schmiedend, nach Einsicht strebend, sinnreich, sein ganzes Leben lang philosophierend, ein arger Zauberer, Giftmischer und Sophist, und weder wie ein Unsterblicher geartet noch wie ein Sterblicher, bald an demselben Tage blühend und gedeihend, wenn es ihm gut geht, bald auch hinsterbend, doch aber wieder auflebend nach seines Vaters Natur. Was er sich aber schafft geht ihm immer wieder fort, so dass Eros nie weder arm ist noch reich, und auch zwischen Weisheit und Unverstand immer in der Mitte steht. Dies verhält sich nämlich so: kein Gott philosophiert oder begehrt weise zu werden, sondern ist es. Noch auch, wenn sonst jemand weise ist, philosophiert dieser. Ebenso wenig philosophieren auch die Unverständigen oder bestreben sich, weise zu werden. Denn das ist eben das Arge am Unverstande, dass er, ohne schön und gut und vernünftig zu sein, doch sich selbst ganz genug zu sein dünkt. Platon, Das Gastmahl (Symposion). Platons Werke von F. Schleiermacher. Zweiten Teiles zweiter Band. Druck und Verlag von Georg Reimer, Berlin 1857, 294, 297, überarbeitet.

Immanuel Kant Seine sprichwörtlich pünktlichen Spaziergänge durch Königsberg, die alte Hauptstadt Ostpreußens, hat Kant zwar nicht dazu genutzt, um wie einst Sokrates seine Mitbürger anzuhalten und ins Philosophieren zu ziehen. Seine dickleibigen Bücher mit ihren langen und komplizierten Sätzen gelten vielmehr für mit als das Schwierigste an Theorie, was die Philosophie zu bieten hat. Nur „theoretisch“ war es aber durchaus nicht gemeint, was Kant zu sagen hatte. Dies zeigt seine berühmt gewordene Bestimmung des Philosophierens als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Dies kann nach der Überzeugung des Aufklärers und Didaktikers Kant durch die Kraft der selbstbestimmten („autonomen“) menschlichen Vernunft geschehen, die auf keine Belehrung durch fremdbestimmende („heteronome“) Autoritäten angewiesen ist. Im Sinne der Forderung: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ erscheint Philosophie hier als eine Sache, die jeden angeht. Philosophieren durch „selbsteigenen Gebrauch der Vernunft“ Zu einem Philosophen gehören hauptsächlich zwei Dinge: […] ohne Kenntnisse wird man nie ein Philosoph werden, aber nie werden auch Kenntnisse allein den Philosophen ausmachen. […] Es kann sich überhaupt keiner einen Philosophen nennen, der nicht philosophieren kann. Philosophieren lässt sich aber nur durch Übung und selbsteigenen Gebrauch der Vernunft lernen. […] Der wahre Philosoph

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muss also als Selbstdenker einen freien und selbsteigenen, keinen sklavisch nachahmenden Gebrauch von seiner Vernunft machen. Immanuel Kant: Logik, in: Kants Werke Bd. XI, Akademieausgabe, Berlin und Leipzig 1923, 25 f.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel Hatte Immanuel Kant mit seiner berühmten Aufklärungsforderung („Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“) den Akzent des Philosophierens vor allem auf die Ermunterung zum Selbstdenken gesetzt, so verweist Hegel auf die Bedeutung der objektiven Geistesentwicklung, der Philosophie selbst, für die Bildung des individuellen Menschen. Der Hauptvertreter des „Deutschen Idealismus“ war vor seiner Berliner Professur (1818 bis zu seinem Tode 1831) zeitweise Lehrer in Nürnberg. Als solcher setzte er sich auch mit Fragen philosophischer Bildung auseinander: Wie kann man das Philosophieren am besten lernen? Philosophieren lernen heißt Inhalte kennen lernen wie Städte beim Reisen Im Allgemeinen unterscheidet man (ein) philosophisches System mit seinen besonderen Szientien [Wissensinhalten] und das Philosophieren selbst. Nach der modernen Sucht, besonders der Pädagogik, soll man nicht sowohl in dem Inhalt der Philosophie unterrichtet werden, als man ohne Inhalt philosophieren lernen soll; das heißt ungefähr: man soll reisen und immer reisen, ohne die Städte, Flüsse, Länder, Menschen usf. kennen zu lernen. Fürs erste, indem man eine Stadt kennen lernt und dann zu einem Flusse, anderen Stadt usf. kommt, lernt man ohnehin bei dieser Gelegenheit reisen, und man lernt es nicht nur, sondern reist schon wirklich. So, indem man den Inhalt der Philosophie kennen lernt, lernt man nicht nur das Philosophieren, sondern philosophiert auch schon wirklich. Auch wäre der Zweck des Reisenlernens selbst nur, jene Städte usf., den Inhalt kennen zu lernen. Zweitens enthält die Philosophie die höchsten vernünftigen Gedanken über die wesentlichen Gegenstände, enthält das Allgemeine und Wahre derselben; es ist von großer Wichtigkeit, mit diesem Inhalt bekannt zu werden und diese Gedanken in den Kopf zu bekommen. Das traurige, bloß formelle Verhalten, das perennierende [andauernde] inhaltslose Suchen und Herumtreiben, das unsystematische Räsonieren oder Spekulieren hat das Gehaltleere, das Gedankenleere der Köpfe zur Folge, dass sie nichts können. G. W. F. Hegel, Über den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien (1812). Jubiläumsausgabe in 20 Bdn. hrsgg. von H. Glockner Bd. 3, Stuttgart 1927, 310 f.

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Wilhelm von Humboldt Der preußische Politiker Wilhelm von Humboldt, der im 19. Jahrhundert die heute nach ihm benannte Berliner Universität gegründet hat und auch als der Ahnvater des „humanistischen Gymnasiums“ gilt, formuliert im untenstehenden Textauszug: „Jedes Individuum ist eine in der Wirklichkeit dargestellte Idee“. Was bedeutet das: der einzelne Mensch als eine je eigene „Idee“? Diese „Idee“ ist bei Humboldt (anders als bei Platon) nicht etwas, das sozusagen am „Ideenhimmel“ schwebt, keine überzeitliche, universal vorbildliche Entität. Humboldt meint vielmehr ein immanentes Ziel, das die Individualität des Individuums ausmacht und diese im Lebens- und vor allem Bildungsprozess verwirklicht. Mancher Kritiker hat behauptet, dass eine solche „idealistische“ Auffassung unfähig sei, unsere Identitätsgewinnung als einen immer auch von äußeren Einflüssen und Zufällen abhängigen Prozess begreiflich zu machen. Doch hat Humboldt wohl kaum verkannt, dass diese „Ichwerdung“ die Aufgabe einer durchaus mühevollen Arbeit an uns selbst ist, die durch Widerstände und Hemmnisse hindurch erfolgen muss. Für Humboldt war es vor allem die griechische Antike, deren kulturelle Gehalte es dem Ich am besten erlauben, seine eigene Situation zu reflektieren und sich als Persönlichkeit auszubilden. Theorie der Bildung des Menschen (Ausschnitt) Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Tätigkeit nämlich steht der Mensch, der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Wert und Dauer verschaffen will. Da jedoch die bloße Kraft einen Gegenstand braucht, an dem sie sich üben, und die bloße Form, der reine Gedanke, einen Stoff, in dem sie, sich darin ausprägend, fortdauern könne, so bedarf auch der Mensch einer Welt außer sich. Daher entspringt sein Streben, den Kreis seiner Erkenntnis und seiner Wirksamkeit zu erweitern, und ohne dass er sich selbst deutlich dessen bewusst ist, liegt es ihm nicht eigentlich an dem, was er von jener erwirbt, oder vermöge dieser außer sich hervorbringt, sondern nur an seiner inneren Verbesserung und Veredlung oder wenigstens an der Befriedigung der inneren Unruhe, die ihn verzehrt. Rein und in seiner Endabsicht betrachtet, ist sein Denken immer nur ein Versuch seines Geistes, vor sich selbst verständlich, sein Handeln ein Versuch seines Willens, in sich frei und unabhängig zu werden, seine ganze äußere Geschäftigkeit überhaupt aber nur ein Streben, nicht in sich müßig zu bleiben. Bloß weil beides, sein Denken und sein Handeln nicht anders, als nur vermöge eines Dritten, nur vermöge des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas möglich ist, dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist, Nicht-Mensch, d. i. Welt zu sein, sucht er, soviel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.

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Die letzte Aufgabe unseres Daseins: dem Begriff der Menschheit in unserer Person, sowohl während der Zeit unseres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so großen Inhalt als möglich zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung. W. v. Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen (Bruchstück). In: Wilhelm von Humboldts Werke. Hrsgg, von A. Leitzmann, Bd. I, Berlin 1903, 282 – 287, 283. Text heutiger Schreibweise angepasst.

Arbeitsanregungen 1. Formulieren Sie, was Platons Text zufolge eigentlich „philosophisch“ ist! 2. Wenn Sie mit einem Becher Wein in der Hand beim Symposion säßen und eine Lobrede auf die Liebe halten sollten – was würde Sie sagen? 3. Formulieren Sie Hegels Bestimmung des Zugangs zur Philosophie in eigenen Worten. Können Sie zustimmen? 4. Kant und Hegel diskutieren im Jenseits – Abteilung Philosophie, Unterabteilung Deutscher Idealismus – über den richtigen Zugang zum Philosophieren. Schreiben Sie ein kleines kontroverses Gespräch auf. Setzen Sie sich im weiteren Verlauf Ihres Schriftstückes in Gedanken zu den beiden hinzu und diskutieren Sie mit! 5. „Das Ich ist nur eine Fiktion“. Widerlegen Sie diese Behauptung in einer kurzen schriftlichen Stellungnahme mit Bezug auf Humboldt! (Oder argumentieren Sie gegen Humboldt und für diese These, wenn sie Ihnen einleuchtet.) 6. Wie kann sich das „Ich“ (als „Geist“ und „Person“) nach Humboldt entwickeln? 7. Wer sind Sie, und wenn ja: wie viele? Überlegen Sie Lebensziele, Wünsche, Partnerbeziehungen, Vorbilder, Ihre kulturellen Interessen und Ihre Einstellung in der Politik sowie weitere für Sie relevante Felder Ihrer Existenz! Erstellen Sie zwei („innere“ oder auch schriftlich fixierte) Listen mit je vier oder fünf Punkten: Wichtig in meinem Leben ist – nur von zweitrangiger Bedeutung oder gar unwichtig in meinem Leben ist … 8. Zu welchen Fragen würden Sie von der philosophischen Tradition Auskünfte und Einsichten erwarten?

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Literatur – Empfehlungen zur Beschäftigung mit der Philosophie: St. Jordan – B. Mojsisch (Hrsg.), Philosophenlexikon, Stuttgart (Reclam) 2009 (handliches, gutes und günstiges Hilfsmittel). St. Law, Philosophie kompakt und visuell, München 2008 (optisch opulent gestaltete Einführung). J. Nida-Rümelin (Hrsg.), Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1991, 3. Aufl. 2007 (empfehlenswerte Arbeitshilfe zu etwa 120 neueren philosophischen Autoren: Vita, einführender Überblick über das Werk und zentrale Gedankengänge. Literaturangaben). P. Prechtl – F.-P. Burkard (Hrsg.), Metzler Philosophie-Lexikon. Stuttgart – Weimar 3. Aufl. 2008 (Begriffe, philosophische Grundströmungen). Philosophie im Internet: Philosophische Initiativen, Universitäten, Privatpersonen oder Interessengruppen bieten Informationen verschiedenster Art an. Weil praktisch jeder seine Produktionen ins Netz stellen kann, ist nicht alles, was man dort findet, immer gleich gut. Hilfreich ist z. B. www.informationphilosophie.de (Artikel, Texte, Termine, Übersichten – die informative Netzseite eines ebenfalls informativen Blattes). – Philosophen, Schriften, Begriffe natürlich auch über Wikipedia (es empfiehlt sich, immer zwei oder mehr Quellen, neben dem Internet auch die genannten Lexika, einander kontrollierend, zu befragen). Philosophische Zeitschriften: Wichtige Fachblätter sind: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie (AZP, seit 1976), Zeitschrift für Philosophische Forschung (ZphF, seit 1946), Philosophische Rundschau (seit 1953), Deutsche Zeitschrift für Philosophie. – Philosophiedidaktische Themen behandelt die Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik (ZDPE, seit 1979). J. Ritter – K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel – Stuttgart 1971 ff. (Wichtigstes, breit begriffsgeschichtlich angelegtes Wörterbuch in der deutschen Philosophie, „Flaggschiff“. Eher für strikter wissenschaftliche Zwecke als für eine erste Information; darin der Artikel Philosophie, Bd. 7, Basel – Stuttgart 1989, 572 – 879 als umfangreicher fachlicher Überblick über die Geschichte des Philosophiebegriffs und seine gegenwärtigen Hauptströmungen. Der Umfang dieses Artikels von über 300 Spalten – auch als selbständiges Buch erhältlich! – deutet bereits auf die Vielgestaltigkeit akademischer Philosophiekonzeptionen hin). V. Steenblock, Kleine Philosophiegeschichte, Stuttgart (Reclam) 2002, durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe 2007 (Überblick über die Geschichte der Philosophie von den Anfängen bis zur Gegenwart). V. Steenblock, Philosophisches Lesebuch, Stuttgart (Reclam) 2007; durchgesehene Ausgabe 2009 (Textsammlung zur Geschichte der Philosophie von den Anfängen bis zur Gegenwart). Taschenbuchreihen: Junius, „Zur Einführung“, die „Beck’sche Reihe: Denker“ und andere Reihen bieten einführende Monographien zu fast allen wichtigen Philosophen. Die Werke der Philosophen selbst sind vor allem in der Philosophischen Bibliothek bei Meiner, in Reclams Universal-Bibliothek und bei weiteren Taschenbuch-Verlagen erhältlich. Zu wichtigen Grundtexten bietet die Reihe „Werkinterpretationen“ bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt Einzelmonographien an).

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F. Volpi (Hrsg.), Großes Werklexikon der Philosophie, 2 Bde. Stuttgart 1999 (sehr empfehlenswerte Angaben zu Philosophen, Werken, Ausgaben, Sekundärliteratur. Dieses Lexikon ist zur ersten Information über einen philosophischen Text und besonders im Zusammenhang mit Textauszügen ein hilfreiches Arbeitsmittel. Es informiert auch über die Werke insgesamt, aus denen Auszüge für den vorliegenden Band ausgesucht worden sind). W. Weischedel, Die philosophische Hintertreppe. 34 große Philosophen in Alltag und Denken, München (dtv) 1976 u. ö. (immer noch der Klassiker: brillante und gut zu lesende Einzelporträts der „berühmten Denker“).

2 Was die Welt im Innersten zusammenhält: Von den Kosmologien der Antike zu den modernen Naturphilosophien

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„Meine Worte sind wie Sterne. Sie gehen nicht unter. Jeder Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig. Jede glänzende Kiefernnadel, jeder lichte Nebel in dunklen Wäldern, jede Lichtung und jedes summende Insekt ist heilig in der Erinnerung und der Erfahrung meines Volkes. Der in den Bäumen aufsteigende Saft trägt die Erinnerungen des Roten Mannes in sich. […] Wir sind ein Teil der Erde, und sie ist ein Teil von uns. Die duftenden Blumen sind unsere Schwestern; der Hirsch, das Pferd, der große Adler: sie alle sind unsere Brüder. Die felsigen Gipfel, die saftigen Wiesen, die Körperwärme des Ponys und der Mensch – sie alle gehören zur gleichen Familie. […] Ich bin ein Wilder und verstehe es nicht anders. Ich habe tausend verfaulende Büffel auf der Prärie gesehen, liegengelassen von den Weißen, die sie von vorbeifahrenden Zügen erschossen hatten. Was ist der Mensch ohne die Tiere? Wenn es keine Tiere mehr gäbe, würden die Menschen an großer Einsamkeit des Herzens sterben. Denn alles, was den Tieren geschieht, geschieht auch den Menschen. Alle Dinge sind miteinander verbunden. Was immer der Erde widerfährt, widerfährt auch den Kindern der Erde […] Wenn Menschen auf die Erde spucken, bespucken sie sich selbst. Dieses wissen wir: Die Erde gehört nicht dem Menschen; der Mensch gehört der Erde. Dieses wissen wir: Alle Dinge sind miteinander verbunden wie das Blut, das eine Familie vereint. Alle Dinge sind miteinander verbunden. Was immer der Erde widerfährt, widerfährt auch den Kindern der Erde. Der Mensch hat nicht das Gewebe des Lebens erschaffen, er ist in ihm lediglich eine Faser. Was immer er diesem Gewebe antut, tut er sich selbst an. Wir werden euer Ansinnen überdenken, in die Reservation zu gehen, die ihr für mein Volk bereitstellt. Wir werden abseits und in Frieden leben; es ist ziemlich unwichtig, wo wir den Rest unserer Tage verbringen. Unsere Kinder haben gesehen, wie ihre Väter durch Niederlagen gedemütigt wurden. Unsere Krieger haben sich beschämt gefühlt, und nach der Niederlage verbringen sie ihre Tage mit Müßiggang, und sie vergiften ihre Körper mit süßer Nahrung und starken Getränken. Es ist ziemlich unwichtig, wo wir den Rest unserer Tage verbringen. Es gibt nicht mehr viele. Wenige Stunden noch, wenige Winter noch, und keines von den Kindern der großen Stämme, die einstmals auf dieser Erde lebten oder die jetzt in kleinen Gruppen in den Wäldern herumstreifen, wird übrig sein, um an den Gräbern eines Volkes zu trauern, das einst so mächtig und hoffnungsvoll war wie eures. Aber warum sollte ich über den Untergang meines Volkes trauern? Stämme bestehen aus Menschen und aus nichts anderem. Menschen kommen und gehen wie die Wellen des Meeres […]

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Auch die Weißen werden untergehen, vielleicht schneller als alle anderen Stämme und Völker. Fahrt fort, euer Bett zu besudeln, und ihr werdet eines Nachts in eurem eigenen Abfall ersticken.“ Häuptling Seattle: Diese Erde ist uns heilig

Naturphilosophie ist dem Begriff nach seit ihren Anfängen bei den „Vorsokratikern“ im antiken Griechenland in einem allgemeinen Sinne die Deutung und Erklärung der Natur. Was „Natur“ aber nun wiederum ist, davon gibt es seit der Antike und durch die Zeiten hindurch bis heute ganz verschiedene Vorstellungen. Natur wird aufgefasst als ein Bereich teleologischer [zielgerichteter] Prozesse, als Schöpfung Gottes und damit als sinnvolle, in sich geschlossene Welt, als der Gegenstand wie das Opfer experimenteller und quantifizierender Methoden, als Weltmaschine, als stete Wiederholung des Immergleichen im Unterschied zu den produktiven Sinnbildungen in der menschlich-geschichtlichen Welt, als „explodierendes“ Universum und schließlich als gefährdete Lebensgrundlage des Menschen, versinnbildlicht in der Vorstellung von einem „Raumschiff Erde“ (Ökologie). Seit der antiken Einteilung der Philosophie und der Wissenschaft in Logik, Ethik und Physik steht die letztgenannte, die Physik, für die Beschäftigung mit der ohne ein Zutun des Menschen bestehenden Wirklichkeit. Was hier erforscht wird, kann man zunächst nach heutiger Begrifflichkeit ebenso gut als Gegenstand der „Naturwissenschaft“ wie der „Naturphilosophie“ bezeichnen, weil beide Bereiche sich erst recht spät auseinanderentwickeln. Man spricht, um eine einschlägige Epochen zu nennen, von der „Naturphilosophie“ der Antike und müsste doch dieselben Bemühungen auch in einer „Geschichte der Naturwissenschaften“ behandeln und tut dies auch. Eine wirkliche Trennung beider Sparten des Naturdiskurses erfolgt mit der Herausbildung der neuzeitlichen „Galileischen“ Wissenschaft, die in ihrem Fortgang spekulative Entwürfe in der Tradition der Naturphilosophie abweist. „Naturphilosophie“ im engeren Sinne gehört ab nun meist einem „Gegendiskurs“ gegen die in Galileis Experimenten wurzelnden Naturwissenschaften an, dessen Linie man von Aristoteles über Goethe bis in unsere Gegenwart gezogen hat. Ein aktuelles Interesse an Naturphilosophie entsteht, seit die von den Naturwissenschaften und von ihren technischen Anwendungen hervorgerufenen ökologischen Probleme eine verstärkte Suche nach Alternativen in Gang gesetzt haben. Die Naturphilosophie wird zur „Metaphysik der Natur“, oft auf der Suche nach einer „alternativen“ und „anderen“ Rationalität, ohne damit gleich als „irrational“ verworfen werden zu können. Gleichwohl ist im 20. Jahrhundert ein „Tod der Naturphilosophie“ konstatiert worden, wozu man freilich mit G. B. Shaw bemerkt hat: „Nachricht von meinem Tod stark übertrieben“. Heute findet sich sowohl im Sinne eines

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„alternativen Diskurses“ als auch wiederum für philosophische und wissenschaftstheoretische Grundlagenreflexionen in enger Anlehnung an die Naturwissenschaften der Begriff „Naturphilosophie“ bzw. „Philosophie der Naturwissenschaften“.1

2.1 Ein Prinzip als Urgrund der Welt Ein Prinzip als Urgrund der Welt

Die ersten Naturphilosophen des alten Griechenland gehören zugleich zu den ersten Philosophen überhaupt. Sie sind als „Vorsokratiker“ berühmt geworden, suchen sie doch bereits im 6. vorchristlichen Jahrhundert – noch vor dem Auftreten des Sokrates – nach einem „Urstoff“ bzw. dem Urgrund aller Dinge, der „hyle“. Die frühen Naturphilosophen vollziehen damit einen in der Geschichte des Denkens überaus wichtigen und grundsätzlichen Schritt: Sie verwirklichen die über die Göttergeschichten des Mythos hinausweisende Abstraktion, die Vielfalt der Phänomene in der Welt nicht mehr durch den Rekurs auf göttliches Wirken, sondern aus einem natürlichen Prinzip abzuleiten. Als solches Prinzip werden etwa „Wasser“ (Thales), Luft (Anaximenes), ein Urfeuer in wohl auch übertragenem Sinne (Heraklit) und die vier „Urelemente“ Wasser, Luft, Feuer und Erde (Empedokles) angegeben, aber auch schon „Atome“ (Leukipp, Demokrit). In der „klassischen“ Zeit des griechischen Philosophierens tritt zunächst vor allem der große Platon (427–347 v. Chr.) auch als Naturdeuter auf. Sein naturphilosophisches Hauptwerk ist der „Timaios“, in dem der beinahe Siebzigjährige eine Vision formuliert, die von einem Schöpfergott über die Darstellung der um die Erde konzentrisch angeordneten und die Planeten tragenden „Sphären“ bis zur gegen Demokrits Atomismus gerichteten Theorie des Aufbaus der Materie aus den „platonischen“ Körpern reicht. Für Jahrhunderte war der „Timaios“ die im lateinischen Westen einzig bekannte Schrift des Philosophen; zu ihrer hohen Einschätzung als Platons Hauptwerk mag die scheinbare Antizipation des christlichen Schöpfergottes beigetragen haben. Wie beschreibt Platon im „Timaios“ die Welt? Sie erscheint als das Werk eines Handwerker-Gottes, der in bester Absicht die Dinge nach dem Bild der Ideen gestaltet hat, dabei in der Sphäre materialer Notwendigkeiten aber sozusagen Abstriche machen musste. Dieser Demiurg ist keiner der Götter der griechischen Religion und natürlich auch noch nicht der jüdischchristliche Gott, der alles aus dem Nichts erschaffen hat. Aufgabe der Wissenschaft ist für Platon die Anschauung („Theorie“) des ewigen, geordneten, planvollen und schönen Kosmos. Dabei hat er die Ewigkeit und Göttlichkeit der Planeten in folgenreicher Weise mit der Kreisbewegung gleichsetzt. Für Platons Schüler Aristoteles (384–322 v. Chr.), der eher als sein Lehrer

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bereits als Naturwissenschaftler gelten kann, zerfällt der Kosmos in zwei ontologisch durchaus verschieden aufzufassende Regionen: in die sublunare Welt („unter dem Monde“) und in die Sphären des Himmels, die durch die Bahn des Mondes von der sublunaren Welt getrennt sind. Die Welt der Sphären war dabei für Aristoteles die der vollkommenen, weil nämlich keinerlei Veränderungen unterworfenen Kreisbahnen; die sublunare Welt dagegen eher das Reich der Kontingenz und des Unberechenbaren. In seiner kosmologischen Lehrschrift „peri uranou“ (lat. „De caelo“, „Vom Himmel“) hat Aristoteles grundlegende Elemente seines Weltbildes, so die Lehre von der Ewigkeit (dem „Timaios“ widersprechend), Einmaligkeit und Begrenztheit des Kosmos, von der Erde im Mittelpunkt (!) und von den natürlichen Bewegungen dargelegt. Er sagt, dass „der gesamte Himmel weder entstanden ist noch untergehen kann, wie einige meinen, sondern dass er einer ist und ewig und in seiner ganzen Dauer weder Anfang noch Ende hat und in sich selbst die unbegrenzte Zeit fasst und umgreift“.2 Auch der wohl berühmteste Astronom der Antike, Klaudios Ptolemaios (um 100–170 n. Chr.) aus Alexandria, Verfasser des durch seine arabische Vermittlungsgeschichte außerordentlich wirkungsreichen „Almagest“ (eigentlich: „Syntaxis Mathematica“), eines Handbuchs der Astronomie, vertrat die geozentrische Auffassung von der Bewegung der Sonne um die Erde. Die Natur („physis“) war bei alledem für die Griechen nicht das objektivierte Sein „da draußen“. Sie fühlten sich weit eher „geborgen“ in einem „Kosmos“, einer lebendigen, durchseelten, schönen, ja heiligen Ordnung, wie der Philologe Wolfgang Schadewaldt (1900–1974) formuliert hat.3 Als ob irgendein „geheimnisvolles Tabu“ ihnen den weiteren Schritt verwehrte, so formuliert es Schadewaldt, haben die Griechen in der Kosmologie keinen Sinn für das Unendliche entwickelt, in den Naturwissenschaften kein konsequentes Experimentieren und in der Wirtschaft schließlich keine Arbeitsorganisation durch Technik im modernen Sinne (dies Letztere kann freilich auch handfestere sozioökonomische Gründe haben, standen doch in der Sklavenhaltergesellschaft genügend Arbeitskräfte zur Verfügung, so dass es der Maschinenerfindung auch nicht unbedingt bedurfte). Bemerkenswert bleibt, dass die griechische Technik kaum einen Ansatz zu jener besonderen Entwicklung zeigt, die unsere Zivilisation auszeichnet, freilich ihr auch zu schaffen macht. Auf Goethe vorweisend sind es für Schadewaldt vor allem ein Sinn für die Rückbindung menschlichen Tuns an das Ganze des Alls und eine Ablehnung der „Hybris“, des Übermutes, des Maßlosen im „überhandnehmenden Maschinenwesen“, die die Griechen davon abhielten, den berechtigten Urauftrag der Technik, die Daseinssicherung und -erleichterung des Menschen, in einer Weise zu übersteigern, die in Entfremdung umschlage und schließlich die Gefahren von Nuklearkraft und Genbiologie auf unser Haupt

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ziehe. Das Erkennen, das einer naturphilosophischen Grundauffassung im Sinne des Aristoteles entspricht, besteht weniger in einem aktiven Konstruieren von Hypothesen und einem experimentellen Befragen der Natur, als vielmehr in einem „schonenden“, anschaulich-gedanklichen Nachvollzug der Naturbewegungen. Die solchermaßen beschriebene Natur ist und bleibt sozusagen „frei“, weil die Erkenntnis sie dort aufsucht, „wo sie […] den ihr angehörigen Gebilden die Macht verleiht, sich selbst zum Wesen zu einigen“.4 Je mehr in der zivilisatorischen Entwicklung seither die Natur in die Gewalt des Menschen gebracht, zugerichtet und in Teilen zerstört worden ist, um so mehr mag man auch in einer Gegenbewegung, ganz wie bei Schadewaldt, das Naturverhältnis der Antike als eine bleibende und dauernde Anfrage an unser Naturverständnis empfinden können. Unsere von ökologischen Problemen geplagte Zeit hat nun freilich Naturausbeutung, Rodungen (für den Schiffsbau) und Wüstungen – und damit sich selbst – eben doch auch in der Antike vorgefunden. „Spectant victores ruinam naturae“ – „siegesgewiss blicken sie auf den Zusammenbruch der Natur“, hat schon der antike Autor Plinius der Ältere, der im Jahre 79 beim Vesuvausbruch ums Leben kam und durch seine „Naturgeschichte“ („Naturalis historia“) in 37 Büchern bekannt geworden ist, in geradezu prophetischer Manier bemerkt. Plinius hat sich weiter gefragt: „Was für ein Ende soll die Ausbeutung der Erde in all den künftigen Jahrhunderten noch finden?“5

2.2 Die Neuzeit: Natur wird zum Objekt Die Neuzeit: Natur wird zum Objekt

Seit dem Spätmittelalter, vor allem aber in der Neuzeit verändern sich die naturphilosophischen Vorstellungen in einer zwar sukzessiv erfolgenden und im einzelnen wissenschaftshistorisch umstrittenen, aber dennoch, insgesamt betrachtet, derart grundlegenden Weise, dass man von einer wissenschaftlichen Revolution spricht. Bis heute bestimmt diese Revolution das Verhältnis des Menschen zur Welt und seine Stellung in der Welt in entscheidender Weise. Zugleich mit der Ausbildung der experimentellen Naturwissenschaft entwickelten sich in der Renaissance zunächst neue naturphilosophische Auffassungen, so bei Agrippa von Nettesheim (Heinrich Cornelius, 1486 –1535) oder bei dem Schweizer Arzt Paracelsus (eigentlich Philippus Theophrastus Bombastus von Hohenheim, 1493–1541) sowie bei Jacob Böhme (1575 –1624). Ein besonders interessanter Mann ist in diesem Zusammenhang der ProvencePestarzt, Astrologe und Untergangsprophet Michel de Notredame (1503 – 1566) oder latinisiert Nostradamus. Vom verkrachten Medizinstudenten der Universität Montpellier zu einer von Frankreichs Königshaus umworbenen

Die Neuzeit: Natur wird zum Objekt

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Berühmtheit aufgestiegen, zugleich aber in steter Angst vor Inquisition und Hexenwahn lebend, ist Nostradamus Repräsentant jener geheimnisvollen Welt, die den Übergang begleitet zwischen dem aristotelischen und mittelalterlichen naturphilosophischen Denken und den Naturwissenschaften, wie sie sich mit der Neuzeit entwickeln. Ohne deren bis heute vielfach bestätigtes Instrumentarium eröffnet sich ein phantastisches Feld von Erwartungen an neue Möglichkeiten des Forschens, deren Potentiale man ahnt, ohne schon die exakten Mittel eines Galilei in der Hand zu haben oder um deren dann so ganz andere Ergebnisse und ihr so ganz anders geartetes Weltbild zu wissen. Nostradamus’ geheimnisvolle Prophezeiungen sind zugleich bis heute ein Medium der Zukunftsängste und Zukunftssehnsüchte vieler Menschen geblieben, wie sie die Faszination durch die Astrologie antreiben. Der Glaube, durch göttlich inspiriertes oder aus der Sternendeutung gewonnenes Wissen die Zukunft erschauen zu können, stellt in eben dem Maße die Endlichkeit menschlicher Arbeit am Wissen vor Augen, wie sie sie zugleich sozusagen „kurzzuschließen“ wünscht, um jenseits aller irdischen Erkenntnis höchster Wahrheit teilhaftig zu werden. Der eigentlich weltgestaltende Weg des Umgangs mit der Natur ging dann so: Bereits die Skizzen des Malers Leonardo da Vinci (1452 –1519) zeigen eine Vielzahl oft noch phantastischer, aber prophetisch anmutender Möglichkeiten (Hubschrauber, Kriegsmaschinen usw.). Eine programmatische Umkehr traditioneller Auffassungen von der richtigen Art und Weise, die Natur zu erkunden, betreiben vor allem zwei wichtige Philosophen: Francis Bacon (1561–1626) schreibt sein „Neues Organon der Wissenschaft“ – eine Kampfschrift gegen den bisherigen Wissenschaftsbetrieb und ein Plädoyer für eine verbesserte Wissenschaftsorganisation, für Empirie [konsequente Erfahrungsorientierung] und Experiment. Und René Descartes (1596 –1650) verfasst circa 17 Jahre später weithin im Stile einer intellektuellen Autobiographie die Schrift „Von der Methode“, in der er wie Bacon einen neuen „Königsweg“ nützlicher Wissenschaft anvisiert, ganz anders als dieser aber sich allen Fortschritt vom Denken selbst, aus dessen Methodisierung nach dem Vorbild der Mathematik erwartet (siehe auch Textteil Zum Weiterdenken im Kapitel 6: Wissenschaft und Technik). Empirie und Mathematik: beides wird in besonderer, außerordentlich erfolgreicher Weise zusammenkommen. Inbegriff dieser neuzeitlichen Revolution wissenschaftlicher Welterfassung ist die Gestalt Galileo Galileis (1564 – 1642) durch seine Nutzung von Fernrohr und Experiment, durch seine Erforschung des Falles der Körper, sein Eintreten für das Kopernikanische Weltbild und seine legendenumbildete Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche geworden. Die großen Astronomen Kopernikus (1473 –1543) und Kepler (1571–1630), der mit Galilei in Briefkontakt stand, mussten zuerst das geo-

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Kosmologien und Naturphilosophien

zentrische Weltbild und dann auch noch die seit Platon mit hoher spekulativer Bedeutung besetzte und als göttlich angesehene Kreisform der Planetenumläufe preisgeben. Indem Isaac Newton (1643–1727) seine die Galileischen Fallgesetze wie die Keplerschen Gesetze des Planetenumlaufs verbindende Gravitationstheorie formuliert, gibt er dem neuen Weltbild eine bis ins 20. Jahrhundert gültige Grundlage; mit der Brechung des Lichts im Prisma beginnt der Siegeszug der Anwendung der neuen experimentellen Befragung der Natur auf praktisch alle Gebiete ihrer erfahrungswissenschaftlichen Erforschung. Newtons Name wurde synonym mit der heute so genannten „klassischen Physik“. In der deterministischen Version des Franzosen Pierre-Simon de Laplace (1749–1824) wurde der Newtonianismus zur umfassenden Welterklärungstheorie. Die Welt erwies sich im 19. Jahrhundert mehr und mehr als eine gigantische Maschine, deren Funktionsweise mathematisch formulierbar war. Ein Prozess der „Entzauberung“ des Wissens erfasst den alsbald als Uhrwerk oder Weltmaschine angesehenen Kosmos ebenso wie die Physiologie der Lebensvorgänge. Die Lokalisierungen des „Paradieses“ am Himmel und einer „Hölle“ tief unten in der Erde, wie sie das mittelalterliche Weltbild bestimmt hatten, werden zu bloßen Metaphern; die Erde, einst Mittelpunkt und Grund des ganzen Alls, wird zu einem bloßen Gesteinsbrocken, der relativ um so kleiner wird, je mehr sich das Bild des Universums erweitert. Es kommt zur fortschreitend mechanischen Auffassungsweise immer weiterer Bereiche des Stofflichen und des Lebendigen. Experiment und Technik liefern auch die Grundlagen für die im 18. Jahrhundert beginnende und seither in Wellen, unsere Lebensverhältnisse bestimmend, über uns hinwegrollende „Industrielle Revolution“. Unlösbar ist die neuzeitliche Naturerkenntnis mit der Technik verknüpft: Seit Galilei hätte sie nicht einmal den Zugriff auf ihren Gegenstand ohne technisches Handeln. Denn während das antike Erkennen den Wurf oder Fall eines Steines, wie er in der Natur oder in Lebenszusammenhängen vorkommt, so hatten wir ja gesehen, „nachvollzieht“, so stellt Galilei auf seiner schiefen Ebene im Experiment die Bewegung der Kugel für seine Erkenntniszwecke allererst her. Das Naturphänomen wird nicht mehr als etwas Unangreifbares respektiert, sondern bestimmten Bedingungen unterworfen und zerlegt; die gewonnenen Einsichten werden mathematisch formuliert. Die Natur wird, so hat Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner „Kritik der reinen Vernunft“ (zustimmend) formuliert, „genötigt“ (B XIII), auf die Fragen der Forscher zu antworten.

Unsere Naturvorstellungen

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2.3 Die Naturvorstellungen unserer wissenschaftlich geprägten Zivilisation … Unsere Naturvorstellungen

Noch weiter freilich wühlt der „Geist“ dieser Wissenschaft und er geht in verschiedenen Hinsichten auch über das Weltbild der „klassischen Physik“ hinaus. Dessen Einschränkung beginnt mit jenen drei berühmten Arbeiten, die Albert Einstein (1879–1955) im Jahre 1905 in den „Annalen der Physik“ veröffentlicht. Jeder Beobachter, so entwickelt es Einstein in seiner „Speziellen Relativitätstheorie“, der sich relativ zu einem anderen bewegt, führt sozusagen seine eigene Zeit mit sich; diese Bezogenheit der Zeit auf ein bewegtes System, die der Alltagserfahrung von der gleichförmig fließenden Zeit widerspricht, beendet die Vorstellung einer „absoluten Zeit“. Die Quantentheorie, die Max Planck (1858–1947) entwickelt, zwingt ferner dazu, einlinige Vorstellungen von Kausalität und Determinismus aufzugeben. Der Charakter der naturwissenschaftlichen Forschung und ihrer Ergebnisse gilt gegenüber früheren Konzeptionen noch einmal als verändert. Indem die Physik ins mikrokosmisch Kleine und in astronomische, makrokosmische Weiten vorstößt, erzielt sie Resultate, die komplex und methodisch hochtechnisiert gewonnen werden. Der „Umsturz im Weltbild der Physik“ des 20. Jahrhunderts zeigt „Natur“ nicht mehr so sehr als etwas, das „vorhanden“ ist und in der rechten oder falschen Weise empirisch „wahrgenommen“ werden kann, sondern, in Weiterführung und ungeheurer Steigerung einer Entwicklung, die beim Galileischen Fernrohr begann, als Funktionsbegriff hochkomplizierter und aufwendigster Erkenntnisapparate (z. B. von Teilchenbeschleunigern). „Komplexität und Selbstorganisation“ werden neue Paradigmata des Naturverständnisses.6 Zugleich entsteht hiermit der durch ältere Konzepte nicht mehr einholbare – wenn auch in Zusammenschau und Weltbild-Synthesen verschieden interpretierte – Inbegriff heutigen Weltwissens, an dem wir nicht vorbei können, wenn wir uns über unseren Ort in der Welt zu orientieren versuchen. All dies zu überschauen und im Kontext zu diskutieren, ist Gegenstand gegenwärtiger Naturphilosophie, die die Ergebnisse und Vorgehensweise der Naturwissenschaften systematisiert und deren Theorie darstellt, ohne den Kontakt zu ihren Ursprüngen aufzugeben. Das Weltall des 20. Jahrhunderts insgesamt ist damit, wenn wir versuchen, uns die Dinge zurecht zu legen, nicht mehr, wie das der Antike, ein ewiger, räumlich begrenzter, kugelförmiger Kosmos, der in sich noch „Zentrum“ und „Heimat“ wäre. Das Weltall erscheint auch nicht mehr, wie dann im Mittelalter weiterentwickelt, als „Ordo“, d. h. als eine von einem welttranszendenten Schöpfer uns zur Heimstatt erschaffene und mit uns erhaltene Hierarchie. Und es ist drittens nun ebenfalls nicht mehr, wie im 19. Jahrhundert angenommen, ein in der Art einer Maschine zu denkendes, gänzlich determinier-

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tes bzw. rational geordnetes Gesamtsystem. Es gibt, weder in geozentrischer, noch in heliozentrischer Version, eine „Mitte“, auf die als einen ausgezeichneten Ort bezogen wir Menschen leben. Das Sonnensystem liegt am Rand einer Galaxie unter sehr vielen anderen, die inselgleich das Weltall bevölkern und dieser unser Wohnort im All ist nach den Maßstäben moderner Kosmologie nicht nur von nicht besonderer Art, sondern sogar eher unbedeutend. Das Weltall ist auch nicht unveränderlich und ewig, sondern in einer dramatischen Entwicklung begriffen, entstanden aus einem „Urknall“, seit dem, wie es heißt, die Galaxien „auseinanderfliegen“. Möglicherweise „zieht“ sich, wie es heißt, das Universum ab einem gewissen Punkte wieder „zusammen“ und „explodiert“ von Neuem. Für seine Entstehung, so der berühmte („Pop“-)Physiker Stephen Hawking, sei kein Gott notwendig gewesen; für seine Erklärung bedarf es, heißt es jedenfalls bei ihm, auch keiner Philosophie. Das Entstehen des Alls aus dem Nichts sei physikalisch vorstellbar, das Universum erzeugt sich gleichsam selbst.7 In all dem steckt ganz offenkundig ein sozusagen interpretatives Moment, d. h. sobald ein „Weltbild“ formuliert wird, fließen auch Annahmen in die Darstellung ein, die durch strenge Wissenschaft wohl kaum mehr gedeckt sind. Es gibt auch Versuche, neueste Erkenntnisse etwa zum Universum mit religiösen Auffassungen in Einklang zu bringen. Vor allem aber drängt sich der Eindruck auf, dass all dies sich in Dimensionen abspielt, die wir auf unsere Menschengeschichte nicht mehr beziehen können – es wird unplausibel, dass derlei „für uns“ eingerichtet worden sei –, und so hat man auch in anthropologischen Bestimmungen Konsequenzen gezogen und im Menschen nicht mehr Maß und Zentrum der physikalischen Schöpfung, sondern in einem berühmt gewordenen und vielzitierten Bild einen „Zigeuner am Rande des Universums“ gesehen, „das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen“ (Jacques Monod). Es handelt sich um einen vorläufigen Endpunkt in einer Entwicklung, die mit der „kopernikanischen Revolution“ begonnen hat: um eine Abkehr von der Vorstellung eines „von jemandem“ eingerichteten sinnvollen Kosmos, für das Aufgehen jenes „Absolutismus der Wirklichkeit“, der angsterregenden Übermacht der Welt und der Grundlosigkeit eines stummen und unermesslichen Weltalls, wie sie Hans Blumenberg (1920–1996) so eindringlich beschrieben hat. Der Mensch, so stellt er fest, ist nicht „Adressat der kosmischen Veranstaltung“; sein Dasein vollzieht sich „unterhalb der Schwelle kosmischer Relevanzen“.8 Zugleich hat jedoch jener unbedeutende, um eine gleichfalls unbedeutende Sonne kreisende Gesteinsbrocken, der sich vor etwa viereinhalb bis fünf Milliarden Jahren gebildet hat, ausgehend von seinen Ozeanen eine Entwicklung hervorgebracht, an deren Ende eine Intelligenz steht, die eben dieses Szenario und diese Vorstellungen von der Welt, sich durch jene vergangenen Weltbil-

… und ihr ökologisches Bewusstsein

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der hindurcharbeitend, vor Augen hat. Freilich stehen wir der Grausamkeit und Blindheit der Evolution9 generell wie auch in Sonderheit unserer eigenen als Menschen möglicherweise mit ähnlich geringen Möglichkeiten einer Sinndeutung gegenüber, wie der Frage nach dem Ursprung des Weltalls als der modernen wissenschaftlichen Version des metaphysischen Problems, warum überhaupt etwas existiert und nicht vielmehr nichts.10

2.4 … und ihr ökologisches Bewusstsein …

und ihr ökologisches Bewusstsein

Den Siegeszug der modernen Naturwissenschaft begleiten und kritisieren Einsprüche wie der Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832), der Newtons berühmte Experimente mit der Aufspaltung des Lichts im Prisma der „Folter“ an der Natur bezichtigte und in seiner Farbenlehre eine „aristotelische“ Naturforschung dagegen setzte. Goethe bezeichnet es als seinen „Ritterdienst“, der bedrängten „Freundin“ Natur zu Hilfe zu kommen. Auch mancher jüngere naturphilosophische Entwurf tritt an, das „Baconische“ Herrschaftswissen über die Natur als Keim heutigen Übels zu attackieren. Dies reicht bis zum Versuch einer Wiederentdeckung des antiken Naturverhältnisses, ja, einer „Wiederverzauberung“ der Welt bei Fritjof Capra und der sogenannten „New Age“-Bewegung gegen Ende der 1980er Jahre. In ihrem umfangreichen Werk über „Das Andere der Vernunft“ haben Gernot und Hartmut Böhme in gegenüber den modernen Naturwissenschaften kritischer Absicht genauer dargelegt, wie die wissenschaftliche Vernunft bei Kant und Newton sich durch Ausgrenzung von „anderem“: von Einbildungskraft, Gefühl, Irrationalem, Leib – und eben von der Natur, die wir selbst sind – definiert.11 Wie stark ein Bewusstsein solcher Verluste – neben aller technischen Bedeutung der Naturwissenschaften und aller Faszination ihres Weltverständnisses – zugleich doch von unserer kulturellen Selbstvergewisserung Besitz ergreift, lässt sich abschließend sehr schön an der eingangs zitierten berühmten Rede des Häuptlings Seattle zeigen, einem naturphilosophischen Text eigenen Ranges, zugleich aber einem durch seine Konstruktionsgeschichte zusätzlich signifikanten Dokument. Seattle (1786–1866) war Häuptling des kleinen Stammes der Duwamish-Indianer im heutigen US-Bundesstaat Washington im Nordwesten der USA. 1855 musste er mit dem Gouverneur des Territoriums Washington den Vertrag schließen, der sein Land den Weißen überließ und seinem Stamm eine kleine Reservation zuwies. In diesem Zusammenhang hielt er die berühmt gewordene Rede, die ihn zu einem Vorläufer der ökologischen Bewegung machen sollte. 1890 wurde die Hauptstadt des Bundesstaats nach ihm benannt und an seinem Grab ein Monument errichtet. Seattles Berühmtheit hat seinem Stamm freilich nicht genutzt, der im

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Kosmologien und Naturphilosophien

20. Jahrhundert unterging. Zeuge der Rede war der in den Wilden Westen gegangene Mediziner Dr. Henry A. Smith, der von der Persönlichkeit des Häuptlings außerordentlich beeindruckt war. 33 Jahre später erschien am 29. Okt. 1887 in der Zeitung Seattle Sunday Star ein Artikel von Dr. Smith mit einer Wiedergabe der Rede. Nur noch ein einziges Exemplar existiert von dieser Zeitungsnummer, nämlich in der Universitätsbibliothek der Stadt Seattle. Mit jeder neuen Fassung, die nun von der Rede verbreitet wurde, wurden am Text Veränderungen vorgenommen,12 die die Kritikpunkte des Häuptlings auf das Verhältnis der modernen Zivilisation zur Umwelt hin genauer ausarbeiteten. Im Medium des Textes spiegelt sich damit ein zunehmendes ökologisches Bewusstsein in den entwickelten Industriegesellschaften, in deren alltäglichem Straßenbild das Konterfei des Häuptlings schließlich sogar zum gängigen Aufkleber als Ausdruck und zur Anzeige zivilisationskritisch gestimmter Gesinnung avancierte, interessanterweise in einer Zeit, die zugleich von den Errungenschaften der Technik profitiert wie keine zuvor und die dank der Naturwissenschaften mehr (und Komplexeres) von der Welt im Ganzen und dem Universum weiß, als jemals eine Epoche zuvor.

Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur

Zum Weiterdenken

Die „Vorsokratiker“ als die ersten Naturphilosophen: Thales, Anaximenes, Empedokles u. a. Aristoteles berichtet im 4. Jh. v. Chr. in seiner „Metaphysik“ – zur Darlegung seiner eigenen Auffassungen sozusagen den Forschungsstand aufarbeitend – über die Lehre von den Prinzipien bei seinen Vorgängern, die wir heute „Vorsokratiker“ nennen. Diese suchen nach einem „Urgrund“, aus dem alle Einzelerscheinungen ohne Rückgriff auf die mythischen Erzählungen von den Göttern wie dem Meeresgott Okeanos oder der Meeresgöttin Thetys als Urhebern der Dinge abzuleiten wären. Gibt es einen Urgrund aller Dinge? Von den ältesten Philosophen nun waren die meisten der Ansicht, dass als die Prinzipien (Urgründe) aller Dinge allein die Ursachen von materieller (stofflicher) Art zu gelten hätten. Das, woraus alle Dinge stammen, woraus alles ursprünglich wird und worin es schließlich untergeht, während die Substanz unverändert bleibt und sich nur in ihren Zuständen ändert, dies bezeichnen sie als das Element und als das Prinzip (Urgrund) der Dinge. Daher ist es ihre Lehre, dass es so wenig ein Entstehen als ein Vergehen gibt; bleibt doch jene Substanz stets erhalten. […] Denn notwendig muss eine Substanz da sein, sei es nur eine oder seien es mehrere, woraus das an-

Zum Weiterdenken

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dere (d. h. die Erscheinungsformen des Seins, die Einzeldinge) wird, wahrend sie selbst (die Substanz) fortbesteht. Was dagegen die Anzahl und die nähere Bestimmung eines derartigen Prinzips betrifft, so findet sich darüber keineswegs bei allen die gleiche Ansicht. Thales, der erste Vertreter dieser Richtung philosophischer Untersuchung, bezeichnet als solches Prinzip das Wasser. Auch das Land, lehrte er deshalb, ruhe auf dem Wasser. Den Anlass zu dieser Ansicht bot ihm wohl die Beobachtung, dass die Nahrung aller Wesen feucht ist, dass die Wärme selber daraus entsteht und davon lebt; woraus aber jegliches wird, das ist das Prinzip von allem. War dies der eine Anlass zu seiner Ansicht, so war ein andrer wohl der Umstand, dass die Samen aller Wesen von feuchter Beschaffenheit sind, das Wasser aber das Prinzip für die Natur des Feuchten ausmacht. Manche nun sind der Meinung, dass schon die Uralten, die lange Zelt vor dem gegenwärtigen Zeitalter gelebt und als die ersten in mythischer Form nachgedacht haben, die gleiche Annahme über die Substanz gehegt hätten. Diese bezeichneten Okeanos und Thetys als die Urheber der Weltentstehung und das Wasser als das, wobei die Götter schwören; sie nennen es Styx wie die Dichter. Denn am heiligsten gehalten wird das Unvordenkliche, und der Eid wird beim Heiligsten geschworen. Ob nun darin wirklich eine so ursprüngliche Ansicht über die Substanz zu finden ist, das mag vielleicht nicht auszumachen sein. Jedenfalls von Thales wird berichtet, dass er diese Ansicht von der obersten Ursache aufgestellt habe. Anaximenes sodann [setzt] vor das Wasser und als das eigentliche Prinzip unter den einfachen Körpern die Luft, […] Heraklit von Ephesus das Feuer; Empedokles aber kennt vier Elemente, indem er zu den genannten die Erde als das vierte hinzufügt. Diese, meint er, seien das beständig Bleibende; sie entstünden nicht, sondern verbänden sich nur in größerer oder geringerer Masse zur Einheit und lösten sich wieder aus der Einheit. Anaxagaras von Klazomenae dagegen, der ihm gegenüber dem Lebensalter nach der frühere, seinen Arbeiten nach der spätere war, nimmt eine unendliche Vielheit von Urbestandteilen an. Aristoteles: Metaphysik. Ins Deutsche übertragen von Adolf Lasson, Jena 1924, 12 f. (983 a); überarbeitet.

Goethe Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), nach Jurastudium in Leipzig und Straßburg und Advokatur in seiner Geburtsstadt Frankfurt am Main Minister im kleinen Fürstentum Weimar und deutscher Dichterfürst, hat seine Beiträge zur Naturforschung ähnlich wichtig genommen wie sein literarisches Werk. Goethe wollte seine fünfzigjährige Beschäftigung mit der Naturphilosophie kei-

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nesfalls als „Liebhaberei“ abgetan wissen. Er betrieb intensive optische, botanische und morphologische Studien und Versuche und schrieb naturphilosophische Werke, vor allem zur Pflanzenentwicklung und zur Farbenlehre. Dabei schloss Goethe eher an eine teleologische Naturbetrachtung in der Tradition des Aristoteles an. Die Beurteilung, die Goethe dafür von der Seite der Naturwissenschaftler und Wissenschaftstheoretiker erfahren hat, spiegelt als ein bezeichnendes Indiz auch die jeweilige Lage der Beurteiler selbst wider. Im 19. und noch lange im 20. Jahrhundert, als die Physik und Biologie einen völlig unangefochtenen und höchst erfolgreichen und selbstbewussten Gang nahmen, wurde Goethes Bemühen klar als außerwissenschaftlich identifiziert, weil es dem ihrem Erfolgsweg zugrunde liegenden experimentellen Zugriff so eklatant widersprach. Emil Du Bois-Reymond, einer der berühmtesten Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts, sprach von einer „totgeborenen und wertlosen Spielerei“.13 Die von der modernen Naturwissenschaft und Technologie in ihrer industriellen und lebensweltlichen Umsetzung produzierte Naturzerstörung hat jedoch in der weiteren Entwicklung immer wieder Auffassungen Raum gegeben wie der, dass Goethes Art der Naturdeutung in gewisser Hinsicht gegenüber der „harten“ Traktierung der Natur durch Newton auch Recht behalten haben könnte. Die Szene „Wald und Höhle“ aus dem „Faust“ demonstriert die Ehrung und Achtung einer in reimlosen und ernsten fünfhebigen Jamben mit deutlich religiös-pantheistischem Klang thematisierten Natur. Von Erkenntnisdrang und Lebenshunger getrieben, hat Faust mit Mephisto einen Pakt geschlossen. Dadurch in vielfache Abenteuer gezogen, findet Faust für einen Augenblick Erholung in einem besonderen Erleben der Natur. Dies ist zugleich ein (aber nur in Andeutung beschrittener) Weg, dem von Faust ersehnten „Urquell“ und Weltsinn ein Stück näher zu kommen. Diese Zielvision wird in gebetsähnlicher Form als „Geist“ angesprochen.

Wald und Höhle (Faust I, Auszug) Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles, Warum ich bat. Du hast mir nicht umsonst: Dein Angesicht im Feuer zugewendet. Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich, Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur, Vergönnest mir, in ihre tiefe Brust, Wie in den Busen eines Freunds, zu schauen. Du führst die Reihe der Lebendigen Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.

Zum Weiterdenken

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Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt, Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste Und Nachbarstämme quetschend niederstreift, Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert, Dann führst du mich zur sichern Höhle, zeigst Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust Geheime tiefe Wunder öffnen sich. Goethes Werke (Sophienausgabe) Bd. 14, Weimar 1887, 163.

Arbeitsanregungen 1. Schreiben Sie eine Minute lang in Stichworten auf, was Ihnen zum Thema „Natur“ einfällt. 2. (Mit Blick auf Goethes Text:) Welche Naturerfahrungen könnten Sie beschreiben? Kontrastieren Sie sie mit dem, was die neuzeitliche Naturwissenschaft anstrebt und mit einigen Tendenzen dessen, was sich uns als modernes „Weltbild“ nahelegt. 3. Sammeln Sie Argumente für und gegen die – in verschiedenen Ausprägungen von Aristoteles über Goethe bis heute führende – Vorstellung, wir Menschen könnten uns als „Teil der Natur“ begreifen, die wir daraufhin wie uns selbst zu schützen hätten. 4. Lassen sich Argumente dafür finden, dass die Natur im Ganzen wie in ihren Teilen Rechte hat, dass also z. B. Pflanzen und Tiere „moralische Ansprüche“ stellen können? Versuchen Sie, dies anhand von Pflanzen oder Tieren (Küchenschaben, Vögeln, Hunden) durchzudiskutieren! 5. Ließen sich evtl. auch andere Begründungen für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Natur finden? Welcher Weg wäre der plausibelste? 6. Geben Sie nun eine zusammenfassende Einschätzung – Ihre „kleine Naturphilosophie“ in ausformulierten Sätzen! Literatur G. Böhme (Hrsg.), Klassiker der Naturphilosophie. Von den Vorsokratikern bis zur Kopenhagener Schule, München (Beck) 1989. M. Esfeld, Einführung in die Naturphilosophie. Darmstadt (WBG) 2. Aufl. 2011 (gegenwärtige Theorien von Raum, Zeit, Materie; Relativitätstheorie, Quantenphysik). Chr. Kummer (Hrsg.), Was ist Naturphilosophie und was kann sie leisten? München (Alber) 2009 (Sammelband mit Beiträgen u. a. von Michael Drieschner, Bernulf Kanitscheider, Harald Lesch, Klaus Mainzer, Gregor Schiemann u. a., in dem das

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Kosmologien und Naturphilosophien

Spektrum aktueller Natur(wissenschafts-)philosophie gut zum Ausdruck kommt; Kurzvorstellung aller Autoren im Anhang). K. Mainzer, Von der Naturphilosophie zur Naturwissenschaft. Zum neuzeitlichen Wandel des Naturbegriffs, in: H.-D. Weber (Hrsg.), Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, Konstanz 1989, 11– 31.

3 Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Die Metaphysik und ihre Bestreitung

„Nachher, vor allen andern Sachen, Müsst Ihr Euch an die Metaphysik machen! Da seht, dass Ihr tiefsinnig fasst, Was in des Menschen Hirn nicht passt.“ Goethe, Faust

Die Metaphysik und ihre Bestreitung

Hat die Welt als ganze einen Grund? Die alte Königsdisziplin der Philosophie ist die Metaphysik. Worum geht es ihr? Wenn wir auch im allgemeinen, eingebunden in die Geschehnisse des Alltags, in einer Welt gegebener und erscheinender Dinge leben, so mögen wir doch wohl manchmal, vielleicht unter dem Eindruck einschneidender Ereignisse oder Erlebnisse, innehalten und uns die „hintergründige“ Frage stellen, ob für alles Vorhandene und Geschehende ein „Weltengrund“, ein letzter „Sinn“ in allem, ein im Kern erklärendes Prinzip für die Welt als ganze sich namhaft machen lasse. Mit solchen Überlegungen stellt man sich in die Tradition der „Metaphysik“ (obwohl sich diese Fragestellungen von anderen Sektoren, vor allem von der Wissenschaft und von der Religion, weder historisch noch systematisch strikt trennen lassen). Unser Zugang zur Metaphysik ist auf unsere Bereitschaft angewiesen, wahrhaft staunend nach dem „Warum“ unserer Existenz und des Vorhandenseins der Welt zu fragen. Unter dem Dach der Metaphysik kann man viele der imponierenden Systementwürfe der Philosophie zusammengefasst finden. Ihrer ruhmvollen Tradition antwortet im Laufe der Philosophiegeschichte freilich auch eine vernichtende Kritik. Es sei unwissenschaftlich und folgenlos, so befanden viele Wissenschaftstheoretiker im neuen Geist des Tatsachenwissens der Naturwissenschaften, über die letzten Dinge nur zu „räsonieren“. Und auch die Geisteswissenschaften sagten sich los. Das in ihnen entwickelte historische Denken bestritt den Anspruch der Metaphysik auf Ergebnisse von überzeitlicher Gültigkeit und schrieb ihr einen – obzwar, wie es hieß, „würdigen“ (Benedetto Croce) – Grabgesang. Gegenwärtig steht die „alte Dame“ Metaphysik also nicht wie einst beherrschend in Kurs. Das Unternehmen der Metaphysik, gegenüber einer „selbstverständlichen“ Hinnahme der Dinge diese unter Rekurs auf eine sie hervorbringende und bewirkende „Wesensebene“ gedanklich-spekulativ erklären zu wollen, über-

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Die Metaphysik und ihre Bestreitung

schreitet mit unserer unmittelbar gegebenen Wirklichkeit auch den Kompetenzbereich der empirischen Wissenschaften – als deren vorbildlich methodisierte in der Neuzeit die Physik gilt – und ist damit auch in einem „systematischen“ Sinne „meta-physisch“, d. h. „über die Physik hinausgehend“. Historisch erklärt sich der Begriff „Metaphysik“ allerdings dadurch, dass die diesbezüglichen Schriften des Aristoteles in der von Andronikos von Rhodos im ersten vorchristlichen Jahrhundert besorgten Ausgabe denen über die Natur (physis) „nach“ – (auch das kann „metá“ bedeuten) geordnet wurden. Ihr die Wissenschaft übersteigender Anspruch bedeutet aber nicht von vornherein, dass die Metaphysik darum gegenüber den Wissenschaften ein irrationales Unterfangen wäre. Ganz im Gegenteil: Metaphysik galt einmal für „Wissenschaft“ schlechthin, bevor die empirischen Wissenschaften sie aus diesem Begriffsfeld vertrieben und sie dann allerdings oft genug tatsächlich als überwundene auf die „andere Seite“ stellten. Auf jeden Fall kann man sagen: Wissenschaftsgeschichte und Metaphysikgeschichte gehen lange Zeit eng verschlungen. Was aber ist das Spezifische an der Metaphysik?

3.1 Auf der Suche nach dem höheren Sinn – Aufstieg und Herrschaft der Metaphysik Der höhere Sinn

Es gibt keinen verbindlichen Kanon von Inhalten für die Metaphysik – so wenig wie eine exakte Definition. Um aber einen vorläufigen Begriff von ihrer Sache zu vermitteln, kann man für die „klassische“, „alteuropäische“ Metaphysik seit der griechischen Antike doch in etwa Folgendes festhalten: Während einige Philosophen wie Demokrit und Epikur die Welt für eine zufällige Atomkomposition erklärten und die Seele für etwas hielten, das sich in gleich zufälliger Weise, wie es sich zusammengesetzt hat, auch wieder auflösen kann, und während diese Philosophen auch die Götter in eine folgenlose jenseitige Existenz hinweg komplimentierten, so ging es einer idealistischen Metaphysik in ihren Hauptlinien doch immer darum, die objektive Weltordnung im ganzen auf eine letzte, über das bloß Materielle und Vergängliche hinausweisende Sinnebene zu verweisen, die häufig mit den Vorstellungen einer unsterblichen Seele und eines göttlichen Urgrundes verbunden wurde. Die verwirrende Wechselhaftigkeit der irdischen und menschlichen Welt – muss sie nicht mit allem Recht den Eindruck nahe legen, all dies sei nur ein gewaltiges sinnloses Getöse, ein oft genug groteskes Schauspiel, vorgetragen auf der Bühne einer stummen, zufälligen und verständnislosen Natur? Muss nicht ein ambitioniertes Denken durch die Erscheinungswelt hindurch nach einem letzten Grund suchen, von dem her sich das scheinbar Chaotische aufhebt? Von besonderer Bedeutung für diese Fragen der nachmalig so genannten

Der höhere Sinn

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„Metaphysik“ und für die spezifische Art und Weise, in der sie sich ausprägte, ist Platon, der ihren Gegenstand bestimmt hat als das eigentliche Wissen („episteme“) gegenüber dem bloßen Meinen („doxa“) von einem Bleibenden, Idealen und Normativen in der Welt des Wechsels, unserer alltäglichen Welt. Im berühmten „Höhlengleichnis“ (als erster Text im Anschluss Zum Weiterdenken abgedruckt) hat dieses Konzept einen sinnfälligen Ausdruck gefunden. Den Status der wahren Welt des Seins beschreibt die im Zentrum der platonischen Philosophie stehende „Ideenlehre“. Die „Ideen“ sind nicht bloße Vorstellungen, sondern sie haben in der Art eines „idealen Seins“, als Ur- und Vorbilder aller Dinge in der Welt einen ontologischen Status von höchster Bedeutung. Die höchste Idee, zugleich Ermöglichungsgrund der Ideen insgesamt, ist die Idee des Guten. Denn wie, fragt Platon, sollte jemand, der von der Idee des Guten als der höchsten Idee nichts weiß, die anderen richtig kennen können? Im Denkhorizont der Metaphysik befindet sich in der Antike neben der Ideenlehre Platons auch die „erste Wissenschaft“ des Aristoteles. Im Denkhorizont der Metaphysik befindet sich im Weiteren ebenso das theoretische Rüstzeug, in das das Mittelalter die Rede von Gott kleidet. Die Metaphysik fällt hier weitgehend mit der Theologie zusammen. Die platonischen Ideen werden zu „Gedanken Gottes“. Wenn die „Summe der Theologie“ des Thomas von Aquin (1225–1274) die Existenz Gottes nachzuweisen sucht, geschieht dies in einer dem Aristoteles verpflichteten Weise (Textauszug Zum Weiterdenken im Anhang). Die Fragen, Grundthemen und -motive der Metaphysik haben sich dann in der abendländischen Geistesgeschichte, z. B. in der sogenannten „Schulphilosophie“ des 18. Jahrhunderts, weiter ausgeprägt. Man unterscheidet vor allem die „allgemeine Metaphysik“ („metaphysica generalis“) von der „speziellen“ („metaphysica specialis“). Erstere, die auch unter dem Begriff „Ontologie“ firmiert, fragt nach dem Seienden, insofern es „ist“, nach dem „Sein des Seienden“. Ontologie ist also in einem bestimmten Sinne die Metaphysik des Seins. Die spezielle Metaphysik gliedert sich in rationale Theologie (die Gott als Ursache der Welt benennt), rationale Psychologie (die über Seele und Unsterblichkeit handelt) und rationale Kosmologie (Thema: die Welt). Die Neuzeit ist in der Geschichte der Metaphysik einerseits die Zeit der sogenannten „Barocksysteme“ des Descartes, Spinozas (1632–1677), von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und Christian Wolff. Zugleich bekommt die Metaphysik nun aber eine nach der Möglichkeit der Erkenntnis des Wirklichen, wie es bis dato behauptet worden war, fragende Richtung. Dies geschieht zunächst bei René Descartes (1595–1650), der erstmals vom erkennenden Subjekt ausgeht, d. h. nicht mehr nur den Theoretiker als Korrespondenten einer vorgegebenen Wahrheit ansieht, sondern im „cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“; soll

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Die Metaphysik und ihre Bestreitung

heißen: indem ich denke, erfahre ich mich als einen, der an seiner Existenz nicht zweifeln kann) den „Referenzort“ für „Wirklichkeit“ zugleich in das denkende Ich hinein verlegt (auch wenn im Zuge seiner weiteren Argumentation Gott für Descartes weiterhin eine große Rolle spielt und er damit grundsätzlich auch in die Geschichte der Metaphysik eingeordnet werden kann). Die Metaphysik zu stürzen, unternahm der Aufklärungsphilosoph Kant.

3.2 Der Sturz der Königin: Die Bestreitung der Metaphysik Die Bestreitung der Metaphysik

Bei Immanuel Kant vollzieht sich endgültig ein fundamentaler und epochemachender Bruch: die Metaphysik wird erkenntnistheoretisch-kritisch untersucht und am Ende im bis dato angestrebten Sinn für unmöglich erklärt. Was von ihr bleibt, wird von theoretischen Erkenntnisansprüchen fort und auf praktische Orientierungserfordernisse hin umgelenkt. Die Welt wird damit nicht sinnlos, sie wird zuvörderst zu einer moralischen Verpflichtung und zu einer Aufgabe. „Die menschliche Vernunft“, so schrieb Kant in der Vorrede zur ersten Auflage seiner „Kritik der reinen Vernunft“ (1781; die zweite Auflage kam 1787 heraus), hat zwar „das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft“. Da aber diese – wiewohl uns als Menschen ureigenen – metaphysischen Fragen „allen möglichen Erfahrungsgebrauch überschreiten“, stürzen sie die Vernunft „in Dunkelheit und Widersprüche“ – „Der Kampfplatz dieser endlosen Streitigkeiten heißt nun Metaphysik.“ So weit ist es mit der einstmaligen Königin aller Wissenschaft also gekommen: Von unabweisbaren Fragen verführt, ist die Metaphysik nach Kant der gescheiterte Versuch der Vernunft, über das letztbestimmende Sein, über Gott, Seele und Welt definitive theoretische Aussagen zu machen. Insbesondere kann man die Existenz Gottes nicht beweisen. Aus diesem Scheitern folgert Kant dann als Programm seiner Philosophie die Untersuchung des Erkenntnisvermögens überhaupt, eine kritische Selbstanalyse der Vernunft. In ihr wird dann die Entscheidung über Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Metaphysik fallen. Als Wissenschaft und „sicherer Gang der Erkenntnis“ kann an der Metaphysik mit anderen Worten gerade soviel gelten, wie Kritik ihrer selbst ist; diese Funktion übernimmt die Transzendentalphilosophie Kants, die nach der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis fragt. Die Erkenntnisgegenstände der einstigen Königin verlieren ihre Denkbarkeit als theoretische Wahrheiten analog zu Erfahrungstatsachen und gewinnen den Status regulativer Ideen: „Ich kann also Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zum

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Behuf des notwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft nicht einmal annehmen, wenn ich nicht der spekulativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung überschwänglicher Einsichten benehme […] Ich musste also das Wissen aufheben, um für den Glauben Platz zu bekommen“ – so heißt es im nachstehend Zum Weiterdenken empfohlenen Textauszug. Kann man die Metaphysik nun noch bewahren? Hegel gebraucht für seine Philosophie den Terminus „Metaphysik“ zwar kaum. Er erhebt aber metaphysische Ansprüche, die noch einmal Kants Begrenzung aufzuheben suchen. Von den traditionellen Metaphysiken vor ihm unterscheidet sich Hegel aber auch, und zwar vor allem durch eine gewisse „Dynamisierung“ ihrer Grundannahmen. Hatten Erstere in Gegensätzen wie denen zwischen Mensch und Gott, Endlichem und Unendlichem, vergänglicher und ewiger Welt usw. gedacht, so will Hegel mit Hilfe der „modernen“ Figur von Entzweiung und Versöhnung die christliche Lehre von Schöpfung und Erlösung philosophisch so reformulieren, dass der ursprüngliche absolute Geist (Gott in seiner Ewigkeit, vor Erschaffung der Welt) sein ewiges Leben entfaltet, das eine Entwicklung und zugleich Zurückführung dieser Entwicklung in sich selbst ist. Während Hegel also noch einmal ein grandioses System aller Wirklichkeitsdeutung erbaute, das auch die Einzelwissenschaften zu umfassen suchte, so ging nach seinem Tod der rapide Verfall der Metaphysik ungebremst weiter. „Der einzige wirkliche Fortschritt der Metaphysik seit Hegels Zeiten“, so mag heute ein Kritiker denken, „war ihr Untergang“. Denn durch die Entwicklung der empirischen Fachwissenschaften wird die Problematik eines Denkens immer schärfer herausgearbeitet, das umfassendste Wirklichkeitsaussagen machen will und dabei nicht auf gegebene Sinnesdaten rekurriert. Die Metaphysik, der es nicht mehr, wie noch bei Aristoteles und im Mittelalter, gelingt, sich zu den Untersuchungen der Einzelwissenschaften in ein konsistent scheinendes Verhältnis zu setzen, wird nun zunehmend als bloße „Begriffsdichtung“ und als im Sinne der neuen Auffassung unwissenschaftlich angegriffen. Vor allem seit Galilei setzen sich die Naturwissenschaften von der Unterordnung unter das Dach der mittelalterlichen theologischen Metaphysik ab; bis ins 20. Jahrhundert reicht die Kette der Metaphysikkritik unter dem Banner der mathematischen und empirischen Wissenschaft. Symptomatisch hierfür sind die Worte des schottischen Philosophen David Hume (1711–1776): „Sehen wir […] die Bibliotheken durch, welche Verwüstungen müssen wir da nicht anrichten? Greifen wir irgendeinen Band heraus, etwa über Gotteslehre oder Schulmetaphysik, so sollten wir fragen: Enthält er irgendeinen abstrakten Gedankengang über Größe und Zahl? Nein. Enthält er irgendeinen auf Erfahrung gestützten Gedankengang über Tatsachen und Dasein? Nein. Nun, so werft ihn ins Feuer, denn er kann nichts als Blendwerk und Täuschung enthalten.“1

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Im 20. Jahrhundert ist die Kritik an der Metaphysik als einem reinen Begriffsdenken auf einen sehr polemischen Punkt gebracht worden: Sie ist für den deutsch-amerikanischen Wissenschaftstheoretiker Rudolf Carnap (1891–1970) die unstatthafte Theoretisierung eines bloßen Lebensgefühls, dessen angemessene Ausdrucksform eher die Kunst, z. B. die Musik wäre: Metaphysiker sind für ihn darum Musiker ohne musikalische Fähigkeit, die stattdessen theoretisieren, und damit weder für das Lebensgefühl noch für die Theorie einen Gewinn erbringen.2 Die Begriffe und Sätze der Metaphysik sind ohne Sinn. Der Stein, den die Naturwissenschaften auf das Grab der Metaphysik legen, trägt die Inschrift: „Keine Aussagen über eine letzte Bedingtheit der Wirklichkeit, die sich methodisiertem Erfahrungsbezug vorgängig dünken“. Sodann bilden auch die Geisteswissenschaften ihre eigenen, anti-metaphysischen und ebenfalls empirischen (philologischen und hermeneutischen) Methoden aus. Auch sie antworten dem „Zusammenbruch“ der Hegel’schen Metaphysik und seines grandiosen Konzeptes, das noch einmal alle Wirklichkeit – der Natur wie des Geistes – unter die Kategorie eines hypostasierten „Geist“begriffes zu fassen versucht hatte. Wie die Theoretiker der Naturwissenschaften der Erfahrung der Natur, so wenden sich auch die der Geisteswissenschaften, z. B. Wilhelm Dilthey (1833–1911), der konkret erfahrbaren Seite der geistigen Welt zu und von der Metaphysik fort. Der geisteswissenschaftliche Historismus dieser Zeit, das Denken in geschichtlichen Kategorien, besteht darauf, dass jedes „dualistische“ Ansinnen, ein Absolutes in unserer Welt wirkungsmächtig einzuklagen, unweigerlich als seinerseits historisch entstehendes und damit den Bedingungen der Historizität unterworfenes Handeln zu erweisen ist und damit am Widerspruch zwischen seiner angeblichen übergeschichtlichen Universalgeltung und seiner faktischen Überholbarkeit scheitert. Dilthey hatte etwa den Begriff der Metaphysik unter anderem von der Denkfigur eines solchen „Dualismus“ aus kritisch anvisiert: Der Schwerpunkt der, wie er sich ausdrückt, „großen geschichtlichen Masse von Metaphysik“ liege jenen „gewaltigen Spekulationen“ nahe, „welche nicht nur die Erfahrung überschreiten, sondern ein von allem Sinnfälligen unterschiedenes Reich von geistigen Wesenheiten annehmen. Diese Spekulationen blicken also in ein hinter der Sinnenwelt Verborgenes, Wesenhaftes: eine zweite Welt.“ Vollends aber für den Italiener Benedetto Croce (1866–1952) wird die Etablierung einer solchen zweiten Welt zu einem Kardinalfehler. Der Gegner des Historismus, der diesem Denkfehler unterliegt, ist „die Philosophie oder richtiger gesagt die traditionelle Vorstellung von der Philosophie, die ihren Blick himmelwärts richtet und vom Himmel die höchste Wahrheit empfängt und erwartet. Diese Trennung von Himmel und Erde, diese dualistische Auffassung von einer Wirklichkeit jenseits der Wirklichkeit, von einer Metaphysik jenseits der Physik, von einer Schau des Begriffs jenseits des Urteils und ohne das Urteil – das ist es, was dieser Philosophie

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ihren eigenartigen Charakter verleiht, der immer der gleiche bleibt, wie man die transzendente Wirklichkeit nennen mag, Gott oder Materie, Idee oder Wille – jedesmal wird angenommen, dass unterhalb ihrer oder ihr gegenüber eine niedrigere oder rein phänomenale Wirklichkeit bestehe.“3 Der Stein, den die Geisteswissenschaften auf das Grab der Metaphysik legen, trägt die Inschrift: „Keine Aussagen über eine überhistorische letzte Totalität aller Wirklichkeit, die sich der Einsicht in die Gewordenheit, Überholbarkeit und Endlichkeit allen menschlichen Wissens vorgängig dünken“.

3.3 Heidegger und die Überbietung der Metaphysik Heidegger

Finden die einen die Metaphysik also unwissenschaftlich, so ist sie für eine berühmt gewordene Einzelstimme aus Deutschland zu wissenschaftlich. Der Versuch des Seinsdenkers Martin Heidegger (1889–1976),4 die Metaphysik, der er „Seinsvergessenheit“ vorwarf, in seiner „Fundamentalontologie“ noch einmal „meta-metaphysisch“ zu überbieten, resultierte aus der Befürchtung, sie verstelle gerade den Blick auf das Eigentliche. Für den späteren Heidegger sind Metaphysik, Wissenschaft und Technik allesamt Ausdruck seinsgeschichtlichen Verfalls.5 In West wie Ost sah er eine Entwicklung zur Selbstzerstörung des Menschen statthaben. Hierzu ist es wichtig zu bedenken, dass Heidegger diese Wirkung der neuzeitlichen Wissenschaft und Technik als eine Folge dem verhängnisvoll vom Eigentlichen abgewichenen Wirken der Metaphysik seit Plato zuschrieb. Was gerade so schmerzlich auseinandergebrochen war: die Metaphysik und die Wissenschaft, das war für Heidegger im Grunde alles ein und dasselbe und beides letztlich verderblich. Man hat am Beispiel eines Zeitungsphotos, das eine hochmoderne technische Großantenne und eine kleine alte Dorfkirche zusammen zeigt, darauf hingewiesen, dass jene Bereiche (also Wissenschaft und theologische Metaphysik) – für uns offensichtliche Gegensätze – für Heidegger eng zusammengehören. Das folgende Zitat mag vielleicht verdeutlichen, welche grundsätzliche Fragedimension Heidegger bei ihnen vermisst: „Einer sagt z. B.: ich denke, heute Nacht schneit es; wer so spricht, denkt nicht, er meint bloß. Allein dieses Meinen darf uns beileibe nicht als etwas Geringes gelten. Unser tägliches Tun und Lassen bewegt sich in diesem Meinen, und zwar notwendig. Sogar die Wissenschaften halten sich darin auf. Inwiefern ist dieses Meinen einseitig? Gehört es nicht zu den obersten Leitsätzen der Wissenschaft, ihre Gegenstände möglichst vielseitig und sogar allseitig zu erforschen? Wo bleibt da etwas Einseitiges? Genau dort, wo der Bereich ihrer Forschung liegt. Die Geschichtswissenschaft durchforscht z. B. ein Zeitalter nach allen nur möglichen Hinsichten und erforscht doch nie, was Geschichte ist. Sie

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kann das gar nicht wissenschaftlich erforschen. Auf historischem Wege wird ein Mensch niemals finden, was Geschichte ist; so wenig wie jemals ein Mathematiker auf mathematischem Wege, d. h. durch seine Wissenschaft, also zuletzt in mathematischen Formeln zeigen kann, was das Mathematische ist. Das Wesen ihrer Bereiche, die Geschichte, die Kunst, die Dichtung, die Sprache, die Natur, der Mensch, Gott – bleibt den Wissenschaften unzugänglich. Zugleich aber fielen die Wissenschaften fortgesetzt ins Leere, wenn sie sich nicht innerhalb dieser Bereiche bewegten. Das Wesen der genannten Bereiche ist die Sache des Denkens. Insofern die Wissenschaften zu dieser Sache keinen Zugang haben, muss gesagt werden, dass sie nicht denken. Wird dies ausgesprochen, dann hört sich das zunächst leicht so an, als dünke sich das Denken den Wissenschaften gegenüber überlegen. Dieser Dünkel wäre, wo er bestehen sollte, unberechtigt; denn gerade weil das Denken sich dort bewegt, wo es das Wesen von Geschichte, Kunst, Sprache, Natur denken könnte, es aber noch nicht vermag, weiß das Denken immer wesentlich weniger als die Wissenschaften. Diese tragen ihren Namen mit vollem Recht, weil sie unendlich viel mehr wissen als das Denken. Und dennoch gibt es in jeder Wissenschaft eine andere Seite, auf die sie als Wissenschaft niemals gelangen kann: das Wesen und die Wesensherkunft ihres Bereiches, auch das Wesen und die Wesensherkunft der Wissensart, die sie pflegt und noch anderes. Die Wissenschaften bleiben notwendig auf der einen Seite. Sie sind in diesem Sinn einseitig, aber so, dass die andere Seite gleichwohl stets miterscheint“.6 Wenn die Tradition der Metaphysik nach dem Urgrund des Seienden gefragt hatte, so hatte sie dieses Begründende letztlich immer als eine neue Art – wenn auch eine qualitativ andere und das uns umgebende Seiende ermöglichende Art – von Seiendem gedacht. Zu fragen ist aber streng und radikal nach dem Sein als Sein. Heidegger möchte an der abendländischen Tradition der Metaphysik nicht mehr festhalten, weil diese die Frage nach dem Sein inzwischen mit verstelle und selbst zu einem Teil der „Seinsvergessenheit“ geworden sei. Heideggers Denken ist in der Gegenwart ebenso einflussreich bei einigen Denkern wie insgesamt in seinem fundamentalontologischen Totalanspruch hoch umstritten und viel gescholten. So verwendet Heidegger zu seiner „Überhöhung des Seinsbegriffs“, wie auffällt, häufig ein intransitives und passives Vokabular, das darauf hofft, und mag das noch so selten geschehen, „in die Wahrheit des Seins“ zu gelangen. Für dieses wahrhafte Philosophieren muss auch eine neue angemessene Sprache gefunden werden. Hierzu entsteht der ebenso berühmte wie berüchtigte „Heidegger-Jargon“, der einem Witz zufolge ins Englische nicht übersetzbar ist – und ins Deutsche auch nicht. In der Künstlichkeit seiner Diktion erscheint, wie man bemerkt hat, keine Substantivierung unnatürlich genug. Freilich gilt bei aller Kritik auch: Trotz der Unterschiede zu Heidegger und Polemiken gegen ihn zielt auch die

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„negative Metaphysik“ etwa des Heidegger-Antipoden Theodor W. Adorno (1903–1969) auf das, „was die Metaphysik immer schon gemeint und immer schon verfehlt“ hat7 – und damit auf Intentionen, die für die philosophische Diskussion bleibend aktuell geblieben sind. Neben Heidegger hat es noch weitere Wiederbelebungsversuche in einer Phase der „Renaissance“ der Metaphysik gegeben. Sie haben aber keine dauerhafte Wirkung erzielt.

3.4 Metaphysik heute? Metaphysik heute?

Die Ansprüche der traditionellen Metaphysik sind insgesamt nach Kant, nach Entstehung der modernen Wissenschaften und des historischen Bewusstseins und der mit alledem verbundenen Aufgabe einer „idealistisch verhimmelten nicht situierten Vernunft“, wie in unserer Gegenwart Jürgen Habermas in der Kontroverse mit Dieter Henrich um die Möglichkeit einer Metaphysik formuliert hat, weitgehend in Frage gestellt.8 Auf Grund vieler gewichtiger Einsichten gibt es aber auch gegenwärtig in der professionellen Philosophie Theoretiker, die in bestimmten Fragen „Platoniker“ oder „Hegelianer“ sind. Über die Möglichkeit einer „Metaphysik nach Kant“ wird auch heute auf Kongressen diskutiert, wobei freilich dieser Kongresstitel vorsichtshalber mit einem Fragezeichen versehen wird. Manche neueren Ansätze freilich trauen sich in ganz ungebrochener, nicht mit den Wissenschaften und ihren Rationalitätskriterien vermittelter Weise zu, eine an Platons und Hegels Valenzansprüchen orientierte „objektiv-idealistische“ Philosophie unter heutigen Bedingungen zu formulieren.9 An solchen Ansätzen kann man loben, dass die Philosophie hier der Entwicklung der Einzelwissenschaften und derjenigen des „relativistischen“ Zeitgeistes nicht hinterläuft, sondern offensiv einen prinzipiellen Frageansatz verficht. Wer den hypothetischen, objektivierenden und technischen Charakter der modernen Wissenschaft als Sinndefizit und Gefahr empfindet, kann sich auf den philosophischen Gestus einer solchen Metaphysik verwiesen sehen. Dass solche Fragen nach dem Unbedingten gegenwärtig nicht einfach „erledigt“ sind, beweisen auch heute Stellungnahmen dahingehend, dass es eine spezifische – vom Treiben der Wissenschaften wohl zu unterscheidende – Denkaufgabe sei, sich in rationaler, diskursiver Form mit einer (oder vielmehr „der“) „Gesamtwirklichkeit“ zu befassen, während wissenschaftliche Erkenntnisse stets nur über bestimmte Gegenstände erhoben werden. Die Totalität, die die Metaphysik dabei anvisieren will, soll, wie wir wissen, etwas anderes sein als die Summe solcher Gegenstandserhebungen, indem sie noch hinter ihnen steht und sie allesamt zugleich umfasst: ein „Sein“ als solches. Was für manchen nüchternen Menschen nur die substanzialisierte Form

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eines Hilfsverb-Infinitivs ist, wurde und wird immer noch als zutiefst Fragwürdiges Gegenstand scharfsinniger Reflexion: Die berühmte Frage: „Warum ist überhaupt Seiendes, warum bin ich überhaupt?“ ist auch gegenwärtig für Philosophen die Frage nach dem rätselhaften „nackten Dass“ der „realen Welt“, dem „Letztfragwürdigen“, nach der „Faktizität“ – nicht in „unspektakuläre[r] Bedeutung“ als bloße „Tatsächlichkeit“, sondern in der Art einer Frage, die „auf der Seiendes durch Seiendes erklärenden Ebene nicht mehr beantwortbar“ ist. Eine solche Denkweise wendet sich gegen die schlichte Erklärung des Seienden für kontingent, d. h. zufällig „da“, und gegen die Ansicht, mit den hypothetischen wissenschaftlichen Bestimmungen über das Universum sei „ohne letztes Darum“ eigentlich alles gesagt: „Wer diesen Standpunkt vertritt, behauptet mehr, als er vermutlich zu behaupten glaubt. […] Denn gibt es nichts über das physische Universum hinaus, dann ist es zwangsläufig ohne letztes Darum, absolut grund- und zwecklos, letzten Endes einfach da. Zugleich aber ist diese Frage „so bodenlos erstaunlich, so schlechthin unlogisch und unbegreiflich, dass wir uns am Ende […] die Ohnmacht unserer Vernunft und unseres Wissens eingestehen.“10

Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur Platon Platon (427–347 v. Chr.), adliger Herkunft, war acht Jahre lang Schüler des Sokrates. Er gründete im Jahre 387 im Hain des Heros Akademos vor den Toren Athens die „Akademie“ zur Erlangung und Vermittlung theoretischer Erkenntnisse in Lehrvorträgen und Lehrgesprächen. Platon hat eine derartige Wirkungsgeschichte entfaltet, dass man gesagt hat, alle Philosophie seither bestehe in einer „Reihe von Fußnoten zu Platon“. Hätte Platon allein die „Politeia“ geschrieben oder hinterlassen, so hat man weiter bemerkt, so wäre er trotzdem zu einem Klassiker nicht nur der Philosophie überhaupt, sondern auch vieler ihrer Disziplinen geworden. Denn das Werk ist mehr als der Beitrag zur politischen Philosophie bzw. Staatsphilosophie, den der Titel ankündigt. Es enthält im Grunde nichts weniger als eine „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“. Die „Politeia“ bietet einen nachhaltigen Beitrag zur Bildungstheorie, äußert sich (kritisch) zu Fragen, die wir heute der Ästhetik zuzuordnen hätten, und gibt eine Deutung der Seele (Psychologie). Vor allem aber wird die Ideenlehre entfaltet: die These vom minderen ontologischen Rang der Erfahrungswelt und von der Existenz einer sie übersteigenden Welt idealer Wahrheit. Als deren Höhepunkt ist die Idee des Guten als Ursache von allem von höchster Bedeutung. Entsprechend enthält die „Politeia“ also eine Erkenntnistheorie und eine Metaphysik.

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Platons – im Folgenden wiedergegebener – wohl berühmtester Text, das „Höhlengleichnis“, hat seinen literarischen Ort als Kernstück der „Politeia“ zu Beginn des siebenten Buches. Der Philosoph lässt ein Gedankenexperiment erläutern, das von einem gefesselten Gefangenen in einer Höhle handelt, der – zunächst einmal eher gegen seinen Willen – in die wahre Welt befreit wird. Alles, was in der Höhle galt, wird dem Gefangenen aber nach einer Zeit der Gewöhnung gegenüber der jetzt erlangten eigentlichen Erkenntnis irrelevant erscheinen. Platon macht deutlich: Wir alle leben in einer solchen Höhle, als die sich unsere empirisch-alltäglichselbstverständlich aufgefasste Welt (in der Schleiermacherschen Übersetzung heißt sie: „die durch das Gesicht uns erscheinende Region“) darstellt. Man muss über diese sinnliche Welt hinauskommen und der wahren – auch in ethischer und politischer Hinsicht entscheidenden – Erkenntnis, der „Idee des Guten“ – der Sonne im Gleichnis – ansichtig werden. Dem Erblicken der Sonne entspricht die gelingende Schau der (höchsten) Idee des Guten, der für alles andere grundlegenden und ursächlichen Idee. Platon beschreibt das, was hier geschieht, als „Bildung“ (paideia). Aus dem „barbarischen Schlamm“, so sagt er in den dem Höhlengleichnis folgenden Passagen, muss das „Auge der Seele“ bergan geführt werden, um aus der Sinnenwelt zur Ideenwelt hin aufzusteigen. Das Höhlengleichnis Nächst dem, sprach ich, vergleiche dir unsere Natur in Bezug auf Bildung und Unbildung folgendem Zustande. Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so dass sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht oben her ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen. – Ich sehe, sagte er. – Sieh nun längs dieser Mauer Menschen allerlei Gefäße tragen, die über die Mauer herüber ragen, und Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder und von allerlei Arbeit; einige, wie natürlich, reden dabei, andere schweigen. – Ein gar wunderliches Bild, sprach er, stellst du dar und wunderliche Gefangene. – Uns ganz ähnliche, entgegnete ich. Denn zuerst, meinst du wohl, dass dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander je etwas anderes gesehen haben als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft? – Wie sollten sie, sprach er, wenn sie gezwungen sind, zeitlebens den Kopf unbeweglich zu halten! – Und von dem Vorübergetragenen nicht

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eben dieses? – Was sonst? – Wenn sie nun mit einander reden könnten, glaubst du nicht, dass sie auch pflegen würden, dieses Vorhandene zu benennen, was sie sähen? – Notwendig. – Und wie, wenn ihr Kerker auch einen Widerhall hätte von drüben her, meinst du, wenn einer von den Vorübergehenden spräche, sie würden denken, etwas anderes rede als der eben vorübergehende Schatten? – Nein beim Zeus, sagte er. – Auf keine Weise also könnten diese irgendetwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke? – Ganz unmöglich. – Nun betrachte auch, sprach ich, die Lösung und Heilung von ihren Banden und ihrem Unverstande, wie es damit natürlich stehen würde, wenn ihnen Folgendes begegnete. Wenn einer entfesselt wäre und gezwungen würde, sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehn, und, indem er das täte, immer Schmerzen hätte und wegen des flimmernden Glanzes nicht recht vermöchte, jene Dinge zu erkennen, wovon er vorher die Schatten sah: was, meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihm einer versicherte, damals habe er lauter Nichtiges gesehen, jetzt aber, dem Seienden näher und zu dem mehr Seienden gewendet, sähe er richtiger, und, ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und zu antworten zwänge, was es sei? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben, was er damals gesehen, sei doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde? – Bei weitem, antwortete er. – Und wenn man ihn gar in das Licht selbst zu sehen nötigte, würden ihm wohl die Augen schmerzen und er würde fliehen und zu jenem zurückkehren, was er anzusehen im Stande ist, fest überzeugt, dies sei weit gewisser als das zuletzt Gezeigte? – Allerdings. – Und, sprach ich, wenn ihn einer mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen Aufgang schleppte und nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, wird er nicht viel Schmerzen haben und sich gar ungern schleppen lassen? Und wenn er nun an das Licht kommt und die Augen voll Strahlen hat, wird er nichts sehen können von dem, was ihm nun für das Wahre gegeben wird. – Freilich nicht, sagte er, wenigstens sogleich nicht. – Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben, um das Obere zu sehen. Und zuerst würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der andern Dinge im Wasser, und dann erst sie selbst. Und eben so, was am Himmel ist und den Himmel selbst würde er am liebsten in der Nacht betrachten und in das Mond- und Sternenlicht sehen, als bei Tage in die Sonne und in ihr Licht. – Wie sollte er nicht! – Zuletzt aber, denke ich, wird er auch die Sonne selbst, nicht Bilder von ihr im Wasser oder anderwärts, sondern sie selbst an ihrer eigenen Stelle anzusehen und zu betrachten im Stande sein. – Notwendig, sagte er. – Und dann wird er schon herausbringen von ihr, dass sie es ist, die alle Zeiten und Jahre

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schafft und alles ordnet in dem sichtbaren Raume, und auch von dem, was sie dort sahen, gewissermaßen die Ursache ist. – Offenbar, sagte er, würde er nach jenem auch hierzu kommen. – Und wie, wenn er nun seiner ersten Wohnung gedenkt und der dortigen Weisheit und der damaligen Mitgefangenen, meinst du nicht, er werde sich selbst glücklich preisen über die Veränderung, jene aber beklagen? – Ganz gewiss. – Und wenn sie dort unter sich Ehre, Lob und Belohnungen für den bestimmt hatten, der das Vorüberziehende am schärfsten sah und sich am besten behielt, was zuerst zu kommen pflegte und was zuletzt und was zugleich, und daher also am besten vorhersagen konnte, was nun erscheinen werde, glaubst du, es werde ihn danach noch groß verlangen und er werde die bei jenen Geehrten und Machthabenden beneiden? Oder wird ihm das Homerische begegnen und er viel lieber wollen das Feld als Tagelöhner bestellen einem dürftigen Mann und lieber alles über sich ergehen lassen, als wieder solche Vorstellungen zu haben wie dort und so zu leben? – So, sagte er, denke ich, wird er sich alles eher gefallen lassen, als so zu leben. – Auch das bedenke noch, sprach ich. Wenn ein solcher nun wieder hinunterstiege und sich auf denselben Schemel setzte: würden ihm die Augen nicht ganz voll Dunkelheit sein, da er so plötzlich von der Sonne herkommt? – Ganz gewiss. – Und wenn er wieder in der Begutachtung jener Schatten wetteifern sollte mit denen, die immer dort gefangen gewesen, während es ihm noch vor den Augen flimmert, ehe er sie wieder dazu einrichtet, und das möchte keine kleine Zeit seines Aufenthalts dauern, würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen und es lohne nicht, dass man versuche hinaufzukommen; sondern man müsse jeden, der sie lösen und hinaufbringen wollte, wenn man seiner nur habhaft werden und ihn umbringen könnte, auch wirklich umbringen? – So sprächen sie ganz gewiss, sagte er. – Dieses ganze Bild nun, sagte ich, lieber Glaukon, musst du mit dem früher Gesagten verbinden, die durch das Gesicht uns erscheinende Region der Wohnung im Gefängnisse gleichsetzen und den Schein von dem Feuer darin der Kraft der Sonne; und wenn du nun das Hinaufsteigen und die Beschauung der oberen Dinge setzt als den Aufschwung der Seele in die Region der Erkenntnis, so wird dir nicht entgehen, was mein Glaube ist, da du doch dieses zu wissen begehrst. Gott mag wissen, ob er richtig ist; was ich wenigstens sehe, das sehe ich so, dass zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich dafür anerkannt wird, dass sie für alle die Ursache alles Richtigen und Schönen ist, im Sichtbaren das Licht und die Sonne, von der dieses abhängt, erzeugend, im Erkennbaren aber sie allein

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als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervorbringend, und dass also diese sehen muss, wer vernünftig handeln will, sei es nun in eigenen oder in öffentliche Angelegenheiten. – Auch ich, sprach er, teile die Meinung, so gut ich eben kann. – Komm denn, sprach ich, teile auch diese mit mir und wundere dich nicht, wenn diejenigen, die bis hierher gekommen sind, nicht Lust haben, menschliche Dinge zu betreiben, sondern ihre Seelen immer nach dem Aufenthalt oben trachten; denn es ist ja natürlich, wenn sich dies nach dem vorher aufgestellten Bilde verhält. – Natürlich freilich, sagte er. – Und wie? Kommt dir das wunderbar vor, fuhr ich fort, dass, von göttlichen Anschauungen unter das menschliche Elend versetzt, einer sich übel gebärdet und gar lächerlich erscheint, wenn er, solange er noch trübe sieht und ehe er sich an die dortige Finsternis hinreichend gewöhnt hat, schon genötigt wird, vor Gericht oder anderwärts zu streiten über die Schatten des Gerechten oder die Bilder, zu denen sie gehören, und dieses auszufechten, wie es sich die etwa vorstellen, welche die Gerechtigkeit selbst niemals gesehen haben? – Nicht im Mindesten zu verwundern! sagte er. – Sondern, wenn einer Vernunft hätte, fuhr ich fort, so würde er bedenken, dass durch zweierlei und auf zwiefache Weise das Gesicht gestört sein kann, wenn man aus dem Licht in die Dunkelheit versetzt wird, und wenn aus der Dunkelheit in das Licht. Und ebenso, würde er denken, gehe es auch mit der Seele, und würde, wenn er eine verwirrt findet und unfähig zu sehen, nicht unüberlegt lachen, sondern erst zusehen, ob sie wohl von einem lichtvolleren Leben herkommend aus Ungewohnheit verfinstert ist oder ob sie, aus größerem Unverstande ins Hellere gekommen, durch die Fülle des Glanzes geblendet wird; und so würde er dann die eine wegen ihres Zustandes und ihrer Lebensweise glücklich preisen, die andere aber bedauern […]. Platon, Politeia 514a–516c; hier nach: Platons Werke (deutsch) von F. Schleiermacher. Dritten Teiles erster Band, Druck und Verlag von Georg Reimer Berlin 1862, 231– 234 (überarbeitet).

Thomas von Aquin Der heilige Thomas (1225–1274), als Sohn einer italienischen Adelsfamilie in Roccasecca bei Aquino in Süditalien geboren, ist neben dem Kirchenvater Augustin (354–430) sicherlich der bekannteste mittelalterliche Philosoph. Thomas studierte an der neu gegründeten kaiserlichen Universität zu Neapel sowie in Paris und Köln und wurde dann selbst Universitätslehrer. Seine „Summa theologiae“ ist ein monumentales theologisches Handbuch. Thomas bemüht sich um eine weitgehende Integration der damals neu zugänglichen Schriften des Aristoteles in das Denken der Zeit. Der folgende Textauszug ist ein hervorragendes Beispiel für das metaphysische

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Denken im Mittelalter. Er gehört in die Gattung der Gottesbeweise. Geschildert werden die berühmten fünf Wege (quinquae viae) zur Erkenntnis Gottes. Thomas’ Gottesbeweise argumentieren ganz in der aristotelischen Linie. Thomas fragt nach dem jeweils Bewegenden. Hier kann man nicht ad infinitum fortschreiten, weil dann nichts das erste Bewegende wäre. Also muss es Gott als den ersten, selbst unbewegten Beweger geben. Ähnlich ist es bei der Suche nach der ersten Wirkursache (prima causa efficiens) – die es geben muss – oder bei der Argumentation ex gradibus [aus den Seinsstufen]: Es muss ein Wärmstes, Wahres, Bestes geben usw. Summa theologiae (Ausschnitt) 1. Es ist gewiss und zwar bereits in der Erfahrung der Sinne begründet, dass manches in der Welt der Bewegung unterliegt. Was aber auch immer in Bewegung ist, das wird von etwas anderem in Bewegung gesetzt. […] So also ist es unumgänglich notwendig, dass, was auch immer in Bewegung ist, von anderem bewegt werde. Wenn nun aber dasjenige, was in Bewegung setzt, wieder selbst in Bewegung ist, so muss auch dieses wieder von einem anderen den Anstoß zur Bewegung erhalten. Es kann jedoch keineswegs in den bewegenden Kräften eine Reihe ohne Ende angenommen werden, da es in diesem Falle tatsächlich keine zuerst bewegende Kraft geben würde, somit aber auch keine der folgenden bewegen könnte, insofern keine derselben bewegt, wenn sie nicht selber von der vorhergehenden den Anstoß erhalten hat, gleichwie der Stock nicht bewegt, wenn er nicht von der Hand in Bewegung gesetzt wird. Notwendigerweise also muss folgerichtig eine erstbewegende Kraft angenommen werden, die selber völlig unbeweglich ist und sonach keiner andern bewegenden Kraft bedarf; diese aber ist nach dem Geständnisse aller Gott. 2. Der zweite Weg, auf welchem zur Anerkennung des Daseins Gottes gelangt wird, beruht auf dem Begriffe der bewirkenden Ursache. Wir finden nämlich in den uns umgebenden sinnlich wahrnehmbaren Dingen eine geordnete Folge von bewirkenden Ursachen. Es kann nun jedenfalls nicht gesagt werden, dass etwas sich selber hervorbringe, da es einfach unmöglich ist, dass etwas früher sei als es ist. Gleicherweise ist es aber unmöglich, dass die Folge von bewirkenden Ursachen ununterbrochen ohne Ende sei, da in allen solchen bewirkenden Ursachen, die unter sich einen geordneten Zusammenhang haben, in denen also das eine die Ursache des anderen ist, das erste die Mittelursache hervorbringt und diese die letzte Wirkung zur Folge hat, mag nun eine einzige Mittelursache oder eine Mehrzahl angenommen werden. Wird nun die Ursache entfernt, so muss auch die Wirkung entfernt bleiben; gibt es also kein Erstes, so fällt auch die Mittelursache weg und folgerichtig zugleich die letzte Wirkung. Da aber

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bei einer endlosen Reihe von bewirkenden Ursachen keine erste bewirkende Ursache vorhanden sein kann, so kann es auch keine Mittelursache und dem gemäß keine Schlusswirkung geben, was offenbar den Tatsachen widerspricht. Es existiert daher notwendig eine erste bewirkende Ursache, welche eben alle Gott nennen. 3. Der dritte Weg zur Anerkennung der Notwendigkeit des Daseins Gottes geht aus vom Möglichen und Notwendigen. Wir finden nämlich in den Dingen manches, was sein oder auch nicht sein kann; zeigt doch die Tatsache des Entstehens oder Vergehens, dem viele Dinge unterworfen sind, dass eine Möglichkeit vorhanden ist, zu sein und zugleich die Möglichkeit, nicht zu sein. Es ist aber unmöglich, dass, was so beschaffen ist, immer sei; weil, was in seiner Natur die innere Möglichkeit besitzt, nicht zu sein, zuweilen auch tatsächlich nicht ist. Wenn nun aber schlechthin alles die Möglichkeit hat, nicht zu sein, so war auch einmal nichts. Ist dies jedoch der Fall, so würde auch jetzt noch nichts sein, sondern es muss etwas sein, was mit Notwendigkeit existiert. Alles Derartige hat nun die Ursache seiner Notwendigkeit entweder von außen oder nicht. Da aber auch hier keine Reihe ohne Ende angenommen werden kann, ebenso wenig wie rücksichtlich der wirkenden Ursachen, so muss ein Sein existieren, das ganz und gar aus einem eigenen Inneren heraus notwendig ist und diese Notwendigkeit keinem äußeren Grunde verdankt, vielmehr sie in allem, was notwendig ist, verursacht; dieses Sein aber nennen alle Gott. 4. Der vierte Weg, um zur sicheren Kenntnis des Daseins Gottes zu gelangen, geht von der Tatsache aus, dass in den Geschöpfen sich verschiedene Abstufungen des Seinsgrades vorfinden. Es wird nämlich ohne Zweifel in den Dingen ein höherer und ein niedrigerer Grad von Güte, von Wahrheit und von Seinswert gefunden. Eine solche Verschiedenheit kann aber nur insoweit als möglich angenommen werden, inwieweit ein derartiger Grad mehr oder minder absteht von dem, was den entsprechenden Vorzug im unbedingt höchsten Grade besitzt: wie z. B. etwas im selben Grade warm ist, also dem unbedingt und notwendig am meisten Warmen nahe steht. Es gibt also ein im höchsten Grade Wahres, ein ausschließlich höchstes Gut, ein schlechthin Ewiges; folgerichtig auch ein Sein, welches auf der ohne Zweifel höchsten Stufe steht. Denn was im höchsten Grade wahr ist, das ist auch im höchsten Grade Sein. Nun ist aber, was irgend eine Eigenschaft im höchsten Grade besitzt, die Ursache dieser selben Eigenschaft, insoweit sie sich in anderen Dingen vorfindet, wie z. B. das Feuer, das am meisten und unabhängig von allem warm ist, die Ursache der Wärme in allen übrigen Geschöpfen bildet. Also existiert ein höchstes Sein, das da wirkende Ursache des Seins und des Wahren und des Guten,

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mit einem Worte aller Vollkommenheiten ist, die sich irgendwie oder irgendwo vorfinden. 5. Der fünfte Beweis für das Dasein Gottes geht von der Leitung der Dinge aus. Wir sehen nämlich, dass so manche Wesen, die der erkennenden Vernunft entbehren, wie z. B. alles Körperliche in der Natur, bei ihrer Tätigkeit einen Endzweck verfolgen; dies erhellt daraus, dass sie immer oder doch in den weitaus meisten Fällen auf ein und dieselbe Weise tätig sind, damit sie erlangen, was für sie vollkommen ist. Sonach werden dieselben nicht vom Zufall getrieben, sondern durch eine bestimmte Absicht bis zur Erreichung des Zweckes geleitet. Mit Absicht aber bis zu einem bestimmten Zwecke leiten, kann nur ein mit Wille und Einsicht begabtes Wesen, gleichwie die bestimmte Richtung des Pfeiles den Schützen verrät. Also gibt es ein vernünftiges Sein, welches alle natürlichen Dinge, und zwar insoweit dieselben eben eine Natur haben, zum Zwecke geleitet; und dieses Sein nennen wir Gott. Text: Thomas von Aquin: Die katholische Wahrheit oder die theologische Summa, deutsch wiedergegeben von Ceslaus Maria Schneider, Regensburg 1886, 108 –110.

Immanuel Kant Immanuel Kant (1724 –1804) wurde in Königsberg in Ostpreußen geboren und ist auch dort gestorben. Der Philosoph hatte nach zeitgenössischen Berichten eine schmale und kleine Gestalt mit eingefallenem Brustkorb und vorstehenden Schultern. Man mag ihm vielleicht die Energie nicht zugetraut haben, mit der er in einem gewaltigen, umfangreichen Werk die Philosophie revolutionierte. Vor allem in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) vollzog Kant seine berühmt gewordene „kritische Wendung“, einen Wendepunkt der Philosophiegeschichte überhaupt. Wie viel ist von den Philosophen und Theologen in der „Metaphysik“, der Untersuchung der Frage nach Gott, Weltgrund und unsterblicher Seele, schon behauptet und gestritten worden! Dieses Feld des Nachdenkens muss darum einmal grundsätzlich auf das hin untersucht werden, was man denn nun wirklich überprüfbar und verlässlich zu diesen Themen sagen kann. Vor Kants erkenntniskritischer Philosophie gerät die traditionelle Metaphysik auf den Prüfstand. Sein Ergebnis: Von unabweisbaren Fragen verführt, ist die Metaphysik der gescheiterte Versuch der Vernunft, über das letzte Sein, über Gott, Seele und Welt definitive theoretische Aussagen zu machen. Als Wissenschaft und „sicherer Gang der Erkenntnis“ kann an der Metaphysik mit anderen Worten gerade soviel gelten, wie Kritik ihrer selbst ist; diese Funktion übernimmt die Transzendentalphilosophie, die nach der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis fragt. Doch betrachtet Kant die metaphysischen Fragen als solche, die die Vernunft niemals wird abweisen können. Kant weiß, dass die Vernunft geradezu unvermeidlich dazu strebt, Begriffe und Urteile auch über die von ihm

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Darstellung der Wissenschaften aus: M. Heidelberger/S. Thiessen, Natur und Erfahrung, Reinbek 1981, 195. Darstellung der Wissenschaften mit der Metaphysik bzw. Theologie an der Spitze (Gregor Reisch, Margarita philosophica, Straßburg 1512). Die Grammatik führt einen Schüler, dem sie ein Schild mit dem Alphabet vorhält, zum Turm der Wissenschaften, auf dessen Spitze die „Theologie der Metaphysik“ thront. Unter ihr befinden sich Moral- und Naturphilosophie, weiter darunter die anderen Wissenschaften. Hieraus ergibt sich eine lange geltende Hierarchie der Wissenschaften, in der der Metaphysik der höchste Platz zukam. Das bedeutet zugleich: Zwischen der Metaphysik und den Wissenschaften gibt es lange Zeit keine Trennung. Der heilige Thomas von Aquin hätte sich in dieser Darstellung wiederfinden können. Auch für ihn ist die Theologie die höchste Wissenschaft. Dies gilt aus zwei Gründen: Sie beschäftigt sich mit dem höchsten Gegenstand, nämlich Gott, und mit dem wichtigsten Ziel überhaupt, nämlich mit dem Seelenheil. Zugleich wird das aristotelische Weltwissen in dieses System integriert. Dies wird mit dem Aufkommen der nichtaristotelischen Wissenschaft des Galilei große Probleme hervorrufen.

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gesetzten Erfahrungsgrenzen hinaus anwenden zu wollen auf den Bereich des Transzendenten (über die empirisch überprüfbare Erfahrung Hinausgehenden). Dies war ja der Tummelplatz der Metaphysik gewesen. Kant weist aber diese Fragen, über die sich wissenschaftlich nichts sagen lässt, nicht – wie andere Metaphysikkritiker – höhnisch ab. Vielmehr gibt er sich viel Mühe, für die transzendente Rede Aussageformen zu finden, die ihrem komplizierten unmöglichunabweisbaren Doppelcharakter Rechnung tragen. So folgert er nicht das Ende der Rede von Gott, sondern er schlägt deren Veränderung vor. Die Metaphysik wird erkenntnistheoretisch-kritisch gewendet und dadurch von theoretischen Erkenntnisansprüchen auf praktische Orientierungserfordernisse umgelenkt. Kritik der reinen Vernunft (Vorrede; Transzendentale Dialektik) Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft. In diese Verlegenheit gerät sie ohne ihre Schuld. Sie fängt von Grundsätzen an, deren Gebrauch im Laufe der Erfahrung unvermeidlich und zugleich durch diese hinreichend bewährt ist. Mit diesen steigt sie (wie es auch ihre Natur mit sich bringt) immer höher, zu entfernteren Bedingungen. Da sie aber gewahr wird, dass auf diese Art ihr Geschäft jederzeit unvollendet bleiben müsse, weil die Fragen niemals aufhören, so sieht sie sich genötigt, zu Grundsätzen ihre Zuflucht zu nehmen, die allen möglichen Erfahrungsgebrauch überschreiten und gleichwohl so unverdächtig scheinen, dass auch die gemeine Menschenvernunft damit im Einverständnisse steht. Dadurch aber stürzt sie sich in Dunkelheit und Widersprüche, aus welchen sie zwar abnehmen kann, dass irgendwo verborgene Irrtümer zum Grunde liegen müssen, die sie aber nicht entdecken kann, weil die Grundsätze, deren sie sich bedient, da sie über die Grenze aller Erfahrung hinausgehen, keinen Probierstein der Erfahrung mehr anerkennen. Der Kampfplatz dieser endlosen Streitigkeiten heißt nun Metaphysik. Es war eine Zeit, in welcher sie die Königin aller Wissenschaft genannt wurde und, wenn man den Willen für die Tat nimmt, so verdiente sie, wegen der vorzüglichen Wichtigkeit ihres Gegenstandes, allerdings diesen Ehrennamen. Jetzt bringt es der Modeton des Zeitalters so mit sich, ihr alle Verachtung zu beweisen […] Indessen ist diese Gleichgültigkeit […] doch ein Phänomen, das Aufmerksamkeit und Nachsinnen verdient. Sie ist offenbar die Wirkung nicht des Leichtsinns, sondern der gereiften Urteilskraft des Zeitalters, welches sich nicht länger durch Scheinwissen hinhalten lässt und eine Aufforde-

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rung an die Vernunft, das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis aufs Neue zu übernehmen und einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen aber alle grundlosen Anmaßungen, nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen, abfertigen könne, und dieser ist kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft selbst. Ich verstehe aber hierunter nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie unabhängig von aller Erfahrung, streben mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt. […] Ich kann also Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zum Behuf des notwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft nicht einmal annehmen, wenn ich nicht der spekulativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung überschwänglicher Einsichten benehme, weil sie sich, um zu diesen zu gelangen, solcher Grundsätze bedienen muss, die, indem sie in der Tat bloß auf Gegenstände möglicher Erfahrung reichen, wenn sie gleichwohl auf das angewandt werden, was nicht ein Gegenstand der Erfahrung sein kann, wirklich dieses jederzeit in Erscheinung verwandeln, und so alle praktische Erweiterung der reinen Vernunft für unmöglich erklären. Ich muss also das Wissen aufheben, um für den Glauben Platz zu bekommen. […] Eben daher sind wir auch berechtigt, die Weltursache in der Idee nicht allein nach einem subtileren Anthropomorphism (ohne welchen sich gar nichts von ihm denken lassen würde), nämlich als ein Wesen, das Verstand, Wohlgefallen und Missfallen, imgleichen eine demselben gemäße Begierde und Willen hat etc., zu denken, sondern demselben unendliche Vollkommenheit beizulegen, die also diejenige weit übersteigt, dazu wir durch empirische Erkenntnis der Weltordnung berechtigt sein können. Denn das regulative Gesetz der systematischen Einheit will, dass wir die Natur so studieren sollen, als ob allenthalben ins Unendliche systematische und zweckmäßige Einheit, bei der größtmöglichen Mannigfaltigkeit, angetroffen würde. Denn, wiewohl wir nur wenig von dieser Weltvollkommenheit ausspähen, oder erreichen werden, so gehört es doch zur Gesetzgebung unserer Vernunft, sie allerwärts zu suchen und zu vermuten, und es muss uns jederzeit vorteilhaft sein, niemals aber kann es nachteilig werden, nach diesem Prinzip die Naturbetrachtung anzustellen. Es ist aber, unter dieser Vorstellung, der zum Grunde gelegten Idee eines höchsten Urhebers, auch klar: dass ich nicht das Dasein und die Kenntnis eines solchen Wesens, sondern nur die Idee desselben zum Grunde lege, und also eigentlich nichts von diesem Wesen, sondern bloß von der Idee desselben,

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d. i. von der Natur der Dinge der Welt, nach einer solchen Idee, ableite. Auch scheint ein gewisses, obzwar unentwickeltes Bewusstsein, des echten Gebrauchs diesen unseres Vernunftbegriffs, die bescheidene und billige Sprache der Philosophen aller Zeiten veranlasst zu haben, da sie von der Weisheit und Vorsorge der Natur, und der göttlichen Weisheit, als gleichbedeutenden Ausdrücken reden, ja den ersteren Ausdruck, so lange es um bloß spekulative Vernunft zu tun ist, vorziehen, weil er die Anmaßung einer größeren Behauptung, als die ist, wozu wir befugt sind, zurück hält, und zugleich die Vernunft auf ihr eigentümliches Feld, die Natur, zurück weiset. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft A VII–VIII; A XI–XII, B XXIX f., B 729. Kants Gesammelte Schriften hrsg. Von der Kgl. Preuß. Akad. der Wissenschaften Bd. IV, Berlin, Verlag von Georg Reimer 1911, 7 f., S. 8 f.; Bd. III, S. 19 f., 459 f.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), der zuletzt Professor in Berlin war, erhebt für seine Philosophie Ansprüche, die noch einmal Kants Begrenzungen aufzuheben suchen. Dies zeigt zunächst der Auszug aus seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte“, der eine „Vernunft“ ins Spiel bringt, deren Bestimmungen zeigen, dass hier nicht die Vernunft eines einzelnen Menschen gemeint sein kann, sondern eine letztlich göttliche Instanz. Auch der zweite kurze Textauszug aus den „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“ lässt erkennen, wie stark Hegel sich bei der Entwicklung seiner Metaphysik von deren religiöser Tradition und ihren Denkfiguren inspirieren lässt (ohne dass diese Konstruktion des Göttlichen bei Theologen uneingeschränkte Freude ausgelöst hätte). Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte Der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt, ist aber der einfache Gedanke der Vernunft, dass die Vernunft die Welt beherrsche, dass es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei […] Durch die spekulative Erkenntnis in ihr wird es erwiesen, dass die Vernunft, – bei diesem Ausdrucke können wir hier stehen bleiben, ohne die Beziehung und das Verhältnis zu Gott näher zu erörtern, – die Substanz wie die unendliche Macht, sich selbst der unendliche Stoff alles natürlichen und geistigen Lebens, wie die unendliche Form, die Betätigung dieses ihres Inhalts ist. Die Substanz ist sie, nämlich das, wodurch und worin alle Wirklichkeit ihr Sein und Bestehen hat – die unendliche Macht, indem die Vernunft nicht so ohnmächtig ist, es nur bis zum Ideal, bis zum Sollen zu bringen und

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nur außerhalb der Wirklichkeit, wer weiß wo, als etwas Besonderes in den Köpfen einiger Menschen vorhanden zu sein; der unendliche Inhalt, alle Wesenheit und Wahrheit, und ihr selbst ihr Stoff, den sie ihrer Tätigkeit zu verarbeiten gibt […] Dass nun solche Idee das Wahre, das Ewige, das schlechthin Mächtige ist, dass sie sich in der Welt offenbart und nichts in ihr sich offenbart als sie, ihre Herrlichkeit und Ehre, dies ist es, was, wie gesagt, in der Philosophie bewiesen […] wird. […] In der christlichen Religion hat Gott sich offenbart, das heißt, er hat dem Menschen zu erkennen gegeben, was er ist, so dass er nicht mehr ein Verschlossenes, Geheimes ist; es ist uns mit dieser Möglichkeit, Gott zu erkennen, die Pflicht dazu auferlegt. Gott will nicht engherzige Gemüter und leere Köpfe zu seinen Kindern, sondern solche, deren Geist von sich selbst arm, aber reich an Erkenntnis seiner ist, und die in diese Erkenntnis Gottes allein allen Wert setzen. Die Entwicklung des denkenden Geistes, welche aus dieser Grundlage der Offenbarung des göttlichen Wesens ausgegangen ist, muss dazu endlich gedeihen, das, was dem fühlenden und vorstellenden Geiste zunächst vorgelegt worden, auch mit dem Gedanken zu erfassen; es muss endlich an der Zeit sein, auch diese reiche Produktion der schöpferischen Vernunft zu begreifen, welche die Weltgeschichte ist. Vorlesungen über die Philosophie der Religion Die absolute, ewige Idee ist I. an und für sich Gott in seiner Ewigkeit, vor Erschaffung der Welt, außerhalb der Welt; II. Erschaffung der Welt. Dieses Erschaffene, dieses Anderssein spaltet sich an ihm selbst in diese zwei Seiten: die physische Natur und den endlichen Geist. Dieses so Geschaffene ist so ein Anderes, zunächst gesetzt außer Gott. Gott ist aber wesentlich, dies Fremde, dies Besondere, von ihm getrennt Gesetzte sich zu versöhnen (und), so wie die Idee sich dirimiert [zweigeteilt] hat, abgefallen ist von sich selbst, diesen Abfall zu seiner Wahrheit zurückzubringen. III. Das ist der Weg, der Prozess der Versöhnung, wodurch der Geist (das), was er von sich unterschieden (hat) in seiner Diremtion [Zweiteilung], seinem Urteil, mit sich geeinigt hat und so der heilige Geist ist, der Geist in seiner Gemeinde. Das sind also nicht Unterschiede nach äußerlicher Weise, die wir machen, sondern das Tun, die entwickelte Lebendigkeit des absoluten Geistes selbst; das ist selbst (s)ein ewiges Leben, das eine Entwicklung und Zurückführung dieser Entwicklung in sich selbst ist. Die nähere Explikation dieser Idee ist nun, dass der allgemeine Geist das

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Ganze, was er ist, sich selbst in seine drei Bestimmungen setzt, sich entwickelt, realisiert, und dass erst am Ende vollendet ist, was zugleich seine Voraussetzung ist. […] So betrachtet im Element des Gedankens ist Gott sozusagen vor oder außer Erschaffung der Welt. Insofern er so in sich ist, ist dies die ewige Idee, die noch nicht in ihrer Realität gesetzt ist, selbst noch nur die abstrakte Idee. Gott in seiner ewigen Idee ist so noch im abstrakten Element des Denkens, nicht des Begreifens. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. G. W. F. Hegels Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, 2. Aufl. Berlin 1840, 9. Band, 21, 13. – Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hier nach: G. W. F. Hegels Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, 2. Aufl. Berlin 1840, 12. Band, 218 f., 223.

Arbeitsanregungen 1. Fertigen Sie für sich eine Skizze der Platonischen Höhle an. Erklären Sie das Gleichnis mit Blick auf die Ideenlehre! 2. Versuchen Sie, die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede in den metaphysischen Positionen von Thomas von Aquin und Hegel zu bestimmen. 3. Listen Sie die Hegel’schen Vernunftbestimmungen im ersten der beiden Textteile mit Gedankenstrichen auf. Welche der ins Spiel gebrachten Denkfiguren sind christlich, wo liegen Unterschiede zum christlichen Gottesverständnis? 4. Formulieren Sie Kants Position zur Metaphysik! Belegen Sie ihre Aussagen mit Passagen aus den Textauszügen. 5. Wie stehen Sie zum Erkenntnisinteresse und zum Erkenntnisanspruch der Metaphysik? Literatur J. Disse, Kleine Geschichte der abendländischen Metaphysik. Von Platon bis Hegel, Darmstadt (WBG) 3. Aufl. 2007 (Sehr empfehlenswerte, hervorragend lesbare und klare Darstellung). H. Heimsoeth, Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik, 5. Aufl. Darmstadt 1965 („klassische“ Darstellung; die „sechs Themen“ sind: Gott und die Welt, Unendlichkeit im Endlichen, Seele und Außenwelt, Sein und Lebendigkeit, das Individuum, Verstand und Wille).

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O. Höffe (Hrsg.), Platon, Politeia (Reihe „Klassiker Auslegen“), Berlin (AkademieVerlag) 1997, Taschenbuchausgabe 2005 (ein „kooperativer Kommentar“ aus der Feder mehrerer namhafter Fachgelehrter zu diesem „welthistorischen Text“. Vgl. in diesem Band etwa die Beiträge von Hans Krämer: Die Idee des Guten. Sonnen- und Liniengleichnis 179 – 203 und von Thomas A. Slezak zum Höhlengleichnis 205 – 228 sowie Höffe abschließend zur Wirkungsgeschichte der „Politeia“). W. Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart-Weimar 2003, Sonderausgabe 2010 (empfehlenswerte Gesamtdarstellung zu diesen für das Kapitelthema einschlägigen Philosophien). W. Oelmüller – R. Dölle-Oelmüller – C.-F. Geyer, Diskurs Metaphysik. UTB: Paderborn usw. 1995 (didaktisch aufbereitete Textsammlung). H. Schnädelbach, Hegel zur Einführung Hamburg 3. Aufl. 2007 (Kritik an Hegel).

4 Am Anfang war das Wort – Sprachphilosophie

„Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.“ Joh 1,1

Am Anfang Sprachphilosophie war das Wort

Einen grandiosen Text zur Sprache, der zugleich selbst in einem eminenten Sinne sprachlich geformt ist – meditativ und in kreisender Bewegung – stellt der Beginn des Johannesevangeliums dar, das um 100 n. Chr. entstanden ist. Sein Verfasser wählt als Anfang einen Hymnus, der sich hellenistischer „Logospekulation“ zuordnet. Dieser Hymnus verbindet Worte von großer Sprachpräsenz in sich. Das Lied hatte auf der vorchristlichen Stufe „zwei Aussagezentren: die Schöpfungsmittlerschaft und die beständige Heilsmittlerschaft des Logos in der Schöpfung. Die christliche Rezeption […] machte den Inkarnierten [Jesus Christus] zur eigentlichen und endgültigen Offenbarung“.1 Wird im Prolog des Johannesevangeliums der göttliche Logos gefeiert, so wird damit also ein Wort aufgegriffen, das auch für die Philosophie grundlegende Bedeutung hat. Im Griechischen bedeutet „Logos“: „Wort“, „Begriff“, „Argument“, „Beweis“, „Gedanke“, „Rede“, „Vernunft“, „Weltvernunft“. Mit der argumentativen, auf Gründe gestützten Rede (lógon didónai) beginnt jener lange Prozess der ihrer selbst bewussten kulturellen Arbeit von Philosophie und Wissenschaft, in dem menschliche Freiheit und Selbstbestimmung begründet sind.2 Logos, Sprache ist ein grundlegendes Ausdrucksmittel des Menschen. In vielen Alltags- und Lebenssituationen erweist die Sprache sich – wie uns gerade deswegen meist gar nicht auffällt – als ein äußerst funktionsfähiges und höchst differenziertes Medium, so dass ein Nachdenken über die Sprache selbst zurücktritt hinter die vielfältigen Lebenszusammenhänge und Inhalte, in denen und um derentwillen sie gebraucht wird. Dass die Sprache für die Philosophie besonders wichtig ist, wird metaphorisch deutlich im berühmten Bild von der Sprache als dem „Haus des Seins“ (Heidegger). In der philosophischen Tradition wie in einer gegenwärtigen Reflexion zum Thema „Sprache“ lassen sich zu ihrem Verständnis verschiedene Fragen stellen und (auch mit Hilfe der angegebenen Literatur) diskutieren. So kann man nach der Sprache als Medium des Philosophierens selbst fragen. Das Spektrum reicht hier von Platons Dialogen (als Formen des argumentativen

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Am Anfang war das Wort

Kampfes um die Wahrheit) bis zur Sprache als normativ in Anspruch genommener, besonderer Form des Philosophierens im Rahmen der zeitgenössischen „Diskurstheorien“, vor allem bei Jürgen Habermas. Man kann weiter fragen nach der Möglichkeit gelingender Kommunikation angesichts der Sprachenvielfalt und ihrer historischen Wandelbarkeit, nach dem Verhältnis von Sprache und erkennender Vernunft und nach ihrer gemeinschaftsstiftenden bzw. politischen Leistung. Auch wird gefragt, ob nicht „andere“ Redeweisen im Sinne einer „Theorie der Unbegrifflichkeit“ als Korrektiv zur Rationalität des Begriffs denkbar und erforderlich wären. So finden „Mythos“ und „Metapher“ (Hans Blumenberg, 1920–1996) ein erneutes Interesse. Eine für die Philosophie besonders spannende Frage ist natürlich die nach einem sprachlich-begrifflich „richtigen“ Philosophieren. Besonders im 20. Jahrhundert hat man mit der Sprache in dieser Hinsicht große Hoffnungen verbunden. Nach der antiken und christlichen Metaphysik, nach der klassischen Bewusstseinsphilosophie und nach dem Materialismus naturwissenschaftlicher wie dialektischer Variante steht die Sprachreflexion im Zuge des sogenannten „linguistic turn“ des 20. Jahrhunderts im Zentrum des Denkens einer ganzen geistesgeschichtlichen Epoche. Vor allem die (Sprach-)Analytische Philosophie entwickelt ihre Vorstellung von einer Konstruktion idealer Sprachen bzw. einer therapeutischen Analyse von Normalsprachen. Auf einmal schien es möglich, mittels einer von allen hergebrachten Ungenauigkeiten und alltagsweltlichen Missverständnissen befreiten, streng logisch konstruierten neuen, idealen Sprache die bisher verschleppten philosophischen Probleme nunmehr einer Lösung zuführen zu können, indem manches bislang hin und her gewälzte Problem sich auf Sprachmissverständnisse zurückführen lassen, ein schrittweise konstruiertes Gedankengebäude sich errichten oder sogar eine Ethik sich begründen lassen sollte. Viel von dieser Methodizität steckt in der Logik, also der Lehre von den Schlüssen, die mit dieser Phase der Sprachphilosophie nicht unverwandt einhergeht und über die Goethe im „Faust“ teuflisch spotten lässt: „Mein teurer Freund, ich rat Euch drum Zuerst Collegium Logicum. Da wird der Geist Euch wohl dressiert, In spanische Stiefeln eingeschnürt, Dass er bedächtiger so fortan Hinschleiche die Gedankenbahn, Und nicht etwa, die Kreuz und Quer, Irrlichteliere hin und her. Dann lehret man Euch manchen Tag, Dass, was Ihr sonst auf einen Schlag

Sprachphilosophie

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Getrieben, wie Essen und Trinken frei, Eins! Zwei! Drei! dazu nötig sei. Zwar ist’s mit der Gedankenfabrik Wie mit einem Weber-Meisterstück, Wo ein Tritt tausend Fäden regt, Die Schifflein herüber hinüber schießen, Die Fäden ungesehen fließen, Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt. Der Philosoph, der tritt herein Und beweist Euch, es müsst so sein: Das Erst wär so, das Zweite so, Und drum das Dritt und Vierte so; Und wenn das Erst und Zweit nicht wär, Das Dritt und Viert wär nimmermehr. Das preisen die Schüler allerorten, Sind aber keine Weber geworden. Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben, Sucht erst den Geist heraus zu treiben, Dann hat er die Teile in seiner Hand, Fehlt, leider! nur das geistige Band.“

Möglicherweise behält diese Skepsis Recht: Nach den hochgespannten Erwartungen an die Sprachphilosophie wird gegenwärtig die Frage wieder weitaus skeptischer beurteilt, ob eine Sprachklärung wirklich als „Universalmethode“ gelten kann, festgefahrenen Debatten in Metaphysik, Ethik und Wissenschaftstheorie zu einer durchgreifenden Klärung zu verhelfen. Es gibt wohl doch nicht „die“, historisch nicht zu differenzierende Sprache – ebenso wenig wie „die“ Philosophie, die sich ihrer bedienen könnte. Wir philosophieren und argumentieren in Kontexten und aus ihnen heraus. Die Hoffnung auf eine problemlösende Kraft purer geschichtsfreier Sprachnormierung könnte sich nicht erfüllen. Zugleich gilt aber auch: Sprache ist und bleibt das Medium, mit dessen Hilfe wir mehr von der uns umgebenden Kultur verstehen und für uns als Individuen nutzbar machen können. Um unser unbewusstes Empfinden deutlicher fassen, Absichten und Schwierigkeiten begrifflich klarer und trennschärfer formulieren, vielleicht Probleme angemessener lösen zu können, bleiben klare Explizierung und Methodisierung wichtig. Dies gilt auch dann, wenn philosophische Probleme keine sprachlich-logischen Rechenexempel sind. Wir können sozusagen den „Raum“ vergrößern, in dem begriffliche und argumentative Klärungen eine gewisse strukturierende Kraft entfalten und unsere Gedankenmuster „rationalisieren“/„vernünftiger“ zu machen vermögen. Sprache ist damit ein eminenter Zivilisationsfaktor, wie schon der im Anschluss Zum Weiterdenken wiedergegebene Bibeltext deutlich macht. Während in der Natur-

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geschichte der Informationstransfer zwischen den Generationen weitestgehend genetisch erfolgt, ist er in der menschlich-geschichtlichen Welt sprachlich-symbolisch vermittelt. Jede Sprachreflexion muss darum dem Ziel verpflichtet sein, in Bildungsprozessen ebenso eine je individuelle Orientierung über Sprache zu ermöglichen wie grundsätzlich zum Sprachbewusstsein und zur Sprachkompetenz beizutragen. Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur Sprachreflexion in der Bibel Ein frühes Zeugnis bewusster Sprachreflexion ist die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel. In sprichwörtlich gewordener Anschaulichkeit deutet sie die Sprachvielfalt als Verlust der Einheit und Erschwernis der menschlichen Kommunikation und schildert diesen Verlust als Strafe für menschliche Hybris. Zum Weiterdenken

Der Turmbau zu Babel Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte. Als sie von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Land Schinar und siedelten sich dort an. Sie sagten zueinander: Auf, formen wir Lehmziegel und brennen wir sie zu Backsteinen. So dienten ihnen gebrannte Ziegel als Steine und Erdpech als Mörtel. Dann sagten sie: Auf, bauen wir uns eine Stadt bis zum Himmel und machen wir uns damit einen Namen, dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen. Da stieg der Herr herab, um sich Stadt und Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten. Er sprach: Seht nur, ein Volk sind sie und eine Sprache haben sie alle. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, was sie sich auch vornehmen. Auf, steigen wir hinab, und verwirren wir dort ihre Sprache, so dass keiner mehr die Sprache des anderen versteht. Der Herr zerstreute sie von dort aus über die ganze Erde, und sie hörten auf, an der Stadt zu bauen. Darum nannte man die Stadt Babel (Wirrsal), denn dort hat der Herr die Sprache aller Welt verwirrt, und von dort aus hat er die Menschen über die ganze Erde zerstreut. Gen 11,1– 9. Die Heilige Schrift. Einheitsübersetzung kommentiert. Kommentierung von Eleonore Beck, Stuttgart 1980.

Zum Weiterdenken

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Arbeitsanregungen 1. Welche Formulierungen im Bibel-Text demonstrieren die Macht der Sprache? 2. Worin wird im Bibel-Text der Zusammenhang von Sprache und Kultur, worin ein Zusammenhang von Sprache und Religion deutlich? 3. Macht der Sprache – Grenzen der Sprache. Lassen sich Beispiele in unserem Leben finden? 4. Welche Vorwürfe erhebt Mephisto in Goethes „Faust“ gegen die Logik? 5. Sprache der Poesie und Literatur – Sprache der Wissenschaft. Vergleichen Sie am Beispiel zweier für Sie greifbarer Texte die Wirkung einer poetischen, phantasievollen, kreativen Sprache (bildhafte Rede, Chiffren, Reim) mit typischen argumentativ-sachlichen Strukturen (Begriffsdefinitionen, logischen Schlüssen usw.). Welche Texte haben Sie (warum? was an ihnen?) eher beeindruckt? 6. Wie empfinden Sie die Sprache(n) der Philosophen?

Literatur T. Borsche (Hrsg.), Klassiker der Sprachphilosophie. Von Platon bis Noam Chomsky, München (Beck) 1996 (Darstellung wichtiger Sprachphilosophen von Platon bis Heidegger durch namhafte Autoren). A. Newen, Einführung in die Sprachphilosophie, Darmstadt 2008 (Darstellung aus der Sicht der Analytischen Philosophie). W. Oelmüller – R. Dölle-Oelmüller – V. Steenblock, Diskurs: Sprache. Paderborn usw. (UTB) 1991 (Einleitung und didaktisch begründete Textauswahl u. a. unter dem Aspekt „Sprache zwischen Wissenschaft und Mythos“).

5 Was können wir wissen? – Erkenntnistheorie

„Es ist eine Schande, dass Sie aufwachen müssen aus dieser sagenhaften Illusion!“ Woody Allen, The Curse of the Jade Scorpion „Was ist Wahrheit?“ Pontius Pilatus

Erkenntnistheorie

Wir sind im Leben und im Alltag zumeist vollauf damit beschäftigt, mit unserer Welt zurechtzukommen. Woher unsere Erkenntnisse stammen und ob diese Welt wirklich so ist, wie wir sie wahrnehmen, kümmert uns deshalb mit einigem Recht zunächst nicht besonders. Die philosophische Tradition dagegen fragt prinzipiell. Sie will prüfen, ob wir überhaupt eine richtige Vorstellung von der Welt haben. Was eigentlich Erkenntnis sei, wie sie zustande kommt und wo ihre Grenzen liegen: das ist ein Grundthema der Philosophie von Anfang an. Als eigenständige Disziplin tritt die Erkenntnisphilosophie allerdings erst spät in Erscheinung. Der Begriff „Erkenntnistheorie“ entstammt dem 19. Jahrhundert. Eine Erkenntnis, die diesen Namen verdient, soll „wahr“ bzw. „zutreffend“ sein: eng mit der Erkenntnistheorie verbunden ist darum auch die Frage, in welchem Sinne wir von „Wahrheit“ reden können. „Was ist Wahrheit?“ Diese Frage nach wahrer Einsicht kann der Intensität nach entweder ein Ringen darstellen oder sie kann, wie es vielleicht der Römer Pilatus tat, im Sinne eines Stoßseufzers als unlösbar oder, mit einem überlegenspätkulturell-relativistischen Gestus (vielleicht auch zynisch), als irrelevant abgewiesen werden: „Was ist (schon) Wahrheit?“ Erkenntnis kann methodischdiskursiv [einen Zusammenhang durchlaufend] gewonnen sein und mit guten Gründen argumentativ etwas plausibel machen wollen oder sie wird gedacht als totalisierende, intuitive Schau, als plötzliche, schlechthinnige Erleuchtung. Erkenntnis kann schließlich in ihrer Geltungshinsicht als historisch rückgebunden gedacht werden; dem gegenüber steht eine scharfe Trennung von „wahrer, zeitlos gültiger Einsicht“ gegenüber „bloßem Meinen“ oder die neuere Forderung nach unüberholbarer „Letztbegründung“ in der Erkenntnistheorie, aber auch in Wissenschaft und Ethik. 5.1 Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde Die „wahre Welt“ als Fabel

Eine philosophische Erkenntnisreflexion setzt in der Geschichte zunächst bei solchen Theorien an, die den Erlaubnisrahmen für die klassische Metaphysik

Die „wahre Welt“ als Fabel

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(Platon, Aristoteles) absteckten, indem sie Erkenntnis als Annäherung an eine „vorhandene“ Seinsordnung auffassen wollten. Erkenntnisdefinitionen, die vom Ziel einer letztlichen Übereinstimmung von Aussagesystemen und Sätzen mit den „Tatsachen“ einer „realen Welt“ ausgehen, werden als „Korrespondenztheorien“ bezeichnet, weil ein sinnvoll angebbares Verhältnis zwischen Erkenntnissubjekt und so verstandenem Erkenntnisobjekt behauptet wird, etwa bei einem der zentralen Denker des Mittelalters, bei Thomas von Aquin. In der Neuzeit ergibt sich als eine wichtige Frage der Erkenntnistheorie das Problem: Wie gelangen wir an diese Erkenntnisse? Eine rationalistische, auf die Kräfte des Verstandes bauende Antwort auf diese Frage und damit eine entsprechende Auffassungsweise der Erkenntnis in einem für die Philosophie der Neuzeit grundlegenden Ansatz unternahm auf dem Kontinent René Descartes (1596–1660). Seine Antwort: Der Verstand ist letztlich der Garant unseres Erkennens. In England dagegen orientierte die Erkenntnistheorie sich an der Erfahrung [Empirie] als Grundlage des Wissens. Aus der englischen Neigung zu einer hohen Bewertung der Erfahrung hat man geradezu einen philosophischen Nationalcharakter gemacht. Dies trifft besonders auf John Locke (1632–1704) zu, einen der wichtigsten Philosophen des Empirismus, also einer erfahrungsorientierten Erkenntnislehre. Lockes Antwort auf unser Problem also: Erkenntnisse stammen aus der Erfahrung. Die Erkenntnisphilosophie Immanuel Kants erhebt im 18. Jahrhundert in radikaler Weise Einspruch gegen beide Deutungen. Ihm zufolge können wir von einer „wirklichen Welt“ nichts wissen, weil unser Erkenntnisapparat mit seinen Auffassungsrastern die uns erscheinende Welt als Erkenntnisgegenstand inklusive aller Gesetzmäßigkeiten allererst gestaltet. Kants „Revolution der Denkungsart“ besagt, dass unser Wissen vom erkennenden Subjekt „konstituiert“, das ist: mit „hervorgebracht“ wird. Es gibt unveränderliche Erkenntnisstrukturen in jedem von uns. Diese sind nicht gemeint als „angeborene“ Charakterzüge im Sinne psychologischer oder biologischer Erforschbarkeit (auch solche Theorien der Welt als Konstruktion gibt es). Alle Erkenntnisgegenstände können uns nach Kant vielmehr nur in einer durch die Formen der Anschauung: Raum und Zeit und durch die Kategorien des Verstandes, z. B. Kausalität, geprägten Art begegnen. Diese Erkenntnisbedingungen sind mit uns als denkenden Wesen immer schon, in immer gleicher Weise und grundsätzlich unüberschreitbar verbunden. Kants nach der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis fragende Lehre wird auch als Transzendentalphilosophie bezeichnet. Sie vollzieht gegenüber der Vorstellung einer „Annäherung an die Realität“ einen grundsätzlichen Einschnitt (und wurde ja, wie wir gesehen haben, der traditionellen Metaphysik zum Verhängnis). Aber der Gang der Erkenntnisreflexion weist auch noch über Kant, den großen Philosophen des 18. Jahrhunderts, hinaus. Im Zuge der Geistes-

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geschichte des 19. Jahrhunderts tritt als einer der innovativsten Denker dieser Zeit Friedrich Nietzsche (1844–1900) mit einer These auf, die Kants Philosophie noch einmal in radikaler Weise überbieten will. Nietzsche stimmt zwar mit Kant darin überein, dass die „Wahrheit“, philosophisch betrachtet, keine fixe, eine metaphysische Grundstruktur abbildende Größe mehr sein kann. Aber auch den „bleichen“ und „königsbergischen“ Ansatz möchte Nietzsche noch überholen. Wenn Nietzsche in seinem frühen Aufsatz über „Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ vom Trieb des Menschen zur Metaphernbildung spricht, gewinnt die Wahrheitsfrage den Charakter einer „Herstellung“ und alles Denken und Erkennen erscheint als eine Form von Bemächtigung der Welt. Das Erkennen, so wird nun deutlich, unterliegt meinen Fragen, es wird menschlich und kann als etwas begriffen werden, das in meinem Horizont entsteht. „Wahrheit“ ist nicht mehr Repräsentanz des sozusagen „aus sich selbst heraus Seienden“, auch nicht das von einem unveränderlichen Erkenntnisapparat Konstituierte (wie bei Kant), sondern etwas im Leben Erarbeitetes. Als Maßstab für die „Wahrheit“ freilich – dieser Einwand liegt nahe – bleibt dann allein das Leben selbst. Mit weitaus weniger spektakulärem Auftreten als bei Nietzsche, aber wohl ähnlich nachhaltig wird im 19. Jahrhundert die Erkenntnisauffassung weiter historisiert, d. h. wesentlich unter Einbezug der Geschichte diskutiert. Diese Historisierung vollzog im 19. Jahrhundert vor allem der deutsche Philosoph Wilhelm Dilthey. „Erkenntnis“ und „Wahrheit“ erscheinen nun nur noch diskutierbar, wenn man zugleich die historischen und kulturellen Kontexte, für die sie gelten sollen, mit berücksichtigt. Wieder besteht eine Übereinstimmung mit Kant in der Grundhaltung, eine Hervorbringung der Erkenntnis anzunehmen. Aber diesmal ist es keine überhistorische Erkenntnisstruktur, die als erkenntniskonstituierende Instanz namhaft gemacht wird, sondern es sind die wechselnden Bedingungen und Konstellationen der Geschichte, die unser Erkennen mit bestimmen. Eine einfache „Wahrheit für alle Zeiten“ scheint nun endgültig nicht mehr zu unterstellen. Sie erweist sich als eine über zweitausendjährige Fiktion. Für Kritiker des Historismus führt eine solche Auffassung freilich zu Relativismus und Beliebigkeit. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Historisierung noch einmal mit den Mitteln neuerer wissenschaftlicher Errungenschaften (vor allem der Systemtheorie und der Anwendung der aus dem 19. Jahrhundert stammenden Evolutionstheorie auf das Erkenntnisvermögen) reformuliert. Diltheys tendenzielle Aufhebung der transzendentalphilosophischen Denkfigur kann nämlich als Vorläufer jener Entwicklung in der Erkenntnistheorie gelten, wie sie heute Evolutions-Theorien vollziehen, die im Grenzbereich von Erkenntnistheorie und verschiedenen Fachwissenschaften Furore machen.

Illusion und Wirklichkeit

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Diese gehen davon aus, dass unsere kognitiven Standards Resultat biologischer Entwicklung sind. Die „Evolutionäre Erkenntnistheorie“ geht auf den Verhaltensforscher Konrad Lorenz zurück, der bereits 1941 die menschliche Vernunft als etwas „in dauernder Wechselwirkung mit den Gesetzen der Natur Entstandenes“ ansah.1 Lorenz folgend war es dann vor allem der Philosoph Gerhard Vollmer (geb. 1943), der mit Hilfe der Evolutionstheorie dem transzendentalphilosophischen Anspruch auf Etablierung naturgeschichtsfreier Erkenntnisbedingungen widersprach. Kant hatte von der Logik seines Ansatzes her den erkennenden Verstand allen empirisch bestimmbaren Bedingtheiten entzogen. Dem folgen transzendentalphilosophische Erkenntnistheoretiker bis heute, denen zufolge es notwendig ist, alle „Wirklichkeit“ in einer bestimmten Weise konstituiert zu denken und die im Prinzip bestreiten, dass man diese konstituierende Ebene „ausweiten“, d. h. an das Feld der Kulturgeschichte – so wollte es ja der Historismus – oder auch an die Naturgeschichte freigeben dürfe. Deshalb ist für sie eine „Aushebelung“ der erkennenden Vernunft mit den Inhalten, die sie selbst hervorgebracht hat – also z. B. den Ergebnissen der historischen und biologischen Wissenschaften – undenkbar. Vollmer möchte nun genau dies tun und darüber hinaus auch noch in einer nach Kant gleichfalls völlig unmöglichen Art und Weise auch wieder von „der realen Welt“ sprechen: „Unser Erkenntnisapparat ist ein Ergebnis der Evolution. Die subjektiven Erkenntnisstrukturen passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in Anpassung an diese reale Welt herausgebildet haben. Und sie stimmen mit den realen Strukturen (teilweise) überein, weil nur eine solche Übereinstimmung das Überleben ermöglichte.“ Die implizierte Rede von einer „realen Welt“ untermauert Vollmer mit einem anschaulichen Beispiel: „Der Affe, der keine realistische Wahrnehmung von dem Ast hatte, nach dem er sprang, war bald ein toter Affe – und gehört daher nicht zu unseren Urahnen.“2 Mit all diesen Entwicklungen ist die „wahre Welt“ vielleicht nicht ganz zur „Fabel“ geworden, doch zeigt sich, wie kontrovers die Probleme der Erkenntnis- und Wahrheitstheorie bis heute diskutiert werden. Wie wichtig freilich – trotz aller Komplexität – das Ringen um gültiges Wissen für uns ist, zeigt eine Gegenprobe …

5.2 Besser eine schöne Illusion als eine schlechte Wirklichkeit? Illusion und Wirklichkeit

Mit einigem guten Willen lassen sich philosophisch interessante Fragen selbst in Hollywood-Produktionen finden. In Filmen wie „Truman Show“ und „Matrix“ geht es darum, ob eine schöne Illusion nicht erstrebenswerter ist als eine gefährliche und deprimierende Wirklichkeit.

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Erkenntnistheorie

In „Matrix“ hält eine in einem finalen zukünftigen Krieg siegreiche Roboterrasse die Menschen als eine Art bioelektrischer Energiequelle in riesigen Batterie-Anlagen fest. Die gesamte Welt inklusive aller Lebenserfahrungen wird ihnen nur vorgespielt. Nur eine kleine Gruppe von Rebellen vermag sich, von Robot-Agenten gejagt, aus der Illusionswelt zu befreien. Es findet sich aber unter ihnen ein Verräter, der gegen ein illusionäres, aber perfektes Leben „in Saus und Braus“ bereit ist, die letzten freien Menschen an die Sklaverei auszuliefern. Sein Argument: „Besser eine schöne Illusion als eine schlechte Wirklichkeit“. Die „Truman-Show“ ist eine „Reality-TV“-Serie der Zukunft, die der unterhaltungsfreudigen Öffentlichkeit einer „wahren Welt“ das Leben eines Protagonisten präsentiert, der selbst nicht weiß, dass sein gesamtes Dasein eine inszenierte Fernsehshow ist. Was Truman auch immer tut, die Kameras sind dabei, die Einschaltquoten stimmen. Alle Bezugspersonen von den Eltern bis zur Lebensgefährtin sind von Schauspielern dargestellt. Der Horizont des Kulissenstädtchens, in dem er lebt, ist eine hellblau angemalte Betonwand, die zur Nacht verdunkelt werden kann. Die Liebe zu einer Darstellerin, die ihn über den Betrug aufklären will, führt ihn über eine dramatische Schiffsfahrt schließlich an die „Horizont“-Betonwand. Der allmächtige Produzent der Show, der sich ihm als „Schöpfer“ vorstellt, will ihn vom Überschreiten der Grenze in die Wirklichkeit abhalten. Er sagt: „Da draußen findest du nicht mehr Wahrheit als in der Welt, die ich für dich geschaffen habe. Dieselben Lügen, derselbe Betrug.“ Hat „Gott-Produzent“ nicht Recht? Der Mensch scheint ein nach Wahrheit strebendes Lebewesen zu sein. Diesen Eindruck legen jedenfalls Diskussionen über die genannten Filme nahe, in denen sich kaum ein Verteidiger der Illusionen fand. Und wenn wir noch so sicher sein könnten, dass eine uns angebotene Illusion vollendet unmerklich und unübertrefflich schön wäre – wir schrecken vor dem Gedanken zurück, sie zu ergreifen. Zwar lieben wir die Illusionen des Romans, des Theaters und des Films, mit denen wir uns selbst als Helden und unsere ansonsten weit eher banale Existenz in überhöhter Weise empfinden können. Aber wir lieben sie als Illusionen und damit als Entspannung von einer Wirklichkeit, als Entkommen aus einer Welt, die wir gleichwohl immer voraussetzen. Eine Illusion als Wirklichkeit wählen zu können, erscheint uns unmöglich, weil ihr gerade mit der Kategorie „Wirklichkeit“ eine offenbar gewünschte Qualität abgeht. Auch die Filme selbst bieten Auswege. In „Matrix“ erscheint eine messiasähnliche Rettergestalt, die mittels einer Art Kung-Fu (!) das Illusionsregime durchbricht. In der „Truman-Show“ applaudiert am Ende selbst das unterhaltungsversessene Publikum dem ungeplanten Höhepunkt der Show, in dem der Held die Tür zur gefährlichen, ihm unbekannten, aber eben „echten“ Welt hin durchschreitet. Nicht anders steckt in jenem berühmten Holz-

Zum Weiterdenken

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schnitt der neuzeitlich erkenntnisheischende Mensch seinen Kopf durch die mittelalterlich angenommenen weltbegrenzenden Sphären (siehe Seite 91). Wenn wir eine kleine Bilanz dieses zurückliegenden Blicks auf die Erkenntnistheorie ziehen sollten, so könnte sie lauten: So wenig wir, wenn wir über das Problem des Erkennens nachzudenken anfangen, mit einer „Wirklichkeit, so wie sie ist“ rechnen können, so sehr wir die Kulissen unserer Welt ganz offensichtlich immer mit selbst aufstellen: so sehr bleibt „Wirklichkeit“ uns ein Verlangen und ein Bemühen.

Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur Friedrich Nietzsche Friedrich Nietzsche (1844–1900), „Erdbeben“ und umstrittenstes philosophisches Ereignis des 19. Jahrhunderts, entstammte einem protestantischen Pfarrhaus in Röcken in Sachsen. Nietzsche war von 1869 bis 1879 Professor der Klassischen Philologie in Basel und lebte danach bis zum Ausbruch seiner Geisteskrankheit 1889 vor allem in Italien. Er starb im Jahre 1900 nach Jahren geistiger Umnachtung in Weimar. Der folgende Text gibt eine Kurzgeschichte des Erkenntnisproblems von der Auffassung der Erkenntnis in Korrespondenz zur klassischen Metaphysik über Kant bis zu Nietzsches radikalem Ansatz selbst. „Wahrheit“, so heißt es in Nietzsches Nachlass der 80er Jahre, „ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Wert für das Leben entscheidet zuletzt.“ Zum Weiterdenken

Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde – Geschichte eines Irrtums 1. Die wahre Welt, erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, – er lebt in ihr, er ist sie. (Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend. Umschreibung des Satzes „ich, Plato, bin die Wahrheit“.) 2. Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften („für den Sünder, der Buße tut“). (Fortschritt der Idee: sie wird feiner, verfänglicher, unfasslicher – sie wird Weib, sie wird christlich …) 3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ. (Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch.) 4. Die wahre Welt – unerreichbar? Jedenfalls unerreicht. Und als uner-

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Erkenntnistheorie

reicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpflichtend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichten? (Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Positivismus.) 5. Die „wahre Welt“ – eine Idee, die zu nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpflichtend – eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab! (Heller Tag; Frühstück; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit; Schamröte Platos; Teufelslärm aller freien Geister.) 6. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? Die scheinbare vielleicht? … Aber nein! Mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft! (Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrtums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA.) Friedrich Nietzsche, Götzendämmerung. Nietzsches Werke. Erste Abtlg. Band VIII. C. G. Naumann Verlag, Leipzig 1906, 82 f.

Arbeitsanregungen 1. Versuchen Sie, der Kurzgeschichte Nietzsches zur Erkenntnistheorie noch weitere Philosophen (neben dem ja ausdrücklich genannten Platon) zuzuordnen! 2. Nietzsche versus Platon – vergleichen sie die Auffassungen Nietzsches mit dem „Höhlengleichnis“! 3. Versuchen Sie, mit Blick auf die Verweise zu Tageszeit und Beleuchtung Nietzsches Haltung zur Entwicklung der Theorien um die „wahre Welt“ zu beschreiben! 4. In welcher Welt leben Sie?

Literatur H. M. Baumgartner, Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Anleitung zur Lektüre, Freiburg–München 6. Aufl. 2006. F. Kaulbach, „Erkenntnis, Erkenntnistheorie“. In: G. Krause – G. Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie Bd. 10, Berlin usw. 1982, 144 –159. H. Schnädelbach, Erkenntnistheorie zur Einführung, Hamburg 3. Aufl. 2008.

6 Wissenschaft und Technik prägen unser Leben

Wissenschaft und Technik

„Die Stellung, welche der Mensch gegenüber der Natur zuerst einnahm und im wilden Zustand noch einnimmt, ist bekanntlich sehr verschieden von der, welche Dichter und Philosophen sich einst träumten. An den lieblichen Bildern, in denen ihre Phantasie sich erging, war nichts Wahres… Anstatt der edlen Hirten und anmutigen Hirtinnen, die unter gesegnetem Himmelsstrich, in reicher Landschaft, unschuldsvoll vom Ertrag ihrer Herden leben und mit wohlanständiger Sitte des reinsten Glückes genießen sollten, zeigt uns die Wirklichkeit hässlich rohe Horden im Kampfe mit Hunger, mit wilden Tieren, mit den Unbilden der Witterung, versunken in Schmutz, gedankenlose Unwissenheit und tückische Selbstsucht, das Weib geknechtet, das Alter verstoßen, Menschenfresserei durch Mangel geboten und geheiligt durch abergläubischen Brauch. […] Naturwissenschaft ist das absolute Organ der Cultur, und die Geschichte der Naturwissenschaft die eigentliche Geschichte der Menschheit. Anstelle des Wunders setzte die Naturwissenschaft das Gesetz. Wie vor dem anbrechenden Tag erblichen vor ihr Geister und Gespenster. Sie brach die Herrschaft alter heiliger Lüge. Sie löschte die Scheiterhaufen der Hexen und Ketzer. Der historischen Kritik drückte sie die Schneide in die Hand. Aber auch den Übermut der Spekulation hat sie gezügelt […] Wie anders hat sie die Welt erobert als einst Alexander und das Römervolk […] Der Sieg der naturwissenschaftlichen Anschauung wird späten Zeiten als ebensolcher Abschnitt in der Entwicklung der Menschheit erscheinen wie uns der Sieg des Monotheismus vor achtzehnhundert Jahren.“ Emil Du Bois-Reymond, Culturgeschichte und Naturwissenschaft1

Vor 150 Jahren hat Emil Du Bois-Reymond die Naturwissenschaften gefeiert. Könnten wir das heute noch so unterschreiben? Die Erfahrungen, die zum Anlass des Fragens nach „Wissenschaft“ werden können, sind vielfältig: Im Rahmen welcher Auffassungen von Natur und Welt, so kann man sich fragen, machen uns die Wissenschaften heute Angaben von den kleinsten Bausteinen der Materie über Funktionsabläufe des Lebens bis zur Struktur des Weltalls? Wie sind sie zu diesen Auffassungen gelangt, welche Einstellungen gegenüber ihrem Gegenstand (z. B. ein „Herrschaftsverhältnis“?) waren dabei bestimmend, welche Erkenntnismethoden haben sie im Laufe der Zeit entwickelt und in welcher Weise strukturieren sie ihre Ergebnisse (in der Niederschrift von Beobachtungen, Definitionen, Gesetzen, Theorien)? Und: Wer sich mit der Geschichte des Menschen beschäftigt oder mit bilden-

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der Kunst, Literatur, Musik, Religion und Philosophie umgeht, so kann man von anderer Perspektive fragen, – in welcher Art kann der für sein traditionell „Verstehen“ genanntes Bemühen, misst man es am Maßstab der exakten, auf gesetzeswissenschaftliches „Erklären“ ausgehenden und experimentell-mathematisch orientierten Naturwissenschaften, überhaupt „Wissenschaftlichkeit“ in Anspruch nehmen? Kann man hier, wie es die berühmte These von den „zwei (Wissenschafts-)Kulturen“ will, von einer spezifischen Weise, Wissenschaft zu betreiben, sprechen? Und wenn ja: ist diese Wissenschaftsart „defizitär“ gegenüber derjenigen der Naturwissenschaften oder gerade von besonderer Bedeutung? Oder ist die wissenschaftliche Rationalität eine einheitliche und unteilbare? Was kann überhaupt als „wissenschaftlich“ gelten? Vor allem aber ist es die große Bedeutung der Wissenschaft in unseren Lebens- und Weltverhältnissen, die zum Nachdenken zwingt: Die Wissenschaften, vor allem die Naturwissenschaften, prägen unsere Zivilisation durch technologische Entwicklungen in entscheidender Weise. Sich mit ihnen auseinander zu setzen, ist darum nicht das Spezialproblem von Wissenschaftstheoretikern, sondern ein Thema, das jeden von uns betrifft, dessen Alltag von Wissenschaft und Technik durchdrungen ist – und wo wäre das nicht der Fall? Dabei zeigt sich in den heutigen Einstellungen gegenüber den Wissenschaften eine fundamentale Doppeldeutigkeit: Einerseits genießen sie hohe Wertschätzung. Wer möchte schon im Ernst in ein voraufgeklärtes Verhältnis zur Welt und zur Natur, ohne die in der Menschengeschichte erarbeitete Einsicht in deren Funktionszusammenhänge zurück? Die Ergebnisse der Naturwissenschaften (das hatten wir ja bereits im Kapitel zur Naturphilosophie gesehen) prägen in grundlegender Form das „Weltbild“ des 20. Jahrhunderts. Dass etwas „wissenschaftlich getestet“ sei, ist ein Werbeargument: Mit dem Begriff werden „Verlässlichkeit“, „Sicherheit“ und „Fortschritt“ verbunden. Kaum etwas scheint unmöglich zu sein; unser ganzes Dasein in den westlichen Industriegesellschaften ist auf immer weiteren Fortschritt in Richtung auf eine grenzenlose Zukunft ausgerichtet. Wer wollte auch die Vorzüge leugnen, und wie viele Beispiele ließen sich nicht dafür nennen, dass wir die kleinen und großen Wohltaten des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts beständig in Anspruch nehmen! Andererseits aber ist die Gestaltung unserer Lebensverhältnisse durch die fortschreitende Verwirklichung wissenschaftlich-technischer Möglichkeiten bei allen Errungenschaften ein zugleich höchst beunruhigender Vorgang. Seit Jahren sind die Nachteile in das öffentliche Bewusstsein gerückt: Umweltzerstörung und „Grenzen des Wachstums“ angesichts eines aus den Fugen geratenen Bevölkerungswachstums, atomares Vernichtungspotential, Verluste, die „menschliches Versagen“ angesichts zunehmend komplexer und unbeherrschbarer werdender Technik bis hin zum Kernkraftunfall fordert, das

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Fehlen von mitmenschlicher Zuwendung in einer Verwaltungskrankenpflege und Apparatemedizin, die Anonymisierung und Rationalisierung des Weltverhältnisses überhaupt, zugleich aber auch der immer schwierigere Zugang zu Expertenwissen und unser Ausgeliefertsein an das „stählerne Gehäuse“ (Max Weber) der modernen Welt. Der Mensch gestaltet seine Umwelt in immer nachhaltigerer Weise und wird schließlich selbst zum Objekt der Manipulation, wenn seine genetische Konstitution, wenn Geburt und Tod mit zur Disposition stehen. Wissenschaft ist jedenfalls heute ein sehr dynamischer und besonders „Naturwissenschaft“ ein in seiner Anwendung auf unsere Lebenswelt außerordentlich erfolgreicher Sektor. Der weitaus größte Teil aller jemals unternommenen wissenschaftlichen Bemühungen erfolgt heute, in unserer Generation. Immer mehr schrumpft der „Verdoppelungszeitraum“ unseres explosionsartig sich vermehrenden Wissens und seiner technischen Anwendungen. Universitäten, Dozenten- und Studentenzahlen, Forschungsinstitute, Entdeckungen, die Technologie, die uns den Haushalt erleichtert und eine für menschliche Kulturen beispiellose Mobilität (Autos, Flugzeuge) und Kommunikation (Boom der Informations-, Unterhaltungs- und Kommunikationsmedien) erlaubt, schließlich die wirkmächtige wirtschaftliche und industrielle Umsetzung wissenschaftlicher Entdeckungen der Physik, Chemie und mittlerweile vor allem Biologie mit allen ihren Auswirkungen auf die Lebensräume und Lebensarten unserer Gattung – all das wächst weltweit, aufs Ganze gesehen, mit atemberaubender Geschwindigkeit.

6.1 Was ist Wissenschaft? Was ist Wissenschaft?

Die Entstehung der Wissenschaft in der griechischen Antike hat man als Weg „vom Mythos zum Logos“ und damit zugleich als Aufklärungsprozess in der Perspektive auf unsere Gegenwart hin interpretiert (Wilhelm Nestle). Inzwischen ist das Verhältnis zwischen der Wissenschaft und ihrem „Vorgänger“ in der Weltdeutung, dem Mythos, jedoch vieldeutig geworden: je kritischer die moderne Rationalität beurteilt wird und je mehr sich eine „Dialektik der Aufklärung“ erweist, desto eher hat man im Mythos nicht mehr nur eine überwundene „falsche“ Welterklärung aus den Kindertagen der Menschheit (so noch Marx), sondern schon fast eine Alternative zu einer als reduktionistisch und naturzerstörend empfundenen modernen wissenschaftlichen Rationalität gesehen. Der Mythos schien ein ursprüngliches und „ganzheitliches“, heilsames Verhältnis zur Welt zu versprechen. Diese „Renaissance des Mythos“ in der Diskussion des ausgehenden 20. Jahrhunderts bewies gleichwohl weniger dessen „Wahrheit“, als dass sie etwas aussagt über unsere gegenwärtige Ein-

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schätzung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, die oft genug an sich selbst wie an einer schweren Bürde trägt. In der Antike verwendet bereits Platon Mythen praktisch nur noch unter stilistisch-didaktischen Gesichtspunkten, d. h. zur besseren Verdeutlichung und Präsentation seiner philosophischen Vorstellungen. Wie Platon ist auch sein Schüler Aristoteles auf ein metaphysisches Prinzipienwissen statt auf Mythen aus, Aristoteles jedoch mit zugleich deutlich erfahrungswissenschaftlicher Ausrichtung. Die Art und Weise, in der das Weltwissen des Griechen im Mittelalter verwaltet wurde, gewann entgegen diesen eigentlichen Intentionen des Aristoteles einen zunehmend rezeptiven Charakter (Buchgelehrsamkeit statt empirischer Forschung), der in der Neuzeit programmatische Neuorientierungen wie die eines Francis Bacon provozierte. Wie Bacon setzte auch das 19. Jahrhundert ganz auf Erfahrung. Die Induktion [der Schluss von Einzelfällen auf ein Allgemeines, in der Neuzeit auf ein Naturgesetz] galt als wichtigste Wissenschaftsmethode. Theoretiker wie der Franzose Auguste Comte (1798–1857) und der eingangs zitierte Deutsche Emil Du Bois-Reymond (1818–1896) feierten die nicht zuletzt mittels Induktionsprinzip etablierten und erfolgreichen Naturwissenschaften als Macht des Fortschritts und Begründer einer neuen Menschheitsepoche. Auch die Wissenschaftsphilosophie des 20. Jahrhunderts zeigt ihre Theoretiker lange im Besitze eines weitgehend unbezweifelten Modells szientifischer Rationalität und in dem Bemühen, innerhalb dieses Rahmens ihre wissenschaftlichen Geltungsansprüche logisch präzise zu formulieren. Dabei ergibt sich jedoch, dass diese Formulierung unter dem Einfluss des aus den Kulturwissenschaften in die Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften eingedrungenen geschichtlichen Denkens immer weniger selbstverständlich ist. Vollzieht man einige Positionen nach, so sind in der Entwicklung der Wissenschaftstheorie in etwa die folgenden Sätze vertreten worden: Erstens Konzepte einer „wissenschaftlichen Grundsatzvernunft“, zunächst in einer auf die Antike zurückweisenden (a) „ontologischen Variante“: „Alle Wissenschaft ist Auffindung universaler, überzeitlicher Prinzipien des Seienden. Die Ergebnisse der Wissenschaft müssen gegen einen die wahre Erkenntnis trübenden Schleier des bloßen Meinens und Für-wahr-Haltens gewonnen werden“ (Platon). Bei aller Gegensätzlichkeit hält sich das hier deutlich werdende Streben nach unhintergehbarer Sicherheit in der Geschichte der Wissenschaftsreflexion bis zur „positivistischen Variante“ (b): „Alle Wissenschaft muss im Ausgang von unhintergehbaren „Protokollsätzen“ mit Hilfe einer idealen logischen Begrifflichkeit und Satzbildung bestehen. Sie muss gewonnen werden gegen die Irrtümer der sprachlich undisziplinierten Metaphysik“ („Logischer Positivismus“: Moritz Schlick, 1882–1936; Rudolf Carnap, 1891– 1970; Carl Gustav Hempel, 1905–1998).

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Zweitens Konzepte einer „historisierten Grundsatzvernunft“. Hierbei zunächst (a) eine „starke“ Version: „Wissenschaftliche Sätze sind überholbar. Sie sind nicht durch einfache Wege der Induktion zu gewinnen oder zu bestätigen. Es gibt aber eine rationalitätstheoretische Rahmenkonstruktion, die ihrerseits in nicht überholbarer Weise „wissenschaftliche“ von „nichtwissenschaftlichen“ Aussagen zu unterscheiden vermag, nämlich die Forderung nach prinzipieller Falsifizierbarkeit. Es gibt eine „wirkliche“ Welt, über die Theorien gebildet werden. „Wahrheit“ ist aufzufassen als „Annäherung“ an diese Welt“ („Kritischer Rationalismus“: Karl Popper, 1902–1994). (b) „schwache“ Version: „Wissenschaftliche Sätze sind überholbar. Beobachtungen können nicht einfach Theorien widerlegen. Es gibt aber eine rationalitätstheoretische Rahmenkonstruktion, die ihrerseits im Nachhinein „wissenschaftliche“ von „nichtwissenschaftlichen“ Aussagen zu unterscheiden vermag, nämlich die „rationale Rekonstruktion“ (Imre Lakatos, 1922–1974). Drittens Konzepte einer „historisch aufgeklärten Vernunft“: (a) „wilde Variante“: „Wissenschaftliche Sätze sind überholbar. Das macht auch gar nichts, weil dies die Kreativität in der Produktion neuer Sätze befördert“ (Paul Feyerabend, 1924–1994). (b) „kontextuelle Variante“: „Wissenschaftliche Sätze sind überholbar in dem Sinne, dass man nicht von einem „überzeitlichen Standort“ aus universal gültige Aussagen und Bewertungen aufstellen kann (Thomas S. Kuhn, 1922–1996). Dies bedeutet aber nicht, dass für uns von unserem innerhistorischen Standort aus alle Aussagen beliebig sind. Zwar setzt „Wissenschaft“ sich durch ihren Rationalitätsanspruch, ihren logisch-methodischen Aufbau und durch die institutionelle Ausbildung organisierter „Träger“ von alltäglichen Lebensverhältnissen ab. Sie bildet ein System eigener Struktur, mit interner Logik, besonderen Regeln und spezifischer Organisationsform. Zugleich ist Wissenschaft jedoch Funktion und Faktor in historischen Prozessen. Sie ist eingebunden in Kontexte, mit denen sie in Wechselwirkung steht, z. B. in die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse und die in der Gesellschaft vorherrschenden moralischen und weltanschaulichen Auffassungen. Die Wissenschaftsgeschichte erscheint nicht als linear fortschreitende Anhäufung von Wissen oder methodisch oder evolutionär abgesichertes immer besseres Verständnis einer Welt, „wie sie ist“, sondern sie schließt ihre Irrtümer, Umwege und Sackgassen stets so ein, dass auch deren Identifikation das Resultat unseres weiteren, wiederum unter Vorbehalt stehenden historischen Ganges ist. Nur in einem solchen „Versuchskurs“, in einem Nicht-Wissen um definitive Lösungen bzw. im Unvermögen, alle Folgen zu überschauen, nur aus dem Kontext ihrer Zeit heraus, den sie zugleich, einmal mehr, einmal weniger, überbieten, werden Lösungen erarbeitet. Dinge bewegen zu können, ohne bei aller Intentionalität definitiv zu wissen, worauf das am Ende hinausläuft – auch das ist ein Kennzeichen menschlicher Arbeit.

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Dies bedeutet kein „anything goes“. In einer Sphäre völliger Beliebigkeit gäbe es keine Diskussionen und der einen Auffassung geriete die andere, widersprechende, erst gar nicht zur Provokation. Die Einsicht in die historische Gewordenheit und Überholbarkeit der Erkenntniskriterien macht für „Wunder“ keinen Platz. Auch wenn ein Wissenschaftsbegriff strikter universeller überzeitlicher Wahrheitsdokumentation sich nicht halten lässt, heißt dies nicht, dass an Astrologie, Sozialdarwinismus oder Regenzauber nicht mehr mit guten Gründen Kritik geübt werden könnte. Diese Kritik kann jedoch nicht mehr von einem Standpunkt scheinbarer eigener Unüberholbarkeit aus geübt werden – aber der wäre vielleicht in ähnlicher Weise naiv wie der kritisierte Gegenstand. Der Standpunkt einer in diesem Sinne (nicht zuletzt philosophisch) über sich selbst aufgeklärten Wissenschaft ist ein Inbegriff uns heute möglicher (weder wissenschaftsgläubiger noch vorwissenschaftlicher) Rationalität (vgl. hierzu weiter den Abschnitt zur wissenschaftlichen Bildung). „Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft“, lässt Goethe im „Faust“ den Teufel sagen: „Lass nur in Blend- und Zauberwerken / Dich von dem Lügengeist bestärken: So hab ich dich schon unbedingt.“

6.2 Einen Tiger reiten – Wissenschaft und Technik als doppeldeutige Macht Einen Tiger reiten

Im Zuge ihrer weiteren Entwicklung geht die wissenschaftsphilosophische Diskussion über die Frage „Was ist Wissenschaft?“ jedoch noch einmal hinaus: Einerseits wird man, wie man zusammenfassend feststellen kann, Geltungskriterien heute nur unter dem Vorbehalt der geschichtlichen Rückgebundenheit allen menschlichen Tuns angeben können, andererseits treten unter dem Eindruck der technologischen Entwicklung und der ökologischen Krise zunehmend Fragen der praktischen „Relevanz“ und Verantwortung von Wissenschaft im weitesten Sinne in den Vordergrund. Die Naturwissenschaften müssen sich dem Widerspruch stellen, der darin besteht, dass dieselbe Rationalität, die über die Welt aufklärt und unsere moderne Zivilisation ermöglicht, zugleich Prozesse in Gang gesetzt hat, die sehr wohl und nachhaltig, jedoch nicht einfach und nicht ungebrochen jenen Erfolgsweg repräsentieren, den eingangs Emil Dubois-Reymond uns vorgestellt hat. Es gibt vielmehr ein zunehmendes Bewusstsein von der Verantwortung der wissenschaftlichen Vernunft für die Folgekosten menschlicher Machtentfaltung gegen die Natur. Der Dresdener Philosoph Johannes Rohbeck hat darauf hingewiesen, dass man den vielzitierten „großen Kränkungen der Menschheit“ (verbannt aus der Mitte des Alls durch Kopernikus, hineinversetzt in

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eine tierische Ahnenreihe durch Darwin, als „Ich“ nicht einmal unbeschränkter Herr seiner selbst seit Freud) eine vierte, eine „technologische Kränkung“ hinzufügen sollte: „In ihr erfahren die Menschen, dass sie nicht mehr Herr ihrer eigenen Schöpfungen sind, sondern von den selbstgeschaffenen Machwerken beherrscht werden. Wie der Zauberlehrling haben sie etwas hergestellt, das nun eine eigene Dynamik entwickelt.“2 Es zeigt sich, dass wir keine Technik mehr „haben“, sondern dass die Geschichte sich eher in einem durch „Technik“ geprägten Weltzustand abspielt, dem gegenüber hinsichtlich unserer Bewältigungs- und Steuerungsfähigkeiten das eintreten könnte, was Günther Anders (1902–1992) in seinem anthropologischen und technikphilosophischen Hauptwerk die „Antiquiertheit des Menschen“ genannt hat.3 Diese Entwicklung ist für Zeiträume, wie die Geschichtswissenschaft sie überblickt, regelecht neu: „Erst seit 200 Jahren findet nämlich jene Beschleunigung statt, welche wir als postchristliche, technisch-industriell bedingte, spezifisch geschichtszeitliche Beschleunigung kennen gelernt haben. Seitdem wird unsere Lebenswelt technisch-industriell überformt, so dass die Frage nach weiterer Beschleunigung zur Frage unserer Zukunft schlechthin geworden ist“.4 Hatten die Programmatiker der neuzeitlichen Naturwissenschaften die Beherrschbarkeit der Natur zum Segen des Menschen versprochen und eine auch soziale Probleme lösende Kompetenz der Technik durchblicken lassen, so treten nun Ohnmachtserfahrungen angesichts unbeherrschbarer technischer und gesellschaftlicher Prozesse auf. Es kommt zum „Verschwinden der Zwecke angesichts der wuchernden instrumentellen Vernunft“.5 Diese Vernunft scheint, statt vor allem die Werkzeuge eines legitimen Kampfes um ein Überleben in der Natur und ein besseres Leben von ihren Früchten bereitzustellen, die Hoffnungen nicht oder zumindest nicht vollständig einlösen zu können, die einmal mit der rechten Art, Wissenschaft zu betreiben, verbunden worden waren. Der der Natur entnommene Reichtum ist nicht allen zugleich zugute gekommen, er hat die Utopie einer gerechteren Gesellschaft nicht erfüllt und gesellschaftliche Probleme nicht eo ipso gelöst, sondern, auch wenn in einigen Gesellschaften das Lebensniveau heute für historisch beispiellos viele Menschen beispiellos hoch ist, den Wohlstand weltweit ungleich verteilt. Ein Zusammengehen politischer Kultur und moralischer Verantwortung Hand in Hand mit der wissenschaftlich-technischen Entwicklung bleibt darum eine nach wie vor ungelöste Aufgabe. Die Zielvorstellung einer „Gestaltung“ der Technik und ihrer ökonomischen Nutzung muss sich in viele konkrete Institutionalisierungen hinein ausmünzen (Kodizes, Gesetzgebung, Institutionen der Technikfolgenabschätzung usw.)

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6.3 Natur- contra kulturwissenschaftliche Bildung? Natur- contra kulturwissenschaftliche Bildung?

Wissenschaft und Technik entwickeln, so sehen wir also, zusammen mit dem Marktsystem eine Schubkraft, die unsere Zivilisation antreibt, aber auch Irritationen und Folgekosten produziert.6 Für eine Gesellschaft, die nicht zum bloßen Spiegel technisch-ökonomischer Zustände werden will, sind darum öffentliche Meinungsbildung und demokratische Kontrolle wichtiger denn je. Voraussetzung hierfür ist unter anderem auch ein breiteres Grundverständnis von Wissenschaft und Technik. Als naturwissenschaftliche Bildung kann man die Form bezeichnen, in der das Wissen über die natürliche Welt, die Paradigmata seines Erwerbes und die Konsequenzen beider für ein menschliches Selbst- und Weltverhältnis für uns als Orientierungssubjekte präsent sind. Der Begriff einer naturwissenschaftlichen Bildung repräsentiert damit sozusagen den Stand der historisch erarbeiteten naturwissenschaftlichen Vernunft nach der Seite seiner lebensweltlichen Relevanz: – Die Bestände naturwissenschaftlicher Bildung repräsentieren ein Gegenstands- und Weltwissen von großer Bedeutung. – Naturwissenschaftliche Bildung impliziert einen weitreichenden und unverzichtbaren aufklärenden und kritischen Aspekt. Zu Recht sind die Naturwissenschaften in ihrer Herausbildung stolz darauf gewesen – so viel stimmt an Du Bois-Reymonds Bemerkungen allemal –, die Menschen aus undurchschauten Zusammenhängen zu theoretischer Einsicht und praktischem Nutzen befreit zu haben. – Naturwissenschaftliche Bildung ist notwendig, um Orientierung in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation zu ermöglichen und den Menschen Voraussetzungen dafür anzubieten, dass sie in der wissenschaftlichtechnisch und industriell geprägten Welt urteils- und handlungsfähig bleiben. – Naturwissenschaftliche Bildung ist in Sonderheit aufgerufen, Diskussionsund Entscheidungsgrundlagen anzubieten für die vielen Fragen, in denen die Ergebnisse und Probleme wissenschaftlich-technischer Entwicklungen demokratische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse erfordern. Solche Fragen sind von und mit Experten zu diskutieren, sie sind aber nicht an Experten zu delegieren. Diesen vorgenannten Aspekten gegenüber wird seit dem 19. Jahrhundert, seit Wilhelm Dilthey, für die Geistes- bzw. Kulturwissenschaften eine besondere Rationalitätsform reklamiert. Die heute vertretenen Aufgabenbestimmungen der kulturellen Vernunft in der durch Naturwissenschaften und Technik geprägten Gegenwart sind dabei oft auf die wirkungsvollen zivilisatorischen

Natur- contra kulturwissenschaftliche Bildung?

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Leistungen der Naturwissenschaften bezogen. So gibt es die Zuweisung des „kompensatorischen“, einen Ausgleich schaffenden Auftrags, die unvergleichliche Dynamik des durch die Naturwissenschaften in Gang gesetzten Zivilisationsprozesses durch Erhaltung und narrative Präsentation von Traditionen für den modernen Menschen aushaltbar zu machen (Kompensationstheorie; Joachim Ritter, Hermann Lübbe, Odo Marquard).7 Geschichtsdarstellungen und Museen sprechen eine deutliche Sprache, dass unsere Gesellschaft solche Leistungen braucht. So betrachtet, wäre der Diskurs der Geisteswissenschaften ein dem der Naturwissenschaften gleichsam stets „antwortender“. Andererseits spricht man den Kulturwissenschaften aber auch einen „Orientierungscharakter“ zu, der sich in letzter Instanz auf die Intention eines „wahren Lebens“ richtet (Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel). Hier gilt der prospektiv-normative Gestus, mittels Sprechakttheorie, Theorie sozialer Evolution und all der anderen mit immensen Rezeptionskapazitäten aufgearbeiteten kultur- und sozialwissenschaftlichen Theoremen in theoretischem Vorgriff Strukturen eines „wahren Lebens“ in der Lebenswelt zur Geltung zu bringen. Zwischen beiden Polen steht das klassische Anliegen der Kulturwissenschaften, das auf Bildung zielt. Bildung steht nach Maßgabe ihrer Theoretiker für einen Status als Vernunftwesen, wie Menschen ihn als Menschen individuell und für alle realisieren sollen. Die gebildete Vernunft verkörpert dabei, wie der Theoretiker der Geisteswissenschaften Gunter Scholtz formuliert hat, ein „persönliche[s]“, ein „als Wissen selbst evident eingesehene[s] und verantwortete[s] Wissen“.8 Kulturelle Bildung rückt dabei geradezu zwangsläufig heute auch in Funktionen ein, die sich durch konkrete Herausforderungen nahe legen, denen die Kulturwissenschaften derzeit begegnen.9 Ein nicht unbeträchtlicher Aspekt der Leistungen kultureller Bildung kann deshalb als Verarbeitungsmodus aktueller Problemfelder angesprochen werden. – So sind in der „Informationsgesellschaft“ die Bildungsorte der Geisteswissenschaften die „Referenzorte“, sich mit den Folgen der Medienentwicklung auseinandersetzen: zur kulturellen Bildung dürfte es gehören, dass die Subjekte souverän bleiben im Umgang mit dem Bildschirm. – Die sich intensivierende Begegnung der verschiedenen Kulturen und Religionen bedarf in Ethnologie, Fremdsprachenphilologien, ,interkultureller‘ Germanistik und Philosophie einer Reflexion und Vermittlung, die der sozusagen „globalen hermeneutischen Situation“ Rechnung trägt. Die Geisteswissenschaften, in ihrer entsprechenden Zuständigkeit betrachtet, treten darum auch als Vermittlungsstellen interkultureller Kommunikation und Anwälte der Dialogfähigkeit mit dem Fremden ohne Aufgabe des Eigenen auf. – Die Kulturwissenschaften sind in Zusammenführung ihrer Hinsichten

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und Bemühungen schließlich auch Reflexionswissenschaften: sie sind als zusammenhängende Instanzen der Selbstbegegnung und Selbstreflexion der menschlichen Kultur anzusehen, in denen wir uns am Ende auch darüber orientieren, wo wir in unserer durch die wissenschaftlich-technische Zivilisation und ihre Begleiterscheinungen geprägten Welt stehen. Hierin trifft sich die kulturelle mit der naturwissenschaftlichen Bildung.

Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur Aristoteles Aristoteles (384–322 v. Chr.) wurde in Stageira auf der Halbinsel Chalkidike als Sohn eines makedonischen Hofarztes geboren und wird darum auch „der Stagirite“ genannt. Zunächst 20 Jahre Mitglied der platonischen „Akademie“, wurde Aristoteles später Lehrer des makedonischen Thronfolgers und nachmaligen Welteroberers Alexander. 335 kehrte er nach Athen zurück und gründete eine eigene Philosophenschule, die nach ihrem Ort, dem heiligen Bezirk des Gottes Apollon Lykeios, „Lykeion“ (davon „Lyzeum“) genannt wurde. Der Philosoph Aristoteles wurde hier zugleich zum ersten großen, universalen Wissenschaftler. Er und seine Schüler trugen alles bekannte Wissen ihrer Zeit zusammen. In der veränderten politischen Lage nach dem Tode Alexanders des Großen wurde Aristoteles als „Makedonenfreund“ angeklagt und floh aus Athen. Er starb ein Jahr später auf seinem Landgut bei Chalkis auf der Insel Euboia. Wie Platon, dessen Schüler er war, geht es auch Aristoteles um eine Erkenntnis der Ursachen und Gründe aller Dinge. Er sucht diese aber in den Gegenständen der realen Welt selbst auf, um nicht, wie er Platon vorwirft, durch die Trennung und Absonderung der Ideen unnötigerweise die Welt zu „verdoppeln“. Die aristotelische „Idee“, wenn man davon sprechen kann, hat dagegen ihren Ort im Sein, sie ist sozusagen das eigentliche Sein des Einzeldinges. Aristoteles wendet sich durchaus „empirisch“ der Welt zu und wurde damit, wie man ihn ehrenvoll genannt hat, zum „Lehrer des Abendlandes“. Zu Beginn seiner „Metaphysik“ stellt Aristoteles verschiedene Grundbegriffe der Wissenschaft in einem differenzierten Wissensspektrum vor. Die Schrift beginnt mit einem berühmt gewordenen Satz, einem wahrhaften Motto aller Philosophie und Wissenschaft: „Allgemein liegt in der menschlichen Natur das Streben nach Erkenntnis.“ Als ersten Grundbegriff des Wissens nennt Aristoteles die „sinnliche Wahrnehmung“(aísthesis), vor allem die „Gesichtswahrnehmung“, also den Gesichtssinn, die Wahrnehmung mit den Augen. Er stellt deren besondere Bedeutung für uns heraus, eine Feststellung, deren Berechtigung jeder sich leicht deutlich machen kann, wenn man sich überlegt, auf welchen Sinn man am wenigsten gern verZum Weiterdenken

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zichten würde. Es folgen in der Aufzählung des Textes die „Erinnerung“ (mnéme) und Erfahrung (empeiría, Empirie) als höhere Formen in einer Art Stufenfolge des Wissens. Die höchsten Stufen sind „Kunst“(nicht in unserem heutigen Sinne, sondern zu verstehen als „Kunstfertigkeit/Kundigkeit“: téchne) und Wissenschaft (epistéme). Die Erfahrung entstammt der Erinnerung und nähert sich an Techne und Wissenschaft an. Ihr Kennzeichen ist, dass sie stets nur für den Gegenstand gilt, an dem sie gewonnen wurde: Sie kann z. B. die Regeln, die sich für einen Patienten (etwa, wie es im Text heißt, für den Kallias oder den Sokrates) als hilfreich erwiesen, nicht ohne weiteres auf den nächsten übertragen. „Erfahrungen“ müssen demnach für jedes einzelne Problem erneut und spezifisch gewonnen werden. Dann endlich eine generelle Regel aufstellen zu können, ist schließlich Kennzeichen der höher stehenden „Theorie“. Die Theorie zeichnet sich vor allem durch das Wissen um Gründe (aitías gnorízein) aus. Die Praxis freilich zielt auf das konkrete Einzelne und muss darum am Einzelfall orientiert bleiben. Die „wirkliche“ und höchste Wissenschaft geht auf die letzten Gründe und Prinzipien. Diese ist die Metaphysik. Wissenschaft und Metaphysik sind noch nicht getrennt. Im Gegenteil: Die Metaphysik ist als Lehre von den ersten Ursachen und vom Göttlichen die „erste“ Wissenschaft (prima philosophia). Metaphysik, 1. Buch Allgemein liegt in der menschlichen Natur das Streben nach Erkenntnis. Das zeigt sich schon in der Freude an der sinnlichen Wahrnehmung, die auch abgesehen von Nutzen und Bedürfnis um ihrer selbst willen gesucht wird. Vor allem gilt dies von der Gesichtswahrnehmung. Denn nicht bloß zu praktischem Zweck, sondern auch ohne jede derartige Rücksicht legt man auf die Gesichtswahrnehmung einen höheren Wert als auf jede andere, und zwar deshalb, weil gerade sie vom Gegenstande die deutlichste Erkenntnis vermittelt und eine Fülle von unterscheidenden Beschaffenheiten an ihm erschließt. Wahrnehmungsvermögen haben die lebenden Wesen von Natur; bei einigen von ihnen aber lässt das Wahrgenommene keine dauernde Erinnerung zurück, dagegen wohl bei anderen. Die Letzteren sind deshalb die Intelligenteren und zum Lernen Befähigteren im Vergleich mit denen, die das Vermögen der Erinnerung nicht besitzen. Geschickt, aber ohne das Vermögen zu lernen, sind diejenigen, die der Gehörswahrnehmung ermangeln, wie die Bienen und etwaige andere Gattungen von Wesen, die diese Eigenschaft mit ihnen teilen. Diejenigen dagegen, bei denen zu der Erinnerung auch noch diese Art von Wahrnehmungen hinzutritt, besitzen damit auch die Fähigkeit zu lernen. Die anderen Arten der lebenden Wesen nun leben in Vorstellungen und

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Erinnerungsbildern und bilden Erfahrungen nur in geringerem Maße; dem Menschen dagegen eignet bewusste Kunst und Überlegung. Beim Menschen bildet sich auf Grund der Erinnerung die Erfahrung, indem die wiederholte und erinnerte Wahrnehmung eines und desselben Gegenstandes die Bedeutung einer einheitlichen Erfahrung erlangt. Die Erfahrung hat an sich schon eine gewisse Verwandtschaft mit Wissenschaft und bewusster Kunst, und vermittelst der Erfahrung bildet sich denn auch beim Menschen Wissenschaft und Kunst; denn, wie Polus10 ganz richtig bemerkt, Erfahrung hat die Kunst hervorgebracht, Mangel an Erfahrung liefert dem Zufalle aus. Bewusste Kunst entsteht, wo auf Grund wiederholter erfahrungsmäßiger Eindrücke sich eine Auffassung gleichartiger Fälle unter dem Gesichtspunkte der Allgemeinheit bildet. Wir machen eine Erfahrung; indem wir feststellen, dass dem Kallias, als er an dieser Krankheit litt, dieses bestimmte Mittel zuträglich war, und dem Sokrates auch, und ebenso mehreren anderen Einzelnen. Der Satz aber, dass allen unter diese Bestimmung Fallenden und begrifflich zu einer Gattung Gehörigen, die an dieser bestimmten Krankheit, etwa an Verschleimung oder an Gallensucht oder an hitzigem Fieber litten, eben dasselbe zuträglich gewesen ist, – dieser Satz bildet dann eine Theorie. Wo es sich nun um praktische Zwecke handelt, tritt der Unterschied von Erfahrung und Theorie nicht so hervor; wir sehen nur, dass die Erfahrenen eher noch häufiger das Richtige treffen als diejenigen, die zwar im Besitze der Theorie sind, aber keine praktische Erfahrung besitzen. Der Grund ist der, dass die Erfahrung Kenntnis der Einzelheit, die Theorie Kenntnis des Allgemeinen ist, das praktische Verhalten und das Hervorbringen aber sich immer in der Einzelheit bewegen. Denn nicht einen Menschen überhaupt kuriert der Arzt, oder doch nur sofern Mensch zu sein eine der Bestimmungen ist, die dem Patienten zukommen, sondern den Kallias oder den Sokrates oder ein anderes Individuum, dem das gleiche Prädikat, nämlich Mensch, zukommt. Wenn also einer die Theorie besitzt ohne die Erfahrung, und das Allgemeine kennt, aber das darunter fallende Einzelne nicht kennt, so wird er in der Praxis oftmals fehlgreifen. Denn Gegenstand der Praxis ist das Einzelne. Gleichwohl ist die allgemeine Ansicht, dass der Theorie die Erkenntnis und das praktische Verständnis in höherem Grade innewohne als der Erfahrung, und man hält den Theoretiker für einsichtsvoller als den Praktiker, sofern Einsicht jedem in um so höherem Maße eignet, als der Grad seiner Erkenntnis ein höherer ist, und zwar weil der eine die ursächlichen Zusammenhänge versteht, der andere nicht. Denn der Praktiker weiß wohl das Dass, aber nicht das Warum; der Theoretiker aber weiß das Warum und den Kausalzusammenhang. So

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stellen wir denn den Arbeitsleiter höher und trauen ihm eine höhere Erkenntnis des Einzelnen zu als dem einfachen Arbeiter, weil jener die Gründe des Verfahrens durchschaut, dieser aber den unbeseelten Wesen gleicht, die tätig sind, ohne zu wissen, was sie tun, gleich dem Feuer, welches brennt, ohne es zu wissen. Die nicht mit Verstand begabten Wesen sind jedes nach seiner Art tätig auf Grund natürlicher Anlage; jene Arbeiter sind tätig auf Grund ihrer Gewöhnung und Übung; die Arbeitsleiter aber haben die höhere Einsicht nicht in dem Maße, als sie mehr praktische Übung besitzen, sondern in dem Maße, als sie die Theorie bemeistert haben und die ursächlichen Zusammenhange kennen. Schließlich ist dies das Kennzeichen des Wissenden, dass er andere zu unterweisen vermag, und aus diesem Grunde nennen wir die Theorie in höherem Grade wissenschaftlich als die bloße Erfahrung. Denn jene vermag andere zu unterweisen, diese nicht. Sinnliche Wahrnehmungen ferner als solche lässt man nicht als Wissenschaft gelten. Freilich geben sie im eigentlichsten Sinne Kenntnis des Einzelnen; aber sie geben keine Einsicht in die Gründe: so z. B. nicht, warum das Feuer wärmt, sondern nur, dass es wärmt. Zunächst also ist es wohl verständlich, dass derjenige, der irgendein praktisches Verfahren über die gemeinmenschlichen Wahrnehmungen hinaus erfand, von den Menschen bewundert wurde, nicht bloß, weil seine Erfindung wertvoll, sondern weil er selber einsichtsvoll war und sich den andern überlegen zeigte; und ferner, dass, wenn eine Mehrzahl von solchen praktischen Veranstaltungen erfunden wurde, und unter diesen solche, die dem Bedürfnis, und andere, die dem Vergnügen dienten, die Erfinder der letzteren für geistvoller als die Erfinder der ersteren galten, weil die von ihnen gewonnenen Einsichten nicht dem bloßen Bedürfnis dienten. Daher kommt es denn, dass man, nachdem eine Fülle derartiger Veranstaltungen bereits ersonnen war, nunmehr zur Auffindung der reinen Erkenntnisse überging, die nicht für die Ergötzung und auch nicht für das Bedürfnis da sind, und zwar an denjenigen Orten, wo man der Muße genoss. So ist die mathematische Theorie zuerst in Ägypten ausgebildet worden; denn dort war dem Stande der Priester Muße vergönnt. In unserer „Ethik“ haben wir den Unterschied zwischen praktischer Kunst, Wissenschaft und den andern verwandten Begriffen näher bestimmt. Der Zweck, um dessen willen wir den Gegenstand hier behandeln, ist der, zu zeigen, dass nach allgemeiner Ansicht das, was man wirkliche Wissenschaft nennt, auf die letzten Gründe und Prinzipien geht. Darum schreibt man, wie wir vorher dargelegt haben, dem Praktiker ein höheres Maß von Wissenschaft zu als denjenigen, die nur irgendwelche sinnliche Wahrnehmungen gemacht haben, ein höheres Maß dem Theoretiker als

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dem Praktiker, dem Arbeitsleiter als dem Arbeiter, und der reinen Theorie ein höheres Maß als der praktischen Handhabung. Daraus ergibt sich der Schluss, dass Wissenschaft die Erkenntnis von irgendwelchen Gründen und Prinzipien sein muss. Aristoteles: Metaphysik. Ins Deutsche übertragen von Adolf Lasson, Jena 1924, 6 – 8 (980a–982a).

Bacon Der zeitweilige englische Lordkanzler Francis Bacon (1561–1626) kritisiert die mittelalterliche Tradition wissenschaftlicher Forschung als bloße Buchgelehrsamkeit und setzt bei der Proklamation eines wissenschaftlichen Neuansatzes ganz auf die Erfahrung. Neues Organ der Wissenschaften Bücher und Kunstwerke scheinen reich zu sein an Erzeugnissen des Geistes und der Hand; allein alle diese Mannigfaltigkeit besteht in gesuchter Spitzfindigkeit, woraus wenige und bereits bekannte Dinge abgeleitet werden; nicht aber in einer großen Anzahl neuer Grundsätze. Auch verdanken wir, was bereits erfunden ist, mehr dem Zufalle als den Wissenschaften. Die Wissenschaften, welche wir jetzt besitzen, sind nichts anderes als eine Art Zusammenreihung vorher schon erfundener Dinge; nicht aber Erfindungsmethoden oder Entwürfe zu neuen Werken. Die einzige Ursache und Wurzel alles Unheils in den Wissenschaften ist, dass wir, in falscher Bewunderung der Kräfte des menschlichen Geistes verloren, die wahren Hilfsmittel für ihn aufzusuchen versäumen. Die Subtilität der Natur übersteigt bei weitem die der Sinne und des Verstandes, so dass alle jene schönen Meditationen und Spekulationen und Auseinandersetzungen unnütze Dinge sind; nur dass niemand da ist, der es bemerkt. Gleichwie die gegenwärtigen Wissenschaften nicht zur Erfindung der Werke führen, so ist ebenfalls die jetzige Logik unnütz zur Erfindung der Wissenschaften. Diese Logik dient eher dazu, Irrtümer, welche auf oberflächlichen Begriffen beruhen, zu begründen und zu befestigen, als zur Aufdeckung der Wahrheit: so bringt sie denn mehr Unheil als Nutzen. Der Syllogismus wird auf die höchsten Grundsätze der Wissenschaften gar nicht, auf die Mittelsätze vergeblich angewandt, indem er der Subtilität der Natur bei weitem nachsteht; er bemächtigt sich also des Beifalls, nicht der Sachen selbst. Der Syllogismus besteht aus Sätzen, die Sätze aus Wörtern, die Wörter sind Zeichen für Begriffe. Sind nun die Begriffe selbst, worauf es eigentlich ankommt, verworren und oberflächlich von den Dingen abstrahiert, so hat das, was darauf gebaut ist, keinen Haltpunkt; – daher beruht unsere einzige Hoffnung auf einer richtigen Induktion. […]

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Zwei Wege gibt es zur Untersuchung und Auffindung der Wahrheit – es kann nicht mehrere geben. – Der eine ist ein Sprung von der sinnlichen Wahrnehmung und vom Einzelnen zu höchst allgemeinen Grundsätzen; aus diesen höchsten Wahrheiten werden sodann die Mittelsätze aufgefunden; dieser Weg ist der jetzt gewöhnliche. Der andre leitet von der sinnlichen Wahrnehmung und vom Einzelnen ebenfalls Grundsätze her; aber er steigt dann allmählich und stufenweise höher, bis er erst ganz zuletzt zu den allgemeinsten, höchsten gelangt – das ist der wahre Weg, aber noch unbetreten. F. Bacon: Neues Organ der Wissenschaften. Übs. und hrsg. von A. W. Brück. Leipzig 1830, 26 ff., 97.

Descartes Wenn der Franzose René Descartes (1596–1650), nicht nur eine der wichtigsten Gestalten der Philosophiegeschichte, sondern auch eine der feinsten Klingen Europas, auf einer der Stationen seiner lebenslangen Wanderexistenz im Winter 1619/20 mitten im Dreißigjährigen Krieg in Deutschland in Ulm „am Ofen“ sitzt und seine Ideen entwickelt, ist dies nicht nur ein philosophiegeschichtlich berühmt gewordenes Detail oder eine bloße Anekdote. Denn dieser Philosoph muss gar nicht unbedingt in die Welt hinausgehen, die er doch so gut kennt. Es ist die reine Kraft der Reflexion, wenn sie nur mit der richtigen Methode betrieben wird, die den Fortschritt des Denkens verspricht. Abhandlung über die Methode Ich war damals in Deutschland, wohin mich die Kriege, die dort noch nicht beendigt sind, gelockt hatten. Als ich nun von der Krönung des Kaisers zur Armee zurückkehrte, hielt mich der Beginn des Winters in einem Quartier fest, wo ich mich, da ich keine mich zerstreuende Unterhaltung fand, und im übrigen glücklicherweise durch keine Sorgen oder Leidenschaften gestört wurde, den ganzen Tag über allein im warmen Zimmer eingeschlossen hielt, so dass ich alle Muße hatte, mich mit meinen Gedanken zu unterhalten. […] Ich beschloss nun, wie ein Mensch, der allein im Dunkeln schreitet, so langsam zu gehen und so große Vorsicht in allen Dingen anzuwenden, dass, wenn ich gleich nur wenig vorwärts käme, ich mich doch zum mindesten hütete zu fallen. Selbst damit wollte ich nicht beginnen, irgendeine der Ansichten gänzlich zurückzuweisen, die mir früher hatten beikommen können, aber nicht durch die Vernunft mir eingegeben waren, ohne zuvor genügend Zeit darauf verwendet zu haben, den Plan des von mir unternommenen Werkes zu entwerfen und die wahre Methode zu suchen, um zur Erkenntnis aller Dinge zu gelangen, deren mein Geist fähig wäre. […]

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Die erste Regel war, niemals etwas als wahr anzunehmen, was ich nicht klar (évidemment) als solches erkannte, d. h. alle Überstürzung und alle Vorurteile aufs Sorgfältigste zu vermeiden und nichts mehr in meine Urteile aufzunehmen, als was sich so klar und so distinkt meinem Geist darbieten würde, dass ich keine Veranlassung haben würde, es in Zweifel zu ziehen. Die zweite, jede der Schwierigkeiten, die ich untersuchen würde, in so viele Teile zu zerlegen als nur möglich und als erforderlich sein würde, um sie in der besten Weise aufzulösen. Die dritte, der Ordnung nach meine Gedanken zu leiten, also bei den einfachsten und am leichtesten zu erkennenden Gegenständen zu beginnen, um nach und nach sozusagen gradweise bis zur Erkenntnis der zusammen-gesetzten aufzusteigen, wobei ich selbst unter denen Ordnung voraussetzte, die nicht in der natürlichen Weise aufeinander folgen. Und die letzte, überall so vollständige Aufzählungen und so allgemeine Übersichten anzustellen, dass ich sicher wäre, nichts auszulassen. Die langen Ketten von ganz einfachen und leicht einzusehenden Vernunftgründen, deren sich die Geometer zu bedienen pflegen, um zu ihren schwierigsten Beweisen zu gelangen, hatten mich darauf geführt, mir vorzustellen, dass alle Dinge, die unter die Erkenntnis der Menschen fallen können, untereinander in derselben Beziehung stehen, und dass, wenn man nur darauf achtet, kein Ding für wahr zu halten, das es nicht ist, und stets die Ordnung beibehält, die erforderlich ist, um die einen von den andern abzuleiten, es keine so entfernten Erkenntnisse geben kann, zu denen man nicht gelangte, noch auch so verborgene, die man nicht entdeckte. Auch kostete mich das Suchen nach dem richtigen Anfang dabei keine große Mühe, denn ich wusste bereits, dass mit den einfachsten und am leichtesten zu erkennenden zu beginnen sei. Ich bedachte nämlich, dass von allen, die früher die Wahrheit in den Wissenschaften gesucht haben, allein die Mathematiker einige Beweise, d. h. gewisse und evidente Gründe, haben finden können, und ich zweifelte nicht daran, dass auch sie sich mit den allereinfachsten Dingen beschäftigt hatten. So musste auch ich daher zuerst diese prüfen, wenn ich gleich keinen andern Nutzen davon erhoffte, als dass ich nach und nach meinen Geist daran gewöhnte, sich mit der Wahrheit zu erfüllen und sich nicht mit falschen Gründen zu begnügen. […] Ich wage in der Tat zu behaupten, dass die genaue Beobachtung dieser wenigen von mir gewählten Vorschriften es mir so leicht machte, alle Fragen, bis zu denen sich diese beiden Wissenschaften erstrecken, zu lösen, dass ich in zwei bis drei Monaten, die ich zu ihrer Untersuchung brauchte, – da ich mit den einfachsten und allgemeinsten begonnen hatte und so-

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„Wanderer am Weltenrand“ – Symbolische Darstellung der Durchbrechung des mittelalterlichen Weltbildes. Holzschnitt 1888. Aus: Camille Flammarion: L’armosphère, météorologie populaire, Paris 1888, S. 163. Beobachtungsvorschlag: Fertigen Sie vor Lektüre des folgenden Textes von Ulrich Charpa eine Beschreibung der Darstellung an. Formulieren Sie, was das Bild Ihrer Meinung nach aussagt.

dann jede Wahrheit, die ich fand, mir als Regel diente, andere zu finden – ich nicht nur mit mehreren zu Ende kam, die ich früher für recht schwierig gehalten hatte, sondern es mir auch gegen Ende schien, dass ich selbst in den mir unbekannten Problemen bestimmen könnte, durch welche Mittel und wie weit es möglich wäre, sie zu lösen. Hierbei werde ich dem Leser vielleicht alsdann nicht so sehr eitel vorkommen, wenn er nämlich bedenkt, dass es ja von jedem Gegenstand nur eine Wahrheit gibt, und dass jeder, der sie findet, davon soviel weiß, als man davon überhaupt wissen kann. So kann z. B. ein in der Arithmetik unterrichtetes Kind, wenn es eine Addition gemäß den Regeln, die es gelernt, vollzogen hat, sicher sein, dass es von der untersuchten Summe alles gefunden hat, was der menschliche Geist überhaupt finden kann; denn schließlich ist es doch nur die

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Methode, welche lehrt, die rechte Ordnung zu befolgen und alle bedingenden Umstände des Gesuchten zu beachten, welche alles enthält, was den Regeln der Arithmetik Gewissheit verleiht. Was mich aber bei dieser Methode am meisten befriedigte, war der Umstand, dass ich durch sie sicher war, in allem meine Vernunft anzuwenden, wenn auch nicht in vollkommener Weise, so doch wenigstens so gut, wie es in meiner Macht war. R. Descartes: Abhandlung über die Methode. Übs. und mit Anmerkungen herausgegeben von Artur Buchenau, Leipzig 1905, 4. Auf. 1922, 1 ff.

Ulrich Charpa Ulrich Charpa (geb. 1952) ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur Wissenschaftsphilosophie, darunter „Philosophische Wissenschaftshistorie“ (1995) und „Grundprobleme der Wissenschaftsphilosophie“ (1996). Einschlägig für die Frage nach wissenschaftlichen Fortschritt und dem Charakter von Forschungsprozessen ist sein Buch über „Wissen und Handeln“.11 An einem Beispiel, das wohl jeder kennt, das jedoch selten genauer untersucht und hinterfragt wird, macht Charpa die Intention seines äußerst lesenswerten Werks exemplarisch deutlich: an jenem berühmten Holzschnitt, der oft als Darstellung eines „Wanderers am Weltenrand“ bezeichnet wird. Das Museum des Wissens und wohlgegründeten Entscheidens Indem sich im Prozess des wissenschaftlichen Fortschritts der Vertrautheitsraum verschiebt, fallen Kenntnisse über verdrängte Theorien, ehedem für wichtig gehaltene Daten, Experimente, Probleme usw. für gewöhnlich irgendwann ins Dunkel. Thomas S. Kuhn hat dies auf die treffende Beschreibung gebracht, dass Wissenschaft ihre Vergangenheit auslösche und kein Museum brauche. Kein moderner Astronom muss Ptolemaios studiert haben oder die originalen Auffassungen des Kopernikus kennen. Aber mit der ständigen Aktualisierung verlieren sich die Gründe dafür, warum Forschung so geworden ist, wie sie sich zu einem späteren Zeitpunkt präsentiert. Die Erinnerung an die ehedem an wichtigen Weggabelungen getroffenen und nicht selten äußerst schwierigen Entscheidungen ist verschwunden, und der Wanderer scheint auf wundersame Weise in die richtige Richtung gelangt zu sein. Das begünstigt es, die wissens- und vernunftmäßige Bestimmtheit der Forschung mit einer Art Richtungsinstinkt zu verwechseln. Wenn nun aber wissenschaftlicher Fortschritt sich nicht dem genialischem Ahnen der einzuschlagenden Richtung verdankt, sollte ein historischer Kommentator keinen Forscher allein deshalb gering schätzen, weil er einen in der nachträglichen Betrachtung falschen Weg eingeschlagen

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hat. Dessen Handlungen können schlechte, aber auch sehr gute Gründe gehabt haben, können aus beeindruckender Kompetenz oder dem Gegenteil erwachsen sein. Wissenschaftshistorische Modelle, die Fortschritt als vernünftige und kompetenzbestimmte Entwicklung darstellen wollen, können nicht sinnvoll teleologisch, als Historien der Siegeszüge von Überzeugungen angelegt sein. Wer Vernunft und Kompetenz am Werk sieht, braucht ein historistisch aufzufassendes Museum, das vergangene kognitive und sachliche Bedingungen vermittelt und die Möglichkeit schafft, die Handlungen der Forschungsakteure zu beurteilen. Es bewahrt falsche Hypothesen auf, macht aber zugleich wahre und gerechtfertigte Überzeugungen zugänglich, die sich einst damit verbanden, zuvorderst das Wissen um die Eigenarten der konkurrierenden Modelle. Der Sinn eines so verstandenen Museums liegt darin, wissenschaftlichen Fortschritt als Zusammenspiel von fachlicher Kompetenz und Vernunft darzustellen. Glücklicherweise ist dieses Museum des Wissens und wohlgegründeten Entscheidens kein fernes Projekt, sondern längst vorhanden. Die Kataloge des Museums haben ihre bekannteste Gestalt in guten Forscherbiographien, die vor dem Wissenshorizont der Zeit und der Person erläutern, warum ein forschender Mensch zuweilen Zukunftsweisendes angestoßen und manchmal Holzwege eingeschlagen hat. Ein bekanntes Beispiel mag illustrieren, wie uns die teleologische Idee des wissenschaftlichen Richtungsinstinkts betrügt und umgekehrt der Respekt vor vergangener Vernunft und den optimierenden Haltungen und Kompetenzen unsere eigenen Auffassungen befördert. Der nebenstehende Holzschnitt findet sich in ungezählten allgemeinhistorischen Abrissen, Wissenschaftshistorien sowie Lehrbüchern und dient dort vorwiegend zur Veranschaulichung vorkopernikanischer Beschränktheit. Den meisten Kommentaren zufolge reckt hier ein mittelalterlicher Himmelsbetrachter den Kopf aus der sublunaren Sphäre und wird der Himmelssphären ansichtig. Der verdiente Astronomiehistoriker Ernst Zinner wählt den Schnitt als Veranschaulichung in einer Darstellung der ptolemäischen Lehre und stuft ihn als Werk des 16. Jahrhunderts ein. Es sollten „Neugier und Forschungsdrang“ veranschaulicht werden, aber dem Künstler habe der „Zutritt zu den Leuten [gefehlt], die etwas vom Ringen des Kopernikus um ein neues Weltbild gehört hatten.“12 Der große Kernphysiker Victor Friedrich Weisskopf beschreibt das Motiv als im mittelalterlichen Kontext „showing the prevailing idea of the system of the world“, also die damals übliche Weltsicht zeigend. Marie Boas Hall identifiziert die dargestellte Figur in einem Aufsatz zur ,Kopernikanischen Revolution‘ als „an astronomer, earthbound and frustrated, tries vainly to grasp the mysteries of the stars and planets“ – einen erdgebundenen und

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frustrierten Astronomen, der vergeblich versucht, die Geheimnisse der Sterne und Planeten mit Händen zu ergreifen. Aber das Bild ist keineswegs zweifelsfrei ein mittelalterlicher Holzschnitt und erst recht kein eindeutiges Dokument vorkopernikanischer Astronomie. Die Darstellung findet sich zuerst in „L’Atmosphère, Météorologie populaire“ (Paris 1888, S. 163) des bedeutenden Astronomen und populärwissenschaftlichen Schriftstellers Camille Flammarion (1842 – 1925) und hat eine eigene, kaum zu durchdringende Geschichte. Möglichweise handelt es sich um ein von Flammarion selbst gefertigtes Werk, das, außer durch zwei ältere Holzschnitte – aus Gregor Reischs „Margarita philosophica“ und Sebastian Münsters „Cosmographia“ – durch eine Heiligenlegende inspiriert ist. Allerdings sind die Parallelen nicht sonderlich augenfällig, und es gibt auch Indizien dafür, dass der Holzschnitt in „L’Atmosphère“ tatsächlich auf eine spätmittelalterliche Vorlage zurückgeht.13 Dennoch lässt sich die sachliche Distanz zur Astronomiegeschichte kaum übersehen, am wenigsten die zur europäischen Nachblüte der Ptolemäischen Planetentheorie, die auf die Arbeit einzelner Gelehrter fernab mittelalterlicher Alltagsvorstellungen der Erde und der Himmelsbewegungen zurückgeht. Kopernikus’ Auseinandersetzung mit den Auffassungen Ptolemaios’ beruht wesentlich auf der Begegnung mit damals gerade aktuellen planetentheoretischen Vorlagen, speziell mit der Almagest-Einführung von Regiomontanus [eigentlich Johannes Müller, Mathematiker und Astronom, 1436–1476]. Die erste vollständige Ausgabe des „Almagest“ erschien 1515 und war Kopernikus erst verfügbar, nachdem er seine Auffassungen im „Commentariolus“ formuliert hatte. Falls Flammarion einen mittelalterlichen Holzschnitt verwendet haben sollte, handelt es sich um einen historischen Überrest, dessen Kontext und Sinn wir nicht kennen. Schon Flammarions eigene Bemerkungen dazu sind weitaus zurückhaltender als die meisten späteren Kommentare: Als „un missionaire de moyen âge“, ein Sendbote des Mittelalters wird er vorgestellt. Die Bezüge zur Astronomie sind lose: Dem Modell der Scheibe, auf der sich der vermeintliche Himmelsgucker (anstelle des Jakobstabes der Astronomen begleitet ihn befremdlicherweise ein Hirtenstock) auf Knien fortbewegt, vermag schon Aristoteles nichts abzugewinnen. Von Eratosthenes und Ptolemaios über Nicole Oresme bis Johannes de Sacrobosco, nicht zu reden von den Astronomen des 15. und 16. Jahrhunderts wie Regiomontanus hat niemand, kein bekannter Gelehrter die Erde und ihre kosmische Umgebung so vorgestellt, wie der tatsächlich oder vermeintlich mittelalterliche Holzschnitt es vorsieht. Wie war es möglich, dass selbst so kundige historische Betrachter wie Boas Hall oder Zinner in diesem Fall so unbedarft verfahren sind und bei der Kommentierung hint-

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angestellt haben, was sie selbst zweifellos über die ältere Himmelskunde wussten? Die These von der Theoriehaltigkeit der Beobachtung ist wohl mit allerlei Fragezeichen zu versehen, aber was wir in den gängigen Erläuterungen des Holzschnitts vor uns haben, scheint sie eher zu belegen, wiewohl man besser von der Vorurteilshaftigkeit der Interpretation sprechen sollte. Welches Vorurteil kann so stark sein, dass es dermaßen vom historischen Weg abführt? Die Bedingung für die Fehlgriffe ist darin zu suchen, dass die bevorzugte Nutzung von Flammarions Illustration sich an eine tiefsitzende wissenschaftshistorische Einstellung hakt: Wissenschaftlicher Fortschritt sei im Wesentlichen eine Sache zutreffender Überzeugungen. Menschen, deren Konzeptionen falsch waren, die keine ,Vorläufer‘ sind, haben darin keinen würdigen Ort. Ihnen wird passenderweise allerlei Krauses zugetraut. So veranschaulicht der Holzschnitt nicht die mittelalterliche Astronomie, sondern eine historische Engführung, die von Wissenschaftsgeschichte nurmehr den „chemin que l’esprit humain a suivi lui même dans son ascension vers la connaissance de la verité“14 – den Weg des menschlichen Geistes im Aufstieg zur Wahrheit übrig lässt. Vielleicht sind Wahrheit oder Wahrheitsnähe gute Erklärungsgründe für die Leistungen guter Theorien. Aber die einem später und besser positionierten Betrachter möglicherweise aufleuchtende Wahrheit von Theorien hilft nicht bei der angemessenen Interpretation des vorausliegenden Forschungszusammenhanges. Die Umsetzung der Wahrheitsorientierung in eine forschungshistorische Teleologie opfert die mühsamen Prozesse des Kundigmachens und wohlgegründeten Entscheidens, letztlich die ganze Forscherarbeit, einer Mystifikation. Warum sollten wir Fortschritt einer unsichtbaren Bahn zuschreiben, die Forschungsinhalte wie von selbst zur Wahrheit befördert, wenn wir im Forschungszusammenhang tüchtige Menschen am Werk sehen, die sich durch ,épineuses recherches‘ – dornenreiche und schwierige Untersuchungen (Fontenelle) ihre Wege schlagen? Sie machen sich dabei angestrengt mit schwierigem Stoff vertraut, lernen es, auch mit Unvertrautem umzugehen bzw. es zu Vertrautem zu machen. Gute Wissenschaftshistorie berichtet längst davon, liefert ,des exemples de vertu‘ – Beispiele der Tüchtigkeit. Text mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Gunter Scholtz Der Nutzen der Naturwissenschaften ist evident. Was aber leisten die Kulturwissenschaften? Eine Antwort gibt Gunter Scholtz (geb. 1941), Professor für Theorie und Geschichte der Geisteswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum:

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Zur Bedeutung der Geistes- oder Kulturwissenschaften Unsere Gegenwartskultur benötigt die Geisteswissenschaften. Denn der Mensch lebt nicht als Mensch ohne Sprache, Verhaltensregeln, Daseinsdeutungen und Geschichten. Diese Bereiche sind in der modernen, nicht mehr „naturwüchsigen“ Gesellschaft aber nicht ohne Wissenschaften denkbar. Gegründet in den „praktischen Bedürfnissen des Lebens“ (Wilhelm Dilthey), haben die Geisteswissenschaften heute mindestens vier Aufgaben: 1. Sie ermöglichen die Kommunikation zwischen verschiedenen Kulturen und Sprachgemeinschaften und zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Ohne die Geisteswissenschaften bliebe die menschliche Welt dem Menschen zum größten Teile fremd und unverstehbar. 2. Sie halten – inmitten der nivellierenden Massenkultur – orientierende Normen und damit auch Maßstäbe für die Kritik präsent. Ist die Möglichkeit einer rationalen Begründung von Handlungsnormen umstritten, so ermöglichen die Geisteswissenschaften doch eine Diskussion und Verständigung über solche Normen und ihre Konsequenzen. 3. Sie bewahren und explizieren Deutungen des Daseins, die durch die modernen Naturwissenschaften und die moderne Arbeits- und Konsumwelt verdrängt werden, die aber gleichwohl nötig sind, da die Naturwissenschaften kein eigentliches „Weltbild“, d. h. keine erlebbare anschauliche Welt uns vor Augen stellen, wie sie in Mythos und Religion vorgegeben ist und von der Kunst gestaltet wird. 4. Sie erinnern als historische Wissenschaften unsere Vergangenheit und sagen uns so, wer wir sind. Denn Identitätsbewusstsein und -bildung ist nicht ohne Erinnerung möglich, weder für den Einzelnen noch für die Gesellschaft oder Gattung. Wir wissen nur, wer wir sind, wenn wir wissen, wer wir waren. Die moderne Zivilisation hat nur durch die Geisteswissenschaften, nicht durch die Naturwissenschaften ein Bewusstsein ihrer selbst. Text mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Arbeitsanregungen 1. Kriterien der Wissenschaftlichkeit: Welche Kennzeichen erlauben es überhaupt, ein bestimmtes Tun und Denken als „Wissenschaft“ zu identifizieren? Welche unterschiedlichen Antworten geben Aristoteles, Bacon und Descartes auf diese Frage? 2. „Weltbilder“ der Wissenschaft: Führen Sie sich vor Augen, welche höchst unterschiedlichen Gegenstandsauffassungen sich in den verschiedenen Epochen ausgeprägt finden (der geordnete und sinnerfüllte Kosmos der

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Antike; geozentrisches bzw. heliozentrisches Weltbild; die Welt als geschlossener Mechanismus und Uhrwerk oder als unendliches Universum, als Wechselspiel von Chaos und System oder als letztlich unverstehbares sinnloses Faktum). 3. Fluch und Segen der modernen Naturwissenschaften und Technik: Welcher Einschätzung stimmen Sie eher zu: Wissenschaft als segensreiches Hilfsmittel (Beispiele?) und als Aufklärung (Du Bois-Reymond)? Dagegen: Wissenschaft als Motor, der, wenn er nicht kontrolliert wird, uns alle mit Fortschreiten der wissenschaftlich-technischen Zivilisation in Schwierigkeiten bringt (z. B. im Rahmen der „Klimakrise“). 4. Welcher Ignoranz soll Charpas „Museum des Wissens und wohlgegründeten Entscheidens“ entgegenwirken? 5. Wo begegnen Ihnen Leistungen der Kulturwissenschaften (evtl. in Museen, in Buchveröffentlichungen, im Bildungsfernsehen etc.)? Stellen Sie eine kleine Liste solcher Leistungen auf! Literatur A. Chalmers, Wege der Wissenschaft, 6. Aufl. Berlin 2007 E. P. Fischer, Die andere Bildung: Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte, Berlin 4. Aufl. 2005 (lesenswerte „Rehabilitation“ der naturwissenschaftlichen Bildung gegenüber der kulturellen). M. Heidelberger – S. Thiessen: Natur und Erfahrung. Von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Naturwissenschaft, Reinbek 1981 (materialreicher Überblick). V. Steenblock: Wissenschaft, Technik, Hermeneutik. Aschendorffs philosophische Textreihe, Kurs 8, Münster 1998 (didaktisch-fachliche Einleitung und Texte zu den folgenden Bereichen: – zum Wissenschaftsverständnis in Antike und Mittelalter: Aristoteles, Augustinus, Thomas von Aquin; – zu Entstehung und Triumph der modernen Naturwissenschaft und Technik: Francis Bacon, René Descartes, Galileo Galilei, Emil Du Bois-Reymond, Max Weber, Carl Gustav Hempel; – zum Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften: Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Dilthey, Odo Marquard, Gunter Scholtz; – zu Leistung und Verantwortung von Wissenschaft und Technik im 20. Jahrhundert: Hans Jonas, Hermann Lübbe).

7 Was sollen wir tun? Ethik und Lebenskunst

„Das größte Problem in modernen Gesellschaften ist nicht, dass die Lebensführung zu sehr gegängelt würde, sondern dass sie behandelt wird, als verstünde sie sich von selbst, so dass sie zuerlernen kein Gegenstand von Bildung und Erziehung ist.“ Wilhelm Schmid Ethik und Lebenskunst

Die Frage „Was sollen wir tun?“ ist eine Grundfrage der Praktischen Philosophie. Unter „Praktischer Philosophie“ versteht man das Feld der Ethik (aber z. B. auch das der politischen Philosophie). Die philosophische Ethik richtet sich vor allem auf zwei Grundprobleme. Erstens: Wie kann ich „gut“ im Sinne von: „moralisch richtig, anständig“ leben und handeln? Und zweitens: Wie kann ich „gut“ im Sinne von „glücklich“ leben? Erstens: Wie kann ich „gut“ im Sinne von: „moralisch richtig, anständig“ leben und handeln? Warum soll man eigentlich moralisch gut handeln?1 Oft genug scheint doch eine „gute“ Handlung für uns selbst eher nachteilig zu sein. Wollte man eine Umfrage veranstalten, so würde man auf diese Frage vielleicht die folgenden Antworten hören: Man handle in einer bestimmten Weise, weil die Gesellschaft und die Tradition es einem so beibrächten, weil es Gottes Gebot sei, weil man selbst ein bestimmtes Verhalten auch von anderen erwarte usw. Was aber ist überhaupt „gut“ und „moralisch richtig“? Und wie verhält es sich mit den zugehörigen Problemfeldern von Verantwortung und Schuld, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Gewissen und Reue, aber auch mit den der Religion verwandten Fragen wie der nach dem „Bösen“, nach Sünde und Sühne? Und weiter: Gibt es überhaupt eine Freiheit des Willens, oder ist unser Verhalten durch biologische, soziale und psychische Faktoren determiniert [vorherbestimmt], so dass die Fragen der Ethik in Biologie und Verhaltensforschung zu behandeln wären?2 Wichtige Themen der Ethik über die genannten Fragen hinaus sind auch „Nihilismus“ und „Relativismus“, d. h. die Entwertung der Werte und Leugnung aller Normen sowie die Befürchtung, Normen seien beliebig – mit entsprechenden praktischen Konsequenzen, dass man nämlich dann auch nach bloßem eigenen Dafürhalten handeln

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dürfte. Beständig müssen wir in unserem Leben Entscheidungen treffen. Auch ein Unterlassen kann eine schwerwiegende Entscheidung sein. Ist es dabei in unser Belieben gestellt, wie wir handeln? Woran sollen wir uns orientieren? Zu den Grundinstrumenten der Ethik, die solchen Fragen nachgeht, gehören vor allem die Begriffe „Gewissen“ und „Verantwortung“. Schon in der Antike weist die Gestalt des Sokrates auf die Bedeutung des Gewissens eines mündigen, seine Einstellungen vernünftig-kritisch prüfenden Einzelnen hin, das Moral, Sittlichkeit und rechtes Handeln begründet. Unser Gewissen ist eigentlich das „Mit-Wissen“ (con-scientia) einer Instanz, die wir – erstaunliche Wesen, die wir Menschen sind – selbst ausbilden und die sich sogar gegen uns wenden kann. Denn diese Instanz tritt uns wie ein zweites Bewusstsein gegenüber und spricht uns als eine innere Stimme an, mögen wir das auch gar nicht wollen. Sie rät ab, wenn wir einer (scheinbar?) übermächtigen Verführung gegen unser eigenes moralisches Urteil folgen und sie vermag im Nachhinein durch „Gewissensbisse“ zu bestrafen, wenn wir’s dann doch getan haben. Nach welchen Maßstäben (Normen) urteilt das Gewissen? Die Bibel sagt in einer schönen Formulierung, sie seien uns „ins Herz geschrieben“ (Röm 2,15). Alle Kulturen kennen Grundnormen wie „Du sollst nicht töten“ oder die im Weiteren noch anzusprechende „Goldene Regel“. Aus der Gemeinsamkeit entsprechender religiöser Vorschriften hat man in jüngerer Vergangenheit sogar ein „Weltethos“ (so der Schweizer Theologe Hans Küng) als größten gemeinsamen Nenner entwickeln wollen. Und doch wird es mit der interkulturellen und überhistorischen Geltung von Normen um so schwieriger, je konkreter die Lebensumstände sind, über die und aus denen heraus moralisch zu entscheiden ist. Die jeweilige Besonderheit kultureller Werte zeigt, dass das Gewissen, so sehr sich doch ein allgemein Menschliches in ihm regen mag, immer auch ein kulturelles Konstrukt ist. Und leider scheint es oft genug selbst noch von Mensch zu Mensch verschieden zu sein. Der Begriff der Verantwortung berührt die Grenze zwischen Moral und Recht. Das „positive“ (gesetzte) Recht ist mit der Moral nicht identisch. Vor staatlichen Instanzen einklagbar und erzwingbar, betrifft es eher das äußere Verhalten von Bürgern. Rechtsvorschriften und moralische Intentionen können sogar in Konflikt geraten (wie etwa bei der umstrittenen „Tötung auf Verlangen“ in Fällen schwer leidender sterbenskranker Menschen). Zugleich freilich sind Recht und Moral auch verwandt. Unsere Rechtsvorschriften entstehen im Zusammenhang mit den in der Gesellschaft vorherrschenden moralischen Überzeugungen. Dies zeigt etwa die folgende Analogie zum Gerichtswesen im Verantwortungsbegriff. „Nach dem Gerichts-Modell […] ist Verantwortung eine Verhandlungsangelegenheit vor einer moralischen Autorität (die Vernunft, das Gewissen, Gott), gegenüber der wir uns für

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unser Tun und Lassen mit Gründen und Gegengründen zu rechtfertigen haben […] Verantwortung ist daher nach dem Gerichts-Modell eine (mindestens) vierstellige Beziehung. Jemand (Angeklagter) hat sich für etwas (Sachverhalt) vor jemandem (Gerichtsinstanz) wegen etwas (Vernunftmoral) zu rechtfertigen.“3 Mit die Kantischen Frage: „Was sollen wir tun?“ geht es bei alledem, so ist zunächst festzuhalten, nicht um ein „Sein“ und seine Erkenntnis, sondern um das Sollen, um menschliche Praxis und Lebensweise, um den Verpflichtungsgrund für unser Handeln. Ethische Sätze beschreiben keine Sachverhalte. Sie sind normativ und präskriptiv [auf Werte ausgerichtet, schreiben etwas vor]. Philosophische Ethik ist somit Aufklärung menschlicher Praxis über ihre moralische Qualität, auch Einübung in Argumentationsweisen und Begründungsgänge, durch die ein kritisches, von der Moral bestimmtes Selbstbewusstsein entwickelt werden kann, hinzielend auf Humanität, Verantwortungsbewusstsein und moralisches Engagement. Zweitens: Wie kann ich „gut“ im Sinne von „glücklich“ leben? Hier fragt die Ethik in einem zweiten Zugriff eigentlich ganz anders, nämlich nach dem guten Leben im Sinne eines lebenswerten Lebens. Die dabei unweigerlich im Zentrum stehende Frage nach dem Glück ist zu verschiedenen Zeiten der Geschichte unterschiedlich beantwortet worden. Auch heute unterscheiden sich die Vorstellungen der Menschen vom Glück sehr. Während für die einen diese Frage auf eine über diese Welt hinausgehende Wirklichkeit verweist, suchen die anderen nach dem richtigen irdischen Weg zum Glück. Unter einer solchen diesseitigen Glückssuche wird manchmal ein simples Luststreben (Hedonismus) verstanden. Und natürlich kennen wir alle unsere Träume vom Zufallsglück: vom Lottogewinn, der uns zuteil wird, und von den Traumbildern der Konsumindustrie: vom Nichtstun unter Palmen an sonnigen Stränden, von schnellen Autos, großartigen Villen usw. Philosophische Überlegungen und Gespräche zum Thema „Glück“ gehen jedoch erfahrungsgemäß über diese Ebene schnell hinaus. Glück, so erkennen wir dann, erleben wir vor allem in der Differenz zu Phasen verminderten Glücks oder Unglücks. Eine reine, statische Dauereuphorie ist schwerlich vorstellbar. Erfahrungen, die wir machen, bereichern uns auch dann, wenn sie nicht nur mit Positivem verbunden ist. Vielfach begreifen wir unser Leben als ein Projekt, in dem noch andere Faktoren zählen als materielle Güter. Wir möchten uns als Menschen weiterentwickeln, ein Lebensziel verwirklichen und sehen nicht zuletzt darin eine wesentliche Glücksperspektive für uns. Gerade gegenwärtig ist eine „Philosophie der Lebenskunst“, die solche Fragen bedenkt, in aller Munde. Die Ethik tritt dabei hinsichtlich der Frage nach der Lebenskunst weniger normativ auf als in Bezug auf das Problem des mora-

„Ethik“ – Ein Begriff aus der Antike

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lisch gebotenenen Handelns. Sie gibt hier offenbar eher Lebensratschläge, pragmatische Empfehlungen, nicht selten Erfahrungsgrundsätze. So individuell verschieden unsere Lebensumstände sind, so sehr müssen wir im Grunde selbst zu „Autoren“ unseres Lebens werden, statt dies anderen überlassen zu können (es wird aber sehr interessant und hilfreich sein, die Lebensweisheiten anderer zu hören!).

7.1 „Ethik“ – Ein Begriff aus der Antike „Ethik“ – Ein Begriff aus der Antike

Das Entstehen der Ethik als eigenständiger philosophischer Disziplin geht – wie der Ursprung vieler philosophischer und wissenschaftlicher Disziplinen – vor allem auf Aristoteles zurück, der diesen Begriff als Buchtitel, seinem Sohn Nikomachos wohl zugeeignet („Nikomachische Ethik“), verwendet. Das griechische ethos hat, in etwas unterschiedlichen Schreibweisen, zwei Bedeutungen: Gewohnheit/Sitte/Brauch und Charakter/Tugend. Diese Doppelbedeutung prägt auch das lateinische mos (Pl. mores), von dem unsere „Moral“ sich herleitet. Mit „Moral“ bezeichnet man meist die konkret vorfindlichen Normen und Wertüberzeugungen. „Ethik“ bezieht sich dagegen häufig auf die philosophische Reflexion dieser Normen, also auf die Moralphilosophie. Für Aristoteles stellt der durch Lebenserfahrung gespeiste und sozusagen empirisch gesättigte Blick auf die alltäglichen Lebensvollzüge den Ausgangspunkt ethischer Reflexion dar. Er unterscheidet sich damit von seinem Lehrer Platon, für den in letzter Instanz die Einsicht in die ideale Ordnung als eine auch das menschliche Verhalten orientierende Perspektive erscheint.4 Aristoteles definiert die Moral auch nicht, wie später Kant, aus der Pflicht gegenüber einem universellen Gesollten und damit aus einem formalen Prinzip heraus. Aristoteles geht vielmehr so vor, wie es für ihn als Philosophen und Wissenschaftler generell kennzeichnend ist: Er überlegt zunächst, welche Vorstellungen lebensweltlich vertreten werden und entwickelt dann eine gewisse Zielvorstellung. In fast schon „erfahrungswissenschaftlicher“ Weise analysiert er die „Lebensformen“, in denen die Menschen sich vorfinden, und kommt dann auf die für die Lebenswelt vorbildlichen Tugenden zu sprechen. Das Gute liegt für Aristoteles nicht „jenseits“ unserer Alltagswelt, sondern in der menschlichen Praxis selbst. Für einen philosophischen Menschen ist dabei – natürlich – die „Theoria“ die höchste Bestimmung, in der man sich tendenziell, in reiner Einsicht, dem Höchsten anzunähern vermag (siehe Textausschnitt Zum Weiterdenken). Wenn nach dem Untergang der antiken Welt im Mittelalter jüdisch-christliche Moralvorstellungen ihre das Abendland bestimmenden Traditionen entfalten, sind sie geprägt durch den moralischen Anspruch der Religion,

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etwa der Zehn Gebote oder der Ethik der Bergpredigt Jesu. Sie sind aber auch geprägt durch eine fortdauernde Wirksamkeit des antiken Erbes. Wie die Platonische „Idee des Guten“ geht auch der jüdisch-christliche Theismus von einer sozusagen „außerhalb“ und „über uns“ liegenden überweltlichen Moralsphäre göttlicher Gebote aus, an der wir uns im Sinne eines Leitbildes ausrichten, d. h. orientieren müssen. Die Religion (im Orient der Islam) gewinnt einen prägenden Einfluss auf die gesamte Kultur, so auch auf den Bereich der sittlichen Lebensformen. All dies bestimmt unser Denken bis heute mit, muss sich zugleich jedoch seit der Neuzeit der kritischen Prüfung durch eine aufgeklärte, nicht zuletzt von der Philosophie verkörperte Vernunft stellen. Diese bestätigt viele moralische Grundvorschriften der Religion und ist ihrerseits in der abendländischen Geistesgeschichte lange von religiösen Grundannahmen geprägt. Die philosophische Vernunft tritt aber auch als Kritikerin auf. Enge, von fundamentalistischen Religionsauffassungen und von vormodernen Gesellschaftverhältnissen (fehlende Trennung zwischen Religion und Staat, mangelnde Anerkennung der individuellen Religionsfreiheit, Missachtung der Menschenrechte der Frau) transportierte Lebensvorschriften führen in nicht wenigen Epochen und Kulturen zu bedrückenden Moralverhältnissen und grausamen Rechtspraktiken; dies wird mehr und mehr zum Gegenstand der Kritik. In den westlichen Gesellschaften befindet die Religion sich damit seit der Renaissance in einer ebenso konfliktreichen wie fruchtbaren Ko-Evolution mit Philosophie, Aufklärung und Wissenschaft, die auch in der Ethik eine Vielzahl von Neuansätzen ermöglicht. Zwei der bis heute wirkungsvollsten Ansätze in der philosophischen Ethik sind der Utilitarismus und der „kategorische Imperativ“ Kants.

7.2 Ethik als Nutzenkalkül – Der Utilitarismus Der Utilitarismus

Dem Utilitarismus, der im England des 18. und 19. Jahrhunderts entstand, geht es nicht um ewig gültige metaphysisch begründete Werte wie in der Platonischen oder jüdisch-christlichen Moralbegründung. Es geht auch nicht um Kants noch aufzuweisende strenge Prüfung im Sinne einer strikten Formalisierung, sondern um eine Regelung menschlichen Zusammenlebens, die dem vernünftigerweise anzunehmenden Interesse aller gerecht wird. Der Utilitarismus sieht den ethischen Zweck menschlichen Handelns in dem Nutzen, der durch ein solches Handeln für den Einzelnen und die Gemeinschaft gestiftet wird. Das oft zitierte Grundprinzip der ethischen Theorie des Utilitarismus drückt die berühmte Formel vom „größtmöglichen Glück für die größtmögliche Zahl“ aus. Der Utilitarismus geht davon aus, dass die Richtig-

Der kategorische Imperativ

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keit oder Falschheit unserer Handlungen bestimmt wird von der Güte oder Schlechtigkeit ihrer Konsequenzen. Glück muss gefördert, Unglück vermieden werden. Mit seiner berühmten Formel von der „greatest happiness of the greatest number“ begründete Jeremy Bentham (1748–1832), Jurist und Philosoph, das Nutzenprinzip in der Ethik. Der Positivist, Nationalökonom und Soziologe John Stuart Mill (1806–1873) begegnet im Weitergang der Theorieentwicklung dem Einwand, dass eine solche Theorie des Glücks die „Qualitätsgrade“ der Lust nicht erfasse (vgl. Zitat im Textteil Zum Weiterdenken). Er widerspricht dem Argument vom „dummen Glück“, das in bloßer Selbstzufriedenheit bestehe. Im Gegensatz vor allem zur kontinentalen Ethiktradition geht Mill schon von seinen positivistischen Voraussetzungen her nicht aus von Metaphysik und Transzendentalphilosophie, deduziert nicht das sittliche Handeln von einer „Idee des Guten“ und rekurriert nicht primär auf ein Moralgesetz, das im sozusagen „idealen Kern“ einer Person wache. Der Utilitarismus ist eher praktisch; er ist eine „Ethik ohne Metaphysik“ (G. Patzig). Man hat den Kosten-Nutzen-Kalkül auch als Ausfluss eines sich immer stärker durchsetzenden Kaufmanns-Denkens bezeichnet. Als Grundlage eines florierenden Geschäfts soll er auch für die Ethik einen Maßstab abgeben. Bis heute – etwa bis zum „Präferenz-Utilitarismus“ des australischen Philosophen Peter Singer (geb. 1946) – ist der Utilitarismus immer mehr verfeinert worden. Im angelsächsischen Sprachraum gilt er nach wie vor als eine der wichtigsten moralphilosophischen Positionen. Wie auch die Vernunftethik Kants repräsentiert der Utilitarismus eine grundsätzliche Art ethischer Argumentation bis heute.

7.3 Der kategorische Imperativ – Kants berühmte Moralformel Der kategorische Imperativ

Fragt der Utilitarismus nach dem Nutzen und Schaden einer Handlung, blickt er also hinsichtlich der moralischen Qualität dieser Handlung vor allem auf deren Folgen, so betont Immanuel Kant den Wert des guten Willens, der eine Handlung in Gang setzt. Die Folgen der Handlung können ihre moralische Qualität dagegen weder mindern noch steigern. „Gut“ ist nicht ein noch so lobenswertes Resultat des Handelns. „Gut“, so macht Kant in der zu einer Einführung in seine Moralphilosophie überaus lesenswerten Schrift „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ deutlich, ist wirklich nur die moralisch gute Absicht (allerdings würde es wohl schwerlich gegen Kants Absichten verstoßen, wenn diese gute Absicht mit wachen Augen auf die Welt sieht, in der das Handeln erfolgt). Woran muss sich der gute Wille orientieren? Nicht an außenstehenden Instanzen, nicht an der Kirche. „Autonomie“ heißt für den Aufklärer Kant

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vielmehr, sich selbst ein Gesetz zu geben. Dies bedeutet freilich alles andere als Beliebigkeit. Hieße „Autonomie“ lediglich, dem eigenen Gusto folgen zu können, so beinhaltete dies nur eine neue Abhängigkeit, diesmal von den Zufälligkeiten der eigenen Natur. Wir müssen uns vielmehr an dem inneren Sittengesetz ausrichten, das wir alle als Vernunftwesen in uns tragen. „Freiheit“ in diesem moralischen Sinne ist unsere Selbstbindung an das Moralgesetz. Denn es ist unsere eigene – freilich in jedem anderen Menschen ebenfalls sprechende – Vernunft, die uns dieses Gesetz gebieterisch vor Augen führt. Vielfache Neigungen und persönliche charakterliche Zufälligkeiten können es allenfalls zeitweise überdecken. Unauslöschlich spricht die Moral letztlich in jedem von uns und fordert uns vor eine Entscheidung, der wir nicht ausweichen können. „Pflicht!“ so ruft der sonst oft so trockene Kant in diesem Zusammenhang mit merklicher Emphase. Jenes Phänomen, das wir eingangs als das Gewissen angesprochen haben, fasst Kant damit in einem neuen, strikten Sinne. Es ist nicht als anthropologisch-psychologische menschliche Besonderheit und auch nicht als historisch bedingtes Konstrukt zu begreifen. Das Gewissen ist vielmehr eine Vernunftinstanz in jedem von uns. Ihr gibt Kant einen Prüfstein des richtigen Handelns vor: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“. Diese berühmte Formel – der sogenannte „kategorische [d. h. unbedingt fordernde] Imperativ“ – verlangt von uns eine strenge Prüfung unseres Handelns am Maßstab der praktischen Vernunft. Der kategorische Imperativ ist dabei nicht zu verwechseln mit der nicht minder bekannten „Goldenen Regel“: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu“. Die Goldene Regel stellt eher ein Wechselverhältnis zwischen mir und einem potentiellen Gegenüber her. Sie argumentiert mit meinem eigenen Vorteil bzw. meiner Unversehrtheit – Grundansprüche, die ich einem anderen um meiner eigenen Interessen willen auch zubilligen soll. Kant dagegen verlangt eine Prüfung auf ein universales Moralgesetz als alleinigen Verpflichtungsgrund unseres Handelns hin. Vergleicht man Kants Ethik mit der antiken, der es vor allem auch um eine philosophische Beantwortung der Frage nach den Glücksgütern im menschlichen Leben ging, oder mit dem Nutzenkalkül des Utilitarismus, so wirkt seine Ablehnung auch dieser doch durchaus nicht unplausiblen Gesichtspunkte zugunsten reiner Moralität zunächst recht schroff. Selbst das Mitleid – doch eine unserer natürlichsten Regungen und sicherlich keine unsympathische – lässt der Philosoph als Kriterium für die moralische Qualität unseres Handelns nicht gelten. So sehr fürchtet er den Wankelmut aller Gefühle. Aus Neigung zu handeln, kann kein fester Maßstab sein. Weiß ich denn, welche Neigung beim anderen besteht? Kenne ich meine eigenen Gestimmt-

Moralkritik in der Moderne

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heiten überhaupt selbst genau? Was ist, wenn Abneigung und Hass oder selbst Gleichgültigkeit und Ignoranz das Mitleid verdrängen? Dennoch hat Friedrich Schiller (1759–1805) Kants Ethik als gefühlsfeindlich kritisiert. Kant spricht immerhin recht abwertend von „pathologischer Liebe“, „Hang der Empfindung“ und „schmelzender Teilnehmung“. Dennoch muss man nur auf ein einziges Wort aus Schillers Versen (vgl. Textanhang) hinweisen (nämlich bewusst „mit“ statt „aus“ Neigung sagen), um die schroffe Entgegensetzung abschwächen. Für Kant hört „eine Handlung nicht auf […], moralisch wertvoll zu sein, wenn sie von einem Vergnügen oder sogar von dem Wunsch nach Vergnügen begleitet ist; sie hört aber auf, moralischen Wert zu haben, wenn sie nur um des Vergnügens willen geschieht oder nur, um eine Neigung zu befriedigen“.5 Hegel hat einen anderen Aspekt der Kantischen Morallehre kritisiert. Sein Argument: bei einem bloßen Sollen, womöglich gar bei einer Formel, darf die Philosophie nicht stehen bleiben. Hegel geht es damit nicht so sehr um die Moral in einem engeren Sinne, verstanden nur als individuelle Handlungsanleitung. Er betrachtet das menschliche Handeln vielmehr vor allem als Moment im historischen Prozess. Wie viel substanzielle Sittlichkeit haben wir denn sozusagen inhaltlich bis heute erreicht? Wie vernünftig ist die Welt? Hegels eigene Ansicht zu diesen Fragen ist durchaus optimistisch, doch haben die historische Entwicklung selbst wie die philosophische Diskussion seither in dieser Hinsicht auch manchen Zweifel aufkommen lassen.

7.4 Der schwierige Nietzsche – Moralkritik in der Moderne Moralkritik in der Moderne

Als „modern“ kann man signifikant diejenige Epoche der Geistesgeschichte bezeichnen, in der wir (trotz mancher zwischenzeitlich ausgerufener „Nachmodernen“) immer noch leben und die sich dadurch auszeichnet, dass sie sich mit Blick auf Normen und Werte selbst zum Thema macht und über ihre Ziele streitet. Dieses besondere Komplexitätsniveau erhebt sich in zugespitzter Weise in dem an die Zeit Kants und Hegels anschließenden 19. Jahrhundert und in Sonderheit mit Blick auf die Gestalt Friedrich Nietzsches. In einem ebenso kritisch-scharfen wie affektischen, hymnischen und phasenweise prophetischen Stil, in geschliffenen Formulierungen und Aphorismen und mit Metaphern und Bildern von dichterischer Kraft kritisiert Nietzsche die zweitausendjährigen europäischen Moralvorstellungen von Nächstenliebe und Mitleid, die durch Platonismus, Judentum und Christentum geschaffen und gefördert wurden und bis zu Kant und in seine Gegenwart hinein Geltung beanspruchen, als sogenannten „Sklavenaufstand in der Moral“. Demgegenüber sucht

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Nietzsche eine radikale „Umwertung aller Werte“ zu propagieren, die in der höchst umstrittenen Vorstellung eines geistig völlig unabhängigen und selbst Werte setzenden „Übermenschen“ gipfelt. Seiner missbrauchten und missbrauchbaren Konstrukte wegen ist Nietzsche in die Nähe des späteren Faschismus gerückt worden. Seit die neuere Nietzscheforschung ihn jedoch aus dieser vordergründigen ideologischen Vereinnahmung wie ideologiekritischen Entlarvung gelöst hat, beweisen die Resultate der überaus umfangreichen Literatur und das ungemeine und weitreichende Interesse an Nietzsche die immense philosophische Bedeutung, die bis heute in der Herausforderung an das Denken liegt, die seine Infragestellung der traditionellen Begriffe von Wahrheit und Moral bedeutet. Die Maßstäbe unseres Handelns erscheinen nicht mehr als einfach vorgegeben. Wir müssen uns nachhaltig – seit Nietzsche und in der Auseinandersetzung mit Nietzsche – um sie bemühen. Weniger spektakulär als Nietzsche, aber ähnlich wirksam arbeitet zur selben Zeit auch der Historismus an der Frage nach der Moral, und er kommt zu einem ähnlichen Schluss: Die Wahrheit wird auch hier gebildet und entwickelt, nicht gefunden. Der bereits mehrfach erwähnte Denker Wilhelm Dilthey verweist auf die Widersprüchlichkeit vieler existierender Moralsysteme in Geschichte und Gegenwart. Seine berühmten Ausführungen „Über den Widerstreit der Systeme“6 – also über den beständigen Streit konkurrierender Philosophie- und Moralauffassungen mit jeweiligem Absolutheitsanspruch – legen den Schluss nahe, dass es keinen sicheren Punkt mehr gibt, von dem aus man Denksysteme mit überhistorischer Gültigkeit für alle Menschen und Kulturen formulieren könnte. Dilthey formuliert damit im Moraldiskurs zu berücksichtigende Probleme und Bedingungen, die sich mit Blick auf das Denken der Moderne vielfältig als nicht zu übergehen erwiesen haben. Er setzt sich aber auch dem Verdacht des Relativismus aus, d. h. dem Vorwurf, orientierungslos zwischen „gut“ und „böse“ nicht mehr unterscheiden zu können. Dies wäre der Fall, wenn eine Entscheidung so gut erschiene wie die (ihr widersprechende) andere. So ist es aber nicht gemeint: Für Dilthey ist unsere Orientierung das Ergebnis ernsthaftester Arbeit der Vernunft in der Geschichte. Die Vernunft, auch die praktische Vernunft, die durch uns in die Welt gebracht werden soll, ist im Vornherein durch nichts garantiert: nicht durch Hegels so großartig inszenierte Vorstellung eines prozessualen Weltganzen und nicht durch eine kommunikationstheoretisch umgerüstete Vernunft im Anschluss an Kant, wie sie im folgenden in der Gestalt der Letztbegründungsethiken noch anzusprechen sein wird. Zu den komplexen Denkbedingungen der Moderne gehören schließlich auch die Feststellungen Max Webers (1864–1920), dass wissenschaftliche Erkenntnisse politische und normative Entscheidungen nicht direkt legitimieren können: „Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren,

Letztbegründung und Diskursethik

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was er soll, sondern nur, was er kann und – unter Umständen – was er will.“ In der Rezeptionsgeschichte hat dieser Aspekt eine immense Wirkung entfaltet. Er stellt sich in die Reihe der Theoreme, denen zufolge aus einem „Sein“ sich kein „Sollen“ ableiten lasse. All diese Einsichten sind durchaus schwierig. Sie legen nahe, dass es „die“ geschichtsfreie Moral nicht gibt, sondern dass unsere Auffassungen auch in der Praktischen Philosophie das Ergebnis kultureller Arbeit (damit aber durchaus nicht beliebig) sind.

7.5 Auf der Suche nach einer Instanz: Letztbegründung und Diskursethik Letztbegründung und Diskursethik

Entwicklungen wie die letztgenannten provozieren, wie sich leicht einsehen lässt, neue philosophische Bemühungen um eine schlichthinnige Grundlegung der Moral. Im Zuge einer sprichwörtlich gewordenen „Rehabilitierung der Praktische Philosophie“ (Manfred Riedel) tritt im 20. Jahrhundert vor allem die sogenannte Diskursethik noch einmal mit einem groß angelegten Begründungsgestus hervor. Sie wird zu einem der meistdiskutierten philosophischen Ansätze seit den 1970er und 80er Jahren und über die Institution des damaligen „Funkkolleg Praktische Philosophie“ auch einer größeren Öffentlichkeit nähergebracht. Vertreter sind neben Habermas vor allem KarlOtto Apel (geb. 1922) und seine Schule. Apel besteht ausdrücklich auf der Notwendigkeit einer der „planetarischen Einheitszivilisation“ angemessenen „universalen, d. h. für die menschliche Gesellschaft insgesamt verbindlichen“ „Makroethik“. Diese hat nicht nur universal, sondern auch letztbegründet zu sein – „alles andere ist Halbheit“.7 Der Anstoß zur Diskursethik kommt von Kant, in dessen Tradition Apel sich ebenso sieht, wie er über Kants seiner Ansicht nach nur auf das einzelne Moralsubjekt rekurrierenden Ansatz in Richtung auf Dialog, Diskurs und die Anerkenntnis der anderen hinauszugehen wünscht. Zugleich wird Apels Ansatz in „Konsonanz“ von teilweise parallelen Überlegungen von Jürgen Habermas (geb. 1929) gestützt. In jedem, auch tatsächlichen Diskurs unterstellen wir eine „ideale Sprechsituation“ und die mögliche Zustimmung zu unseren Argumenten durch eine „unbegrenzte ideale Kommunikationsgemeinschaft“. Von dieser darf niemand aus irgendwelchen Gründen ausgeschlossen oder in ihr benachteiligt werden. Moralische Normen sind solche Normen, die sich unter der regulativen Idee eines solchen Diskurses rechtfertigen lassen. Der entscheidende Gedanke der Ethik Apels folgt dem Grundsatz: „Wer argumentiert, hat sich schon verpflichtet“. Apel argumentiert: „Es kann nicht ,einer allein‘ einer Regel folgen und im Rahmen einer ,Privatsprache‘ seinem Denken Geltung verschaffen; dieses ist vielmehr prinzipiell öffentlich […] Zu-

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gleich mit der wirklichen Argumentationsgemeinschaft setzt aber nun die logische Rechtfertigung unseres Denkens auch die Befolgung einer moralischen Grundnorm voraus. Lügen z. B. würde offenbar den Dialog der Argumentierenden unmöglich machen, aber dasselbe gilt auch schon von der Verweigerung des kritischen Verständnisses bzw. der Explikation und Rechtfertigung von Argumenten. Kurz: in der Argumentationsgemeinschaft ist die wechselseitige Anerkennung aller Mitglieder als gleichberechtigter Diskussionspartner vorausgesetzt. – Da nun aber alle sprachlichen Äußerungen und darüber hinaus alle sinnvollen Handlungen und leibhaften Expressionen von Menschen (sofern sie verbalisierbar sind) als virtuelle Argumente aufgefasst werden können, so ist in der Grundnorm der wechselseitigen Anerkennung der Diskussionspartner diejenige der ,Anerkennung‘ aller Menschen als ,Personen‘ […] virtuell impliziert.“8 Ohne Apels theoretischen und begrifflichen Apparat formuliert, liegt diesem Unhintergehbarkeitsanspruch folgender Grundgedanke zu Grunde: Man muss sozusagen „Farbe bekennen“ und kann seine notwendig auf alle Gesprächspartner sich erstreckenden Geltungsansprüche nur mit „performativem Selbstwiderspruch“ leugnen. Man widerspräche sich als jemand, der auf die Geltung seiner eigenen Argumente Wert legt, also letztlich selbst, wollte man nicht den anderen als moralisches Subjekt und Inhaber entsprechender Rechte (und Apels Diskurstheorie) anerkennen. Die kritischen Reaktionen auf Apels Theorien füllen aber trotz dieser raffinierten Argumentation Bände. Sie sind vor allem auch wegen ihrer komplizierten sprachlichen Darstellung als „Theoriegebirge“ eines „Ideenalpinisten“ und wegen ihres Rekurses auf eine ideale Kommunikation als „akademische Sondermilieu-Ethik“ kritisiert worden. Besonders umstritten ist, ob die Vision einer „idealen Diskursgemeinschaft“ bzw. eines „herrschaftsfreien Diskurses“ überhaupt etwas zu den Entscheidungsfindungen realer Diskursgemeinschaften, die nun leider nie herrschaftsfrei sind, beitragen kann. Von einer „Diktatur des Sitzfleisches“ ist die Rede (man muss eben lange genug argumentieren können) oder sogar von möglichen totalitären Konsequenzen der Apelschen Philosophie. Massive Kritik an dem Letztbegründungsgedanken hat von der konkurrierenden, von Karl Popper (1902–1994) begründeten wissenschaftstheoretischen und sozialphilosophischen Position des „Kritischen Rationalismus“ aus Hans Albert geübt.9 Am Ende geht es gegenwärtig der Diskursethik wie mancher anderen Theorie auch, so viel akademischen Scharfsinn sie auch beschäftigt und so viele Bände des namhaften Suhrkamp-Verlages sie auch gefüllt hat: es wird stiller um sie. Wer aber „macht“ dann heute die Ethik? Auch wenn wir vielleicht geneigt sind, eine Fortschrittsgeschichte der Normbegründung von den in frühgeschichtlichen Gemeinschaften sich entwickelnden „Tabus“ (etwa gegenüber dem Inzest oder dem Kannibalismus) und der Entwicklung von Tugendvor-

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stellungen aus der Schilderung vorbildlicher Einzelner über den Rekurs auf Gottes Gebote bis zu dem in öffentlichen Diskussionsprozessen vernunftbegründeten Sittengesetz anzunehmen, so speisen letztlich auch heute alle diese Faktoren in ihrer Gemeinsamkeit das moralische Bewusstsein. Zugleich spielen als anthropologisch-historische Faktoren auch unsere Affekte bzw. Gefühle (wie Mitleid, moralisches Empfinden) eine Rolle, fließen gesellschaftliche Üblichkeiten (die „guten Sitten“) in unser Urteil ein. Argumentative Wertklärungen im öffentlichen Diskurs, ein Bewusstmachen der eigenen Werte und letzten Verbindlichkeiten bzw. Urteilsvoraussetzungen sind unerlässliche Elemente des moralischen Urteils in entwickelten Gesellschaften. Auch erreichte zivilisatorische Standards und kulturelle Erfahrungen prägen unser Urteil (z. B. gerade in einem Land mit Erfahrungen mit menschenverachtenden Regimen). Dieses Argument ist extrapolierbar, denn entsprechend kann auch die weitere Entwicklung von Moralvorstellungen als nicht unabhängig gedacht werden von Erfahrungen, die wir noch machen werden. Selbst die Vernunft als die naheliegenderweise von der Philosophie herauszuhebende spezifische moralische Urteilsinstanz der Moderne erweist sich von Mill über Kant bis Habermas und von Nietzsche über Dilthey bis Weber als vielschichtiges Projekt ohne das Versprechen definitiver Entscheidungen und Einigungen auf Grund argumentativ-prozedural zwingender Prozesse. Im Unterschied zu den angesprochenen Letztbegründungsansätzen und zu allen Rufen nach der Wiederherstellung oder Neuerrichtung alter oder neuer Prinzipien schlagen Theoretiker wie Kurt Bayertz (geb. 1948) deshalb vor, moralische Entscheidungen als das Ergebnis von Erarbeitungsprozessen zu verstehen. Bayertz vertritt die These, dass Moral als solche nicht „entdeckt“, sondern gestaltet wird: „Moral kann nicht mehr als eine unabhängige Variable angesehen werden […] Sie wird zum Gegenstand einer sie modifizierenden Reflektion und damit zu einer gestaltbaren gesellschaftlichen Institution. Indem die angewandte Ethik zum Instrument direkter Problemlösung wird, wird die Moral positiviert, d. h. zum Resultat menschlicher Setzung oder ,Konstruktion‘.“ Dies bedeutet für konkrete ethische Entscheidungsprozesse: „An die Stelle der Berufung auf letzte Fundamente – der Wille Gottes, das Wesen der Dinge, die Natur des Menschen, die Gesetze der Vernunft – tritt das Anknüpfen an bestehende Konsense und die Bezugnahme auf menschliche Interessen, einschließlich ihrer legitimen Verschiedenheit.“10

7.6 Der Preis des Fortschritts: Angewandte Ethik Angewandte Ethik

Je länger das 20. Jahrhundert andauerte, umso mehr hat sich zugleich die Aufmerksamkeit der akademischen Praktischen Philosophie neuen Heraus-

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forderungen zuwenden müssen. Ohne einlinige Vereinfachungen zu propagieren, lässt sich doch sagen: der Schwerpunkt der Forschung hat sich unter dem anstehenden Problemdruck zu eher „angewandten“ und praxisorientierten Ethiken hin verlagert. Zunächst ist hier der philosophische Versuch zu nennen, unser Verhältnis zu der vom Menschen oftmals und zunehmend ausgebeuteten Natur, auf die wir doch gleichzeitig so angewiesen sind, wieder in Ordnung zu bringen. In einer Zeit, in der festgestellt wird, dass die Erde sich am ökologischen Scheideweg befindet, auf Grund der Klimaerwärmung zahlreiche Ökosysteme „auf der Kippe“ stehen und zugleich 1,5 Milliarden Menschen in massiver Armut leben, will zunächst eine spezifische „ökologische Ethik“ einen besonderen philosophischen Beitrag zur Krisenbewältigung liefern.11 Vor allem Hans Jonas (1903– 1993) widmete die Ausführungen seiner sehr bekannt gewordenen Spätphilosophie einem rettenden „Prinzip Verantwortung“ und dem Nachweis, „dass die Natur Werte hegt“. In dem archetypischen Bilde eines hilflosen Säuglings als einem moralisch evident rettungsverlangenden Szenario versinnbildlicht sich Jonas’ Forderung nach einem „ontischen Paradigma“, „in dem das schlichte, faktische ,ist‘ evident mit einem ,soll‘ zusammenfällt“: „Das ,Gute‘ oder den ,Wert‘ im Sein gründen heißt die angebliche Kluft von Sein und Sollen überbrücken“. Jonas kritisiert den Irrglauben an einen durch „entfesselte Technologie“ zu schaffenden „eigentlichen“ Zustand der Menschheit. Gegen diese „postbaconische, prometheische Euphorie“ sei die Einsicht festzuhalten, dass gerade die vom Menschen „nicht veränderte und nicht genutzte“, die „wilde“ Natur letztlich die „humane“, nämlich die zum Menschen sprechende, sei, und die ihm ganz dienstbar gemachte manipulierte die schlechthin „inhumane“.12 Neben diese Versuche einer „Rettung“ der immer mehr zum Ausbeutungsobjekt gewordenen, als solches aber auf den Menschen zurückschlagenden Natur in einer „ökologischen Ethik“ tritt eine signifikante Ausweitung der sogenannten „angewandten Ethiken“. Dieser Umstand demonstriert die wichtige Zuständigkeit der praktischen Philosophie für die ethische Begleitung sich wandelnder Lebensumstände. In vielen schnell sich fortentwickelnden Bereichen, die offenbar gesonderte ethische Anstrengungen erfordern, entstehen über die herkömmlichen Berufs- und Standeskodizes (vgl. z. B. in der Medizin den „Eid des Hippokrates“) hinaus immer neue Spezialethiken. Man spricht von „Wirtschaftsethik“, „Bioethik“, „medizinischer Ethik“, „Tierethik“, „GenEthik“. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt bringt ein zunehmendes Bewusstsein ethisch-gesellschaftspolitischer Herausforderungen mit sich, auf die der philosophische Diskurs reagiert. Indem der wissenschaftlich-technische Prozess immer neue Eingriffsmöglichkeiten erzeugt, erzeugt er auch immer mehr ethische Zweifelsfälle. Otfried Höffe (geb. 1943) hat darum in einer vielzitierten Formel gesagt: Moral ist der „Preis der Moderne“.13

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Vor allem die neuen Möglichkeiten der Gentechnologie und Medizin stellen die alte philosophische Frage: „Was darf bzw. soll der Mensch tun?“ in spezifisch neuer Weise. Der Mensch tritt mittlerweile mittels der Biotechnologie als Gestalter der Evolution und damit womöglich sogar seiner selbst auf. Das ist eine Perspektive, die wenig Begeisterung zu erwecken imstande ist, sollten nicht ethisches Bewusstsein und Verantwortung ihr folgen können. Heute sind Genmanipulationen an Pflanzen (z. B. mit dem Ziel einer Erhöhung der Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten oder Schädlinge und zur Ertragssteigerung) und an Mikroben (Herstellung des Insulins) ebenso weit verbreitet wie Befürchtungen angesichts gentechnisch manipulierter Organismen oder gar der vollständiger Kartierung und letztlichen Manipulation des menschlichen Erbgutes.14 In „Ethik-Kommissionen“ sitzen heute neben Naturwissenschaftlern, Medizinern, Juristen und Vertretern gesellschaftlicher Gruppen auch Theologen und Philosophen. An neueren Debatten sind z. B. Dieter Birnbacher, Ludwig Siep und Kurt Bayertz beteiligt gewesen.15 So ist es umstritten, ob die therapeutischen Möglichkeiten genutzt werden dürfen, die sich offenbar aus dem Einsatz von dem totipotenten Embryonalstadium entnommenen und dann vermehrten Zellen („embryonalen Stammzellen“) ergeben. Solche Zellen können alle möglichen Spezialisierungen noch annehmen und damit, zur Organtherapie in den menschlichen Körper eingebracht, hervorragende Heilungsperspektiven eröffnen. Handelt es aber dabei nicht bereits um – da nach der Verschmelzung von Samen- und Eizelle gewonnenes – schützenswertes menschliches Leben? Welcher Sprengstoff in den bezüglich der Gentechnik zu verhandelnden Fragen liegt, zeigen auch heftige Reaktionen wie die auf einen Vortrag von Peter Sloterdijk, in dem nichts weniger zur Debatte stand als eine im Blick auf eine Vision vom idealen Menschen gentechnisch möglich werdende „Menschenzüchtung“. Die wissenschaftlich-technischen Herausforderungen stellen, wie all dies zeigt, die Frage nach dem guten als dem moralisch richtigen Handeln für uns heute in so dringlicher Weise wie selten zuvor in der Geschichte.

7.7 Leben statt gelebt zu werden! Leben statt gelebt zu werden!

Gleichsam parallel zu diesen Fragen nach dem guten Handeln verläuft von den Anfängen an das menschliche Nachdenken über das Glück. Bereits in der Antike treten nach der klassischen Zeit eines Sokrates, Platon und Aristoteles mit Diogenes von Sinope (4. Jh. v. Chr.) und Epikur (342 – 270 v. Chr.) Denker auf, die in ihrer spezifischen gesellschaftlichen und politischen Situation vor allem pragmatische Lebensregeln zu geben suchen. Im berühmten „Menoikeus-Brief“, einem Lehrbrief zur Lebenskunst, plädiert Epikur dabei für eine

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mäßige Lust, die sich von ihren Genüssen nicht abhängig macht. Einen „Epikureer“ nennt man landläufig einen Menschen, der sehr zu leben und üppig zu genießen weiß und der hierin den Sinn seines Daseins sieht: so betrachtet, war Epikur gar kein „Epikureer“. Er rät vielmehr, genau und vernünftig zu kalkulieren, d. h. bei allen Handlungen zwischen Lust und Unlust, auch die Folgen bedenkend, abzuwägen. Statt das bloße „Mehr“ und den Luxus für Lebensqualität zu halten und uns damit in Unruhe und Abhängigkeit von einer Seinsart des „Habens“ (Erich Fromm) zu bringen, müssen wir uns vor Augen führen und verstehen, wie viel die Abwesenheit von Schmerz bereits bedeutet, müssen wir das einfache Schöne in der kurzen Frist, die uns vergönnt ist, bewusst wahrnehmen. Wenn damit die menschlichen Angelegenheiten in das Zentrum der Philosophie treten, dann bedeutet dies ein konsequentes Weiterschreiten auf einem Weg, dessen Ausgangspunkt sich bereits bei Sokrates und Aristoteles findet: die Auffassung der Ethik als philosophische Untersuchung der Lebensführung der Menschen. Umgekehrt wird die Welterklärung zu einer Art Hilfswissenschaft der Lebensführungslehre. Sie übernimmt die wichtige Funktion, durch rationale Aufklärung Ängste und Furcht zu vertreiben. Die letztlichen bloßen „Atomkompositionen“ Körper und Seele werden nach dem Tode zu Staub zerfallen: So lange es uns gibt, so argumentiert Epikur, ist der Tod nicht da, und wenn er da ist, gibt es uns nicht mehr. Warum also sich Sorgen um ein jenseitiges Leben machen? Alle Philosophie ist bei Epikur im Grunde in diesem Sinne „Praktische Philosophie“: „Leer ist die Rede jenes Philosophen, die nicht irgendeine Leidenschaft des Menschen heilt. Wie nämlich eine Medizin nichts nützt, die nicht die Krankheiten aus dem Körper vertreibt, so nützt auch eine Philosophie nichts, die nicht die Leidenschaften aus der Seele vertreibt.“16 Die Götter werden in die Intermundien [Zwischenwelten] und damit in ein wirkungsloses Jenseits im Grunde „hinweggelobt“. Das Leben wird auch dadurch frei von Angst. Eine Wendung ins Private („Lebe im Verborgenen“) wird ganz deutlich, wenn dieser lebenskluge Philosoph – misstrauisch gegenüber der Öffentlichkeit und der Politik, denn wozu braucht der Weise den Applaus der Masse? – mit guten Freunden im „Garten“ als der nunmehr noch angemessenen Lebensform philosophiert. Epikurs Ratschläge richten sich deswegen stets an den Einzelnen, der sich vor einer verderbten Welt ins Private, mit Freunden in einen engeren Kreis zurückzieht. Dieser konsequente (womöglich freilich egozentrische, individualistische) Rückzug aus der Gesellschaft erscheint manchen Kritikern problematisch. Stark auf individuelle Lebenskunst ausgerichtet, bekomme eine solche Position das Los anderer kaum in den Blick und verbessere im Sozialen nichts. Wenn man sich über das Glück des Einzelnen orientieren wolle, dürfe man die gesellschaftlichen

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Zusammenhänge nicht vergessen. In einer Gesellschaft, in der keiner sich um das allgemeine Glück kümmert, kann es auch nur schwerlich ein individuelles Glück geben. Schwerer tragen darum die konkurrierenden Stoiker – die Denker von der Säulenhalle – an ihrer Pflicht und am Leben. Aber auch sie geben dem Einzelnen konkrete Lebensführungsregeln wie die, sich „unberührbar“ zu machen von falschen Leidenschaften (Ataraxie). Sprechen bis in unsere Gegenwart die „aktuellen Weisheitslehren der Antike“ fast wie über die Jahrtausende hinweg direkt zu uns, so bricht die explizite Frage nach einer „irdischen“ Lebenskunst im Mittelalter in dieser Bedeutung jedoch zunächst ab. Hier spüren die Menschen in ganz neuer Weise die Dimension einer anderen geistigen Sinnwirklichkeit. Aus der autonomen (mit den Mitteln des individuellen Subjekts zu bewerkstelligenden) Selbstsorge wird eine heteronome (auf eine andere, höhere Instanz angewiesene) Seelsorge (Wilhelm Schmid). Der Kirchenvater Augustin etwa spottet über das, wie er meint, hilflose Bemühen, sich sein eigenes Glück zu zimmern, wo doch nur der Allmächtige dieses – wie alles – gewähren kann. Wie viele Zufälle und Umstände können wir nicht bestimmen, denen wir aber in unserem begrenzten Glücksbemühen dennoch ausgeliefert sind! Die Frage: „Wie kann ich ein gutes, glückseliges, lustvolles bzw. unlustfreies Leben im Diesseits führen?“ wird abgelöst von der Frage: „Wie kann ich in der rechten Beziehung zu Gott und im Blick auf das Jenseits leben?“ Im 48. Kapitel seiner „Summa contra gentiles“ („Summe gegen die Heiden“) weist im Hochmittelalter dann auch Thomas von Aquin darauf hin, dass die letzte Glückseligkeit für den Menschen in diesem Leben nicht zu haben ist – aber, so sucht er nachzuweisen, für den Christen in einem künftigen. Eine Lebenskunst aus eigener Kraft scheint nun für den Menschen nicht mehr zu erreichen. Für eine bewusste Kulturwende vom Mittelalter fort stehen die Begriffe „Renaissance“ und „Humanismus“. Das Neue besteht in der Wiedergeburt der antiken Kultur und Philosophie, in denen wiederum das Diesseits statt des Jenseits, das Individuum statt des Kollektivs in den Vordergrund treten. Dies wird etwa deutlich, wenn sich ein Michel de Montaigne (1533 –1592), zeitweiliger Bürgermeister von Bordeaux, 1570 in den Turm seines Schlosses im Périgord zurückzieht, um dort die bis heute sehr konkret zu uns sprechenden, fast tausend Seiten Essais („Versuche“) zu schreiben, die sich mit dem „Menschlich-Allzumenschlichen“, mit Themen der Lebenskunst und Fragen von großer Lebensnähe beschäftigen. Montaigne rät uns unter der Devise: „Philosophieren heißt sterben lernen“ für den Umgang mit dem Tod: „Beim Stolpern eines Pferdes, beim Sturz eins Dachziegels, beim geringsten Stich einer Stecknadel lass uns gleich denken: je nun, wenn’s nun der Tod selbst wäre? Und dann lass uns flugs die Zähne zusammenbeißen und die Sehnen

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straff anziehn! An fröhlichen Festen, bei den lautesten Freuden laß uns den Sinnspruch nicht aus dem Gedächtnis fallen, der uns an unser Ziel erinnert; und müsse uns kein Genuß so hinreißen, dass uns nicht zuweilen einfallen sollte, auf wie mancherlei Art diese unsere Fröhlichkeit dem Tode bloßgestellt ist. So machten’s die Ägypter, welche mitten bei ihren Gastmählern und Schmäusen ein Knochengerippe herbeibringen ließen, um den Gästen zur Erinnerung zu dienen.“17 Eine Tradition des Verständnisses der Praktischen Philosophie als Lebenskunst im Sinne der Antike lässt sich nun weiter zu Schopenhauer (1788 –1860) verfolgen. In der Philosophiegeschichte können die Überlegungen eines Epikur und die Schopenhauers über die Jahrhunderte hinweg sozusagen miteinander verwandt erscheinen. Beide stehen für ein lebensweltlich konkretes und anwendbares, praktisches Philosophieren im doppelten Wortsinne: für Beiträge zur „praktischen Philosophie“, der es im Gegensatz zur „theoretischen“ nicht um Welterkenntnis, sondern um das Leben und Handeln geht, und um ein „lebenspraktisches“ Philosophieren, dessen Ratschläge man für sich als konkrete Anleitung verstehen und prüfen kann. Schopenhauer geht dabei von einer außerordentlich skeptischen Weltsicht aus. Er sieht das Leben vor allem als Leiden. Unsere Glückschancen sind begrenzt, wichtiger erscheint die Leidabwehr. Unglück möglichst zu vermeiden, ist ein wichtiger Teil der Antwort, die Schopenhauer auf die Frage nach dem Glück gibt. Die Kunst, vor allem die Musik, kann, wenn auch nur, wie er sagt, „auf Augenblicke“, vom Leid ablenken und das Leben erträglich machen. In diesem Sinne argumentiert auch der Psychologe und Kulturtheoretiker Sigmund Freud (1856–1939).18 Freud steht einer Philosophie der Lebenskunst durch den alltagsweltlich konkreten und lebensnahen Stil seiner Überlegungen sehr nahe. Indem er feststellt, dass der Mensch in der Kultur vom Ausleben seiner Triebansprüche absehen muss, diskutiert er auch verschiedene Lebensbewältigungsstrategien. So heißt es in der Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“: „Das Leben, wie es uns auferlegt ist, ist zu schwer für uns, es bringt uns zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben. Um es zu ertragen, können wir Linderungsmittel nicht entbehren. (,Es geht nicht ohne Hilfskonstruktionen‘, hat uns Theodor Fontane gesagt.) Solcher Mittel gibt es vielleicht dreierlei: mächtige Ablenkungen, die uns unser Elend geringschätzen lassen. Ersatzbefriedigungen, die es verringern, Rauschstoffe, die uns für dasselbe unempfindlich machen. Irgendetwas dieser Art ist unerlässlich. Auf erniedrigtem Niveau sagt Wilhelm Busch in der ,Frommen Helene‘ dasselbe: ,Wer Sorgen hat, hat auch Likör‘ [Anmerkung Freuds]. Auf die Ablenkungen zielt Voltaire, wenn er seinen ,Candide‘ in den Rat ausklingen lässt, seinen Garten zu bearbeiten; solch eine Ablenkung ist auch die wissenschaftliche Tätigkeit. Die Ersatzbefriedigungen, wie die Kunst sie bietet, sind gegen

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die Realität Illusionen, darum nicht minder psychisch wirksam dank der Rolle, die die Phantasie im Seelenleben behauptet hat. Die Rauschmittel beeinflussen unser Körperliches, ändern seinen Chemismus. […] Die Frage nach dem Zweck des menschlichen Lebens ist ungezählte Male gestellt worden; sie hat noch nie eine befriedigende Antwort gefunden, lässt eine solche vielleicht überhaupt nicht zu. Manche Fragesteller haben hinzugefügt: wenn sich ergeben sollte, dass das Leben keinen Zweck hat, dann würde es jeden Wert für sie verlieren. Aber diese Drohung ändert nichts. Es scheint vielmehr, dass man ein Recht dazu hat, die Frage abzulehnen. Ihre Voraussetzung scheint jene menschliche Überhebung, von der wir soviel andere Äußerungen bereits kennen.“ Für Freud ist es zunächst vor allem die Religion, die diese Frage nach einem Sinn des Lebens beantworten kann: „Man wird kaum irren zu entscheiden, dass die Idee eines Lebenszweckes mit dem religiösen System steht und fällt. Wir wenden uns darum der anspruchsloseren Frage zu, was die Menschen selbst durch ihr Verhalten als Zweck und Absicht ihres Lebens erkennen lassen, was sie vom Leben fordern, in ihm erreichen wollen. Die Antwort darauf ist kaum zu verfehlen; sie streben nach dem Glück, sie wollen glücklich werden und so bleiben“. Freilich bleiben die Leistungen der Religion in den Augen des „gottlosen Juden“ (Peter Gay) Freud im Zusammenhang dieser Glückstechniken sehr begrenzt. Denn nur die Wissenschaft ist, im Gegensatz zur Religion, „keine Illusion“. Dies gilt letztlich auch für die menschlichen Wünsche und Hoffnungen, wenn man sie realistisch betrachtet: „Unser Gott Logos“, so sagt Freud, wird nur allmählich und in weiterer Zukunft Verbesserungen ermöglichen. Er bietet aber weder eine Entschädigung für uns, die wir am Leben leiden, noch einen religiösen Trost.19 Wie steht es in der Gegenwart in der Praktischen Philosophie um die Thematik einer Lebensführungs-/Lebensbewältigungskompetenz? Wenn man von einem „Lebenskünstler“ spricht, schwingt zwar häufig auch eine eher negative Einschätzung des Leichtlebigen, auf puren Lebensgenuss Ausgerichteten mit (der bereits erwähnte „Hedonismus“). Dennoch verweist der Begriff der „Lebenskunst“ auf ein heute ebenso wie in der Antike breit diskutiertes und gerade gegenwärtig wiederum besonders aktuelles Thema. Zu diesem Thema sagt der Philosoph Günter Bien: „Leben ist eine höchst aktive und stets zu erbringende Leistung. Leben muss – wie die Sprache richtig sagt – geführt, ja gemeistert und – noch um einen Ton verschärft formuliert – bewältigt werden. Weil das so ist, ist es auch so, dass eine Leben von Menschen durchaus auch in der Form verbracht werden kann, dass man von ihnen eher sagen muss, dass sie ,gelebt werden‘ oder dass sie ihr Leben vertan haben.“20 Ist also eine „Philosophie der Lebenskunst“ gegenwärtig in aller Munde, so ist Wilhelm Schmid (geb. 1953, Studium der Philosophie und Kunstge-

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schichte, vielfacher Gastdozent und philosophischer Seelsorger in einem Spital in der Nähe von Zürich) einer ihrer namhaftesten Autoren und überall ein gefragter Referent. Ein „gutes Leben“ ist für Schmid nicht mit einem simplen „Glauben an das Gute“ verbunden, der sich über die unvermeidbaren Widerfahrnisse, die uns bedrohen können, nicht im Klaren wäre. „Die Philosophie der Lebenskunst handelt daher weniger vom guten Leben, sondern eher – pragmatischer – vom gut geführten Leben und in diesem Sinne vom richtigen Leben. Das Leben gut und – nach Maßgabe der Abwägung aller grundlegenden Aspekte – richtig zu führen, ist der Versuch zur Realisierung eine erfüllten Lebens, erfüllt vom Bewusstsein der Existenz, erfüllt von der Erfahrung des gesamten Spektrums des Lebens, erfüllt vom vollen Genuss und Gebrauch des Lebens.“21 Schmids Diagnose erinnert an ältere Einsichten der Kulturkritik, auf deren bleibende wie zugleich bis heute noch gesteigerte Aktualität sie verweist: Unsere Gegenwart hat einen möglichen Lebensstil durch „Lifestyle“ ersetzt, durch eine oberflächliche Stilisierung, die keinerlei Mühe macht und in der Konsumgesellschaft käuflich ist. Tatsächlich aber ist gerade in der gewaltig beschleunigenden Moderne durch das Aufbrechen traditioneller Strukturen und die Imperative des Marktes eine Lebensorientierung, die diesen Namen wirklich verdient, notwendiger denn je und zugleich eine individuelle wie gesellschaftliche Bildungsaufgabe. Gegenüber einem bloßen Ausgeliefertsein an die Folgen der Moderne sollte eine „Philosophie der Lebenskunst“ zur bewussten „Wahl“ und „Urteilsbildung“ anhalten. Auch kann eine „Asketik“ [von griechisch „askéo“, „übe“ – nicht im Sinne von „Askese“] eine Einübung in die Lebenskunst ermöglichen. Schmid äußert sich hier zu den grundlegenden inhaltlichen Themenfeldern einer Philosophie der Lebenskunst wie Gewohnheiten, Lüsten, Schmerzen, Tod, Affekten und Zorn usw. Gegenüber „Goldener Regel“ und „kategorischem Imperativ“ stellt er den antiken Begriff der „(Lebens-)Klugheit“ („phrónesis“) heraus. Die „Lebenskunst“-Debatte zeigt, dass zwar von Philosophen „Sinn-Rezepte“ und „Seelenstärkung“ im Sinne bereitzuhaltender Vorgaben nicht erwartet werden können. Worin wir Glück und Sinn finden werden, kann niemand uns in Anleitungsform formulieren. Individuelle Sinnstiftung kann nur das Ergebnis unserer eigenen Bildungsbemühungen und unserer Arbeit an uns selbst sein, zu der die Philosophie eher als Zulieferer und im Sinne einer methodischen Haltung auftreten kann, jene Vorstellungen über sich und die Welt, mit denen jede(r) von uns durch das Leben geht, bewusst zu machen und sie zu prüfen. Wenn auch mit aller Vorsicht vor womöglich erwarteten „Lebensrezepten“, so kann eine philosophisch bewusste Lebensform aber doch einen Raum bieten für ein „Innehalten“ und zur Formulierung von Lebensfragen, die sonst unreflektiert und un-bedacht blieben. Auch wenn Philosophie kein Therapieersatz in Lebenskrisen werden kann – wer seine Probleme philosophisch be-

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trachtet, sieht sie in einem größeren Rahmen, gewinnt so eine andere Sicht und profitiert von der Wirkung der Distanz und des kritischen Nachdenkens.

Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur Sokrates Der Grieche Sokrates (469–399 v. Chr.) ist vielleicht der berühmteste Philosoph überhaupt. Er selbst hat keine Schriften hinterlassen. Platon als Sokrates’ Schüler versetzt ihn in all die Dialoge, die er ihn mit verschiedenen Gesprächspartnern aus dem antiken Athen führen lässt. Sokrates ist der Weise, der durch sein Vorbild wirkt und einen Opfertod für den Erhalt der rechten Ordnung in der Gemeinschaft auf sich nimmt. „Die Wahrheit wird euch frei machen – Sokrates und Jesus“, lautet ein Buchtitel von Ernst R. Sandvoss, der Sokrates dem Begründer der christlichen Religion an die Seite stellt. Zugleich ist Sokrates aber auch ein „Satyr“, eine komisch-hässliche Gestalt, die mit aufgeworfener Nase dargestellt wird. Vor allem aber verkörpert Sokrates – ständig philosophierend unterwegs – das Ideal der Philosophie als einer allgemeinen, jeden Menschen betreffenden Angelegenheit, die mitten im Leben steht. Auf der Agorá, dem Markt, dem Zentrum des öffentlichen Lebens in Athen, hält er sich auf – nicht in elitären Zirkeln und hinter verschlossenen Türen. Sokrates zieht seine Mitbürger in sein Ringen um kritische Prüfung und Humanität hinein. Das Orakel von Delphi, so wird dies begründet, hat ihn einmal als den „weisesten aller Menschen“ bezeichnet. Sokrates beschließt daraufhin, die Menschen zu prüfen, da sich das doch leicht widerlegen lassen müsse. Es ergibt sich jedoch, dass diese Weisheit gerade darin liegt, um sein Nichtwissen zu wissen („Ich weiß, dass ich nichts weiß“). All dies ist in der Grundanlage ironisch und hintersinnig. Die scheinbare Naivität ist Verstellung, jedoch nicht als Selbstzweck, sondern in einer letztlich pädagogischen Absicht. Die freilich kann Menschen offenbar auch gegen die Philosophie aufbringen: Sokrates muss vor Gericht. In der „Apologie“, der „Verteidigungsrede“ gegen den (abwegigen) Vorwurf seiner Athener Ankläger Anytos und Meletos, er verderbe die Jugend und leugne die Götter, lässt Platon seinen Lehrer dessen Verständnis von der Rolle des Philosophen erläutern. Weit entfernt davon, sich schuldig zu bekennen, beantragt Sokrates ganz im Gegenteil eine besondere Anerkennung dessen, was er im Dienste der Stadt getan hat, so, wie man die Sieger der Olympischen Spiele ehrt: durch „Ehrenspeisung“. Der nachstehende Textauszug gibt eine zentrale Passage der „Apologie“ wieder. Trotz (oder wegen?) dieses Plädoyers wird Sokrates verurteilt und geht, obwohl die Flucht möglich gewesen wäre, für seine Überzeugungen in den Tod. Von Zum Weiterdenken

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seinen letzten Stunden erfahren wir übrigens nicht nur aus der „Apologie“, sondern auch aus dem „Phaidon“, in dem Platon der bewundernswürdigen heiteren Gelassenheit des Philosophen angesichts des Todes ein geniales und überaus wirkungsvolles literarisches Denkmal setzt. In dem sehr persönlich gehaltenen Rahmen unterhalten sich zwei Freunde, nämlich Phaidon, der Namensgeber, und Echekrates, über den Tod des Sokrates. Phaidon berichtet dem Echekrates von den Ereignissen, die zum Tode des Sokrates geführt haben und zählt die Namen der Schüler des Sokrates auf, die bei der Hinrichtung des Philosophen anwesend waren, darunter Simmias und Kebes („Platon aber, glaube ich, war krank“). Nachdem Sokrates von seinen Fesseln befreit ist, entspinnt sich ein Gespräch über die Unsterblichkeit der Seele und das Verhältnis des Philosophen zum Sterben. Sokrates ist keineswegs niedergeschlagen, sondern er ist es, der seine Freunde tröstet statt umgekehrt. Der Philosoph soll den Tod nicht fürchten, sondern sich im Gegenteil darauf freuen, wird doch die Seele der lästigen Fesseln des Körpers nunmehr ledig. Dies gilt freilich nur, wenn die Seele unsterblich ist. Platon, bei Abfassung des Dialoges in der Hauptphase der Entwicklung seiner eigenen Vorstellungen, lässt sie den Sokrates mit der Seinsart der Ideen vergleichen. Der Körper ist zerstörbar, jene sind es nicht. Die menschliche Seele wird den Körper ebenso überleben, wie sie schon vor der Geburt eines Menschen existiert hat. Der erhoffte Übergang in eine jenseitige Existenz ist ein „schönes Wagnis“ und eine „große Hoffnung“: „Denn schön ist der Preis und die Hoffnung groß“. Über das, was der historische Sokrates, der dem Tode mutig entgegen gegangen ist, über die Frage eines Lebens nach dem Tod gedacht haben mag, lässt sich allerdings nur spekulieren, denn der „Phaidon“ enthält bereits sehr deutlich metaphysische Vorstellungen Platons, die in diesem Punkt wohl mit einiger Sicherheit über die seines Lehrers hinausgegangen sind. Sokrates jedenfalls lässt sich erklären, wie man die Wirkung des Giftes erwarten solle, trinkt dann den Schierlingsbecher und stirbt. Mit Sokrates beginnt das Projekt der praktischen Vernunft, Typhon, dem drachenköpfigen Ungeheuer (Phaidros 230a) in uns zu entrinnen und am Ringen um die Vernunft als Humanum Anteil zu gewinnen (Ekkehard Martens). Noch vor Gericht lässt Platon seinen Lehrer – der zuerst zur Ruhe mahnen muss – wie folgt sprechen: Die Apologie (Verteidigungsrede) Kein Getümmel, ihr Athener, sondern harret mir aus bei dem, was ich euch gebeten, mir nicht zu toben über das, was ich sage, sondern zu hören! Auch wird es euch, glaube ich, heilsam sein, wenn ihr es hört. Denn ich bin im Begriff, euch noch manches andere zu sagen, worüber ihr vielleicht schreien möchtet; aber keineswegs tut das! Denn wisst nur: Wenn ihr mich tötet, einen solchen Mann, wie ich sage, so werdet ihr mir nicht größer

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Leid zufügen als euch selbst. Denn Leid zufügen wird mir weder Meletos noch Anytos im Mindesten. Sie könnten es auch nicht: denn es ist, glaube ich, nicht in der Ordnung, dass dem besseren Manne von dem schlechteren Leid geschehe. Töten freilich kann mich einer, oder vertreiben oder des Bürgerrechtes berauben. Allein dies hält dieser vielleicht und sonst mancher für große Übel, ich aber gar nicht; sondern weit mehr, dergleichen tun, wie dieser jetzt tut: einen andern widerrechtlich suchen hinzurichten. Daher bin ich auch jetzt, ihr Athener, weit entfernt, um meiner selbst willen mich zu verteidigen, wie einer wohl denken könnte, sondern um euretwillen, damit ihr nicht gegen des Gottes Gabe an euch etwas sündiget durch meine Verurteilung. Denn wenn ihr mich hinrichtet, werdet ihr nicht leicht einen andern solchen finden, der ordentlich, sollte es auch lächerlich gesagt scheinen, von dem Gotte der Stadt beigegeben ist, wie einem großen und edlen Rosse, das aber eben seiner Größe wegen sich zur Trägheit neigt und der Anreizung durch den Sporn bedarf, wie mich scheint der Gott dem Staate als einen solchen zugelegt zu haben, der ich auch euch einzeln anzuregen, zu überreden und zu verweisen den ganzen Tag nicht aufhöre, überall euch anliegend. Ein anderer solcher nun wird euch nicht leicht wieder werden, ihr Männer. Wenn ihr also mir folgen wollt, werdet ihr meiner schonen. Ihr aber werdet vielleicht verdrießlich, wie die Schlummernden, wenn man sie aufweckt, um euch stoßen und mich, dem Anytos folgend, leichtsinnig hinrichten, dann aber das übrige Leben weiter fort schlafen, wenn euch nicht der Gott wieder einen andern zuschickt aus Erbarmen. Dass ich aber ein solcher bin, der wohl von dem Gotte der Stadt mag geschenkt sein, das könnt ihr hieraus abnehmen: Denn nicht wie etwas Menschliches sieht es aus, dass ich das Meinige samt und sonders versäumt habe und so viele Jahre schon ertrage, dass meine Angelegenheiten zurückstehen, dass ich aber immer die eurigen betreibe, an jeden einzeln mich wendend und wie ein Vater oder älterer Bruder ihm zuredend, sich doch die Tugend angelegen sein zu lassen. Und wenn ich hiervon noch einen Genuss hätte und um Lohn andere so ermahnte, so hätte ich noch einen Grund. Nun aber seht ihr ja selbst, dass meine Ankläger, so schamlos sie mich auch alles andern beschuldigen, dieses doch nicht erreichen konnten mit ihrer Schamlosigkeit, einen Zeugen aufzustellen, dass ich jemals einen Lohn mir ausgemacht oder gefordert hätte. Ich aber stelle, meine ich, einen hinreichenden Zeugen für die Wahrheit meiner Aussage: meine Armut. Vielleicht könnte auch dies jemanden ungereimt dünken, dass ich, um Einzelnen zu raten, umhergehe und mir viel zu schaffen mache, öffentlich aber mich nicht erdreiste, in eurer Versammlung auftretend dem Staate zu

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raten. Hiervon ist nun die Ursache, was ihr mich oft und vielfältig sagen gehört habt, dass mir etwas Göttliches und Daimonisches widerfährt, was auch Meletos in seiner Anklage auf Spott gezogen hat. Mir aber ist dieses von meiner Kindheit an geschehen: eine Stimme nämlich, welche jedes Mal, wenn sie sich hören lässt, mir von etwas abredet, was ich tun will, – zugeredet aber hat sie mir nie. Das ist es, was sich mir widersetzt, dass ich nicht soll Staatsgeschäfte betreiben. Und sehr mit Recht scheint es mir sich dem zu widersetzen: Denn wisst nur, ihr Athener, wenn ich schon vor langer Zeit unternommen hätte, Staatsgeschäfte zu betreiben, so wäre ich auch schon längst umgekommen und hätte weder euch etwas genutzt noch auch mir selbst. Werdet mir nur nicht böse, wenn ich die Wahrheit rede! Denn kein Mensch kann sich erhalten, der sich – sei es nun euch oder einer andern Volksmenge – tapfer widersetzt und viel Ungerechtes und Gesetzwidriges im Staate zu verhindern sucht: sondern notwendig muss, wer in der Tat für die Gerechtigkeit streiten will, auch wenn er sich nur kurze Zeit erhalten soll, ein zurückgezogenes Leben führen, nicht ein öffentliches. Platon, Apologie 30e–32a. Nach: Platons Werke (deutsch) von F. Schleiermacher. Ersten Teiles zweiter Band, Berlin: Druck und Verlag von Georg Reimer 1855, 145 – 147 (leicht überarbeitet).

Aristoteles Wie in seiner theoretischen Philosophie geht Aristoteles auch in der praktischen Philosophie, also in Fragen der Ethik und Politik, vom Blick auf alltägliche Lebensvollzüge aus. Er sieht sich konfrontiert mit dem Verfall des antiken Stadtstaates, der „Polis“ (wie auch Athen eine ist). Dieser Verfall findet seinen Ausdruck z. B. darin, dass ein Sokrates wegen Gotteslästerung und Jugendverführung verurteilt und hingerichtet werden kann und ein ähnliches Schicksal auch dem Aristoteles zugedacht war (der sich diesem Ansinnen freilich entzog, um, wie es heißt, den Athenern nicht zum zweiten Male die Möglichkeit zu bieten, sich an der Philosophie zu vergreifen). Die folgende Passage aus der Nikomachischen Ethik (entstanden zwischen 335 und 323 v. Chr.) zeigt das aristotelische Nachdenken über die unterschiedlichen Auffassungen vom guten Leben und über dessen letztliches Ziel. Lehre von den Lebensformen (Nikomachische Ethik) Unter dem Guten und der Glückseligkeit versteht im Anschluss an die tägliche Erfahrung der große Haufe und die Leute von niedrigster Gesinnung die Lustempfindung, und zwar wie man annehmen möchte, nicht ohne Grund. Sie haben deshalb ihr Genüge an einem auf den Genuss gerichteten Leben. Denn es gibt drei am meisten hervorstechende Arten der

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Lebensführung: die soeben genannte, dann das Leben in den Geschäften und drittens das der reinen Betrachtung gewidmete Leben. Der große Haufe bietet das Schauspiel, wie man mit ausgesprochenem Knechtssinn sich ein Leben nach der Art des lieben Viehs zurechtmacht; und der Standpunkt erringt sich Ansehen, weil manche unter den Mächtigen der Erde Gesinnungen wie die eines Sardanapal teilen. Die vornehmeren Geister, die zugleich auf das Praktische gerichtet sind, streben nach Ehre; denn diese ist es doch eigentlich, die das Ziel des in den Geschäften aufgehenden Lebens bildet. Indessen, auch dieses ist augenscheinlich zu äußerlich, um für das Lebensziel, dem wir nachforschen, gelten zu dürfen. Dort hängt das Ziel, wie man meinen möchte, mehr von denen ab, die die Ehre erweisen, als von dem, der sie empfängt; unter dem höchsten Gute aber stellen wir uns ein solches vor, das dem Subjekte innerlich und unentreißbar zugehört. Außerdem macht es ganz den Eindruck, als jage man der Ehre deshalb nach, um den Glauben an seine eigene Tüchtigkeit besser nähren zu können; wenigstens ist die Ehre, die man begehrt, die von Seiten der Einsichtigen und derer, denen man näher bekannt ist, und das auf Grund bewiesener Tüchtigkeit. Offenbar also, dass nach Ansicht dieser Leute die Tüchtigkeit doch den höheren Wert hat selbst der Ehre gegenüber. Da könnte nun einer wohl zu der Ansicht kommen, das wirkliche Ziel des Lebens in den Geschäften sei vielmehr diese Tüchtigkeit. Indessen auch diese erweist sich als hinter dem Ideal zurückbleibend. Denn man könnte es sich immerhin als möglich vorstellen, dass jemand, der im Besitze der Tüchtigkeit ist, sein Leben verschlafe oder doch nie im Leben von ihr Gebrauch mache, und dass es ihm außerdem recht schlecht ergehe und er das schwerste Leid zu erdulden habe. Wer aber ein Leben von dieser Art führt, den wird niemand glücklich preisen, es sei denn aus bloßer Rechthaberei, die hartnäckig auf ihrem Satz besteht. Doch genug davon, über den Gegenstand ist in der populären Literatur ausreichend verhandelt worden. Die dritte Lebensrichtung ist die der reinen Betrachtung gewidmete; über sie werden wir weiterhin handeln. […] Und so ergibt sich denn, dass das glückselige Leben doch wohl das der sittlichen Gesinnung gemäße Leben ist; dieses aber ist ein Leben ernster Tätigkeit und nicht des Spieles. Wir nennen denn auch ernste Tätigkeit preiswürdiger als die Belustigung, auch wenn sie unterhaltend ist, und wir bezeichnen jedes Mal diejenige Betätigung als die edlere, welche die des höher stehenden Vermögens und des höher stehenden Menschen ist. Die Tätigkeit dieses Höherstehenden ist mithin auch die wertvollere und glückseligere. Sinnliche Befriedigung mag ein Beliebiger und ein Sklave nicht weniger genießen als der Herrlichste. Anteil an seiner Glückseligkeit aber gewährt niemand einem Sklaven, wenn er ihm nicht auch einen An-

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teil an der entsprechenden Lebensführung gewährt. Denn nicht in Unterhaltungen von jener Art besteht die Eudämonie, sondern in den der sittlichen Gesinnung entsprechenden Tätigkeiten. Das haben wir schon oben dargelegt. Besteht aber die Eudämonie in der der rechten Beschaffenheit entsprechenden Betätigung, so liegt nahe, dass es sich dabei um diejenige innerliche Beschaffenheit handeln wird, die die herrlichste ist, also doch wohl um die rechte Beschaffenheit dessen, was an uns das Edelste ist. Mag dieses nun denkende Vernunft, mag es etwas anderes sein, was seiner Natur nach zur Herrschaft und Leitung und zum bewussten Ergreifen des Idealen und Göttlichen berufen scheint; mag es an sich ein Göttliches, oder das in uns am meisten Gottähnliche sein: die Betätigung eben dieses Herrlichsten gemäß seines ihm eigentümlichen Adels würde die vollendete Eudämonie bedeuten. Dass nun diese Betätigung die reine Betrachtung ist, haben wir dargelegt. und wir dürfen wohl sagen, dass es wie mit dem vorher Ausgeführten, so auch mit der Wahrheit der Tatsachen übereinstimmt. Denn unter allen Betätigungsarten ist diese die herrlichste, wie unter unseren Vermögen die denkende Vernunft, unter den Objekten aber die der reinen Vernunfterkenntnis entsprechenden die herrlichsten sind. Diese Betätigungsart ist außerdem die am meisten stetige. Denn in reiner Betrachtung vermögen wir eher als in irgendeiner Tätigkeit nach außen stetig zu verharren. Wir sind ferner überzeugt, dass die Eudämonie mit innerer Befriedigung verbunden sein müsse. Solche Befriedigung gewährt nach allgemeinem Zugeständnis unter den der rechten inneren Beschaffenheit entsprechenden Betätigungen am meisten diejenige, die der Wahrheitserkenntnis gilt. Wenigstens darf man soviel sagen, dass das Wahrheitsstreben eine Befriedigung von wunderbarer Reinheit und Zuverlässigkeit gewährt, und es ist ein einleuchtender Satz, dass der Zustand des Wissens noch größere Freude bereitet als der des Suchens. Auch was man Selbstgenüge nennt, findet sich am meisten bei der reinen Betrachtung. Denn die Bedürfnisse des Lebens sind dem Weisen und Gerechten ebenso nötig wie den übrigen. Sind sie aber mit dergleichen hinlänglich versehen, so bedarf der Gerechte noch anderer, in bezug auf welche und in Verbindung mit welchen er seine Gerechtigkeit betätigen kann, und das gleiche gilt von dem Besonnenen und dem Willensstarken und jedem anderen. Der Wahrheitsfreund dagegen kann auch für sich allein der Betrachtung leben, und umso mehr, je mehr er Wahrheitsfreund ist. Vielleicht ist es noch besser, wenn er gleichgesinnte Genossen hat, aber gleichwohl, sich selbst genug zu sein, das kommt ihm am meisten zu. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1095b; 1177a. Ins Deutsche übertragen von Adolf Lasson. Diederichs: Jena 1909, 5 f., 229 – 230 (leicht überarbeitet).

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John Stuart Mill Für den englischen Nationalökonomen und Utilitaristen John Stuart Mill (1806–1873) hat das vom Utilitarismus angestrebte Glück ausdrücklich auch eine qualitative, nicht nur quantitative Dimension. Maßstab ist die Einschätzung derer, die ihrem Erfahrungshorizont nach, auch in Selbsterfahrung und Selbstbeobachtung, die besten Vergleichsmöglichkeiten besitzen: Die Auffassung, für die die Nützlichkeit oder das Prinzips des größten Glücks die Grundlage der Moral ist, besagt, dass Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch sind, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken. Unter ,Glück‘ ist dabei Lust (pleasure) und das Freisein von Unlust (pain), unter Unglück Unlust und das Fehlen von Lust verstanden […] Eine solche Lebensauffassung stößt bei vielen Menschen, darunter manchen, deren Fühlen und Trachten im höchsten Maße achtenswert ist, auf eingewurzelte Abneigung. Der Gedanke, dass das Leben (wie sie sagen) keinen höheren Zweck habe als die Lust, kein besseres und edleres Ziel des Wollens und Strebens, erscheint ihnen im äußersten Grade niedrig und gemein; als Ansicht, die nur der Schweine würdig wäre, mit denen die Anhänger Epikurs ja schon sehr früh verächtlich gleichgesetzt wurden […] Auf Angriffe dieser Art haben die Epikureer stets geantwortet, dass nicht sie, sondern ihre Ankläger es sind, die die menschliche Natur in entwürdigendem Licht erscheinen lassen, da die Anklage ja unterstellt, dass die Menschen keiner anderen Lust fähig sind als der, deren auch Schweine fähig sind […] Die Menschen haben höhere Fähigkeiten als bloß tierische Gelüste und vermögen, sobald sie dieser einmal bewusst geworden sind, nur darin ihr Glück zu sehen, worin deren Betätigung eingeschlossen ist. J. St. Mill, Der Utilitarismus. Übs. v. D. Birnbacher, Stuttgart (Reclam) 1976, 2. Aufl. 1997, Zitat 21.

Immanuel Kant Was ist „gut“? „Gut“, so macht Kant in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785) deutlich, ist nur der moralisch gute Wille. Woran muss sich der gute Wille orientieren? An „Pflicht“ und „Moralgesetz“. Im „kategorischen Imperativ“ hat Kants Ansatz seinen berühmten Ausdruck gefunden. Der „Neigung“ misstraut der Philosoph. Nur eine Handlung „aus Pflicht“ nach dem kategorischen Imperativ, bewirkt durch die Vernunfteinsicht in das Moralgesetz, kann als moralisch gelten. Berühmt sind Friedrich Schillers (1759–1805) vielzitierte, bissige und kritische Distichen hierzu:

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„Gewissensscrupel. Gerne dien ich den Freunden, doch thu ich es leider mit Neigung, Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin. Decisum. Da ist kein anderer Rath, du musst suchen, sie zu verachten, Und mit Abscheu alsdann thun, wie die Pflicht dir gebeut“.22 Aus Furcht vor dessen wechselhaften Gestimmtheiten scheint Kant das bloße Gefühl, das keine Grundlage universaler Moral abzugeben geeignet ist, eindeutig abzuwerten: Gegenüber dem guten Willen, der wie ein „Juwel“ glänze , spricht er von „pathologischer Liebe“, „Hang der Empfindung“ und „schmelzender Teilnehmung“. Man müsste freilich nur ein einziges Wort aus Schillers Versen bedenken, um die schroffe Entgegensetzung zu mildern. „Mit Neigung“ zu handeln, verbietet Kant keinesfalls, nur eben „aus Neigung“ soll es nicht sein … Gut ist nur der gute Wille Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille. Verstand, Witz, Urteilskraft, und wie die Talente des Geistes sonst heißen mögen, oder Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze, als Eigenschaften des Temperaments, sind ohne Zweifel in mancher Absicht gut und wünschenswert; aber sie können auch äußerst böse und schädlich werden, wenn der Wille, der von diesen Naturgaben Gebrauch machen soll und dessen eigentümliche Beschaffenheit darum Charakter heißt, nicht gut ist. Mit den Glücksgaben ist es eben so bewandt. Macht, Reichtum, Ehre, selbst Gesundheit, und das ganze Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem Zustande, unter dem Namen der Glückseligkeit, machen Mut und hierdurch öfters auch Übermut, wo nicht ein guter Wille da ist, der den Einfluss derselben aufs Gemüt, und hiermit auch das ganze Prinzip zu handeln, berichtige und allgemein-zweckmäßig mache; ohne zu erwähnen, dass ein vernünftiger unparteiischer Zuschauer sogar am Anblicke eines ununterbrochenen Wohlergehens eines Wesens, das kein Zug eines reinen und guten Willens zieret, nimmermehr ein Wohlgefallen haben kann, und so der gute Wille die unerlässliche Bedingung selbst der Würdigkeit, glücklich zu sein, auszumachen scheint. Einige Eigenschaften sind sogar diesem guten Willen selbst beförderlich und können sein Werk sehr erleichtern, haben aber dem ungeachtet keinen innern unbedingten Wert, sondern setzen immer noch einen guten Willen voraus, der die Hochschätzung, die man übrigens mit Recht für sie trägt, einschränkt, und es nicht erlaubt, sie für schlechthin gut zu halten. Mäßigung in Affekten und Leidenschaften, Selbstbeherrschung und nüch-

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terne Überlegung sind nicht allein in vielerlei Absicht gut, sondern scheinen sogar einen Teil vom inneren Werte der Person auszumachen; allein es fehlt viel daran, um sie ohne Einschränkung für gut zu erklären (so unbedingt sie auch von den Alten gepriesen worden). Denn ohne Grundsätze eines guten Willens können sie höchst böse werden, und das kalte Blut eines Bösewichts macht ihn nicht allein weit gefährlicher, sondern auch unmittelbar in unsern Augen noch verabscheuungswürdiger, als er ohne dieses dafür würde gehalten werden. Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut und, für sich selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja wenn man will, der Summe aller Neigungen nur immer zu Stande gebracht werden könnte. […] Es liegt gleichwohl in dieser Idee von dem absoluten Werte des bloßen Willens, ohne einigen Nutzen bei Schätzung desselben in Anschlag zu bringen, etwas so Befremdliches, dass unerachtet aller Einstimmung selbst der gemeinen Vernunft mit derselben dennoch ein Verdacht entspringen muss, dass vielleicht bloß hochfliegende Phantasterei insgeheim zum Grunde liege, und die Natur in ihrer Absicht, warum sie unserm Willen Vernunft zur Regiererin beigelegt habe, falsch verstanden sein möge. Daher wollen wir diese Idee aus diesem Gesichtspunkte auf die Prüfung stellen. In den Naturanlagen eines organisierten, d. i. zweckmäßig zum Leben eingerichteten, Wesens nehmen wir es als Grundsatz an, dass kein Werkzeug zu irgend einem Zwecke in demselben angetroffen werde, als was auch zu demselben das schicklichste und ihm am meisten angemessen ist. Wäre nun an einem Wesen, das Vernunft und einen Willen hat, seine Erhaltung, sein Wohlergehen, mit einem Worte seine Glückseligkeit, der eigentliche Zweck der Natur, so hätte sie ihre Veranstaltung dazu sehr schlecht getroffen, sich die Vernunft des Geschöpfs zur Ausrichterin dieser ihrer Absicht zu ersehen. Denn alle Handlungen, die es in dieser Absicht auszuüben hat, und die ganze Regel seines Verhaltens würden ihm weit genauer durch Instinkt vorgezeichnet und jener Zweck weit sicherer dadurch haben erhalten werden können, als es jemals durch Vernunft geschehen kann, und sollte diese ja obenein dem begünstigten Geschöpf erteilt worden sein, so würde sie ihm nur dazu haben dienen müssen, um über die glückliche Anlage seiner Natur Betrachtungen anzustellen, sie zu bewundern, sich ihrer zu erfreuen und der wohltätigen Ursache dafür dankbar zu sein; nicht aber, um sein Begehrungsvermögen jener schwachen und trüglichen Leitung zu unterwerfen und in der Naturabsicht zu

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pfuschen; mit einem Worte, sie würde verhütet haben, dass Vernunft nicht in praktischen Gebrauch ausschlüge und die Vermessenheit hätte, mit ihren schwachen Einsichten ihr selbst den Entwurf der Glückseligkeit und der Mittel dazu zu gelangen auszudenken; die Natur würde nicht allein die Wahl der Zwecke, sondern auch der Mittel selbst übernommen und beide mit weiser Vorsorge lediglich dem Instinkte anvertraut haben. In der Tat finden wir auch, dass, je mehr eine kultivierte Vernunft sich mit der Absicht auf den Genuss des Lebens und der Glückseligkeit abgibt, desto weiter der Mensch von der wahren Zufriedenheit abkomme, woraus bei vielen und zwar den Versuchtesten im Gebrauche derselben, wenn sie nur aufrichtig genug sind, es zu gestehen, ein gewisser Grad von Misologie, d. i. Hass der Vernunft, entspringt, weil sie nach dem Überschlage alles Vorteils, den sie, ich will nicht sagen von der Erfindung aller Künste des gemeinen Luxus sondern von den Wissenschaften (die ihnen am Ende auch ein Luxus des Verstandes zu sein scheinen) ziehen, dennoch finden, dass sie sich in der Tat nur mehr Mühseligkeit auf den Hals gezogen, als an Glückseligkeit gewonnen haben und darüber endlich den gemeinern Schlag der Menschen, welcher der Leitung des bloßen Naturinstinkts näher ist, und der seiner Vernunft nicht viel Einfluss auf sein Tun und Lassen verstattet, eher beneiden als gering schätzen. Und so weit muss man gestehen, dass das Urteil derer, die die ruhmredige Hochpreisungen der Vorteile, die uns die Vernunft in Ansehung der Glückseligkeit und Zufriedenheit des Lebens verschaffen sollte, sehr mäßigen und sogar unter Null herabsetzen, keineswegs grämisch, oder gegen die Güte der Weltregierung undankbar sei, sondern dass diesen Urteilen insgeheim die Idee von einer andern und viel würdigern Absicht ihrer Existenz zum Grunde liege, zu welcher und nicht der Glückseligkeit die Vernunft ganz eigentlich bestimmt sei, und welcher darum als oberster Bedingung die Privatabsicht des Menschen größtenteils nachstehen muss! Denn da die Vernunft dazu nicht tauglich genug ist, um den Willen in Ansehung der Gegenstände desselben und der Befriedigung aller unserer Bedürfnisse (die sie zum Teil selbst vervielfältigt) sicher zu leiten, als zu welchem Zwecke ein eingepflanzter Naturinstinkt viel gewisser geführt haben würde, gleichwohl aber uns Vernunft als praktisches Vermögen, d. i. als ein solches, das Einfluss auf den Willen haben soll, dennoch zugeteilt ist: So muss die wahre Bestimmung derselben sein, einen nicht etwa in anderer Absicht als Mittel, sondern an sich selbst guten Willen hervorzubringen, wozu schlechterdings Vernunft nötig war, wo anders die Natur überall in Austeilung ihrer Anlagen zweckmäßig zu Werke gegangen ist. Dieser Wille darf also zwar nicht das einzige und das ganze, aber er muss doch das höchste Gut und zu allem Übrigen, selbst allem Verlangen nach

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Glückseligkeit die Bedingung sein, in welchem Falle es sich mit der Weisheit der Natur gar wohl vereinigen lässt, wenn man wahrnimmt, dass die Kultur der Vernunft, die zur erstern und unbedingten Absicht erforderlich ist, die Erreichung der zweiten, die jederzeit bedingt ist, nämlich der Glückseligkeit, wenigstens in diesem Leben auf mancherlei Weise einschränke, ja sie selbst unter Nichts herabbringen könne, ohne dass die Natur darin unzweckmäßig verfahre, weil die Vernunft, die ihre höchste praktische Bestimmung in der Gründung eines guten Willens erkennt, bei Erreichung dieser Absicht nur einer Zufriedenheit nach ihrer eigenen Art, nämlich aus der Erfüllung eines Zwecks, den wiederum nur Vernunft bestimmt, fähig ist, sollte dieses auch mit manchem Abbruch, der den Zwecken der Neigung geschieht, verbunden sein. Der kategorische Imperativ Endlich gibt es einen Imperativ, der, ohne irgendeine andere durch ein gewisses Verhalten zu erreichende Absicht als Bedingung zum Grunde zu legen, dieses Verhalten unmittelbar gebietet. Dieser Imperativ ist kategorisch. Er betrifft nicht die Materie der Handlung und das, was aus ihr erfolgen soll, sondern die Form und das Prinzip, woraus sie selbst folgt, und das Wesentlich-Gute derselben besteht in der Gesinnung, der Erfolg mag sein, welcher er wolle. Dieser Imperativ mag der der Sittlichkeit heißen […] Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Wenn nun aus diesem einigen Imperativ alle Imperativen der Pflicht, als aus ihrem Prinzip, abgeleitet werden können, so werden wir, ob wir es gleich unausgemacht lassen, ob nicht überhaupt das, was man Pflicht nennt, ein leerer Begriff sei, doch wenigstens anzeigen können, was wir dadurch denken und was dieser Begriff sagen wolle. Ein Handeln aus Neigung reicht unter moralischem Aspekt nicht aus Gesetzt also, das Gemüt (eines) Menschenfreundes wäre vom eigenen Gram umwölkt, der alle Teilnehmung an anderer Schicksal auslöscht, er hätte immer noch Vermögen, andern Notleidenden wohl zu tun, aber fremde Not rührte ihn nicht, weil er mit seiner eignen genug beschäftigt wäre, und nun, da keine Neigung ihn mehr dazu anreizt, risse er sich doch aus dieser tödlichen Unempfindlichkeit heraus, und täte die Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht, alsdenn hat sie allererst ihren echten moralischen Wert. Noch mehr: wenn die Natur diesem oder jenem überhaupt wenig Sympathie ins Herz gelegt hätte, wenn er (übrigens ein

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ehrlicher Mann) von Temperament kalt und gleichgültig gegen die Leiden anderer wäre, vielleicht, weil er, selbst gegen seine eigene mit der besondern Gabe der Geduld und aushaltenden Stärke versehen, dergleichen bei jedem andern auch voraussetzt, oder gar fordert; wenn die Natur einen solchen Mann (welcher wahrlich nicht ihr schlechtestes Produkt sein würde) nicht eigentlich zum Menschenfreunde gebildet hätte, würde er denn nicht noch in sich einen Quell finden, sich selbst einen weit höhern Wert zu geben, als der eines gutartigen Temperaments sein mag? Allerdings! gerade da hebt der Wert des Charakters an, der moralisch und ohne alle Vergleichung der höchste ist, nämlich dass er wohl tue, nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht. […] So sind ohne Zweifel auch die Schriftstellen zu verstehen, darin geboten wird, seinen Nächsten, selbst unsern Feind, zu lieben. Denn Liebe als Neigung kann nicht geboten werden, aber Wohltun aus Pflicht, selbst, wenn dazu gleich gar keine Neigung treibt, ja gar natürliche und unbezwingliche Abneigung widersteht, ist praktische und nicht pathologische Liebe, die im Willen liegt und nicht im Hange der Empfindung, in Grundsätzen der Handlung und nicht schmelzender Teilnehmung; jene aber allein kann geboten werden. I. Kants gesammelte Schriften, hrsgg. von der Königl. Preuß. Akad. d. Wiss., Abtlg. Werke, Verlag von Georg Reimer, Berlin 1911, Bd. IV, 393 – 296; 416, 421; 398 f.

Arthur Schopenhauer Schopenhauer (1788–1860) war der Sohn eines begüterten Danziger Kaufmanns und konnte so, nachdem er zunächst Privatdozent in Berlin gewesen war, vom ererbten väterlichen Vermögen als Privatgelehrter in Frankfurt leben. Der spöttische, schwarzgallige Alte wurde zu einer der markantesten Philosophengestalten des 19. Jahrhunderts. Der Anblick elender Sträflinge in Toulon öffnete Schopenhauer die Augen für die wahre Beschaffenheit des Lebens. „Die Welt ist eben die Hölle“, so heißt es im folgenden Textauszug „und die Menschen sind einerseits die gequälten Seelen und andererseits die Teufel darin“ (!). Vielleicht wurde der berühmt gewordene Schopenhauersche Pessimismus von familiären Einflüssen wie der depressiven Lebensangst des Vaters geprägt. Vielleicht spielte auch ein enttäuschter Ehrgeiz mit, weil die Welt erst spät sein Genie zu würdigen wusste und ihm der verhasste Konkurrent Hegel (in Schopenhauers Augen ein „Zusammenschmierer sinnleerer, rasender Wortgeflechte, wie man sie bis dahin nur in Tollhäusern vernommen hatte“) zunächst vorgezogen wurde. Jedenfalls sieht Schopenhauer die Welt nicht von einem höheren Sinn, sondern von einem blinden, in den Menschen gegen sich selber wütenden und darum Leid erzeugenden „Willen“ beherrscht. Dieser „Wille“ treibt uns unvermeidlich an. Ihm kann man nicht befehlen. Nur in der Kunst, vor allem der Musik, kann man „auf

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Augenblicke“ dem Leid entkommen. Schopenhauers Ausführungen lassen sich eher einer „Philosophie der Lebenskunst“ als einer strikten Moralbegründung zuordnen. Man kann mit Bezug auf die Schlussüberlegung Kant gegenüber auch von einer „Rehabilitierung des Mitleids“ sprechen. Parerga und Paralipomena § 146 Versucht man, die Gesamtheit der Menschenwelt in einem Blick zusammenzufassen; so erblickt man überall einen rastlosen Kampf, ein gewaltiges Ringen mit Anstrengung aller Körper- und Geisteskräfte um Leben und Dasein, drohenden und jeden Augenblick treffenden Gefahren und Übeln aller Art gegenüber. – Und betrachtet man dann den Preis, dem alles dieses gilt, das Dasein und Leben selbst, so findet man einige Zwischenräume schmerzloser Existenz, auf welche sogleich die Langeweile Angriff macht und welche neue Not schnell beendigt. Dass hinter der Not sogleich die Langeweile liegt, welche sogar die klügeren Tiere befällt, ist eine Folge davon, dass das Leben keinen wahren echten Gehalt hat, sondern bloß durch Bedürfnis und Illusion in Bewegung erhalten wird: sobald aber diese stockt, tritt die gänzliche Kahlheit und Leere des Daseins zutage. § 155 In früher Jugend sitzen wir vor unserm bevorstehenden Lebenslauf wie die Kinder vor dem Theatervorhang in froher und gespannter Erwartung der Dinge, die da kommen sollen – ein Glück, dass wir nicht wissen, was wirklich kommen wird! Denn wer es weiß, dem können zuzeiten die Kinder vorkommen wie unschuldige Delinquenten, die zwar nicht zum Tode, hingegen zum Leben verurteilt sind, jedoch den Inhalt ihres Urteils noch nicht vernommen haben. – Nichtsdestoweniger wünscht jeder sich ein hohes Alter, also einen Zustand, darin es heißt: „Es ist heute schlecht und wird nun täglich schlechter werden – bis das Schlimmste kommt.“ § 156 Wenn man, soweit es annäherungsweise möglich ist, die Summe von Not, Schmerz und Leiden jeder Art sich vorstellt, welche die Sonne in ihrem Laufe bescheint; so wird man einräumen, dass es viel besser wäre, wenn sie auf der Erde sowenig wie auf dem Monde hätte das Phänomen des Lebens hervorrufen können, sondern, wie auf diesem, so auch auf jener die Oberfläche sich noch im kristallinischen Zustande befände. – Man kann auch unser Leben auffassen als eine unnützerweise störende Episode in der seligen Ruhe des Nichts. Jedenfalls wird selbst der, dem es

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darin erträglich ergangen, je länger er lebt, desto deutlicher inne, da es im Ganzen „a disappointment, nay, a cheat“ [eine Enttäuschung, sogar eine Täuschung] ist oder, deutsch zu reden; den Charakter einer großen Mystifikation, nicht zu sagen: einer Prellerei trägt. – Wenn zwei Jugendfreunde nach der Trennung eines ganzen Menschenalters sich als Greise wiedersehn, so ist das vorherrschende Gefühl, welches ihr eigener Anblick, weil an ihn sich die Erinnerung früherer Zeit knüpft, gegenseitig erregt, das des gänzlichen Disappointment über das ganze Leben, als welches ehemals im rosigen Morgenlichte der Jugend so schön vor ihnen lag, so viel versprach und so wenig gehalten hat. Dies Gefühl herrscht bei ihrem Wiedersehn so entschieden vor, dass sie gar nicht einmal nötig erachten, es mit Worten auszudrücken, sondern, es gegenseitig stillschweigend voraussetzend, auf dieser Grundlage weitersprechen. Wer zwei oder gar drei Generationen des Menschengeschlechts erlebt, dem wird zumute wie dem Zuschauer der Vorstellungen der Gaukler aller Art in Buden während der Messe, wenn er sitzen bleibt und eine solche Vorstellung zwei- oder dreimal hintereinander wiederholen sieht: die Sachen waren nämlich nur auf eine Vorstellung berechnet, machen daher keine Wirkung mehr, nachdem die Täuschung und die Neuheit verschwunden ist. Man möchte toll werden, wenn man die überschwänglichen Anstalten betrachtet, die zahllosen flammenden Fixsterne im unendlichen Raum, die nichts weiter zu tun haben, als Welten zu beleuchten, die der Schauplatz der Not und des Jammers sind und im glücklichsten Fall nichts abwerfen als Langeweile – wenigstens nach dem uns bekannten Probestück zu urteilen. – Sehr zu beneiden ist niemand, sehr zu beklagen unzählige. – Das Leben ist ein Pensum zum Abarbeiten: in diesem Sinne ist defunctus [tot] ein schöner Ausdruck. – Man denke sich einmal, dass der Zeugungsakt weder ein Bedürfnis noch von Wollust begleitet, sondern eine Sache der reinen, vernünftigen Überlegung wäre: könnte wohl dann das Menschengeschlecht noch bestehn? Würde nicht vielmehr jeder soviel Mitleid mit der kommenden Generation gehabt haben, dass er ihr die Last des Daseins lieber erspart oder wenigstens es nicht hätte auf sich nehmen mögen, sie kaltblütig ihr aufzulegen? – Die Welt ist eben die Hölle, und die Menschen sind einerseits die gequälten Seelen und andererseits die Teufel darin. Da werde ich wohl wieder vernehmen müssen, meine Philosophie sei trostlos – eben nur weil ich nach der Wahrheit rede, die Leute aber hören wollen, Gott der Herr habe alles wohlgemacht. Geht in die Kirche und lasst die Philosophen in Ruhe! Wenigstens verlangt nicht, dass sie ihre

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Lehren eurer Abrichtung gemäß einrichten sollen: das tun die Lumpe, die Philosophaster; bei denen könnt ihr euch Lehren nach Belieben bestellen. […] Überhaupt aber schreiet gegen eine solche Ansicht der Welt als des gelungenen Werkes eines allweisen, allgütigen und dabei allmächtigen Wesens zu laut einerseits das Elend, dessen sie voll ist, und andererseits die augenfällige Unvollkommenheit und selbst burleske Verzerrung der vollendetesten ihrer Erscheinungen, der menschlichen. […] In der Tat ist die Überzeugung, dass die Welt, also auch der Mensch etwas ist, das eigentlich nicht sein sollte, geeignet, uns mit Nachsicht gegeneinander zu erfüllen: denn was kann man von Wesen unter solchem Prädikament erwarten? – Ja, von diesem Gesichtspunkt aus könnte man auf den Gedanken kommen, dass die eigentlich passende Anrede zwischen Mensch und Mensch statt „Monsieur“, „Sir“ usw. sein möchte „Leidensgefährte, soci malorum, compagnon de miseres, my fellow-sufferer“. So seltsam dies klingen mag, so entspricht es doch der Sache, wirft auf den andern das richtigste Licht und erinnert an das Nötigste: an die Toleranz, Geduld, Schonung und Nächstenliebe, deren jeder bedarf und die daher auch jeder schuldig ist. Nachträge zur Lehre von der Nichtigkeit des Daseins/Nachträge zur Lehre vom Leiden in der Welt. (Parerga und Paralipomena II). Arthur Schopenhauers sämtliche Werke, hrsgg. von Paul Deussen, München 1911–1927, Bd. 5, 1913, 312, 323 ff.

Arbeitsanregungen 1. Sokrates – Aristoteles – Mill – Kant – Schopenhauer: Überlegen Sie, ob sich jedem Textauszug eine Hauptthese zur Ethik zuordnen lässt! 2. Welche drei Lebensformen identifiziert der „empirische Sozialforscher“ Aristoteles? Lassen sie sich auch in unserer Gesellschaft finden? 3. Notieren Sie sich aus dem Text, auf welche Elemente Kant in seinen Aussagen zur Moral setzt und von welchen er sich abhebt. Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse mit den Ausführungen des Kapiteltextes zu Kant. 4. Schreiben Sie für sich die entscheidenden Aussagen Schopenhauers heraus. Können Sie zustimmen? 5. Schreiben Sie selbst einen Text: Kleine Philosophie des Glücks! 6. In ausdifferenzierten Gesellschaften wird es für deren Bürger immer schwieriger, ethische Fragen selbst mit zu entscheiden. Doch könnte es sich auf Dauer als fatal herausstellen, wenn ethische Fragen einfach an „Experten“ delegiert würden. Je mehr wir in die alltägliche Sachzwänge der Arbeits- und Konsumgesellschaft und nicht zuletzt der Unterhaltungsindustrie eingebunden sind, statt dass wir uns aktiv an philoso-

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phisch-ethischer Orientierung beteiligen, um so eher sinken die Chancen auf gesamtgesellschaftliche Diskussion und Mitwirkung, um so ungehemmter kann in den einschlägigen Teilsektoren entschieden werden, um so mehr schwinden die Möglichkeiten selbst engagierter Teilnehmer an Ethikkommissionen und ähnlichen Einrichtungen, auf die Entwicklung Einfluss zu nehmen. Es liegt darum, wozu schon ein Sokrates zu veranlassen suchte, auch an jedem Einzelnen, eine nachhaltige Praxis daraus zu machen, dass wir mit uns selbst und anderen darüber zu Rate gehen, wie wir als Menschen leben möchten, dass wir in der gemeinsamen Deutungsund Interpretationsarbeit unsere Urteilskraft schärfen und uns zugleich angesichts dringlicher Gegenwartsprobleme in die gesellschaftlichen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse einmischen. Beurteilen Sie Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Erwartung!

Literatur M. Düwell u. a. (Hrsg.), Handbuch Ethik. Stuttgart 2. Aufl. 2006 (empfehlenswerter Überblick. Darstellung zunächst der verschiedenen ethischen Haupttheorien, zweitens der sog. „angewandten“ und Bereichsethiken wie Bioethik, GenEthik, Wirtschaftsethik, schließlich 50 Beiträge zu ethischen Grundbegriffen, z. B. Freiheit, Gerechtigkeit, Gewissen, Glück, Person, Relativismus, Sollen, Verantwortung). O. Höffe, Aristoteles, München (Beck’sche Reihe: Denker) 3. Aufl. 2006 (gute Darstellung des Autors der „Nikomachischen Ethik“). Chr. Horn – C. Mieth (Hrsg.): Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (eine kommentierte Ausgabe dieses wichtigen Grundtextes, aus dem auch die Textauszüge zu Kant stammen), Frankfurt 2007. E. Martens, Sokrates, Stuttgart (Reclam) 2. Aufl. 2004 (lebendige und lesenswerte Vorstellung dieses für das Kapitelthema einschlägigen Philosophen). A. Pieper, Einführung in die Ethik (UTB/Francke) Tübingen 5. Aufl. 2003 (anerkannte Einführung in die philosophische Disziplin). R. Safranski, Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie, München 1987 (in seiner Darstellungsweise hochgelobtes, spannendes Buch). W. Schmid, Glück. Alles, was Sie darüber wissen müssen, und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist, Frankfurt 2007. F. J. Wetz – V. Steenblock (Hrsg.), Kolleg Praktische Philosophie. 4 Bde. Stuttgart 2008 (umfassender Überblick zu zahlreichen Feldern der Praktischen Philosophie, betrachtet in kulturellen Kontexten und vor dem Hintergrund säkularisierter Gesellschaften).

8 Politik – Realismus und Utopie

Nach der berühmten Definition des deutschen Gelehrten Max Weber (1864 –1920) ist ,Herrschaft‘ „die Chance […], für spezifische (oder für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden“.1 Wie aber sollte die Herrschaft im Staat beschaffen sein? Wie kann man Macht kontrollieren? Ist ein idealer Staat denkbar? Politik – Realismus und Utopie

Das Politische entsteht, ähnlich wie das Ethische, indem das Individuum sich mit der Grundtatsache konfrontiert sieht, nicht alleine auf der Welt zu sein. Es existiert vielmehr immer schon zusammen mit anderen, mit denen es sich auseinanderzusetzen hat, deren es aber auch bedarf. Politik im engeren Sinne zielt auf die ordnende Gestaltung eines dadurch notwendig werdenden menschlichen Zusammenlebens in einem Gemeinwesen. Wie in vielen anderen ihrer Teilbereiche steht die Philosophie in ihrem Nachdenken über diesen Gegenstand in engem Kontakt mit der entsprechenden Fachwissenschaft, also der Politikwissenschaft. Diese untersucht empirisch-methodisch die Funktionsweise politischer Systeme und beschäftigt sich mit den Themen: Internationale Politik, Staats-, Verfassungs- und Verwaltungslehre, Demokratieund Totalitarismustheorie usw.2 Man spricht aber auch z. B. von „Unternehmenspolitik“ und „Wissenschaftspolitik“ oder sogar von „Ideenpolitik“. Der Philosoph Helmuth Plessner (1892–1985) hat gesagt: „Es gibt Politik zwischen Mann und Frau, Herrschaft und Dienstboten, Lehrer und Schüler, Arzt und Patient, Künstler und Auftraggeber und welche privaten Beziehungen wir wollen, wie es im Öffentlichen eine Rechts-, Wirtschafts-, Kultur- und Religionspolitik, eine Sozialpolitik neben der eigentlichen Staats- und Parteienpolitik gibt.“3

8.1 Der Mensch – politisches Lebewesen oder Wolf seines Mitmenschen? Der Mensch als politisches Lebewesen

Was die Philosophie zur Politik sagen kann, ist von Anfang an mit der Frage nach dem Wesen des Menschen verbunden. Muss sich die philosophische Reflexion auf die bestehenden Verhältnisse einlassen und vom Menschen ausgehen, wie er ist? Wie aber ist der Mensch? Ist er ein politisches Lebewesen oder der „Wolf“ seines Mitmenschen? Wie kann er sich im „Dschungel des Sozia-

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Politik – Realismus und Utopie

len“ zurechtfinden? Kann die Philosophie eine ideale und vernünftige politische Organisationsform bzw. ein entsprechendes Gesellschaftssystem oder gar Erwartungen an einen „neuen Menschen“ normativ bestimmen? Als einer der ersten umfassend reflektierten politischen Denker entwickelt Aristoteles nicht wie sein Lehrer Platon die Vorstellung von einem idealen Staat (vgl. Textauszug), sondern er analysiert vorhandene Verfassungen, indem er in geradezu „klassisch“ gewordener Weise Königtum, Aristokratie und Politie [Demokratie] von den „Entartungsformen“ Tyrannis, Oligarchie und Ochlokratie/Pöbelherrschaft unterscheidet. Wichtig aber ist dies: Ein vernünftiges, der Bestimmung des Menschseins entsprechendes Leben kann der Mensch nur als Polisbürger führen. Aristoteles bestimmt in seiner Schrift „Politik“ den Menschen in klassisch gewordener, grundsätzlicher Weise als zoon politikón, als „politisches“, als ein für seine eigene Entwicklung auf ein Zusammenleben angewiesenes und zum Zusammenleben fähiges Lebewesen.4 Ihm widersprach, sozusagen über die Jahrhunderte hinweg antwortend, auf Grund seiner besonderen historischen Erfahrungen mit Krieg und Wirrungen der Staatsphilosoph Thomas Hobbes (1588–1679), der im England Cromwells und des restaurierten Königtums der Stuarts lebte. Hobbes prägte zur Charakterisierung des Naturzustandes die berühmt gewordene Formel vom „bellum omnium contra omnes“ („Krieg aller gegen alle“). Es sei ein Irrtum zu glauben, schreibt Hobbes, „dass der Mensch von Natur ein zur Gesellschaft geeignetes Wesen sei, also das, was die Griechen zoon politikón nennen“. Auf dieser Grundlage werde dann eine Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft errichtet, „als ob zur Erhaltung des Friedens und zur Regierung des menschlichen Geschlechts nichts weiter nötig wäre, als daß die Menschen sich auf gewisse Verträge und Bedingungen einigten, die sie selbst dann Gesetze nennen. Dieses Axiom ist jedoch trotz seiner weitverbreiteten Geltung falsch; es ist ein Irrtum, der aus einer allzu oberflächlichen Betrachtung der menschlichen Natur herrührt.“5 Der nach Ansicht seines Autors zu konstatierende, sprichwörtlich skeptisch anzusetzende „Hobbes’sche Naturzustand“ erfordert eine Vertragslösung, der zufolge die Bürger ihre politischen Rechte an einen souveränen Herrscher abtreten. „Wer ist in der Lage, mich als Bürger zu erhalten?“ – Dies ist für Hobbes die entscheidende politische Frage. Eine solche Erhaltung leisten zu können, legitimiert politische Macht. Seine Staatsvorstellungen versinnbildlicht Hobbes als „Leviathan“ [nach einem alttestamentlichen Ungeheuer, vgl. in der Bibel die Textstellen Hiob 40 und 41]. Nur eine zentrale Macht vermag die ungesellige Natur des Menschen zu zügeln und ein Zusammenleben zu ermöglichen. Die Menschen müssen sich „verabreden“, sich dieser Macht zu unterwerfen. Der Gedanke eines (fiktiven) politischen Ur-Vertrages hat in der politischen Theorie – ebenso wie die scharf akzentuierende Hobbes’sche

Menschenrechte und Gewaltenteilung

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Theorie überhaupt – Epoche gemacht. Hobbes’ Philosophie eröffnet eine ganze Reihe von unterschiedlichen Vertragstheorien, die über John Locke und Jean-Jacques Rousseau bis zu Rawls in die Gegenwart reichen und in denen die Vertragsszenarien sich freilich stark verändern und ausdifferenzieren. Was sollte ein solcher Vertrag beinhalten angesichts der Neigung des Menschen, seinen Vorteil auch auf Kosten anderer zu suchen? Die Frage, wie unser individueller Anspruch auf ein gelingendes Leben mit der Tatsache zu vermitteln ist, dass wir Menschen in einer Weise im Plural vorkommen, die nicht einfach utopisch als Gleichklang und Nächstenliebe zu denken ist, betrifft ein Herzstück aller politischen Philosophie. Die entsprechende Diskussion erfolgt in der jüngeren Vergangenheit vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Ansatz von John Rawls (1921–2002; siehe Textausschnitt Zum Weiterdenken).6 Rawls akzeptiert in seinem Vertragsentwurf sozioökonomische Ungleichverteilungen, möchte aber gegenüber ultraliberalen Theoretikern in seinen beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen die „Willkür der Welt“, die den einen mit Talenten und Vorteilen bedenkt und den anderen nicht, durch Ausgleichsregeln in einem gewissen Maße zurechtrücken. Rawls entwirft dabei eine innerstaatliche, keine globale Theorie der Gerechtigkeit. Der neuerdings viel diskutierte, in Amerika lehrende Rawls-Schüler Thomas Pogge geht angesichts der globalen Herausforderung durch die Probleme der Weltarmut weiter. Schon der Philosoph Peter Singer brachte das Bild der nötigen Hilfeleistung gegenüber einem in einem Teich ertrinkenden Kind in diese Diskussion. Nichts anderes bedeute das Massensterben und Hungern in den armen Ländern. Indem die Weltwirtschafsordnung als von „reichen“ Akteuren unfairerweise zu ihrem Vorteil gestaltet erscheint, müssen die geschädigten Armen kompensatorisch unterstützt werden.7

8.2 Politik als Lernprozess: Menschenrechte und Gewaltenteilung Menschenrechte und Gewaltenteilung

Seit wann und in welcher Art vergesellschaften sich Menschen nun aber überhaupt und welche Organisationsgebilde formen sich dabei aus? Historisch entstehen erste Gemeinschaften und Staatsgebilde von der erwähnten „Polis“ [dem Stadtstaat] des antiken Griechenland über Roms Weltreich bis zu den Nationalstaaten der Gegenwart, die sich in der beständigen kriegerischen Auseinandersetzung mit anderen gleichartigen Gebilden etablieren. Ihre „Haupt- und Staatsaktionen“ verfolgt die politische Geschichte, die sie in übergreifenden Friedensinstitutionen wie „Völkerbund“ und UNO münden zu sehen hofft. Mit diesen unterschiedlichen Staatsbildungen entwickelt sich auch das Staatsdenken. Das Orientierungsinteresse über die Formen unseres

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Zusammenlebens, das jeder Einzelne von uns hat, fängt somit nicht bei „Null“ an. Die Geschichte der politischen Ideen zeigt das politische Denken und die verfassungsmäßige Ausgestaltung der Staaten als Ergebnis historischer Arbeit, als erzeugt in Lernprozessen. Von historischen Erfahrungen hängt ab, ob man das Staatswesen als Gottes Werk oder Zusammenschluss eines Volkes, dieses wiederum als Verband der Identität oder als Regelung von Konkurrenz und Pluralismus empfindet – bis hin zur Herausbildung des Parlamentarismus mit Gewaltenteilung und Parteienkonkurrenz, aber auch zum Aufkommen der Parlamentarismuskritik und der stets erneut notwendigen Aktualisierung jeweiliger bewusster Teilhabe am politischen System. Natürlich kann man die politische Ideengeschichte so wenig wie die Geistesgeschichte überhaupt als einen einlinigen Fortschritt auffassen, der überholte Auffassungen in das, wie man gesagt hat, Panoptikum der abgelegten Wahnvorstellungen der Menschheitsgeschichte überweist. Gesellschaftliche Veränderung bringen bis heute auch dort, wo sie allgemein als Verbesserungen empfundene Standards etablieren (z. B. ein demokratisches Staatssystem und die Aufhebung der Bedeutung feudaler Standes- bzw. bürgerlicher Klassenbevorzugungen) zugleich neue Problemlagen hervor. Der Auftritt der „breiten Bevölkerungsmehrheit“ etwa verschafft im 20. Jahrhundert einzelnen Machthabern im Wechselspiel mit der Masse eine größere Wirkungskraft als in traditionell gebundenen Systemen. Die auftretende Massenkommunikation etabliert die Grundlagen einer umfassenden Information, bietet aber zugleich die Möglichkeit einer kollektiven Verhetzung, die in die Propaganda des Ersten Weltkrieges, vor allem aber in die totalitäre Erfassung des Einzelnen in Faschismus und Kommunismus mündet. Ein Grundthema des Politischen ist unter diesen Bedingungen die Frage nach der Begründung von Staat und Herrschaft unter verschiedenen historischen Bedingungen. Solche Begründungen erfolgen in der europäischen Geistesgeschichte aus jeweiligen Hintergründen und Ansätzen heraus, die ebenso als fortschreitender Prozess gedanklich-institutioneller Interaktion und menschlicher Arbeit angesehen werden können, wie sie zugleich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Szenarien für sich gewürdigt werden müssen. Das Politische wird begründet als Ordnung Gottes (Thomas von Aquin), als herrschaftstechnologisch fachgerecht zu betreibende Machtstruktur (Machiavelli, 1469–1527), als Gang der Vernunft (Hegel) usw. In der Entwicklung moderner Verfassungen setzt sich der Gedanke der Gewaltenteilung nach dem Franzosen Charles de Secondat, Baron de Montesquieu (1689–1755)8 durch. Die Erklärung der Menschenrechte („Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“, verkündet am 26. August 1789) und die Ideen der Volkssouveränität und parlamentarischen Demokratie schließlich werden durch die Französischen Revolution befördert. In Deutschland treten Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–

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1895) mit einer der folgenschwersten philosophischen und politischen Theorien des 19. und 20. Jahrhunderts auf, derzufolge der Staat sogar absterben könne, sobald die antagonistischen Klassenverhältnisse revolutionär aufgehoben seien, in denen die herrschende Bourgeoisie die Staatsorgane zur Machtsicherung verwende. Marx hatte im Staat vor allem ein Element der Klassenauseinandersetzung gesehen. Mochten einzelne Staatszustände einen solchen Verdacht vor allem im 19. Jahrhundert noch nahe gelegt haben, so kann eine objektive Bestimmung vieler seiner Grundzüge heute als durchgesetzt gelten (zu Marx muss zudem eingewendet werden, dass er ein Theoretiker der Gewaltenteilung eben gerade nicht war). In seiner modern etablierten Verfasstheit soll der Staat die Sicherheit und das Eigentum des Individuums garantieren; er finanziert sich und seine Aufgaben über Steuern, sichert sich das Gewaltmonopol und bildet das Rechtswesen aus, in dem er die Konflikte seiner Bürger in institutionellem Rahmen regelt. In modernen parlamentarischen Systemen dienen Parteien und Verbände der Artikulation und Durchsetzung von Interessen. Dies wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis die für alle Bürger verbindliche Gesetzgebung, die durch die Prozeduren des modernen Rechtstaats zustande kommt, zu den Einstellungen steht, die als direkter Ausfluss religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zustande gekommen sind. Solche Normvorstellungen und die formale Legalität demokratischer Entscheidungen können konfligieren. Dies ist kein Systemfehler der parlamentarischen Demokratie, sondern ihre Stärke. Noch der Sozialismus lässt sich als der Versuch interpretieren, ganze Gesellschaften an einer staatlich verordneten Ideologie auszurichten. Kennzeichnend für die gegenwärtigen Gesellschaften des Westens ist dagegen, dass ihre Bürger aus einer Vielheit moralischer bzw. ideologischer Überzeugungen heraus urteilen können und tatsächlich ja auch urteilen (auch wenn es natürlich bestimmte wichtige und breit akzeptierte Orientierungen gibt). Unbeschadet davon bleibt die Einsicht, dass die Herausbildung normativer Ordnungen Ergebnis struktureller Arbeit und eine bleibende Aufgabe ist. Es besteht ein politisches Entscheidungssystem, das entsprechende Absichten mit gewissen Sicherungen und Regeln demokratischen Entscheidungsprozessen und rechtlich-gesetzgeberischen Regelungen zuführt: Der Rahmen, den im Rechtssystem und in der Politik der Staat setzt, verweist diese Auffassungen in ihrer gesellschaftlichen Wirksamkeit auf ein etabliertes System von institutionalisierten Entscheidungsprozessen. Gesellschaftliche Gruppen können etwa gesetzliche Regelungen für moralisch verwerflich halten und über die Organe und Regelungen der politischen Willensbildung – aber nur über diese – daran arbeiten, sie zu verändern. Anders ist ein moderner säkularer Staat, der Bürger mit weltanschaulichen Orientierungen unterschiedlichster Couleur, Anhänger von Religionen ebenso wie Atheisten vereint, nicht denkbar.

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Zugleich zeigt sich die Notwendigkeit einer politischen Bildung in einem grundsätzlichen Verständnis dieses Begriffs: Es bedarf nicht nur einer sich beständig selbst kontrollierenden und an ihre Grunderrungenschaften erinnernden Organisationsweise von Gesellschaft und Staat. Wenn diese Organisationsform leben soll, ist eine wirkliche bewusste Teilhabe aller Bürger an ihren Einrichtungen erforderlich. Nur wenn die ausdifferenzierten Gremien, die die Gemeinschaft sich setzt, mit ihr kommunikativ verbunden verbleiben und nicht beständig als gleichsam „fremde“ erfahren werden müssen, bleiben sie in einem überformalen Sinne demokratisch legitimiert. Die Notwendigkeit einer breiten öffentlichen Teilhabe gilt auf allen Ebenen von Staat und Gesellschaft ebenso wie in der geistesgeschichtlichen und philosophischen Auseinadersetzung über Grundfragen des Politischen. Politik kann sich als Lernprozess erweisen.

8.3 Das Neue oder das Alte – wo liegt die Beweislast? Das Neue oder das Alte?

Auch wenn ihm die Ambivalenz der Modernisierungs- und Emanzipationsprozesse durchaus bewusst war, hat vor allem der Philosoph Joachim Ritter (1903–1974) im westfälischen Münster einen „Modernitätskonservatismus“ vertreten, der, wie man gesagt hat, mit Hegel auch für die Moderne die Vermutung der Vernünftigkeit für das Bestehende gelten ließ. Als „Beweislastverteilungsregel“ der Ritterschule gilt, dass für sie gegenüber dem Bestehenden als dem Bewährten immer die Neuerung „beweispflichtig“ sei. Obwohl es sich bei dieser Gruppe, jedenfalls nach der Aussage Odo Marquards, um eine „bunte und standpunktkontroverse Gruppe“ handelt und Robert Spaemann sich daran erinnert, dass Ritter damals „Thomisten, evangelische Theologen, Positivisten, Logiker, Marxisten und Skeptiker“ angezogen habe, also ein philosophisch wie politisch heterogenes Feld, so kann die „Beweislastverteilungsregel“ doch als eine Grundformel konservativen Denkens gelten. Die Ritterschule war damit Gegenpol der Frankfurter Schule, die unter dem Leitbegriff der „Emanzipation“ dem Konservativismus widersprach und deren wirkungsmächtigster Vertreter Jürgen Habermas ist. Insbesondere der Ritter-Schüler und Skeptiker Odo Marquard (geb. 1928), einer der lesenswertesten Gegenwartsphilosophen in Deutschland überhaupt, Meister der vergnüglichen Formulierungsinnovation und Metaphernkunst und Autor eines sprichwörtlich gewordenen „Abschieds vom Prinzipiellen“, tritt mit einem Plädoyer für die sinnstiftende Kraft intakter Traditionen („Üblichkeiten“) auf; diese Position nennt man „Usualismus“. Gegenüber den Universalethiken (z. B. Habermas’ und Apels) und ihren normativ-prospektiven Ansprüchen stehen diese „Üblichkeiten“ für Marquard stets in

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einem freiheitsfördernden Plural. Es ist für das Individuum entlastend, wenn es zwischen mehreren Optionen wählen kann, statt einem „monomythischen“ normativen Anspruch ausgeliefert zu sein. Sehr bekannt geworden ist Marquard durch die Kompensationstheorie der Geisteswissenschaften. Wie zuvor sein Lehrer Ritter geht er davon aus, dass „in der modernen Welt […] immer schneller immer mehr zur Sache“ wird und die geschichtlichen Herkunftswelten aus dem Blick geraten; dies aber wäre „ein menschlich unaushaltbarer Verlust“. „Die Modernisierung wirkt als Desorientierung; dies wird – modern – kompensiert durch die Ermunterung von Traditionen, mit denen man sich identifizieren kann: also etwa mit der Tradition des Christentums, der Tradition des Humanismus, der Tradition der Aufklärung usf.“9 Die Kompensationstheorie wird auch von dem Philosophen und Kulturtheoretiker Hermann Lübbe vertreten, zu dessen Anliegen es gehört, den „Lebenssinn der Industriegesellschaft“ zu verteidigen. Bei Marquard wie Lübbe liegt die Betonung in der Betrachtung des Politischen auf der bereits erfolgten Durchsetzung wesentlicher Aufklärungserrungenschaften. Dem entspricht die pragmatisch gespeiste Ansicht, „dass die Notwendigkeit zu handeln stets weiter reicht als das Wissen, durch das wir die Rationalität unsere Handelns zu sichern hoffen“. Für die Kritik an der Diskursethik (der es nach Marquard um ein „Über-Wir“ geht) bedeutet dies, dass ihre Regeln der Normenfindung nie ganz ausreichen, moralisches Handeln prozedural hervorzubringen, weil man nicht unbegrenzt diskutieren kann. Dieser Verweis auf das unabdingbare Entscheidungsmoment in aller Ethik wird unter dem Stichwort „Dezisionismus“ diskutiert; er soll einigen Effekt auch aus einer „antitotalitären“ Wendung gewinnen.10 Die Angehörigen der „skeptischen Generation“ (Helmut Schelsky) haben, so hat man bemerkt, angesichts der Folgen eines politischen, entliberalisierenden „Heilswissens“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allen Weltverbesserungsideen abgeschworen. Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, in der wir leben, ist trotz mancher Schwächen die einzige wirklich funktionierende Weltverbesserung. Diese reale Weltverbesserung utopisch überbieten zu wollen, die Welt also „übelfrei gut, zum Himmel auf Erden“ machen zu wollen, ist unmöglich. Darum plädiert Marquard in seinem sprichwörtlich gewordenen lesenswerten gleichnamigen Reclam-Bändchen für einen „Abschied vom Prinzipiellen“. Aber hat nicht der englische Dichter Oscar Wilde doch etwas getroffen, wenn er einmal gesagt haben soll, dass eine Weltkarte, die das Land Utopia nicht verzeichne, keinen Blick verdiene, lasse sie doch eine Küste aus, an der die Menschheit ewig landen werde? Seit Platon fasziniert diese ferne und unseren Wünschen doch so nahe Küste die Menschen. Der Begriff „Utopie“ bedeutet „Nirgendland“. Die Utopie träumt von einem Zustand, in dem Gleichheit und brüderliche Liebe herrschen, weil man Staat und Gesellschaft end-

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lich richtig organisiert hat. Noch bis in die 1970er Jahre dominierte mit dem unorthodoxen Marxisten Ernst Bloch (1885–1977) die Vorstellung, dass eine Zukunft, die legitim nur noch als Variation der gegenwärtigen Verhältnisse und Strukturen gedacht werden können soll, sich als „unechte Zukunft“ erweisen könnte. Eine Verachtung der Utopie war eine (falsche) „Ideologie“. In den Worten Blochs: „Utopie unterscheidet sich von der Ideologie […] darin, dass die Ideologien keinen utopischen Zuschuss haben, dass Ideologien Gruppen von Vorstellungen sind, die die vorhandene Gesellschaft spiegeln und rechtfertigen.“11 Es ist offensichtlich, dass diese Hinsicht nicht wenig von der „politischen“ Beweislast auf das Alte, Bestehende legt. Bloch sucht in seinem Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ (1954–1959) unter deutlicher Entfernung vom Marx’schen Materialismus noch im Trivialen und Alltäglichen den Vorschein einer künftigen diesseitigen Aufhebung der Defizite in der Menschenwelt. Dieser Impuls ist so stark, dass er auch das Ende des real existiert habenden Sozialismus (der sich nicht als Utopie, sondern als Wissenschaft verstand) mühelos übersprungen hat. Der Göttinger Politikwissenschaftler Richard Saage hat bereits zwei Jahre nach „1989“ und einer mit diesem Datum verbundenen Diskussion über „das Ende der Utopie“ und den „Verlust der Utopie“ ein erneutes Interesse am Thema feststellen können.12 Die Position von Jürgen Habermas, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2001, ist der Utopie zweifellos nicht umstandslos zuzuordnen, aber von der Kraft utopischen Denkens gespeist. Während über den Schriften von Habermas’ Ahnen, der älteren Frankfurter Schule oder „Kritischen Theorie“ von Theodor W. Adorno (1903–1969) und Max Horkheimer (1895 –1973) ein pessimistisch-skeptischer, auch von Montaigne und Schopenhauer genährter Grundton liegt, verlagert sich der Gestus bei Habermas signifikant. Ihn kennzeichnet, dass in der „zweiten Phase“ der kritischen Theorie die Einschränkungen, denen die Menschen durch die Logiken der Wirtschafts- und Verwaltungssysteme unterliegen, zwar nicht unterschätzt werden, Habermas aber gerade auf diejenigen Rationalitäts- und Normpotentiale aus ist, die diesen Tendenzen entgegenwirken und das „Projekt der Moderne“ in einem durchaus emphatischen Sinne fortführen können (vgl. Textauszug). Habermas folgt dem Engagement, mittels Sprechakttheorie, Theorie sozialer Evolution und mit Hilfe zahlreicher weiterer mit immensem theoretischem Rezeptions- und Konzeptionsaufwand aufgearbeiteter sozialwissenschaftlicher und philosophischer Theoreme Strukturen des „Wahren“ gleichsam prozedural herbeizuziehen und mit prospektiv-normativem Gestus Bedingungen besseren Lebens sozusagen „anzupeilen“. Dabei versteht der Propagandist eines „Verfassungspatriotismus“ statt des Nationalen und Philosoph der Kommunikation statt eines „Kampfes der Kulturen“ sich immer auch als politische Stimme in aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debatten.

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Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur Platon Nicht nur einer der wichtigsten und wirkungsreichsten Texte der Philosophiegeschichte, ein Hauptdokument politischen Denkens, sondern auch ein Urbild aller Utopien ist Platons Schrift „Politeia“ („Der Staat“), entstanden nach 387 v. Chr. (vgl. auch Seite 48 ff.). Sokrates (als Sprachrohr Platons) skizziert einen Ständestaat mit drei Bevölkerungsschichten: Nährstand, Wehrstand, Lehrstand, d. h. Bauern und Handwerkern, Wächtern und Regierenden. Die drei Stände entsprechen den drei Seelenteilen Begierde, Mut und Vernunft. In den weiteren Ausführungen rückt die richtige Bildung des Wächterstandes in den Mittelpunkt. Zu Beginn des fünften Buches lässt Platon dann einige radikale und revolutionäre Denkvorstellungen entwickeln, die zu den meistbestaunten und meistkritisierten der Philosophiegeschichte gehören: die Abschaffung des Privatbesitzes und die Einführung einer Frauen- und Kindergemeinschaft, verbunden aber mit einer gewissen Gleichstellung von Mann und Frau. Schließlich wird gar die Vorstellung einer Philosophenherrschaft entwickelt (!). Warum sind die Philosophen zur Regentschaft berufen? Die drei berühmten Gleichnisse in der „Politeia“: Sonnengleichnis, Liniengleichnis und Höhlengleichnis verdeutlichen die Perspektive des wahren Wissens, zu dem die Philosophen aufgerufen sind und von dem aus auch die Einrichtung der menschlichen Verhältnisse zu gestalten ist. Bevor man Platon (nicht ohne Recht) für diesen rigorosen Staat kritisiert, ist allerdings zu bedenken, dass dieses epochale Werk zum ersten Mal so etwas wie ein in Gesellschaftsordnung umgesetztes menschliches Bildungsprogramm darstellt und in den menschlichen Angelegenheiten eine Zielperspektive humaner Entwicklung vorstellen möchte. Zum Weiterdenken

Philosophen als Könige (Politeia) Zunächst also, wie es scheint, müssen wir zu finden und aufzuzeigen versuchen, was etwa jetzt in unseren Staaten schlecht behandelt wird, weshalb sie nicht so verwaltet werden, und wie ein Staat zu dieser Art der Verfassung gelangen könne mit der mindest möglichen Veränderung, wenn es sein kann nur in Einem Stück, wenn nicht in zweien, wenn nicht doch in so wenigen und so wenig schwierigen als möglich. Allerdings freilich, sagte er. Durch eine einzige Veränderung nun, sprach ich, glaube ich zeigen zu können, dass er sich dazu umwandeln werde, freilich durch keine kleine, auch nicht leichte, aber doch mögliche. Durch welche? Nun gehe ich gerade darauf los, sprach ich, was wir der größten Welle

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im Voraus verglichen. Es soll also gesagt werden, und sollte es mich auch mit Schmach und Gelächter ordentlich wie eine aufsprudelnde Welle überschütten. Sieh aber zu, was ich sagen will. Rede nur, sagte er. Wenn nicht, sprach ich, entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten, oder die jetzt so genannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophieren, und also dieses beides zusammenfällt, die Staatsgewalt und die Philosophie, die vielerlei Naturen aber, die jetzt zu jedem von beiden einzeln hinzunahen, durch eine Notwendigkeit ausgeschlossen werden, eher gibt es keine Erholung von dem Übel für die Staaten, lieber Glaukon, und ich denke auch nicht für das menschliche Geschlecht, noch kann jemals zuvor diese Staatsverfassung nach Möglichkeit gedeihen und das Licht der Sonne sehen, die wir jetzt beschrieben haben. Aber dies ist es eben, was mir schon lange Bedenken macht zu reden, weil ich sehe, wie es gegen aller Menschen Meinung angebt. Denn es geht schwer einzusehen, dass in einem andern keine Glückseligkeit sein kann, weder für den Einzelnen, noch für das Ganze. Platon, Politeia 473 b–e; hier nach: Platons Werke (deutsch) von F. Schleiermacher. Dritten Teiles erster Band, Druck und Verlag von Georg Reimer Berlin 1862, 193 f. (überarbeitet).

Karl Marx Karl Marx (1818–1883), der auf Grund seiner radikalen Auffassungen ins Exil nach London gehen musste, ist sicherlich einer der wirkungsmächtigsten deutschen Denker der Philosophiegeschichte gewesen. Marx deutet den Menschen wesentlich im Rekurs auf die sozioökonomischen Verhältnisse seiner realen Lebensweise. Diese sorgen in ihrer kapitalistischen Organisationsform dafür, dass er unter den Bedingungen des Privateigentums an den Produktionsmitteln von seinem eigentlichen Wesen „entfremdet“ wird. Die Entfremdung durch schlechte Arbeitsbedingungen ist um so schlimmer angesichts der Tatsache, dass Marx den Menschen wesentlich durch Produktion und Arbeit definiert, durch den „materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozess“, dessen „Supplemente“ die „Nebelbildungen im Gehirn des Menschen sind“. Als Endperspektive einer Aufhebung der Entfremdung durch eine kommunistische Revolution stellt Marx nur in Andeutung eine menschliche Existenzform in Aussicht, in der es möglich ist, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, auch das Essen zu kritisieren, ohne je Jäger, Fischer oder Hirt oder Kritiker zu werden“.13 Auch heute lässt sich (so wenig der real existiert habende Sozialismus sich als Problemlösung profilieren konnte) das „Kommunistische Manifest“ doch zuhöchst aktuell, nämlich wie ein Kommentar zum unwiderstehlichen Druck der

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Globalisierung lesen: Das Kapital „jagt über die ganze Erdkugel“, es hat dabei „zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen“ und angesichts seiner umstürzenden Veränderungskraft gilt: „Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht“. Das Kommunistische Manifest Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen. In den früheren Epochen der Geschichte finden wir fast überall eine vollständige Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände, eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen. Im alten Rom haben wir Patrizier, Ritter, Plebejer, Sklaven; im Mittelalter Feudalherren, Vasallen, Zunftbürger, Gesellen, Leibeigene, und noch dazu in fast jeder dieser Klassen wieder besondere Abstufungen. Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt. Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat. Aus den Leibeigenen des Mittelalters gingen die Pfahlbürger der ersten Städte hervor; aus dieser Pfahlbürgerschaft entwickelten sich die ersten Elemente der Bourgeoisie. Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas schufen der aufkommenden Bourgeoisie ein neues Terrain. Der ostindische und chinesische Markt, die Kolonisierung von Amerika, der Austausch mit den Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel und der Waren überhaupt gaben dem Handel, der Schiffahrt, der Industrie einen nie gekannten Aufschwung und damit dem revolutionären Element in der zerfallenden feudalen Gesellschaft eine rasche Entwicklung. Die bisherige feudale oder zünftige Betriebsweise der Industrie reichte

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nicht mehr aus für den mit neuen Märkten anwachsenden Bedarf. Die Manufaktur trat an ihre Stelle. Die Zunftmeister wurden verdrängt durch den industriellen Mittelstand; die Teilung der Arbeit zwischen den verschiedenen Korporationen verschwand vor der Teilung der Arbeit in der einzelnen Werkstatt selbst. Aber immer wuchsen die Märkte, immer stieg der Bedarf. Auch die Manufaktur reichte nicht mehr aus. Da revolutionierten der Dampf und die Maschinerie die industrielle Produktion. An die Stelle der Manufaktur trat die moderne große Industrie, an die Stelle des industriellen Mittelstandes traten die industriellen Millionäre, die Chefs ganzer industrieller Armeen, die modernen Bourgeois. Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schiffahrt, den Landkommunikationen eine unermessliche Entwicklung gegeben. Diese hat wieder auf die Ausdehnung der Industrie zurückgewirkt, und in demselben Maße, worin Industrie, Handel, Schiffahrt, Eisenbahnen sich ausdehnten, in demselben Maße entwickelte sich die Bourgeoisie, vermehrte sie ihre Kapitalien, drängte sie alle vom Mittelalter her überlieferten Klassen in den Hintergrund. […] Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschifffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, dass solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten. Wir haben also gesehen: Die Produktions- und Verkehrsmittel, auf deren Grundlage sich die Bourgeoisie heranbildete, wurden in der feudalen Gesellschaft erzeugt. Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung dieser Produktions- und Verkehrsmittel entsprachen die Verhältnisse, worin die feudale Gesellschaft produzierte und austauschte, die feudale Organisation der Agrikultur und Manufaktur, mit einem Wort die feudalen Eigentumsverhältnisse den schon entwickelten Produktivkräften nicht mehr. Sie hemmten die Produktion, statt sie zu fördern. Sie verwandelten sich in ebenso viele Fesseln. Sie mußten gesprengt werden, sie wurden gesprengt. An ihre Stelle trat die freie Konkurrenz mit der ihr angemessenen gesellschaftlichen und politischen Konstitution, mit der ökonomischen und politischen Herrschaft der Bourgeoisklasse. Unter unsern Augen geht eine ähnliche Bewegung vor. Die bürgerlichen

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Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor. […] Alle bisherige Gesellschaft beruhte, wie wir gesehen haben, auf dem Gegensatz unterdrückender und unterdrückter Klassen. Um aber eine Klasse unterdrücken zu können, müssen ihr Bedingungen gesichert sein, innerhalb derer sie wenigstens ihre knechtische Existenz fristen kann. […] Der moderne Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch schneller als Bevölkerung und Reichtum. Es tritt hiermit offen hervor, dass die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern […] Die wesentliche Bedingung für die Existenz und für die Herrschaft der Bourgeoisklasse ist die Anhäufung des Reichtums in den Händen von Privaten, die Bildung und Vermehrung des Kapitals; die Bedingung des Kapitals ist die Lohnarbeit. Die Lohnarbeit beruht ausschließlich auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich. Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation. Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich. Karl Marx – Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei (1848), I. Bourgeois und Proletarier (Auszug). Zürich, 4. Aufl. 1890, 9 f., 13, 17 f.

John Rawls John Rawls wurde 1921 in Baltimore, Maryland geboren. Er lehrte von 1961 bis 1991 an der Harward-Universität in Cambridge, Massachusetts. Rawls starb im Jahre 2002. Seine Schrift „A Theory of Justice“ (Eine Theorie der Gerechtigkeit) von 1971 gilt als „Jahrhundertbuch“. Rawls erklärt die Gerechtigkeit zum Maßstab der Gesellschaftsbildung. Um hierzu Aussagen machen zu können, greift er auf das klassische, von Hobbes und Locke her bekannte Mittel einer fiktiven Vertragssituation zurück. Eine gesell-

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schaftliche Ordnung ist dann legitimiert, wenn sie unter ganz bestimmten rationalen Bedingungen die Zustimmung aller Betroffenen findet. Welche Bedingungen sind das? Die Betroffenen müssen sich, wenn sie die Grundlagen ihres Zusammenlebens vertraglich festlegen, in einer Art „Urzustand“ („original position“), unter einem „Schleier des Nichtwissens“ befinden, das heißt, die Ungleichheiten der Herkunft, Bildung, Talente und sozialen Stellung dürfen für diese Verhandlungen keine Rolle spielen: Derjenige, der einen Kuchen aufteilt, so hat man das bildhaft formuliert, darf nicht wissen, welches Stück er bekommen wird. Was muss in einem solchen fiktiven Vertrag möglichst fair geregelt werden? Es geht vor allem um die Rechte der einzelnen Individuen gegenüber den jeweils anderen und um die Verteilung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Güter wie Einfluss und Vermögen. Wenn man nun nicht weiß, ob man „reich“ oder „arm“ in der Gesellschaft dasteht (also mit beiden Möglichkeiten rechnen muss), dann wird man sich doch auf bestimmte Grundsätze zur Verteilung der Güter einigen können. Rawls formuliert im folgenden Textauszug zwei solche grundlegende Prinzipien. Kritik an Rawls’ auch auf soziale Gerechtigkeit gerichtetem Liberalismus üben einerseits „reine“ Liberale wie Robert Nozick.14 Kritik an Rawls üben von einer ganz anderen Seite die Anhänger des sogenannten „Kommunitarismus“, der an Aristoteles’ Vorstellung vom Menschen als einem „gesellschaftlichen Lebewesen“ – „Zoon politikon“ – anschließt. Für seine Vertreter bleibt eine politische Philosophie kurzsichtig, die lediglich Rechtsprinzipien zur Sicherung individueller Freiheiten aufstellt. Eine Gemeinschaft lebe vielmehr aus gemeinsam geteilten Traditionen und Werten heraus; nötig sei eine „(Wieder-) Entdeckung des Gemeinwesens“. Die ursprünglich befreiende Wirkung des Liberalismus, der sich in die Angelegenheiten des Individuums nicht einmischt, schlage mittlerweile um in eine Zersetzung des Zusammenlebens. Eine Gesellschaft, die sich vertraglich vor allem auf atomisierte und nur ihrem Eigeninteresse folgende Individuen stützen wolle, untergrabe ihre eigenen Grundlagen.15 Eine Theorie der Gerechtigkeit Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen. Eine noch so elegante und mit sparsamen Mitteln arbeitende Theorie muss fallengelassen werden oder abgeändert werden, wenn sie nicht wahr ist; ebenso müssen noch so gut funktionierende und wohlabgestimmte Gesetze und Institutionen abgeändert oder abgeschafft werden, wenn sie ungerecht sind. Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohles der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann. Daher lässt es die Gerechtigkeit nicht zu, dass der Verlust der Frei-

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heit bei einigen durch ein größeres Wohl für andere wettgemacht wird. […] Als Haupttugenden für das menschliche Handeln dulden Wahrheit und Gerechtigkeit keine Kompromisse. […] Ich möchte eine Gerechtigkeitsvorstellung darlegen, die die bekannte Theorie des Gesellschaftsvertrages etwa von Locke, Rousseau und Kant verallgemeinert und auf eine höhere Abstraktionsebene hebt. Dazu darf man sich den ursprünglichen Vertrag nicht so vorstellen, als ob er in eine bestimmte Gesellschaft eingeführt würde oder eine bestimmte Regierungsform errichtete. Der Leitgedanke ist vielmehr, dass sich die ursprüngliche Übereinkunft auf die Gerechtigkeitsgrundsätze für die gesellschaftliche Grundstruktur bezieht. Es sind diejenigen Grundsätze, die freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung annehmen würden. Ihnen haben sich alle weiteren Vereinbarungen anzupassen; sie bestimmen die möglichen Arten der gesellschaftlichen Zusammenarbeit und der Regierung. Diese Betrachtungsweise der Gerechtigkeitsgrundsätze nenne ich Theorie der Gerechtigkeit als Fairness. Wir wollen uns also vorstellen, dass diejenigen, die sich zu gesellschaftlicher Zusammenarbeit vereinigen wollen, in einem gemeinsamen Akt die Grundsätze wählen, nach denen Grundrechte und -pflichten und die Verteilung der gesellschaftlichen Güter bestimmt werden. Die Menschen sollen im Voraus entscheiden, wie sie ihre Ansprüche gegeneinander regeln wollen und wie die Gründungsurkunde ihrer Gesellschaft aussehen soll. Ganz wie jeder Mensch durch vernünftige Entscheidung überlegen muss, was für ihn das Gute ist, d. h. das System der Ziele, die zu verfolgen für ihn vernünftig ist, so muss eine Gruppe von Menschen ein für allemal entscheiden, was ihnen als gerecht und ungerecht gelten soll. Die Entscheidung, die vernünftige Menschen in dieser theoretischen Situation der Freiheit und Gleichheit treffen würden, bestimmt die Grundsätze der Gerechtigkeit. (Wir nehmen für den Augenblick an, dass dieses Problem eine Lösung hat.) In der Theorie der Gerechtigkeit als Fairness spielt die ursprüngliche Situation der Gleichheit dieselbe Rolle wie der Naturzustand in der herkömmlichen Theorie des Gesellschaftsvertrages. Dieser Urzustand wird natürlich nicht als wirklicher natürlicher Zustand vorgestellt, noch weniger als primitives Stadium der Kultur. Er wird als rein theoretische Situation aufgefasst, die so beschaffen ist, dass sie zu einer bestimmten Gerechtigkeitsvorstellung führt. Zu den wesentlichen Eigenschaften dieser Situation gehört, dass niemand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebenso wenig sein Los bei der Verteilung natür-

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licher Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft. Ich nehme sogar an, dass die Beteiligten ihre Vorstellungen vom Guten und ihre besonderen psychologischen Neigungen nicht kennen. Die Grundsätze der Gerechtigkeit werden hinter einem Schleier des Nichtwissens festgelegt. Dies gewährleistet, dass dabei niemand durch die Zufälligkeiten der Natur oder der gesellschaftlichen Umstände bevorzugt oder benachteiligt wird. Da sich alle in der gleichen Lage befinden und niemand Grundsätze ausdenken kann, die ihn au Grund seiner besonderen Verhältnisse bevorzugen, sind die Grundsätze der Gerechtigkeit das Ergebnis einer fairen Übereinkunft oder Verhandlung. […] Ich werde jetzt in einer vorläufigen Form die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze angeben, auf die man sich nach meiner Auffassung im Urzustand einigen würde […]: Erster Grundsatz: Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist. Zweiter Grundsatz: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: sie müssen […] den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen und sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offen stehen […] Diese Grundsätze beziehen sich hauptsächlich, wie ich schon sagte, auf die Grundstruktur der Gesellschaft und bestimmen die Zuweisung von Rechten und Pflichten und die Verteilung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Güter. Ihre Formulierung setzt voraus, dass für die Zwecke einer Theorie der Gerechtigkeit die Sozialstruktur als aus zwei mehr oder weniger abgegrenzten Teilen bestehend angesehen werden kann, wobei sich die beiden Grundsätze jeweils auf einen von diesen beziehen. Wir unterscheiden also zwischen den Seiten des Gesellschaftssystems, die die gleichen Grundfreiheiten festlegen und sichern, und denen, die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ungleichheiten bestimmen und einführen. Es ist nun von Bedeutung, dass die Grundfreiheiten durch eine Liste derartiger Freiheiten festgelegt sind. Wichtig unter ihnen sind die politische Freiheit (das Recht, zu wählen und öffentliche Ämter zu bekleiden) und die Redeund Versammlungsfreiheit; die Gewissens- und Gedankenfreiheit, zu der der Schutz vor psychologischer Unterdrückung und körperlicher Misshandlung und Verstümmelung gehört (Unverletzlichkeit der Person); das Recht auf persönliches Eigentum und der Schutz vor willkürlicher Festnahme und Haft, wie es durch den Begriff der Gesetzesherrschaft festgelegt ist. Der zweite Grundsatz bezieht sich in erster Näherung auf die Verteilung

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von Einkommen und Vermögen und die Beschaffenheit von Organisationen, in denen es unterschiedliche Macht und Verantwortung gibt. Die Verteilung des Einkommens und Vermögens muss nicht gleichmäßig sein, aber zu jedermanns Vorteil, und gleichzeitig müssen mit Macht und Verantwortung ausgestattete Positionen jedermann zugänglich sein. J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt 1975, 8. Aufl. 1994, 19 f., 27 ff., 336, 82. Abdruck genehmigt durch den Verlag des Originaltextes: A Theory of Justice by John Rawls, Cambridge, Mass.: The Belknap Press of Harvard University Press, © 1971, 1999 by the President and Fellowers of Harvard College.

Jürgen Habermas Während in der älteren Frankfurter Schule oder „Kritischen Theorie“ ein durchaus skeptischer Blick auf die Kulturentwicklung im Sinne ihrer Verfallsdiagnose überwog, richtet sich das Werk von Jürgen Habermas (geb. 1929) auf den Versuch, normativ-prospektiv zur Begründung kultureller Normen beizutragen, gesellschaftlich orientierend zu wirken und am „Projekt der Moderne“ festzuhalten. Habermas ist sicherlich der gegenwärtig weltweit meistrezipierte deutsche sozial- und moralphilosophische sowie politische Denker überhaupt. Geht Habermas der Frage nach, „warum die modernen Wissenschaften dem technischen Fortschritt, der Beförderung des kapitalistischen Wachstums und der rationalen Verwaltung dienen, aber nicht dem Welt- und Selbstverständnis kommunizierender Bürger“, so zielt er dabei kaum in die („konservative“) Richtung, dass die kulturellen Traditionen und Bindungen zwecks Heilung des Problems bewahrt bzw. restituiert werden müssten; wichtiger und zukunftsorientiert erscheint es vielmehr, angesichts des zunehmenden Einflusses von Geld und Macht in unseren Lebensverhältnissen die in den Expertenkulturen angesammelten Potentiale „aus ihrer esoterischen Form zu entbinden und für die Praxis, d. h. für eine vernünftige Gestaltung der Lebensverhältnisse zu nützen“. Ließe sich hinsichtlich der Diagnose einer gewissen kulturellen Verarmung in den gegenwärtigen Lebensformen wohl Übereinstimmung erzielen, so wird bei Habermas anders als in der konservativen Empfehlung verstärkter Traditionspflege die politische Perspektive demnach nicht an die Vergangenheit rückgekoppelt. Dies zeigt die folgend wiedergegebene Äußerung. Mag die aufklärerische Perspektive des 18. Jahrhunderts, Künste und Wissenschaften könnten „die Weltund Selbstdeutung, den moralischen Fortschritt, die Gerechtigkeit der gesellschaftlichen Institutionen, sogar das Glück der Menschen befördern“ in dieser Form im 20. Jahrhundert auch vergangen sein, so scheiden sich doch nach wie vor „die Geister daran, ob sie an den Intentionen der Aufklärung, wie gebrochen auch immer, festhalten, oder ob sie das Projekt der Moderne verloren geben“.

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Neben der systemisch induzierten Verdinglichung setzt die Rationalisierung der Lebenswelt immer auch die „utopische Perspektive“ frei, „aus der der kapitalistischen Modernisierung stets der Makel angehaftet hat, dass sie die traditionalen Lebensformen auflöst, ohne deren kommunikative Substanz zu retten“. Habermas fährt fort: Die […] Vernunftutopie des Aufklärungszeitalters […] ist von den Realitäten des bürgerlichen Lebens nachhaltig dementiert, als bürgerliche Ideologie überführt worden. Diese freilich war niemals bloßer Schein, sondern ein objektiver Schein, der aus den Strukturen ausdifferenzierter, gewiß schichtspezifisch begrenzter, aber rationalisierter Lebenswelten selber hervorgegangen ist. In dem Maße wie […] Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit auseinander treten, wie die Geltungsbasis verständigungsorientierten Handelns die sakralen Grundlagen der sozialen Integration ersetzt, entsteht ein, von den Strukturen der Lebenswelt suggerierter, gleichsam transzendentaler, die bürgerliche Ideologie bestimmender und übersteigender Vorschein einer posttraditionalen Alltagskommunikation, die auf eigenen Füßen steht, die der Eigendynamik verselbständigter Subsysteme Schranken setzt, die die eingekapselten Expertenkulturen aufsprengt und damit den kombinierten Gefahren der Verdinglichung wie der Verödung entgeht. Zitat aus: Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt/M. 1981. Bd. 2, Zitat 482.

Arbeitsanregungen 1. Warum sollten nach Platon die Philosophen Herrscher werden? 2. Notieren Sie für sich die Wendungen, in denen Marx die Macht des Kapitalismus beschreibt! 3. Einen Vertrag für unser Zusammenleben schließen – prüfen Sie für sich die Plausibilität der im Textauszug skizzierten Position von Rawls im Vergleich zu („reinem“) Liberalismus und Kommunitarismus. 4. „Das Neue ist beweispflichtig“ – argumentieren Sie je nach Präferenz für oder gegen diesen Satz! 5. Welche Perspektive stellt Habermas für eine „posttraditionale Alltagskommunikation“ in Aussicht? Literatur H. Brunkhorst u. a. (Hrsg.), Habermas-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Darmstadt 2009.

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Chr. Horn, Einführung in die politische Philosophie, Darmstadt (WBG), 2. Aufl 2009. H. Ottmann, Geschichte des Politischen Denkens, 4 Bde. in mehreren Teilbänden, Stuttgart 2001– 2010 (kulturell kontextualisierter Begriff des politischen Denkens, geht z. B. in Bd. 4,1 auch auf literarische (Anti-)Utopien wie die von George Orwell und Aldous Huxley ein). Th. Pogge, John Rawls, München (Beck’sche Reihe: Denker) 1994. Th. Stammen – G. Riescher – W. Hofmann (Hrsg.), Hauptwerke der politischen Theorie. Stuttgart (Kröner) 2. Aufl. 2007 (Lexikon mit 3 – 5seitigen Werkvorstellungen politiktheoretischer Schriften. Die Autorenauswahl möchte einen repräsentativen Überblick über Schlüsselwerke konservativen, liberalen, sozialistischen und feministischen Denkens bieten. Neben „großen Denkern“ wie Platon, Aristoteles, Cicero, Machiavelli, Kant, Smith, Rousseau, Montesquieu, Marx, Max Weber, Habermas, Luhmann, Rawls finden sich auch Überblick über Schriften vieler weiterer signifikanter Autoren, z. B. Luther. Chronologisches Werkverzeichnis, Titelregister).

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Was ist Kultur?

„Und zum Lande der wilden gesetzelosen Kyklopen Kamen wir jetzt, der Riesen, die im Vertraun auf die Götter Nimmer pflanzen noch sä’n und nimmer die Erde beackern. Ohne Samen und Pfleg entkeimen alle Gewächse, Weizen und Gerste dem Boden und edle Reben, die tragen Wein in geschwollenen Trauben, und Gottes Regen ernährt ihn. Dort ist weder Gesetz noch öffentliche Versammlung, Sondern sie wohnen all’ auf den Häuptern hoher Gebirge In gehöhleten Felsen, und jeder richtet nach Willkür Seine Kinder und Weiber, und kümmert sich nicht um den andern.“ Homer, Odyssee1

Homers Held Odysseus erlebt auf einem seiner zahlreichen Abenteuer, was ohne Kultur fehlt: Planung des Lebensunterhaltes, Zusammenleben, Recht und Staat. Schon diese kleine Skizze des ersten großen Dichters der abendländischen Geistesgeschichte macht demnach offenbar, was Kultur bedeutet. Der Begriff der Kultur (cultura) ist abzuleiten von dem lateinischen Verb „colere“: Erde bebauen, Natur bearbeiten, Ackerbau betreiben. Die Bedeutung des lateinischen „colere/cultus“ beschreibt in ihrem weiterweisenden Spektrum aber auch die von Cicero ausgesprochene Entwicklung vom Cultus des Ackers zum cultus animi: es heißt dann nicht mehr nur: bearbeiten, Ackerbau treiben, ansässig sein, sondern auch: pflegen, schmücken, ehren: die Götter, Städte, Gesetzgebung und Rechtsprechung, politische Willensbildung und geregelte Entscheidungsfindung. Der Begriff der Kultur verweist schließlich auf Tradition, Sprache und Bildung. Seit der Antike wird der Kulturbegriff im Allgemeinen auf ein Vorgegebenes bezogen, das gepflegt, bearbeitet bzw. veredelt wird. Auch gegenwärtig sprechen wir von „Anbaukultur“, „Bildungskultur“, „Streitkultur“. In der Neuzeit wird „die Kultur“ darüber hinaus zugleich, wie man das genannt hat: „substantiell-universal“, d. h. ein absoluter Kulturbegriff wird zur Bezeichnung des übergreifenden und prägenden Hintergrundes menschlichen Handelns sowie ganzer zivilisatorischer Großformationen verwendet (es gibt nun „die“ Kultur). Entsprechend meint der Begriff der „Kultur“ zweifellos „durch all seine Konkretisierungen hindurch im letzten ein zuhöchst Allgemeines“, umfasst er doch „wie kein anderer die ganze vom Menschen hervorgebrachte Welt, einschließlich des Menschen selber, der sich immer schon als ein „Kul-

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turwesen“ zu verstehen hat“.2 Seit Johann Gottfried Herder (1744 –1803) schließlich, einem der ersten wichtigen Theoretiker der Kultur, kommt zugleich die Differenz und die Pluralität der Kulturen zu Bewusstsein. In einer Unterscheidung dreier verschiedener ihrer Begriffe hat Herbert Schnädelbach zusammenfassend darauf hingewiesen, dass „Kultur“ neben dem engeren „Feld der Künste, der Staatstheater und Museen, der Literatur und des Feuilletons und neben der historischen und gegenwärtigen Pluralität der Kulturen, von der derzeit so viel die Rede ist, schließlich als „Inbegriff der von Menschen geschaffenen und nur durch ihn zu erhaltenden Lebenswelt“, als „das Ganze der menschlichen Lebensbedingungen“ aufgefasst werden kann.3 Kultur ist ein zunehmend wichtiges Thema. Nichts betrifft uns mehr als das ungeheure Spektrum menschlicher Kulturerrungenschaften von den bildungsmächtigen Errungenschaften des Denkens bis hin zu unserer tagtäglichen Existenzweise im Zeitalter des Pop. Dieses Spektrum ist interpretiert worden als Kompensations(Ausgleichs-)leistung gegenüber mangelnder natürlicher Ausstattung und Instinktsicherheit (von Platon im „Prometheusmythos“ über Herder bis Arnold Gehlen) des Menschen, als sein Göttliches (Pico della Mirandola) oder als seine Verirrung (Jean-Jacques Rousseau), als ein durch alles konkrete Menschengeschehen sich hindurchziehender metaphysischer Geistwerdungsprozess (Hegel), als die letztlich aufsattelnde Spiegelung einer sozioökonomisch gesetzmäßigen Tiefendimension (Marx), als quasibiologischer Prozess (Oswald Spengler), schließlich als mental-symbolische Variante der auch die Natur beherrschenden universalen Evolution (Daniel Dennett, Richard Dawkins). Von besonderer Bedeutung für die neuere Kulturphilosophie ist aber eine Betrachtungsweise geworden, die sich an den Philosophen Ernst Cassirer (1874–1945) anschließen lässt Dieser erkennt in den „symbolischen Formen“ die von ihm selbst erzeugten Erfahrungsmedien wie Sprache, Mythos, Kunst, Religion und Wissenschaft, mit denen der Mensch sich der Welt erkennend und bewältigend zuwendet. Diese Sphären bezeichnen die großen Wirkungs- und Teilgebiete der Kultur. Stellen wir uns, um einen solchen Ansatz zu verstehen, für einen Moment unser Gehirn als einen Rechner, als eine ganz besonders leistungsfähige Art von Computer vor. Die „Hardware“, im Prozess der Evolution entstanden, ist seit Zehntausenden von Jahren nur mehr unmerklich verändert. Aber welcher Unterschied besteht – um im Computerjargon zu bleiben: – in der „Software“, in den Verarbeitungsmöglichkeiten und den Inhalten in diesem Zeitraum! Diesen Unterschied machen Kultur und Geschichte aus. Unser Rechner findet sich, stellen ihn wir uns zum Bewusstsein erwacht vor, einer weitgehend unverstandenen, fremden, teils bedrohlichen, teils helfenden und

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nutzbaren Umwelt gegenüber. Er muss sich diese Welt erklären. Hierzu entwickelt unser Geist nun offenbar eine ganz eigentümliche und sehr aktive Kraft und Phantasie. Der Mensch, so hat Jörn Rüsen (geb. 1938) herausgestellt, ist ein Sinnstifter und Sinnerfinder. In seiner Auseinandersetzung mit der Welt bildet er die spannendsten Gedankenformationen aus – Deutungsund Orientierungssysteme und mit ihnen politische und rechtliche Ordnungen. Sie sind Werke ernsthaftester geistiger Anstrengungen, auf die man das Wort des Italieners Giambattista Vico (1668–1744) anwenden könnte, dass die Menschen sie in ihrer Suche nach Orientierung zugleich selbst hervorbrachten und sich dann daran ausrichteten („fingunt simul creduntque“).4 Mit Vico lässt sich erkennen: Man darf gegenwärtige Zustände nicht als „richtig“, überlegen oder vollkommen an solche Zeiten herantragen, wenn man Kultur und Geschichte verstehen will. Nicht nur wäre, ein solches absolutes Wertkriterium für unsere Zeit zu unterstellen, ähnlich naiv wie die dann schnell unterstellte Naivität früherer Zeiten. Im Aussortieren des (aus heutiger Sicht) „Falschen“ ginge auch die Einsicht in die Beschaffenheit der menschlichgeschichtlichen Welt selbst, in ihr inneres Agens und Antriebsprinzip verloren. Zu diesem führt ein ganz anderer Weg, nämlich die Entwicklung und Arbeit der Menschen zu verfolgen, sie uns zu veranschaulichen und „in den Geist der Menschen „einzutreten“, die durch Anstrengung, Arbeit und Kampf ihre Welt geschaffen haben“ (Isaiah Berlin). Man muss dem Gang des Menschen nachgehen, seine Ausdrucksformen, seine Leiden und Leistungen erkennen und das verfolgen, was als Tradition, Traditionskritik und Innovation durch alle vergänglichen Einzelexistenzen hindurch geht. Das menschliche Abenteuer ist wesentlich Geschichte. Wie lebten die Menschen, wie sahen sie die Welt, wie arbeiteten sie? Welche Feste haben sie gefeiert, was waren ihre Gesänge, Mythen und Legenden, ihre Tänze und Gesetze, ihre feierlichen und kunstvollen religiösen Riten und Prozessionen? Kultur erscheint, fragt man so, nicht als abstraktes System, sondern als lebendige Arbeit, als körperlich spürbares Erleben, als Praxis, die den ganzen Menschen bestimmt und erfasst, seine Existenz, seine Ängste und sein Hoffen bestimmt. Die Menschen gestalten ihre natürliche Umwelt, entwickeln Keilschrift-Täfelchen und Hieroglyphen-Inschriften, Lehmziegel und Backstein-Brennöfen, um die ersten „hochaufragenden“ Zikkurats und Pyramiden zu erbauen. Götter erheben ihre Ansprüche, denen man opfern muss, wenn man leben will – manchmal sogar Menschen. Als göttlich werden z. B. angesehen die Sonne, eine Frauen- bzw. Muttergestalt, schließlich die verschiedensten männlichen und weiblichen Instanzen, die aus menschlichen Grundanliegen ihr Profil zu gewinnen scheinen. So vielfältig und in den einander widerstreitenden Kulturen höchst unterschiedlich interpretiert dabei das erscheint, was man unter diesen Sinnbil-

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dungen zu verstehen hätte, so machtvoll sind doch seine Erscheinungsformen. Menschen, konfrontiert mit dem erstaunlichen Faktum ihrer bewussten Existenz, haben ganz offensichtlich ein sehr starkes Bedürfnis nach „Sinn“. Das erklärt den Erfolg der religiösen und weltanschaulichen Ideologien und ihre kultur- und werteschaffende Macht, bedingt aber auch ihre negativen Kräfte, die die Individuen oft genug zu (selbst)zerstörerischem Tun zu treiben vermögen. Medium ursprünglicher Sinnstiftung ist der Mythos. Ihm folgen Religion, Kunst und Wissenschaft. Aber auch in der Philosophie beginnt jener lange Prozess der ihrer selbst bewussten kulturellen Arbeit (auch der Mythos ist ein Medium kultureller Arbeit des Menschen), in denen menschliche Freiheit und Selbstbestimmung begründet sind. Dieser Prozess ist nicht einlinig und eindeutig, sondern bis heute und gerade heute vielfach interpretiert, auch dementiert – Kennzeichen eben der andauernden Anstrengungen endlicher Menschen, die sich in Tradition und Traditionskritik ihre Errungenschaften, Verhältnisse und Orientierungen stets neu zurechtlegen müssen. Vielfach ineinander verschlungen sind dabei die Wirkungen des Glaubens wie des Wissens. Sie beinhalten die jüdisch-christliche Tradition des einen Gottes im Abendland sowie andere religiöse Traditionen, das Erbe der griechisch-römischen Antike, die Aufklärung, dann historisches Denken, schließlich moderne Naturwissenschaft und Philosophie, die sich reflexiv auf all dies beziehen können. Im Begriffe der Kultur begegnet der Mensch so am Ende sich selbst. „Modern“ wird diese Reflexion, wenn sie sich „nicht mehr an mythischen, religiösen oder transzendenten Autoritäten“ orientiert, sondern ein Bewusstsein davon gewinnt, „dass die Kriterien und Maßstäbe“ kultureller Geltung „immer mit zur Debatte stehen“ (Herbert Schnädelbach, geb. 1936). Kultur als historische Arbeit kann hiernach kaum mehr als bloße Stiftung fixer Größen (eines das Menschenleben bestimmenden göttlichen Willens, eines idealen Wesens, auf das alle Dinge auszurichten wären, noch nicht einmal „der“ Vernunft) angesehen werden. Kulturelle Leistungen werden weniger „entdeckt“, sondern eher gestaltet, sie sind als Resultat menschlicher Setzung und Konstruktion Gegenstand einer sie modifizierenden Reflexion und Veränderung, eines Anknüpfens an Bestehendes und an die Tradition, jedoch ohne irgendeine andere Rückendeckung, als diese Prozesse aus sich selbst entwickeln. Kultur, so könnte man von hier aus sagen, wird im Zuge einer Krisenschwelle sich als solche bewusst, wenn die unbefragte Authentizität einer gestifteten Herkunft nicht mehr mit einer quasi naturwüchsigen Prägekraft das menschliche Leben bestimmt. Nicht jede der Kulturen bezieht sich notwendig kritisch auf sich selbst. Jahrtausende lang lebten die Menschen sozusagen lediglich immanent in der Kultur – und viele, so hat man jedenfalls bemerkt, tun dies heute noch.

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Schon die Bibel erklärt uns, was Kultur bedeutet. Im Paradies gibt es keine Kultur. Als Strafe für die Sünde entstehen Arbeit und Bewusstsein, werden Kulturleistungen wie die Unterscheidung von „gut“ und „böse“ allererst zur Aufgabe. Kultur im Wortsinne (nämlich: Arbeit am Acker) entsteht erst mit der Vertreibung aus dem Paradies: „So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens. Dornen und Disteln lässt er dir wachsen, und die Pflanzen des Feldes musst du essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden; von ihm bist du ja genommen. Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück.“ (Genesis 3,17–19, Einheitsübersetzung) Konstitutiv mit ihrem Entstehen ist Kultur demnach Arbeit. Nur in definitiven Zuständen gibt es nichts zu tun (darum ja im Paradies – weil unnötig – keine „Kultur“). Arbeit ist die zielgerichtete Anwendung menschlicher Energie zur Herstellung von Produkten und Werten. „Dass der Mensch sich zu dem machen muss, was er ist, dass er im Schweiße seines Angesichtes sein Brot isst, hervorbringen muss, was er ist, das gehört zum Wesentlichen, zum Ausgezeichneten des Menschen“, sagt Hegel.5 Zum „Stoffwechsel mit der Natur“ erklärt Marx die kulturelle Arbeit des Menschen in der Gemeinschaft mit seinsgleichen: „Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eigenes Leben brauchbaren Form anzueignen“.6 Arbeit und Kultur sind, wie schließlich Freud herausstellt, schon deswegen untrennbar miteinander verbunden, weil der Mensch die Erde gestalten muss, „in der er zuerst als ein schwaches Tierwesen auftrat und in die jedes Individuum seiner Art wiederum als hilfloser Säugling – oh inch of nature! – eintreten muss. All diesen Besitz darf er als Kulturerwerb ansprechen. Er hatte sich seit langen Zeiten eine Idealvorstellung von Allmacht und Allwissenheit gebildet, die er in seinen Göttern verkörperte. Ihnen schrieb er alles zu, was seinen Wünschen unerreichbar schien – oder ihm verboten war. Man darf also sagen, diese Götter waren Kulturideale. Nun hat er sich der Erreichung dieses Ideals sehr angenähert, ist beinahe selbst ein Gott geworden. Freilich nur so, wie man nach allgemein menschlichem Urteil Ideale zu erreichen pflegt. Nicht vollkommen, in einigen Stücken gar nicht, in anderen nur so halbwegs. Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden.“ Am Ende erweist Kultur sich also wesentlich als eine Aufgabe der menschlichen Vernunft und ihrer „Arbeit am Logos“. Kaum ein Text der Kulturphilosophie bringt dies so zum Ausdruck wie der „Essay on Man“ des Breslauer, Berliner und Hamburger Philosophen Ernst Cassirer, der aus dem nationalsozialistischen Deutschland fliehen musste, und der in der Kultur doch einen Selbstbefreiungsprozess des Menschen erblicken konnte.7 Für den Humanisten Cassirer ist „Kultur“ keine bloße „Tatsache“, „die sich im Blick gleichsam

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von außen notieren ließe“, sondern „tätige Selbstauslegung des Menschen“, „für dessen Selbstverhältnis normative Ansprüche konstitutiv sind“.8 Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur Johann Gottfried Herder Der Ostpreuße Johann Gottfried Herder, geboren in Mohrungen (heute Morag, Woiwodschaft Olsztyn/Allenstein) im Jahre 1744, war Theologe und Philosoph. Er starb im Jahre 1803 in Weimar, wo er Superintendent gewesen war. Herder ist einer der ganz herausragenden Vertreter der deutschen Klassik. Er hatte großen Einfluss auf Goethe, den er 1770 in Straßburg zum ersten Mal traf. Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ stellen eines der wichtigsten kultur- und geschichtsphilosophischen Werke überhaupt dar. Was hat Herder zur Kultur zu sagen? Er verweist auf den Grundcharakter der Kultur als, wie man ihn heute nennen könnte, „historische Arbeit“. Diese kulturelle Arbeit, obwohl immer zu leisten in Auseinandersetzung mit aktuellen Situationen in einer jeweiligen, immer neuen Gegenwart, ist zugleich auf eine Anknüpfen an die Gehalte der Traditionen notwendig angewiesen, will sie nicht stets wieder sozusagen bei „Null“ anfangen. Die ebenso bewahrende, Altes aufgreifende wie schöpferisch verändernde Anverwandlung der kulturellen Tradition ermöglicht darum eine „zweite Genesis“ des Menschengeschlechtes durch „Kultur und Aufklärung“ nach seiner „materiellen“ Entstehung. Der Mensch muss sich in der Kultur gleichsam noch einmal selbst erfinden. Zum Weiterdenken

Bildung und Kultur So gern der Mensch alles aus sich heraus hervorzubringen wähnet – so sehr hängt er doch in der Entwicklung seiner Fähigkeiten von anderen ab. Nicht nur Philosophen haben die menschliche Vernunft, als unabhängig von Sinnen und Organen, zu einer ihm ursprünglichen, reinen Potenz erhoben, sondern auch der sinnliche Mensch wähnet im Traum seines Lebens, er sei alles, was er ist, durch sich selbst geworden. […] Schränkte ich aber […] beim Menschen alles auf Individuen ein und leugnete die Kette ihre Zusammenhanges sowohl untereinander als mit dem Ganzen: so wäre mir abermals die Natur des Menschen und seine helle Geschichte entgegen: denn kein Einzelner von uns ist durch sich selbst Mensch geworden. Das ganze Gebilde der Humanität in ihm hängt durch eine geistige Genesis, die Erziehung, mit seinen Eltern, Lehrern, Freunden, mit allen Umständen im Lauf seines Lebens, also mit seinem Volk und den Vätern desselben, ja endlich mit der ganzen Kette des Ge-

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schlechts zusammen, das irgend in einem Gliede eine seiner Seelenkräfte berührte. So werden Völker zuletzt Familien: Familien gehen zu Stammvätern hinauf: der Strom der Geschichte enget sich bis zu seinem Quell und der ganze Wohnplatz unserer Erde verwandelt sich endlich in ein Erziehungshaus unserer Familie. […] Alle Erziehung kann nur durch Nachahmung und Übung, also durch Übergang des Vorbildes ins Nachbild werden; und wie könnten wir dies besser als Überlieferung nennen? Der Nachahmende aber muss Kräfte haben, das Mitgeteilte und Mitteilbare aufzunehmen und es, wie die Speise, durch die er lebt, in seine Natur zu verwandeln. Von wem er also? Was und wie viel er aufnehme? Wie er es sich zueigne, nutze und anwende? Das kann nur durch seine, des Aufnehmenden, Kräfte bestimmt werden; mithin wird die Erziehung unseres Geschlechts in zwiefachem Sinn genetisch und organisch: genetisch durch die Mitteilung, organisch durch die Aufnahme und Anwendung des Mitgeteilten. Wollen wir diese zweite Genesis des Menschen, die sein ganzes Leben durchgeht, von der Bearbeitung des Ackers Kultur oder vom Bilde des Lichts Aufklärung nennen, so steht uns der Name frei; die Kette der Kultur und Aufklärung reicht aber sodann bis ans Ende der Erde. J. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Gesch. der Menschheit (1784/85), Neuntes Buch. In: Sämtliche Werke, hrsgg. von B. Suphan, Bd. 13, Berlin 1887, 343, 346, 347 f. Schreibweise modernisiert.

Ernst Cassirer Zu einer Zeit, in der er in den USA die Nachrichten von den deutschen Ungeheuerlichkeiten des Holocaust zu verarbeiten hat, veröffentlicht derselbe Mann sein an ein breiteres Publikum gerichtetes Werk „An Essay on Man“, der zuvor als Hamburger Hochschullehrer in umfassendster Gelehrsamkeit fast die gesamte deutsche Geistesgeschichte in seiner Muttersprache aufgearbeitet hatte. Der „Essay on Man“ erschien 1944; 1945 starb Cassirer. In diesem alsdann rückübersetzten „Versuch über den Menschen“ sucht Cassirer den spezifischen Charakter der kulturellen Welt im Unterschied zu den Gegenständen und Abläufen des natürlichen Universums zu charakterisieren. Die eigentliche kulturelle Tätigkeit des Menschen liegt für ihn darin, dass dieser seine Welt als ein Symbolsystem erschafft. Cassirer macht gewisse typische Weisen der Symbolisierung aus, um die sich eine „Philosophie der symbolischen Formen“ (so der Titel von Cassirers dreibändigem Hauptwerk) zu bemühen hat. Unter „symbolischen Formen“ sind dabei, wie man am Beispiel verdeutlicht hat, nicht einzelne innerkulturelle Bedeutungsträger zu verstehen (wie etwa Kreuz oder Herz) – symbolische Formen sind vielmehr die von ihm selbst erzeugten Erfah-

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rungsmedien – Sprache, Mythos, Kunst und Religion –, mit denen der Mensch sich der Welt erkennend und bewältigend zuwendet. Bei Kant, der Cassirer in Edition wie Forschung eng vertraut gewesen ist, waren die welterschließenden Erkenntniszugänge des Menschen eher gemäß naturwissenschaftlich inspirierten Kategorien gedacht gewesen. Cassirer transformiert jedoch sozusagen die naturwissenschaftlich dominierten erkenntniskonstitutiven Kategorien in andere, nunmehr kulturwissenschaftlich konzipierte. Diese produktive symbolvermittelte Aktivität ist der Kern von Cassirers Kulturbegriff. Kultur als Prozess einer fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen Im Ganzen genommen könnte man die Kultur als den Prozess der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen beschreiben. Sprache, Kunst, Religion und Wissenschaft bilden unterschiedliche Phasen in diesem Prozess. In ihnen allen entdeckt und erweist der Mensch eine neue Kraft – die Kraft, sich eine eigene, eine „ideale“ Welt zu errichten. Die Philosophie kann die Suche nach einer grundlegenden Einheit dieser idealen Welt nicht aufgeben. Sie verwechselt diese Einheit freilich nicht mit Einfachheit. Sie übersieht nicht die Spannungen und Reibungen, die starken Kontraste und tiefen Konflikte zwischen den verschiedenen Kräften des Menschen. Sie lassen sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Sie streben in verschiedene Richtungen und gehorchen unterschiedlichen Prinzipien. Aber diese Vielfalt und Disparatheit bedeutet nicht Zwietracht oder Disharmonie. Alle diese Funktionen vervollständigen und ergänzen einander. Jede von ihnen öffnet einen neuen Horizont und zeigt uns einen neuen Aspekt der Humanität. Das Dissonante steht im Einklang mit sich selbst; die Gegensätze schließen einander nicht aus, sondern verweisen aufeinander […] Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Hamburg 1996, 345 f.

Arbeitsanregungen 1. Welche Leistung muss der Einzelne gegenüber den Beständen der kulturellen Tradition nach der im Textauszug wiedergegebenen Auffassung Herders vollbringen? Suchen Sie einen Textbeleg für Ihre Antwort. 2. Worin besteht, Herder zufolge, die „zweite Genesis“ des Menschengeschlechts? Was ist darunter – gegenüber der biologischen Konstitution des Menschen – zu verstehen? 3. Wie wägt Cassirer innerkulturelle Konflikte und das normative Ziel aller Kultur gegeneinander ab? Schreiben Sie die jeweiligen Begriffe heraus.

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4. Von der Zapfkultur (beim Bier) und der Rauchkultur (Pfeife und Zigarre statt Zigarette?) über die Laufkultur (eines Motors) bis zur Streitkultur gibt es kaum einen Bereich, in dem nicht in einem sehr allgemeinen Sinne von „Kultur“ gesprochen wird. Was steht Ihnen vor Augen, wenn von „Kultur“ die Rede ist?

Literatur R. Konersmann, Kulturphilosophie zur Einführung, Hamburg (Junius) 2. Aufl. 2010. R. Konersmann, Handbuch Kulturphilosophie, Stuttgart 2012. G. Kühne-Bertram – H.-U. Lessing – V. Steenblock (Hrsg.), Mensch und Kultur, Hannover (Siebert-Verlag) 2. Aufl. 2009 (einschlägige Sammlung mit Texten, auf die die vorgenannten Ausführungen sich beziehen, u. a. von Vico, Herder, Dilthey, Cassirer, Freud, Adorno und Habermas). Th. Meier, Ernst Cassirer, Hamburg 2006 (die Biographie des Philosophen Cassirer, der als ein Opfer des Nationalsozialismus im Ausland Zuflucht suchen musste, ist zugleich ein Lehrstück in deutscher Geschichte). J. Rüsen, Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen, Köln (Böhlau) 2006. J. Rüsen u. a. (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. 3 Bde. Stuttgart–Weimar 2004 (umfassender Überblick über Themen und Theorien).

10 Gibt es einen Sinn in der Geschichte?

Gibt es „die“ Geschichte in jenem vom Historiker Reinhart Koselleck (1923 – 2006) so genannten „Kollektivsingular“? Nach der Krise der Geschichtsphilosophie, die so gerne vom Fortschritt sprach, sowie unter dem Eindruck von Jahrtausenden menschlicher Leiden dürfte es heute mancher Beobachter wohl eher mit Goethe halten: „Die gute Sache kommt mit vor als wie Saturn der Sünder: kaum sind sie an das Licht gebracht, so frisst er seine Kinder.“1

Sinn in der Geschichte?

„Geschichte“ ist nicht einfach ein Gegenstand, etwa der Ablauf aller menschlichen Verhältnisse und Einrichtungen in der Zeit. Mit Geschichten versichern sich vielmehr Einzelne, Gruppen und Institutionen ihrer Identität. Dass Geschichte auch eine „Reise ins Andere“ darstellen kann, ist dagegen kein Widerspruch. Wie diese historische Vergegenwärtigung aussieht, ist selbst wiederum historischen Bedingungen unterworfen und darum schreibt jede Generation ihre Geschichte neu. Geschichte ist also niemals „Abbildung“ von Vergangenheit, sondern ein stets gegenwärtiger – jedoch nicht beliebiger – Konstruktionsprozess. Dies gilt für die Menschheitsgeschichte ebenso, wie jeder von uns für sich die Erinnerung an negative Widerfahrnisse oder glückliche Erfahrungen organisiert. Will man wichtige leitende Hinsichten des menschlichen Umgangs mit der Geschichte in Geschichtswissenschaft, Theorie der Geschichtswissenschaft [„Historik“] und Geschichtsphilosophie unterscheiden, so kann man wohl in etwa die folgenden nennen: Zunächst die Frage nach den treibenden Kräften und bewegenden Faktoren der Geschichte, nach der Existenz oder Nichtexistenz der einen Geschichte als Prozess mit angebbarem Ziel, nach Geschichte als Fortschritt oder Katastrophengeschichte oder nach Geschichte als Kreislauf, Auf und Ab der Kulturen; nach Geschichte als Realisierung eines Göttlichen oder als Konglomerat anonymer naturhafter sozioökonomischer Prozesse; nach Geschichte der Nation oder Geschichte der Menschheit. Ferner kann man fragen nach den adäquaten Methoden der Geschichtserkenntnis (z. B. nach Verstehensprozessen oder nach strukturellen Analysen unter Hinzuziehung soziologischer, psychologischer und ökonomischer Theorien usw.). Schließlich ergeben sich Fragen nach der kritischen wie ideo-

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Sinn in der Geschichte?

logischen Funktion von Geschichte, nach Geschichte als Sinnbildung, Identitätsstiftung oder als Desaster und Sinngebung des Sinnlosen, aber auch nach dem Unterhaltungs- und Bildungswert von Geschichte und ihrer musealen und sonstigen Präsentation in unserer Gesellschaft.

10.1 Nur ein Kreislauf des Lebens? – Anfänge des Geschichtsdenkens Anfänge des Geschichtsdenkens

Um etwas von seinem Herkommen zu wissen und damit auch etwas über sich selbst zu erfahren, hat sich der Mensch zunächst der Religion und des Mythos, erst danach der Historiographie (Geschichtsschreibung) und darüber hinausgehend auch der philosophischen Deutung der Geschichte bedient. Die Historiographie ist, wie ihr Name schon anzeigt, gleich der Philosophie eine Schöpfung des griechischen Geistes; ihre Vorgänger liegen in den Hochkulturen des Alten Orients (Ägypter, Sumerer, Hethiter) sowie im Judentum.2 Zwar gibt es zwischen den Annalen und Chroniken des Alten Orients und den Anfängen der Geschichtsschreibung in Griechenland keinen inneren Zusammenhang, doch sind sie beide dadurch geprägt, dass zunächst keine Trennung vollzogen wird zwischen der Geschichte vom Leben der Irdischen und der mythischen Darstellung der Götter, die die Ereignisse beherrschen: man denke nur an die Darstellung des Trojanischen Krieges und seiner Folgezeit in den Epen „Ilias“ und „Odyssee“ durch den ersten großen Dichter der Griechen Homer (Lebenszeit zwischen 750 und 650 v. Chr.). Dagegen hat man den Anfängen menschlicher Kultur ein historisches Bewusstsein überhaupt abgesprochen; im Glauben etwa: bei solchen noch schriftlosen Völkern passiere eben nichts; gäbe es Veränderungen, so hätten diese Völker kein Bewusstsein davon; und weil bloß mündliche Tradition und Überlieferung vorliege, sei eh alles so gut wie verloren. Vor allem der „Klassiker“ der Religionsgeschichte, Mircea Eliade (1907–1986) hat die These vom geschichtsannullierenden „Paradies der Archetypen“ vertreten. Weil die „mythische Zeit der Uranfänge“ als einzige relevant gedacht werde, könne keine andere Zeit mehr Bedeutung haben: Was an Regenerationsriten – z. B. den jährlichen Wiederholungen der Weltschöpfung – auffällt, „ist die Vernichtung der konkreten Zeit und also ihre antihistorische Tendenz. Die Weigerung, eine Erinnerung an die Vergangenheit zu bewahren – und sei es auch die unmittelbare – erscheint uns als Anzeichen einer besonderen Anthropologie. Mit einem Wort, es ist die Weigerung des archaischen Menschen, sich als historisches Wesen zu betrachten, seine Weigerung, der ,Erinnerung‘ einen Wert zuzugestehen und damit auch den ungewöhnlichen Ereignissen […], die eigentlich eine konkrete Dauer erst bewirken. In letzter Analyse entdecken wir in all diesen Riten und Haltungen den Willen zur Entwertung der Zeit.“

Anfänge des Geschichtsdenkens

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Dieser Deutung gegenüber ist von ethnologischer Seite aber dafür plädiert worden, dass man bereits diese schriftlosen Völker nicht für zugleich „geschichtslose“ halten sollte. „Geschichtsbewusstsein“ kann freilich auf dieser Stufe nur erst heißen „die Erinnerung an Ereignisse, die Menschen erlebt oder bewirkt haben und die als wirklich geschehen überliefert werden. Was als ,wirkliches Geschehen‘ angenommen wird, ist primär nicht nach unserem wissenschaftlichen Weltbild zu beurteilen, sondern nach den Vorstellungen des jeweiligen Volkes.“ Es äußert sich als Ahnenkult, Häuptlingsgenealogie (die z. B. ein entsprechend beauftragter Mann in untersuchten Fällen mit 83 Namen bei mehreren Anlässen ohne Abweichungen wiedergeben konnte), Kriegsdichtung, Erinnerung einzelner hervorragender Häuptlingsgestalten usw. Die ethnische Eigenart einer Gruppe entfaltet sich durch die Vergegenwärtigung ihrer Vergangenheit, z. B. kriegerischer Auseinandersetzungen mit anderen Gruppen: auf diese Weise lässt sich auch funktionalistisch (Zusammenhalt der Gruppe, Berichte über vergangene Ereignisse als „Grundgesetz“ der Gruppe) für ein Geschichtsbewusstsein argumentieren (so Bronislaw Malinowski, 1884–1942). Dieses differenziert sich in solchen Fällen stärker aus, in denen erworbene Rechte und politische Ansprüche verteidigt werden müssen. Auch ist ein Kontrastbewusstsein vorzufinden zwischen dem, was die Vorväter taten und dem in der Gegenwart Gebotenen und Verbotenen. Für die moderne Geschichtswissenschaft ist es darüber hinaus heute möglich, archäologische Denkmäler und Bodenfunde, ethnographische, linguistische und physisch-anthropologische Befunde, Felsmalereien, kultische Denkmäler, Familienabzeichen, Tätowierungen zur Überprüfung mündlicher Traditionen einzusetzen. Grundsätzlich gilt damit offenbar: Zum Übergang des Menschen vom Natur- zum Kulturwesen gehören die Anfänge geschichtlicher Selbstvergewisserung immer schon hinzu.3 Wie aber sind Anfang und Grund eines sich weiterentwickelnden historischen Denkens alsdann vorzustellen? Was führt in der Kulturentwicklung zur Geschichtsreflexion? Eine interessante erste Gestalt in diesem Zusammenhang ist der antike Dichter Hesiod aus Askra in Böotien, der um 700 v. Chr. lebte. Bei ihm sind es wohl persönliche Erfahrungen, die eine gewisse Rolle spielen und eine reflexiv-zeitliche Verortung des eigenen Daseins provozieren. Hesiod war Autor der Göttergeschichte „Theogonie“ und des Lehrgedichtes „Werke und Tage“, dessen Anlass eine Übervorteilung durch seinen Bruder und dessen Bestätigung durch einen ungerechten Richter sind. Solcher Verfall der Sitten weitet sich ihm im Weltzeitaltermythos zu einer Deutung der Geschichte überhaupt als Verfall aus: es folgen einander diskontinuierlich ohne Logik (abgesehen von der deszendenten Analogie der Metallwerte und des Sittenverfalls) die rückwärts gewandte Utopie des „Goldenen Zeitalters“ und die danach absteigenden Lebensformen des silbernen und erzenen Zeit-

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alters, der vierten „Heroenzeit“ und schließlich der betrüblichen Gegenwart. Hesiod stellt keinen neuen Aufstieg, keine Wiederkehr des „Goldenen Zeitalters“ in Aussicht; er schwankt vielmehr zwischen dem Appell an Bruder und Richter, sich an die „Dike“ [Gerechtigkeit] zu halten und einer bescheidenen Perspektive von arbeitendem Bemühen einer- sowie einem starken Pessimismus andererseits. Andere Anfänge der nun zunehmend „professionellen“ griechischen Geschichtsschreibung liegen wie folgt: Nachdem bereits Hekataios von Milet (550–480 v. Chr.) in seiner „Erdbeschreibung“ und den „Genealogien“ das Interesse dokumentiert, das die in den weltoffenen Handelsstädten an der kleinasiatischen Küste lebenden Ionier für das Leben der Menschen auf der damals bekannten Erde entwickelten, gilt vor allem Herodot (484–425 v. Chr.), der Historiker der großen Auseinandersetzung zwischen den griechischen Stadtstaaten und dem Perserreich, als „Vater der Geschichte“. Seine „Historien“, noch keine wissenschaftlich-kritische Geschichte im späteren Sinne, aber auch nicht mehr eine mythisch-archaische Frühgeschichte, sondern z. T. noch selbst erlebte, „säkularisierte“ profane Menschheitsgeschichte, beginnen: „Herodot von Halikarnassos gibt hier eine Darlegung seiner Forschungen, damit bei der Nachwelt nicht in Vergessenheit gerate, was unter Menschen einst geschehen ist; auch soll das Andenken an große und wunderbare Taten nicht erlöschen, die die Hellenen und die Barbaren getan haben, besonders aber soll man die Ursachen wissen, weshalb sie gegeneinander Kriege führten“. Der athenische Ex-Militär Thukydides (456–396 v. Chr.) schildert den darauf folgenden „peloponnesischen“ Krieg, den nach dem Ende der Perserkriege nun vor allem Athen und Sparta untereinander führten, in der Absicht, das Wesen der politischen Macht zu ergründen, was seinen berühmtesten Ausdruck im sogenannten „Melier-Dialog“ gefunden hat, der davon erzählt, wie sich die militärisch hoffnungslos unterlegenen Einwohner der kleinen Insel Melos dem von den Athenern proklamierten „Recht des Stärkeren“ nicht unterwerfen. Obwohl diese Art der Tapferkeit in seiner Darstellung eher töricht erscheint, deutet Thukydides zugleich die Gefahr der Hybris für die Athener an: Nach der Vernichtung der Melier stürzen sie sich in das Abenteuer einer kriegerischen Expedition nach Sizilien und damit nach langwierigem Krieg in ihr späteres Verderben. Über seine Geschichtsaufarbeitung sagt Thukydides: „Wer klare Erkenntnis des Vergangenen erstrebt und damit auch des Künftigen, das wieder einmal nach der menschlichen Natur so oder ähnlich eintreten wird, der wird mein Werk für nützlich halten, und das soll mir genügen. Als ein Besitz für immer, nicht als Glanzstück für einmaliges Hören ist es aufgeschrieben.“ Polybios (201–120 v. Chr.), griechische Geisel in Rom (Kreis des jüngeren Scipio), berichtet in seinen „Historien“ vom Aufstieg Roms zum Zentrum der

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Mittelmeerwelt (und das ist durchaus „linear“, auf ein „telos“, ein Ziel hinlaufend zu verstehen). Zugleich jedoch unterliegt das Menschengeschehen einem mit Naturgewalt (tyche) erfolgenden Zyklus. Aus einem „Kreislauf der Verfassungen“ (nämlich der Herrschaft eines einzelnen, einiger weniger oder „des Volkes“ mit ihren Entartungsformen: Königtum-Tyrannis, AristokratieOligarchie, Demokratie-Ochlokratie) wird die „gemischte Verfassung“ Roms erklärt, in der Polybios einen wesentlichen Grund für den römischen Erfolg sieht. Geschichte versteht Polybios „pragmatisch“ als Anleitung für Staatsmänner. Andere Stationen der antiken Geschichtsschreibung wären noch zu nennen wie der berühmte Ausspruch des Römers Tacitus (55 –120), der wie auch Livius (57 v.–17 n. Chr.) die alten Römertugenden verherrlicht, er wolle „sine ira et studio“ („ohne Zorn und Eifer“) die römische Kaiserzeit beschreiben oder das Werk des Lukian (120–180) „Wie man Geschichte schreiben soll“ – beides, wenn man so will, Anfänge der theoretischen Besinnung der Geschichtsforschung auf sich selbst, also der Theorie der Geschichte oder „Historik“. Fassen wir das antike Geschichtsdenken typologisch charakterisierend zusammen, so kann man von diesem vielleicht sagen: es bildet sich in Variationen des Gedankens vom „Kreislauf“, vom „Auf und Ab“ gemäß dem Walten der Götter, dem Schicksal und der „menschlichen Natur“ aus und steht dabei vor allem in einem Spannungsfeld von pragmatischer Lebenserfahrung und dem Interesse an Periodisierung.4 Dieses antike Deutungsmuster wird in der Neuzeit vereinzelt wieder aufgegriffen, etwa wenn Giambattista Vico (1668–1744), Rhetoriklehrer in lebenslang materiell bedrängten Verhältnissen im zur damaligen Zeit spanisch-absolutistisch regierten Neapel, mit dem Schema von „Corso und Ricorso“ erneut, d. h. wie schon die Antike, Kreislaufvorstellungen zur Geschichtsdeutung verwendet. Der auch als politischer Denker berühmte Niccolo Macchiavelli (1469– 1527) will in seinen „Discorsi“ aus der römischen Geschichte, wie sie uns in den Schriften des Livius noch zugänglich ist, Handlungsanweisungen für die Gegenwart ableiten. Diese direkte Auffassung von der Geschichte als „Lehrmeisterin des Lebens“ („historia magistra vitae“) wird jedoch, wie der eingangs bereits erwähnte Reinhart Koselleck dargelegt hat, um 1800 aus dem Verkehr gezogen, als „die Geschichte“ im „Kollektivsingular“ neu entsteht. Ob sie nun als „ganz neu machbar“ angesehen wird oder als übermächtiges Verhängnis: Geschichte ist ab diesem Zeitpunkt nichts, dem man paradigmatische Vorbilder entnehmen könnte.5 Eine der vielleicht letzten großen Bezugnahmen auf die antike Geschichtsdeutung ist Karl Löwiths (1897–1973) „stoischer Rückzug vom historischen Bewusstsein“ (J. Habermas). Löwith hat mit seinem Buch. „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ eine geistesgeschichtlich epochemachende

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Sinn in der Geschichte?

kritische Darstellung der Entstehung der Vorstellung gewidmet, die in der Folgezeit das Geschichtsdenken bestimmt: der Idee des „großen Dramas“.

10.2 Das große Drama – Geschichtstheologie und Geschichtsphilosophie Geschichtstheologie und Geschichtsphilosophie

Ein gegenüber dem Deutungshorizont der Antike ganz neuer Ton gelangt nämlich mit Judentum und Christentum in das Geschichtsdenken. Geschichte wird nun über die Jahrhunderte immer mehr zu einem Drama, zu einer großen Erzählung. In unserem Kulturkreis ist uns dieser Gang durch die fundamentale Sinnstiftungsleistung der Religion vertraut: Gott schafft die Welt und greift vielfach in sie ein. Immer wieder deutet etwa die Geschichte des Alten Testaments für den Christen auf das Auftreten Jesu und auf seine zentrale Heilstat voraus, die zugleich alles Vorherige überbietet. Am Ende wird eine große Abrechnung stehen und ein sinnerfülltes Ganzes sich ergeben. Noch Hegel reformuliert diese Sicht zu einem grandiosen philosophischen Gesamtentwurf des Weltganges. Auch die Folge der Propheten aus der Sicht des Islams kann man übrigens in eine – in Mohammed gipfelnde – aufsteigende Reihe bringen. Schon der Gott des Judentums ist ein Gott der Geschichte mit seinem Volk; die jüdische ist eine historische, keine Naturreligion. Von der Erschaffung der Welt, der Ur- und Erzvätergeschichte über die „stiftende Urzeit“ des Auszugs aus Ägypten, in dem sich zeigt, dass Jahwe mit Israel Besonderes vorhat, von der „höfischen“ Berichterstattung über Saul, David und Salomon über die „Botschaft der Propheten“, die den Untergang der Reiche und das Exil als Strafe für den Abfall von Jahwe voraussagen, bis zur messianischen Erlösung in der Zukunft spannt sich in den verschiedenen Büchern und Traditionen die religiöse Selbst- und Sinndeutung des Volkes Israel. Von der Schöpfung bis zur Landnahme und zu David lässt sich in der Redaktion des „Jahwisten“ die „aufsteigende Linie“ einer Heilsgeschichte ausmachen, der die von den gegen die Politik der Könige opponierenden Propheten geprägten fromme Geschichtssicht und Unheilsgeschichte bis zum Untergang Israels folgt mit der Aussicht auf ein neues Israel, das die Jahrhunderte staatenlosen Daseins und grausamer Verfolgung überwinden wird. Die Geschichtsinterpretation stellt das direkte Handeln Gottes dar: von der Insektenplage in Ägypten, mit der Gott zugunsten seines auserwählten Volkes in die Geschichte eingreift, bis zu der als Strafe am unfolgsamen Volk erlebten Unterdrückung durch das Reich Nebukadnezars als Instrument Gottes.6 Als „christliche Geschichtsphilosophie“ wird in der Nachfolge dieser jüdischen Selbstdeutung häufig ein Geschichtsdenken bezeichnet, das gegen den Kosmosgedanken und die Kreislaufvorstellungen der Antike und im Zuge

Geschichtstheologie und Geschichtsphilosophie

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einer „Universalisierung“ der jüdischen ethnisch-national begrenzten Geschichte des Heilsplans wie der Straftaten Gottes die Weltgeschichte erstmals als lineares Ganzes denke. Nach der berühmten These Karl Löwiths hat vor allem der Kirchenvater Augustinus zu Beginn des fünften Jahrhunderts mit seiner Geschichtstheologie zugleich den Ursprung der in der Neuzeit und Moderne nachfolgenden Geschichtsphilosophien gesetzt, indem deren weitere Varianten sich als bloß scheinbare Veränderungen, als „Pseudomorphosen“ des von Augustin vorgegebenen Schemas erweisen. In der Deutung des augustinischen Beitrags zum Geschichtsdenken ist jedoch weder Löwiths Deutung des Christentums als etwas „von Vernunft und Griechentum völlig Verschiedenes“ (K. Flasch), noch überhaupt die Auffassung unwidersprochen geblieben, bei Augustin gehe es um Geschichtsmetaphysik (W. Kamlah). Es ist umstritten, ob der platonisch bestärkte Dualismus von irdischem Diesseits und jenseitigem „eigentlichem“ Reich tatsächlich bei Augustin zugunsten eines historisierten Vorher-Nachher in den Hintergrund tritt, denn der Kirchenvater ist nicht an der Geschichte selbst, sondern an dem interessiert, worin sie „eingebettet“ ist: „Alle Zeiten hast Du erschaffen und vor allen Zeiten bist Du, und vor der Zeit hat es nie eine Zeit gegeben“, heißt es, in Anrufung Gottes, in den „Bekenntnissen“. Augustin setzt den Beginn der Zeit mit dem Datum der Weltschöpfung gleich und eröffnet damit eine Doppeldeutigkeit, die auch sein gesamtes Geschichtsdenken prägt: einerseits ist dadurch etwas Punktuelles, Neues, Einmalig-Ereignishaftes fixiert, andererseits bleiben Zeit und Geschichte an das „ontologische Fundament“ des vor-, über und nachgeschichtlichen Gottes gebunden. Zugleich verdankt sich diese Geschichte allererst dem Sündenfall der Engel und des Menschen durch ihre jeweilige böse „subjektive Selbstermächtigung“ gegenüber Gott, der die Vermischung der Civitates zustande gebracht hat. Damit aber steht diese Geschichte von vornherein in einem defizienten Modus (E. Angehrn). Aber es spricht auch viel für die Einführung des Geschichtsdenkens als eines Neuen: Augustinus verurteilt im Kapitel 14 des XII. Buches der „Civitas Dei“ die heidnischen Kreislaufmodelle als „Irrtümer“ kraft der Einmaligkeit und Endgültigkeit der göttlichen Heilstat: „Denn nur einmal ist Christus gestorben für unsere Sünden; auferstanden von den Toten aber stirbt er nicht noch einmal, und der Tod wird nicht mehr über ihn herrschen; und wir werden nach der Auferstehung allezeit bei dem Herrn sein“. Christus ist der „gerade Weg“ gegenüber dem „falschen Kreis.“ Augustins zweites großes Argument für „die eine“ Geschichte und gegen die Idee einer zyklischen Wiederkehr ist folgendes: Die „Philosophen dieser Welt“, so spottet Augustin, glaubten, die Frage nach der Geschichte „auf die Art lösen zu sollen, dass sie Zeitumläufe einführten, in denen sich in der Natur der Dinge dasselbe immer wieder erneuert und wiederholt haben soll.

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Und sie versichern, dass sich die kommenden und gehenden Zeitalter auch hinfort ohne Unterlass in Kreisläufen bewegen würden, sei es, dass sie in einer ununterbrochen bestehenden Welt abrollen, sei es, dass die Welt in bestimmten Zwischenräumen entsteht und untergeht und immer wieder das Gleiche als neu darbietet, was schon einmal gewesen und künftig sein wird. Von diesem Spiel können sie nicht einmal die unsterbliche Seele, auch wenn sie die Weisheit empfangen hat, befreien und lassen sie ohne Unterbrechung zwischen einer falschen Glückseligkeit und einer nur zu echten Unseligkeit hin und her schwanken. Denn wie soll es eine wahre Glückseligkeit geben, solange man sich niemals auf ihre Ewigkeit verlassen kann?“7 Die Tradition der Ausarbeitung geschichtstheologischer Vorstellungen beginnt mit der von Augustin selbst initiierten, wenn dann auch nicht gebilligten ersten vollständigen christlichen Weltgeschichte des spanischen Priesters Orosius: „Historiarum adversae paganos libri VII“, die mit dem Sündenfall einsetzt und die daraus resultierende Vermengung menschlichen Sünden- und göttlichen Heils- und Strafwirkens beschreibt. Obwohl es eine lange Entwicklung gibt von der Spätantike über den Beginn der Geschichtsschreibung der germanischen Völker in der „Historia ecclesiastica gentis Anglorum“ des Angelsachsen Beda Venerabilis (674–735) bis zum Geschichtsdenken vor allem des Hochmittelalters, hat Augustin damit den Weg des christlichen Geschichtsdenkens doch vorgezeichnet: Titel und Deutungsmuster seiner Werke klingen z. B. nach in der „Chronica sive Historia de duabus civitatibus“ des Bischofs Otto von Freising (1115–1158), eines Onkels Kaiser Friedrich Barbarossas, und das von Augustin entworfene Periodisierungs-Schema der „Aetates mundi“, demzufolge die „Weltenwoche“ sich entsprechend den sechs Schöpfungstagen auf sechs Weltzeitalter erstreckt, speist zusammen mit der aus dem Danielbuch stammenden Theorie von der Übertragung der vier Weltreiche (Dan 7,1–28) in mancherlei Variation die Ausprägungen mittelalterlicher Geschichtsanschauung überhaupt. Der Bogen der christlichen Geschichtsdeutung gewinnt Ausdruck in der Gattung der Welt- oder Universalchroniken, z. B. der gereimten „Kaiserchronik“, die die Geschichten der römischen und deutschen Kaiser von Julius Cäsar bis in die Zeit Konrads des III. (ca. 1146) in weltgeschichtlichem Entwurf unter Beifügung zahlreicher Legenden und Wundergeschichten beschreibt oder der des Rudolf von Ems (1200–1254) oder der „Sächsischen Weltchronik“, der ersten in der deutschen Volkssprache abgefassten Prosachronik, durch das ganze Mittelalter bis hin zum letztem großen geschichtstheologischen Entwurf „Discours sur l'histoire universelle“ des Erziehers Ludwigs XIV. und Bischofs von Meaux: Jacques Bénigne de Bossuet (1627–1704) von 1681. Ein entscheidender Schritt fort von der Auffassung des irdischen Geschehens als einer vor der Ewigkeit und Überzeitlichkeit Gottes unbedeutenden Episode ohne eigene Entwicklung und eigenen Gehalt hin zu einer „Ausdeh-

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nung“ und theoretischen Aufwertung des „historischen Raums“ geschieht bei dem im Kontext des Chiliasmus [Lehre von einem für die Zeit der Wiederkunft Christi zu erwartenden 1000jährigen Reich der Herrschaft des verherrlichten Christus und der Seinen] und (politischen) Messianismus zu sehenden italienischen Zisterziensermönch, Abt und Ordensgründer Joachim von Fiore (1130–1202), der in jener Zeit lebte, in der sich der große Kampf zwischen Kaiser und Papst seinem Höhepunkt näherte, nämlich in der Zeit des Vaters Kaiser Friedrichs II, Heinrich VI. und des machtvollen Papstes Innozenz III. Joachims große Bedeutung für die Entwicklung hin zu einer späteren Geschichtsphilosophie liegt in seiner „trinitarischen“ Geschichtstheologie und in seiner „zweiten“ und „innerweltlichen“ Eschatologie: Bei Joachim hat die Welt selbst eine echte Zukunft und das kommende dritte Zeitalter des Geistes ist wirkliche Geschichte noch vor der Aufhebung aller Geschichte. Die drei Weltzustände sind den drei Personen der Trinität zugeordnet: der alttestamentarischen Zeit Gottvaters und der neutestamentlichen des Sohnes sollte ein Zeitalter des Heiligen Geistes folgen. Obwohl Joachim seine Werke im Einvernehmen mit der kirchlichen Hierarchie, ja in päpstlichem Auftrag erstellt und diese so vom Franziskanergeneral Bonaventura mit den Positionen der Kirche vermittelt werden können,8 enthielten diese Ideen, die von der innerkirchlichen Oppositionsbewegung der Franziskanerspiritualen hierarchiekritisch gewendet wurden, internen „Sprengstoff“, weil sie die Idee einer neuen Mönchskirche unter Ablösung der „Kirche des Petrus“ und, unter Zuhilfenahme der die Weltgeschichte ausrechnenden Künste des Mittelalters, sogar Prophetien über deren Beginn provozieren konnten; die Kirche von Augustin bis Thomas bestand demgegenüber darauf, dass es kein drittes Zeitalter gebe und die letzte Vollendung in Gott ihren außergeschichtlichen Charakter behalte.

10.3 Fortschritt oder Katastrophe des Menschengeschlechtes? Fortschritt oder Katastrophe?

Mit der Entstehung der Geschichtsphilosophie verlagert sich der Schwerpunkt von der Ansicht der menschlichen Dinge als einer eher kurzen Veranstaltung zur Komplettierung einer weitaus bedeutsameren jenseitigen und übergeschichtlichen Ordnung hin zu einer theoretischen Annäherung, ja zeitweiligen Ineinssetzung der Menschengeschichte mit dem Weg zum Heil, die erst unter dem Eindruck der Qualität und Quantität der Barbarei im 20. Jahrhundert wieder zerbricht. Teils mehr, teils weniger wird der religiöse Deutungsrahmen dabei säkularisiert [verweltlicht], bis er am Ende bei Marx als ein ganz diesseitiges Gegenmodell auftritt, ohne wohl im Grundgestus seine religiöse Herkunft ganz

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leugnen zu können. Die Idee eines letztlichen „Fortschritts“ ist die Vorstellung, die die Geschichtsphilosophie als Erbin der Geschichtstheologie beflügelt. Denn mit dem bürgerlichen Zeitalter beginnt die große Zeit der Fortschrittstheorien und damit der Geschichtsphilosophie im engeren Sinne des Wortes. Der Franzose François-Marie Arouet (1694–1778), der sich später Voltaire nannte, streitbarer Anwalt der Vernunft und der Menschenrechte und glänzender Geist der Aufklärung, thematisierte 1753 in seinem „Essai sur les moeurs et l’esprit des nations“ die Geschichte im Hinblick auf das glanzvolle Zeitalter Ludwigs XIV. unter den leitenden Hinsichten von Fortschritt und Zivilisation und nicht mehr als direkte Veranstaltung Gottes oder nur als Politikgeschichte oder nur als Geschichte Europas. Voltaire spottete: „Es ist immer sehr kühn, den Plan Gottes ergründen zu wollen; aber diese Verwegenheit ist auch mit einer großen Lächerlichkeit gemischt, wenn man beweisen wollte, dass der Gott aller Völker der Erde und aller Geschöpfe anderer Gestirne sich nicht mit den Revolutionen Asiens beschäftigte, und dass er nur im Hinblick auf das kleine jüdische Volk so viele Eroberer nach einander schickte, bald um es zu demütigen, bald um es wieder zu erheben.“9 Antoine Marquis de Condorcet (1743–1794), 1792 Präsident der französischen Nationalversammlung, 1794 den revolutionären Zeitläuften zum Opfer gefallen, stellt in der Schrift „Esquisse d’un tableau historique des progres de l’esprit humain“ den Fortschrittsgedanken in Form einer stufenweisen Entwicklung zur Vervollkommnung des Menschengeschlechts in den Wissenschaften, aber auch in der Moral dar, den nur die Herrschaft der Kirche im Mittelalter unterbrochen habe. Auch in Deutschland steigert sich der Fortschrittsglaube von den eher vorsichtigen Positionen des Dichters Gotthold Ephraim Lessing (1729 –1781) und des Philosophen Kant hin zu Hegels Gedanken von der einem Plan folgenden und fortschreitenden Geschichte. Gegenüber Lessings und Kants von einer praktischen, ethischen Grundabsicht getragenen Ansätzen treten bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel im 19. Jahrhundert Geschichte und Metaphysik in eine enge Verbindung. Hegel setzt sich mit seiner Geschichtsphilosophie ab von allen bisher erwähnten Formen des Geschichtsdenkens: von bloßer historischer Erinnerung, von Geschichtsschreibung als subjektivem theoretischem Räsonnement, von dem Versuch, aus der Geschichte Lehren für heutiges Handeln zu ziehen, aber auch von der zu Hegels Zeit sich entwickelnden „kritischen“ Geschichte der Historiker (Mommsen, Ranke). Hegels Geschichtsdeutung behauptet und sieht es auch vom erreichten Stand der Philosophie bewiesen, „dass die Vernunft die Welt beherrscht, dass es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen ist“. Wohl mag man die Leiden in der Geschichte beklagen, aber Hegels Absicht ist es doch, „den Endzweck“ darzulegen, „das Zufällige zu entfernen“ und damit

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eine „Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes“ (vgl. das Metaphysik- und das Religions-Kapitel im vorliegenden Band) zu leisten. Um den „Plan der Vorsehung in der Weltgeschichte“ näher zu bestimmen, beruft sich Hegel darauf, dass die Philosophie auf den Begriff bringe, was Gott in der christlichen Religion offenbart hat. Nun gilt es, „das, was dem fühlenden und vorstellenden Geiste zunächst vorgelegt worden, auch mit dem Gedanken zu erfassen. Ob es an der Zeit ist, zu erkennen, muss davon abhängen, ob das, was Endzweck der Welt ist, endlich auf allgemeingültige, bewusste Weise in die Wirklichkeit getreten ist. – Nun ist das Ausgezeichnete der christlichen Religion, dass mit ihr diese Zeit gekommen ist; dies macht die absolute Epoche in der Weltgeschichte aus. Es ist offenbar geworden, was die Natur Gottes sei. […] Es ist deshalb zu sagen, dass auch absolut die Zeit gekommen sei, wo diese Überzeugung, Gewissheit, nicht nur in der Weise der Vorstellung bleiben kann, sondern wo sie auch gedacht, entwickelt, erkannt wird, – ein bestimmtes Wissen.“ Bei Hegel ist der Prozess der Herausbildung der Geschichtsphilosophie auf seinem Höhepunkt angelangt. Die Weltgeschichte als Prozess des Geistes hat sich derart ausgedehnt, dass sie die gesamte Breite der theoretischen Bühne beansprucht; das Jenseits der Geschichte erscheint ausgeblendet und damit die Augustinische Gewichtung fast umgekehrt. Wer sich mit Hegel auf den Standpunkt des absoluten Geistes erhoben und die Versöhnung erkannt hat, braucht sich nicht mehr religiös diese Versöhnung als noch ausstehend, als „Fernes der Zukunft“ zu denken. Karl Löwith freilich sieht darin die „innere Unmöglichkeit seines Prinzips: dass die christliche Religion sich verwirkliche in der Geschichte der Welt – als ob der christliche Glaube je wirklich werden und trotzdem ein Glaube an Unsichtbares bleiben könne!“ Geradezu berüchtigt gewordene Formulierungen Hegels (wie die, die „Perioden des Glücks“ seien nur leere Blätter in der Weltgeschichte) legen zudem den Vorwurf nahe, er opfere Freiheit und Wohlbefinden der Individuen auf dem Altar der absolut gesetzten Prämisse des zu sich selbst kommenden göttlichen Geistes, von der aus Natur und Geschichte gedeutet werden.10 Hegels Tinte ist aber noch nicht ganz trocken, da richtet Karl Marx gegenüber dem „Verwesungsprozess des Hegel'schen Systems“, dem „Verfaulungsprozess des absoluten Geistes“ den Blick auf die „Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens“. Marx reformuliert die Hegelsche Dialektik des zu sich selbst kommenden Geistes unter einem grundsätzlich anderen Aspekt. Aber auch der Gang seines Denkens bleibt im Horizont des „großen Dramas“ und strebt über „These“ und „Antithese“ zur „Synthese“. Marx sah in bestimmten sozioökonomischen Gesetzmäßigkeiten die „Wesensebene“ der Geschichte, die in die grandiose Perspektive einer unter dem Einfluss der Produktivkraftentwicklung aus dem zunehmenden Klassenantagonismus zwischen Produktionsmitteleignern und den verelenden Arbeitskraftanbie-

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tern (These und Antithese) erwachsenden Weltrevolution mit anschließendem Übergang zum Kommunismus (als der finalen Synthese) mündet. Trotz aller Unterschiede hat man Marx darum in die Entwicklungslinie der (die Geschichtstheologie beerbenden und ihr verwandten) Geschichtsphilosophie gestellt, wie sie von Augustin zu Hegel führt. Obwohl Marx also einen völlig anderen Ansatz wählte als Hegel, rückte er damit doch als Vertreter einer gleich anspruchsvollen deutschen „Großtheorie“ sozusagen in seine theoretische Nähe. Der „Fortschritt“ wurde, nicht zuletzt unter dem Eindruck Hegels und bei allem Widerspruch auch Marxens, zur grundlegenden Kategorie bürgerlich-europäischer und auch amerikanischer geschichtlicher Orientierung und Selbstvergewisserung.11 Unter ausdrücklicher Berufung auf Hegel hat noch am Ende des 20. Jahrhunderts Francis Fukuyama (geb. 1945) zur Deutung unserer Zivilisation die These vertreten, dass die Geschichte einen Fortschrittsprozess darstelle, weil die Entwicklung der Naturwissenschaften und der Industrialisierung notwendigerweise zu einer erfolgreichen Marktwirtschaft im wirtschaftlichen und zur liberalen Demokratie im politischen Bereich führen müsse. Schon im 19. Jahrhundert, erst recht aber unter dem Eindruck der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts treten die Kritiker der Geschichtsphilosophie auf. Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme und der immer nachhaltigeren Wahrnehmung und Diskussion ihrer dem Blutzoll des Faschismus gleichgesetzten Opfer brach vor allem gegen Marx, aber auch gegen seinen vermeintlichen oder tatsächlichen Mentor Hegel und damit gegen die Geschichtsphilosophie überhaupt geradezu der Sturm einer vernichtenden theoretischen Demontage los. Spät- und Nachmarxisten wie Max Horkheimer (1895–1973) und Theodor W. Adorno (1903–1969) kritisierten alle Dialektik, die über die Antithese hinausgehen sollte, als in sich schon totalitär. Ähnlich, wenn auch von einem ganz anderen philosophischen Ausgangspunkt aus, zog Karl Popper (1902–1994) im Schlusskapitel des zweiten Bandes seines Buches „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“: „Hat die Weltgeschichte einen Sinn?“ gegen den von ihm so genannten „Historizismus“ (nicht zu verwechseln mit dem Historismus) zu Felde, d. h. gegen die vor allem bei Hegel und Marx entdeckte Auffassung, dass es möglich sei, wissenschaftliche Aussagen zum Ganzen der Geschichte zu machen bzw. die Gesetze der Geschichte zu finden und so die Weltgeschichte hinsichtlich ihres Verlaufs und Zieles zu prognostizieren. Dies könne nur zum Totalitarismus führen. Die „Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie“ (Odo Marquard) werden jetzt geradezu sprichwörtlich. Die Geschichtsphilosophie wird als die totalitäre Selbstermächtigung der großen Ideologien des 20. Jahrhunderts entlarvt (Hermann Lübbe).

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Hans Michael Baumgartner (1933–1999) hat in Behandlung der Frage, wie eine „Philosophie der Geschichte nach dem Ende der Geschichtsphilosophie“ möglich sei, dieses Ende als „Schicksal des autonom gewordenen und sich selbst absolut setzenden Menschen“ geschildert. „Wie die Geschichtsphilosophie, so scheitert auch er an dem hybriden Anspruch, an seiner eigenen Selbstüberforderung: sich des Heils und der Vollendung geschichtsphilosophisch vergewissern und durch die von ihm gemachte Geschichte bemächtigen zu können.“12 Zwei Fragen sind es vor allem, deren Diskussion das klassische Theoriedesign und Aussehen dieser Sparte der Philosophie destruiert haben: der erkenntnistheoretische Zweifel an jeder Art von Totalitätskategorie, z. B. der Rede vom „Sinn“ der Geschichte, und das Problem der Gewalt und des Leidens in der Geschichte. Ohne zu übersehen, dass es auch im 19. Jahrhundert eine geschichtspessimistische Strömung gegeben hat und dass man auch im 20. Jahrhundert die Entwicklung der Geschichte positiv beurteilt hat, kann man doch sagen: Während in den älteren Geschichtsreflexionen das Leiden und die Gewalt in der Geschichte letztlich als zu rechtfertigendes Element in einem theoretischen Rahmen eingeholt wurde, sprengt die sich verschärfende Erfahrung unserer jüngeren Vergangenheit und Gegenwart offenbar alle Versuche einer solchen gedanklichen Sinnverleihung. Solches Engagement haben die historischen Prozesse selbst gebrochen und auch weiterreichend zustimmungsfähige Perspektiven („Menschenrechte“) scheinen als Deutungsrahmen kaum mehr erfolgreicher als die Szenarien eines universalen Verblendungszusammenhanges und Menschheitsunterganges. Obwohl er den Untergang des Abendlandes etwas anders meint, gibt Oswald Spengler (1880–1936) hier doch das Stichwort: „,Die Menschheit‘ hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig, wie die Gattung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat.“ Entsprechend ist das Geschichtsbild des vormaligen Gymnasiallehrers Spengler, der die „Professorenphilosophie der Philosophieprofessoren“ verachtete und ihm angetragene Professuren folgerichtig ablehnte, konsequent pessimistisch. „Die Zeit“, so befand er, „ist es, deren unerbittlicher Gang den flüchtigen Zufall Kultur auf diesem Planeten in den Zufall Mensch einbettet, eine Form, in welcher der Zufall Leben eine Zeitlang dahinströmt.“ Dann malte Spengler das folgende Geschichtsgemälde: „Eine unübersehbare Masse menschlicher Wesen, ein uferloser Strom […] Der einförmige Wellenschlag zahlloser Generationen bewegt die weite Fläche. Glitzernde Streifen breiten sich aus. Flüchtige Lichter ziehen und tanzen darüberhin, verwirren und trüben den klaren Spiegel, verwandeln sich, blitzen auf und verschwinden. Wir haben sie Geschlechter, Stämme, Völker, Rassen genannt […] Über diese Fläche hin aber ziehen die großen Kulturen ihre majestätischen Wellenkreise. Sie tauchen plötzlich auf, verbreiten sich in

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prachtvollen Linien, glätten sich, verschwinden, und der Spiegel der Flut liegt wieder einsam schlafend da […] Ist das Ziel erreicht und die Idee, die ganze Fülle innerer Möglichkeiten vollendet und nach außen hin verwirklicht, so erstarrt die Kultur plötzlich, sie stirbt ab, ihr Blut gerinnt, ihre Kräfte brechen – sie wird zur Zivilisation.“ An dieser Schwelle steht die abendländische Kultur: wie einst das Imperium Romanum die Antike mit ebendiesem letzten Stadium der „Zivilisation“ abschloss, so ist nun das „Imperium Germanicum“ (als Synthese von „Preußentum und Sozialismus“) die letzte Aufgabe der „faustischen Kultur“ und ihr Schicksal. Denn „eine Aufgabe, welche die Notwendigkeit der Geschichte gestellt hat, wird gelöst, mit dem Einzelnen oder gegen ihn. Ducunt fata volentem, nolentem trahunt.“ Für den „faustischen Historismus“ Spenglers folgt hieraus keine Abwendung von der Geschichte, sondern in „heroischer Unerschrockenheit“ seine ideologische Ortsbestimmung in der Gegenwart „am Ende der Geschichte“ (D. Felken). Spengler gibt damit das (freilich äußerst bestreitbare) Stichwort für eine bis heute zunehmend aktuelle Wiederkehr „menschheitsgeschichtlicher Perspektiven“ in der Geschichtsphilosophie, die nun freilich nicht mehr mit emanzipatorischer Zielvorgabe und universaler Vernunftkonstruktion auftreten.13 Mit der Botschaft des Untergangs erscheint auch in der Kritik der Geschichtsphilosophie durch Horkheimer und Adorno die Fortschrittstheorie geradezu welthistorisch widerlegt. Die geschichtsphilosophische Konstruktion des Fortschritts als Rechtfertigung des Bösen und der Gewalt um des Guten und letztendlich Siegreichen willen geht vor allem an der Erfahrung der Gewalt in den politischen und sozialen Verhältnissen des 20. Jahrhunderts zugrunde, die sich nicht mehr als Reibungsverlust eines an sich bejahenswerten Geschehens oder gar als dessen notwendiges Funktionselement theoretisch rechtfertigen lässt, weil die „negativen“ Begleitumstände inzwischen das „positive“ Ziel selbst in Frage stellen. Der Hegelsche Optimismus wird unter dem Eindruck der faschistischen Barbarei zu einer „Schrulle“ erklärt und der Fortschrittsgedanke mit dem Satz kommentiert: „Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe.“14 Erwähnt sei auch der Geschichtspessimismus eines Theodor Lessing, eines Opfers des Nationalsozialismus (Geschichte als völlig sinnlose „Tragikomödie“, Sinngebung des Sinnlosen). Am Ende des 20. Jahrhunderts wird gar das „Ende der Geschichte“ zu einem vielzitierten Topos.15 Manche Beobachter sehen in einem drohenden weltweiten sozialen und ökologischen Desaster das Ende der Geschichte ganz real auf uns zukommen; einige feiern dies nach Jahrtausenden des naturgegebenen wie selbst produzierten Leidens als „Euthanasie des Menschengeschlechtes“, so in jüngster Vergangenheit die abgrundtiefe Skepsis Emile Ciorans und Ulrich Horstmanns.16 Eine weitere Version vom „Ende der Geschichte“ in einer Zivili-

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sationskatastrophe besagt, dass der „urkapitalistische Westen“ in der Agonie eines „globalen Vernichtungs- und Verteilungskampfes“ der „letzte Verlierer der Geschichte“ sein könnte, wenn die Perspektive auf „marktwirtschaftliche Prosperität für immer größere Menschenmassen“ sich auf einem Planeten, der nur begrenzte Prozesse ermöglichen kann, nicht einlösen lässt.

10.4 Wir müssen uns geschichtlich verstehen Wir müssen uns geschichtlich verstehen

Obwohl die deutsche Geschichtswissenschaft in Humanismus und Aufklärung in der Gestalt von so unterschiedlichen Gelehrten wie Hartmann Schedel (1440–1514, der seine quellenmäßig noch völlig unkritische „Weltchronik“ nach Weltaltern gliederte), über den „unparteyischen Kirchen- und Ketzerhistoriker“ Gottfried Arnold (1666–1714), Siegmund Jakob Baumgarten (1706– 1757; Bruder des Ästhetikers), den Theoretiker des „Sehepunktes“ Johann Martin Chladenius (1710–1759), die Aufklärungshistoriker Heinrich Luden (1778–1874), Johann Christoph Gatterer (1727–1799), Ludwig Thimotheus Spittler (1752–1810) August Ludwig Schlözer (1735–1809) u. v. a. bis zu dem „linksliberalen“ (und damit in seiner politischen Einstellung eher eine Ausnahme darstellenden) Historisten und Literaturhistoriker Georg Gottfried Gervinus (1805–1871) einen langen Weg zurücklegte,17 können die Ausprägung des historischen Bewusstsein und der Standards der Geschichtsforschung in vielen Punkten als Errungenschaften der Geschichtswissenschaft in Deutschland gelten. Deutschland wurde das Land des Historismus. Oft auch gescholten und kritisiert, war und ist dieser Historismus doch vor allem dies: Gerechtigkeit für die Eigenarten des menschlichen Lebens unter seinen jeweiligen Bedingungen und nicht zuletzt: das Anliegen, dass wir uns geschichtlich verstehen müssen. Auch die Historisten wie der Historiker Johann Gustav Droysen (1808 – 1886) gingen noch lange von der Vorstellung Hegels aus, Geschichte sei ein „gutartiger Prozess“, „den man nicht nur erforschte, sondern dessen jeweiligen Zielen man sich verpflichtet fühlte“ (Karl Georg Faber, 1925 –1982). Vor allem aber wollten sie – anders als Hegel – den Einzelepochen zu ihrem Recht verhelfen. Von Leopold von Ranke (1795–1886) stammt jenes berühmte Diktum: „jede Epoche ist unmittelbar zu Gott“. Der große Historiker und studierte Theologe sah im Hegel’schen Entwurf eine „unwürdige“ Vorstellung von der Menschheit als dem „werdenden Gott“ und in der berühmten „List der Vernunft“ eher einen „Betrug“. Diese Konstruktion wird für Ranke weder der Würde Gottes gerecht, dessen Werken er sich seinerseits ehrfürchtig, gläubig, empirisch, ausdauernd naht, noch auch den Menschen, denn es wäre eine „Ungerechtigkeit der Gottheit“, wenn eine Epoche um der anderen wil-

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len „mediatisiert“ und instrumentalisiert würde. Allenfalls im Bereich der „materiellen Interessen“, nicht aber in moralischer Hinsicht gesteht Ranke „Fortschritt“ zu. Für die deutsche und internationale Geschichtswissenschaft bestimmend ist die Aufnahme und Etablierung der aus dem Humanismus stammenden und bereits in Barthold Georg Niebuhrs (1776 –1831) „Römischer Geschichte“ bahnbrechend angewandten historisch-quellenkritischen Methode geworden.18 Sie gab sozusagen das Instrumentarium an die Hand, den einzelnen Epochen nun auch wirklich gerecht zu werden. In der Philosophie hat den Historismus vor allem Wilhelm Dilthey (1833– 1911) vertreten, bei dem, wie man kritisch bemerkt hat, aus „Philosophie der Geschichte“ nun „Geschichte der Philosophie“ wird. Der Blick „zurück auf ein unermessliches Trümmerfeld religiöser Traditionen, metaphysischer Behauptungen, demonstrierter Systeme“ gewinnt einen deutlichen skeptischen Unterton. Es legt sich nahe, dass es in der Geschichte den Punkt nicht gibt, von dem aus man einen Zugriff auf „die“ objektive Wahrheit an sich hätte, weil die Geschichte stets fortschreitet und bisher noch jede Theorie vom „Sinn der Geschichte“ im Zuge dieses Fortschreitens überholt hat. Damit sind solche Theorien hinfällig, die sich, wie die Hegels und Marxens, an einem historischen Ort sehen, von dem aus eine prinzipiell nicht mehr überbietbare Sicht der Dinge möglich sein sollte. Historische Entwicklung ist subversiv. Demjenigen, der sie abschließend theoretisch und praktisch zu beherrschen sucht, dem zeigt sie über kurz oder lang ihrerseits ihre Macht. Es gibt keinen absoluten „point des vue“, der den Blick auf die Geschichte als „Ganzes“ ermöglicht, denn jeder solche Blickpunkt „schwimmt selbst“ – damit wird, wie man paradoxerweise formuliert hat, die Geschichte zum „absoluten Begriff“.19 Was können wir nach all den vorstehend benannten Abenteuern der Geschichtsdeutung von einem historischen Wissen eigentlich noch erwarten? Ein erster Punkt ist hier, dass die Historie uns immer mehr von dem gesamten Spektrum der Geschichte zeigt. Die im Historismus oft nationalpolitisch verengte Geschichtsschreibung um die Analyse sozioökonomischer Strukturen erweitert zu haben, ist z. B. das Verdienst der seit den 1960er Jahren etablierten „Sozialgeschichte“. Seit einigen Jahren macht vor allem auch eine neue Kulturgeschichte von sich reden. Es gibt auch, umfangreicher als bisher, Frauen-, Geschlechter-, Umwelt-, Armutsgeschichte, Geschichte der Urbanisierung, der Arbeits- und Wohnverhältnisse, der Mode, der zunehmend reglementierten oder nicht reglementierten Sitten und Schamgefühle, des Performativen. Die Bedeutung der Geschichte in unserem Leben scheint, dies ist eine zweite Antwort, entschieden immer noch zu-, nicht aber abzunehmen. Dieses Phänomen wird heute unter dem Begriff „Geschichtskultur“ diskutiert.20 Historische Bildung ist nicht nur Faszination, Kennerschaft und Lust am Reichtum und an der Vielfalt der Bildungen der menschlich-geschichtlichen

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Welt, mit deren Hilfe wir „den ganzen Umkreis der Menschheit in uns aufnehmen und fortführen“.21 Vielmehr wird deutlich, dass der Stand der Kulturentwicklung, der uns trägt und den wir weitertragen und verändern können, zugleich unsere Reflexions- und Handlungsniveaus prägt, in den Künsten, in religiösen und philosophischen Deutungen, in der Wissenschaft, in Aufklärungsprozessen, in politischen und moralischen Institutionen und Kompetenzen, als Errungenschaften durchgesetzter Modernisierungs- und Säkularisierungsprozesse, von denen wohl anzunehmen ist, dass sie über ihre institutionellen Ausprägungen hinaus zugleich in Formen kultureller Bildung, als „Erinnerungskultur“ präsent sein müssen, wenn sie Bestand haben wollen. In einem Zeitalter „kultureller Amnesie“ (J. B. Metz) ohne historische Bildung wären wir jedem Tagesanspruch ausgesetzt. Das Bemühen um historische Bildung ist unsere persönliche Investition in all die Ausprägungen der Kultur, aus deren Teilhabe wir unser Selbst reicher zurückgewinnen können. Historische Bildung impliziert vor allem eine Hinsicht auf die Art und Weise, in der die Dimension des Historischen für unsere Selbstvergewisserung unerlässlich ist. Wir organisieren unsere Geschichten, um uns organisieren zu können; Geschichten haben immer einen Bezug zu den Bildungssubjekten, die sie erzählen. Wenn wir nach dem „Sinn der Geschichte“ fragen, dann steckt dieser nicht „in“ der Geschichte „drin“, sondern erweist sich als eine Kategorie, die wir aus unseren subjektiven Handlungszusammenhängen auf die Welt übertragen, um überhaupt mit ihr „handelnd und leidend umgehen zu können“.22 Zugleich hoffen wir mit und leiden an den umfassenderen Dramen, in die wir eingebunden sind, und wir orientieren uns so über unseren Ort in den Einzelverhältnissen und im Ganzen. Geschichtsbilder reichen vom Alltäglichen zum Prinzipiellen, von der Werbung mit Geschichte in den Medien bis zum Selbstverständnis einer Nation.23 Historische Orientierung mündet schließlich in einer mehr denn je schwierigen Gegenwart, wenn wir darüber nachdenken, wo wir stehen in einer multipolaren Welt.24 Da der Mensch kein ausschließliches Naturwesen mehr ist, müssen seine kulturellen Hervorbringungen entscheiden, was sein „Projekt“ in dieser Welt noch werden kann. Vielfältigste kulturelle Faktoren, Interferenzen – so ist er in den Plural gesetzt und kann sich mit seinesgleichen offensichtlich nicht einigen, worauf er hinauswill – und bestimmte, sich einem steuernden Willen entziehende Gesetzmäßigkeiten sind mit ausschlaggebend dafür, was er erreicht – und was nicht. Wie wird sich in einer Zeit, in der die Wirkungsmacht des auf sieben Milliarden Exemplare angewachsenen Agglomerates „Menschheit“ planetare Ausmaße erreicht, die Vielzahl der das Leben der Menschen bestimmenden Tendenzen: biologisch-anthropologische Grundkonstanten unseres Verhaltens, wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten, mentale Strömungen, wissenschaft-

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liche Fortschritte und geistesgeschichtliche Veränderungen auf den Gesamtprozess der Zivilisation auswirken? Wie werden die religiösen und kulturellen Deutungs- und Handlungsformen mit dem radikalen Weiterschreiten der technischen Möglichkeiten interagieren? Wird es zu verträglichen Lebensbedingungen für alle Menschen kommen können oder wird der in der Geschichte nicht eben seltene Zustand von großer Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Verteilung der Lebenschancen sich noch verschlimmern? Man hat bemerkt, dass wir – nach Erdaltern gezählt – im „Anthropozän“ angekommen sind, in der „Menschen-Epoche“, in der das Schicksal des Planeten von der Wirkungsmacht des auf seiner Oberfläche dominierenden Lebewesens abhängig geworden ist.25 Eine humane Steuerung all dieser Vorgänge müsste sich in die Systemstrukturen menschlichen Zusammenlebens einlagern können. Schwerlich ist sie als Lenkung aus „einem Zentrum“ heraus zu verstehen, denn, mit einer Äußerung von Peter Sloterdijk, „die Menschheit ist a priori lernbehindert, weil sie kein Subjekt ist, sondern ein Aggregat“; vielmehr „kommt es darauf an, die Wahrnehmung von Verantwortung in den Institutionen und durch sie zu ermöglichen“.26 In der Geschichtsphilosophie schwingt bei all dem traditionell als letzte und, wie nicht betont zu werden braucht, äußerst spekulative Dimension jene Hoffnung noch mit, dass gelingende Bildungsprozesse nicht nur die höchst subjektiven und fragilen Geistesblüten auf einem zunehmend größere Schrecken hervorbringenden Untergrund sozialer und ökologischer Fehlentwicklungen darstellen, sondern dass sie für unsere „globale“ Entwicklungs- und Lernfähigkeit stehen könnten.

Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur Johann Gottfried Herder In seiner kultur- und geschichtsphilosophischen Schrift: „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ von 1784/85 bezeichnet der Theologe und Philosoph Johann Gottfried Herder die „bildende Tradition“ als ein „Principium zur Geschichte der Menschheit“. Möglich wird diese Tradition durch das „sonderbare Mittel zur Bildung des Menschen“, nämlich durch Sprache: „Von einem bewegten Lüftchen hängt alles ab, was Menschen je auf der Erde Menschliches dachten, wollten, taten und tun werden: denn alle liefen wir noch in Wäldern umher, wenn nicht dieser göttliche Odem uns angehaucht hätte und wie ein Zauberton auf unseren Lippen schwebte. Die ganze Geschichte der Menschheit also mit allen Schätzen ihrer Tradition und Kultur ist nichts als eine Folge dieses aufgelösten göttlichen Rätsels.“27 Zum Weiterdenken

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Für den Menschen ermöglicht die durch Sprache wirksam werdende kulturelle Tradition eine Bildungsgeschichte. Sie ist das Medium, in welchem unser menschliches „Sich-Aufarbeiten“, der historische Prozess statthaben kann. Die Geschichtsphilosophie kann die „Kette der Tradition“, die – man beachte die Steigerung der Bilder, die Herder verwendet – „goldene Kette der Bildung“ verfolgen, die „die Erde umschlingt und durch alle Individuen bis zum Thron der Vorsehung reicht“. Zwar kann die Tradition bei zu großer Übermacht auch zu einem die Denkkraft fesselnden „Opium des Geistes“ werden. Doch gilt: „Bleibt der Mensch unter Menschen: so kann er dieser bildenden oder missbildenden Kultur nicht entweichen: Tradition tritt zu ihm und formt seinen Kopf und bildet seine Glieder. Wie jene ist, und wie diese sich bilden lassen: so wird der Mensch, so ist er gestaltet.“28 Kulturgeschichte als „Goldene Kette der Bildung“ Die Philosophie der Geschichte also, die die Kette der Tradition verfolgt, ist eigentlich die wahre Menschengeschichte, ohne welche alle äußeren Weltgegebenheiten nur Wolken sind oder erschreckende Missgestalten werden. Grauenvoll ist der Anblick, in den Revolutionen [hier wörtlich: Umdrehungen] der Erde nur Trümmer auf Trümmern zu sehen, ewige Anfänge ohne Ende, Umwälzungen des Schicksals ohne dauernde Absicht! Die Kette der Bildung allein macht aus diesen Trümmern ein Ganzes, in welchem zwar Menschengestalten verschwinden, aber der Menschengeist unsterblich und fortwirkend lebt. Glorreiche Namen, die in der Geschichte der Kultur als Genien des Menschengeschlechtes, als glänzende Sterne in der Nacht der Zeiten schimmern! Lass es sein, dass der Verfolg der Äonen manches von ihrem Erfolg zertrümmerte und vieles Gold in den Schlamm der Vergessenheit senkte; die Mühe ihres Menschenlebens war dennoch nicht vergeblich: denn was die Vorsehung von ihrem Wert retten wollte, rettete sie in anderen Gestalten. Ganz und ewig kann ohnedies kein Menschendenkmal auf der Erde dauern, da es im Strom der Generationen nur von den Händen der Zeit für die Zeit errichtet war und augenblicklich der Nachwelt verderblich wird, sobald es ihr neues Bestreben unnötig macht oder aufhält. Auch die wandelbare Gestalt und die Unvollkommenheit aller menschlichen Wirkung lag also im Plan des Schöpfers. Torheit musste erscheinen, damit die Weisheit sie überwinde: zerfallende Brechlichkeit auch der schönsten Werke war von ihrer Materie unzertrennlich, damit auf den Trümmern derselben eine neue bessernde oder bauende Mühe der Menschen stattfände: denn alle sind wir hier nur in einer Werkstätte der Übung. Jeder Einzelne muss davon, und da es ihm sodann gleich sein kann, was die Nachwelt mit seinen Werken vornehme, so wäre es einem guten Geist sogar widrig, wenn die folgenden Geschlechter

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solche mit toter Stupidität anbeten und nichts Eigenes unternehmen wollten. Er gönnet ihnen diese neue Mühe: denn was er aus der Welt mitnahm, war seine gestärkte Kraft, die innere reiche Frucht seiner menschlichen Übung. Goldene Kette der Bildung also, du, die die Erde umschlingt und durch alle Individuen bis zum Thron der Vorsehung reicht, seitdem ich dich ersah und in deinen schönsten Gliedern, den Vater- und Mutter-, den Freundes- und Lehrer-Empfindungen verfolgte, ist mir die Geschichte nicht mehr, was sie mir sonst schien, ein Gräuel der Verwüstung auf einer heiligen Erde. Tausend Schandtaten stehen da mit hässlichem Lobe verschleiert: tausend andere stehen in ihrer ganzen Hässlichkeit daneben, um allenthalben doch das sparsame wahre Verdienst wirkender Humanität auszuzeichnen, das auf unserer Erde immer still und verborgen ging und selten die Folgen kannte, die die Vorsehung aus seinem Leben, wie den Geist aus der Masse hervorzog. J. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Gesch. der Menschheit (1784/85), Neuntes Buch. In: Sämtliche Werke, hrsgg. von B. Suphan, Bd. 13, Berlin 1887, 352 f. Schreibweise modernisiert.

Arbeitsanregungen 1. Mit welchen Formulierungen geht Herder auf die negativen Seiten der Geschichte ein – wie deutet er die Geschichte insgesamt? 2. Welche eigenen Geschichten erzählen Sie sich? 3. Kreislauf, Fortschrittsdrama, Zivilisationskatastrophe oder Historismus – für welche der Weltzeitkonstruktionen bzw. Geschichtsdeutungen könnten Sie am ehesten argumentieren?

Literatur E. Angehrn, Geschichtsphilosophie, Stuttgart (Kohlhammer) 1991. V. Reinhardt (Hrsg.), Hauptwerke der Geschichtsschreibung, Stuttgart (Kröner) 1997 (Werklexikon von der Antike bis zur Gegenwart mit Beiträgen zu vielen in diesem Kapitel genannten Autoren, auch zu geschichtsphilosophischen Schriften, so zu Hegel). J. Rohbeck, Geschichtsphilosophie zur Einführung, Hamburg 2008. E. Wiersing, Geschichte des historischen Denkens, Paderborn 2007 (umfangreiche Gesamtdarstellung).

11 Die Kunst gibt zu denken – Ästhetik

„Was bei Phänomenen der Kunst und des Schönen durch Farben, Töne, Formen, Bilder, Metaphern, Bewegungen und nichtdiskursive Rede sinnlich wahrnehmbar ist, ist nicht allein durch die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung zugänglich. Weil dies so ist, reden wir über Kunst und Schönes und lassen es nicht allein beim stummen Sehen und Hören bewenden.“ Willi Oelmüller Die Kunst gibt zu denken

„Über Geschmack lässt sich nicht streiten“, sagt man gemeinhin. Dies hieße, nähme man es streng, dass wir über bestimmte sinnliche Wahrnehmungen, in Sonderheit aber über das, was wir schön finden, vernünftig nicht nachdenken und reden könnten. Fragen aber ergeben sich genug. Warum gefällt uns etwas – wie gelangen wir zu einem ästhetischen Urteil? Oder: Was macht einen Gegenstand zum Kunstwerk? Ein philosophischer Diskurs über Kunst und Schönes ist darauf angewiesen, dass auch in diesem Felde mit guten Gründen argumentiert werden kann.1 Welche Hinweise ein solcher Diskurs bieten kann, soll im Folgenden an einigen Beispielen angedeutet werden. Der Begriff „Ästhetik“ ist abgeleitet vom griechischen aísthesis [Wahrnehmung, Empfindung, Sinneserkenntnis]. Mit der Lehre von der Kunst und dem Schönen hatte dieser Begriff lange Zeit eigentlich nichts zu tun. Noch der Begründer der Ästhetik als Fachwissenschaft, nämlich Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), versteht in seiner 1750 erschienen lateinisch verfassten „Aesthetica“ die Ästhetik als allgemeine Theorie der sinnlichen Erkenntnis (und damit noch nicht primär als Lehre vom Kunstschönen). Seine Leistung liegt darin, in einem vom rationalistischen Vernunftgedanken seiner Zeit geprägten Klima das Recht der Sinnlichkeit in eben dieser ersten Wortbedeutung von „Ästhetik“ etabliert und damit die in der platonischen Tradition und rationalen Metaphysik vorherrschende Abwertung der durch die Sinne vermittelten Erkenntnis überwunden zu haben. In dieser Richtung folgte ihm 1757 die empirisch-sensualistische Ästhetik des englischen Staatsmanns und konservativen Kritikers der Französischen Revolution („Reflections on the Revolution in France“, 1790) Edmund Burke (1729–1797), die u. a. mit der Unterscheidung zwischen dem Schönen und dem Erhabenen bedeutsam geworden ist. Es ist geradezu eine „Wende zur Ästhetik“, die es seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gibt.

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Diese Wende ist vor allem auf Kant zurückzuführen, der sich ihr vielleicht aus Enttäuschung über die Einschränkungen der theoretischen (wissenschaftlichen) wie der praktischen (moralischen) Vernunft zugewandt hat, die er konstatieren musste. Erst „1790 – durch Kants ,Kritik der Urteilskraft‘ – stand fest, was 1781 in Kants „Kritik der reinen Vernunft“ noch nicht fest stand: dass nicht jede „Sinnenlehre“, sondern nur die Philosophie der schönen Kunst, Ästhetik heißt, die erst ab 1800 – bei Schelling schließlich durch seine Vorlesungen zur „Philosophie der Kunst“ (1802 –1805) – vorübergehend zur regierenden Hauptphilosophie wurde. Das ist die philosophische Bekräftigung jenes Vorgangs, den ich […] Ästhetisierung der Kunst nenne: dass das Schöne zur Sache der Kunst wird; dass die Kunst zur Sache der Sinnlichkeit wird; dass also die schöne Kunst zugleich autonom und zur Sache des Genies wird.“2 Nach diesen Informationen zur Begriffsentstehung kann man unter „Ästhetik“ heute (sozusagen „rückwirkend“) den Diskurs der philosophischen Reflexion auf die Künste und das Schöne (oder auch, wie man für die Gegenwart formuliert hat, auf die „nicht mehr schönen“ Künste) in der europäischen und außereuropäischen Geschichte bis zu ihrer gegenwärtigen Gestalt und damit zugleich Theorien von Platon und Aristoteles bis zum Mittelalter und weiter über Kant und Hegel hinaus bis heute verstehen. Platon äußert sich einerseits mit politisch-moralischer Kritik, anderseits mit metaphysischen Interessen zu dem, was wir heute Ästhetik nennen können. Indem die Künstler Gegenstände der sinnlichen Welt abbilden, die ihrerseits nur Abbilder der Urformen, der Ideen, sind, schaffen sie – lediglich – Abbilder von Abbildern. Die „Ammenmärchen“ der Dichter verdächtigt Platon, die Vernunft und die Polis zu verderben. Der Abwertung der Kunst als Nachahmung oder Gefahr steht jedoch im Symposion das „erotische“ Fortschreiten zu jenem Schönen gegenüber, das zugleich das Wesen des sittlich Guten (Kalokagathia) und Wahren ist. In dieser Schrift entfaltet Platon einen grandiosen Stufengang, der sozusagen „induktiv“ über die Freude am schönen Körper zum Begriff der körperlichen und von dort zur geistigen Schönheit fortschreitet, um schließlich zum Schönen selbst zu gelangen (vgl. Textauszug Zum Weiterdenken im Anschluss an dieses Kapitel). Im christlichen Mittelalter wurde die Kunst zu einer Ausdrucksform der Religion, wie sie uns sinnbildlich in den großen Kathedralen oder Altarbildern vor Augen steht. Durch die Geschichte des Abendlandes zieht sich nun ein Gegensatz von Bilderverehrung und Bildersturm. Der Verdacht, dass das Kultbild, in dem das Kunstwerk oft genug selbst religiösen Nimbus gewinnt, einen falschen Götzen hervorbringe (eine ähnliche Skepsis gibt es in der islamischen Kunst), tritt ebenso auf, wie die Kunst als ein Weg zu Gott gefeiert wird. An diese Funktion der Kunst schließt im 19. Jahrhundert in gewisser Weise

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noch Hegel an, der nach dem Wesen der schönen Kunst fragt und die Kunst als Ausdrucks- bzw. Vermittlungsform der Wahrheit interpretiert (vgl. wiederum Textauszug Zum Weiterdenken). Hegel entwirft hierzu im Zuge seines umfassenden Systems (vgl. Metaphysik) eine spekulative Ästhetik. Die Wesensfrage kann aber in der Kunst letztlich kein Höchstes finden. Hegels berühmt gewordener „Satz vom Ende der Kunst“ meint nicht, dass es nunmehr keine Kunstwerke mehr geben könne. Er besagt „nur“, dass die sinnenhafte Anschauung im Rahmen der Kunst nicht mehr die höchste Form im Entwicklungsgang des Geistes ist, da dieser sich am Ende dem Medium der Begrifflichkeit in der Philosophie zuwendet. Der bei Hegel infolge dieser Auffassungen argwöhnten Unterordnung des Ästhetischen unter eine metaphysische Sinndeutung ist vielfach widersprochen worden. Einer der schärfsten Kritiker Hegels ist Schopenhauer, für den die Kunst(betrachtung), vor allem aber die Musik, der (allerdings bloß teilweise) Trost in einer insgesamt nicht mehr als sinnvoll zu begreifenden Wirklichkeit ist, der man am besten ganz entkommen würde. Auch für Nietzsche kann die Kunst nicht mehr (wie von Platon über das religiöse Abendland bis zu Hegel) in ihrem mehr oder weniger adäquaten Verhältnis zu einem Absoluten oder „der“ Wahrheit betrachtet werden. Nietzsches Perspektivismus, der sich durch kein letztes absolutes metaphysisches Prinzip mehr einholen lässt, verweist darauf, „dass Kunst und Schönes und der Umgang mit diesen auch eine Lebensform intendieren können, die an der bloß identifikationsfreudigen oder aber distanzierten Rezeption vom Künstler verfertigter Produkte oder ohne Zutun des Menschen vorhandener schöner Erscheinungen der Natur kein Genügen findet, sondern eine Transformation unserer Conditio humana zum Artefakt betreibt, um es in der als sinnleer erfahrenen Natur und Geschichte aushalten zu können und die Leiden zumindest erträglicher zu machen“.3 Geradezu hymnisch heißt es bei Nietzsche: „Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens. Die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence.“4 Unter den Horizont einer philosophischen Ästhetik in diesem gegenwärtigen Sinne fallen heute Fragen wie die nach der Bedeutung von Werken der bildenden Kunst, Musik, Literatur für uns (vom Kunstwerk als „Ort der Offenbarung des Absoluten“ geht da der Weg bis zum Konsum eines Bildungsguts, von der „Ersatzverzauberung“ der wissenschaftlich-technisch entzauberten Welt und eskapistischer Entlastung vom Druck einer unerträglichen Wirklichkeit bis zur Kunst als Denkanstoß, als politisches Manifest, als „moralische Anstalt“ oder gar Anleitung zur Weltverbesserung). Ebenfalls fallen

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darunter Theorien, die versuchen, eine Bestimmung des Schönen (Erhabenen, Komischen, Hässlichen, Tragischen) oder Kriterien für das Prädikat „Kunst“ bzw. für das, was ein als „Kunstwerk“ behauptetes Objekt oder Geschehen von Nicht-Kunst unterscheidet, zu entwickeln, den Charakter des sich auf Kunstwerke beziehenden „ästhetischen Urteils“ zu analysieren und einen möglichen Wahrheitsanspruch oder die gesellschaftliche Bedingtheit und politische Funktion der Kunst usw. zu bedenken. Unter „Ästhetik“ ist also die Theorie einer von Wissenschaft, Religion usw. verschiedenen, spezifischen Erfahrungsweise zu verstehen, eine – vielleicht auch in der Art einer „ästhetischen Lebensform“ – besondere Dimension menschlichen Weltverhältnisses, oft auch eine Aussageform, die beansprucht, Elemente der Wirklichkeit besser zu zeigen, als etwa die Wissenschaft es vermöchte. Eine Ästhetik steht damit zugleich in kritischer Auseinandersetzung mit konkreten lebensweltlichen Phänomenen wie Kunstmarkt (wie viele Millionen für ein Bild des zeitlebens von Nöten geplagten Van Gogh?), Kunstbetrieb, Bildungsreisen, Unterhaltungs- und Medienindustrie usw.

11.1 Autonome Kunst und ästhetische Erfahrung Autonome Kunst und ästhetische Erfahrung

Dieses moderne Verständnis einer „Autonomie der Kunst“ als „Nichtinstrumentalisierung der Kunst“ für Zwecke anderer Lebensbereiche hatte sich, wie wir gesehen haben, zu emanzipieren: in der Antike aus der Verwobenheit mit dem Mythos, der Metaphysik und von ethisch-praktischen Aufgaben, im Mittelalter von der Theologie und der religiösen Indienstnahme, in der Renaissance vom Kunsthandwerk und schließlich in der höfischen Zeit von einer Instrumentalisierung als feudales Repräsentationsobjekt. Das heißt nicht, dass die Kunst all diese Aufgaben nicht nach wie vor erfülle: Sie wird zur Therapie eingesetzt, sie dient als religiöse Ausdrucksform und natürlich auch zur öffentlichen wie privaten Repräsentation. Aber in der Moderne erfolgt doch grundsätzlich ein für die Kunst ganz wesentlicher Schritt: Sie wird „als Kunst selbst“ autonom und kann sich ihrer selbst als Gegenstandsbereich „eigenen Rechts“ vergewissern – nach Helmut Kuhn (1899 – 1991; Emigration in die USA, nach dem Krieg Professor in München und langjähriger Herausgeber der führenden Fachzeitschrift Philosophische Rundschau) die „Selbstbewusstwerdung der Kunst als Kunst“. An die Stelle der bisherigen Instrumentalisierungsinstanzen wie etwa der Religion rückt dabei sozusagen die philosophische Ästhetik, die die Kunst nunmehr als „autonom“ charakterisiert und ihre Möglichkeiten und ihren Status bedenkt. Das Verhältnis dieser autonomen Kunst zu ihrem gesellschaftlichen Ort bleibt gleichwohl nicht erst seit Marx und bis heute ein umstrittenes Thema,

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denn denselben Vorgang, den Helmut Kuhn als „Selbstbewusstwerdung“ beschrieben hat, kann man mit Peter Bürger auch wie folgt sehen: „Die Abgehobenheit von der Lebenspraxis, die immer schon die Funktionsweise der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft gewesen ist, wird nun zu deren Gehalt.“5 Vor allem das 19. Jahrhundert ist dasjenige gewesen, das kunsthistorische Forschung, Museum, Ausstellung und Konzert zum Durchbruch gebracht und mit diesen „bürgerlichen“ Orten endgültig die Kunst von der vornehmlichen Bindung an Kirche und Schloss emanzipiert hat. Jetzt etablieren sich grundlegende Vorstellungen, die wir auch heute weitgehend mit Kunst verbinden. Die Autonomieästhetik denkt den Künstler – vormals bestenfalls das Gefäß Gottes – nun als schaffendes Genie, als Seher vielleicht gar, oder als Besessenen – in jedem Fall aber als Individualität eigenen Rechtes. Sein Kunstwerk wird etwas Festes und Besonderes, mit einer „Aura“ Umgebenes (und ins Museum zu Hängendes). Dieses Kunstwerk hat sozusagen seine eigene „Wahrheit“ oder gar „Seinsweise“. Die Aufnahme [Rezeption] des Werkes schließlich wird als ruhig-genießende [kontemplative] Erfahrung und Würdigung verstanden. Wie steht es genauer mit der ästhetischen Erfahrung? Ihr kommt in den hier zu verhandelnden Theorien eine bemerkenswerte Rolle zu. Der deutsche Philosoph Rüdiger Bubner (geb. 1941) äußert eine fulminante Kritik an allen Versuchen einer Einbindung der künstlerischen Produktion in ein „ontologisches Gehege“, wenn er gegen Heidegger und Adorno, aber auch im Gegensatz zu seinem Lehrer Hans-Georg Gadamer (1900–2002), hierbei vor allem an Kant anschließend, feststellt: „Insbesondere die moderne Kunst hat erkennbar werden lassen, dass philosophische Ästhetik genötigt ist, rein auf die ästhetische Erfahrung selber zu rekurrieren, will sie sich nicht vollends den Zugang zu den Manifestationen abschneiden, in denen Kunst seit geraumer Zeit auftritt. Wenn zu den Charakteren der modernen Kunst das Neue ihrer unerwarteten Vorstöße, der Eroberung unbetretenen Terrains, der radikalen Verleugnung gewohnter Formen, der Selbstdestruktion, der Zuspitzung auf schockartige Effekte gehört, so ist die ästhetische Erfahrung, in der sich das abspielt, die einzige zuverlässige Auskunftsquelle.“6 Auch der Romanist Hans Robert Jauss (1921–1997), Spiritus rector der Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ achtet mit seiner sogenannten „Rezeptionsästhetik“ auf die Seite der ästhetischen Erfahrung. Jauss stellt in seiner legendären Antrittsvorlesung von 1967: „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“ fest, dass es nicht einfach einen Primat, einen ausschließlichen Vorrang des Kunstwerkes (eines Textes, einer Plastik, eines Gemäldes usw.) gibt. Jauss lenkt das Augenmerk vielmehr auf die Aktivität des Rezipienten, desjenigen, der sich mit dem Kunstwerk auseinandersetzt. Am Beispiel des literarischen Werkes hieße dies, mit einer spätantiken Formel: „pro

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captu lectoris habent sua fata libelli“ – je nach Auffassungsweise des Lesers haben Bücher ihre Schicksale. Jede Zeit liest Texte neu – dies ist die auf dem Historismus aufbauende Einsicht, dass ein Kunstwerk niemals definitiv ausgedeutet werden kann. In seinem umfangreichen Hauptwerk legt Jauss differenziert den ganzen Reichtum der Kunsterfahrung dar; dieser Kunsterfahrung dient die Hermeneutik als einschlägiges Methodenparadigma, wie Jauss in seinem letzten großen Buch: „Wege des Verstehens“ darlegt.7 Aber entsteht hier nicht ein Widerspruch? Hatten wir nicht gerade erst die Freiheit und den Eigenwert der Kunst herausgestellt? Ist nicht die Kunst eigentlich zeitlos, das Ästhetische autonom? Als ein wichtiges Diskussionsfeld der philosophischen Ästhetik müssen wir uns also die Frage nach einer Historizität bzw. Kontextabhängigkeit des Zugangs zum Kunstwerk vornehmen. Sie ist unter älteren wie neueren Theoretikern außerordentlich umstritten. Um dies Problem zu erklären, muss die Entstehung des Gedankens erklärt werden, alle Kunst sei ein Kind ihrer Zeit. Schon wenn im Anschluss an die „Querelle des Anciens et des Modernes“, jene Debatte des 17./18. Jahrhunderts, ob die zeitgenössische oder die antike Kunst die bessere sei, auch in der Kunstbetrachtung jede Epoche der Welthistorie ihr eigenes, unvergleichliches und darin „vollkommenes“ Gesicht gewann, geschah dies im Geiste eines solchen beginnenden geschichtlichen Bewusstseins. Die Rede über Kunst und ästhetische Erfahrung ist jedoch nicht durch abstrakte Bestimmungen, sondern nur in historischer Kontextualisierung, d. h. im Rahmen der geschichtlich herausgebildeten Erfahrungshorizonte plausibel zu machen. „Die ersten Hörer der ,Ilias‘ und der ,Odyssee‘ lebten in der frühgriechischen archaischen Welt, und sie dachten in den Mythen dieser Lebenswelt. Was die ,Divina Comedia‘ und die mittelalterlichen Kathedralen den Menschen des Mittelalters bedeuteten, ist nicht ablösbar von einem bestimmten christlichen Welt- und Lebensverständnis. Die Werke von Balzac und Flaubert verweisen nicht nur inhaltlich auf die französische Gesellschaft im 19. Jahrhundert und das Ensemble ihrer Basis- und Überbauphänomene, die Werke Dostojewskis und Tolstois auf die russische Gesellschaft im 19. Jahrhundert, die Werke Gabriel Garcia Márquez’ auf die heutige Lebenswelt Lateinamerikas. Die Deutung und Auseinandersetzung mit den Künsten und ihren Werken ist für Platon und Aristoteles undenkbar ohne den Erfahrungshorizont der Polis, für die Stoiker und Plotin ohne den Erfahrungshorizont des Kosmos. Der Streit über Bilderverbot oder Legitimität von Darstellungen des Göttlichen und Heiligen war und ist in Europa undenkbar ohne den durch die jüdische und christliche Religion eröffneten neuen Erfahrungshorizont.“8 In der Entwicklung des historischen Bewusstseins legt sich damit freilich in letzter Konsequenz die Einsicht nahe, dass es ebenso viele ästhetische Geschmacksnormen wie Nationen und Epochen gibt. Die Geschichte scheint

Autonome Kunst und ästhetische Erfahrung

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über die Kunst zu triumphieren! In der historistischen Kunst der Theater, Bahnhöfe, Kirchen, Verwaltungs- und Wohnbauten des 19. Jahrhunderts gehen Historismus und Kunsterfahrung eine ebenso enge, problematische wie zugleich unlösbare Verbindung ein. Ähnliches gilt, wie der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus (1928–1989) festgestellt hat, in der Musik in Gestalt des Übergewichtes von Werken aus der Vergangenheit in unserem Konzertund Opernrepertoire, einem historisch-soziologischen und zugleich ästhetischen Phänomen.9 Verschiedene „Absolutheitstheoreme“ behaupten dagegen einen vom historischen Wandel im Kern nicht betroffenen Charakter des Zugangs zum Kunstwerk. Helmut Kuhn stellt, wohl nicht zuletzt auf Grund seiner Erfahrungen im Nationalsozialismus und in Hinwendung zu einer an Platon orientierten Position, die „Sackgasse des Historismus, in die sich das Denken verlaufen hat“ an den Pranger und wendet sich gegen die „Historisierung des ästhetischen Urteils“. Der „transzendente[] Anspruch des Kunstwerks“ soll gegenüber dem „malum historicum“, dem historischen Übel, wieder zur Geltung gebracht werden. Auch Karlheinz Stierle (geb. 1936) geht aus von einem unaufhebbaren Antagonismus zwischen der „Absolutheit“ und der „Geschichtlichkeit“ des Ästhetischen, wobei „eigentliche“ ästhetische Erfahrung gegen historisches Bewusstsein ausgespielt wird. Wie für Kuhn ist für Stierle die Historizitätserfahrung eine Krisenerscheinung, gegen die es anzugehen gilt, soll ästhetische Erfahrung ihres Gegenstandes nicht verlustig gehen. Er wendet sich darum gegen die Hegel vorgeworfene geschichtsphilosophische Indienstnahme der Kunst, die das Werk „zum Ausdruck einer leitenden geschichtlichen Tendenz“ macht, und gegen H. R. Jauss’ Verständnis der ästhetischen Erfahrung als geschichtlicher ebenso wie gegen eine Rückbindung der Kunst an Geschichte als deren Negation (Adorno). Stierle besteht auf einer „Hinwendung zu den Werken selbst“, zu ihrer „Wirklichkeit“. Von Baudelaire über Flaubert und Mallarme zu Proust glaubt Stierle zeigen zu können, dass die Schöpfung eines der Dimension des Zeitlichen enthobenen Werkes im Modus einer „Sphäre eigenen Rechts“, „in einer anderen Ordnung“, „exterritorial“ anzusiedeln sei. „Das Werk“ wird für Stierle in durchaus bezeichnender Formulierungsweise dabei unversehens zum Quasiagenten; es „bestimmt sich“, es „lenkt seine Kontinuität in sich selbst zurück“, seine Struktur „kommt selbst zu ihrer eigensten Möglichkeit“, es „lebt von der Leidenschaft, es selbst zu sein“, es „ist in sich in dem Maße bestimmt, wie es seiner Werkintention entspricht“, es hat „Bestimmtheit“, und seine Natur „lässt der Eigeninitiative des Rezipienten einen geringeren Spielraum, als dies häufig angenommen wird“. Das Werk lebt kraft eigener Immanenz, seine „Erfahrung… ist die Erfahrung einer Ankunft in einer Mitte des Sinns“.10 Dies hat man nun wiederum als Ausblendung der gesellschaftlichen Di-

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mension von Kunst und ästhetizistische Hypostase eines überhistorischen Kunstbegriffs zu einer „Wesenheit“ kritisiert. Es gebe gar keinen Gegensatz zwischen historischer und ästhetischer Erfahrung. Die Anerkennung historischer, sozialer, politischer und religiöser Kontexte mache das Kunstwerk nicht zum bloßen Beleg dieser Verhältnisse. Picassos „Guernica“ oder Heartfields Photomontagen büßen als in ihrer Zeit und deren Verhältnissen stehende Kommentare und Bewertungen bestimmter Verhältnisse nicht ihren Kunstwerkcharakter (und auch nicht ihren politischen Appellcharakter) ein; die Vorstellung, sie ohne ihren Hintergrund erfassen zu sollen, scheint abenteuerlich. Den „Weg gehen zu können, den das Werk selbst setzt“ (Stierle) kann unter solchen Bedingungen sehr schwierig erscheinen. Eine Lösung der Kontroverse zwischen „Historisten“ und „Autonomen“ stellt es vielleicht dar, wenn der Kunsthistoriker Gottfried Boehm (geb. 1942) eine „prozessuale Existenzform des Werkes“ zu denken versucht. Gegen die ältere Kunstgeschichte eines Hans Sedlmayr (1896–1984), die ein Kunstwerk über Bestimmungen wie „Totalität“, (symmetrische) Komposition, „einheitsstiftende Mitte“ usw. definierte, stellt er fest: „Sedlmayrs Mitte des Kunstwerks präsentiert sich zeitlos […] Zweifellos vermögen Werke ihre Liebhaber der Zeit und dem Leben zu entziehen, für Momente einer paradiesischen Insularität teilhaftig werden zu lassen. Die historische Spur, die das Frage- und Antwortspiel eines Werkes hinterlässt, ist aber keineswegs die Wiederholung der immer gleichen Erfahrung. Ganz im Gegenteil: Leonardo, Raphael, Michelangelo, C. D. Friedrich, Mondrian, sie haben vermittels identischer Werke variante Evidenzen erzeugt.“ Konsequenz: Das Werk muss als „unerschöpflich“, Wahrnehmung, Interpretation und Wirkungsgeschichte müssen als Prozess gedacht werden.11

11.2 Versachlichung der Welt, Überforderung des Menschen – Kunst als Kompensation? Kunst als Kompensation?

Vielfach wird als Kennzeichen der Moderne eine Abwendung von der Religion, d. h. im Westen eine Entchristlichung unseres Denkens konstatiert. Manchmal wird dies als Aufklärungsfortschritt begrüßt. Man kann aber auch darauf hinweisen, welch gewaltigen Preis dieser Vorgang geistesgeschichtlich von uns Menschen verlangt. Alle zuvor göttlichen Leistungen hat der Mensch nun selbst zu vollbringen. In der nachreligiös entzauberten und versachlichten modernen Welt, die zugleich immer höhere Ansprüche an uns als autonom handelnde Subjekte stellt, haben wir Menschen darum vielfältigen Anlass, uns überfordert zu fühlen. Gibt es hierfür („wenigstens“) eine Kompensation – einen Ausgleich?

Kunst als Kompensation?

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Ja: die Kunst! Dies behauptet die Kompensationstheorie von Odo Marquard. Er rekurriert dabei auf die Ästhetikvorlesung seines Lehrers Joachim Ritter seit 1948 („durch diese Vorlesung entstand die Ritterschule“). In Ritters berühmtem „Landschafts“-Aufsatz geht es um die Besteigung des Mont Ventoux in der Provence durch den Dichter Petrarca (1304 –1374) am 26. 4. 1335. Was ist an dieser Bergbesteigung so bemerkenswert? Nach Ritter ist dies die erste Bergbesteigung, die ausschließlich dem bewussten Zweck gedient hat, Natur als Landschaft ästhetisch zu genießen. Die hierbei zu konstatierenden Komplikationen werden Ausgangspunkt eines Neuen. In seinem missglückten Versuch, bei der Bergbesteigung des Mont Ventoux Naturbetrachtung und Selbsterfahrung zu vereinen, gehe eine Anschauungsweise zu Ende, die in freier kontemplativer Betrachtung der Natur die Weltordnung als „heiligen Kosmos“, als göttliche Schöpfung zu schauen in der Lage war. Diese Anschauungsweise, „theoria“, meinte ein „Anschauen, das dem Gotte zugewendet ist und so an ihm Teil gibt“.12 Indem das Ich sich aber bei Petrarcas Augustinlektüre als unterschieden von der Natur erfährt, scheitert jene Ganzheitserfahrung. Nach Ritter ist es nunmehr Aufgabe der Ästhetik, im Kunstwerk Mensch und Natur zu versöhnen: „Wo die ganze Natur, die als Himmel und Erde zu unserem Dasein gehört, nicht mehr als diese im Begriff der Wissenschaft ausgesagt werden kann, bringt der empfindende Sinn ästhetisch und poetisch das Bild und das Wort hervor, in denen sie sich in ihrer Zugehörigkeit zu unserem Dasein darstellen und ihre Wahrheit geltend machen kann.“ Geht man einen Schritt weiter, erscheint das Ästhetische mit Schiller „als das Organ, das der Geist auf dem Boden der Gesellschaft ausbildet, um das, was die Gesellschaft in der für sie notwendigen Verdinglichung der Welt zu ihrem Objekt außer sich setzen muss, dem Menschen zurückzugeben“. Weil der Mensch sich dem „Schrecken“ der Natur um seiner Freiheit willen nicht unterwerfen kann, muss er die Natur bändigen. Glücklicherweise zeigt es sich aber, „dass die gleiche Gesellschaft und Zivilisation, die dem Menschen in der Verdinglichung der Natur die Freiheit bringt, zugleich den Geist dazu treibt, Organe auszubilden, die den Reichtum des Menschseins lebendig gegenwärtig halten, dem die Gesellschaft ohne sie weder Wirklichkeit noch Ausdruck zu geben vermag“. Die notwendige, weil freiheitssichernde Entzweiung von Mensch und Natur durch die moderne Wissenschaft und Technik findet also ihre Kompensation in der Ästhetik. Ritters Schüler Odo Marquard, Meister der Formulierungsinnovation, Metaphernkunst und brillanter Vorträge von ausgefeilter scheinbarer Leichtigkeit, rechnet Schlechtes (malum) wie Gutes (bonum) dieser universalen Entwicklung auf: „Diese Entzauberung – malum – ist ein Verlust; aber dieser Verlust wird – bonum-durch-malum – kompensiert

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durch die Ausbildung des Organs einer neuen Verzauberung: das ist das ebendarum spezifisch moderne Kompensationsorgan der ästhetischen Kunst.“ Mit dem Theorem von der Entzweiung von Mensch und Natur durch die moderne Wissenschaft und Technik und ihrer Kompensation in der Ästhetik (die diese freilich nach Kritikeransicht überfordert) erklärt Ritter auch, warum es gerade in der Moderne zur „Ästhetisierung der Kunst“, d. h. zu ihrer philosophischen Thematisierung als „autonomer“ Kunst kommt. Marquard fügt diesem Argument einen weiteren Schritt hinzu. Die ästhetische Kunst kompensiert nicht nur die moderne Versachlichung der Lebenswelt. Kunst kompensiert auch das, was Marquard die „Übertribunalisierung“ der Moderne nennt. War in der Vormoderne unter dem Einfluss des Christentums der Mensch Gott gegenüber für misslungene Verhältnisse zwar verantwortlich gewesen, so war er durch die „begnadigende Erlösungstat Gottes per Christum“ aber zugleich auch immer entlastet. In der Moderne rückt er im Zuge seiner geschichtsphilosophischen Selbstermächtigung – so das Konstrukt – zunächst in eine Rolle als Ankläger Gottes in der „Theodizee“, dann, je mehr er als Geschichtstäter Gott fortfallen lässt und sich an seine Stelle setzt, zugleich auch immer mehr in die Rolle des Angeklagten, der vom nunmehr eliminierten Gott nicht mehr begnadigt werden kann. So gerät er in einen Zustand, der „menschlich nicht lebbar“ ist. Diese Überforderung in der Moderne provoziert ein „Antitribunalverlangen nach Rechtfertigungsunbedürftigkeit“ und zu dessen Einlösung den „Ausbruch des Menschen in die Unbelangbarkeit, dessen Form die ästhetische Kunst ist“, schon weil man über Geschmack eben nicht streiten kann. Kunst wird, so das Resultat der Marquardschen geistesgeschichtlichen Konstruktionen und seine bekannt gewordene These, zum „Kompensat der verlorenen Gnade“.13

11.3 Das radikale Kunstwerk – Theorie der Avantgarde Theorie der Avantgarde

Nicht zuletzt erzwungen wird die Vielfalt der Theorien durch die Kunstwirklichkeit, deren Wandlungen von dem „noch nicht nur“ ästhetischen Werk in den alteuropäischen Gesellschaften über das „nur ästhetische“ Werk in der europäischen Neuzeit zu dem „nicht mehr nur ästhetischen Werk“ (Willi Oelmüller) am Ende der Neuzeit auch die ästhetische Reflexion betreffen: Der traditionelle Begriff des „Kunstwerks“ wird spätestens seit der Avantgardebewegung in Frage gestellt und kritisiert. Auch hierauf reagiert die literarische bzw. philosophische Ästhetik. So will Peter Bürger (geb. 1936) eine Theorie der modernen/zeitgenössischen Kunst durch das doppelte Unternehmen einer „Kritik der idealistischen Ästhetik“ und einer „Theorie der Avantgarde“

Ästhetik im 20. Jahrhundert

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leisten. Können die Kategorien der hergebrachten Ästhetik akzeptable Beschreibungsleistungen erbringen, z. B. angesichts der Tatsache, dass Kunst auch ihren eigenen Werkcharakter negiert? Im „l’art pour l’art“ offenbart die Autonomieästhetik die „gesellschaftliche Folgenlosigkeit der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft und fordert damit die Selbstkritik der Kunst heraus“. Diese Selbstkritik leisten die Avantgardebewegungen, die auf Ästhetizismus und Kunstbetrieb antworten und dabei nicht nur eine radikal andere Kunst, sondern auch einen radikal anderen lebenspraktischen Status der Kunst intendieren (aber schwerlich erreichen: auch Avantgardisten hängen heute im Museum). Dada-Bewegung, Surrealismus usw. sind mit Bürger Bewegungen eines „radikalen Traditionsbruch[es]“ mit der bürgerlichen „Institution Kunst“, die ein Nachdenken darüber erforderlich machen, „wie wir Kunst heute, d. h. nach den historischen Avantgardebewegungen denken können“. Bürger möchte „Autonomie“ sowohl als unhintergehbares Merkmal zur Kennzeichnung des Operationsmodus moderner Kunst plausibel machen, wie auch gleichzeitig die ideologische Überfrachtung des Autonomiebegriffs mit der Vorstellung eines genialisch produzierten und nur im Rezeptionsmodus stiller Kontemplation adäquat erlebbaren homogenen Werkes unterbinden. Er versucht sich in dem Doppelschritt, die gesellschaftliche und historische Bedingtheit des Konzepts „Autonomie“ anzuerkennen, ohne einen Begriff von „Autonomie der Kunst“ zu verwerfen, der ihre politische und religiöse Nicht-Instrumentalisierung sichert, aber jede Trennung von Kunst und Leben vermeidet.14

11.4 Die Abenteuer der marxistischen Ästhetik im 20. Jahrhundert Ästhetik im 20.

Jahrhundert

Wie viele Teilgebiete der Philosophie, steht auch die Ästhetik im 20. Jahrhundert noch lange im Zeichen der einstmals weithin als avanciertest geltenden Theorie, nämlich des Marxismus. Es wurde ein bis heute bedeutsames, spannendes Kapitel zum Thema: Ästhetik und Gesellschaft. Marx hatte auch die Kunst dem ideologischen „Überbau“ einer eigentlich bestimmenden sozioökonomischen „Basis“ zugeordnet, ohne dass dies ein einfaches Abhängigkeitsverhältnis gemeint hätte. Gegen die theoretische „Verselbständigung“ des Ästhetischen im Idealismus eröffnete Marx vielmehr die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion der Kunst neu. Der Verweis auf ihren „Warencharakter“ lenkte den Blick auf Produzenten und Rezipienten in jeweiligen historischen Situationen. Aufbauend auf den Grundkategorien der Marxschen Theorie ist das Feld der Kunst im Weiteren sehr vielfältig und ambivalent bestimmt worden. Dies geschah z. B. in der kritischen Aufdeckung der Verschleierung und Zementierung von Herrschaftsverhältnis-

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sen. Die Kunst erwies sich nicht im Hegel’schen Sinne als eine Ausdrucksform im Gange des Geistes, sondern – in letzter Instanz bezogen auf die Produktionsverhältnisse – als ein gesellschaftliches Phänomen. Der Künstler – zuvor das Sprachrohr Gottes oder das autonome Genie – war nun „Kunstproduzent“. Die Kunst wurde politisch. Freilich erfolgte bald auch eine erneute und ganz direkte Bindung der Kunst an die (nun „richtige“) Politik durch jene Machthaber, die sich auf Marx beriefen. Die noch von Lenin (1870–1924)15 zugesagte Freiheit galt da dann faktisch bald nur noch für die, die die Verfügungsgewalt über Papier, Verlage und Zeitschriften, Ausstellungs- und Inszenierungsmöglichkeiten hatten bzw. in dem Sinne tätig waren, den diese für „Kunst“ hielten. In der Epoche des „real existierenden Sozialismus“ wurde eine staatlich reglementierte Kunst und Kunsttheorie, z. B. auch für die bildende Kunst, im „sozialistischen Realismus“ heroisch inszenierter Arbeiterbilder zur Richtschnur. Mochte sich eine marxistische Ästhetik die reale politische Verwirklichung jener Ideale zugetraut haben, von denen die Idealisten angeblich nur hatten träumen können, so erwies sich dies zumindest in so weit als kurzschlüssig, als sie sich an den Weg des Moskauer Kommunismus zurückband. Das Leben von Georg Lukács (1885–1971; Schriften: „Theorie des Romans“, 1916, „Geschichte und Klassenbewusstsein“, 1923, „Beiträge zur Geschichte der Ästhetik“, 1954, „Die Zerstörung der Vernunft“, 1954) zeigt das ganze Spannungsfeld des Denkens unter den Bedingungen des Marxismus. Lukács, ungarischer Philosoph und Literaturwissenschaftler, war ein Schüler Max Webers gewesen. Zu Zeiten der kurzlebigen ungarischen Räterepublik 1919 war er Volkskommissar für das Unterrichtswesen in Budapest, dann emigrierte er. 1945 war er wiederum in Budapest als Professor für Ästhetik und Kulturphilosophie, 1956 Kultusminister im Reformkommunismus des Imre Nagy, nach dem Scheitern des Ungarn-Aufstandes seiner Ämter enthoben und verfemt. Während seiner Emigration in die Sowjetunion (1933 –1944) wandte Lukács sich einem deutlich orthodoxeren Marxismus zu, als es etwa den Vertretern der „Kritischen Theorie“ tunlich erschien. Freilich ist er auch mit den Machtansprüchen der im kommunistischen Einflussbereich Herrschenden bitter in Konflikt gekommen. Er wurde zum Opfer des Terrors, an dem er selbst mitgedacht hatte; Thomas Mann hat ihn als „Naphta“ im „Zauberberg“ charakterisiert. In seiner weithin tragischen und kurzzeitigen politischen Praxis mochte er das Klirren seiner Ketten nach einem recht maliziösen Diktum des enttäuschten Adorno für den Marsch des Weltgeistes halten. Hinzuweisen ist abschließend auf eine bis heute aktuelle Nutzbarmachung Marxscher Kategorien für die Ästhetik ohne eine Anbindung an „den Marxismus“. Diese wird analog zur Redeweise von einer „Kritischen Theorie“ als „Kritische Ästhetik“ bezeichnet. Theodor W. Adorno, der große Skeptiker der Gesell-

Heute alles nur Design?

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schaftsentwicklung unter den Bedingungen des Kapitalismus, verfasste zahlreiche Schriften zur Musikphilosophie und -soziologie, etwa zu Beethoven, sowie zur Literaturtheorie und Literaturkritik. Er gebrauchte dabei für seine kritische Analyse unter anderen den weithin als sehr erhellend empfundenen Begriff der „Kulturindustrie“, die die Menschen „an der Emanzipation verhindert, zu der (sie) […] selbst reif wären, wie die produktiven Kräfte des Zeitalter sie erlaubten“. Zugleich „rettet“ Adorno die Kunst als potentiellen Platzhalter eines „Anderen“ gegenüber dem Verblendungszusammenhang der gesellschaftlichen Verhältnisse bzw. als „Ort“, an dem die von der Gesellschaft zerstörte Wahrheit aufzufinden wäre.16 Kunst galt für Adorno, so hat man gesagt, als „uneinlösbares Versprechen“.

11.5 Heute alles nur Design? Heute alles nur Design?

Zu den ambivalenten deutschen Gaben an die Moderne (man denke an Nietzsche und Marx) gehört auch das Bauhaus. Seine Errungenschaften gegenüber einem vielfach die Vergangenheit zitierenden Historismus: die simplifizierte Form, die klare, aber auch bloße Linie, die plane, womöglich noch verspiegelte Fläche – all dies galt als epochemachend. Doch werden die neuen Errungenschaften der großen Einfachheit auch kritisiert für das, wozu sie sich in den USA und zurückschlagend auf Europa und Deutschland oft genug entwickelt haben: als die menschenfeindlichen Gehäuse der Macht und allzu häufig des Kapitals, vor denen der Einzelne in seinen Bedürfnissen und seiner Orientierung nicht mehr zähle. In der Architektur der modernen Städte sei der Bauhaus-Purismus in eine Kakophonie aus Straßen und Wolkenkratzern übergegangen. Die sogenannte „Postmoderne“ [als „Nachmoderne“] am Ende des 20. Jahrhunderts ist vielfach in Reaktion auf die Sachlichkeit der Moderne als Rückkehr zu einer größeren, auch wieder historisierenden Vielfalt des Bauens und Gestaltens interpretiert worden. Die „Postmoderne“ schien freilich zugleich einer „Panästhetisierung“ Tür und Tor zu öffnen. Auf dem vielbeachteten Hannoveraner Kongress „Die Aktualität des Ästhetischen“ von 1992 wurde eine zunehmende ästhetische Überformung unserer Alltagswelt konstatiert – und wenig wäre bis heute daran zurückzunehmen. In dieser Ausweitung ihres Begriffs ist Ästhetik – wie in der vielzitierten „Erlebniswelt mit Gleisanschluss“ – ein Phänomen der Alltagswelt, von Medien, Design und Werbung und am Ende schließlich von Wissenschaft und Erkenntnistheorie geworden. Schlichthin alles schien und scheint sich in ein ästhetisches Gewand zu kleiden. Die Kunst entgrenzt und verwischt sich in der kommerzialisierten Einrichtung des Alltags von der Fußgängerzone über die Hotelein-

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richtung bis zum Küchenkessel. Der Ästhetisierungsboom erfasst von der Lebenswelt bis zur Politik und von den Medien bis zu Wissenschaft und Politik alles, verwandelt es in „Erlebnisräume“ und unterwirft es einer allgegenwärtigen Animation, einem „Styling“ und gestalterischen „Facelifting“. Das Ästhetische scheint zur Schlüsselkategorie einer ganzen Epoche zu werden. Zugleich freilich „verflacht“ es und steht bald für nichts mehr als für das Ambiente hedonistischer Lebensqualität in der „Erlebnisgesellschaft“. Der Bielefelder Literaturwissenschaftler Karl-Heinz Bohrer (geb. 1935) trat darum an, die „wahrhafte Natur“ des Kunstwerks, den „Kern des Ästhetischen“ gegen dergleichen Panästhetizismus und auch gegen eine ästhetisch inspirierte Philosophie zu verteidigen. Er vertrat damit die Gegenthese zu der Erweiterung des Ästhetikbegriffs in Rückkehr zu seiner eingangs angesprochenen Bedeutung, zur Thematisierung von Wahrnehmung aller Art, sinnenhafter wie geistiger, künstlerischer wie alltagsweltlicher. Die Anfüllung des Menschen mit einer Überfülle nicht zuletzt werbungs- und medienproduzierter Bilder schlage dabei unvermittelt in „Anästhetik“ um, in einen Zustand der Abstumpfung und geistigen Blindheit. Diesen durch Irritationen zu unterbrechen, könnte die neue Aufgabe einer Kunst sein, die ihre Darstellungsfunktion des „Schönen“ längst an die angesprochene Panästhetisierung verloren hat. In der postmodernen Vielheit kommt es zugleich auf das Konzept einer zwischen den „postmodernen“ Lebenformen vermittelnden „transversalen“ Vernunft an, wie es sich bei Wolfgang Welsch (geb. 1946) findet: „In der postmodern entwickelten Moderne bewegen sich die meisten Individuen zwischen verschiedenen Lebensformen, und es kommt für sie daher im Besonderen auf die Fähigkeit zum transversalen Übergang zwischen heterogenen Sinnwelten und Lebenskonzepten oder zur Integration von Elementen unterschiedlichster Herkunft an.“17 Zwar erscheint die Ausrufung einer „Postmoderne“ mittlerweile zurückgenommen zugunsten der Erkenntnis, dass ihre Ausprägungen allemal „modern“ gewesen sind. Noch sind aber auch in der Ästhetik und zum Abschluss unserer Darlegungen keine Entwicklungen zu erkennen, die diesem Vielfaltserlebnis widersprechen könnten.

Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur Platon In Platons „Symposion“ (vgl. S. 16 ff.) entwirft die Rede der Diotima (der „Mantineischen Fremden“) einen grandiosen Stufengang bis empor zur Idee des Guten und Schönen. Dieser Stufenweg führt über die Freude am schönen Körper zum Begriff der körperlichen und von dort zur geistigen Schönheit, um schließlich zum Schönen selbst zu gelangen.

Zum Weiterdenken

Zum Weiterdenken

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Das Gastmahl (Symposion), Auszug: Der Aufstieg zur Idee des Schönen Wer nämlich auf die rechte Art diese Sache angehen will, der muss in der Jugend zwar damit anfangen, schönen Gestalten nachzugehen, und wird zuerst freilich, wenn er richtig beginnt, nur eine solche lieben und diese mit schönen Reden befruchten, hernach aber von selbst inne werden, dass die Schönheit in irgendeinem Leibe der in jedem andern verschwistert ist, und es also, wenn er dem in der Idee Schönen nachgehen soll, großer Unverstand wäre, nicht die Schönheit in allen Leibern für eine und dieselbe zu halten, und wenn er dies inne geworden, sich als Liebhaber aller schönen Leiber darstellen, und von der gewaltigen Heftigkeit für einen nachlassen, indem er dies für klein und geringfügig hält. Nächstdem aber muss er die Schönheit in den Seelen für weit herrlicher halten als die in den Leibern, so dass, wenn einer, dessen Seele zu loben ist, auch nur wenig von jener Blüte zeigt, ihm das doch genug ist und er ihn liebt und pflegt, indem er solche Reden erzeugt und aufsucht, welche die Jünglinge besser zu machen vermögen, damit er selbst so dahin gebracht werde, das Schöne in den Bestrebungen und in den Sitten anzuschauen, um auch von diesem zu sehen, dass es sich überall verwandt ist, und so die Schönheit des Leibes für etwas Geringes zu halten. Von diesen Bestrebungen aber muss er weiter zu den Erkenntnissen gehen, damit er auch die Schönheit der Erkenntnisse schaue, und vielfältiges Schönes schon im Auge habend, nicht mehr dem bei einem Einzelnen, indem er knechtischer Weise die Schönheit eines Knäbleins oder irgend eines Mannes oder einer einzelnen Bestrebung liebt, dienend sich schlecht und kleingeistig zeige, sondern auf die hohe See des Schönen sich begebend und dort umschauend viel schöne und herrliche Reden und Gedanken erzeuge in ungemessenem Streben nach Weisheit, bis er, hierdurch gestärkt und vervollkommnet, eine einzige solche Erkenntnis erblicke welche auf ein Schönes folgender Art geht. Hier aber, sprach sie, bemühe dich nur aufzumerken so sehr du kannst. Wer nämlich bis hierher in der Liebe erzogen ist, das mancherlei Schöne in solcher Ordnung und richtig schauend, der wird, indem er nun der Vollendung in der Liebeskunst entgegengeht, plötzlich ein von Natur wunderbar Schönes erblicken, nämlich jenes selbst, oh Sokrates, um deswillen er alle bisherigen Anstrengungen gemacht hat, welches zuerst immer ist und weder entsteht noch vergeht, weder wächst noch schwindet, ferner auch nicht etwa nur insofern schön, insofern aber hässlich ist, noch auch jetzt schön und dann nicht, noch in Vergleich hiermit schön, damit aber hässlich, noch auch hier schön, dort aber hässlich, als ob es nur für einige schön, für andere aber hässlich wäre. Noch auch wird ihm dieses Schöne

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unter einer Gestalt erscheinen wie ein Gesicht oder Hände oder sonst etwas, was der Leib an sich hat, noch wie eine Rede oder eine Erkenntnis, noch irgendwo an einem andern seiend: weder an einem einzelnen Lebenden, noch an der Erde noch am Himmel, sondern an und für und in sich selbst ewig überall dasselbe seiend, alles andere Schöne aber an jenem auf irgend eine solche Weise Anteil habend, dass wenn auch das andere entsteht und vergeht, jenes doch nie irgend einen Gewinn oder Schaden davon hat, noch ihm sonst etwas begegnet. Wenn also jemand vermittelst der echten Knabenliebe von dort an aufgestiegen jenes Schöne anfängt zu erblicken, der kann beinahe zur Vollendung gelangen. Denn dies ist die rechte Art, sich auf die Liebe zu legen oder von einem anderen dazu angeführt zu werden, dass man von diesem einzelnen Schönen beginnend jenes einen Schönen wegen immer höher hinaufsteige gleichsam stufenweise von einem zu zweien, und von zweien zu allen schönen Gestalten, und von den schönen Gestalten zu den schönen Sitten und Handlungsweisen, und von den schönen Sitten zu den schönen Kenntnissen, bis man von den Kenntnissen endlich zu jener Kenntnis gelangt, welche von nichts anderem als eben von jenem Schönen selbst die Kenntnis ist, und man also zuletzt jenes selbst, was schön ist, erkenne. Und an dieser Stelle des Lebens, o lieber Sokrates, sagte die Mantineische Fremde, wenn irgendwo, ist es dem Menschen erst lebenswert, wo er das Schöne selbst schaut, welches, wenn du es je erblickst, du nicht wirst vergleichen wollen mit köstlichem Gerät oder Schmuck, oder mit schönen Knaben und Jünglingen, bei deren Anblick du jetzt entzückt bist, und wohl gern, du wie viele andere, um nur den Liebling zu sehn und immer mit ihm vereinigt zu sein, wenn es möglich wäre, weder essen noch trinken möchtest, sondern nur anschauen und mit ihm verbunden sein. Was also, sprach sie, sollen wir erst glauben wenn einer dazu gelangte jenes Schöne selbst rein, lauter und unvermischt zu sehn, das nicht erst voll menschlichen Fleisches ist und Farben und anderen sterblichen Flitterkrames, sondern das göttlich Schöne selbst zu schauen? Meinst du wohl, dass das ein schlechtes Leben sei, wenn einer dorthin sieht und jenes erblickt und damit umgeht? Oder glaubst du nicht, dass er dort allein ihm begegnen kann, indem er schaut, womit man das Schöne schauen muss; nicht Abbilder der Tugend zu erzeugen, weil er nämlich auch nicht ein Abbild berührt, sondern Wahres, weil er das Wahre berührt? Wer aber wahre Tugend erzeugt und aufzieht, dem gebührt, von den Götter geliebt zu werden und wenn irgendeinem anderen Menschen, dann gewiss auch ihm, unsterblich zu sein. Platon, Das Gastmahl (Symposion) 210a–212a. Platons Werke von F. Schleiermacher. Zweiten Teiles zweiter Band. Druck und Verlag von Georg Reimer, Berlin 1857, 299 – 302, überarbeitet.

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Hegel Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat seine Vorlesungen über „Ästhetik oder Philosophie der Kunst“ zwischen 1817 und 1829 zweimal in seiner Heidelberger Zeit und viermal in Berlin gehalten. Mag auch, wie editionsgeschichtlich mittlerweile vielfach angemerkt, der Hegelschüler Heinrich Gustav Hotho durch seine Texterstellung für die „Freundesvereinsausgabe“ aus Manuskripten des Meisters und Vorlesungsnachschriften bei der Herstellung dessen, was nun als „Hegels Ästhetik“ gilt, geradezu zum Mitautor geworden sein, mag auch Hegel selbst noch so materialreich sich zur Kunst in ihren vielfältigsten Erscheinungsweisen äußern – als erstes verbunden werden mit Hegels Ästhetik die Vorstellung einer Bestimmung des kulturellen Stellenwertes der Kunst in, wie man gesagt hat, „geistesmetaphysischer“ Art und Weise und die berühmte These vom „Ende der Kunst“. Der erste Textauszug gleich vom Beginn der „Ästhetik“ begründet den Vorrang des Kunstschönen vor dem Naturschönen damit, dass ersteres eine Form der Selbsterkenntnis des Geistes ist. Der Textauszug verdeutlicht damit einleitend, was Hegel in besonderer Weise am Thema Kunst interessiert (und was nicht). Im zweiten Textauszug wird die Frage nach der Kunst im Rahmen der Hegel’schen Lehre vom zu sich selbst kommenden Geist in einen Zusammenhang mit Religion und Philosophie gestellt und diskutiert. Hegel spricht der Kunst dabei nur eine eingeschränkte Wahrheitsfähigkeit zu, wenn er sagt, dass die Kunst am Ende weder dem Inhalte noch der Form nach die höchste und absolute Weise sei, „dem Geiste seine wahrhaften Interessen zum Bewusstsein zu bringen“. Diese metaphysische Zurückstufung hinter Religion und Philosophie hat aber nie ein „Aufhören“ der Kunst behauptet – wie denn auch eine gern zitierte Anekdote besagt, der Philosoph sei, kaum dass er das Ende der Kunst verkündet habe, als ihr leidenschaftlicher Anhänger ins Berliner Opernhaus geeilt. Naturschönes und Kunstschönes Durch diesen Ausdruck [Hegel spricht zuvor von einer „Philosophie der schönen Kunst“] nun schließen wir sogleich das Naturschöne aus. Solche Begrenzung unseres Gegenstandes kann einerseits als willkürliche Bestimmung erscheinen, wie denn jede Wissenschaft sich ihren Umfang beliebig abzumarken die Befugnis habe. In diesem Sinne aber dürfen wir die Beschrankung der Ästhetik auf das Schöne der Kunst nicht nehmen. Im gewöhnlichen Leben zwar ist man gewohnt, von schöner Farbe, einem schönen Himmel, schönem Strome, ohnehin von schönen Blumen, schönen Tieren und noch mehr von schönen Menschen zu sprechen, doch lässt sich, obschon wir uns hier nicht in den Streit einlassen wollen, inwiefern solchen Gegenständen mit Recht die Qualität Schönheit beigelegt und so überhaupt das Naturschöne neben das Kunstschöne gestellt werden dürfe,

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hiergegen zunächst schon behaupten, dass das Kunstschöne höher stehe als die Natur. Denn die Kunstschönheit ist die aus dem Geiste geborene und wiedergeborene Schönheit, und um soviel der Geist und seine Produktionen höher steht als die Natur und ihre Erscheinungen, um soviel auch ist das Kunstschöne höher als die Schönheit der Natur. Ja formell betrachtet, ist selbst ein schlechter Einfall, wie er dem Menschen wohl durch den Kopf geht, höher als irgendein Naturprodukt; denn in solchem Einfalle ist immer die Geistigkeit und Freiheit präsent. Dem Inhalt nach freilich erscheint z. B. die Sonne als ein absolut notwendiges Moment, wahrend ein schiefer Einfall als zufällig und vorübergehend verschwindet; aber für sich genommen, ist solche Naturexistenz wie die Sonne indifferent, nicht in sich frei und selbstbewusst, und betrachten wir sie in dem Zusammenhange ihrer Notwendigkeit mit anderem, so betrachten wir sie nicht für sich und somit nicht als schön. Sagten wir nun überhaupt, der Geist und seine Kunstschönheit stehe höher als das Naturschöne, so ist damit allerdings noch soviel als nichts festgestellt, denn höher ist ein ganz unbestimmter Ausdruck, der Naturund Kunstschönheit noch als im Raume der Vorstellung nebeneinanderstehen bezeichnet und nur einen quantitativen und dadurch äußerlichen Unterschied angibt. Das Höhere des Geistes und seiner Kunstschönheit der Natur gegenüber ist aber nicht ein nur relatives, sondern der Geist erst ist das Wahrhaftige, alles in sich Befassende, so dass alles Schöne nur wahrhaft schön ist als dieses Höheren teilhaftig und durch dasselbe erzeugt. In diesem Sinne erscheint das Naturschöne nur als ein Reflex des dem Geiste angehörigen Schönen, als eine unvollkommene, unvollständige Weise, eine Weise, die ihrer Substanz nach im Geiste selber enthalten ist. Außerdem wird uns die Beschränkung auf die schöne Kunst sehr natürlich vorkommen, denn so viel auch von Naturschönheiten – weniger bei den Alten als bei uns die Rede ist, so ist doch wohl noch niemand auf den Einfall gekommen, den Gesichtspunkt der Schönheit der natürlichen Dinge herauszuheben und eine Wissenschaft, eine systematische Darstellung dieser Schönheiten machen zu wollen. Man hat wohl den Gesichtspunkt der Nützlichkeit herausgenommen und hat z. B. eine Wissenschaft der gegen die Krankheiten dienlichen natürlichen Dinge, eine materia medica, verfasst, eine Beschreibung der Mineralien, chemischen Produkte, Pflanzen, Tiere, welche für die Heilung nützlich sind, aber aus dem Gesichtspunkte der Schönheit hat man die Reiche der Natur nicht zusammengestellt und beurteilt. Wir fühlen uns bei der Naturschönheit zu sehr im Unbestimmten ohne Kriterium zu sein, und deshalb würde solche Zusammenstellung zu wenig Interesse darbieten, sie zu unternehmen.

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Kunst, Religion und Philosophie als Ausdruck des Geistes Durch die Beschäftigung mit dem Wahren, als dem absoluten Gegenstande des Bewusstseins, gehört nun auch die Kunst der absoluten Sphäre des Geistes an und steht deshalb mit der Religion im spezielleren Sinne des Worts wie mit der Philosophie, ihrem Inhalte nach, auf ein und demselben Boden. Denn auch die Philosophie hat keinen anderen Gegenstand als Gott und ist so wesentlich rationelle Theologie und als im Dienste der Wahrheit fortdauernder Gottesdienst. Bei dieser Gleichheit des Inhalts sind die drei Reime des absoluten Geistes nur durch die Formen unterschieden, in welchen sie ihr Objekt, das Absolute, zum Bewusstsein bringen. Die Unterschiede dieser Formen liegen im Begriff des absoluten Geistes selber. Der Geist als wahrer Geist ist an und für sich und dadurch kein der Gegenständlichkeit abstrakt-jenseitiges Wesen, sondern innerhalb derselben im endlichen Geiste die Erinnerung des Wesens aller Dinge: das Endliche in seiner Wesentlichkeit sich ergreifend und somit selber wesentlich und absolut. Die erste Form nun dieses Erfassens ist ein unmittelbares und eben darum sinnliches Wissen, ein Wissen in Form und Gestalt des Sinnlichen und Objektiven selber, in welchem das Absolute zur Anschauung und Empfindung kommt. Die zweite Form sodann ist das vorstellende Bewusstsein, die dritte endlich das freie Denken des absoluten Geistes. (1.) Die Form der sinnlichen Anschauung nun gehört der Kunst an, so dass die Kunst es ist, welche die Wahrheit in Weise sinnlicher Gestaltung für das Bewusstsein hinstellt, und zwar einer sinnlichen Gestaltung, welche in dieser ihrer Erscheinung selbst einen höheren, tieferen Sinn und Bedeutung hat, ohne jedoch durch das sinnliche Medium hindurch den Begriff als solchen in seiner Allgemeinheit erfassbar machen zu wollen; denn gerade die Einheit desselben mit der individuellen Erscheinung ist das Wesen des Schönen und dessen Produktion durch die Kunst. Nun vollbringt sich diese Einheit allerdings in der Kunst auch im Elemente der Vorstellung und nicht nur in dem sinnlicher Äußerlichkeit, besonders in der Poesie; doch auch in dieser geistigsten Kunst ist die Einigung von Bedeutung und individueller Gestaltung derselben – wenn auch für das vorstellende Bewusstsein – vorhanden und jeder Inhalt in unmittelbarer Weise gefasst und an die Vorstellung gebracht. Überhaupt ist sogleich festzustellen, dass die Kunst, da sie das Wahre, den Geist, zu ihrem eigentlichen Gegenstande hat, die Anschauung desselben nicht durch die besonderen Naturgegenstände als solche, durch Sonne z. B., Mond, Erde, Gestirne usw., zu geben vermag. Dergleichen sind freilich sinnliche Existenzen, aber vereinzelte, welche für sich genommen die Anschauung des Geistigen nicht gewähren.

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Wenn wir der Kunst nun diese absolute Stellung geben, so lassen wir dadurch ausdrücklich die oben bereits erwähnte Vorstellung beiseite liegen, welche die Kunst als zu vielfach anderweitigem Inhalt und sonstigen ihr fremden Interessen brauchbar annimmt. Dagegen bedient sich die Religion häufig genug der Kunst, um die religiöse Wahrheit der Empfindung näher zu bringen oder für die Phantasie zu verbildlichen, und dann steht die Kunst allerdings in dem Dienste eines von ihr unterschiedenen Gebiets. Wo die Kunst jedoch in ihrer höchsten Vollendung vorhanden ist, da enthält sie gerade in ihrer bildlichen Weise die dem Gehalt der Wahrheit entsprechendste und wesentlichste Art der Exposition. So war bei den Griechen z. B. die Kunst die höchste Form, in welcher das Volk die Götter sich vorstellte und sich ein Bewusstsein von der Wahrheit gab. Darum sind die Dichter und Künstler den Griechen die Schöpfer ihrer Götter geworden, d. h. die Künstler haben der Nation die bestimmte Vorstellung vom Tun, Leben, Wirken des Göttlichen, also den bestimmten Inhalt der Religion gegeben. Und zwar nicht in der Art, dass diese Vorstellungen und Lehren bereits vor der Poesie in abstrakter Weise des Bewusstseins als allgemeine religiöse Sätze und Bestimmungen des Denkens vorhanden gewesen und von den Künstlern sodann erst in Bilder eingekleidet und mit dem Schmuck der Dichtung äußerlich umgeben worden wären; sondern die Weise des künstlerischen Produzierens war die, dass jene Dichter, was in ihnen gärte, nur in dieser Form der Kunst und Poesie herauszuarbeiten vermochten. Auf anderen Stufen des religiösen Bewusstseins, auf welchen der religiöse Gehalt sich der künstlerischen Darstellung weniger zugänglich zeigt, behält die Kunst in dieser Beziehung einen beschränkteren Spielraum. Dies wäre die ursprüngliche, wahre Stellung der Kunst als nächste unmittelbare Selbstbefriedigung des absoluten Geistes. Wie nun aber die Kunst in der Natur und den endlichen Gebieten des Lebens ihr Vor hat, ebenso hat sie auch ein Nach, d. h. einen Kreis, der wiederum ihre Auffassungs- und Darstellungsweise des Absoluten überschreitet. Denn die Kunst hat noch in sich selbst eine Schranke und geht deshalb in höhere Formen des Bewusstseins über. Diese Beschränkung bestimmt denn auch die Stellung, welche wir jetzt in unserem heutigen Leben der Kunst anzuweisen gewohnt sind. Uns gilt die Kunst nicht mehr als die höchste Weise, in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft. Im Ganzen hat sich der Gedanke früh schon gegen die Kunst als versinnlichende Vorstellung des Göttlichen gerichtet; bei den Juden und Mohammedanern z. B., ja selbst bei den Griechen, wie schon Platon sich stark genug gegen die Götter des Homer und Hesiod opponierte. Bei fortgehender Bildung tritt überhaupt bei jedem Volke eine Zeit ein, in welcher die Kunst

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über sich selbst hinausweist. So haben z. B. die historischen Elemente des Christentums, Christi Erscheinen, sein Leben und Sterben, der Kunst als Malerei vornehmlich mannigfaltige Gelegenheit sich auszubilden gegeben, und die Kirche selbst hat die Kunst großgezogen oder gewähren lassen; als aber der Trieb des Wissens und Forschens und das Bedürfnis innerer Geistigkeit die Reformation hervortrieben, ward auch die religiöse Vorstellung von dem sinnlichen Elemente abgerufen und auf die Innerlichkeit des Gemüts und Denkens zurückgeführt. In dieser Weise besteht das Nach der Kunst darin, dass dem Geist das Bedürfnis einwohnt, sich nur in seinem eigenen Innern als der wahren Form für die Wahrheit zu befriedigen. Die Kunst in ihren Anfängen lässt noch Mysteriöses, ein geheimnisvolles Ahnen und eine Sehnsucht übrig, weil ihre Gebilde noch ihren vollen Gehalt nicht vollendet für die bildliche Anschauung herausgestellt haben. Ist aber der vollkommenste Inhalt vollkommen in Kunstgestalten hervorgetreten, so wendet sich der weiterblickende Geist von dieser Objektivität in sein Inneres zurück und stößt sie von sich fort. Solch eine Zeit ist die unsrige. Man kann wohl hoffen, dass die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein. Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen – es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr. (2.) Das nächste Gebiet nun, welches das Reich der Kunst überragt, ist die Religion. Die Religion hat die Vorstellung zur Form ihres Bewusstseins, indem das Absolute aus der Gegenständlichkeit der Kunst in die Innerlichkeit des Subjekts hineinverlegt und nun für die Vorstellung auf subjektive Weise gegeben ist, so dass Herz und Gemüt, überhaupt die innere Subjektivität, ein Hauptmoment werden. Diesen Fortschritt von der Kunst zur Religion kann man so bezeichnen, dass man sagt, die Kunst sei für das religiöse Bewusstsein nur die eine Seite. Wenn nämlich das Kunstwerk die Wahrheit, den Geist als Objekt in sinnlicher Weise hinstellt und diese Form des Absoluten als die gemäße ergreift, so bringt die Religion die Andacht des zu dem absoluten Gegenstande sich verhaltenden Inneren hinzu. Denn der Kunst als solcher gehört die Andacht nicht an. Sie kommt erst dadurch hervor, dass nun das Subjekt eben dasjenige, was die Kunst als äußere Sinnlichkeit objektiv macht, in das Gemüt eindringen lässt und sich so damit identifiziert, dass diese innere Gegenwart in Vorstellung und Innigkeit der Empfindung das wesentliche Element für das Dasein des Absoluten wird. Die Andacht ist dieser Kultus der Gemeinde in seiner reinsten, innerlichsten, subjektivsten Form; ein Kultus, in welchem die Objekti-

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vität gleichsam verzehrt und verdaut und deren Inhalt nun ohne diese Objektivität zum Eigentum des Herzens und Gemüts geworden ist. (3.) Die dritte Form endlich des absoluten Geistes ist die Philosophie. Denn die Religion, in welcher Gott zunächst dem Bewusstsein ein äußerer Gegenstand ist, indem erst gelehrt werden muss, was Gott sei und wie er sich geoffenbart habe und offenbare, versiert sodann zwar im Elemente des Inneren, treibt und erfüllt die Gemeinde; aber die Innerlichkeit der Andacht des Gemüts und der Vorstellung ist nicht die höchste Form der Innerlichkeit. Als diese reinste Form des Wissens ist das freie Denken anzuerkennen, in welchem die Wissenschaft sich den gleichen Inhalt zum Bewusstsein bringt und dadurch zu jenem geistigsten Kultus wird, durch das Denken sich dasjenige anzueignen und begreifend zu wissen, was sonst nur Inhalt subjektiver Empfindung oder Vorstellung ist. In solcher Weise sind in der Philosophie die beiden Seiten der Kunst und Religion vereinigt: die Objektivität der Kunst, welche hier zwar die äußere Sinnlichkeit verloren, aber deshalb mit der höchsten Form des Objektiven, mit der Form des Gedankens vertauscht hat, und die Subjektivität der Religion, welche zur Subjektivität des Denkens gereinigt ist. Denn das Denken einerseits ist die innerste, eigenste Subjektivität – und der wahre Gedanke, die Idee, zugleich die sachlichste und objektivste Allgemeinheit, welche erst im Denken sich in der Form ihrer selbst erfassen kann. Mit dieser Andeutung des Unterschiedes von Kunst, Religion und Wissenschaft müssen wir uns hier begnügen. Die sinnliche Weise des Bewusstseins ist die frühere für den Menschen, und so waren denn auch die früheren Stufen der Religion eine Religion der Kunst und ihrer sinnlichen Darstellung. Erst in der Religion des Geistes ist Gott als Geist nun auch auf höhere, dem Gedanken entsprechendere Weise gewusst, womit sich zugleich hervorgetan, dass die Manifestation der Wahrheit in sinnlicher Form dem Geiste nicht wahrhaft angemessen sei. G. W. F. Hegels Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, 10. Band: Vorlesungen zur Ästhetik. Hrsg. von D. H. G. Hotho, Erster Band. Verlag von Duncker und Humblot, Berlin 1835, 131–137.

Klaus Tesching Als freier Künstler und Kunstpädagoge skizziert Klaus Tesching (geb. 1951), 1970 –1978 Meisterschüler bei Josef Beuys, eine grundlegend neue Möglichkeit der Kunst im 20. Jahrhundert.

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Von Kant zu Beuys – Eine neue Vorstellung von Kunst Die radikalen Ideen des Josef Beuys (1921–1984) kann man am besten anhand seiner „Fettecke“ demonstrieren. Da muss jeder Position beziehen. Beuys hat mir immer wieder gesagt, wie wichtig es ist, dass die neuen Ideen der Gestaltung in die Schulen getragen werden, die die Kultur des 21. Jahrhunderts vorbereiten. „Ohne einen veränderten Gestaltungsbegriff“, so meinte er, „wird unsere Kultur nicht überleben.“ Wir müssen unsere ganze Welt als „soziale Plastik“ erfahren und gestalten: das ist es, worauf sein erweiterter Kunstbegriff abzielt. Es war auch Joseph Beuys, der uns nahe brachte, dass das Denken selbst schon Skulptur ist und dass Unterrichten und Lernen „performing arts“ sind. Beuys’ Einsicht: „Jeder Mensch ist ein Künstler“ hat direkte Auswirkungen auf uns. Er sah, dass das „menschliche Kapital“ die wahre Währung einer wahren Weltökonomie ist. In einer Gesellschaft, in der jeder Künstler ist, wird das Leben selbst zur Kunst. Die spezifische kunstfertige Handwerklichkeit des Künstlers ging mit dem Heraufziehen der industriellen Welt zu Beginn unseres Jahrhunderts zu Ende. Seitdem sich Künstler nicht mehr an der optischen Sichtbarkeit ausrichten, ist das akademische Schulsystem zusammengebrochen. Kunst von handwerklichem Können herzuleiten ist jetzt ungültig. Damit bleibt nur der Anspruch des Künstlers übrig, aus Gründen seiner inneren Natur als Künstler zu gestalten. „Jeder Mensch ist ein Künstler“, meinte Beuys, und ich muss ergänzen: wenn der Mensch sich dieses Recht auch herausnimmt. Der Künstler kann auf zu Lernendes verzichten, da er ohne Begriff und ohne Methode sein Material zu einer höheren Bedeutsamkeit bildet. Dabei gründet er seine Gestaltung auf seine natürliche Intuition. Diese Zusammenhänge hat übrigens auch Immanuel Kant (Kritik der Urteilskraft, § 46: Schöne Kunst ist Kunst des Genies) schon angesprochen: „Man sieht hieraus, dass Genie 1) ein Talent sei, dasjenige, wozu sich keine bestimmte Regel geben lässt, hervorzubringen: nicht Geschicklichkeitsanlage zu dem, was nach irgendeiner Regel gelernt werden kann; folglich dass Originalität seine erste Eigenschaft sein müsse. 2) Dass, da es auch originalen Unsinn geben kann, seine Produkte zugleich Muster, d. i. exemplarisch sein müssen; mithin, selbst nicht durch Nachahmung entsprungen, anderen doch dazu, d. i. zum Richtmaße oder Regel der Beurteilung, dienen müssen. 3) Dass es, wie es sein Produkt zu Stande bringe, selbst nicht beschreiben, oder wissenschaftlich anzeigen könne, sondern dass es als Natur die Regel gebe.“ Im Gegensatz zum professionellen Fachmann – eine Position, die dem Verdacht der Fachidiotie, des mangelnden Überblicks ausgesetzt ist – ist der Künstler als Dilettant ein Generalist, der aus sich heraus und ohne geschultes Können agiert, der aber damit in einem bestimmten Sinne besser Bescheid weiß als der Fachmann. Kunst

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Klaus Tesching mit freundlicher Genehmigung des Künstlers

zeigt sich als ein Können, das nicht aus Wissen, sondern aus natürlicher Produktivität schöpferisch erzeugt wird. Denn anstelle von gelerntem Wissen erzeugt der Künstler „Einfälle“. Er schöpft nicht aus Gelerntem, er provoziert „Ideen“. Hier setzt unser Unterricht an, das will er vermitteln und praktisch gestalten. Das Tun setzt in der Selbsterfahrung an und reflektiert seine Ziele, Inhalte, Materialien und Methoden. Kein Thema bleibt grundsätzlich ausgeschlossen. Die freie Gestaltung ist die zentrale Wurzel unseres aufgeklärten abendländischen Menschenbildes und der Idee unserer Demokratie, aus der Freiheit heraus in Gleichheit und Brüderlichkeit. Text mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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Arbeitsanregungen 1. Zum Verständnis der Position Platons: Skizzieren Sie für sich den stufenweisen Aufstieg zur Idee des Schönen in einer graphischen Darstellung. Beantworten Sie dann die Frage: Warum können wir nach Platon von etwas sagen, dass es „schön“ sei? 2. Worin liegt die Leistung der Kunst als Ausdrucksform des Geistes nach Hegel – worin liegen ihre Grenzen? Suchen Sie entsprechende Textpassagen heraus! 3. Inwiefern unterscheidet sich der von Tesching im Anschluss an Beuys skizzierte Kunstbegriff von der „klassischen Museumskunst“? 4. Beschreiben Sie ein Kunstwerk (Bild, Musikstück der klassischen oder Popmusik, Buch, Film), das Ihnen etwas bedeutet. Begründen Sie, warum das so ist.

Literatur U. Kultermann: Kleine Geschichte der Kunsttheorie, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft/Primus) 2002. Maria E. Reicher: Einführung in die philosophische Ästhetik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2. Aufl. 2010. N. Schneider: Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zur Postmoderne, Stuttgart (Reclam) 1996 (Porträts von Baumgarten, Lessing, Kant und Hegel über Nietzsche, Heidegger, Lukacs und Adorno zu Danto, Barthes und Derrida).

12 Was dürfen wir hoffen? Religionsphilosophie

Religion ist die Hoffnung auf einen Sinn jenseits des Wissens. Sie ist unser unstillbares Verlangen als fühlende und denkende Geschöpfe, dass doch am Ende der Himmel die Erde berühren möge: eine Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Sinn, die die grausame Wirklichkeit, die wir Menschen, obwohl begabt wie kein anderes Geschöpf, uns nicht zuletzt selbst viel zu oft bereiten, heilen könnte. Was dürfen wir hoffen?

„Religion“ ist eine der grundlegenden Arten der Wirklichkeitserfahrung des Menschen. Der Begriff der Religion stammt vom lateinischen „religio“, „genaue Beachtung“ des Göttlichen oder „Bindung“ an das Göttliche. Er steht für die Fülle all der unterschiedlichen soziokulturellen Erscheinungen, die aus der persönlichen oder in Gemeinschaft erfahrenen Beziehung zu einem Transzendenten, Heiligen und Göttlichen zu deuten sind. Nach der klassischen Formulierung eines Rudolf Otto (1869 –1937) begegnet das religiöse Bewusstsein dem irrationalen „Heiligen“ (Numinosen), das zugleich schauervoll und übermächtig (tremendum) wie wundervoll (fascinans) ist. Im Zuge der Entwicklung wird der Gegenstand der Religion zugleich mit Hilfe des philosophischen Begriffs (Geist, zwecksetzender Wille, Allmacht usw.) gefasst. Es beginnt eine gemeinsame, außerordentlich fruchtbare Entwicklung von Religion und Philosophie. Dies gilt bei weitem nicht nur für das Mittelalter, wird aber mit der Neuzeit immer schwieriger. Kaum eine der Errungenschaften der Moderne – so hat man behauptet – ist entwickelt worden, ohne dass von kirchlicher Seite nicht versucht worden wäre, sie zu verhindern. Andererseits ergibt sich aus der Verwandtschaft von Philosophie und Religion jener kulturelle Reichtum, den man als abendländische Geistesgeschichte bezeichnet. Ihr Erbe ist die Religionsphilosophie als ein Nachdenken mit und aus, gegen und über Religion.

12.1 Was bedeutet die Religion für den Menschen? Die Bedeutung der Religion für den Menschen

Warum glaubt der Mensch? Eine umfassende Erklärung der Entstehung von Religionen und der Fülle ihrer Vorstellungen wäre eine Theorie der Kulturentwicklung. Von den Lehren des Buddha bis zum Römerbrief des Paulus und zu den „Konfessionen“ Augustins (vgl. Textauszüge Zum Weiterdenken

Zur Frage nach Ursprung und Sinn

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im Anhang zu diesem Kapitel) können ihre Erscheinungsformen sehr unterschiedlich sein. Zugleich ist aber die Religion ein Universalphänomen: sie deckt ein ganzes Spektrum von Dimensionen und Funktionen ab, die man sich für das Folgende vergegenwärtigen muss. Religionen geben in ihren Gottesvorstellungen und sonstigen Lehrinhalten praktische Lebens- und Handlungsorientierung; sie formen eine individuelle und kulturelle Identität, leisten Wirklichkeits- und Daseinserklärung, gelten für die Erklärung und Bewältigung von Leid, Bösem und Kontingenz als zuständig, haben einen für den Gläubigen unreduzierbaren Heils- und Offenbarungscharakter und wecken schließlich oftmals Hoffnungen auf eine jenseitige Zukunft.1 Über Entstehungserklärungen und Jenseitsvorstellungen hinaus prägen Religionen das Leben der Menschen. Eine Schlachtungshandlung kann, als Opfer, religiöser Natur sein; ein Bauwerk, als Tempel oder Kirche, kann dies sein: Jahrhunderte der Architekturgeschichte in ihren Spitzenleistungen sind Ausdruck menschlichen Glaubens. Hierarchien und Kirchen, Kleriker und Laien, ganze Gesellschaften in allen Kulturkreisen bilden sich im Zeichen der Religion aus; die erstaunlichsten und prachtvollsten Riten und Bräuche werden entwickelt. Religionen sind Lebensformen, eingelassen in die Kulturen und Gesellschaften, die sie hervorgebracht haben und nur bedingt über diesen kulturellen Rahmen hinaus exportierbar. In heiligen Gebräuchen: in Initiationsriten, in der Taufe, in Beschneidung, Hochzeit, Festen, Bestattungszeremonien und Kremierungen usw., an heiligen Orten, zu heiligen Zeiten begleiten Religionen das Leben des Menschen in seinen entscheidenden Wendepunkten. Die lebensweltlichen Abläufe: Tages- und Jahresrhythmus usw. werden in religiöse Sinngebungen eingebunden. In der Praxis der Religionen vermag der Mensch sich aufgehoben zu fühlen.

12.2 Zur Frage nach Ursprung und Sinn Zur Frage nach Ursprung und Sinn

Seit es Menschen gibt, seit den ersten Anfängen ihrer Kultur, fragen sie nach dem „Woher“, dem Sinn und dem „Wohin“ ihrer Existenz. Auf diese grundsätzlichen Fragen, die wir uns als bewusste und reflektierende Wesen, wie es scheint, geradezu zwangsläufig stellen müssen, geben die verschiedensten Arten von Religionen, geben Ahnenkult, Götterverehrung und Gottesglaube lebensorientierende und für unseren Seelenhaushalt und für unsere Orientierung offenbar ganz unabdingbare Antworten. Vor allem Schöpfungsmythen erklären unsere Herkunft und Entstehung. Bei allen Unterschieden gibt es solche Mythen in allen doch sonst so einzigartig ausgeprägten menschlichen Lebensformen. Der Ursprung des Menschen wird gedacht als seine Erschaffung durch eine anzunehmende außer- und

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übermenschliche Instanz. Phantasievoll gestaltete Wesen nicht sinnlich wahrnehmbarer Existenz entstehen in den Anfängen der Kulturbildung und werden im Denken der Hochkulturen weiterentwickelt. Götter erweisen sich als anzubetende, übermächtige Gestalten. Sie und ihre Auseinandersetzungen haben die Welt hervorgebracht. Nur ein Schöpfergott, so heißt es schließlich, schied das Licht von der Finsternis und schuf so die Welt. Das Göttliche als Ursprungs- und Sinnprinzip erklärt uns als ein nicht mehr Hinterfragbares, warum wir leben. Auch im Zeitalter der Naturwissenschaften und der „Urknall“-Theorie ist die Frage nach dem letzten Ursprung und Grund der Welt so spannend wie seit je und die Versuche, sie zu beantworten, „oszillieren“ bis heute zwischen religiösen und nicht-religiösen Optionen. Skeptische Positionen hegen Zweifel an der Vorstellung eines „Sinn-Kosmos“, in dem sich noch könnte bestimmen lassen, wo „unser Platz“ und unsere finale Bestimmung ist. Man muss sich freilich klar machen, was ein moderner Agnostizismus auf der anderen Seite bedeutet: anonyme Gesetzlichkeiten setzen uns ins Leben und beenden es auch wieder. Woher und warum, wissen wir nicht und wir werden es nie wissen. Gott steht nicht mehr vor dem, wie man gesagt hat, „Anfangsabgrund“ eines Wesens, das sich immer schon vorfindet auf einem Terrain, dessen Genese es nicht recht verstehen kann. Kein geringes Medienecho erntete der 100-jährige Claude Lévi-Strauss (1908 – 2009), als er kurz vor seinem Tode bekannte, dass er in der Menschheit nur eine im kosmischen Maßstabe letztlich sinnlose Epoche sehe.2 Wir erscheinen als die „Narren“ eines nicht zu verstehenden Daseins, dem Klingen unserer Schellenkappen entspricht keine Sphärenharmonie und unsere Sinnerwartungen werden – zumindest in einem „objektiven“ und „ontologischen“ Sinne – nicht erfüllt. „Existiert Gott? Oder muss jeder Mensch den Sinn des Lebens und der Welt selbst finden?“ Diese Grundfrage, die man im Magazin „Chrismon“ gestellt hat, stellt ein erstes der im Zusammenhang mit der Religionsphilosophie anzusprechenden Themengebiete dar.

12.3 Wo ist Gott angesichts des Leidens? Das Theodizee-Problem Das Theodizee-Problem

Eng verbunden mit der vorgenannten Frage ist ein zweites wichtiges religionsphilosophisches Themengebiet: der Umgang mit dem sogenannten Theodizeeproblem, das unsere Vorstellungen von dem doch gütigen und allmächtigen Gott mit den Leiden in der Welt konfrontiert. Die „klassische“ Formulierung findet sich bei dem antiken Philosophen Epikur (341–270 v. Chr.), der einer materialistischen Auffassung folgt, wenn für ihn die zufälligen Atomkompositionen Körper und Seele nach dem Tode zu Staub zerfallen. Die Götter werden in die Intermundien [Zwischenwelten] und damit in ein wirkungsloses Jen-

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seits hinweg komplimentiert. Man braucht also weder vor ihnen noch vor einem „Jenseits“ Angst zu haben und auch nicht vor dem Tod. Von Seiten der Religion, die doch auch für Trost und Sinnversprechen stehen kann, befürchtet Epikur vor allem eine Störung der Seelenruhe durch Angst und Furcht. Hieraus resultiert eine letztlich religionskritische Einstellung, die ihren Ausdruck in der folgenden, als Keimzelle des Theodizee-Problems geltenden Formulierung findet: „Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, dann ist er missgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl missgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein sich für Gott ziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?“3 Gottfried Wilhelm Leibniz (1646– 1716) hat in seiner „Theodizee“ („Essais de théodicée“, „Abhandlungen zur Rechtfertigung Gottes“) versucht, die von Gott geschaffene Welt als die beste aller möglichen Welten zu erweisen, in der dem Menschen Willensfreiheit zugestanden wird. Die Debatte dauert bis heute an.4 Nur eine höchste und letzte Sinnvermutung, wie sie mit einem Weiterleben im Jenseits verbunden ist, vermag, so kann es scheinen, diese Frage positiv zu beantworten.

12.4 Gibt es ein Weiterleben nach dem Tod? Gibt es ein Weiterleben nach dem Tod?

Ein weiteres, ganz zentrales Thema der Religion ist schließlich die Frage nach Auferstehung bzw. Tod und Weiterleben. Wir alle empfinden als entwickelte Individuen den Gedanken schwer auszuhalten, dass mit dem Tode alles vorbei sein soll. Tod und Sterben gehören damit immer schon zum Leben. Und sie gehören zu den Themen, die uns in unseren jeweiligen Lebenszusammenhängen am meisten beschäftigen. Es sind vor allem die Weltreligionen, die angesichts des Todes Trost zu spenden vermögen und eine individuelle Fortexistenz in einer anderen Welt versprechen. Allerdings gibt es auch die Haltung: Man kann vor dem Leben und vor dem Sterben Angst haben – aber vor dem Tod selbst als der Aufhebung aller positiven wie negativen Empfindung braucht man sich nicht zu fürchten. Dies sagt z. B. der bereits erwähnte Epikur, der allerdings das Sterben selbst eher übergeht. Epikur entwickelt eine medizinisch-therapeutisch zu verstehende Formel, derzufolge gelte: wenn der Tod da sei, seien wir nicht mehr da, solange wir aber da seien, sei der Tod nicht da. Häufig hört man folgendes Argument: Wenn es keine wahre, die irdischen Wechselfälle ausgleichende Gerechtigkeit (im Jenseits) gibt, dann muss man

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ja etwa jugendlichen Aidskranken oder im Krieg sterbenden Kindern sagen: Da habt ihr eben Pech gehabt… Derartige Zynismen sind für uns kaum zu ertragen. Die Jenseitsvorstellungen der Religionen zeigen wohl nicht zuletzt aus diesem Grund, so unterschiedlich sie im Einzelnen gestaltet sein mögen, viele Übereinstimmungen im Grundsätzlichen. Schon zu Beginn der Kulturgeschichte müssen beim Anblick des toten menschlichen Körpers Hoffnungen sich erhoben haben, eine nicht-sterbliche Seele habe den Leib verlassen, um in irgendeiner Form weiter zu leben. Alle Grabanlagen, angefangen bei den Pyramiden des alten Ägypten, verkünden diese Botschaft. Vielfältig ist die Ausgestaltung von Vorstellungen, die sich die Lebenden von den Verhältnissen in jenem Reiche gemacht haben, „von dem“, mit Shakespeare zu sprechen, „kein Wanderer wiederkehrt“. Sie erweisen sich als offensichtliche Derivate und Abkömmlinge der jeweiligen irdischen Lebenszustände – und sind dennoch als Probleme des Denkens bis heute nicht zu lösende Anfragen geblieben. Zu den fundamentalen Ideen religiöser Sinnstiftung gehört etwa die mit dem Unsterblichkeitsglauben verbundene und im Alten Ägypten entstandene Vorstellung eines Totengerichts. Eine Schuldanklage wird dadurch auf einen „archimedischen Punkt“ außerhalb der konkreten Gesellschaft verlagert – ein Durchbruch in der Religionsgeschichte.5 Fast alle Zivilisationen entwickeln Vorstellungen von einem Rechenschaftgeben beim Tode. Vom altägyptischen Totengericht könnte eine hier anzuführende Beispielreihe über die Wiederkehrarten der Seele in den östlichen Religionen bis zu Hölle und Fegefeuer in den Traditionen des Christentums führen. Man kann eine Vorstellung des Alten Testamentes der Bibel (in dem ansonsten von Jenseits und Weiterleben allerdings gar nicht so viel die Rede ist) aufrufen, der zufolge die Gebeine der Auferstehenden wieder zusammenkommen und mit Fleisch, Haut und Odem neu belebt werden (Ezechiel 37,1 ff., Hiob 19,25–27). In Sonderheit aber das Neue Testament gesteht ja den Gläubigen eine Auferstehungsleiblichkeit zu (vgl. z. B. 2 Kor. 5,2 ff.). Der Glaube an die Unsterblichkeit des Leibes – oder ist sie eher die einer Seele?6 – stellt eine wichtige kulturelle Antwort dar auf die Frage nach dem, was vom Menschen bleibt7 (und mehr: da der Mensch anders als die Tiere das Problem hat, dass er um seine Sterblichkeit weiß, kann man seine Kultur überhaupt als ein symbolisches System von Bemühungen interpretieren, mit dieser Einsicht fertigzuwerden).8 Die Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod ist ein zentrales Trostversprechen der großen monotheistischen Religionen. Sie ist eine Sache des Glaubens. Wenn nicht wenige Philosophen einer Überwindung des Todes in einem zweiten Leben deutlich weniger optimistisch gegenüber stehen als das Gros der Theologen (trotz Platons Formulierung, der Tode bedeute ein

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„schönes Wagnis“), dann geht dies meist (wie bei Epikur) mit religionskritischen Erwägungen einher.9 Für sie gilt: Das Leben hat sich unter einer Berücksichtigung des Todes zu orientieren; es ist wichtig, das Leben bewusst (d. i. philosophisch aufgeklärt) zu leben, solange wir es denn leben, denn gerade diese Zeit ist eigentlich das Einzige, was wirklich uns gehört (vgl. Seneca, ca. 4 v. Chr. bis ca. 65 n. Chr., „De brevitate vitae“ – „Über die Kürze des Lebens“).10

12.5 Die Philosophie und die Religionskritik Philosophie und die Religionskritik

Schon die drei bisher genannten Fragen deuten an: Über die Religionen, entstanden vor allem in einfachen Stammeswelten von Händlern, Hirten und Propheten, ist seither in komplexer verfassten Gesellschaften viel theologischer und philosophischer Sinn produziert worden, gerade auch in den beiden letzten wissenschaftlichen Jahrhunderten. Im 20. Jahrhundert hat das Ringen um eine angemessene Rede von Gott zu einer der glanzvollsten Epochen der Theologie geführt.11 Vom Beginn der europäischen Kultur an gehören die Kritik wie die Begründung der Religion zum Selbstverständnis aber auch der Philosophie. Diese, im Mittelalter „ancilla theologiae“ („Magd der Theologie“) findet mit der Aufklärung ihr Selbstverständnis in dem Vertrauen auf die autonome Kraft menschlicher Reflexion und Vernunft. Philosophie konstituiert sich in der kritischen Hinsicht, nichts als gesichert anzuerkennen, was sich nicht vor dem „Richterstuhl der Vernunft“ (Kant), an dem sie sich orientiert, hat rechtfertigen können. Für die europäische Aufklärung ist die „autonome“ menschliche Vernunft auf dogmatische Belehrung durch fremdbestimmende „heteronome“ Instanzen, etwa religiöser Art, durchaus nicht angewiesen und selbständig zur Reflexion des Menschen in der Welt und zur vernünftigen Einrichtung der menschlichen Gesellschaft fähig. Die Aufklärung will darum den Glauben an äußere Mächte aufheben und das Schicksal des Menschengeschlechtes in die eigenen Hände nehmen. Der französische Aufklärer Voltaire (1694 –1778) etwa, geprägt von englischen deistischen Vorstellungen, kein Atheist, aber ein radikaler Kritiker kirchlicher Bevormundung, war ein Vertreter dieser Überzeugung. Aber die Philosophie geht noch weiter. Sie reklamiert nicht nur einen eigenen Standort der menschlichen Vernunft gegenüber der Theologie. In Hegels Lehre vom zu sich selbst kommenden Absoluten spielt die christliche Religion eine zugleich durchaus wichtige, wie aber von der Philosophie als erneuerter Metaphysik letztlich „quasitheologisch“ noch überbotene Rolle. Die Philosophie profitiert hier von der Sinnetablierung der Religion und transformiert sie zugleich: Hegels Gott ist ein „Gott der

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Philosophen“ (Wilhelm Weischedel); seine Metaphysik verleiht ihren höchsten Vernunftvorstellungen in Anknüpfung an die Formen der Religion Ausdruck (vgl. Textauszug Zum Weiterdenken im Metaphysik-Kapitel). Der Konstruktion Gottes bei Hegel folgte freilich seit den „Linkshegelianern“ in Deutschland, wie schon in der französischen Aufklärung, alsbald seine Dekonstruktion. Die vier großen Religionskritiker Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud suchten unter dem Eindruck der wissenschaftlichen Rationalität und mit der Zielsetzung einer Befreiung des Menschen die Existenz eines „Gottes“ zu bestreiten und Religion als Projektion menschlicher Idealbilder (Feuerbach, vgl. Textauszug Zum Weiterdenken zu diesem Kapitel), aus Schwäche (Nietzsche) oder auf Grund von Infantilität bzw. aus Zwangsneurose (Freud) zu entlarven. Berühmt geworden sind vor allem Marxens Sätze: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks.“12 Religiöse Sätze können auch für „sinnlos“, weil erfahrungswissenschaftlich nicht verifizierbar erklärt werden. Bei Antony Flew etwa stirbt Gott den „Tod der tausend Einschränkungen“ in der auf J. Wisdom zurückgehenden berühmten „Gärtnerparabel“:13 „Es waren einmal zwei Forschungsreisende, die zu einer Lichtung im Urwald kamen. Dort blühten allerlei Blumen und allerlei Unkraut. Der eine Forscher sagt: ,Es muss einen Gärtner geben, der dieses Land bearbeitet.‘ Der andere stimmt ihm nicht zu: ,Es gibt keinen Gärtner.‘ Sie bauen also ihre Zelte auf und halten Wacht. Aber einen Gärtner bekommen sie nicht zu sehen. ,Vielleicht ist der Gärtner unsichtbar!‘ Sie errichten einen Zaun aus Stacheldraht. Sie setzen ihn unter Strom. Sie patrouillieren mit Bluthunden… Aber kein Schrei weist je darauf hin, dass ein Eindringling einen elektrischen Schlag bekommen hat, keine Bewegung des Stacheldrahtes verrät je einen unsichtbaren Kletterer. Nie schlagen die Bluthunde an. Doch der Gläubige ist noch nicht überzeugt. ,Und doch gibt es einen Gärtner; er ist unempfindlich gegenüber elektrischen Schlägen; Hunde können ihn nicht riechen, und er macht keinen Lärm; aber im Verborgenen kommt er, den Garten zu bestellen, den er liebt.‘ Der Skeptiker verzweifelt zum Schluss. ,Aber was bleibt denn noch übrig von deiner ursprünglichen Behauptung? Worin unterscheidet sich das, was du einen unsichtbaren, ungreifbaren und ewig entweichenden Gärtner nennst, von einem eingebildeten oder gar überhaupt keinem Gärtner?‘“14 Den Projektionsthesen wiederum hat man entgegengehalten, sie träfen nur die „falschen“ Religionen, nicht aber den „wahren“, „ganz anderen“, nicht-

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projizierten Gott „hinter“ allen menschlichen Vorstellungen. Und auch in den von der Philosophie mitbestimmten westlichen Gesellschaften hat sich das Religionsphänomen trotz gewisser Erosionsphänomene im Ganzen doch als bemerkenswert dauerhaft erwiesen: nicht widerlegt, sondern überholt finden neuere „Inkompatibilitätsthesen“ wie die Hermann Lübbes darum die Religionskritik. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Religion sagt Lübbe: Die Wissenschaft hat ihre Kompetenz verloren, quasireligiöse Weltbilder zu stiften. Aber nach den unbestreitbaren Erfolgen der Wissenschaft kann die Religion ihrerseits auch keine Welterklärungsfunktion mehr übernehmen. Dafür hat sie aber das „Monopol“ auf die Funktion der „Kontingenzbewältigung“ [also den Umgang mit den Widerfahrnissen des Lebens, auf die wir keinen Einfluss haben], die wiederum die Wissenschaften nicht ausüben könnten („Pathosunfähigkeit“ heutiger Wissenschaft). Damit sind, wie Lübbe nahe legt, heute alle möglichen Konfliktfelder zwischen religiösem und wissenschaftlichem menschlichen Weltverhältnis wechselseitig geräumt worden.15 Es scheint eine Art Markierung der jeweiligen Zuständigkeitsgebiete, ein weltanschaulicher Waffenstillstand zu herrschen. Die vielbemerkte weltweite Wiederkehr der Religion stellt diese These freilich ebenso wieder in Frage wie die Reaktion der Vertreter eines aktuellen, naturwissenschaftlichen Atheismus auf diese neue Religiosität.16

12.6 Wiederkehr der Religion? Wiederkehr der Religion?

Die Religion scheint, so heißt es, in den Gesellschaften des Westens – hierzu gibt es aber zugleich Gegenbewegungen – von einer Leitinstanz, die Ansprüche zu stellen hatte, zu einem „Anbieter“ – und noch dazu zu einem Anbieter unter mehreren – geworden zu sein. Religionssoziologen konstatieren, dass die etablierten Kirchen immer weniger „verbindliche Ansprüche an die Gestaltung des privaten und politisch-gesellschaftlichen Lebens“ stellen könnten.17 Enge Formen religiöser Einflussnahme sind in der westlichen Zivilisation zu weiten Teilen gebrochen worden: durch Trennungsbewegungen von Staat und Kirche und vor allem durch Aufklärungserrungenschaften wie die Verdrängung direkten religiösen Einflusses aus den Bereichen der Philosophie und Wissenschaft, die Abkoppelung der Bürgerrechtsfähigkeit vom religiösen Bekenntnis, das Ende staatlich institutionalisierten Schutzes für eine bestimmte Religion sowie schließlich den Bedeutungsschwund religiöser Institutionen für eine soziale Kontrolle, z. B. in der zunehmenden Indifferenz der Partnerwahl gegenüber der Konfessionszugehörigkeit. Eine starke Wirkung ließe sich hier wohl dem (im Gegensatz zum „theoretischen“ der Religionskritik) vielfach analysierten „praktischen“ Atheismus

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des alltäglichen Lebens zuschreiben, der die diesseitigen materiellen Errungenschaften etwa der Konsumgesellschaft wichtiger nimmt als eine auch unter dem Einfluss der Wissenschaften immer zweifelhafter werdende jenseitige Dimension. Die mehr oder weniger bewusste Hinwendung zum Alltagshedonismus einer kommerziellen „Lifestyle-“ und „Spaßkultur“ steht da als „Sinnangebot“ und Ersatzorientierung schon bereit. Zugleich sind die großen christlichen Konfessionen weithin selbst „aufgeklärt“ und „modern“ geworden und erscheinen als institutionell etabliert. Sie scheinen sich damit einer Epoche anzugleichen, die mit „großen“ weltanschaulichen, politischen und anderen Gewissheiten kaum mehr rechnet. Freilich bleiben das Bedürfnis hiernach und entsprechende „Suchbewegungen“ gleichwohl erhalten. Die Religionen selbst erheben, indem sie Antworten geben (z. B. „Ein Schöpfer- und Erlösergott lenkt die Dinge“), Wahrheitsansprüche, deren Beschaffenheit etwa von der Art „Verbindlichkeit für ein Referenzsubjekt“ („schwache“ Form) bis hin zu „Weltbild“ – und politischen Ansprüchen, in Extremformen zu Intoleranz und Dogmatismus, Inquisition und Verbrechen reicht. Diese Wahrheitsansprüche können theoretischer Natur und theoretisch diskutierbar sein, sie können sich aber zugleich auch in politischem Handeln und gesellschaftlicher Machtausübung ausmünzen. Selbst für einen so glasklaren und vernunftorientierten mittelalterlichen Denker wie Thomas von Aquin ist es völlig selbstverständlich, dass man gegenüber Häretikern keinerlei Toleranz üben darf. Dies liegt nicht daran, dass Thomas als Mensch oder Philosoph sonderlich intolerant gewesen wäre. Es liegt vielmehr an den sozialen und geistesgeschichtlichen Rahmenbedingungen einer Zeit, der es an Grunddifferenzierungen der Moderne mangelt. Der Glaube ist im europäischen Mittelalter keine Privatsache. Er betrifft die Gemeinschaft. Wie eine ansteckende Pest verdirbt die Ketzerei das gemeinsame Heil. Die Inquisition, die sie ausrotten soll, erreicht bereits Grade des Totalitären, wie sie dann die weltlichen Großideologien des 20. Jahrhunderts perfektionieren. Erst die Denkarbeit der Aufklärung und deren rechtlich-institutionelle Durchsetzung transformieren die Geisteserrungenschaft der Gewissensfreiheit in faktische Lebensverhältnisse. Jetzt können sich staatliche Rahmenbedingungen entwickeln, in denen das Individuum seinen Glauben frei wählen kann, solange es sich gegenüber den staatlichen Gesetzen loyal verhält. Dies ist eine der Lehren der abendländischen Geschichte. Bis heute aber gibt es immer wieder Versuche, das Verhältnis von Staat und Religion sozusagen kurzzuschließen, d. h.: einen generellen Religionszwang auszuüben und der Religion einen direkt und primär prägenden Einfluss auf das öffentliche Leben zu erlauben, demgegenüber eine andere Lebensform keinen Raum mehr findet. Diese Tendenzen entstanden und entstehen nicht

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nur zur Machtsicherung staatlicher Obrigkeit (wie in der Inquisition in Spanien) bzw. aus zugleich höchst weltlichen Besitzbestrebungen (wie in der südfranzösischen Ketzerverfolgung), sondern auch sozusagen „spontan“. Quer durch mehrere Kulturen gibt es gegenwärtig religiös-fundamentalistische Bewegungen gegen die von den westlichen modernen Gesellschaften dominierte Staats- und Weltordnung. Sie führen bis hin zum Terrorismus. Ein Hintergrund dürfte neben anderen Faktoren wie Nationalismus und Fanatismus auch das Problem sein, dass diese Weltordnung die wirtschaftlichen und sozialen Hoffnungen vieler rasch wachsender Völker nicht befriedigen kann. Eine Vielzahl von Theorien sucht die Rolle der Religionen im Spannungsfeld dieser Weltlage auf dem Weg in ein neues Jahrtausend zu bestimmen, von Samuel Huntingtons (1927–2008) vielzitiertem „Krieg der Kulturen“ bis zu Gilles Kepels (geb. 1955) Deutung gegenwärtiger Religionsphänomene als letztlicher sozialer Protestbewegungen.18 Auf die Breite der Ansätze in Theologie wie Religionsphilosophie braucht also so wenig verwiesen zu werden wie auf die genannte Vielfalt der Erscheinungsformen gelebter Religiosität, um festzustellen: Religion ist offenbar eine keineswegs „erledigte“ Ausdrucksweise des menschlichen Geistes. Und nicht zuletzt vermag das „utopische Projekt Jesu“19 bis heute immer neu zu provozieren, aufzurufen und anzuregen. Gehört die Religion zum Menschsein auf Dauer konstitutiv dazu oder ist es denkbar, dass kommende Zeitalter ohne Religion auskommen werden? Was aber könnte überhaupt an ihre Stelle treten, was vermöchte die vielfältigen Orientierungsfunktionen der Religion auszufüllen? Die selbstprozedierenden Mechanismen unserer komplexen und weltweit widersprüchlichen, für die fortgeschrittenen Industriestaaten mehr oder weniger plausibel als sozial hochdifferenzierte Leistungs-, Konsum-, Medien- und „Spaß“erscheinung beschriebenen Gegenwartsgesellschaft, die Fragen nach dem letzten Sinn des Lebens und der Welt gar nicht mehr stellt? Könnten Vernunft und Bildung die Religion ersetzen oder steht diese für eine Dimension, die sich den rationalen Mächten entzieht? Philosophen von Nietzsche bis Sartre behaupten, der Mensch werde sich nun, am Ende einer lange religiös dominierten Geschichte, schließlich selbst zur Gestaltungsaufgabe, er avanciere zum Bildner seiner selbst. Einer der wirkungsmächtigsten und nach wie vor lesenswertesten philosophischen Texte des 20. Jahrhunderts ist Jean-Paul Sartres (1905 – 1980) berühmter Essay: „Ist der Existentialismus ein Humanismus?“ von 1946, dem zufolge der Mensch „in seiner Verlassenheit über sich selber entscheidet“ und sich dabei „als humanes Wesen verwirklichen wird“. Der Mensch ist „Überschreitung“; er ist von sich selbst „immer neu zu schaffen“.20 Sartre will in der Bestimmung menschlicher Lebensformen nicht von der „Essenz“, d. h. vom Menschen als einem von Gott geschaffenen und damit so-

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zusagen „festgelegten“ Wesen, sondern von der „Existenz“, der „Ichheit“, der „Freiheit“, der „Tat“ ausgehen. Der Mensch ist zur Freiheit „verurteilt“. Von dieser Verantwortung zur Selbstgestaltung entlastet ihn keine Entschuldigung mehr. Die Freiheit, Entscheidungen zu treffen, ist also keine Beliebigkeit, sondern eher eine große Bürde. Ebenso erschreckend wie konkret verzerrend scheint dies freilich gegenwärtig wahr zu werden in unseren technischen Möglichkeiten bis hin zur menschlichen genetischen Selbstmanipulation. Einst hilflos gegenüber den Naturkräften, nun im Begriff, ihr biotechnischer Meister zu werden, sind die Erfahrungen mit unserer Art kaum geeignet, eine besondere Begeisterung hinsichtlich dieser Perspektive zu erwecken. Wie souverän ist der modernen Mensch, woher nimmt er die Maßstäbe seines Handelns, geht ihm nicht schon vor dem finalen Zugriff auf die Natur viel zu vieles daneben, in Kriegen, in den entsetzlichsten Verbrechen gegen seinesgleichen, ohne Hoffnung auf Einigung in grundlegenden Fragen zwischen den Kulturen? Ist ein ebenso moralisch reflektierter wie institutionell vermittelter Fortschritt des Menschengeschlechtes in philosophisch aufgeklärter Selbstgestaltung überhaupt denkbar, der den vom wissenschaftlichen Fortschritt immer rasanter produzierten Möglichkeiten seiner technischen Selbstgestaltung gewachsen wäre? Oder bliebe demgegenüber womöglich eine religiöse Grundorientierung im Recht, die mit der Erfahrung menschlicher Begrenztheit und einer oft genug bewiesenen Unfähigkeit des Menschen, seiner Existenz selbst Ordnung und Sinn zu verschaffen, immer schon rechnet? Auf der anderen Seite finden die beiden sinnstiftenden und lebensorientierenden Kulturformen Religion und Philosophie bei allen Differenzen auch eine gewisse Gemeinsamkeit in ihren gegenüber den Menschen verkörperten Orientierungsleistungen. Beide erklären (und beide nicht ohne Einwände bzw. Probleme) die Welt, beide stehen (z. B. in Literatur und Kunst) für grundlegende Gehalte im Sinne materialer Kultur, beide versprechen bzw. diskutieren Sinn und Lebensziele, beide suchen Hilfen im Umgang mit den sogenannten Kontingenzen, mit dem für uns nicht Verfügbaren zu geben, beide werden ebenso jeweils konstatierte kulturelle Fehlentwicklungen kritisierend wie moralisch orientierend und aktiv weltgestaltend tätig. Wer hätte über Jahrhunderte in der Kulturgeschichte all diese Leistungen für die Menschen erbracht, wenn nicht Religion und Philosophie? Unbeschadet der metaphysischen Dimension der Religion und einer womöglich existentiellen der Philosophie kann man darum beide Formationen hinsichtlich ihrer grundlegenden Bildungsfunktion durchaus parallelisieren. Religion wie Philosophie bilden in einem prinzipiellen Sinne den Menschen in seinen kulturellen Möglichkeiten. Eine solche Hinsicht müsste weder Religion noch Philosophie funktional reduzieren, bildungstheoretisch verdinglichen oder ästhetisieren. Beide, und

Zum Weiterdenken

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dies ist wiederum eine Gemeinsamkeit, können ja nur wirksam werden, wenn sie für ihre Subjekte „bedeutsam“ und damit gerade nicht bloße Funktion sind. Hinsichtlich Ritus, Struktur wie Selbstverständnis lassen sich sicherlich auch gravierende Unterschiede konstatieren, hat die Philosophie eher einen vernunftorientierten, fragenden und problematisierenden, die Religion eher einen Antworten versprechenden, ausrufenden, verkündigenden Gestus. Und doch sind sie Schwestern auf ihrem Gang durch die Kulturgeschichte, beide Opfer wie Täter, Konkurrentinnen und Kooperierende.

Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur Siddharta Gautama, der Buddha Buddhismus nennt man die von Siddharta Gautama, genannt der „Buddha“ („der Erleuchtete“) um 600 v. Chr. im nördlichen Indien gestiftete religiös-philosophische Lehre. In einer berühmten Legende wird geschildert, wie der Prinz Siddharta bei vier Ausfahrten aus dem Palast nacheinander einem Greis, einem Kranken, einem Toten und einem Asketen begegnet sei. Diese Konfrontationen lösen bei ihm die Frage nach dem Sinn des Lebens angesichts der Vergänglichkeit aller Dinge und der Allgegenwart des Leides aus. Siddharta entsagt seinem bisherigen Prinzendasein und wird nach langer Suche der Erleuchtung teilhaftig. Die „vier edlen Wahrheiten“ des Buddhismus lauten: 1. Alles Leben ist Leiden. 2. Das Leiden entsteht durch den Durst, das Verlangen nach Lust und die selbstsüchtige Gier nach den vergänglichen irdischen Dingen. 3. die Leiden können überwunden werden; 4) der Weg dazu besteht im „edlen achtfachen Pfad“: rechte Anschauung und Gesinnung, rechtes Reden, Handeln und Leben, rechtes Streben, Denken und Sichversenken. Hält man sich diese vierfache Einsicht vor Augen, dann ist nichts mehr so, wie es war. Diese Einsicht taucht vielmehr alles in ein neues Licht. Das Ziel der vom Buddhismus verkörperten Lebenshaltung ist ein Freiwerden, ein Erlöschen der Lebensillusionen, das Nirwana. Der Buddhismus hatte großen Einfluss auf den Philosophen Schopenhauer, der die Welt gleichfalls als einen Leidenszusammenhang sah. Der Buddhismus fasziniert über den fernen Osten hinaus längst auch in den Gesellschaften des Westens, wie das folgende aus einer westlichen Veröffentlichung stammende Zitat belegen kann, das einen „vollkommenen Menschen“ beschreibt. Zum Weiterdenken

Ein Friedvoller hat alles Verlangen hinter sich gelassen, noch bevor sein Körper zerfällt. Er fragt sich nicht, wie alles begann oder wie es enden wird und hängt auch nicht an dem, was dazwischen geschieht.

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Solch ein Mensch hat keine Erwartungen und Wünsche für die Zukunft. Er fühlt keinen Zorn, keine Angst und keinen Stolz. Nichts stört sein Gewissen und seine Geistesruhe. Er ist ein Weiser, der besonnen spricht. Er hat kein Verlangen nach der Zukunft, kein Bedauern für die Gegenwart. Frei von der verworrenen Sinnenwelt leiten ihn keine Meinungen und Ansichten. Er verbirgt nichts und nimmt nichts in Besitz. Er lebt bescheiden, unaufdringlich, ohne Habsucht oder Neid; verachtet, verleumdet und beleidigt niemanden. Er ist nicht überheblich und nicht süchtig nach Vergnügen. Er ist voll Sanftheit und hellwacher Achtsamkeit, ohne blinden Glauben und hegt keinerlei Abneigung. Er strebt nicht nach Gewinn, bleibt unberührt, wenn er nichts erhält. Man findet kein Begehren nach immer neuen Geschmäcken in ihm. Seine Achtsamkeit paart sich mit ständigem Gleichmut, wo Überheblichkeit unmöglich ist. Er vergleicht sich nicht mit dem Rest der Welt als ,überlegen‘, ,unterlegen‘ oder ,gleich‘. Weil er versteht, wie die Dinge wirklich sind, ist er frei von Abhängigkeit und stützt sich auf nichts. Für ihn gibt es kein Begehren mehr zu existieren oder nicht zu existieren. Den nenn’ ich friedvoll, der nach Lüsten nicht mehr trachtet den nichts mehr fesselt und der alles Haften überwand. Er ist ein Mann ohne Söhne, ohne Wohlstand, ohne Felder, ohne Vieh – Ein Mensch, in dem nichts nach Besitz verlangt und der nichts als nicht seins zurückweist. Er ist ein Mensch, der vom Gerede von Priestern, von Asketen und anderen unberührt bleibt. Er ist ein Mensch ohne Eifersucht und Ehrgeiz. Als Weiser sieht er sich nicht ,überlegen‘, ,unterlegen‘ oder ,gleich‘. Bloßer gedanklicher Spekulation gibt er sich nicht hin. Er ist ein Mensch, der nichts in dieser Welt sein eigen nennt und der nicht klagt, gar nichts zu besitzen. Friedvoll ist, ,wer den Dingen nicht nachgeht‘. Aus dem Purabheda-Sutta des Sutta-Nipata; zit. n.: Buddhismus. Informationsschrift der „Freunde des Westlichen Buddhistischen Ordens“, Herkulesstr. 13a, Essen 1998.

Zum Weiterdenken

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Paulus Der Apostel Paulus ist eine der ganz großen Gestalten der abendländischen Geistesgeschichte. Er entstammte einer jüdischen Familie aus der Handelsstadt Tarsos, einer hellenistischen Weltstadt, in der man die allgemeine damalige Verkehrssprache Griechisch sprach, und er kannte die konkurrierenden Religionen der Zeit und wohl auch die Philosophie. Paulus hat das Christentum auf seinen berühmten Reisen im Mittelmeerraum verbreitet und ihm damit den Weg zur Weltreligion eröffnet. Die letzte dieser Reisen erfolgte in Gefangenschaft nach Rom und endete mit seiner Hinrichtung im Alter von vielleicht 60 Jahren. Die Briefe des Paulus an die von ihm betreuten Gemeinden (in Korinth, in Rom usw.) sind die ältesten des neuen Testaments, älter als die Evangelien. Sie antworten auf theologische Probleme, regeln aber auch praktische Fragen oder sind, wie der zweite Korintherbrief, in dem Paulus sein Apostelamt rechtfertigt, auch schon einmal Ausdruck eines Konflikts zwischen ihm und der Gemeinde. Was hatte Paulus den Menschen zu verkünden? Den Heiden sagt Paulus im Römerbrief, dass sie grundsätzlich der Sünde unterliegen, solange ihr Verhältnis zu Gott, wie man heute sagen könnte, entweder so ist, dass sie ihn „zum Objekt machen“ und durch Bilder bannen wollen oder sie sich in „Selbstverwirklichung“ der Welt, statt dem Schöpfer dieser Welt, zuwenden. Sünde ist diese grundsätzliche Verkehrtheit im Verhältnis zu Gott, die sich schon in dieser Existenz in der Versklavung an die Begierden rächt. Paulus entwickelt die Christusbotschaft als Botschaft von der Rechtfertigung nicht aus dem Gesetz der jüdischen Tradition, sondern allein aus dem Glauben: „Richtet euer Leben auf den Glauben an Christus aus“, so seine fundamentale frohe Botschaft, „dann könnt ihr ewiges Heil erlangen.“ Sie entwickelte eine geistesgeschichtliche Kraft, die über zwei Jahrtausende bis heute Kultur, Geist und Moral nicht nur im Abendland geprägt hat. Zugleich werden auch Sünde, Schuld und Opfer christliche Grundbegriffe. Gott als Vater hat das Opfer seines Sohnes am Kreuz angenommen, um die von den Menschen auf sich geladene Schuld sühnen zu lassen und so die ewige Rettung, das kommende Heil in einem außerweltlichen Reich zu ermöglichen. Römerbrief Der Zorn Gottes wird vom Himmel herab offenbart wider alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten. Denn was man von Gott erkennen kann, ist ihnen offenbar; Gott hat es ihnen offenbart. Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit. Daher sind sie unentschuldbar. Denn sie haben Gott erkannt, ihn aber nicht als Gott geehrt und ihm nicht gedankt. Sie verfielen in ihrem Denken der Nichtig-

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keit, und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert. Sie behaupteten, weise zu sein, und wurden zu Toren. Sie vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit Bildern, die einen vergänglichen Menschen und fliegende, vierfüßige und kriechende Tiere darstellen. Darum lieferte Gott sie durch die Begierden ihres Herzens der Unreinheit aus, so dass sie ihren Leib durch ihr eigenes Tun entehrten. Sie vertauschten die Wahrheit Gottes mit der Lüge, sie beteten das Geschöpf an und verehrten es anstelle des Schöpfers – gepriesen ist er in Ewigkeit. Amen. Darum lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften aus: ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen; ebenso gaben die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander; Männer trieben mit Männern Unzucht und erhielten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung. Und da sie sich weigerten, Gott anzuerkennen, lieferte Gott sie einem verworfenen Denken aus, so dass sie tun, was sich nicht gehört: Sie sind voll Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier und Bosheit, voll Neid, Mord, Streit, List und Tücke, sie verleumden und treiben üble Nachrede, sie hassen Gott, sind überheblich, hochmütig und prahlerisch, erfinderisch im Bösen und ungehorsam gegen die Eltern, sie sind unverständig und haltlos, ohne Liebe und Erbarmen. Sie erkennen, dass Gottes Rechtsordnung bestimmt: Wer so handelt, verdient den Tod. Trotzdem tun sie es nicht nur selber, sondern stimmen bereitwillig auch denen zu, die so handeln. […] Jetzt aber ist unabhängig vom Gesetz die Gerechtigkeit Gottes offenbart worden, bezeugt vom Gesetz und von den Propheten: die Gerechtigkeit Gottes aus dem Glauben an Jesus Christus, offenbart für alle, die glauben. Denn es gibt keinen Unterschied: Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren. Ohne es verdient zu haben, werden sie gerecht, dank seiner Gnade, durch die Erlösung in Jesus Christus. Ihn hat Gott dazu bestimmt, Sühne zu leisten mit seinem Blut, Sühne, wirksam durch Glauben. So erweist Gott seine Gerechtigkeit durch die Vergebung der Sünden, die früher, in der Zeit seiner Geduld, begangen wurden; er erweist seine Gerechtigkeit in der gegenwärtigen Zeit, um zu zeigen, dass er gerecht ist und den gerecht macht, der an Jesus glaubt. Kann man sich da noch rühmen? Das ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das der Werke? Nein, durch das Gesetz des Glaubens. Denn wir sind der Überzeugung, dass der Mensch gerecht wird durch Glauben, unabhängig von Werken des Gesetzes. Röm 1,18 – 32; 3,21– 28

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Aurelius Augustinus Aurelius Augustinus (354–430) lebte in der Spätzeit des Römischen Reiches; er starb im von den Vandalen belagerten Hippo Regius im heutigen Tunesien als Bischof dieser Stadt. Er hatte sich zunächst einer ganzen Reihe von Geistesströmungen der Spätantike zugewandt und war Manichäer, Skeptiker, Neuplatoniker gewesen, bevor er Christ wurde. Augustin ist für die Kirchen- und Geistesgeschichte von gar nicht zu überschätzender Bedeutung. Seine Synthese von Christentum und Philosophie prägte nicht nur die Theologie des Mittelalters ganz entscheidend, sondern wirkt auch noch einmal initiativ auf Martin Luther (1483–1546) und die Reformation. Zugleich ist Augustin einer der eindrucksvollsten Schriftsteller der Geistesgeschichte überhaupt. Sein Bekehrungserlebnis im Jahre 386 hat der Rhetorikprofessor in den stilistisch glänzenden „Confessiones“ („Bekenntnissen“) in einer der berühmtesten Passagen der Weltliteratur wirkungsvoll geschildert. Aus den Confessiones (VIII, 12): Bekehrungsszene Ich aber warf mich nieder unter einen Feigenbaum, ich weiß nicht wie, und ließ die Zügel meinen Tränen, und aus den Augen stürzten mir die Ströme, dir zum lieben Opfer. Und vieles sprach ich zu dir, nicht mit diesen Worten, doch dem Sinne nach: Und du, o Herr, wie lange noch? Wie lange noch o Herr? Zürnst du bis zum Ende? Ach denke nicht der alten Missetaten! (Ps. 6,4; 79,5 u. 8) Denn ich fühlte, wie noch immer die mich festgebunden hielten, und laut jammernd schrie ich: Wie lange noch? Wie lange noch? Morgen und immer wieder morgen? Warum nicht heute, warum nicht jetzt zu dieser Stunde das Ende meiner Schmach? – So sagte ich und weinte in der bittersten Zerknirschung meines Herzens. Und sieh, da hör ich eine Stimme vom Nachbarhaus herüber, singenden Tons, die Stimme wie von einem Knaben oder Mädchen, die immer wieder rief: Nimm, lies! Nimm, lies! Da änderte sich meine Miene, ich begann achtsam mich zu besinnen, ob Kinder so etwas bei einem Spiel zu singen pflegten. Doch ich entsann mich nicht, es je einmal gehört zu haben. Da staute sich der Ansturm meiner Tränen, und ich stand auf. ich dachte nicht andres, als dass mir Gott befehle, ein Buch zu öffnen und zu lesen, worauf zuerst mein Auge stoße. […] So ging ich schnell zum Platz zurück […] Dort hatte ich einen Band, die Briefe des Apostels, liegen lassen, da ich aufgestanden und weggegangen war. Ich griff danach, ich öffnete, und schweigend las ich die Stelle, auf die zuerst mein Auge fiel: Nicht in Fressen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Zank und Streit, sondern ziehet den Herrn Jesum Christum an und pflegt das Fleisch nicht zur Erregung eurer Lüste (Röm. 13,13 f.). Ich wollte nicht weiter lesen und brauchte nicht weiter zu lesen.

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Denn kaum, da ich den Satz zu Ende gelesen, kam’s in mein Herz, ein Licht der Zuversicht und der Gewissheit, und alle Nacht des Zweifels war zerstoben. Augustinus: Bekenntnisse. Übertragen und eingeleitet von Herman Hefele, Jena 1918, VIII, 12.

Ludwig Feuerbach Ludwig Feuerbach (1804 –1872), Student der Theologie in Heidelberg und Hörer Hegels in Berlin, veröffentlichte 1841 sein religionskritisches Hauptwerk „Das Wesen des Christentums“. Der philosophischen Konstruktion Gottes durch Hegel (vgl. Textauszug im Kapitel zur Metaphysik) folgt nun prompt seine philosophische Dekonstruktion. Feuerbach löst, so hat man formuliert, die Theologie in Anthropologie auf. Was der Mensch selbst nicht ist, aber zu sein wünscht, z. B. zur Auferstehung und zum ewigen Leben fähig, das schreibt er dem Göttlichen zu. Diese Projektion ist schädlich, weil sie die konkrete Existenz des Menschen zugunsten des Wunschbildes erniedrigt. Als Atheist dagegen, so die naheliegende Konsequenz, kann er ein unentfremdetes Wesen werden, das seine Fähigkeiten nicht mehr an einen nutzlosen Traum verschwendet, sondern für das reale Leben nutzt. Das Wesen des Christentums Was im Allgemeinen, selbst in Beziehung auf die sinnlichen Gegenstände, von dem Verhältnis des Menschen zum Gegenstand bisher behauptet wurde, das gilt insbesondere von dem Verhältnis desselben zum religiösen Gegenstande. Im Verhältnis zu den sinnlichen Gegenständen ist das Bewusstsein des Gegenstandes wohl unterscheidbar vom Selbstbewusstsein; aber bei dem religiösen Gegenstand fällt das Bewusstsein mit dem Selbstbewusstsein unmittelbar zusammen. Der sinnliche Gegenstand ist außer dem Menschen da, der religiöse in ihm, ein selbst innerlicher – darum ein Gegenstand, der ihn ebenso wenig verlässt, als ihn sein Selbstbewusstsein, sein Gewissen verlässt –, ein intimer, ja der allerintimste, der allernächste Gegenstand. „Gott“, sagt z. B. Augustin, „ist uns näher, verwandter und daher auch leichter erkennbar als die sinnlichen, körperlichen Dinge.“ Der sinnliche Gegenstand ist an sich ein gleichgültiger, unabhängig von der Gesinnung, von der Urteilskraft; der Gegenstand der Religion aber ist ein auserlesener Gegenstand: das vorzüglichste, das erste, das höchste Wesen; er setzt wesentlich ein kritisches Urteil voraus, den Unterschied zwischen dem Göttlichen und Nichtgöttlichen, dem Anbetungswürdigen und Nichtanbetungswürdigen. Und hier gilt daher ohne alle Einschränkung der Satz: Der Gegenstand des Menschen ist nichts andres als sein gegenständliches Wesen selbst. Wie der

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Mensch denkt, wie er gesinnt ist, so ist sein Gott: soviel Wert der Mensch hat, soviel Wert und nicht mehr hat sein Gott. Das Bewusstsein Gottes ist das Selbstbewusstsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen. Aus seinem Gotte erkennst du den Menschen und wiederum aus dem Menschen seinen Gott; beides ist eins. Was dem Menschen Gott ist, das ist sein Geist, seine Seele, und was des Menschen Geist, seine Seele, sein Herz, das ist sein Gott: Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochne Selbst des Menschen; die Religion die feierliche Enthüllung der verborgnen Schätze des Menschen, das Eingeständnis seiner innersten Gedanken, das öffentliche Bekenntnis seiner Liebesgeheimnisse. Wenn aber die Religion, das Bewusstsein Gottes, als das Selbstbewusstsein des Menschen bezeichnet wird, so ist dies nicht so zu verstehen, als wäre der religiöse Mensch sich direkt bewusst, dass sein Bewusstsein von Gott das Selbstbewusstsein seines Wesens ist, denn der Mangel dieses Bewusstseins begründet eben das eigentümliche Wesen der Religion. Um diesen Missverstand zu beseitigen, ist es besser zu sagen: die Religion ist das erste und zwar indirekte Selbstbewusstsein des Menschen. Die Religion geht daher überall der Philosophie voran, wie in der Geschichte der Menschheit, so auch in der Geschichte der Einzelnen. Der Mensch verlegt sein Wesen zuerst außer sich, ehe er es in sich findet. Das eigne Wesen ist ihm zuerst als ein andres Wesen Gegenstand. Die Religion ist das kindliche Wesen der Menschheit; aber das Kind sieht sein Wesen, den Menschen außer sich – als Kind ist der Mensch sich als ein andrer Mensch Gegenstand. Der geschichtliche Fortgang in den Religionen besteht deswegen darin, dass das, was der frühern Religion für etwas Objektives galt, jetzt als etwas Subjektives, d. h. was als Gott angeschaut und angebetet wurde, jetzt als etwas Menschliches erkannt wird. Die frühere Religion ist der spätern Götzendienst; der Mensch hat sein eignes Wesen angebetet. Der Mensch hat sich vergegenständlicht, aber den Gegenstand nicht als sein Wesen erkannt; die spätere Religion tut diesen Schritt; jeder Fortschritt in der Religion ist daher eine tiefere Selbsterkenntnis. Aber jede bestimmte Religion, die ihre alten Schwestern als Götzendienerinnen bezeichnet, nimmt sich selbst – und zwar notwendig, sonst wäre sie nicht mehr Religion – von dem Schicksal, dem allgemeinen Wesen der Religion aus; sie schiebt nur auf die andern Religionen, was doch – wenn anders Schuld – die Schuld der Religion überhaupt ist. Weil sie einen andern Gegenstand, einen andern Inhalt hat, weil sie über den Inhalt der frühern sich erhoben, wähnt sie sich erhaben über die notwendigen und ewigen Gesetze, die das Wesen der Religion begründen, wähnt sie, dass ihr Gegenstand, ihr Inhalt ein übermenschlicher sei. Aber dafür durchschaut das ihr selbst verborgne Wesen der Religion der Denker, dem die Religion Gegenstand ist, was sich

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selbst die Religion nicht sein kann. Und unsre Aufgabe ist es eben, nachzuweisen, dass der Gegensatz des Göttlichen und Menschlichen ein illusorischer, d. h. dass er nichts andres ist als der Gegensatz zwischen dem menschlichen Wesen und dem menschlichen Individuum, dass folglich auch der Gegenstand und Inhalt der christlichen Religion ein durchaus menschlicher ist. Die Religion, wenigstens die christliche, ist das Verhalten des Menschen zu sich selbst, oder richtiger: zu seinem Wesen, aber das Verhalten zu seinem Wesen als zu einem andern Wesen. Das göttliche Wesen ist nichts Andres als das menschliche Wesen oder besser: das Wesen des Menschen, abgesondert von den Schranken des individuellen, d. h. wirklichen, leiblichen Menschen, vergegenständlicht, d. h. angeschaut und verehrt als ein andres, von ihm unterschiednes, eignes Wesen – alle Bestimmungen des göttlichen Wesens sind darum Bestimmungen des menschlichen Wesens. […] Die Religion ist die Entzweiung des Menschen mit sich selbst: er setzt sich Gott als ein ihm entgegengesetztes Wesen gegenüber. Gott ist nicht, was der Mensch ist – der Mensch nicht, was Gott ist. Gott ist das unendliche, der Mensch das endliche Wesen; Gott vollkommen, der Mensch unvollkommen; Gott ewig, der Mensch zeitlich; Gott allmächtig, der Mensch ohnmächtig; Gott heilig, der Mensch sündhaft. Gott und Mensch sind Extreme: Gott das schlechthin Positive, der Inbegriff aller Realitäten, der Mensch das schlechtweg Negative, der Inbegriff aller Nichtigkeiten. Aber der Mensch vergegenständlicht in der Religion sein eignes geheimes Wesen. Ludwig Feuerbachs Sämtliche Werke. Siebenter Band. Leipzig 1883, 48 – 50; 75.

Arbeitsanregungen Viele Phänomene unserer Kultur versteht nicht, wer sich nicht mit der Religion auseinandersetzt. Sich über Religion zu orientieren, ist ein faszinierendes Unterfangen. Dies gilt in jedem Fall, ob wir nun als engagierte Christen oder Angehörige anderer Religionen, als Skeptiker oder Agnostiker, als Atheisten oder aus weiteren Perspektiven heraus in ein solches Nachdenken eintreten. Einige Ansatzpunkte hierfür könnten – neben Überlegungen zu den in den Abschnitt-Überschriften angesprochenen Fragen – sein: 1. Gibt es ein religiöses Bedürfnis im Menschen? 2. Listen Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf, die sich aus den Textauszügen zum Buddhismus und zum Christentum ergeben. 3. Beschreiben Sie, welche Erfahrung Paulus und Augustinus deutlich machen möchten!

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4. Fassen Sie die Religionskritik Feuerbachs für sich zusammen. Belegen Sie Ihre Feststellungen durch Formulierungsnachweise aus dem Textauszug. 5. „Macht Religion glücklich? Macht sie ,reif‘? Schenkt sie Identität? Heimat, Geborgenheit, Frieden mit uns selbst? Beruhigt sie die Angst? Beantwortet sie die Fragen? Erfüllt sie die Wünsche, wenigstens die glühendsten? Ich zweifle. Wozu dann Religion, wozu dann ihre Gebete? Gott um Gott zu bitten, ist schließlich die Auskunft, die Jesus seinen Jüngern über das Gebet gibt“ (Johann Baptist Metz, katholischer Theologe).21 6. Gegenwärtige philosophische und wissenschaftliche bzw. funktionale Religionserklärungen zeigen Bedeutung wie Abwege religiöser Orientierung. Immer größeres Gewicht erhalten Fragen des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher religiöser und kultureller Orientierung in unserer Gesellschaft. Religion – Chance oder Gefahr?

Literatur P. Antes (Hrsg.), Die Religionen der Gegenwart, München 1996 (Peter Antes ist einer der bekanntesten Religionswissenschaftler. Der Sammelband bietet Beiträge zu: Judentum, Christentum, Islam, Bahai-Religion, Hinduismus, Sikhismus, Zoroastrismus, Buddhismus, Chinesischen Religionen, Shinto, Ethnischen Religionen und „Neuen Religionen“. Jeder dieser Überblicke ist für eine erste Information zu diesen Religionen gut geeignet). K. Flasch, Augustinus. Einführung in sein Denken, Stuttgart (Reclam) 2. Aufl. 1994 (spannende Gesamtdarstellung von einem der führenden Mittelalterforscher aus historisch-kritischer Perspektive). W. Löffler, Einführung in die Religionsphilosophie, Darmstadt (WBG) 2006 (Darstellung religiös motivierter wie religionskritischer Argumentationsweisen). F. Niewöhner (Hrsg.): Klassiker der Religionsphilosophie, München (Beck) 1995 (empfehlenswerte Sammlung von Beiträgen zu wichtigen Theoretikern, darunter Platon, Plotin, Augustin, Thomas von Aquin, Friedrich Schleiermacher, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Sören Kierkegaard). V. Steenblock: Philosophie und Religion. (Aschendorffs Philosophische Textreihe, Kurs 9) Münster 2001 (Kommentierte Texte aus der Antike: Platon, Aristoteles, Lukrez; Texte zu den Traditionen des Christentums im Abendland: Paulus, Augustin, Thomas von Aquin, Luther, Kant, Hegel; Texte zur Epoche der Religionskritik: Feuerbach, Marx, Freud, Nietzsche; schließlich Texte zum Verhältnis von Religion und Philosophie heute: Max Weber, Lübbe, Metz u. a. Viele Hinweise, Erklärungen und Literaturangaben erleichtern und begleiten die Arbeit).

13 Was ist der Mensch? Philosophische Anthropologie

„Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein Nur tierischer als jedes Tier zu sein.“ Goethe, Faust „Nur ein Schilfrohr, das zerbrechlichste in der Welt, ist der Mensch, aber ein Schilfrohr, das denkt. Nicht ist es nötig, dass sich das All wappne, um ihn zu vernichten: ein Windhauch, ein Wassertropfen reichen hin, um ihn zu töten. Aber, wenn das All ihn vernichten würde, so wäre der Mensch doch edler als das, was ihn zerstört, denn er weiß, dass er stirbt, und er kennt die Übermacht des Weltalls über ihn; das Weltall aber weiß nichts davon.“ Blaise Pascal Was ist der Mensch?

Der Mensch selbst ist und bleibt dem Menschen ein Rätsel. Menschen setzen sich ihren Artgenossen gegenüber in Verfolgung ihrer Ziele rücksichtslos durch. Sie hassen, töten und quälen sie und sind gleichgültig und kalt gegenüber dem vielfachen Leid der eigenen Spezies auf diesem Planeten. Tag für Tag sehen und hören wir in den Nachrichten, was Wesen unserer Gattung einander anzutun in der Lage sind. Andererseits: Manche riskieren das eigene Leben, um das anderer zu retten, sie engagieren sich füreinander, sind solidarisch, warmherzig, freundlich. Von ethischen Fragen bis zur Technik, mit der wir das Antlitz der Erde verändert haben und in den Weltraum vorgedrungen sind: Eine gewaltige Spannweite von Leistungen und Defiziten gerät in den Blick, wenn man nach dem Menschen fragt. Die Anthropologie [Lehre vom Menschen] beschäftigt sich als philosophische Disziplin mit Art und Wesen des Menschen und mit seiner Stellung in der Welt. Dabei wird oft das spezifisch Menschliche im Unterschied zum Tier oder auch im Verhältnis zum Göttlichen bestimmt. Wichtige im Laufe der Geschichte des Nachdenkens vorgeschlagene Charakterisierungen des Menschen sind z. B.: „vernunftbegabtes Wesen“ und „gesellschaftliches Wesen“ (Aristoteles), „Geschöpf und Ebenbild Gottes“, „Krone der Schöpfung“, „Besitzer einer unsterblichen Seele“, „,Wolf‘ des Mitmenschen“ (man denke an Thomas Hobbes), „nicht festgestelltes Tier“, „hochentwickeltes biologisches Wesen“ bzw. „komplizierte Maschine“ (die freilich dazu neigt, die eigene Existenz zu überschätzen), in der Kultur zu sozialer Ungleichheit verdorbenes Naturwesen,

Krone der Schöpfung?

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„Mängelwesen“, das seine Instinktdefizite aber in besonderer Weise auszugleichen versteht, „riskierte“ Existenzform, die um ihren Tod weiß usw. Die philosophische Disziplin „Anthropologie“, die Antwortversuche auf die Frage Kants: „Was ist der Mensch?“ zu geben versucht, entstand dem Begriff nach erst im 16. Jahrhundert. Odo Marquard hat die These vertreten, dass die Anthropologie als philosophische Theorie des Menschen eben gerade bei und ab Kant als „Wende zur Lebenswelt“ und in Abkehr von Metaphysik und mathematischer Naturwissenschaft sich unter den philosophischen Disziplinen so recht in Szene setzen kann.1 Der Sache nach freilich kann man eine „anthropologische Linie“ (so formuliert Michael Landmann, 1913–1984) viel weiter zurückverfolgen, denn seit der Antike versuchen Philosophen immer schon, das Wesen des Menschen zu bestimmen. Dies geschieht z. B., wenn die Frage nach einem vernünftigen und auf ein soziales Zusammenleben eingestellten oder aber letztlich aggressiven Charakter unserer Art gestellt wird. Einige der wichtigsten Antworten, wie sie auf verschiedenen Ebenen auf die Frage nach dem Menschen gegeben worden sind und die heute in einer diskursiven Vergegenwärtigung Orientierungsangebote und Anknüpfungspunkte zur Selbst- und Weltdeutung darstellen können, sollen im Folgenden skizziert werden.

13.1 Krone der Schöpfung oder Mängelwesen? Krone der Schöpfung?

Vom Beginn der Philosophie an bis heute wird das spezifisch Menschliche im Unterschied zum Naturhaften oder auch im Verhältnis zum Göttlichen festzulegen versucht, wobei die Fragestellungen und Themen im einzelnen divergieren. Viele Verhaltensweisen teilen wir zunächst mit den Tieren, besonders mit den Primaten. Die Verhaltensforschung hat in aufschlussreichen (und nicht selten vergnüglichen) Untersuchungen darauf verwiesen. Das Balzverhalten des Menschenmännchens unterscheidet sich, glaubt man solchen Vorführungen, in einigen Zügen so wenig von dem unserer tierischen Verwandten wie die bevorzugte Überlassung der Brutpflege an die Menschenweibchen von der gleichartigen Belastung bei anderen Lebewesen. Auch das Gruppenund Revierverhalten und viele weitere Mechanismen, die in unserem Leben noch eine gewisse Gültigkeit besitzen, entstammen offenbar der Tierwelt. Der gelegentlich erscheinende Gegensatz zwischen einer „naturwissenschaftlichen“ (biologischen) und einer „philosophischen“ Anthropologie ist also keiner: Keine diskursfähige Philosophie kann es sich leisten, an den Ergebnissen und Einstellungen der Wissenschaften vorbei zu spekulieren; prinzipieller und weiter als die Fragestellungen jeder Fachwissenschaft ist der Blick der Philosophie aber noch immer gewesen.

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Was ist der Mensch?

Im vergleichsweise aber wohl doch aufschlussreicheren Differenzmodus zum Tier bestimmt bereits die Bibel den Menschen, wenn sie im Schöpfungsbericht auf ihn zu sprechen kommt: „Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild, als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar, und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch, und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.“ Der Sündenfall zieht die Vertreibung aus dem Paradies, aber auch die Entstehung sozusagen „kultureller Kompetenzen“ nach sich. „Gott, der Herr, machte Adam und seiner Frau Röcke aus Fellen und bekleidete sie damit. Dann sprach Gott, der Herr: Seht der Mensch ist geworden wie wir: er erkennt Gut und Böse.“2 Eine der eindrucksvollsten vergleichenden Charakterisierungen des Menschen aber gibt der antike Tragödiendichter Sophokles (496 – 406 v. Chr.): „Vielgestaltig ist das Ungeheure, und nichts ist ungeheurer als der Mensch; dieses Wesen geht auch über das graue Meer im winterlichen Südwind, unter rings aufbrüllendem Wogenschwall kommt es hindurch, der Götter höchste dann, die Erde, unzerstörbare, unermüdliche erschöpft es sich bei kreisenden Pflügen Jahr für Jahr, mit dem Rossegeschlecht sie umwühlend. Den Stamm munterer Vögel umgarnt er und fängt sie und wilder Tiere Völker wie des Meeres Salzbrut in Fallen, aus Netz gesponnen, der allzu kluge Mensch. Er zähmt aber mit Listen das frei schweifende Tier in den Bergen, das mähnige Pferd zügelt er mit Nacken umgebendem Joch und den unbezwingbaren Bergstier. Sprache und windschnelles Denken und staatenlenkenden Trieb lehrte er sich und Geschosse unwirtlichen Reifes unter freiem Himmel und in bösem Regen zu fliehen, überall durchkommend. Verlegen geht er nicht an Künftiges; vor Hades allein wird er sich kein Entrinnen schaffen, schwer heilbare Krankheiten hat er im Griff.“3 Vergleicht man den Schöpfungsbericht der Genesis (und auch darüber hinaus die Geschichte vom Sündenfall) einerseits mit dem Chorlied aus der „Antigone“ des Sophokles andererseits, so fällt auf: beide Texte thematisieren für den Menschen kennzeichnende Kulturleistungen: Kleidung, Ackerbau, Nahrungsherstellung, „wie Gott Gut und Böse erkennen können“. Unterschiede zwischen beiden Texten liegen in der Funktionsbestimmung des Göttlichen im Blick auf den Menschen: Treten die Götter bei Sophokles eher als Garanten der Polisordnung auf, die eigentlicher Bezugspunkt der Deutung des Menschen im zitierten Text ist, so ist der Mensch in den Bibeltexten direkt auf den Schöpfer- und Erlösergott bezogen. Während bei Sophokles der Tod

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als unvermeidlich, aber Krankheiten immerhin schon als heilbar angesprochen werden, sieht die Bibel sich zu einer Erklärung des Leidens gedrängt und kann insgesamt eine Erlösungsperspektive in Aussicht stellen. Das Verhältnis des Menschen (den manche Stimme im Mittelalter in Folge der Sünde auch durchaus skeptisch beurteilt) zur göttlichen Instanz ist zwar in keinem Falle ein Verhältnis der Gleichberechtigung, denn Gott ist der Herr. Dass es Menschen gibt, stellt aber eine Besonderheit in der Schöpfung dar: der Mensch erscheint als ihr Ziel, ihre Krone. Insbesondere findet sich eine Betonung der Würde, ja Gottähnlichkeit des Menschen im Umbruch zur Neuzeit bei Giovanni Pico della Mirandola (1463 – 1494). Pico, der am Ende seines kurzen Lebens zum Anhänger der „Gottesherrschaft“ des radikalen Predigers Savonarola in Florenz wurde, hatte am Hofe Lorenzo Magnificos im Alter von 24 Jahren neunhundert Thesen verfasst. Den Thesen vorangestellt war eine berühmt gewordene Rede „Über die Würde des Menschen“ („De dignitate hominis“). In dieser möchte Pico deutlich machen: Der Mensch ist nicht festgelegt; er kann zwar absteigen zu den Tieren, aber auch aufsteigen zu Gott. So beschreibt er, wie Gottvater, der höchste Baumeister, „nachdem bereits alle Dinge fertiggestellt waren“ zuletzt an die Schöpfung des Menschen gedacht habe, damit es jemanden gebe, der die Größe des Schöpfungswerkes bewundern könne. Dem Menschen aber versichert Gott, dass „du als dein eigener, vollkommen frei und ehrenhalber schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünschst. Es steht dir frei, in die Unterwelt des Viehes zu entarten. Es steht dir ebenso frei, in die höhere Welt des Göttlichen dich durch den Entschluss deines eigenen Geistes zu erheben.“4 Eigenartig mit dieser Emphase kontrastiert die in der Philosophie auch bereits früh entwickelte Sicht des Menschen als eines Mängelwesens. Dass wir Mensch Mängelwesen sind, ist alltagsweltlich schon dann unmittelbar einleuchtend, wenn man sich unsere Existenz ohne unsere kulturellen Fertigkeiten vorstellt. In die Kälte versetzt, sind wir dem fellgekleideten Tier unterlegen, für die Hitze gibt es in der Tierwelt wahre Überlebenskünstler dort, wo wir binnen kürzester Frist zugrunde gehen müssten. Manche Tiere können fliegen, was wir von Natur aus nicht können, vielen hat die Evolution eine mächtigere Gestalt und stärkere Körperwaffen als uns gegeben. Platon, der anders als der sich „wissenschaftlicher“ verstehende Aristoteles und ungeachtet seiner eigenen Kritik an den Dichtern sich dabei der Ausdrucksform des Mythos bedient, lässt im Urbild aller sogenannten „Mängelwesentheoreme“ den „Prometheusmythos“ erzählen. Protagoras als Sprachrohr des Philosophen schildert eine Verteilung aller Instrumente und Eigenschaften auf die Tiere, der gegenüber die eigentlich wertvolle zukünftige Ausstattung des Menschen in einem besonderen Akt erfolgen muss (Protagoras 320 b–323 a):

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Der „Spätmerker“ Epimetheus hat zwar sämtliche Gaben und Eigenschaften durchaus sinnvoll auf die Tiere aufgeteilt, jedoch vergessen, die Menschen zu bedenken. Erst der Diebstahl des Feuers durch den Halbgott Prometheus durch Entwendung von den Göttern stattet sie mit einer eigenen Fähigkeit aus. Prometheus wird daraufhin zur Strafe an den Kaukasus geschmiedet, wo ein Adler ihm täglich die sich stets erneuernde Leber aus dem Leibe reißt. Schließlich, durch die Tat des Prometheus provoziert, versorgen auch die Götter das Menschengeschlecht. Platon nennt insgesamt im ProtagorasMythos folgende Elemente als kennzeichnend menschlich: den Besitz des Feuers, Handwerk, Religion, Staatskunst und Kriegskunst, schließlich sittliche Scheu und Rechtsgefühl. Darüber hinaus verweist Platon im „Phaidros“ auf die Seele und im „Phaidon“ auf deren Unsterblichkeit. Einen weiteren Beitrag zum Mängelwesentheorem leistet die deutsche philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts. Arnold Gehlen (1904 –1976) nimmt das im Protagoras-Mythos vorgefundene Theorem auf. Der Mensch ist im Gegensatz zum Tier nicht in automatische Instinktabläufe eingebunden, nicht an seine Umwelt optimal angepasst; er ist nicht „festgestellt“ und nicht „angebunden an den Pflock des Augenblicks“, wie Nietzsche formuliert hat. Indem er somit über keine sozusagen fest vorgeprägte Identität verfügt, gewinnt er zwar die für das Menschsein konstitutiven ungeheuren Freiheiten, sieht sich zugleich jedoch in eine höchst instabile Situation versetzt, die Helmuth Plessner (1892–1985) in einer vielzitierten Formulierung die „exzentrische Position“ des Menschen genannt hat. Der Mensch kann nach Gehlen nicht nur, er muss zu sich selbst Stellung beziehen und er muss sich die „Kultur“ schaffen, um in der Natur zu überleben5: „Es lässt sich nämlich schon mit Mitteln beschreibender Sachforschung zeigen, dass der Mensch in seiner gegebenen biologischen Konstitution sich innerhalb der unmittelbaren, rohen Natur erster Hand gar nicht halten könnte, dass er mithin von der Veränderung, der praktischen, realen Veränderung irgendwelcher beliebiger vorgefundener Naturtatsachen leben muss. Sein intelligentes Handeln ist in erster Linie konstruktive Veränderung der Außenwelt aus barer organischer Bedürftigkeit. So z. B. muss er sich die ihm organisch versagten Waffen erst selbst herstellen und bearbeiten, oder wenn er in kalte Zonen vordringt, dann hängt er sich den Pelz um, der ihm nicht wächst.“ Was für den Menschen also kennzeichnend wird, ist zugleich eine außerordentlich gefährliche Eigenschaft, denn es „besteht im Menschen ein Überschuss unfestgelegter, erst im Laufe der Erfahrung und Auseinandersetzung mit der Welt zu orientierender Antriebskraft weit über das Quantum an Energie hinaus, das zur bloßen Fristung des Lebens notwendig wäre, und damit ein Verarbeitungs- und Disziplinierungszwang, ja ein Hemmungsbedürfnis, das man sehen und verstehen muss, wenn man zweierlei einbeziehen will, was

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wieder offensichtlich charakteristisch ist: einmal die ungeheure, unerschöpfliche gerichtete Antriebsenergie, mit der der Mensch das Gesicht der Erde durchfurcht hat, und sodann wieder das Gefährdete, Riskierte, Fragwürdige seiner Organisation.“ So umstritten der Autor Gehlen war und ist, so beschreibt das Mängelwesentheorem mit der auf Dauer gestellten Weltoffenheit des Menschen doch ohne Zweifel sehr eindrucksvoll, dass der Weg in die Kultur für ein in besonderem Maße endliches Wesen ein nötiger ist, dass dieser Schritt in die Kultur aber zugleich einen Schritt aus dem langwelligen Gleichgewicht der Evolution heraus bedeutet und dass sich eine Dynamik entwickelt, in der wir immer sozusagen halb laufen, halb fortstürzen.

13.2 Naturhafte neuronale Maschine oder Vernunftwesen? Der Mensch als Maschine

Nicht ohne Bezüge zum Mängelwesentheorem, vor allem aber aller idealistischen Sicht gegenüber kritisch hat Paul Thiry Baron d’ Holbach (1723 –1789) in seinem „Système de la nature“ von 1770 – neben Julien Offray de la Mettries (1709–1751) „L’homme machine“ (1748) eines der Hauptwerke des französischen Materialismus – mit dem Pathos des entlarvenden Aufklärers den Menschen beschrieben. „Die immer wirkende Natur“, so meinte Holbach, „schreibt also dem Menschen jeden Punkt der Linie vor, die er beschreiben muss; sie verarbeitet und verbindet die Elemente, aus denen er zusammengesetzt werden muss; sie gibt ihm seine besondere Seinsweise, sein Streben, seine Wirkungsart; sie entwickelt ihn, lässt ihn größer werden, erhält ihn für einige Zeit, in der er gezwungen wird, seine Aufgabe zu erfüllen; sie bringt die Gegenstände und die Ereignisse auf seinen Weg, die ihn bald auf eine ihm angenehme, bald auf eine schädliche Art modifizieren. Sie gibt ihm Empfindung, macht ihn fähig, die Gegenstände auszuwählen und die zu seiner Erhaltung geeignetsten Mittel zu ergreifen; sie führt ihn, wenn er seine Laufbahn vollendet hat, seinem Ende entgegen und bewirkt, dass er einem allgemeinen und beständigen Gesetz unterworfen wird, von dem nichts ausgenommen ist. Auf diese Weise lässt die Bewegung den Menschen entstehen, erhält ihn einige Zeit und zerstört ihn schließlich oder veranlasst ihn, in den Schoß der Natur zurückzukehren, die ihn auflöst und bald unter unzähligen neuen Formen reproduzieren wird, wobei jeder seiner Teile gleicherweise die verschiedenen Stadien ebenso notwendig durchlaufen wird, wie das Ganze diejenigen seiner vorhergehenden Existenz durchlaufen hatte.“ Diese Beschreibung des Menschen rekurriert nicht in traditioneller Weise auf seine geistigen Möglichkeiten oder seinen Bezug zum Göttlichen, sondern fasst ihn konsequent als einen Teil der Natur auf. Holbach fährt fort: „Schließen wir hieraus, dass der Mensch keine Gründe hat, sich für ein bevor-

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rechtetes Wesen in der Natur zu halten; er ist demselben Wechsel unterworfen wie alle ihre anderen Produkte. Seine angeblichen Vorrechte gründen sich nur auf einen Irrtum. Er braucht sich in Gedanken nur über den Erdball zu erheben, und er wird seine Gattung mit demselben Auge betrachten wie alle anderen Dinge: er wird merken, dass jeder Mensch ebenso wie jeder Baum seiner Gattung gemäß Früchte hervorbringt, seiner besonderen Energie gemäß wirkt und Früchte, Wirkungen und Werke schafft, die in gleicher Weise notwendig sind. Er wird merken, dass die Illusion, die ihn so für sich einnimmt, daher kommt, dass er zugleich Zuschauer und Bestandteil des Universums ist. Er wird erkennen, dass die Idee der Auszeichnung, die er mit seiner Seinsweise verbindet, nur sein eigenes Interesse und die Vorliebe für sich selbst zur Grundlage hat.“ Quintessenz: Die „Eintagsfliege“ Mensch, mit ihrem Zustand nicht zufrieden, macht sich, gestützt auf die Religion, ein illusionäres Bild von der Bedeutung ihrer Existenz.6 Hatte Holbach den Menschen in die Natur, über die er sich doch erhaben denkt, in radikaler Weise zurückgeordnet,7 so sollte die fortschreitende Wissenschaft diese Einordnung noch ganz erheblich präzisieren und die Provokation damit noch steigern. Charles Darwin (1809–1882) stellte in seiner Evolutionstheorie fest, dass der Mensch von einer weniger hoch organisierten Form abstammt und seinen Ursprung nicht einem besonderen Schöpfungsakt verdankt. Alle menschlichen Eigenschaften und Kulturleistungen: Intellekt, Sprache, Schönheitssinn, Religion usw. scheinen auf einmal biologisch erklärbar; sie lassen zumindest, verglichen mit dem Tier, noch den untilgbaren Stempel dieses Ursprungs erkennen. Es stellt sich die Frage: Sind Menschen nur „Exekutoren biologischer Programme“ (E. Voland)?8 Schließlich – hoch aktuell und viel diskutiert – sagen auch die Ergebnisse der modernen Hirnforschung und die Debatten um das „Leib-Seele-Problem“ etwas über den Menschen als Naturwesen aus. „Materie“ und „Geist“, Vorherbestimmung und Freiheit sind wichtige Kategorien in den Diskussionen um folgende Fragen: Ist unser Geist nur eine Funktionsweise des Körpers bzw. eine Eigenschaft unserer Gehirnstruktur? Kann unser Bewusstsein damit letztlich doch als Funktion einer naturhaft-materiellen Organisationsform begriffen werden? Oder können wir davon ausgehen, dass der Geist eine unabhängige Instanz ist, die sich des Körpers sozusagen bedient?9 Keine moderne Perspektive auf den Menschen wird an den biologischen und Neuro-Wissenschaften vorbeisehen wollen. In der Philosophie ringen vielmehr unterschiedliche Ansätze darum, ob und in welcher Weise eine Inrechnungstellung der erfolgreichen Untersuchungsparadigmata der Naturwissenschaften sich mit unserem unverzichtbaren Interesse an Freiheit und unserem entsprechenden Selbstverständnis vereinbaren lässt.10 Im Sinne der

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vorstehend benannten Perspektiven geht es gegenwärtig in einem zentralen Diskussionsfeld der Philosophie darum, wo und wie bewusste Reflexivität und menschliche Sinnsetzung in unterstellter Freiheit aus den Kontexten von Naturzusammenhängen hervorgehen können, also die Fähigkeit zu entwickeln vermögen, aus eigenerzeugter Weltkonstruktion heraus ihre Angelegenheiten zu bewerten, kreativ zu sein, Entscheidungen zu treffen und initiativ zu handeln. Demnach ist es keine Frage, dass unser Bewusstsein die Hervorbringung einer evolutionär immer komplexer organisierten Materie ist; wird diese seine materielle Trägersubstanz zerstört, ist es mit uns vorbei. Wir erscheinen unserer natürlichen Existenz nach nichts weiter zu sein als in die Zeit gesetzte Materieeinheiten, höchst fragile, allenthalben abhängige und provozierend vergängliche Phänomene. In der Evolution wird neben bestimmten genetischen Vorstrukturierungen unserer Möglichkeiten in hochkomplexen neuronalen Netzwerken jedoch, so eine Antwortrichtung, ein Überschuss von Optionen erzeugt, von Verschaltungsangeboten. Die Nutzung – die immer bereits in kulturellen Kontexten erfolgt – formt die tatsächlichen Strukturen hiernach dann mit aus. Das Gehirn entwickelt sich so, wie wir es im Zuge von Erfahrungen und Problemlösungen gefühlsbewertet nutzen, es wird geradezu modelliert: wir erfinden uns, um jemand zu werden. Das Hauptwerk des Philosophen Peter Bieri (geb. 1944): „Das Handwerk der Freiheit“ geht bei weitem über Positionen hinaus, in denen das vieldiskutierte Problem der Willensfreiheit als Vermögen vorgestellt wird, zwischen Handlungsalternativen zu entscheiden, oder im Sinne einer schlichten Dichotomisierung von „frei“ und „unfrei“ behandelt wird. Freiheit erscheint vielmehr als etwas Graduelles oder besser Prozesshaftes, das mittels eines anzueignenden „Handwerks“ der Reflexion über unsere Wünsche und Ziele entwickelt werden kann, ja: errungen werden muss. Es wäre leichtfertig zu leugnen, dass wir immer schon vielfach bedingt sind und es auch bleiben. Aber gerade angesichts dieser Erfahrung lässt sich jene Freiheit, die die kulturelle Qualität des Menschseins ausmacht, als das Produkt eines Arbeitens an der eigenen Lebensgeschichte verstehen: „Die Aneignung des Willens ist nicht etwas, was ein Selbst, das es zuvor schon gibt, in Gang setzt. Das Selbst ist, umgekehrt, etwas, das sich erst durch Aneignung ausbildet.“11 Entsprechend stellt sich die Aufgabe einer „Erringung“ unserer Freiheit in der „Arbeit an uns selbst“. In ihren Vollzügen bildet sich allererst das Subjekt, als das der Mensch seine besondere Existenz und damit sich selbst gewinnt. Bieri kritisiert in diesem Zusammenhang sehr anschaulich eine Behauptung, welche deterministische „Weltbilder“ oft begleitet, nämlich den Anspruch, dass die Neurowissenschaften das Phänomen „Bewusstsein“ erklärt hätten bzw. dass eine Erforschung neuronaler Vorgänge an sich schon Aussagen über Willensentscheidungen und über die Welt der Kultur erlaube. Wer

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so argumentiert, sitzt einem Kategorienfehler auf ähnlich dem, der ein Bild von Rembrandt zerlegen wollte, um herauszufinden, was es darstellt: „Wie beim Gemälde, so auch beim Menschen. Es gibt eine physiologische Geschichte über den Menschen, zu der auch die Geschichte über das neurobiologische Geschehen gehört. Daneben gibt es eine psychologische Geschichte, in der er als eine Person beschrieben wird. Aus dieser Perspektive wird ihm vieles zugeschrieben, das in der ersten Geschichte nicht Thema sein kann, weil diese Geschichte dafür gar nicht die begrifflichen Mittel hat: Wille, Überlegungen, Entscheidungen. Nehmen wir an, jemand zerlegte einen Menschen (natürlich nur im Tomografen), um herauszufinden, was er will, überlegt und entscheidet. Wäre er nicht auch verrückt – im selben Sinne wie beim Gemälde?“12 „Wer das Land der Seele mit der Lupe sucht“, so hat man auch gesagt, „wird scheitern“.

13.3 Wahrhaft Menschen müssen wir erst werden – Der Mensch als Aufgabe seiner selbst Wahrhaft Menschen müssen wir erst werden

Mit den Grenzerfahrungen der fortschreitenden Moderne nimmt unsere Selbstdeutung nicht selten einen die Eigenverantwortlichkeit des Menschen betonenden, manchmal tragisch-heroischen Zug an. In diesen Zusammenhang gehört bereits Nietzsches viel interpretiertes und schwieriges Konstrukt eines „Übermenschen“. Vor allem aber der Existenzphilosoph Albert Camus bestimmt den Menschen jenseits traditioneller Sinngebungsversuche seiner Existenz: er muss sich als endlich, sterblich und in einer geistesgeschichtlich beispiellosen Weise in Frage gestellt erfahren, soll aber gerade angesichts des „Absurden“ ohne Resignation als Mensch sich behaupten. Wir sind unsere eigene Aufgabe – Menschen müssen wir erst werden. Dieser Satz gilt auch dann, wenn man weder von einem Übermenschen sprechen möchte noch seine existentielle Herausforderung inszeniert. Er gilt nämlich besonders dann, wenn wir das Wort „Mensch“ im Sinne der „Menschlichkeit“ meinen, als Vorbild und Aufgabe dessen, was wir als denkende und moralische Wesen erreichen können und wollen. In den neuen Entwicklungen der Gen- und Biotechnologie scheint der Mensch gegenwärtig zum Gestalter – oder Manipulator? – seiner selbst zu werden. Wie die Interaktion der zunehmenden technischen Möglichkeiten, besonders der avancierten Bio- und der Computertechnologie mit den Selbstbestimmungen des Menschen sich verhält, ob die Erfahrungen mit Werten, Normen und Institutionen zu einem moralischen und institutionellen Lernprozess beitragen können – dies wird wesentlich von unseren kulturellen Kompetenzen abhängen. Auch hierzu gibt der Mathematiker Blaise Pascal (1623 –1662), hinsicht-

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lich der Einschätzung des Menschen eigentlich ein religiös motivierter Skeptiker, mit seinem berühmten, eingangs zitierten Bild vom Menschen einen Hinweis, der, obwohl vom All mit Leichtigkeit erdrückt, als bewusstes Wesen eben doch von besonderer Art sei. Dabei ist es die Vernunft, die uns ausmacht, und unsere Arbeit am Logos, die unsere Bestimmung ist. Aber wir Menschen sind natürlich nicht nur Vernunftwesen. In Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“ möchte der alte, blinde Bibliothekar Jorge um jeden Preis ein geheimnisvolles Manuskript des Aristoteles über das Lachen vor der Welt verbergen. Denn „das Lachen schüttelt den Körper, entstellt die Gesichtszüge und macht die Menschen den Affen gleich“. Ihm antwortet William von Baskerville, die den aufgeklärten Philosophen des Spätmittelalters nachempfundene Hauptfigur des Romans: „Die Affen lachen nicht, das Lachen ist dem Menschen eigentümlich, es ist ein Zeichen seiner Vernunft.“13 Das Lachen verweist zugleich auf das große Spektrum unserer Gefühle und unserer Leiblichkeit, die uns nicht weniger ausmacht als unsere Vernunft. In vielen Alltagssituationen, wenn es etwa „darum geht, wen wir heiraten, wem wir vertrauen oder auch nur welche Stelle wir annehmen sollen, kommt man allein mit formaler Logik nicht aus; dies sind Bereiche, in denen die Vernunft ohne Gefühle blind ist“.14 Die Macht der Gefühle ist ein ureigenes Vermögen des Menschen. Vor allem Liebes- und Freundschaftsbeziehungen gehören offenbar zu unseren personalen Grunderfahrungen. In ihnen werden fundamentale anthropologische Gegebenheiten menschlichen Zusammenlebens deutlich. Gefühl und Denken sind keine Widersprüche. Philosophisch viel für sich hat vielmehr die Sentenz: „Gefühle geben zu denken“.15 Man kann durchaus ein Stück weit lernen, was im Zusammenleben mit anderen Menschen und in Partnerschaften wichtig ist und warum wir alle als soziale Wesen hierauf angewiesen sind. Der Gedanke ist für niemanden fernliegend, sich im Alltagsleben dann auch zu bemühen, entsprechend zu handeln. Ebenso wie im Denken äußert sich unser Menschsein im freien und selbstzweckhaften Handeln des Spiels, im Lachen und in Weinen und Trauer, in der Angst, überhaupt in dem, was wir fühlen, in Scham und Sehnsucht.

Zum Weiterdenken: Materialien, Arbeitsanregungen, Literatur Immanuel Kant Welche Antwort gibt Kant auf seine eigene berühmte Frage: „Was ist der Mensch?“, nach der dieses Kapitel benannt ist? Vom Charakter des Menschen und des Menschengeschlechts überhaupt hat Kant nicht eben illusionäre Vorstellungen. In dem folgenden, sachlich hier heranzuziehenden Auszug aus seiner Zum Weiterdenken

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„Geschichtsphilosophie“ spricht er davon, dass „aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, nichts ganz Gerades gezimmert werden“ könne. Die Naturwüchsigkeiten „Baum“ und „krummes Holz“ bilden für Kants Verhältnisse durchaus farbige Metaphern, mit denen der Philosoph das Wesen des Menschen zu umschreiben sucht. Die zu Beginn des Textes anvisierte Zielvorstellung der „Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“ erweist sich als eine immer auch schwierige und unsichere Angelegenheit. Als „Tier, das einen Herrn nötig hat“ braucht der Mensch – Hobbes klingt hier nach – eine starke Regentschaft, aber jemandem der eigenen Art möchte man – Hobbes hin oder her – gerade eine solche Rolle wiederum nicht gewähren, was eine zirkuläre Schwierigkeit bedeutet. Eine Einzelanalyse des hochkomplexen Schluss-Satzes ergibt in etwa: Die rudimentäre Hauptaussage „folgen“ ist mit drei „dass“-Aussagen verknüpft, von denen eine voransteht und zwei nachstehen. Kant möchte wohl in etwa sagen: Eine Lösung für das Problem, aus den „krummen Hölzern“, die wir alle sind, so etwas wie eine menschliche Gemeinschaft zu formen, gelingt in der geschichtlichen Entwicklung erst spät. Dazu muss man – erstens – wissen, wie eine solche Gesellschaft verfasst sein müsste. Zweitens bedarf es großer Erfahrungen mit der menschlichen Vergesellschaftung und – drittens – eines guten Willens. Kant scheint eher skeptisch: Diese drei Faktoren kommen nicht leicht zusammen. Doch sieht er den Menschen dazu aufgerufen, sich in der Gesellschaft mit seinesgleichen zu zivilisieren, um nicht bei der Skepsis, zu der viele seiner Eigenschaften Anlass geben, stehen zu bleiben. Der Mensch als „krummes Holz“ in der Gemeinschaft seinesgleichen Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft. Da nur in der Gesellschaft und zwar derjenigen, die die größte Freiheit, mithin einen durchgängigen Antagonism ihrer Glieder, und doch die genaueste Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit hat, damit sie mit der Freiheit anderer bestehen könne, da nur in ihr die höchste Absicht der Natur, nämlich die Entwickelung aller ihrer Anlagen, in der Menschheit erreicht werden kann, die Natur auch will, dass sie diesen, so wie alle Zwecke ihrer Bestimmung, sich selbst verschaffen solle: So muss eine Gesellschaft, in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird, d. i. eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung die höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung sein; weil die Natur nur vermittelst der Auflösung und Vollziehung derselben ihre übrigen Absichten mit unserer Gattung erreichen kann. In diesen Zustand des Zwanges zu treten, zwingt den sonst für ungebundene Freiheit so sehr eingenommenen Menschen die Not und zwar die größte

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unter allen, nämlich die, welche sich Menschen untereinander selbst zufügen, deren Neigungen es machen, dass sie in wilder Freiheit nicht lange nebeneinander bestehen können. Allein in einem solchen Gehege, als bürgerliche Vereinigung ist, tun eben dieselben Neigungen hernach die beste Wirkung: So wie Bäume in einem Walde eben dadurch, dass ein jeder dem anderen Luft und Sonne zu benehmen sucht, einander nötigen, beides über sich zu suchen und dadurch einen schönen geraden Wuchs bekommen; statt dass die, welche in Freiheit und voneinander abgesondert ihre Äste nach Wohlgefallen treiben, krüppelig, schief und krumm wachsen. Alle Kultur und Kunst, welche die Menschheit ziert, die schönste gesellschaftliche Ordnung, sind Früchte der Ungeselligkeit, die durch sich selbst genötigt wird, sich zu disziplinieren und so durch abgedrungene Kunst die Keime der Natur vollständig zu entwickeln. Dieses Problem ist zugleich das schwerste und das, welches von der Menschengattung am spätesten aufgelöst wird. Die Schwierigkeit, welche auch die bloße Idee dieser Aufgabe schon vor Augen legt, ist diese: Der Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter anderen seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat. Denn er missbraucht gewiss seine Freiheit in Ansehung anderer seinesgleichen; und ob er gleich als vernünftiges Geschöpf ein Gesetz wünscht, welches der Freiheit aller Schranken setze, so verleitet ihn doch seine selbstsüchtige tierische Neigung, wo er darf, sich selbst auszunehmen. Er bedarf also einen Herrn, der ihm den eigenen Willen breche und ihn nötige, einem allgemein gültigen Willen, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen. Wo nimmt er aber diesen Herrn her? Nirgend anders als aus der Menschengattung. Aber dieser ist ebensowohl ein Tier, das einen Herrn nötig hat. Er mag es also anfangen, wie er will: So ist nicht abzusehen, wie er sich ein Oberhaupt der öffentlichen Gerechtigkeit verschaffen könne, das selbst gerecht sei; er mag dieses nun in einer einzelnen Person oder in einer Gesellschaft vieler dazu auserlesenen Personen suchen. Denn jeder derselben wird immer seine Freiheit missbrauchen, wenn er keinen über sich hat, der nach den Gesetzen über ihn Gewalt ausübt. Das höchste Oberhaupt soll aber gerecht für sich selbst und doch ein Mensch sein. Diese Aufgabe ist daher die schwerste unter allen; ja ihre vollkommene Auflösung ist unmöglich: Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt. Dass sie auch diejenige sei, welche am spätesten ins Werk gerichtet wird, folgt überdem auch daraus: dass hiezu richtige Begriffe von der Natur einer möglichen Verfassung, große, durch viel Weltläufe geübte Erfahrenheit und über das alles ein zur Annehmung derselben vorbereiteter guter Wille erfordert wird;

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drei solche Stücke aber sich sehr schwer und, wenn es geschieht, nur sehr spät, nach viel vergeblichen Versuchen, einmal zusammenfinden können. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Fünfter und sechster Satz. Kants Gesammelte Schriften hrsg. von der Kgl. Preuß. Akad. der Wissenschaften. Erste Abtheilung: Werke Bd. VIII, (de Gruyter) Berlin und Leipzig 1923, 22 f.

Albert Camus Der Existenzdenker Albert Camus (1913–1960) gibt der schwierigen Sinnfindung in der Moderne nicht nur als Dichter, sondern auch als Philosoph Ausdruck. „Das Gefühl der Absurdität kann einen beliebigen Menschen an einer beliebigen Straßenecke anspringen“, schreibt Camus. Dann „stürzen die Kulissen ein. Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden Büro oder Fabrik, Essen, Straßenbahn, vier Stunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhythmus – das ist sehr lange ein bequemer Weg. Eines Tages aber steht das ,Warum‘ da, und mit diesem Überdruss, in den sich Erstaunen mischt, fängt alles an.“ Die Sicht des Menschen, die Camus offeriert, gipfelt in seinem sehr bekannt gewordenen Aufgreifen des Bildes von den Leiden des antiken Heros Sisyphos: Die Götter hatten Sisyphos dazu verurteilt, unablässig einen Felsblock einen Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel der Stein von selbst wieder herunterrollte. Sie hatten mit einiger Berechtigung bedacht, dass es keine fürchterlichere Strafe gibt als eine unnütze und aussichtslose Arbeit. […] Sisyphos ist der Held des Absurden. Dank seiner Leidenschaften und dank seiner Qual. Seine Verachtung der Götter, sein Hass gegen den Tod und seine Liebe zum Leben haben ihm die unsagbare Marter eingebracht, bei der jedes Wesen sich abmüht und nichts zustande bringt. Damit werden die Leidenschaften dieser Erde bezahlt […] Mythen sind dazu da, von der Phantasie belebt zu werden. So sehen wir nur, wie ein angespannter Körper sich anstrengt, den gewaltigen Stein fortzubewegen, ihn hinaufzuwälzen und mit ihm wieder und wieder einen Abhang zu erklimmen; wir sehen das verzerrte Gesicht, die Wange, die sich an den Stein schmiegt, sehen, wie eine Schulter sich gegen den erdbedeckten Koloss legt, wie ein Fuß ihn stemmt und der Arm die Bewegung aufnimmt, wir erleben die ganz menschliche Selbstsicherheit zweier erdbeschmutzter Hände. Schließlich ist nach dieser langen Anstrengung […] das Ziel erreicht. Und nun sieht Sisyphos, wie der Stein im Nu in jene Tiefe rollt, aus der er ihn wieder auf den Gipfel wälzen muss. Er geht in die Ebene hinunter. Auf diesem Rückweg, während dieser Pause, interessiert mich Sisyphos. Ein Gesicht, das sich so nahe am Stein abmüht, ist selber bereits ein Stein! Ich

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sehe, wie dieser Mann schwerfälligen, aber gleichmäßigen Schrittes zu der Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Unheil, ist die Stunde des Bewusstseins. In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verlässt und allmählich in die Höhlen der Götter entschwindet, ist er seinem Schicksal überlegen. Er ist stärker als sein Fels. Dieser Mythos ist tragisch, weil sein Held bewusst ist. Worin bestünde tatsächlich seine Strafe, wenn ihm bei jedem Schritt die Hoffnung auf Erfolg neue Kraft gäbe? Heutzutage arbeitet der Werktätige sein Leben lang unter gleichen Bedingungen, und sein Schicksal ist genauso absurd. Tragisch ist es aber nur in den wenigen Augenblicken, in denen der Arbeiter bewusst wird. Sisyphos, der ohnmächtige und rebellische Prolet der Götter, kennt das ganze Ausmaß seiner unseligen Lage: Über sie denkt er während des Abstiegs nach. Das Wissen, das eine eigentliche Qual bewirken sollte, vollendet gleichzeitig seinen Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann […] Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges! Seine Last findet man immer wieder. Nur lehrt Sisyphos uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Auch er findet, dass alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigen Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. A. Camus, Der Mythos von Sisyphos, Reinbek 1959 u. ö., 15 f., 98 ff.

Arbeitsanregungen 1. Lassen Sie sich auf das folgende Projekt ein: Sammeln Sie Bilder, Zeitungsartikel, andere Texte usw., die Ihrer Meinung ein Schlaglicht darauf werfen, was Menschen alles tun und können. Ihre Materialien können Kuriositäten ebenso enthalten wie Berichte von bewunderungswürdigem Verhalten, von Luxus und Armut, wissenschaftliche oder sonstige Meisterleistungen, philosophische Aussagen über den Menschen usw. Heften Sie Ihre Materialien auf große Bögen Kartonpapier oder sonst zur Ausstellung geeignete Flächen. Begutachten Sie Ihre Wandzeitung (Ihnen wird auffallen, wie die Anschaulichkeit der Bilder hilft, sich die Problematik deutlicher und farbiger vor Augen zuführen). 2. Schreiben Sie dann einen Essay, der Ihre Sicht des Menschen zum Ausdruck bringt! Anmerkung: Der Essay [englisch für Versuch, französisch Essai], geht als Begriff und literarische Gattung vor allem auf den französi-

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schen Philosophen Montaigne (1533–1592) zurück. Man schreibt eine kürzere Abhandlung in subjektiv pointierter Form. Ein Essay lebt von der besonderen Idee. Er soll interessant und kann gewagt sein. Schulen Sie Ihre Kreativität, setzen Sie philosophische Elemente aus dem vorliegenden Kapitel ein und achten Sie auf argumentative Überzeugungskraft. Der Textcharakter eines Essays ist nicht fest umrissen und bietet Ihnen einen großen Gestaltungsspielraum. 3. Zum Kant-Text: Stellen Sie sich ein „krummes Holz“ vor! Betrachten Sie auf einem Spaziergang verschiedene Baumformen. Verfolgen Sie den Wuchs alter Bäume von unten nach oben. Beurteilen Sie nun die Metapher vom „krummen Holz“ in ihrer Anwendung auf den Menschen. Passt dieses sprachliche Bild den Erfahrungen zufolge, die Sie selbst mit Mitmenschen gemacht haben? Bedenken Sie dabei auch die folgend mögliche Gegenargumentation: Ist nicht jeder Baum ähnlich individuell wie wir Menschen? Wäre ein völliger Baumschulen-Gleichwuchs nicht abzulehnen? (Sieht Kant den Wald vor lauter Bäumen noch?) 4. Welche Lösungsmöglichkeiten, welche Chancen eines Zusammenlebens der „krummen Hölzer“ deutet Kant an? 5. Inwiefern steht Camus’ Sisyphos für die Bedingungen moderner Sinnsuche?

Literatur E. Bohlen – Chr. Thies (Hrsg.), Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik, Stuttgart 2009 (gute Übersicht und empfehlenswerte Beiträge zu einschlägigen Autoren – „Klassikern“ der Anthropologie –, zu Forschungsansätzen und Grundbegriffen). G. Hartung, Philosophische Anthropologie, Stuttgart (Reclam) 2008 (gut zu lesende Brückenschläge erfolgen in den Kapiteln „Der Mensch in der Natur“, „Der Mensch in der Gesellschaft“, „Der Mensch in der Kultur“). H.-U. Lessing – V. Steenblock (Hrsg.), „Was den Menschen eigentlich zum Menschen macht …“ – Klassische Texte einer Philosophie der Bildung, Freiburg-München (Alber) 2010 (Texte von Platon über Schiller und Humboldt bis Peter Bieri zum Thema Bildung, die im Sinne des Titels: „Was den Menschen eigentlich zum Menschen macht …“ einen Rückbezug auf die zu Beginn dieses Buches angesprochene Thematik philosophischer Bildung herstellen können).

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Zum Abschluss

Obwohl eine Darstellung wie die vorstehende nur Einzelpunkte aus einer vielgestaltigen Debatte andeuten kann, hat sie doch nicht wenige Themen und Positionen zu nennen und darzustellen gehabt. Diese Vielzahl von Hinsichten (und erst recht noch das, was nicht hat genannt werden können) macht deutlich: Philosophische Fragen sind nicht für alle gleich und nicht immer für alle Zeiten verbindlich lösbar. Dies liegt nicht nur an der Vielfalt dieser Aspekte, sondern auch daran, dass die Philosophie durch diese Vielfalt hindurch zugleich die „reflexive Spitze“ unseres Selbst- und Weltverhältnisses darstellt. Sie ist gleichsam der „Ort“, in dem dieses Spektrum zusammenkommt. Dies führt dazu, dass das Philosophieren – bei allen objektiven inhaltlichen und wissenschaftlichen Kriterien, über die es sich zugleich definieren muss – immer auch so vielfältig ist, wie die Menschen, die es betreiben. Bedeutung erhalten philosophische Einsichten primär „für“ uns, im „existentiellen“ Rückbezug an den jeweils Philosophierenden; diese Bedeutung haftet einer Sache nicht einfach an, sondern wird ihr in einem vernunftorientierten Argumentieren beigemessen. Mit Ausnahme der Universitätsprofessoren, einiger Lehrer und verschwindend weniger „philosophischer Praktiker“ ist „Philosophie“ schwerlich ein Beruf, sondern sie erweist sich als rückgekoppelt an solche undelegierbaren Bildungs- und Orientierungs-Interessen, in denen der Einzelne sich unmittelbar verhalten muss. Philosophische Bildung steht für ein selbst verantwortetes und gestaltetes Wissen, bei dem sozusagen die ganze Person mitschwingt.1 Was für uns je persönlich Glück und ein gelingendes Leben bedeutet, wie wir uns den Sinn unserer Existenz in der Welt zurechtlegen, z. B. zur Frage nach Tod und Weiterleben – wir können als Menschen gar nicht leben, ohne uns über solche Themen Gedanken zu machen, und zugleich kann niemand anderer diese Frage für uns bedenken: Wir können dies nicht irgendwo erledigen lassen wie die Reparatur eines Autos. Denn dies hieße, man wollte andere für sich denken lassen oder stellvertretend für sich „Mensch“ sein lassen. Philosophieren kann dabei heißen: Nachfragen und Zweifeln; es kann verlangen, einen gewissen Bruch mit der Selbstverständlichkeit zu vollziehen. Aber auch wenn es auf manche Fragen keine endgültige Antwort gibt – ist es nicht ein Stück weit sinnvoll, offene Fragen auszuhalten, in der Schwebe zu lassen, die Ahnung einer möglichen Antwort zu bekommen? Wer könnte

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auch den Menschen versprochen haben, dass alles am Ende aufgehen müsse? Eine „Ambiguitätstoleranz“, ein Ertragenkönnen von Mehrdeutigkeiten, eine Mobilität des Denkens, das sich seine Fixpunkte selbst setzen kann – auch das kann Ergebnis einer philosophischen Haltung sein. Bei allem aber bietet das Philosophieren nicht nur Erkenntnis und Reflexionsgewinn, sondern auch eine Einstellung und eine Haltung. Ein Bemühen um die Philosophie ist unsere persönliche Investition in die Faszination des Denkens, aus dessen Teilhabe wir unser Selbst bewusster und reicher zurückgewinnen können. Niemanden entlässt dies aus den Pflichten und Zusammenhängen, in die er eingebunden ist, aber er durchschaut sie besser, gewinnt ein Stück Distanz und Souveränität gegenüber der Welt, auf deren geschichtlichen Entwicklungsstand, der noch die Kategorien seines Denkens prägt, er freilich stets bezogen bleibt. Sich in diesem Sinne über sich selbst und seine Welt zu orientieren, kann als wesentliches Ziel unserer humanen Existenz gelten. Die Ausprägung einer solchen Kulturalität auch nach unserer individuellen Seite hin ist eine philosophische Empfehlung an uns. Zu dieser philosophischen Idee gehört, dass eine kulturelle Selbstgewinnung erstrebenswert und Lebensziel ist. Menschen aller Altersstufen erzählen von der Faszination eines solchen Fragens und beschreiben das philosophische Interesse als eine Einstellung, die, einmal geweckt, nie wieder erlischt. Dieses Interesse führt über alle Einzeldarstellungen (und selbstverständlich auch über die vorliegende) hinaus, weil man sich auf die Suche macht und sozusagen selbst in Bewegung setzt.

Verzeichnis der Zum Weiterdenken angebotenen Textauszüge nach Philosophen in chronologischer Reihenfolge

Chronologisches Textauszugsverzeichnis

Die Bibel: Der Turmbau zu Babel. Gen 11,1– 9. Nach: Die Heilige Schrift. Einheitsübersetzung kommentiert. Kommentierung von Eleonore Beck, Stuttgart 1980. Die Bibel: Römerbrief des Paulus. Röm 1,18 – 32; 3,21– 28. Nach: Die Heilige Schrift. Einheitsübersetzung kommentiert. Kommentierung von Eleonore Beck, Stuttgart 1980. Siddharta Gautama, genannt der „Buddha“: Aus dem Purabheda-Sutta des SuttaNipata. Zit. n. Buddhismus, Essen 1998. Die Vorsokratiker als die ersten Naturphilosophen (Thales, Anaximenes, Empedokles u. a.): Gibt es einen Urgrund aller Dinge? Nach: Aristoteles: Metaphysik. Ins Deutsche übertragen von Adolf Lasson, Jena 1924, S. 12 f. (983 a). Sokrates: Philosophie als Eros des Denkens. Nach: Platon, Das Gastmahl (Symposion). Platons Werke von F. Schleiermacher. Berlin 1857, 294, 297. Sokrates: Die Apologie 30e–32a. Nach: Platons Werke (deutsch) von F. Schleiermacher. Ersten Teiles zweiter Band. Berlin 1855, 145 –147. Platon: Das Höhlengleichnis. Politeia 514a–516c, Nach: Platons Werke (deutsch) von F. Schleiermacher. Berlin 1862, S. 231– 234. Platon: Philosophen als Könige. Politeia 473 b–e. Nach: Platons Werke (deutsch) von F. Schleiermacher. Berlin 1862, 193 f. Platon: Der Aufstieg zur Idee des Schönen. Gastmahl (Symposion) 210a–212a. Nach: Platons Werke (deutsch) von F. Schleiermacher. Berlin 1857, 299 – 302. Aristoteles: Metaphysik, 1. Buch, 980a–982a. Ins Deutsche übertragen von Adolf Lasson, Jena 1924, 6 – 8. Aristoteles: Lehre von den Lebensformen. Nikomachische Ethik 1095b; 1177a. Ins Deutsche übertragen von Adolf Lasson, Jena 1909, 5 f., 229 – 230. Augustinus: Bekehrungsszene. Aus: Bekenntnisse. Übertragen und eingeleitet von Herman Hefele, Jena 1918, VIII, 12. Thomas von Aquin: Die katholische Wahrheit oder die theologische Summa, deutsch wiedergegeben von Ceslaus Maria Schneider, Regensburg 1886, 108 –110. Francis Bacon: Neues Organ der Wissenschaften. Übs. und hrsg. von A. W. Brück. Leipzig 1830, 26 ff., 97. R. Descartes: Abhandlung über die Methode. Übs. und mit Anmerkungen herausgegeben von Artur Buchenau, Leipzig 4. Aufl. 1922, 1 ff. Immanuel Kant: Philosophieren durch „selbsteigenen Gebrauch der Vernunft“. Nach: Kants Werke Bd. XI, Akademieausgabe, Berlin 1923, 25 f. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Kants Werke Bd. IV, Akademieausgabe, Berlin 1911, 393 – 296; 416, 421; 398 f.

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Chronologisches Textauszugsverzeichnis

Immanuel Kant: Der Mensch als „krummes Holz“ in der Gemeinschaft seinesgleichen. Auszug aus: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Fünfter und sechster Satz. In: Kants Werke Bd. VIII, Akademieausgabe, Berlin 1923, 22 f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophieren lernen heißt Inhalte kennen lernen wie Städte beim Reisen. Aus: Über den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien (1812). Jubiläumsausgabe in 20 Bdn. Hrsg. von H. Glockner Bd. 3, Stuttgart 1927, 310 f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. G. W. F. Hegels Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, 2. Aufl. Berlin 1840, 9. Band, 21, 13. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hier nach: G. W. F. Hegels Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, 2. Aufl. Berlin 1840, 12. Band, 218 f., 223. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Naturschönes und Kunstschönes. Nach: G. W. F. Hegels Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, 10. Band: Vorlesungen zur Ästhetik. Hrsg. von D. H. G. Hotho, Erster Band. Berlin 1835, 131–137. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Gesch. der Menschheit (1784/85), Neuntes Buch. In: Sämtliche Werke, hrsgg. von B. Suphan, Bd. 13, Berlin 1887, 343, 346, 347 f. Johann Gottfried Herder: Kulturgeschichte als „Goldene Kette der Bildung“. Auszug aus: Ideen zur Philosophie der Gesch. der Menschheit (1784/85), Neuntes Buch. In: Sämtliche Werke, hrsgg. von B. Suphan, Bd. 13, Berlin 1887, 352 f. Wilhelm v. Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen (Bruchstück). In: Wilhelm von Humboldts Werke. Hrsg, von A. Leitzmann, Bd. I, Berlin 1903, 282 – 287, 283. Johann Wolfgang Goethe: Wald und Höhle (Auszug aus dem „Faust“). Goethes Werke (Sophienausgabe) Bd. 14, Weimar 1887, 163. Friedrich Schiller: Gewissensscrupel. Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. 1: Gedichte, Weimar 1943, 357. Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums. Nach: Ludwig Feuerbachs Sämtliche Werke. Siebenter Band. Leipzig 1883, 48 – 50; 75. Karl Marx – Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei (1848), I. Bourgeois und Proletarier (Auszug). Zürich, 4. Aufl. 1890, 9 f., 13, 17 f. Friedrich Nietzsche: Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde. Aus: Götzendämmerung. Werke Bd. VIII. Leipzig 1906, 82 f. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Vorrede 3. Nach: Werke Bd. IV, Leipzig 1893, 8 –11. John St. Mill: Der Utilitarismus. Übs. v. D. Birnbacher, Stuttgart (Reclam) 1976, 2. Aufl. 1997, Zitat 21. Arthur Schopenhauer: Nachträge zur Lehre von der Nichtigkeit des Daseins/Nachträge zur Lehre vom Leiden in der Welt. (Parerga und Paralipomena II). Arthur Schopenhauers sämtliche Werke, hrsgg. von Paul Deussen, München 1911–1927, Bd. 5, 1913, 312, 323 ff. Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Hamburg 1996, Zitat 345 f.

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Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos, Reinbek 1959 u. ö., 15 f., 98 ff. John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit (A Theory of Justice). Frankfurt 1975, 8. Aufl. 1994, 19 f., 27 ff., 336, 82. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt/M. 1981. Bd. 2, Zitat 482. Ulrich Charpa: Das Museum des Wissens und wohlgegründeten Entscheidens (2001; Text mit freundlicher Genehmigung des Autors). Gunter Scholtz: Zur Bedeutung der Geistes- oder Kulturwissenschaften (2003; Text mit freundlicher Genehmigung des Autors). Klaus Tesching: Von Kant zu Beuys – Eine neue Vorstellung von Kunst (2003; Text mit freundlicher Genehmigung des Autors).

Anmerkungen

Anmerkungen

1 Das Staunen zu Beginn oder: Warum Philosophie? 1 L. Wittgenstein, Geheime Tagebücher 1914 –1916. Hrsg. und dokumentiert von W. Baum, Wien 1991, 34. 2 So der Titel einer Schrift von Wilhelm Dilthey (1833 –1911), die bereits auf die Schwierigkeit einer solchen Bestimmung verweist. Neu hrsgg. von G. Scholtz, Wiesbaden 2008. 3 Vgl. W. Oelmüller (Hrsg.), Weisheit, Paderborn usw. 1989. 4 Einen Überblick über die in diesem Zusammenhang ohne Zweifel neben positiven Anzeichen einer Öffnung der akademischen Philosophie für eine breiteres Interesse zugleich auch statthabende Trivialisierung und Begriffsentleerung – von der Fußballphilosophie bis zur Verbrämung bloßer Ökonomie („Mit Platon zum Profit“) – gibt ohne kulturkritische Verlust- oder Rettungsrhetorik N. Rath: Von ,Anlage-‘ bis ,Unternehmensphilosophie‘. Zur Verwendung des Wortes Philosophie in Werbung und Zeitungssprache, in: H. Drerup – E. Keiner (Hrsg.), Popularisierung wissenschaftlichen Wissens in pädagogischen Feldern, Weinheim 1999, 243 – 260. 5 So etwa der Theologe A. Anzenbacher, Einführung in die Philosophie, Freiburg 12. Aufl. 2007 u. ö. 6 Vgl. Fr. Paulsen, Einleitung in die Philosophie, Berlin 1892, 42. Aufl. 1929. – K. Vorländer, Einführung in die Philosophie, Leipzig 1924. – Neuere Veröffentlichungen orientieren sich in der Aufmachung eher an lebensweltlichen Themenformulierungen, vgl. etwa Th. Nagel, Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie, Stuttgart 2002 und R. D. Precht, Wer bin ich und wenn ja: wie viele? München 2007. 7 K. Jaspers, Einführung in die Philosophie, München 32. Aufl. 2004, 92 ff. 8 I. Kant, Logik, in: Kants Werke Bd. XI, Akademieausgabe, Berlin und Leipzig 1923, 25. 9 R. Rehn, „Symposion“, in: Th. Kobusch – B. Mojsisch (Hrsg.), Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Darmstadt 1996, 81– 95, 87. 2 Was die Welt im Innersten zusammenhält: Von den Kosmologien der Antike zu den modernen Naturphilosophien 1 R. Löw, „Naturphilosophie“, in: P. Koslowski (Hrsg.) Orientierung durch Philosophie, Tübingen 1991, 350 – 367. 2 Aristoteles, Vom Himmel II, 1, 283 b 26 ff.; nach: Vom Himmel. Von der Seele. Von der Dichtkunst. Eingeleitet und neu übertragen von O. Gigon, Zürich 1950.

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Anmerkungen

3 W. Schadewaldt, Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur in zwei Bänden, Zürich–Stuttgart 2. Aufl. 1970. 4 F. Kaulbach, Philosophie der Beschreibung, Köln 1968, 109. 5 Vgl. mit vielen Beispielen für antike Umweltprobleme durch Eingriffe des Menschen in die Natur: K. W. Weeber, Smog über Attika. Umweltverhalten im Altertum, Zürich–München 1990. 6 Vgl. K. Mainzer, Naturphilosophische Forschungsperspektiven der modernen Naturwissenschaften. In: Chr. Kummer (Hrsg.), Was ist Naturphilosophie und was kann sie leisten? Freiburg–München 2009, 109 –126. 7 St. Hawking – L. Mlodinow, Der große Entwurf (The grand Design). Eine neue Erklärung des Universums, Reinbek 2010. 8 H. Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt. 3 Bde. Frankfurt 1981, 665. 9 Vgl. R. Dawkins, Der blinde Uhrmacher (The Blind Watchmaker). Ein neues Plädoyer für den Darwinismus, München 1996. 10 J. D. Barrow, Der Ursprung des Universums. Wie Raum, Zeit und Materie entstanden (The Origin of the Universe), München 1998. 11 G. und H. Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt 1983. 12 Vgl. „Diese Erde ist uns heilig“. Die Rede des Indianerhäuptlings Seattle. Übersetzt von M. Kaiser. Mit einem wissenschaftlichen Kommentar zur Echtheit der Texte von R. Kaiser. Edition Iris Blaschok: Münster 1984. 13 Vgl. D. Kuhn, Über den Grund von Goethes Beschäftigung mit der Natur und ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis, in: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 15 (1971), 157–173, 159. 3 Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Die Metaphysik und ihre Bestreitung 1 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Leipzig 1911, 193. 2 Vgl. V. Steenblock, Glanz und Grenzen einer Theoretischen Philosophie – Sprache zwischen Metaphysik und Kritik. Rudolf Carnap: „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ (1931), in: E. Nordhofen – E. Martens – J. Siebert (Hrsg.): Philosophische Meisterstücke II (Reclam), Stuttgart 2001, 144–161. 3 W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Leipzig, später Stuttgart 1914 ff., I, 132.; B. Croce, Die Geschichte als Gedanke und Tat, Bern 1944, 63. 4 Zu Heidegger und seinem zeitweiligen Engagement für den Nationalsozialismus lesenswert vor allem: R. Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, Frankfurt 1997. Der Titel von Safranskis Buch bedeutet eine Anspielung auf Paul Celans Gedicht „Todesfuge“, das die Ermordungen in den Konzentrationslagern thematisiert und in dem es bitter heißt: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“. 5 M. Heidegger, Die Frage nach der Technik, in ders., Die Technik und die Kehre, Pfullingen 4. Aufl. 1978. Vgl. R. Maurer, Thesen zu: Heidegger und die Metaphy-

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sik, in: W. Oelmüller (Hrsg.), Metaphysik heute? Paderborn usw. 1987. Für eine genaue Interpretation vgl. G. Seubold, Heideggers Analyse der neuzeitlichen Technik, Freiburg–München 1986; O. Pöggeler, Wächst das Rettende auch? Heideggers letzte Wege, in: W. Biemel – F. W. v. Hermann, Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger, Frankfurt 1989; ders., Metaphysik als Problem bei Heidegger, in: D. Henrich – R.-P. Horstmann (Hrsg.), Stuttgarter Hegelkongreß 1987: Metaphysik nach Kant? Stuttgart 1988, 365 – 380. M. Heidegger, Was heißt Denken? Tübingen 1954, 56 f. J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt 1988, 35. J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, a. a. O., 41. Vgl. z. B. V. Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie, München 1990. F.-J. Wetz, Das nackte Dass. Die Frage nach der Faktizität, Pfullingen 1990, 11 ff., 236 ff.

4 Am Anfang war das Wort – Sprachphilosophie 1 Vgl. J. Becker, Das Evangelium nach Johannes, Gütersloh 1979, 81. 2 Vgl. J. A. Bühner – G. Verbeke, „Logos“ in: J. Ritter – K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 5, Basel–Stuttgart 1984, 491– 502, 498. 5 Was können wir wissen? – Erkenntnistheorie 1 K. Lorenz, Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie, in ders., Das Wirkungsgefüge der Natur und das Schicksal des Menschen, hrsg. von I. Eibl-Eibesfeld, München 1978. 2 G. Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, Stuttgart 1974 u. ö., 102 f. 6 Wissenschaft und Technik prägen unser Leben 1 E. Du Bois-Reymond, Culturgeschichte und Naturwissenschaft. Vortrag, gehalten am 24. März 1877 im Verein für wissenschaftliche Vorlesungen zu Köln, veröffentlicht Leipzig 2. Aufl. 1878, 7 ff. 2 J. Rohbeck, Technologische Urteilskraft, Frankfurt 1993, 10. 3 G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Ausgabe in einem Band, Gütersloh 1989, Vorwort. 4 R. Koselleck, Zeitschichten, Frankfurt 2000, 201. 5 Ch. Taylor, Das Unbehagen an der Moderne (The Malaise of Modernity), Frankfurt 1995, 17. 6 Vgl. W. Plumpe, Wirtschaftskrisen, München 2010. 7 J. Ritter, Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft, in ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt 1974 u. ö. Odo Marquard, Über die

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Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften, Vortrag vor der Westdeutschen Rektorenkonferenz, in ders., Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986. G. Scholtz, Sokrates und die Idee des Wissens. In: H. Kessler (Hrsg.), Das Lächeln des Sokrates, Kusterdingen 1999, 247– 269, 263. Vgl. ders.: Die Theorie der Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 21 (1999), 309 – 315. Geschichte und Gegenwartstheorie der Kulturwissenschaften sowie ein Konzept „Kultureller Bildung“ unter Gegenwartsbedingungen werden ausführlich entwickelt in: V. Steenblock, Theorie der kulturellen Bildung. Zur Philosophie und Didaktik der Geisteswissenschaften, München 1999. Anspielung auf Platons Dialog „Gorgias“. Polus tritt in diesem Dialog als Gesprächspartner des Sokrates auf. U. Charpa, Wissen und Handeln. Grundzüge einer Forschungstheorie, Stuttgart– Weimar 2001. [Anm. von Ulrich Charpa:] Diese sowie die in der Folge zitierten Äußerungen von Weisskopf und Boas Hall sind mit zahlreichen anderen Stellungnahmen dokumentiert in B. Weber, „Ubi caelum terrae se coniungit“, Gutenberg-Jahrbuch 1973, S. 381– 407, 398 ff., weitere Belege bei Senger (s. u.). [Anm. von Ulrich Charpa:] H. Senger, „Wanderer am Weltenrand“ – ein Raumforscher um 1530? Überlegungen zu einer peregrinatio inventiva, in: J. Aertsen – A. Speer (Hrsg.), Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter, Berlin 1998, 793–825. [Anm. von Ulrich Charpa:] C. Flammarion, Astronomie populaire – Description générale du ciel, Paris 1881, 403 f.

7 Was sollen wir tun? Ethik und Lebenskunst 1 Vgl. K. Bayertz, Warum überhaupt moralisch sein? München 2004. 2 Siehe hierzu E. O. Wilson, Biologie als Schicksal (On Human Nature). Die soziobiologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens, Frankfurt–Berlin 1980. 3 E. Martens, Zwischen Gut und Böse. Elementare Fragen angewandter Philosophie, Stuttgart 1997, 203. 4 Platon richtet sich damit vor allem gegen den Relativismus, den er den Weisheitslehrern seiner Zeit, den Sophisten vorwirft („Werte entstehen durch menschliche Setzung“). 5 E. J. Paton, Der kategorische Imperativ. Eine Untersuchung über Kants Moralphilosophie, Berlin 1962, 44. 6 Vgl. W. Dilthey, Über den Widerstreit der Systeme. In ders.: Das geschichtliche Bewußtsein und die Weltanschauungslehre. In: Gesammelte Schriften, verschiedene Herausgeber und verschiedene Auflagen der einzelnen Bände, ab Bd. 12 hrsgg. von K. Gründer und F. Rodi, zunächst Leipzig, später Stuttgart und Göttingen 1914 ff., Bd. 12, 75 ff. 7 K.-O. Apel, Transformation der Philosophie Bd. 2, Frankfurt 1973, 359; Vgl. hierzu auch Apels Beitrag in W. Oelmüller (Hrsg.), Transzendentalphilosophische Normenbegründungen, Paderborn 1978, 119.

Anmerkungen

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8 K.-O. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in ders., Transformationen der Philosophie, Bd. 2, Frankfurt 1973, 358 – 435. 9 H. Albert, Transzendentale Träumereien, Hamburg 1975. 10 K. Bayertz, Zur Selbstaufklärung der angewandten Ethik, in: V. Steenblock (Hrsg.), Praktische Philosophie/Ethik. Ein Studienbuch, Münster 3. Aufl. 2007, 145. 11 Vgl. den instruktiven Überblick über verschiedene Ansätze: D. Birnbacher, Ökologische Ethik, in: V. Steenblock (Hrsg.), Praktische Philosophie/Ethik, Münster 3. Aufl. 2007, 153 –161. 12 Vgl. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt 1979. 13 Vgl. O. Höffe, Moral als Preis der Moderne, Frankfurt 1993. 14 Vgl. z. B. den signifikanten Titel in einem damals noch relativ frühen Stadium der Diskussion: W. van den Daele, Menschen nach Maß? München 1985. 15 Vgl. L. Siep, Ziele und Methoden der Philosophie in Ethik-Kommissionen, in: N. Herold – S. Mischer (Hrsg.), Philosophie. Studium, Text und Argument, Münster 1997. 16 Epikur, Von der Überwindung der Furcht, hrsgg. von O. Gigon, Stuttgart 2. Aufl. 1968, Einl. XII. Vgl. M. Hosenfelder, Epikur, München 1991. 17 Montaigne, Essais, Hrsg. Von R.-R. Wuthenow, Frankfurt 1976, 15. 18 Vgl. etwa die Textsammlung: J. Werle (Hrsg.), Klassiker der philosophischen Lebenskunst, München (Goldmann-TB) 2000. 19 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur (Erstausgabe 1930), Studienausgabe Bd. IX: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, Frankfurt 1974, S. 191– 270, 206 f. Vgl. P. Gay, „Ein gottloser Jude“. Sigmund Freuds Atheismus und die Entwicklung der Psychoanalyse, Frankfurt 1999. 20 G. Bien, Lebensführungskompetenz. In: Philosophie der Subjektivität und das Subjekt der Philosophie. Festschrift für Klaus Giel zum 70. Geburtstag. Würzburg: Königshausen & Neumann 1997, 24 – 35, hier: 27. 21 W. Schmid, Philosophie der Lebenskunst, Frankfurt 1998, 94; Folgezitate 128, 119, 188 ff. 22 Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. 1: Gedichte, Weimar 1943, 357. 8 Politik – Realismus und Utopie 1 Max Weber, Die Typen der Herrschaft in ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5., revidierte Aufl., mit textkritischen Erläuterungen hrsgg. von Johannes Winckelmann, 1. Halbband, Tübingen 1976, 122 –176, 122. 2 Vgl. etwa Chr. Frantz – K. Schubert, Einführung in die Politikwissenschaft, Berlin– Münster 2. Aufl. 2010. 3 H. Plessner, Ges. Schr. Bd. V, Frankfurt 1981, 194 f. 4 Aristoteles, Politik. Übers. und hrsgg. von O. Gigon, Zürich und München 1971, 1252 a–1253 a. 5 Vom Menschen – Vom Bürger, eingel. u. hrsgg. von G. Gawlick, Hamburg 1959,

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75 f. – Thomas Hobbes, Leviathan, hrsgg. und eingel. von I. Fetscher, Frankfurt 1976. Vgl. etwa St. Gosepath, „Politische Philosophie“, in: St. Gosepath – W. Hinsch und B. Rössler (Hrsg.), Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie Bd. 2, Berlin 2008, 1007–1013. Th. Pogge, World Poverty and Human Rights, Cambridge 2002; M. Risse, How does the global order harm the poor? In: Philosophy & Public Affairs 33 (2005), 34 9 – 376; W. Hinsch, Gerechtfertigte Ungleichheiten, Berlin 2002; B. Bleisch – P. Schaber (Hrsg,), Weltarmut und Ethik, Paderborn 2007. Ch. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (Lesprit des lois). Auswahl übers. und erl. von Fr. Aug. v. d. Heydte, Berlin 1950. O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981. H. Lübbe, Philosophie nach der Aufklärung, Düsseldorf – Wien 1980, 8. E. Bloch, Abschied von der Utopie? hrsgg. von H. Gekle, Frankfurt 1980, 45, 69. R. Saage, politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991; ders. (Hrsg.), Hat die politische Utopie eine Zukunft? Darmstadt 1992; Utopieforschung. Eine Bilanz, Darmstadt 1997. K. Marx, Die Frühschriften, hrsgg. von S. Landshut, Stuttgart 1971, 349, 361. R. Nozick, Anarchie, Staat und Utopie (Anarchy, State, and Utopia), München 1976. M. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit (Spheres of Justice), Frankfurt 1992.

9 Was ist Kultur? 1 Homer, Odyssee, IX. Gesang. Übers. von J. H. Voss, München 1964, 98. 2 C. F. Geyer, Einführung in die Philosophie der Kultur, Darmstadt 1994, 2. 3 H. Schnädelbach, Philosophie in der modernen Kultur, in: Fr. Hermanni – V. Steenblock (Hrsg.), Philosophische Orientierung, München 1995, 25 – 39, 26 f. 4 G. Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker: „Principi di una scienza nuova [...]“, Übersetzt von V. Hösle und Chr. Jermann, 2 Bde. Hamburg 1990. 5 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Werke Bd. 17, hrsg. von. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel. Frankfurt 1971, 259 f. 6 K. Marx, Werke, Bd. IV. Das Kapital. Hrsg. v. H. J. Lieber u. B. Kautsky, Darmstadt 1982, 177 f. 7 Das Buch ist im amerikanischen Exil 1944 erschienen, Untertitel „An Introduction to a Philosophy of Human Culture“, deutsch „Versuch über den Menschen“, Hamburg 1996. 8 B. Recki, Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Berlin 2004, 191. 10 Gibt es einen Sinn in der Geschichte? 1 Goethe, Nachlese (1813/14); vgl. R. Koselleck: Goethes unzeitgemäße Geschichte, Heidelberg 1997, 38. Vgl. auch Kosellecks Beitrag „Vom Sinn und Unsinn der Ge-

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schichte“, in J. Rüsen – K. E. Müller (Hrsg.): Historische Sinnbildung, Reinbek 1997, 79 – 97; 97: „Die Unkosten, die uns die ,Geschichte schlechthin‘ mit ihren Sinnzumutungen auferlegt, sind zu hoch [...]“. Vgl. z. B. M. Grant, Klassiker der antiken Geschichtsschreibung, München 1973, 13– 21 sowie den Artikel: „Geschichte, Historie“, in: O. Brunner – W. Conze – R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 1975, 593 –717. M. Eliade, Der Mythos der ewigen Wiederkehr, Düsseldorf 1953, weitere deutsche Ausgabe Frankfurt 1986, 97 f., 166. Eliade deutet darüber hinaus an, dass diese Haltung eines Widerstandes gegen die Geschichte noch einmal sehr relevant erscheinen könnte gegenüber der vorbehaltlosen Anerkennung der Geschichte: dem Historismus, der vor den „Schrecken der Geschichte“ – dem ungerechten Leid in der Welt – kapitulieren müsse. – R. Schott, Das Geschichtsbewußtsein schriftloser Völker, in: Archiv für Begriffsgeschichte 12 (1968), 166 – 205, 170. Zitate und Literaturhinweise: Herodot, Historien, übers. v. A. Horneffer, neu hrsgg. v. H. W. Haussig, Einltg. von W. F. Otto, Stuttgart 1971, 1; E. Heitsch (Hrsg.), Hesiod, Darmstadt 1966; Thukydides, Geschichte des peloponnesischen Krieges, hrsg. u. übertr. v. G. P. Landmann, München 1973 u. ö. 1, 22; K.-E. Petzold, Kyklos und Telos im Geschichtsdenken des Polybios, in: Saeculum 28 (1977), 253 – 290. N. Macchiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, eingeleitet und erläutert von R. Zorn, Stuttgart 2. Aufl. 1977; R. Koselleck, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979, 38 – 66. Vgl. G. v. Rad, Die Botschaft der Propheten, Gütersloh 1981. Vgl. auch den Artikel: „Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie“ II und III: „Altes Testament“, „Judentum“, in: Theologische Realenzyklopädie Bd. 12, Berlin 1984, 569–595. K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 4. Aufl. 1961, 7. Aufl. 1979, Gesamtausgabe 1983. Augustin, Bekenntnisse, XI, 13 ff.; Der Gottesstaat, vgl. neben der genannten Stelle XII, 18 und 21; beide Werke zitiert nach: Deutsche Augustinus-Ausgabe, hrsgg. und übers. v. C. J. Perl, Paderborn usw. 1952 ff.; C.-F. Geyer, Zu einigen theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie bei Origines, in: Franziskanische Studien 64 (1982), 1–18; W. Kamlah, Christentum und Geschichtlichkeit. Untersuchungen zur Entstehung des Christentums und zu Augustins „Bürgerschaft Gottes“, Stuttgart 2. Aufl. 1951, 175 ff.; E. Salin, Civitas Dei, Tübingen 1926, 111 ff.; H.-I. Marrou, Das Janusantlitz der historischen Zeit bei Augustin, in: C. Andresen (Hrsg.), Zum Augustin-Gespräch der Gegenwart I, Darmstadt 1975, 349 – 380. J. Ratzinger, Die Geschichtstheologie des Heiligen Bonaventura, München–Zürich 1959; H. Grundmann, Studien über Joachim von Fiore, Darmstadt 1966. Voltaire, Le Pyrrhonisme de l’histoire (1768), nach: F. Wagner (Hrsg.), Geschichtswissenschaft, Freiburg–München 1951, 84. Vgl. G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, hrsgg. von J. Hoffmeister

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(Sämtl. Werke Teilbd. XVIII A), 5. Aufl. Hamburg 1955, 4 ff., 28 f., 48, 45; W. Oelmüller, Die unbefriedigte Aufklärung, Frankfurt 2. Aufl. 1979, 275; E. Angehrn, Vernunft in der Geschichte? Zum Problem der Hegelschen Geschichtsphilosophie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 35 (1981), 341– 364. J. Ritter, „Fortschritt“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 3, Basel 1974, 1032 –1059; R. Koselleck u. a., „Fortschritt“, in: O. Brunner – W. Conze – R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriff Bd. 2, Stuttgart 1975, 351– 423. O. Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt 1973, 2. Aufl. 1984; H. Lübbe, Aufklärung und Terror. Geschichtsmetaphysische Voraussetzungen totalitärer Demokratie, in: V. Gerhardt (Hrsg.), Der Begriff der Politik. Bedingungen und Gründe politischen Handelns, Stuttgart 1990, 238 – 251; H. M. Baumgartner, Philosophie der Geschichte nach dem Ende der Geschichtsphilosophie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 12 (1987), 1– 21, 20. O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1923 u. ö., 28, 142 f., 1194 f.; D. Felken, Oswald Spengler – konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur, München 1988, 68. Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt 1966, 314; vgl. Dialektik der Aufklärung (1944), Frankfurt 1969, 264. Vgl. V. Steenblock, Das Ende der Geschichte. Zur Karriere von Begriff und Denkvorstellung im 20. Jahrhundert. In: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994), 333 – 351. Th. Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, München 1983; E. Cioran, Lehre vom Zerfall, Stuttgart 1978; U. Horstmann, Das Untier, Frankfurt 1985. U. Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991; Chr. Friederich, Sprache und Geschichte. Untersuchungen zur Hermeneutik von J. M. Chladenius, Meisenheim 1978; S. J. Baumgarten, Einleitung zu: Übersetzung der Algemeinen Welthistorie, die in Engeland durch eine Gesellschaft von Gelehrten ausgefertigt worden, Halle 1744, 3 – 58; Weltgeschichte nach ihren Haupttheilen im Auszuge und Zusammenhange von August Ludwig Schlözer, 2 Bde Göttingen 3. Aufl. 1789, 1792; J. Rüsen, Der Historiker als „Parteimann des Schicksals“ – Georg Gottfried Gervinus und das Konzept der objektiven Parteilichkeit im deutschen Historismus, in ders. u. a. (Hrsg.), Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, München 1977, 77–124. K. G. Faber, Ausprägungen des Historismus, in: Historische Zeitschrift 228 (1979), 1– 22. W. Schmidt-Biggemann, Geschichte als absoluter Begriff, Frankfurt 1991. P. Aries – George Duby (Hg.), Geschichte des privaten Lebens, 5 Bde, dt., Frankfurt 1990; H.-P. Duerr, Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Frankfurt 1988 ff. im Widerstreit zu N. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., Frankfurt 7. Aufl. 1980. – U. Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, 5. Aufl. Frankfurt 2006. O. F. Bollnow, Studien zur Hermeneutik Bd. 1: Zur Philosophie der Geisteswissenschaften, Freiburg–München 1982, 132. J. Rüsen, Was heißt: Sinn der Geschichte? In ders. und K. E. Müller (Hrsg.), Historische Sinnbildung, Reinbek 1997, 17– 47, 29. Vgl. auch den Begriff der „Erinne-

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rungsarbeit“ in Rüsen, Historische Orientierung, Köln Weimar–Wien 1994, 209 ff. sowie ders.: Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt 1990. Vgl. F. Stern, Verspielte Größe. Essays zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 1996. E. Jäckel: Das deutsche Jahrhundert. Eine historische Bilanz, Stuttgart 1996. S. Huntington, The Clash of Civilisations? in: Foreign Affairs 3 (1993), 22 – 49. Chr. Schwägerl, Menschenzeit, München 2010. Vgl. H. Hastedt, Aufklärung und Technik. Grundprobleme einer Ethik der Technik, Frankfurt 1991, 259, 262. J. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Sämtl. Werke, hrsgg. von B. Suphan, Bd. 13, Berlin 1887, 355. Herder, Ideen, a. a. O., 349.

11 Die Kunst gibt zu denken – Ästhetik 1 W. Oelmüller – R. Dölle-Oelmüller – N. Rath (Hrsg.), Diskurs: Kunst und Schönes, Paderborn 1993 (Einleitungen, Textsammlung relevanter Positionen von der Antike bis zur Gegenwart). 2 H. R. Schweizer, Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis. Eine Interpretation der „Aesthetica“ A. G. Baumgartens mit teilweiser Wiedergabe des lateinischen Textes und deutscher Übersetzung, Basel–Stuttgart 1973, 107; ders., Übers. u. Hrsg., A. G. Baumgarten: Texte zur Grundlegung der Ästhetik, Hamburg 1983; U. Franke, Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten, Wiesbaden 1972; Edmund Burke, Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, übersetzt von F. Bassenge, neu eingeleitet und hrsgg. von W. Strube, Hamburg 1980; O. Marquard, Kant und die Wende zur Ästhetik (1960), in ders., Aesthetica und Anaesthetica, Paderborn 1989, 21–34, 30; vorstehendes Zitat hier 12. 3 R. Reuber, Ästhetische Lebensformen bei Nietzsche, München 1989, IX. 4 Fr. Nietzsche, Kritische Gesamtausgabe (1A2. Hrsg. G. Colli und M. Montinari, Berlin 1967 ff., XIII, 521 f. 5 H. Kuhn, Die Ontogenese der Kunst, in: D. Henrich – W. Iser (Hrsg.), Theorien der Kunst, Frankfurt 1982, 81 ff., 103. Vgl. P. Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt, 1974. 6 R. Bubner, Ästhetische Erfahrung, Frankfurt 1989, 44. 7 H. R. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Frankfurt 1967; ders., Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt 1977, erw. 1982; ders., Wege des Verstehens, München 1994. 8 W. Oelmüller, Zu einem nicht nur ästhetischen Werkbegriff, in ders. (Hrsg.), Das Kunstwerk (Kolloquium Kunst und Philosophie Bd. 3, Paderborn usw. 1983, 185 – 201, vgl. 201– 230. 9 C. Dahlhaus, Geschichtliche und ästhetische Erfahrung, in: W. Wiora (Hrsg.) Die Ausbreitung des Historismus über die Musik, Regensburg 1969, 243 – 247, 243. 10 H. Kuhn, Wesen und Wirken des Kunstwerks, München 1960, 21, 42, 93; K. Stierle,

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„Ästhetische Erfahrung im Zeitalter des historischen Bewusstseins“ und „Die Absolutheit des Ästhetischen und seine Geschichtlichkeit“, in: W. Oelmüller (Hrsg.), Kolloquium Kunst und Philosophie Bd. 3: Das Kunstwerk, Paderborn 1983, 13 ff., 231 ff. G. Boehm, Im Horizont der Zeit. Heideggers Werkbegriff und die Kunst der Moderne, in: W. Biemel – Fr. W. v. Hermann, Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger, Frankfurt 1989, 255 – 287. J. Ritter, „Landschaft“ in ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt 1974 u. ö, 105 –140, 144 f., 156. Vgl. die Darstellung und Kritik von R. Groh und D. Groh, Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen. Zur Entstehung ästhetischer Naturerfahrung und dies., Zur Entstehung und Funktion der Kompensationsthese, beide in dies.: Weltbild und Naturaneignung, Frankfurt 1991. O. Marquard, Aesthetica und Anaesthetica, Paderborn 1989; Zitate zunächst Einltg. zu diesem Bd., 13, ferner 116, 119 f. P. Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt 1974, 25, 35, 44. W. I. Lenin, Parteiorganisation und Parteiliteratur (1905), in: F. J. Raddatz (Hrsg.), Marxismus und Literatur, 3 Bde. Reinbek 1969, Bd. 1, 230 ff. Th. W. Adorno, Noten zur Literatur, Neuausgabe Frankfurt 1981, 251 ff.; ders., Resume über Kulturindustrie, in: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt 1967, 60–70, 70. W. Welsch, Ästhetisches Denken, Stuttgart 1991, 76 f.

12 Was dürfen wir hoffen? Religionsphilosophie 1 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1758 –1834), einer der bedeutendsten protestantischen Theologen und Theoretiker, hat sich freilich gegen die Aufhebung der Religion in „Metaphysik und Moral“ gewendet: „Sie entsagt hiermit, um den Besitz ihres Eigentums anzutreten, allen Ansprüchen auf irgendetwas, was jenen angehört, und gibt alles zurück, was man ihr aufgedrungen hat. Sie begehrt nicht das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl“, „Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche“. Später kam Schleiermacher dann zu der berühmt gewordenen Definition von Religion als dem „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“, das auf Gott als die übermächtige Ursache und den Schöpfer aller Dinge zurückverweist (Hegel freilich soll hierüber gespottet haben, dass danach der Hund der beste Christ sei, da er das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit am stärksten in sich trage). F. D. E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hrsgg. von H.-J. Rothert, Hamburg 1958, 1970, 24 ff.; ders., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche, Paragr. 4, in: Sämtl. Werke, 1. Abtlg., Bd. 1, Berlin 1861, 15 ff., 20. Vgl. H.-J. Birkner, Fr. Schleiermacher, in: M. Greschat (Hrsg.), Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert Bd. 1, Stuttgart 1978, 9 – 21, 20.

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2 Den metaphysischen Aufwand eines Gegenentwurfes umreißt Robert Spaemann (geb. 1927): Der letzte Gottesbeweis, München 2007. 3 Zitiert nach: Epikur, von der Überwindung der Furcht, eingeleitet und übertragen von O. Gigon, Stuttgart 2. Aufl. 1968, 80. 4 Vgl. F. W. Hermanni – P. Koslowski (Hrsg.), Die Wirklichkeit des Bösen, München 1998; H.-G. Janssen, Gott – Freiheit – Leid. Das Theodizeeproblem in der Philosophie der Neuzeit, Darmstadt 1989; R. Safranski, Das Böse. Oder: Das Drama der Freiheit, Frankfurt 1999; W. Oelmüller (Hrsg.), Theodizee – Gott vor Gericht? München 1990. 5 Vgl. J. Assmann, Maat. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990, 122 ff. – Zu Assmanns Position und Kritik am Monotheismus vgl. J. Schraten, Zur Aktualität von Jan Assmann, Wiesbaden 2011. 6 Vgl. R. v. Bendemann, Soma pneumatikon – Unsterblichkeit der Seele oder Auferstehung des Leibes? In: Ph. David – H. Rosenau (Hrsg.), Auferstehung, Berlin– Münster 2009, 81–119. 7 Vgl. C. v. Barloewen (Hrsg.), Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen, München 1996; Michael von Brück, Ewiges Leben oder Wiedergeburt? Freiburg 2007. 8 Vgl. J. Assmann, Der Tod als Thema der Kulturtheorie, Frankfurt 2000, 13 f.: „Der Mensch, durch sein Zuviel an Wissen (nämlich um seine Sterblichkeit, V. St.) aus den Ordnungen der Natur herausgefallen, muß sich eine künstliche Welt erschaffen, in der er leben kann. Das ist Kultur. Die Kultur entspringt dem Wissen um den Tod und die Sterblichkeit. Sie stellt den Versuch dar, einen Raum und eine Zeit zu schaffen, in der der Mensch über seinen begrenzten Lebenshorizont hinausdenken und die Linien seines Handelns, Erfahrens und Planens ausziehen kann in weitere Horizonte und Dimensionen der Erfüllung, in denen erst sein Sinnbedürfnis Befriedigung findet und das schmerzliche, ja unerträgliche Bewußtsein seiner existenziellen Begrenzung und Fragmentierung zur Ruhe kommt. Ohne Fantasmen der Unsterblichkeit oder doch zumindest einer gewissen Fortdauer über den allzuengen Horizont unseres Erdendaseins hinaus kann der Mensch nicht leben: Sie bilden den von Illusionen umstellten Horizont, in dem allein menschliches Handeln sich als sinnvoll erfahren kann, jene ,Hamlet-Lehre‘, wie sie Nietzsche im 7. Kapitel seiner Geburt der Tragödie bestimmt.“ 9 Vgl. H. Wittwer, Philosophie des Todes, Stuttgart 2009. 10 Seneca schildert eindrucksvoll, wie seine Mitbürger sich in unwichtigen Angelegenheiten verlieren, zugleich aber unter der Kürze des Lebens zu leiden behaupten: „Was klagen wir über die Natur? Sie hat sich freigebig gezeigt: das Leben ist lang, wenn man es zu gebrauchen versteht. Aber den einen hält unersättliche Habsucht gefangen, den anderen mühsame Betriebsamkeit in überflüssigen Anstrengungen; der eine trieft vom Wein, der andere ist vor Trägheit starr; den einen zermürbt Ehrgeiz, der immer von fremder Meinung abhängig ist, den andern treibt blindwütige Gier nach Geschäften in der Hoffnung auf Gewinn kreuz und quer durch alle Länder, alle Meere.“ De brevitate vitae/Die Kürze des Lebens, lat./dt. herausgegeben von P. Waiblinger, München 1976 u. ö. 2, 1. 11 Vgl. etwa H. Zahrnt, Die Sache mit Gott. Die protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, München 1966.

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Anmerkungen

12 K. Marx, Die Frühschriften, hrsgg. von S. Landshut, Stuttgart 1971, 208. 13 Vgl. W.-D. Just, Religiöse Sprache und analytische Philosophie, Stuttgart usw. 1975; hiernach die Gärtnerparabel, 82 f. 14 Die Debatte zwischen „Gegnern“ und „Befürwortern“ Gottes kann insgesamt jedoch auch in der „Analytischen Philosophie“ als offen gelten zwischen Vertretern wie Flew und John Leslie Mackie (1917–1981) (kritischer Standpunkt) und Argumenten „für“ Gott, wie sie vor allem Richard Swinburne (geb. 1934) vertreten hat. – R. Swinburne, Die Existenz Gottes (The Existence of God), Stuttgart (Reclam) 1987. J. L. Mackie, Das Wunder des Theismus (The Miracle of Theism), Stuttgart (Reclam) 1985; zu Mackie vgl. W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie Bd. 4, Stuttgart 1989, 161 ff. 15 H. Lübbe, Religion nach der Aufklärung, Graz usw. 1986. 16 Vgl. zur „Wiederkehr der Religion“ etwa von evangelischer Seite Fr. W. Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004; von katholischer W. Schweidler (Hrsg.), Postsäkulare Gesellschaft, Freiburg 2008. – Zu einem naturwissenschaftlich inspirierten Atheismus R. Dawkins, Der Gotteswahn (The God Delusion), Berlin 2007. – Unter den Gegenwartsphilosophen hat am deutlichsten Herbert Schnädelbach kritisch zur Religion Stellung bezogen, siehe H. Schnädelbach, Religion in der modernen Welt, Frankfurt 2009. 17 Vgl. A. Hahn – J. Bergmann – Th. Luckmann, Die Kulturbedeutung der Religion in der Gegenwart der westlichen Gesellschaft, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft Religion und Kultur, Opladen 1993, 7–15, 11. 18 Vgl. B. Tibi, Die Krise des modernen Islam, München 1981. – G. Kepel, Die Rache Gottes (La Revanche de Dieu). Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch, München 1991. 19 K. Füssel – E. Füssel, Der verschwundene Körper. Neuzugänge zum Markusevangelium. Edition Exodus, Luzern 2001, 220. 20 J.-P. Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus? in: Drei Essays, Frankfurt 1964, 34 ff. 21 J. B. Metz, Theologie als Theodizee? In: V. Steenblock: Philosophie und Religion. (Aschendorffs Philosophische Textreihe, Kurs 9) Münster 2001, 143. 13 Was ist der Mensch? Philosophische Anthropologie 1 Vgl. O. Marquard, „Anthropologie“ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 1, Basel–Stuttgart 1971, 362 – 374. 2 Gen 1,26 – 28; 3,21– 22. Die Heilige Schrift. Einheitsübersetzung kommentiert. Kommentierung von E. Beck, Stuttgart 1980. 3 Zitiert nach: Sophokles, Antigone (aufgeführt 442 v. Chr.), Erstes Standlied des Chores, übers. von N. Zink, Stuttgart 1981, 31 f. 4 G. Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen. Aus dem Neulateinischen übertragen von H. W. Rüssel, Zürich 1968, 9 f. 5 A. Gehlen, Anthropologische Forschung, Reinbek 1961 u. ö., bes. 69 ff.

Anmerkungen

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6 P. Thiry Baron dHolbach, System der Natur oder: Von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt. Aus dem Französischen übersetzt von F.-G. Voigt, Einleitung von M. Naumann, Berlin 1960, 63, 72; ders., Religionskritische Schriften. Das entschleierte Christentum, Taschentheologie, Briefe an Eugenie. Aus dem Französischen übersetzt von F.-G. Voigt, Einleitung von M. Naumann, Berlin–Weimar 1970; J. Offray de la Mettrie, Der Mensch eine Maschine, Leipzig 1909, neue Ausg.: Die Maschine Mensch, übers. u. hrsgg. von Cl. Becker, Hamburg 1991. 7 Einen ganz anderen Ansatz gewinnt Jean-Jacques Rousseau (1712 –1778) von einer nicht „naturalistischen“, sondern positiv überhöhten Fiktion eines Naturzustandes aus. Analog zum „Sündenfall“-Theorem, in dem sich Erkenntnisfähigkeit und „Sein wie Gott“ als ambivalente Errungenschaft mit dem Sturz aus dem Paradies in die harte irdische Existenz verbinden, bringt auch bei Rousseau die Vertreibung aus dem Naturzustand Sprache und Kultur, aber auch die Korruption zu Eigentum, sozialer Ungleichheit und Herrschaft des Menschen über den Menschen mit sich. Man kann Rousseaus Anklage gegen den „zivilisierten Menschen“ im „Emile“ sehr aktuell lesen: „Alles, was aus der Hand des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen. Er zwingt einen Boden, die Erzeugnisse eines anderen zu züchten, einen Baum, die Früchte eines anderen zu tragen. Er vermischt und verwirrt Klima, Elemente und Jahreszeiten. Er verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seinen Sklaven. Er erschüttert alles, entstellt alles – er liebt die Missbildung, die Monstren. Nichts will er so, wie die Natur es gemacht hat, nicht einmal den Menschen. Er muss ihn dressieren wie ein Zirkuspferd. Er muss ihn seiner Methode anpassen und umbiegen wie einen Baum im Garten.“ Die hier zur Deutung des Menschen herangezogene „Natur“ erscheint als normatives Richtmaß, dem der Mensch entwachsen ist, so dass sein Handeln deswegen als verkehrt und pervertiert erscheint. Nicht eine Erniedrigung des Menschen wird von Rousseaus Bezug des Menschen auf die Natur bewirkt, sondern gerade der Herausfall aus der Naturordnung begründet das Spezifikum des Menschen – freilich auch seine Monstrosität. Vgl. J.-J. Rousseau, Emil oder über die Erziehung, Stuttgart 1976, 107. 8 Vgl. E. Voland, Die Natur des Menschen, München 2007. 9 Diese Vorstellung wird nachhaltig kritisiert in der gegenwärtig klarsten und empfehlenswertesten Darstellung naturalistischer Positionen, nämlich bei Ansgar Beckermann, Das Leib-Seele-Problem. Eine Einführung in die Philosophie des Geistes, Paderborn 2008. Vgl. auch M. Pauen, Was ist der Mensch? Die Entdeckung der Natur des Geistes, München 2007. 10 Vgl. etwa die Debatten in: J.-Ch. Heilinger (Hrsg.), Naturgeschichte der Freiheit („Humanprojekt“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften), Berlin 2007. 11 P. Bieri, Das Handwerk der Freiheit, Wien 2001, 414. 12 P. Bieri, Was macht Bewusstsein zu einem Rätsel? In: Spektrum der Wissenschaft, Okt. 1992, 58 – 56; ders.: Unser Wille ist frei, in: Der Spiegel 2 (2005), 124 –125. 13 U. Eco, Der Name der Rose, München 1986, 168. 14 D. Goleman, Emotionale Intelligenz, Wien 1996, 76.

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Anmerkungen

15 Vgl. K. Blesenkemper, Gefühle geben zu denken. Zur Philosophie der Affekte am Beispiel der Scham. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik Heft 4 (1998), 254 – 265. 14 Zum Abschluss 1 Vgl. P. Bieri, Wie wäre es, gebildet zu sein? In: H.-U. Lessing – V. Steenblock (Hrsg.), „Was den Menschen eigentlich zum Menschen macht …“ – Klassische Texte einer Philosophie der Bildung, Freiburg–München (Alber) 2010, 203 – 217.

Was können wir wissen? Volker Steenblock hat eine Einführung geschrieben, die nicht allzu dick ist, nicht allzu kompliziert und die trotzdem nicht nur Einführungen in die großen Fragen der Philosophie bietet, sondern auch noch Texte zum Weiterdenken – Originaltexte von Nietzsche, Marx und all den anderen. Erfreulicherweise ist Steenblock nicht nur ein Bücherwurm, sondern auch ein Kinofan, und so beschäftigt er sich im Kapitel ›Erkenntnistheorie‹ auch mit dem Film ›Matrix‹ und der darin vertretenen These ›Besser eine schöne Illusion als eine schlechte Wirklichkeit‹. Da kann man trefflich drüber diskutieren! Tja, ›Philosophie‹ heißt ja auch übersetzt ›Freude haben am Denken‹.« www.chrismon.de

Volker Steenblock, geb. 1958, ist Professor für Philosophie und ihre Didaktik in Bochum. Er ist Mitherausgeber der ›Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik‹.

ISBN 978-3-89678-767-5

www.primusverlag.de