Die Erfassung psychischer Erkrankungen in der gesetzlichen Unfallversicherung [1 ed.] 9783428585724, 9783428185726

An der Schnittstelle zwischen medizinischen und sozialversicherungsrechtlichen Fragestellungen widmet sich die Arbeit de

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Die Erfassung psychischer Erkrankungen in der gesetzlichen Unfallversicherung [1 ed.]
 9783428585724, 9783428185726

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Schriften zum Gesundheitsrecht Band 67

Die Erfassung psychischer Erkrankungen in der gesetzlichen Unfallversicherung Von Claire-Kathrin Presting

Duncker & Humblot · Berlin

CLAIRE-KATHRIN PRESTING

Die Erfassung psychischer Erkrankungen in der gesetzlichen Unfallversicherung

Schriften zum Gesundheitsrecht Band 67 Herausgegeben von Professor Dr. Helge Sodan, Freie Universität Berlin, Direktor des Deutschen Instituts für Gesundheitsrecht (DIGR) Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin a.D.

Die Erfassung psychischer Erkrankungen in der gesetzlichen Unfallversicherung

Von

Claire-Kathrin Presting

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hat diese Arbeit im Jahr 2021 als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 1614-1385 ISBN 978-3-428-18572-6 (Print) ISBN 978-3-428-58572-4 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2021/2022 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen. Die Arbeit befindet sich, soweit nicht anders angegeben, auf dem Stand von September 2021. Mein besonderer Dank gilt meiner Doktormutter, Frau Prof. Dr. Katharina von Koppenfels-Spies, die mit wichtigen Impulsen zum Entstehen der Arbeit beigetragen und mich auf dem Weg mit fachlichem und persönlichem Rat begleitet hat. Herrn Prof. Dr. Sebastian Krebber, LL. M. danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens und die lehrreiche Zeit als studentische Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl. Dem Verlag und dem Herausgeber danke ich für die Aufnahme in diese Schriftenreihe. Darüber hinaus möchte ich mich bei allen, die mich während dieser Zeit begleitet haben, ganz herzlich bedanken. Ohne die Unterstützung durch meinen Partner, durch Dissertations-Tandems mit regelmäßigen bestärkenden und motivierenden Treffen sowie durch den allzeitigen freundschaftlichen und familiären Rückhalt wäre das Gelingen dieser Arbeit um ein Vielfaches schwieriger, wenn nicht unmöglich gewesen. Meinen Eltern danke ich für die stetige große Unterstützung und die Ermöglichung meiner juristischen Ausbildung. Freiburg, im Januar 2022

Claire-K. Presting

Inhaltsverzeichnis

Einleitung 

17

A. Gegenstand der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1. Kapitel

Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall in der gesetzlichen Unfallversicherung nach aktuellem Stand 

21

A. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begriff der psychischen Erkrankungen im Kontext der gesetzlichen Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Historie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Aktuelle Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

B. Erfassung psychischer Erkrankungenals Versicherungsfall . . . . . . . . . . . . . . . I. Psychische Erkrankungen im Rahmen des Arbeitsunfalls . . . . . . . . . . . . . 1. Die Anerkennung als Arbeitsunfall gem. § 8 Abs. 1 SGB VII . . . . . . . a) Zurechnung einer Verrichtung zur versicherten Tätigkeit . . . . . . . . aa) Versicherte Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Erfüllung des Versicherungstatbestandes . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unfallereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Von außen einwirkend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zeitlich begrenzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unfallkausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Theorie der wesentlichen Bedingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vermutung der Unfallkausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Konkurrenzursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Innere Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Allgemein wirkende Gefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Privat motivierte Überfälle auf Beschäftigte . . . . . . . . . . . d) Gesundheitsschaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Haftungsbegründende Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand . . . . . . . . . . . . .

30 31 31 31 31 32 32 34 35 35 37 38 39 41 42 42 44 45 45 47 48

21 24 27 29

8 Inhaltsverzeichnis bb) Gelegenheitsursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 f) Gesundheitsfolgeschäden und haftungsausfüllende Kausalität . . . . 50 g) Verfahrens- und Beweisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 aa) Beweismaßstab für rechtserhebliche Tatsachen . . . . . . . . . . . . 52 bb) Beweismaßstab für Kausalzusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . 52 cc) Umgang mit medizinischen Sachverständigengutachten . . . . . 54 dd) Keine Beweislastumkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 ee) Grundsatz der objektiven Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 h) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2. Probleme bei der Anerkennung als Arbeitsunfall  . . . . . . . . . . . . . . . . 57 a) Probleme bei der Feststellung des Unfallereignisses  . . . . . . . . . . . 57 aa) Zeitliche Begrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 (1) Kriterium der zeitlichen Begrenzung häufig nicht erfüllt . 57 (2) PTBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 (3) Fälle psychischer Gewalt, insbesondere Mobbing  . . . . . . 62 bb) Von außen einwirkendes Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 (1) Voraussetzung der Änderung des physiologischen Körperzustandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 (2) Fälle einer nur eingebildeten Zugkollision und Beinaheunfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 cc) Mindestintensität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 b) Probleme bei der Feststellung des Gesundheitsschadens . . . . . . . . 71 aa) Notwendige exakte Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 bb) Missverständnis um das Erfordernis eines Gesundheits„erst“-schadens bei der PTBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 cc) Nachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 c) Probleme bei der Feststellung der haftungsbegründenden Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 aa) Beurteilung des Kausalzusammenhangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 (1) Gelegenheitsursache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 (2) Missverhältnis oder zeitlich verzögertes Auftreten bei Unfallereignis und psychischer Reaktion  . . . . . . . . . . . . . 80 (3) Bewusstseinsnahe Begehrensvorstellungen . . . . . . . . . . . . 81 bb) Nachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 II. Psychische Erkrankungen im Rahmen der Berufskrankheit . . . . . . . . . . . 85 1. Die Anerkennung als Berufskrankheit gem. § 9 Abs. 1 SGB VII  . . . . 86 a) Abstrakte Anerkennung als Listen-Berufskrankheit . . . . . . . . . . . . 87 aa) Abgrenzung zu arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren und Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 bb) Die Berufskrankheiten-Liste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 (1) Ermächtigung der Bundesregierung als Verordnungsgeberin gem. § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

Inhaltsverzeichnis9 (2) Listensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 (3) Normenstruktur der Berufskrankheiten-Tatbestände . . . . . 92 cc) Voraussetzungen für die abstrakte Anerkennung . . . . . . . . . . . 93 (1) Krankheit und besondere Einwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . 93 (2) Genereller Ursachenzusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 (3) Einwirkungsexposition einer bestimmten Personengruppe in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 (4) Funktion des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Berufskrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 b) Konkrete Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 aa) Die Voraussetzungen gem. § 9 Abs. 1 S. 1 SGB VII . . . . . . . . 100 bb) Beweis- und Verfahrensfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. Die Anerkennung als Wie-Berufskrankheit gem. § 9 Abs. 2 SGB VII . 103 a) Funktion von § 9 Abs. 2 SGB VII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 b) Voraussetzungen der Anerkennung als Wie-Berufskrankheit . . . . . 104 c) Psychische Erkrankungen im Rahmen der Wie-Berufskrankheit . . 106 aa) PTBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 (1) Personengruppe der im Ausland im Bereich der Entwicklungshilfe Tätigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 (2) Personengruppe der Ersthelfenden bei traumatischen Ereignissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 bb) Erkrankungen infolge von beruflichem Stress generell . . . . . . 112 cc) Burn-out Syndrom im Speziellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 dd) Mobbing im Speziellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 ee) Sonstige psychische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3. Probleme bei der Anerkennung als Berufskrankheit . . . . . . . . . . . . . . . 116 a) Probleme bei der abstrakten Anerkennung als Listen-Berufskrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 aa) Sozialpolitische Erwägungen für die Aufnahme als ListenBerufskrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 bb) Ermittlung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes . . . . . . . 118 cc) Ärztlicher Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten . . . . . . . 122 dd) Uneinheitlichkeit der Berufskrankheiten-Tatbestände . . . . . . . 124 ee) Systembedingter Ausschluss bestimmter Erkrankungen . . . . . 125 b) Probleme bei der konkreten Anerkennung als Berufskrankheit . . . 127 c) Probleme bei der Anerkennung als Wie-Berufskrankheit . . . . . . . . 128 d) Vergleich auf europäischer Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 e) Bewertung der Änderungen durch das Siebte Gesetz zur Änderung des SGB IV und anderer Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 f) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

10 Inhaltsverzeichnis 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 C. Gesamtbetrachtung des 1. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2. Kapitel

Analyse im Hinblick auf Gründe für eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen in der gesetzlichen Unfallversicherung 

139

A. Die hinter dem versicherten Personenkreis und den Versicherungsfällen stehenden Grundprinzipien und Vergleich des Leistungsniveaus mit gesetzlicher Kranken- und Rentenversicherung   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 I. Versicherter Personenkreis und Versicherungsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 II. Telos der gesetzlichen Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Die Grundprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Veränderungen in der gesetzlichen Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . 143 a) Ausdehnung des versicherten Personenkreises . . . . . . . . . . . . . . . . 143 b) Ausdehnung des Versicherungsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 aa) Berufskrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 bb) Wegeunfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3. Folgerungen für die Erfassung psychischer Erkrankungen  . . . . . . . . . 148 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 III. Vergleich des Leistungsniveaus der gesetzlichen Unfallversicherung mit dem der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . 150 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 2. Das Leistungsniveau bestimmende Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 3. Leistungsniveau bei Heilbehandlung und Geldleistungen während der Heilbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 4. Leistungsvoraussetzungen und -niveau bei Renten . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 B. Die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung in Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zuständigkeitsverteilung innerhalb der Prävention . . . . . . . . . . . . . b) Verschiedene Bereiche der Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Psychotherapeutenverfahren der DGUV  . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Problem der Meldung von Unfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Entschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . .

159 159 159 160 161 165 166 166 169 170 171 171

Inhaltsverzeichnis11 b) Aberkennung der Minderung der Erwerbsfähigkeit und Entzug der Verletztenrente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Folgerungen für die Erfassung psychischer Erkrankungen . . . . . . . . . . . . III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175 177 177 178 179

C. Gesamtbetrachtung des 2. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 3. Kapitel

Lösungsansätze 

182

A. Lösungsansätze im Rahmen des Arbeitsunfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Exkurs: Soziales Entschädigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Lösungsansätze in rechtlicher Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung eines zusätzlichen Versicherungsfalls „wiederkehrendes Ereignis“ vergleichbar § 1 Abs. 3 SGB XIV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beweislastumkehr vergleichbar § 4 Abs. 5 SGB XIV . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

182 182 184

B. Lösungsansätze im Rahmen der Berufskrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Lösungsansätze in tatsächlicher Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ermittlung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes . . . . . . . . . . . . . 2. Verbesserungen beim Ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Lösungsansätze in rechtlicher Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aufnahme einer neuen Listen-Berufskrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einführung von Beweiserleichterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einführung einer Härtefallklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

190 191 191

184 187 190 190

192 194 195 195 198 202 203 204

C. Gesamtbetrachtung des 3. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 4. Kapitel

Zusammenfassung 

206

Literatur- und Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 A. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 B. Weitere Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

Abkürzungsverzeichnis 7. SGB IV-ÄndG

Siebtes Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze

a. F.

alte Fassung

ABl. EU

Amtsblatt der Europäischen Union

Abs. 

Absatz

AEUV

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

AGV MoVe

Arbeitgeberorganisation und Wirtschaftsverband der Mobilitäts- und Verkehrsdienstleister

Anl.

Anlage

ArbSchG

Arbeitsschutzgesetz

Art. 

Artikel

ASiG

Arbeitssicherheitsgesetz

ASUMed

Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Umweltmedizin, Zeitschrift für Prävention

ÄSVB

Ärztlicher Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten

Aufl.

Auflage

Ausschuss-Drs. Ausschussdrucksache AWMF

Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich-medizinischen Fach­ gesellschaften

BAuA

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin

BB

Betriebs-Berater

Bd. 

Band

BeckOK

Beckʼscher Online-Kommentar Sozialrecht

BEPR

Betriebliche Prävention

BfArM

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte

BG

Die Berufsgenossenschaft

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGBl. 

Bundesgesetzblatt

BGH

Bundesgerichtshof

BK Berufskrankheit BKV

Berufskrankheitenverordnung

BMAS

Bundesministerium für Arbeit und Soziales

BMI

Bundesministerium des Innern

Abkürzungsverzeichnis13 BPUVZ

Zeitschrift für betriebliche Prävention

BR-Drs. Bundesratsdrucksache BSG

Bundessozialgericht

BSGE

Entscheidungen des Bundessozialgerichts

Bsp. Beispiel bspw. beispielsweise BT-Drs. Bundestagsdrucksache BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVG Bundesversorgungsgesetz bzw.

beziehungsweise

D-Arzt bzw. D-Ärztin Durchgangsarzt bzw. Durchgangsärztin dass.

dasselbe

DDR

Deutsche Demokratische Republik

DGUV

Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e. V., Spitzenverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften und Unfallkassen

DIMDI

Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information

Drs. Drucksache DSM

Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft

DSM-5

5. Version des Diagnostischen und statistischen Manuals psychischer Störungen der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft

DVfR

Deutsche Vereinigung für Rehabilitation

Ed.

Edition

EFZG

Entgeltfortzahlungsgesetz

Einl.

Einleitung

EMRK

Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten

ErfK

Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht

EU

Europäische Union

EuArbRK

Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht

f.

folgende

Fn. 

Fußnote

FS

Festschrift

GDA

Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie

GDL

Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer

14 Abkürzungsverzeichnis GdS

Grad der Schädigung

GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

GUV

gesetzliche Unfallversicherung

Hdb. soz.gerichtl. Verfahren

Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens

HdBSozVersR/ Bd. 2 UV

Handbuch des Sozialversicherungsrecht, Band 2 Unfallversicherungsrecht

Hrsg.

Herausgeber

hrsg.

herausgegeben

Hs.

Halbsatz

HVBG

Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften

i. d. F.

in der Fassung

i. E.

im Ergebnis

i. R. d.

im Rahmen der/der

i. R. e.

im Rahmen eines/einer

i. S. d.

im Sinne des/der

i. V. m.

in Verbindung mit

IAG

Institut für Arbeit und Gesundheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung

ICD

Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO

ICD-10

10. Version der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO

ICD-11

11. Version der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO

ICF

Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit

ILO

Internationale Arbeitsorganisation

JAV Jahresarbeitsverdienst JbSozR

Jahrbuch des Sozialrechts

jurisPR

juris PraxisReport

Kap. 

Kapitel

KassKomm

Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht

KOVVfG

Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsversorgung

LSG

Landessozialgericht

m. w. N.

mit weiteren Nachweisen

MAH

Münchener Anwaltshandbuch

MdE

Minderung der Erwerbsfähigkeit

Abkürzungsverzeichnis15 MEDSACH Der Medizinische Sachverständige n. F. neue Fassung Nr.  Nummer NZA Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht NZS Neue Zeitschrift für Sozialrecht NZV Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht o. oben OECD Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OEG Opferentschädigungsgesetz OR Schweizerisches Obligationenrecht PTBS Posttraumatische Belastungsstörung RGBl. Reichsgesetzblatt RL Richtlinie Rn.  Randnummer RP Reha Recht und Praxis der Rehabilitation Rspr. Rechtsprechung RVA Reichsversicherungsamt RVO Reichsversicherungsordnung s. siehe S.  Satz S. Seite SER Soziales Entschädigungsrecht SG Sozialgericht SGb Die Sozialgerichtsbarkeit SGB Sozialgesetzbuch SGG Sozialgerichtsgesetz sog. sogenannte/r/s SozR Entscheidungssammlung Sozialrecht SozSich Soziale Sicherheit: Zeitschrift für Arbeit und Soziales SozVers Die Sozialversicherung SR Soziales Recht, wissenschaftliche Zeitschrift für Arbeit- und Sozialrecht SRH Sozialrechtshandbuch StGB Strafgesetzbuch St.Rspr. Ständige Rechtsprechung SVG Soldatenversorgungsgesetz TK Techniker Krankenkasse u. und

16 Abkürzungsverzeichnis u. a. unter anderem Urt. Urteil usw. und so weiter UV Unfallversicherung UVEG Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz UVG Unfallversicherungsgesetz v. vom/von v. H. vom Hundert VersR Versicherungsrecht vgl. vergleiche VO Verordnung VSSAR Vierteljahresschrift für Sozial- und Arbeitsrecht VSSR Vierteljahresschrift für Sozialrecht VVG Versicherungsvertragsgesetz VwGO Verwaltungsgerichtsordnung WHO Weltgesundheitsorganisation WzS Wege zur Sozialversicherung z. B. zum Beispiel Zbl Arbeitsmed Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie ZFSH/SGB Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch Ziff. Ziffer zit. zitiert ZVersWiss Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft

Einleitung A. Gegenstand der Untersuchung Die Arbeitswelt hat sich durch technische Innovationen, Globalisierung, demografischen Wandel, zunehmende Dienstleistungsorientierung und weitere Faktoren verändert. Das wirkt sich auch auf die Arbeitsanforderungen aus. Die physische Arbeitsbelastung geht zurück, die psychische steigt an. Daraus folgt die Notwendigkeit einer konsequenten Eingliederung psychischer Belastungen in die Systeme und Vorgehensweisen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes.1 Auch die ökonomische Perspektive spricht hierfür. Psychische Erkrankungen verursachen einen bedeutenden Verlust an potenzieller Arbeitskraft und sind für Arbeitslosigkeit, eine Vielzahl krankheitsbedingter Fehltage und verringerte Produktivität bei der Arbeitstätigkeit verantwortlich.2 Dies bedeutet aber nicht zwingend, dass die Prävalenz psychischer Erkrankungen in der Gesellschaft zugenommen hat.3 Man nimmt eher an, dass heute mehr Fälle identifiziert werden aufgrund verringerter Stigmatisierung und Diskriminierung und einer größeren öffentlichen Aufmerksamkeit.4 Zwar werden im Zusammenhang mit psychischen Belastungen am Arbeitsplatz oftmals psychische Erkrankungen in den Vordergrund gestellt – auch die vorliegende Untersuchung befasst sich vor allem mit psychischen Erkrankungen. Aber darüber hinaus können psychische Belastungen auch somatische Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen verursachen5 und das Risiko, dass es zu einem Arbeitsunfall kommt, erhöhen.6 In Politik und Wissenschaft wird die Problematik seit einigen Jahren verstärkt behandelt. Hervorzuheben ist die 2020 gestartete „Offensive PsychiSchütte/Rothe, ASUMed (Sonderheft) 2018, 6. Sick on the Job?, S. 11. 3  BAuA: Rothe et al., Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt, S. 79; Cusumano et al., SR 2017, 58 (59). 4  OECD, Sick on the Job?, S. 11. 5  BAuA: Rothe et al., Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt, S. 12 f., m. w. N., auch für Rückenschmerzen und weitere Beschwerden des Muskel-Skelett-Systems werden psychosoziale berufliche Faktoren als bedeutsam eingeordnet; vgl. zu stressbedingten Erkrankungen: Cusumano et al., SR 2017, 58 (61); Oppolzer, BG 2000, 508; Portmann, ARV/DTA 2008, 1 (3). 6  Cusumano et al., SR 2017, 58 (59). 1  Vgl.

2  OECD,

18 Einleitung

sche Gesundheit“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) gemeinsam mit dem Bundesministerium für Gesundheit und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, einer Ressortforschungseinrichtung im Geschäftsbereich des BMAS, laufen derzeit mehrere Forschungsprojekte zu psychischer Gesundheit,7 insbesondere veröffentlichte sie 2017 das Projekt „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Wissenschaftliche Standort­be­ stimmung“8 als Zusammenfassung des Wissensstandes darüber, welche arbeitsbezogenen Faktoren die psychische Gesundheit beeinflussen. Es wird angenommen, dass man durch die dortigen Ergebnisse bedeutsame Zusammenhänge zwischen Arbeitsbedingungen und psychischer Gesundheit be­ legen könne, der überwiegende Teil der Studien lasse aber bislang keine (rechtlich verwertbaren) Kausalaussagen zu.9 Während 2019 psychische Erkrankungen den ersten10 beziehungsweise zweiten11 Platz als Ursache für die meisten Arbeitsunfähigkeitstage ausmachten und die Neuzugänge an Erwerbsminderungsrenten in der gesetzlichen Rentenversicherung wegen psychischer Erkrankungen mit 41,7 % die größte Diagnosegrundgruppe12 ausmachten, divergiert die Anzahl an Fällen, die von der gesetzlichen Unfallversicherung anerkannt wurden, dazu stark: 2019 lag der Anteil an Neuzugängen bei den Arbeitsunfallrenten für „Sonstige (v. a. Psyche)“ bei 1,1 %.13 Bei der Anzahl meldepflichtiger Arbeitsunfälle gem. § 8 SGB VII nach „verletztem Körperteil“ werden psychische Gesundheitsschäden nicht aufgeführt,14 sodass die Anzahl anerkannter Arbeitsunfälle mit psychischem Gesundheitsschaden unklar bleibt. Unter den anerkannten 7  Die laufenden und abgeschlossenen Projekte sind abrufbar unter: https://www. baua.de/DE/Themen/Arbeit-und-Gesundheit/Psychische-Gesundheit/_functions/ BereichsPublikationssuche_Formular.html?nn=8702138 (abgerufen am 16.12.2021). 8  BAuA: Rothe et al., Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt. 9  Schütte/Rothe, ASUMed (Sonderheft) 2018, 6 (7); Bamberg, ASUMed (Sonderheft) 2018, 60, es bedürfe deshalb verstärkt sog. Längsschnitt- und Verlaufsstudien. 10  TK Gesundheitsreport 2020, S. 5, abrufbar unter: https://www.tk.de/resource/ blob/2081662/6382c77f2ecb10cc0ae040de07c6807f/gesundheitsreport-au-2020-data. pdf (abgerufen am 16.12.2021). 11  Barmer Gesundheitsreport 2020, S. 10, abrufbar unter: https://www.bifg.de/ media/dl/Reporte/Gesundheitsreporte/barmer-gesundheitsreport-2020.pdf (abgerufen am 16.12.2021); DAK Gesundheitsreport 2020, S. IX, abrufbar unter: https://www. dak.de/dak/download/report-2372398.pdf (abgerufen am 16.12.2021); TK, Barmer und DAK stellen die drei größten gesetzlichen Krankenkassen dar. 12  Abrufbar unter: https://www.deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/Down loads/DE/Statistiken-und-Berichte/statistikpublikationen/erwerbsminderungsrenten_ zeit-ablauf_2021.pdf?__blob=publicationFile&v=7 (abgerufen am 16.12.2021). 13  DGUV, Arbeitsunfallgeschehen 2019, S. 58. 14  DGUV, Arbeitsunfallgeschehen 2019, S. 53.



A. Gegenstand der Untersuchung19

Fällen von Berufskrankheiten gem. § 9 Abs. 1 SGB VII findet sich keine einzige psychische Erkrankung,15 auch fand noch nie die Anerkennung als sogenannte Wie-Berufskrankheit gem. § 9 Abs. 2 SGB VII statt.16 Dieser Unterschied mag überraschen und regt dazu an, das System der gesetzlichen Unfallversicherung im Hinblick auf die Erfassung psychischer Erkrankungen zu untersuchen. An bestehenden Beiträgen zu der Thematik sind insbesondere die Aufsätze von Spellbrink17 hervorzuheben. Die Untersuchungen von Tieste und von Trotha beschäftigen sich mit der verwandten Frage der Haftung von Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen18 bei stressbedingten Erkrankungen.19 Auf der Untersuchung von Hollo,20 die das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten transparent darstellt, konnte in vielerlei Hinsicht aufgebaut werden. Welter-Birk21 widmet sich der Frage nach dem Entscheidungsspielraum der Bundesregierung bei Berufskrankheiten, der auch für die Aufnahme einer psychischen Erkrankung als ListenBerufskrankheit eine Rolle spielt. Schemmel22 untersucht unter anderem, ob das Burn-out Syndrom als Berufskrankheit anerkannt werden könnte. Es fehlt jedoch eine zusammenhängende Untersuchung, die anstelle einzelner Aspekte ein vollständiges Bild der Erfassung psychischer Erkrankungen in der gesetzlichen Unfallversicherung bietet. Die folgende Untersuchung widmet sich zunächst dem Status Quo und den Problemen im aktuellen Recht bei der Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall in der Unfallversicherung. Sodann wird untersucht, ob und welche Gründe für eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen in der Unfallversicherung als bisher sprechen und dafür, den Problemen bei der Anerkennung als Versicherungsfall entgegenzuwirken. Schließlich werden Lösungsansätze in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht in den Blick genommen und bewertet.

DGUV, Statistiken für die Praxis 2019, S. 60. nur DGUV, Erfahrungen mit § 9 Abs. 2 SGB VII, 7. Bericht, S. 15 ff., für den Berichtszeitraum 2012–2017, psychische Erkrankungen stellten übrigens im angegebenen Zeitraum mit 294 Fällen die zweitgrößte Gruppe von Ablehnungen als Wie-Berufskrankheit dar, vgl. S. 25. 17  Vgl. neben weiteren insbesondere Spellbrink, SGb 2013, 154; Spellbrink, ­SozSich 2019, 32. 18  Die Verwendung des generischen Maskulinums bzw. Femininums schließt gleichermaßen Personen jeden Geschlechts ein. 19  Tieste, Haftungsfall Stresserkrankung; von Trotha, Stress am Arbeitsplatz. 20  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten. 21  Welter-Birk, Der Entscheidungsspielraum der Bundesregierung bei Berufskrankheiten. 22  Schemmel, Haftungsfall Burn-Out. 15  Vgl. 16  Vgl.

20 Einleitung

Trotz medizinisch-psychologischer Berührungspunkte ist die folgende Untersuchung eine juristische und versucht, keine Anmaßungen hinsichtlich medizinisch- oder psychologisch-wissenschaftlicher Wertungen vorzunehmen.

B. Gang der Untersuchung Im ersten Kapitel wird nach einer Einführung behandelt, inwiefern psychische Erkrankungen im aktuellen Recht in der gesetzlichen Unfallversicherung als Versicherungsfall, also als Arbeitsunfall oder Berufskrankheit, erfasst werden können, und welche Probleme sich dabei stellen. Im zweiten Kapitel wird untersucht, ob und welche Gründe für eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen in der Unfallversicherung sprechen, als es im aktuellen Recht der Fall ist. Dazu werden die hinter dem versicherten Personenkreis und den Versicherungsfällen stehenden Grundprinzipien untersucht und in Zusammenhang damit das Leistungsniveau mit dem der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung verglichen. Auch werden die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung in den Blick genommen. Im dritten Kapitel liegt das Augenmerk auf Lösungsansätzen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht für die beiden Versicherungsfälle Arbeitsunfall und Berufskrankheit, um die Erfassung psychischer Erkrankungen in der gesetzlichen Unfallversicherung insgesamt zu verbessern. Im vierten Kapitel werden die gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst.

1. Kapitel

Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall in der gesetzlichen Unfallversicherung nach aktuellem Stand Die vorliegende Untersuchung wird zunächst die grundlegende Frage klären, wie der aktuelle Stand der Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall in der gesetzlichen Unfallversicherung nach derzeitiger Rechtslage ist und welche Probleme sich dabei stellen. Dazu erfolgt zunächst ein Überblick über die Begrifflichkeiten, die Historie und die aktuelle Diskussion in Rechtsprechung und Literatur. Anschließend werden die beiden Versicherungsfälle der Unfallversicherung, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, untersucht.

A. Überblick I. Begriff der psychischen Erkrankungen im Kontext der gesetzlichen Unfallversicherung Es existiert eine Vielzahl psychischer Erkrankungen, doch nicht alle spielen eine Rolle für die gesetzliche Unfallversicherung. Denn für sie sind nur solche Erkrankungen und Gesundheitsschäden entscheidend, die durch einen Arbeitsunfall ausgelöst wurden oder eine Berufskrankheit oder eine arbeitsbedingte Gesundheitsgefahr darstellen, vgl. § 1 SGB VII, und damit in einem Zusammenhang zur Arbeitstätigkeit stehen. Deshalb ist zunächst darzustellen, was gemeint ist, wenn im Kontext der gesetzlichen Unfallversicherung von psychischen Erkrankungen gesprochen wird. Dies erfordert zunächst eine Klarstellung zur Verwendung des Begriffs der „Erkrankung“, weil dieser in Psychologie und Psychiatrie nicht gebräuchlich ist. Zudem sind psychische Erkrankungen begrifflich von psychischen Belastungen zu unterscheiden. Schließlich ist zu erläutern, welche psychischen Erkrankungen am ehesten mit der Arbeitstätigkeit in Verbindung gebracht werden können und was man unter diesen in medizinisch-wissenschaftlicher Hinsicht versteht.

22

1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

Im Bereich der Psychologie und der Psychiatrie ist nicht die Rede von psychischen Erkrankungen, sondern von Störungen. So heißt das 5. Kapitel der 10. Version der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation (WHO), das sich mit psychischen Erkrankungen beschäftigt, „Psychische und Verhaltensstörungen“.1 Der Terminuswechsel hin zum Begriff der „Störung“ sollte eine Stigmatisierung von psychisch Erkrankten verhindern. Das wird mittlerweile kritisiert, deutet doch der Begriff „Störung“ auf eine Dysfunktion hin, nicht auf eine Erkrankung, und auch umgangssprachlich wird „gestört sein“ sehr abwertend verwendet.2 Aus Gründen der Rechtsklarheit wird für diese Untersuchung der Begriff „Erkrankung“ und „Krankheit“ verwendet. In den Leistungsnormen des deutschen Sozialrechts ist die Rede von Krankheiten. Die Verwendung des Begriffs soll einheitlich erfolgen und keine wertende Abstufung der psychischen gegenüber den somatischen Erkrankungen vermitteln.3 Der Begriff der psychischen Belastungen ist nicht gleichzusetzen mit dem der psychischen Erkrankungen. Nicht jede psychische Belastung führt zu einer psychischen Erkrankung. Psychische Belastungen werden in der DIN EN ISO 10075-14 definiert als Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken. Die Definition an sich ist wertfrei.5 Für die Prävention sind aber vor allem die negativ wirkenden Belastungen von Bedeutung.6 Psychische Erkrankungen werden nach zwei internationalen Standardwerken klassifiziert. Es existieren das „Diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen DSM-5“ (DSM-5) der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft7 sowie die ICD-10,8 das von der WHO verfasste Klassifikationssystem für Krankheiten. Die neuere Fassung ICD-11 wird voraussichtlich 2022 in Kraft treten.9 Die für die vorliegende Untersuchung relevanten Erkrankungen werden im Folgenden anhand der ICD-10 erläutert.

1  BfArM,

ICD-10-GM Version 2021. Rechtslage und Fallstricke bei psychischen Erkrankungen, S. 18. 3  So auch Spellbrink, SGb 2013, 154 (155); vgl. § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V oder auch § 9 Abs. 1 S. 1 SGB VII „Berufskrankheiten sind Krankheiten […]“. 4  DIN Deutsches Institut für Normung e. V., DIN EN ISO 10075-1. Ergonomische Grundlagen bezüglich psychischer Arbeitsbelastung. 5  Metz/Rothe, SPA – Screening psychischer Arbeitsbelastung, S. 4. 6  Metz/Rothe, SPA – Screening psychischer Arbeitsbelastung, S. 4. 7  Falkai et al., DSM-5. 8  BfArM, ICD-10-GM Version 2021. 9  Widder, MEDSACH 2020, 102. 2  Oehler,



A. Überblick23

Nicht alle im 5. Kapitel der ICD-10 aufgeführten Erkrankungen können in einen Zusammenhang mit einer Arbeitstätigkeit gebracht werden. Der Gesundheitsreport 2019 des Dachverbandes der Betriebskrankenkassen (BKK) widmete sich im Schwerpunkt dem Thema Psychische Gesundheit und Arbeit und stellte hierbei fest, dass 92,7 % der Arbeitsunfähigkeitsfälle und 92,1 % der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen auf affektive beziehungsweise neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen zurückgehen.10 Die häufigste Einzeldiagnose bei Beschäftigten mit einer psychischen Erkrankung sind die depressive Episode (ICD-10: F32), somatoforme Störungen (ICD-10: F45) sowie Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (ICD-10: F43).11 Das lässt vermuten, dass diese Erkrankungen am ehesten mit der Arbeitstätigkeit in Zusammenhang gebracht werden können.12 Die depressive Episode zählt zu den affektiven Störungen. Laut ICD10: F3213 zeichnen sich die typischen leichten, mittelgradigen oder schweren Episoden durch eine gedrückte Stimmung und eine Verminderung von Antrieb und Aktivität aus. Auftreten können eine Minderung der Fähigkeit zu Freude, des Interesses und der Konzentration, ausgeprägte Müdigkeit schon durch kleinste Anstrengungen, Schlafstörungen, Appetitminderung und Beeinträchtigung von Selbstwertgefühl und -vertrauen. Somatoforme Störungen nach ICD-10: F45 werden dadurch gekennzeichnet, dass Erkrankte wiederholt körperliche Symptome schildern und hartnäckig eine medizinische Untersuchung verlangen, obwohl diese wiederholt negative Ergebnisse gebracht hat und trotz der Versicherung der Ärztinnen und Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind. Zu den Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen zählen insbesondere die akute Belastungsstörung (ICD-10: F43.0), die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) (ICD-10: F43.1) und die Anpassungsstörung (ICD-10: F43.2). Unter der akuten Belastungsstörung nach ICD-10: F43.0 wird eine vorübergehende Störung verstanden, deren Entwicklung bei einem psychisch nicht manifest gestörten Menschen als Reaktion auf eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung erfolgt. Sie klingt normalerweise innerhalb von Stunden oder Tagen ab und zeichnet sich durch ein gemischtes und wechselndes Bild aus. Darunter können eine 10  BKK Gesundheitsreport 2019, abrufbar unter: https://www.bkk-dachverband.de/ fileadmin/Artikelsystem/Publikationen/2019/BKK_Gesundheitseport_2019_eBook. pdf (abgerufen am 16.12.2021), S. 22. 11  BKK Gesundheitsreport 2019, S. 23. 12  Vgl. auch Schneider/Weber-Papen, in: Ludolph, Unfallmann: Kap. 17 S. 500 zu den klassischen psychoreaktiven Erkrankungen nach Unfall-/Schadensereignissen. 13  Vgl. Anhang S. 228.

24

1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

Art von „Betäubung“, Bewusstseinseinengung, eingeschränkte Aufmerksamkeit, Unfähigkeit zur Reizverarbeitung und Desorientiertheit fallen. Darauf kann ein weiterer Rückzug vor Umweltreizen erfolgen, aber auch ein Unruhezustand und Überaktivität. Die PTBS nach ICD-10: F43.1 entsteht als verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Die PTBS wird typischerweise gekennzeichnet durch das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen, Träumen oder Albträumen, das vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubung und emotionaler Stumpfheit stattfindet. Merkmale können auch die Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen können, sein. Meist geht die PTBS mit vegetativer Übererregtheit, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörungen einher. Häufig sind auch Angst und Depressionen, nicht selten kommt es zu Suizidgedanken. Die PTBS beginnt wenige Wochen bis Monate nach dem Trauma. Zwar ist der Verlauf wechselhaft, überwiegend kann aber eine Heilung erwartet werden. Allerdings ist auch ein chronischer Verlauf möglich. Anpassungsstörungen nach ICD-10: F43.2 treten während des Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensveränderung oder nach belastenden Lebensereignissen auf. Es handelt sich dabei um einen Zustand von subjektiver Bedrängnis und emotionaler Beeinträchtigung, der im Allgemeinen soziale Funktionen und Leistungen behindert.

II. Historie Zum ersten Mal erhielten psychische Erkrankungen als Unfallfolgen Aufmerksamkeit im Jahr 1866, als aus England vom sogenannten Railway Spine-Syndrom berichtet wurde, bei welchem auf Erschütterungen des Rückenmarks wie bei abruptem Bremsen bei Eisenbahnunglücken eine allgemeine Nervosität und Ängstlichkeit folgten.14 Oppenheim entwickelte dazu das Leiden der „traumatischen Neurose“,15 die er nicht als psychische, sondern funktionelle, somatische Erkrankung einordnete.16 14  Ricke,

SGb 2013, 262; Thomann/Rauschmann, ZVersWiss 2003, 533 (535 ff.). Die traumatischen Neurosen nach den in der Nervenklinik in der Charité in den letzten fünf Jahren gesammelten Beobachtungen; sh. ausführlich zur Entwicklung der traumatischen Neurose aus dem Railway Spine-Syndrom: FischerHomberger, Die traumatische Neurose, S. 16 ff. 15  Oppenheim,



A. Überblick25

In der 1884 eingeführten gesetzlichen Unfallversicherung hatte die Geltendmachung psychischer Erkrankungen als Unfallfolge zunächst überwiegend Erfolg, was sicherlich auch eine Folge des fehlenden medizinischen Kenntnisstandes war. So wurde der Kausalzusammenhang teils mit noch nicht genau ergründbaren morphologischen Vorgängen begründet.17 Eine Disposition der Versicherten zu psychischen Erkrankungen sprach damals eher für eine Anerkennung, weil durch sie die Reaktion nach damaliger Argumentation gerade begünstigt wurde.18 Dies trug zum sowieso schon schlechten Ruf der gesetzlichen Unfallversicherung bei, wurde diese doch zur damaligen Zeit als Hemmnis der Arbeitskraft gesehen, weil sie die Arbeiterschaft dazu bringe, Unfälle zum Erhalt von Renten auszunutzen.19 Die zweite und letzte gerichtliche Instanz für Fälle der gesetzlichen Unfallversicherung war von 1884 bis 1945 das Reichsversicherungsamt (RVA). Dessen Rechtsprechung zu psychischen Erkrankungen war in den Jahren bis 1926 zwar uneinheitlich, aber großzügig.20 Das änderte sich mit der Entscheidung des RVA vom 24. September 1926.21 Es definierte auffälliges Verhalten und subjektive Klagen über nervöse Beschwerden, die zeitlich nach Unfällen einsetzten, als „Unfallneurose“. Diese sei jedoch keine Krankheit im gewöhnlichen Sinn, sondern die „psychologisch verständliche Reaktion, in erster Linie auf die Tatsache der Versicherung und das Entschädigungsverfahren als solches“.22 Das RVA hielt die Unfallneurosen folglich nur für eingebildete Erkrankungen, verursacht durch den Wunsch, eine Unfallentschädigung zu erhalten. Dazu argumentierte das RVA, die entsprechenden Krankheitsbilder würden bei Nichtversicherten nicht auftreten, also bei „Kriegsgefangene[n], Kinder[n], Studenten nach Mensuren, Sportsleute[n] oder Hausfrauen“. Ohne Bezugnahme auf konkrete Zahlen sei ihr Auftreten besonders häufig bei den an ihrer wirtschaftlichen Lebenssicherung Interessierten wie „ältere[n] Leute[n], berufstätige[n] Frauen und konstitutionell Nervöse[n]“.23

16  Fischer-Homberger,

Die traumatische Neurose, S. 33 f. SGb 2013, 262 (262 ff.). 18  Ricke, SGb 2013, 262 (264 f.). 19  Bernhard, Unerwünschte Folgen der deutschen Sozialpolitik, S. 47. 20  Ricke, SGb 2013, 262 (265). 21  RVA, v. 24.09.1926 – Ia 1609/25 und 1610/25, AN 1926, 480; vgl. auch Thomann/Rauschmann, ZVersWiss 2003, 533 (550 f.); Ricke, SGb 2013, 262 (265). 22  RVA, v. 24.09.1926 – Ia 1609/25 und 1610/25, AN 1926, 480; vgl. Ricke, SGb 2013, 262 (265). 23  RVA, v. 24.09.1926 – Ia 1609/25 und 1610/25, AN 1926, 480 (481); Ricke, SGb 2013, 262 (265). 17  Ricke,

26

1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

Eine Abkehr von der Rechtsprechung des RVA fand durch das Bundes­ sozialgericht (BSG) in seiner Grundsatzentscheidung von 196224 statt. Zwar meinte auch das BSG, ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang sei in der Regel zu verneinen, wenn die psychische Reaktion wesentlich die Folge einer wunschbedingten Vorstellung aufgrund der Tatsache des Versichertenseins sei. Es befand jedoch, dass die Grundsätze des RVA nicht hinreichend Raum für die rechtliche Würdigung bestimmter, besonders gelagerter Sachverhalte ließen, weil sie zu weitgehend davon ausgingen, dass psychische Reaktionen auf wunschbedingten Vorstellungen beruhen.25 Das BSG stellte grundsätzlich fest, dass man sich bei der Prüfung, welche Ursachen rechtlich als wesentlich anzusehen seien, nicht auf Geschehensabläufe beschränken dürfe, die im Gebiet des Körperlich-Organischen liegen, weil auch Vorgänge im Bereich des Psychischen und Geistigen hinsichtlich ihrer rechtlichen Bedeutung zu würdigen seien. Psychische Reaktionen könnten zum einen rechtlich wesentlich durch ein Unfallereignis „verursacht“ sein, zum anderen könnten auch psychische Vorgänge „Ursachen“ im Rechtssinne sein. Denn es seien die Erkenntnisse der ärztlichen Wissenschaft zu berücksichtigen, wonach eine scharfe Trennung zwischen Vorgängen allein im organischen Bereich und solchen, die sich im Psychischen und Geistigen abspielen, nicht berechtigt und oft praktisch nicht vollständig möglich sei.26 Zu persönlichen Dispositionen hinsichtlich psychischer Erkrankungen führte das Gericht aus, bei der rechtlichen Wertung dürfe nicht von vornherein darauf abgestellt werden, wie die Reaktion von durchschnittlichen Verletzten ausgefallen wäre. Ebenso wie bei Verletzten, bei denen infolge ihrer körperlichen Anlagen eine geringere Widerstandsfähigkeit gegen körperliche Auswirkungen eines Unfallereignisses bestehe, oder bei Verletzten, bei denen bereits vor dem Unfall eine Erkrankung in der Anlage oder in einer fortgeschrittenen Entwicklung gewesen sei, die dann durch die organischen Auswirkungen des Unfalls in Erscheinung trete, müssten die gleichen Erwägungen auch bei psychischen Erkrankungen gelten. Einer Disposition könne auch bei psychischen Erkrankungen nicht in jedem Fall eine so große Bedeutung beigemessen werden, dass sie stets rechtlich die allein wesentliche Ursache sei. Andersherum seien ein Unfallereignis oder seine Auswirkungen im Körperlich-Organischen für eine psychische Reaktion nicht schon deshalb als rechtlich unwesentlich einzuordnen, weil Voraussetzung für die Reaktion

24  BSG, Urt. v. 18.12.1962 – 2 RU 189/59, BSGE 18, 173; vgl. Ricke, SGb 2013, 262 (266). 25  BSG, Urt. v. 18.12.1962 – 2 RU 189/59, BSGE 18, 173 (176 f.), juris Rn. 26; vgl. Ricke, SGb 2013, 262 (266). 26  BSG, Urt. v. 18.12.1962 – 2 RU 189/59, BSGE 18, 173 (175), juris Rn. 22.



A. Überblick27

eine psychische Anlage sei.27 Zusammenfassend wurde daraus die Faustregel gezogen, dass alle Versicherten in ihrem körperlichen und psychischen Zustand versichert seien, in dem sie sich befinden, wenn es nur kein zu abnormer sei.28 Die negativen Erfahrungen und die Schwierigkeit, die die Rechtsprechung im Umgang mit psychischen Erkrankungen hatte, können als Erklärung dienen für die aktuell noch restriktive Praxis bei der Anerkennung in der gesetzlichen Unfallversicherung. Gleichzeitig macht die nun seit etwa 60 Jahren bestehende Rechtsprechung des BSG deutlich, dass psychischen Erkrankungen grundsätzlich ein Platz in der gesetzlichen Unfallversicherung zukommt.

III. Aktuelle Diskussion Die Thematik von psychischen Erkrankungen in der gesetzlichen Unfallversicherung findet sowohl in Rechtsprechung als auch Literatur Berücksichtigung und wird diskutiert. Im Hinblick auf die Rechtsprechung beschäftigten sich im Zeitraum 2019/2020 von circa 250 veröffentlichten Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Frage der Anerkennung von Ereignissen als Arbeitsunfall oder der Zahlung einer Verletztenrente etwa 40 mit der Anerkennung von psychischen Beeinträchtigungen als Arbeitsunfallfolge.29 Auch vor dem BSG spielen derartige Verfahren zum Arbeitsunfall eine Rolle. Zuletzt beschäftigte es sich mit einem Herzinfarkt, der womöglich infolge der psychischen Erregung durch ein Streitgespräch mit dem Vorgesetzten eingetreten war,30 ansonsten lag in der Vergangenheit ein Schwerpunkt bei Verfahren in Verbindung mit Zügen und Lokführern oder Fahrdienstleitern, die psychische Erkrankungen erlitten.31 Mit der Thematik der Berufskrankheiten waren die Landessozialgerichte im Zeitraum 2019/2020 in circa 60 Verfahren befasst, davon behandelten neun (unter anderem) psychische Beeinträchtigungen. Derzeit zum dritten Mal beschäftigt sich das BSG mit der Frage der Anerkennung einer 27  BSG,

Urt. v. 18.12.1962 – 2 RU 189/59, BSGE 18, 173 (176), juris Rn. 25. SGb 2013, 262 (266); Köhler, ZFSH/SGB 2012, 383 (389). 29  Ähnlich bei Siefert, NZS 2021, 81 (84); eigene Recherche am 19.08.2021 via juris. 30  BSG, Urt. v. 06.05.2021 – B 2 U 15/19 R, SozR 4 (vorgesehen), problematisiert wurden die Zurechnung der Verrichtung zur versicherten Tätigkeit, das zeitlich begrenzte, von außen einwirkende Ereignis, der Gesundheitsschaden sowie der Kausalzusammenhang. 31  BSG, Urt. v. 26.11.2019 – B 2 U 8/18 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 71; Urt. v. 29.11.2011 – B 2 U 23/10 R, NZS 2012, 390, insbesondere die Voraussetzungen des Unfallereignisses werden problematisiert; vgl. Siefert, NZS 2021, 81 (86). 28  Ricke,

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

psychischen Erkrankung als sogenannte Wie-Berufskrankheit, die bisher erfolglos blieb.32 In der Literatur findet die kontroverse Diskussion zu psychischen Erkrankungen eher im Zusammenhang mit Berufskrankheiten statt. Zum Arbeitsunfall ist unstreitig, dass psychische Erkrankungen als Unfallfolge durch die Unfallversicherungsträger anerkannt werden können.33 In der Kommentarliteratur zu § 8 SGB VII wird aber dennoch häufig spezifisch auf psychische Erkrankungen eingegangen und auf Schwierigkeiten bei der Ermittlung des Kausalzusammenhanges wegen fehlender gesicherter medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse über den Zusammenhang von bestimmten Einwirkungen und dem Entstehen einer psychischen Erkrankung hingewiesen.34 Kranig35 wies zuletzt auf die Problematik entstehender Versicherungslücken bei psychischen Erkrankungen durch das Erfordernis der zeitlichen Begrenzung des Unfallereignisses hin. Im Zusammenhang mit Berufskrankheiten unterscheiden sich die Auto­ rinnen und Autoren danach, dass manche die Erfassung psychischer Erkrankungen als Berufskrankheit „nur“ aufgrund des aktuellen medizinisch-­ wissenschaftlichen Erkenntnisstandes ablehnen,36 andere sehen derartige Erkrankungen generell als nicht vereinbar mit dem System des deutschen Berufskrankheitenrechts.37 Zwei Autoren stehen im Gegensatz zu den anderen der Erfassung psychischer Erkrankungen in absehbarer Zeit im Berufskrankheitenrecht optimistischer gegenüber.38 Im Hinblick auf die Frage, welche psychischen Erkrankungen in der Diskussion in Literatur und Rechtsprechung besonders im Vordergrund stehen, 32  Das derzeitige Verfahren ist unter dem Az. B 2 U 11/20 R anhängig; weitere Entscheidungen: BSG, Urt. v. 27.04.2010 – B 2 U 13/09 R, SozR 4-2700 § 9 Nr. 18; Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris. 33  Vgl. Kranig, SGb 2019, 65 (74). 34  Vgl. bspw. bei Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 156. 35  Kranig, SGb 2019, 65 (75). 36  Vgl. so wohl Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 9 SGB VII Rn. 10a; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 9 SGB VII Rn. 65; Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 210s; Haltung nicht bestimmbar bei Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 9 Rn. 17, 45, bezeichnen es jedenfalls als auffällig, dass in der BK-Liste keine psychische Erkrankung vorkommt. 37  Vgl. so wohl Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 55; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 110, 165, 168, sich jedoch für eine weitere Beachtung und keinen pauschalen Ausschluss aus dem BK-Recht aussprechend. 38  Vgl. Spellbrink, SGb 2013, 154 (162); Spellbrink, SozSich 2019, 32 ff.; Molkentin, SGb 2019, 200 ff.; Molkentin, SGb 2021, 76 ff.



A. Überblick29

wird von den oben erläuterten, in Zusammenhang mit der Arbeitstätigkeit stehenden Erkrankungen39 insbesondere die PTBS behandelt.40 Neben der Erfassung im Rahmen des Arbeitsunfalls41 gibt es von den vorgenannten Erkrankungen einzig zu ihr ernsthaftere Überlegungen, sie als sogenannte Wie-Berufskrankheit anzuerkennen.42 Ebenfalls immer wieder präsent in der Diskussion43 ist das sogenannte Burn-out Syndrom, das aus Laienperspektive fälschlicherweise oftmals als eigene behandlungsbedürftige Krankheit eingeordnet wird.44 Auch hier erfolgte bereits der Versuch der Anerkennung als Wie-Berufskrankheit.45 Schließlich beschäftigen sich Gerichte46 und Literatur47 immer wieder mit Mobbing und seinen gesundheitlichen Konsequenzen, die oftmals psychischer Art sind. Es handelt sich um ein in der Berufswelt weit verbreitetes Problem. Zur Veranschaulichung und aufgrund der Aktualität in der Diskussion soll in diesem Kapitel immer wieder auf diese drei Beispiele eingegangen werden.

IV. Fazit Die historische Entwicklung zeigt, dass psychische Erkrankungen schon seit Einführung der gesetzlichen Unfallversicherung eine Rolle spielen und nicht nur ein Phänomen der heutigen Zeit sind. Seit der Grundsatzentscheidung des BSG von 1962 steht fest, dass psychische Erkrankungen wie depressive Episoden, somatoforme Störungen, Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen im Rahmen der Unfallversicherung ebenso wie somatische Erkrankungen grundsätzlich zu erfassen sind. Auch heute noch wird über psychische Erkrankungen im Zusammenhang mit der Unfallversicherung diskutiert, dies beschäftigt sowohl Rechtsprechung als auch Literatur. 39  Vgl.

o. S. 23. bspw. bei Spellbrink, SGb 2013, 154. 41  Vgl. Keller, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 8 Rn. 327. 42  Vgl. BSG, Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris. 43  Vgl. Drechsel-Schlund, MEDSACH 2014, 153 ff.; Spellbrink, WzS 2012, 259 ff. 44  Eine Klassifikation nach ICD‑10 oder DSM‑5 als behandlungsbedürftige Krankheit ist nicht möglich: Spellbrink, WzS 2012, 259 (261); lediglich Nennung in BfArM, ICD-10-GM Version 2021, Kap. XXI unter Z73: Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung. 45  Vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 10.06.2003 – L 3 U 76/03, juris. 46  Vgl. LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 16.08.2001 – L 7 U 18/01, Breithaupt 2002, 435; Hessisches LSG, Urt. v. 23.10.2012 – L 3 U 199/11, juris; Bayerisches LSG, Urt. v. 12.05.2021 – L 3 U 11/20, juris. 47  Vgl. Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 173; Keller, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 8 Rn. 12b; Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 210m; Paridon, BG 2003, 154; Köhler, ZFSH/SGB 2012, 138 (143 ff.). 40  Vgl.

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

B. Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall Im Folgenden wird untersucht, inwiefern eine psychische Erkrankung nach aktueller Rechtslage durch die Unfallversicherungsträger als Versicherungsfall anerkannt werden kann, sodass in der Folge Anspruch auf Leistungen der Unfallversicherung besteht, und welche Probleme bei der Anerkennung auftreten. Die wichtigsten Versicherungsfälle in der gesetzlichen Unfallversicherung sind neben den Erweiterungen in den §§ 10–13 SGB VII der Arbeitsunfall gem. §§ 7, 8 Abs. 1 SGB VII sowie die Berufskrankheit gem. §§ 7, 9 SGB VII, wobei sich letztere in die Berufskrankheit gem. § 9 Abs. 1 SGB VII und die Wie-Berufskrankheit gem. § 9 Abs. 2 SGB VII unterteilen lässt. Die Abgrenzung zwischen Arbeitsunfall und Berufskrankheit findet anhand der Länge der Einwirkungen statt: Ein plötzliches, jedenfalls zeitlich begrenztes Ereignis kennzeichnet den Arbeitsunfall, wobei eine Arbeitsschicht als zeitliche Grenze gesehen wird.48 Die Berufskrankheit dagegen entwickelt sich erst allmählich über einen längeren Zeitraum.49 Deshalb spricht das BSG auch von einer Wesensverschiedenheit der beiden Versicherungsfälle.50 Dennoch kann es Fälle geben, in denen Erkrankungen, die in der Berufskrankheiten-Liste in Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung51 (BKV) aufgeführt sind, aufgrund einmaliger, auf eine Arbeitsschicht begrenzter Ereignisse eintreten, und sowohl die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls als auch einer Berufskrankheit vorliegen. In diesen Fällen geht die Berufskrankheit dem Arbeitsunfall aufgrund der für die Versicherten günstigeren Regelungen wie die Berechnung des JAV nach § 84 SGB VII, die Festlegung des Zeitpunkts des Beginns oder der Berechnung von Leistungen nach dem Günstigkeitsprinzip i. S. d. § 9 Abs. 5 SGB VII, vorbeugende Leistungen gem. § 3 Abs. 1 BKV sowie Übergangsleistungen vor.52 Die Untersuchung widmet sich zunächst dem Arbeitsunfall und geht anschließend auf die Berufskrankheit ein. 48  BSG, Urt. v. 25.08.1961 – 2 RU 106/59, BSGE 15, 41 (45), juris Rn. 19; Holt­ straeter, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 8 SGB VII Rn. 2. 49  Zum Ganzen Brandenburg, in: Becker/Franke/Molkentin, SGB VII: § 9 Rn. 10; Becker, SGb 2010, 131. 50  BSG, Urt. v. 26.11.1987 – 2 RU 20/87, SozR 2200 § 551 Nr. 31; Urt. v. 25.02.1993 – 2 RU 22/92, SozR 3-2200 § 572 Nr. 1; Becker, SGb 2010, 131. 51  Es gilt die BKV v. 31.10.1997, BGBl. I S. 2623. 52  Brandenburg, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 2 S. 89 f.; Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 9 SGB VII Rn. 3; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, Beck­OK: § 9 SGB VII Rn. 3; Becker, SGb 2010, 131.



B. Erfassung psychischer Erkrankungen31

I. Psychische Erkrankungen im Rahmen des Arbeitsunfalls Zunächst werden die allgemeinen Voraussetzungen für die Anerkennung als Arbeitsunfall gem. § 8 Abs. 1 SGB VII dargestellt, um anschließend etwaige Probleme bei der Anerkennung psychischer Erkrankungen als Arbeitsunfall zu untersuchen. 1. Die Anerkennung als Arbeitsunfall gem. § 8 Abs. 1 SGB VII Gem. § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit. Unfälle sind gem. § 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Das BSG hat entsprechend der Legaldefinition ein Prüfungsschema ent­ wickelt. Danach muss eine Verrichtung der Verletzten vor dem fraglichen Unfallereignis den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt haben. Die Verrichtung muss ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis objektiv und rechtlich wesentlich verursacht haben (Unfallkausalität) und durch das Unfallereignis muss ein Gesundheitsschaden oder der Tod der Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht worden sein (haftungsbegründende Kausalität).53 a) Zurechnung einer Verrichtung zur versicherten Tätigkeit aa) Versicherte Tätigkeit Die versicherte Tätigkeit wird in § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII legaldefiniert als die den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründende Tätigkeit. Zwar regeln die §§ 2, 3, 6 SGB VII lediglich den versicherten Personenkreis, aus diesen ergibt sich jedoch mittelbar die Tätigkeit, die einen Versicherungsschutz begründet.54

53  St.Rspr., statt vieler BSG, Urt. v. 20.08.2019 – B 2 U 1/18 R, SozR 4-2700 § 2 Nr. 51, Rn. 23, juris Rn. 23; Becker, MEDSACH 2010, 145 (146); Spellbrink, ­SozSich 2019, 32 (33). 54  Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 6; Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII Rn. 9; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 6.

32

1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

bb) Verrichtung Unter einer Verrichtung wird ein bestimmtes, durch Dritte beobachtbares räumliches und zeitliches Verhalten verstanden, wobei regelmäßig die kleinste beobachtbare Handlungssequenz maßgebend ist.55 Gemeint ist jene Tätigkeit, die die Betroffenen in dem Augenblick ausübten, in dem sich der Unfall ereignete.56 Beim Erfordernis der „Verrichtung“ handelt es sich um einen notwendigen Zwischenschritt, denn es gibt in der gesetzlichen Unfallversicherung abgesehen von der Schifffahrt, vgl. § 10 SGB VII, keinen „Be­ triebsbann“.57 Dies bedeutet, dass nicht das gesamte Handeln von Beschäftigten im Laufe ihres Arbeitstages vom Versicherungsschutz i. S. d. § 8 Abs. 1 SGB VII umfasst ist, worunter auch private Tätigkeiten fallen würden, sondern nur Verrichtungen, die Teil der versicherten Tätigkeit sind.58 cc) Erfüllung des Versicherungstatbestandes Liegt eine Verrichtung vor, ist sodann die Frage zu klären, ob sie Teil einer versicherten Tätigkeit ist. Früher verwendete das BSG dafür den Begriff des sachlichen oder inneren Zusammenhangs.59 In neueren Urteilen ist es ohne ersichtliche inhaltliche Änderungen60 zum Begriff der Erfüllung des Versicherungstatbestandes übergegangen.61 55  Statt vieler BSG, Urt. v. 26.06.2014 – B 2 U 4/13 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 52, Rn. 14, juris Rn. 14; Urt. v. 17.12.2015 – B 2 U 8/14 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 55, Rn. 14, juris Rn. 14; Holtstraeter, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 8 SGB VII Rn. 6; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 7; Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB  VII: § 8 Rn. 27; Becker, SGb 2012, 691 (693); Spellbrink, WzS 2011, 351 (353); kritisch zu dieser Definition Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII Rn. 9; Ricke, WzS 2013, 241 (244 f.). 56  Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 7; vgl. Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 6; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 45 f., auch dazu, ob die Verrichtung unmittelbar vor oder zur Zeit des Unfallereignisses erfolgt sein muss; Becker, SGb 2007, 721 (722). 57  St.Rspr., statt vieler BSG, Urt. v. 12.04.2005 – B 2 U 11/04 R, BSGE 94, 262 (264), juris Rn. 14, m. w. N.; zur Thematik des Betriebsbanns im Bereich der Seeschifffahrt: von Wulffen, in: Gitter, FS für Otto Krasney, S. 791; Becker, MEDSACH 2010, 145 (148); Becker, SGb 2012, 691 (692). 58  Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 32 f.; Becker, MEDSACH 2010, 145 (148). 59  Kritisch dazu Becker, SGb 2007, 721 (724), spricht sich für „sachlich“ aus, weil dadurch besser zum Ausdruck komme, dass es sich um eine Wertentscheidung anhand sachlicher Gesichtspunkte handle; ebenfalls kritisch Ricke, WzS 2013, 241 (243). 60  Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 11.2; Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII



B. Erfassung psychischer Erkrankungen33

Es handelt sich um keine Kausalitätsfrage, sondern um eine wertende Entscheidung, ob die Verrichtung innerhalb der Grenzen des Versicherungsschutzes der gesetzlichen Unfallversicherung liegt.62 Maßgeblich für die Beurteilung ist die sogenannte Handlungstendenz, ob also durch die Verrichtung eine dem Unternehmen dienende Tätigkeit ausgeübt werden sollte. Das Handeln muss zumindest auch auf die Erfüllung des Tatbestandes der ver­ sicherten Tätigkeit ausgerichtet sein und die Handlungstendenz muss sich durch die objektiven Umstände des Einzelfalls bestätigen lassen.63 Allein der zeitliche oder räumliche Zusammenhang zwischen tatsächlicher Verrichtung und versicherter Tätigkeit ist nicht ausreichend, weil darunter auch Erledigungen fallen, die nur den Versicherten nützen, sogenannte eigenwirtschaftliche Tätigkeiten. Umgekehrt werden auch im privaten Bereich berufliche Erledigungen getätigt.64 Für die objektiven Umstände wird vielRn. 10c: kritisch gegenüber den von ihm festgestellten Änderungen; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 38: noch nicht absehbar, welche Veränderungen diese neue Terminologie mit sich bringen werde, weitere Entscheidungen müssten abgewartet werden; ausführliche Darstellung der Problematik bei Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 63 ff., 77 f., mit Verweis auf BSG, Urt. v. 4.7.2013 – B 2 U 5/12 R, SozR 4-2200 § 1150 Nr. 2, Rn. 18, juris Rn. 18 und Ergebnis, dass keine inhaltliche Änderung gewollt sei. 61  Zunächst in BSG, Urt. v. 15.05.2012 – B 2 U 8/11 R, BSGE 111, 37 (40), juris Rn. 21; Urt. v. 18.09.2012 – B 2 U 20/11 R, SozR 4-2700 § 6 Nr. 3, Rn. 20, juris Rn. 20; Urt. v. 13.11.2012 – B 2 U 27/11 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 45, Rn. 17, juris Rn. 17; fortgeführt in Urt. v. 26.06.2014 – B 2 U 4/13 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 52, Rn. 14, juris Rn. 14; vgl. zuletzt in Urt. v. 20.08.2019 – B 2 U 1/18 R, SozR 4-2700 § 2 Nr. 51, Rn. 23, juris Rn. 23; kritisch aufgrund der Missverständlichkeit: Holt­ straeter, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 8 SGB VII Rn. 8; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 37 f.; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 63 ff. 62  St.Rspr., statt vieler BSG, Urt. v. 30.04.1985 – 2 RU 24/84, BSGE 58, 76 (77), juris Rn. 10; Urt. v. 10.10.2006 – B 2 U 20/05 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 19, Rn. 14, juris Rn. 14; Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 28; Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII Rn. 10, kritisch zur Aufgabe des ursprünglich kausalen Zusammenhangs; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 12 ff.; Becker, SGb 2007, 721 (724); Becker, MEDSACH 2010, 145 (149). 63  St.Rspr., statt vieler BSG, Urt. v. 17.12.2015 – B 2 U 8/14 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 55, Rn. 14, juris Rn. 14; Krasney, NZS 2000, 373 zur Handlungstendenz als maßgeblichem Kriterium; Watermann, in: Schimmelpfennig, FS für Herbert Lauterbach I, S. 129 maßgeblich zur Finalität in der Unfallversicherung; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S.  34 f. 64  Vgl. BSG, Urt. v. 28.07.1961 – 2 RU 77/60, BSGE 14, 295 (296), juris Rn. 16; Urt. v. 07.05.2019 – B 2 U 31/17 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 69, Rn. 17, juris Rn. 17; Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII Rn. 9a; Holt­ straeter, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 8 SGB VII Rn. 8, „privatwirtschaftlich“; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 14; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 36, kritisch zur

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

mehr an die Erfüllung von Rechten und Pflichten aus dem Beschäftigungsverhältnis angeknüpft. Die versicherte Tätigkeit erfordert, dass das Ergebnis der Verrichtung nicht den Beschäftigten, sondern dem Unternehmen unmittelbar zum Vorteil oder Nachteil gereicht. Das BSG ist dazu übergegangen, drei Fallgruppen zu nennen, wann es sich bei der Verrichtung um eine ver­ sicherte Tätigkeit handelt: erstens wenn die Verrichtung zumindest dazu ansetzt oder darauf gerichtet ist, eine eigene objektiv bestehende Haupt- oder Nebenpflicht aus dem zugrunde liegenden Rechtsverhältnis zu erfüllen, zweitens wenn die Verletzten eine objektiv nicht geschuldete Handlung vornehmen, um einer vermeintlichen Pflicht aus dem Rechtsverhältnis nachzugehen, sofern sie nach den besonderen Umständen ihrer Beschäftigung zur Zeit der Verrichtung annehmen durften, sie treffe eine solche Pflicht und drittens wenn die Verletzten unternehmensbezogene Rechte ausüben.65 Für psychische Erkrankungen kann diese Voraussetzung beispielsweise relevant sein, wenn die Erkrankung nach einem Streitgespräch mit Vorgesetzten auftritt und fraglich ist, ob das Gespräch im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit steht.66 b) Unfallereignis Unter dem Unfallereignis wird das eigentliche Unfallgeschehen verstanden.67 Nach § 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII muss es sich um ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis handeln.

Vermischung der Begriffe der höchstpersönlichen und eigenwirtschaftlichen Tätigkeiten; ebenfalls kritisch zum Begriff der Eigenwirtschaftlichkeit: Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 53 f.; Kunze, VSSR 2005, 299 (310). 65  Vgl. zum Ganzen: BSG, Urt. v. 15.05.2012 – B 2 U 8/11 R, BSGE 111, 37; Urt. v. 26.06.2014 – B 2 U 4/13 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 52, Rn. 16, juris Rn. 16; Urt. v. 26.11.2019 – B 2 U 8/18 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 71, Rn. 13, juris Rn. 13; Keller, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 8 Rn. 17 ff.; kritisch: Ricke, in: Körner/Leitherer/ Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII Rn. 10a ff.; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S.  64 f. 66  BSG, Urt. v. 06.05.2021 – B 2 U 15/19 R, SozR 4 (vorgesehen), juris Rn. 14 ff. 67  Becker, MEDSACH 2010, 145 (148); vgl. aber zur problematischen uneinheitlichen Verwendung durch das BSG: BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (198), juris Rn. 10, nur äußeres Ereignis; Urt. v. 05.07.2011 – B 2 U 17/10 R, BSGE 108, 274 (280), juris Rn. 31, vollendeter Unfall; vgl. Ricke, in: Körner/ Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII Rn. 19; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 76; Ricke, WzS 2013, 241 (242).



B. Erfassung psychischer Erkrankungen35

aa) Ereignis Für das Ereignis existiert noch keine gefestigte einheitliche Definition in Literatur und Rechtsprechung. Oftmals wird es nicht gesondert definiert. Stattdessen wird die Problematik unter dem Begriff der äußeren Einwirkung behandelt,68 obwohl der Wortlaut von § 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII das Ereignis als Substantiv in den Mittelpunkt stellt, während „von außen einwirkend“ dieses nur attributiv ergänzt.69 Neuerdings stellt das BSG den Begriff des von außen einwirkenden oder äußeren Ereignisses gegenüber der Einwirkung in den Vordergrund.70 Fest steht, dass es sich um kein außergewöhnliches Geschehen handeln muss. Alltägliche Vorgänge sind ausreichend.71 In letzter Zeit definierte das BSG das Ereignis erstmals als „tatsächliches, die Dinge veränderndes Geschehen“.72 Noch genauer auf die Definition des Ereignisses geht Mülheims ein. Das Ereignis sei nicht das, was man sehen und hören könne, sondern liege darin, dass man überhaupt etwas, was auch immer es sei, sehen beziehungsweise hören könne. Von diesem tatsächlichen Geschehen samt Eindruck sei das „spätere“ intellektuelle und emotionale Umgehen damit in Form von Verarbeitung der Sinneseindrücke in Sachen einer Interpretation, eines Weiterdenkens und einer Umsetzung in eigenes Handeln abzugrenzen.73 bb) Von außen einwirkend Das von außen auf den Körper einwirkende Ereignis gem. § 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII könnte bei einem engen Wortlautverständnis vermuten lassen, dass die Einwirkungen physisch-mechanischer Natur sein müssen.74 Zweck dieses 68  Bspw. in BSG, Urt. v. 29.11.2011 – B 2 U 23/10 R, NZS 2012, 390 (391), juris Rn. 14; vgl. Mülheims, SGb 2019, 258 (259). 69  Vgl. Mülheims, SGb 2019, 258 f. 70  Vgl. BSG, Urt. v. 26.11.2019 – B 2 U 8/18 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 71, Rn. 17, juris Rn. 17. 71  BSG, Urt. v. 29.11.2011 – B 2 U 23/10 R, NZS 2012, 390 (391), juris Rn. 15; Urt. v. 06.05.2021 – B 2 U 15/19 R, SozR 4 (vorgesehen), juris Rn. 18, Herzinfarkt infolge eines Streitgesprächs mit Vorgesetztem; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 31; vgl. Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 76. 72  BSG, Urt. v. 26.11.2019 – B 2 U 8/18 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 71, Rn. 17, juris Rn. 17; so auch Mülheims, SGb 2019, 258 (265), ausführlich zum Begriff des Ereignisses; ähnlich: Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 8 Rn. 13; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 76; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 31. 73  Mülheims, SGb 2019, 258 (260). 74  Vgl. Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 79.

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

Merkmals ist jedoch seit jeher75 lediglich die Abgrenzung zu den inneren Ursachen wie beispielsweise einem Herzinfarkt oder Kreislaufkollaps, die nicht unter den Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung fallen.76 Auch wenn das Ereignis willentlich zur Selbstschädigung oder Selbsttötung herbeigeführt wurde, fällt es nicht unter den Versicherungsschutz.77 Teils wird deshalb zusätzlich die Unfreiwilligkeit des Geschehens verlangt, die dem Unfallereignis begrifflich immanent sei.78 Jedenfalls stellt eine Selbstschädigung aber im Rahmen der Unfallkausalität die wesentliche Ursache dar und schließt so den Versicherungsfall aus.79 Der Wortlaut des Merkmals „von außen einwirkend“ wird deshalb sehr weit verstanden, es braucht kein besonderes Geschehen.80 Ein bloßer Sinnesreiz als äußerer Anknüpfungspunkt ist ausreichend, sodass bereits bloße Wahrnehmungen wie das Sehen, Hören, Schmecken, Ertasten oder Riechen von außen einwirkende Ereignisse darstellen können.81 Sichtbarkeit ist nicht erforderlich, sondern Lärm, radioaktive Strahlung, elektromagnetische Wellen oder sogar besonders intensive Sonneneinstrahlung, die von außen mit75  Vgl. schon BSG, Urt. v. 29.01.1960 – 2 RU 136/56, SozR Nr. 18 zu § 543 RVO; Schönberger, in: Schimmelpfennig, FS für Herbert Lauterbach I, S. 155 (161); Podzun, WzS 1955, 123. 76  St.Rspr., statt vieler BSG, Urt. v. 15.05.2012 – B 2 U 16/11 R, BSGE 111, 52 (54), juris Rn. 16; Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB  VII Rn.  24 ff.; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 101; Holtstraeter, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 8 SGB VII Rn. 4; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 7; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 32; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 77; Becker, SGb 2012, 691 (692); Köhler, SGb 2014, 69 (70 f.). 77  Vgl. BSG, Urt. v. 15.05.2012 – B 2 U 16/11 R, BSGE 111, 52 (56 f.), juris Rn.  27 ff.; Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 8 Rn. 18; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 108. 78  BSG, Urt. v. 12.04.2005 – B 2 U 27/04 R, BSGE 94, 269 (270 f.), juris Rn. 12; Urt. v. 30.01.2007 – B 2 U 8/06 R, juris Rn. 15; Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 118; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 10 f.; Becker, SGb 2007, 721 (726). 79  Schmitt, SGB VII, § 8 Rn. 143; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 85 f.; Köhler, SGb 2014, 69 (75). 80  BSG, Urt. v. 15.05.2012 – B 2 U 16/11 R, BSGE 111, 52 (54), juris Rn. 16; Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII Rn. 24 f.; Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 8 Rn. 15; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 7  f.; Becker, SGb 2007, 721 (726); Becker, SGb 2012, 691 (692); Köhler, SGb 2014, 69 (70). 81  BSG, Urt. v. 26.11.2019 – B 2 U 8/18 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 71, Rn. 18, juris Rn. 18; Becker, SGb 2012, 691 (692); Fabra/Bultmann, MEDSACH 2009, 172 (174).



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telbar zu einem Kreislaufkollaps führt, können ausreichen.82 Zudem ist seit der Entscheidung des BSG vom 18.12.1962 anerkannt, dass psychische Erkrankungen Folge eines Arbeitsunfalls sein können und mithin auch, dass sich das äußere Ereignis auf die Psyche auswirken kann.83 Als Einwirkungen auf die Psyche sind beispielsweise Beleidigungen, Mobbing oder besondere betriebliche Belastungssituationen, die psychische Erkrankungen hervorrufen können, zu nennen.84 Dennoch kann insbesondere bei Einwirkungen auf die Psyche problematisch sein, worin genau das Ereignis zu sehen ist. cc) Zeitlich begrenzt Die Anforderung gem. § 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII, das von außen auf den Körper einwirkende Ereignis müsse zeitlich begrenzt sein, dient der Abgrenzung zur Berufskrankheit. Die maximale zeitliche Dauer der Einwirkung darf eine Arbeitsschicht nicht überschreiten.85 Ausreichend ist, wenn feststeht, dass Beginn und Ende der schädigenden Einwirkung innerhalb einer Arbeitsschicht lagen, auch wenn die Uhrzeit oder der Tag nicht exakt kalendermäßig bestimmbar sind.86 Eine Häufung kleinerer Schädigungen, die erst über längere Zeit und nicht innerhalb einer Arbeitsschicht den erforderlichen ­ 82  Vgl. BSG, Urt. v. 12.04.2005 – B 2 U 27/04 R, BSGE 94, 269 (271), juris Rn. 13; Urt. v. 29.11.2011 – B 2 U 23/10 R, NZS 2012, 390 (391), juris Rn. 17; ­Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII Rn. 24; Jung/ Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 8 Rn. 15 f.; vgl. Keller, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 8 Rn. 11; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 78; Köhler, SGb 2014, 69 (70 f.). 83  BSG, Urt. v. 18.12.1962 – 2 RU 189/59, BSGE 18, 173 (175), juris Rn. 21 ff.; vgl. auch Urt. v. 29.11.2011 – B 2 U 23/10 R, NZS 2012, 390; Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 8 Rn. 16; Wagner, in: Schlegel/ Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 113 ff.; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 79; Kunze, VSSR 2005, 299 (313). 84  Vgl. Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 113; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn.  104 f.; Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 8 Rn. 16; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 79; Benz, NZS 2002, 8, Grundlegendes zu psychischen Erkrankungen i. R. e. Arbeitsunfalls; Köhler, SGb 2014, 69 (70). 85  St.Rspr., BSG, Urt. v. 26.09.1961 – 2 RU 191/59, BSGE 15, 112 (113), juris Rn. 15; Urt. v. 28.01.1966 – 2 RU 151/63, BSGE 24, 216. 86  St.Rspr., BSG, Urt. v. 26.09.1961 – 2 RU 191/59, BSGE 15, 112 (113), juris Rn. 15; Urt. v. 31.01.2012 – B 2 U 2/11 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 43, Rn. 24, juris Rn. 24; Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII Rn. 23; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 82; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 40; Köhler, SGb 2014, 69 (77).

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

Schweregrad erreicht haben, kann nicht als Unfall angesehen werden. Es kommt dann aber die Prüfung einer Berufskrankheit in Betracht.87 Dennoch muss es sich nicht zwingend um ein einmaliges, augenblickliches Geschehen handeln. Die Rechtsprechung hat zur Vermeidung von Härten, die durch die zeitliche Begrenzung auf eine Arbeitsschicht entstehen können, eine Formel entwickelt.88 Nach dieser kann ausnahmsweise auch bei Schäden durch wiederholte, auf mehrere Arbeitsschichten verteilte Einwirkungen ein Unfall gem. § 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII vorliegen, wenn sich eine Einwirkung aus einer Gesamtheit von Einwirkungen derart hervorhebt, dass sie nicht als die letzte von mehreren, für den Schaden gleichwertigen Einwirkungen erscheint. Dafür muss ihr eine eigenständige wesentliche Bedeutung für den eingetretenen Schaden zukommen. Denn dann ist die Einwirkung als wesentliche Teilursache anzusehen und nicht nur als Gelegenheit zur Voll­ endung.89 Das Erfordernis der zeitlichen Begrenzung stellt für psychische Erkrankungen eine besondere Schwierigkeit für die Anerkennung als Arbeitsunfall dar. Denn während es zwar bei einer PTBS vorstellbar ist, dass sie durch ein einzelnes, zeitlich begrenztes Ereignis ausgelöst wird, erscheint es bei psychischen Erkrankungen infolge von Mobbing oder der Konstellation eines Burn-out Syndroms unwahrscheinlich, dass ein Ereignis von der maximalen Dauer einer Arbeitsschicht bereits zu einer Erkrankung führt. c) Unfallkausalität Unter der Unfallkausalität90 wird der ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallereignis verstanden, dessen 87  BSG, Urt. v. 30.05.1985 – 2 RU 17/84, SozR 2200 § 548 Nr. 71, S. 201, juris Rn. 14; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB  VII Rn. 100; Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 8 Rn. 14; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 10; Becker, SGb 2007, 721 (726); Köhler, SGb 2014, 69 (75 f.). 88  Schulin, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 28 Rn. 12. 89  BSG, Urt. v. 30.05.1985 – 2 RU 17/84, SozR 2200 § 548 Nr. 71, S. 201, juris Rn. 14; Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII Rn. 23; Keller, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 8 Rn. 12b; Mehrtens/Valentin/ Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 10; Schönberger, in: Schimmelpfennig, FS für Herbert Lauterbach I, S. 155 (159); Köhler, SGb 2014, 69 (75 f.). 90  BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (198), juris Rn. 10; Urt. v. 15.02.2005 – B 2 U 1/04 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 12, Rn. 8, 13, juris Rn. 16, 21: zuvor noch unter dem Begriff der haftungsbegründenden Kausalität; Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII Rn. 7a; Ricke, WzS



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Notwendigkeit aus dem Wort „infolge“ in § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII abgeleitet wird.91 aa) Theorie der wesentlichen Bedingung Die Ursachenzusammenhänge im Rahmen der Unfallversicherung wie die Unfallkausalität, die haftungsbegründende sowie die haftungsausfüllende Kausalität werden nach der „Theorie der wesentlichen Bedingung“ beurteilt.92 Diese wurde vom RVA speziell für die gesetzliche Unfallversicherung anlässlich von Kausalitätsfragen beim Arbeitsunfall entwickelt.93 Es handelt sich um eine Besonderheit des Sozialversicherungsrechts, worin es sich von der Zurechnungsdogmatik des allgemeinen Privatrechts, welches dafür grundsätzlich die Adäquanztheorie verwendet, unterscheidet.94 Grund dafür ist, dass die ­anhand der Adäquanztheorie ermittelten Ergebnisse den Anforderungen des Unfallversicherungsrechts nicht gerecht werden, weil dieses bezweckt, auch alltägliche Geschehensabläufe in den Versicherungsschutz aufzunehmen.95 Die Theorie der wesentlichen Bedingung gibt eine zweistufige Prüfung vor. Die erste Prüfungsstufe stellt ebenso wie für die zivilrechtliche Adäquanztheorie die naturwissenschaftlich-philosophische Äquivalenztheorie dar. Nach dieser ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele („conditio sine qua 2013, 241 (242), kritisch zum Begriff der Unfallkausalität und zur Trennung von der haftungsbegründenden Kausalität. 91  BSG, Urt. v. 14.12.1999 – B 2 U 3/99 R, SozR 3-2700 § 8 Nr. 1, S. 2, juris Rn. 14; Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 8 Rn. 62; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S.  20 f.; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 93; Köhler, VSSR 2013, 47 (48). 92  BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (198), juris Rn. 12; Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 25; Jung/ Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 8 Rn. 63; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 88; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 82 ff., ausführlich zur Entstehung, der heutigen Form der Theorie der wesentlichen Bedingung sowie zu Kritik an dieser; Köhler, VSSR 2013, 47 (50 f.). 93  Grundlegend RVA, AN 1912, 930 f.; übernommen von BSG, Urt. v. 10.06.1955 – 10 RV 390/54, BSGE 1, 72 (76), juris Rn. 35; Urt. v. 14.07.1955 – 8 RV 177/54, BSGE 1, 150 (156  f.), juris Rn. 19; Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, ­JurisPK SGB VII: § 7 Rn. 33; Gitter/Nunius, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 5 Rn. 108; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 83; Peltzer, Die Theorie der wesentlichen Bedingung, S.  45 ff.; Becker, MEDSACH 2010, 145 (150). 94  Waltermann, Sozialrecht, § 10 Rn. 319; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 88; Köhler, ZFSH/SGB 2012, 383 f. 95  Waltermann, Sozialrecht, § 10 Rn. 320; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 89; Müller-Oberthür, Zurechnungsprobleme im Arbeitsunfallrecht, S. 25 f.; vgl. Köhler, in: Bönders, Kompetenz und Verantwortung in der Bundesverwaltung, S. 583.

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

non“). Weil es naturwissenschaftlich-philosophisch jedoch unbegrenzt viele Ursachen für einen Erfolg gibt, muss in der praktischen Rechtsanwendung auf einer zweiten Prüfungsstufe als Korrektiv unterschieden werden zwischen solchen Ursachen, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden können, denen also der Erfolg zugerechnet wird, und jenen, die für den Erfolg rechtlich unerheblich sind.96 Die erste Stufe ist hierbei notwendige Voraussetzung für die zweite Stufe, weil auf letzterer nur noch eine rein rechtliche Bewertung stattfindet.97 Eine Differenzierung nach Verschulden oder Rechtswidrigkeit, wie sie im Zivil- beziehungsweise Strafrecht üblich ist, kann nicht stattfinden, weil gem. § 7 Abs. 2 SGB VII verbotswidriges Handeln den Versicherungsfall nicht ausschließt.98 Stattdessen kommt rechtliche Bedeutung nur denjenigen Ursachen zu, die als rechtlich wesentlich für den Eintritt des Erfolges zu beurteilen sind. Dafür sind die Erfahrungen und Anschauungen des praktischen Lebens unter Berücksichtigung ihrer besonderen Beziehung zum eingetretenen Erfolg maßgeblich.99 Ursachen, die nur in loser und entfernter Verbindung zum Erfolg stehen, können dadurch ausgeschlossen werden.100 Das BSG hat dafür die Grundsätze entwickelt, dass auch mehrere rechtlich wesentliche Mitursachen für einen Erfolg möglich sind. Es kommt lediglich darauf an, ob die betreffende Ursache wesentlich war. Ob daneben weitere Mitursachen wesentlich für den Erfolg waren, ist nicht relevant. Außerdem ist „wesentlich“ nicht mit „gleichwertig“ oder „annährend gleichwertig“ gleichzusetzen. Denn auch wenn eine Ursache im Verhältnis zu anderen Ursachen rechnerisch als niedriger zu beurteilen ist, kann sie dennoch für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die anderen Ursachen nicht von überragender Bedeutung sind.101 96  BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (199), juris Rn. 13; Urt. v. 15.05.2012 – B 2 U 31/11 R, NZS 2012, 909; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/ Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 112 ff.; Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 8 Rn. 63; Mehrtens/Valentin/ Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 21 f.; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 88 ff.; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 86 f.; Köhler, VSSR 2013, 47 (51); Bultmann, SGb 2016, 143 f. 97  Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 7 Rn. 31  f.; Bultmann, SGb 2016, 143 f. 98  BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (199), juris Rn. 14; Bultmann, SGb 2016, 143 (144); Köhler, ZFSH/SGB 2012, 383 (384). 99  BSG, Urt. v. 10.06.1955 – 10 RV 390/54, BSGE 1, 72 (76), juris Rn. 35; Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (199), juris Rn. 13 ff.; Köhler, ZFSH/ SGB 2012, 383 (384). 100  Köhler, ZFSH/SGB 2012, 383 (384 f.). 101  Zum Ganzen BSG, Urt. v. 11.12.1963 – 5 RKn 31/60, juris Rn. 42; Urt. v. 12.02.1970 – 7/2 RU 262/67, juris Rn. 18; Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE



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Für die Beurteilung der besonderen Beziehung einer Ursache zum Erfolg wurden verschiedene Gesichtspunkte aufgestellt. Zu beachten sind die versicherte Ursache beziehungsweise das Ereignis selbst sowie ihre Art und das Ausmaß der Einwirkung und etwaige konkurrierende Ursachen sowie deren Art und Ausmaß. Zudem kommt es auf den zeitlichen Ablauf des Geschehens an und es können Rückschlüsse aus dem Verhalten der Verletzten nach dem Unfall, den Befunden und Diagnosen der erstbehandelnden Ärzte und Ärztinnen sowie der gesamten Krankheitsgeschichte gezogen werden. Letztlich ist die besondere Beziehung auch unter dem Gesichtspunkt des Schutzzwecks der Norm zu beurteilen.102 Die Theorie der wesentlichen Bedingung gilt unstreitig auch für psychische Erkrankungen im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung.103 bb) Vermutung der Unfallkausalität Die Unfallkausalität zwischen der Verrichtung zur Zeit des Unfalls und dem Unfallereignis wird vermutet, weil oft kein Grund erkennbar ist, warum sich der Unfall zum jeweiligen Zeitpunkt und exakt in dieser Form zugetragen hat. Dies ist beispielsweise der Fall bei dem Stolpern über die eigenen Füße während eines versicherten Weges.104 Die Beweiserleichterung bezweckt, ein Leerlaufen des Versicherungsschutzes zu vermeiden, indem die Versicherten von der objektiven Beweislast befreit werden.105 Denn ein 96, 196 (199 f.), juris Rn. 15; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 26 f.; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 87; Köhler, ZFSH/SGB 2012, 383 (385 f.). 102  BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (200), juris Rn. 16; vgl. auch Urt. v. 19.09.1974 – 8 RU 236/73, BSGE 38, 127 (129), juris Rn. 22; vgl. Sächsisches LSG, Urt. v. 17.05.2017 – L 6 U 213/15, juris Rn. 35 ff., Ablehnung der Unfallkausalität im Fall einer psychischen Erkrankung nach dem Erhalt einer Kündigung; Anmerkung dazu bei Giesen, SGb 2017, 665 (666), die Einwirkung unterfalle nicht dem Schutzbereich der GUV, sondern dem eigenwirtschaftlichen Bereich; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 87; Becker, SGb 2006, 449 (450); Schlaeger, jurisPRSozR 16/2017 Anm. 2. 103  BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (202), juris Rn. 21; Keller, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 8 Rn. 325. 104  St.Rspr., statt vieler BSG, Urt. v. 30.01.2007 – B 2 U 23/05 R, BSGE 98, 79 (81), juris Rn. 15; vgl. zuletzt Urt. v. 07.05.2019 – B 2 U 34/17 R, SozR 4-2700 § 2 Nr. 50, Rn. 27, juris Rn. 27; Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB  VII: § 8 Rn. 121; Holtstraeter, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 8 SGB VII Rn. 74; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 94; Becker, MEDSACH 2010, 145 (149); Becker, SGb 2012, 691 (693). 105  BSG, Urt. v. 30.01.2007 – B 2 U 23/05 R, BSGE 98, 79 (82), juris Rn. 16; Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 121; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 94.

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

Leerlaufen würde nicht dem Zweck der gesetzlichen Unfallversicherung entsprechen, sozialen Schutz auch gegen Unfälle in Form gewöhnlicher Ereignisse im Arbeitsalltag zu bieten und den Betriebsfrieden zu wahren.106 Zudem läge darin ein Widerspruch zu § 7 Abs. 2 SGB VII, der zugunsten des Betriebsfriedens den Verschuldensaspekt ausnimmt.107 Die Vermutung gilt jedoch nicht, wenn sogenannte Konkurrenzursachen vorliegen. Darunter werden mögliche Ursachen aus dem nicht versicherten Bereich verstanden.108 Zu diesen sind für die vorliegende Thematik insbesondere die Fallgruppen der inneren Ursachen, der allgemein wirkenden Gefahr und der privat motivierten Überfälle auf Beschäftigte zu zählen.109 cc) Konkurrenzursachen (1) Innere Ursachen Liegt eine innere Ursache vor, ist oftmals bereits aufgrund des fehlenden, von außen einwirkenden Ereignisses kein Unfallereignis gegeben oder die innere Ursache ist von derart überragender Bedeutung, dass es sich bei der Verrichtung zur Zeit des Unfallereignisses nur um eine unbeachtliche, rechtlich unwesentliche Teilursache handelt.110 Der Unfall ereignet sich also möglicherweise „bei“, aber nicht „infolge“ der versicherten Tätigkeit.111 Das Adjektiv „innere“ bezeichnet den Ursprung der Ursache, nämlich die jeweiligen Versicherten selbst beziehungsweise ihre Körper.112 Typische in106  BSG, Urt. v. 30.01.2007 – B 2 U 23/05 R, BSGE 98, 79 (82), juris Rn. 16; Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 121. 107  BSG, Urt. v. 30.01.2007 – B 2 U 23/05 R, BSGE 98, 79 (82), juris Rn. 16; Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 121. 108  Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 90; vgl. Holtstraeter, in: Knickrehm/ Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 8 SGB VII Rn. 75; vgl. Wietfeld, in: Rolfs/ Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 120; Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 122. 109  Die Fallgruppen variieren in Rspr. und Lit. leicht. Vgl. zu den Fallgruppen auch: BSG, Urt. v. 30.01.2007 – B 2 U 23/05 R, BSGE 98, 79 (82), juris Rn. 17; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn.  121 ff.; Holtstraeter, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 8 SGB VII Rn. 74 f.; vgl. auch Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 94 ff.; Becker, SGb 2012, 691 (694 ff.). 110  Vgl. BSG, Urt. v. 15.02.2005 – B 2 U 1/04 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 12 als Gegenbeispiel; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 123; Becker, SGb 2007, 721 (727); Becker, SGb 2012, 691 (694 f.). 111  Köhler, ZFSH/SGB 2012, 383 (390). 112  Becker, SGb 2012, 691 (694).



B. Erfassung psychischer Erkrankungen43

nere Ursachen sind ein Herzinfarkt, epileptischer Anfall,113 Kreislaufkollaps oder das plötzliche Versagen eines Beines wegen Muskelschwäche114.115 Um eine innere Ursache als mögliche Konkurrenzursache zur versicherten Tätigkeit zu prüfen, ist eine genaue Sachverhaltsaufklärung notwendig, weil die Feststellung der inneren Ursache im Vollbeweis notwendig ist. Erst dann können die Ursachenzusammenhänge zum Unfallereignis ermittelt und anschließend bewertet werden.116 Ebenfalls zu den inneren Ursachen gezählt werden können Fälle von Medikamenten-, Drogen- oder Alkoholkonsum sowie Fälle der Übermüdung. Die entscheidende Ursache ist hier nicht beispielsweise der Alkoholkonsum als solcher, sondern die daraus folgenden körperlichen und mentalen Einschränkungen.117 Oftmals erfüllt die Verrichtung in diesen Fällen schon nicht den Versicherungstatbestand, weil nicht mehr die Rede von einer betrieblichen Tätigkeit sein kann, sodass es gar nicht zur Prüfung der Unfallkausalität kommt.118 Bei Übermüdung als unvermeidbarer Erscheinung des Arbeitslebens ist die Unfallkausalität unproblematisch zu bejahen, wenn sie arbeitsbedingt auftritt. Anderes gilt bei rechtlich wesentlichen privaten Ursachen.119 Als innere Ursache in Zusammenhang mit psychischen Beeinträchtigungen wäre vorstellbar, dass die Übermüdung durch psychisch belastende Situationen im Privaten bedingt ist und die dadurch bedingte Unachtsamkeit zum Unfallereignis führt. In diesem Fall wäre die Unfallkausalität zu verneinen. Auch bei Vorliegen einer konkurrierenden inneren Ursache kann die Unfallkausalität zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallereignis in zwei Fällen angenommen werden. Zum einen, wenn die versicherte Tätigkeit wesentlich dazu beigetragen hat, dass die innere Ursache überhaupt vorhanden oder entsprechend ausgeprägt ist. Dies ist beispielsweise der Fall bei 113  BSG,

Urt. v. 17.02.2009 – B 2 U 18/07 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 31. Urt. v. 15.02.2005 – B 2 U 1/04 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 12. 115  Keller, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 8 Rn. 272 ff.; Ricke, in: Körner/ Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII Rn. 25; Wagner, in: Schlegel/ Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 124, wendet gegen eine typisierende Betrachtung aber ein, dass nahezu jede Störung im Körperinneren auch potenziell durch ein äußeres Geschehen (mit-)verursacht sein könne; Becker, SGb 2012, 691 (694). 116  BSG, Urt. v. 17.02.2009 – B 2 U 18/07 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 31, Rn. 15, juris Rn. 15; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB  VII Rn. 123; Holtstraeter, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 8 SGB VII Rn. 74; Becker, SGb 2012, 691 (694). 117  So auch Becker, SGb 2012, 691 (695). 118  Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: §  8 Rn. 68; Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 131. 119  Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII Rn. 120. 114  BSG,

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

einem Sturz durch einen infolge von Arbeitsanstrengungen erlittenen Kreislaufkollaps.120 Zum anderen, wenn Versicherte der Gefahr auf der Unfallstätte ausgesetzt waren, weil sie dort aufgrund der versicherten Tätigkeit anwesend sein mussten, und der Unfall den Versicherten ohne die versicherte Tätigkeit wahrscheinlich nicht in derselben Art oder Schwere zugestoßen wäre.121 (2) Allgemein wirkende Gefahr Auch eine allgemein wirkende Gefahr kann die Unfallkausalität ausschließen. Dabei erliegen Versicherte während einer versicherten Tätigkeit einer Gefahr, der alle Menschen in einem bestimmten Gebiet im Wesentlichen gleich ausgesetzt sind, beispielsweise bei Naturkatastrophen.122 Jedoch ist die Unfallkausalität ausnahmsweise dann zu bejahen, wenn die Versicherten der allgemein wirkenden Gefahr durch ihre versicherte Tätigkeit wesentlich anders ausgesetzt sind als im privaten Bereich wie beispielsweise bei einem Katastropheneinsatz bei einem Erdbeben.123 So wäre die Unfallkausalität gegeben für eine versicherte Person, die zu einem Katastropheneinsatz im Erdbebengebiet geschickt wird und dort aufgrund von Extremsituationen wie der Bergung von Toten, dem Unfallereignis, eine PTBS erleidet, jedoch zu verneinen für in dem Gebiet des Erdbebens Beschäftigte, die während der Arbeit ebenfalls der Gefahr der Konfrontation mit vergleichbaren Extrem­ situationen ausgesetzt sind.

120  Vgl. statt vieler BSG, Urt. v. 15.02.2005 – B 2 U 1/04 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 12, Rn. 15, juris Rn. 23; Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 126; Keller, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 8 Rn. 273d; Ziegler, in: Becker/Franke/Molkentin, SGB VII: § 8 Rn. 166 f.; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S.  94 f.; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 91; Köhler, VSSR 2013, 47 (66 f.). 121  BSG, Urt. v. 15.02.2005 – B 2 U 1/04 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 12, Rn. 15, juris Rn. 23; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 123; Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 126; Keller, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 8 Rn. 273 ff.; Köhler, VSSR 2013, 47 (66 f.). 122  Vgl. BSG, Urt. v. 27.11.1980 – 8a RU 18/79, SozR 2200 § 762 Nr. 2, S. 7, juris Rn. 29; Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 8 Rn. 64; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB  VII Rn. 133; Keller, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 8 Rn. 271a; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 93; Becker, SGb 2012, 691 (697). 123  Keller, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 8 Rn. 271a.



B. Erfassung psychischer Erkrankungen45

(3) Privat motivierte Überfälle auf Beschäftigte In allen Betrieben mit Kontakt zu Kundschaft besteht das Risiko von Übergriffen oder sogar Überfällen auf Beschäftigte, insbesondere wenn diese mit Bargeldkassen arbeiten. Hier kommt neben den Beeinträchtigungen durch körperliche Gewalt solchen durch psychische Gewalt große Bedeutung zu.124 Wird eine versicherte Person, die beispielsweise bei einem Geldtransportunternehmen beschäftigt ist, bei Ausübung ihrer versicherten Tätigkeit Opfer eines Raubüberfalls, kann die Unfallkausalität unproblematisch bejaht werden.125 Schwieriger zu beurteilen sind Fälle privat motivierter Überfälle auf Beschäftigte, wenn der Überfall aus Motiven wie Rache oder persönlicher Feindschaft erfolgt. Sowohl betriebliche als auch private Gründe sind in diesem Fall ursächlich. Nach den allgemeinen Grundsätzen der Theorie der wesentlichen Bedingung ist die Unfallkausalität für die versicherte Tätigkeit dann zu verneinen, wenn das Unfallgeschehen wesentlich durch die private Ursache geprägt ist und die betriebliche dadurch gänzlich verdrängt wird. Dagegen kann sie bejaht werden, wenn besondere Umstände der versicherten Tätigkeit die Tat erst ermöglicht oder wesentlich begünstigt haben.126 d) Gesundheitsschaden Gem. § 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII ist das Vorliegen eines Gesundheitsschadens konstitutives Element für einen Unfall. Der unmittelbar durch das Unfallereignis verursachte Gesundheitsschaden ist zu unterscheiden von einem eventuellen zeitlich später eintretenden Folgeschaden.127 Die klare Abgrenzung des Gesundheitsschadens vom Folgeschaden kann in der Praxis Pro­ bleme bereiten.128 Diese über den Gesundheitsschaden hinausgehenden weiteren Unfallfolgen sind keine Voraussetzung für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls. Um die Differenzierung deutlich zu machen, wird in Literatur und

Köhler, ZFSH/SGB 2012, 138. Köhler, ZFSH/SGB 2012, 138 (139). 126  Vgl. statt vieler BSG, Urt. v. 18.06.2013 – B 2 U 10/12 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 47, Rn. 19, juris Rn. 19; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 136; vgl. auch Müller-Oberthür, Zurechnungsprobleme im Arbeitsunfallrecht, S. 120 ff.; Köhler, ZFSH/SGB 2012, 138 (139 f.). 127  Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 139; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 42 f.; Kunze, VSSR 2005, 299 (314 f.). 128  Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap.  1 S. 11; Becker, BG 2011, 403 (405), Bsp. Verlust eines Fingers. 124  Vgl. 125  Vgl.

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

Rechtsprechung teilweise der Begriff des Gesundheits-„erst“-schadens ver­ wendet,129 was gleichzeitig aber auch zu Missverständnissen führt. Die Abgrenzungsproblematik kann sich auch bei der Unterscheidung des Gesundheitsschadens zu dem von außen einwirkenden Ereignis stellen. Eine Orientierung bietet, dass es sich beim Ereignis typischerweise um einen Vorgang, beim Gesundheitsschaden um das Ergebnis handelt.130 Die Feststellung des Gesundheitsschadens ist eine Tatsachenfrage medizinischer Art.131 Dem Gesundheitsschaden wird der im Sozialversicherungsrecht geltende allgemeine Krankheitsbegriff zugrunde gelegt. Danach muss ein regelwidriger körperlicher, geistiger oder seelischer Zustand vorliegen.132 Schmerzen sind nicht zwingend notwendig, andererseits ist Schmerz allein nicht ausreichend, es braucht zumindest minimale körperliche oder psychische Regelwidrigkeiten.133 Es bedarf keines besonderen Ausprägungsgrades und der Gesundheitsschaden setzt nicht notwendigerweise Behandlungsbedürftigkeit und/oder Arbeitsunfähigkeit voraus.134 Der Gesundheitsschaden kann zudem auch in der Verschlimmerung bereits vorhandener krankhafter Veränderungen durch das Unfallereignis liegen.135

129  Vgl. BSG, Urt. v. 05.07.2011 – B 2 U 17/10 R, BSGE 108, 274; Urt. v. 15.05.2012 – B 2 U 16/11 R, BSGE 111, 52; jedoch zuletzt Urt. v. 26.11.2019 – B 2 U 8/18 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 71, Rn. 12 ff., juris Rn. 12 ff.: sowohl Gesundheitserstschaden in Rn. 12 als auch Gesundheitsschaden in Rn. 16 ff.; so auch Urt. v. 30.01.2020 – B 2 U 9/18 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 72, Rn. 8, juris Rn. 8; Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII Rn. 21, Erst- oder Primärschaden; vgl. dazu auch Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 11; Kunze, VSSR 2005, 299 (314), Primärschädigung. 130  Becker, SGb 2007, 721 (727); Ricke, WzS 2013, 241 (243), Bsp. Abschneiden eines Daumens und das Abgeschnittensein des Daumens. 131  Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 42 f.; Kunze, VSSR 2005, 299 (315). 132  Vgl. BSG, Urt. v. 18.12.1986 – 4 a RJ 9/86, BSGE 61, 113; Urt. v. 15.05.2012 – B 2 U 16/11 R, BSGE 111, 52; Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII Rn. 20; Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/ Wenner, SGB VII: § 8 Rn. 22; Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 151. 133  LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 29.01.2016 – L 8 U 977/15, PflR 2016, 391; Holtstraeter, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 8 SGB VII Rn. 85. 134  Zum Ganzen Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII Rn. 20; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB  VII Rn. 137 f.; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 11; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 42 f.; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S.  104 f.; Köhler, SGb 2014, 69 (77). 135  Ausführlich dazu, auch in Hinblick auf psychische Erkrankungen: Krasney, in: Becker/Burchardt/Krasney/Kruschinsky, SGB VII: § 8 Rn. 804 ff.



B. Erfassung psychischer Erkrankungen47

Schließlich gilt der Grundsatz, dass Versicherte in dem Zustand versichert sind, in dem sie sich bei Eintritt des Versicherungsfalls befunden haben. Deshalb darf für das Vorliegen eines Gesundheitsschadens nicht auf den durchschnittlichen, gesunden Menschen abgestellt werden, sondern auf die individuellen Anlagen der Versicherten.136 Zwar ist anerkannt, dass auch psychische Schäden in Form von psychischgeistigen Beeinträchtigungen vom Begriff des Gesundheitsschadens umfasst sind.137 Allerdings könnten die exakte Bezeichnung und Einordnung aufgrund der Vielfalt psychischer Beeinträchtigungen schwierig sein. e) Haftungsbegründende Kausalität Unter der haftungsbegründenden Kausalität wird der kausale Zusammenhang zwischen Unfallereignis und Gesundheitsschaden verstanden.138 Sie stellt in der Praxis oft eines der zentralen Probleme dar aufgrund des häufig unklaren Unfallgeschehens sowie der häufig lange Zeit zurückliegenden, nicht mehr genau bestimmbaren Einwirkungen oder möglicher konkurrierender Ursachen für die Erkrankungen aus der privaten Risikosphäre.139 Für psychische Erkrankungen, bei denen die individuelle Lebensgeschichte oder Faktoren wie stärker oder schwächer ausgeprägte Resilienz stets eine Rolle spielen, gilt dies in besonderem Maß. Die Prüfung der haftungsbegründenden Kausalität erfolgt ebenfalls nach der Theorie der wesentlichen Bedingung, sodass auf der ersten Stufe die naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachenzusammenhänge untersucht ­ werden und auf zweiter Stufe eine wertende Entscheidung über die Wesentlichkeit der Ursache getroffen wird.140 136  Vgl. BSG, Urt. v. 29.01.1959 – 2 RU 273/56, BSGE 9, 104 (107 f.), juris Rn. 24 ff.; Urt. v. 08.12.1998 – B 2 U 1/98 R, juris; LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 19.04.2018 – L 6 U 150/14, juris Rn. 34; Holtstraeter, in: Knickrehm/Kreikebohm/ Waltermann, Kommentar: § 8 SGB VII Rn. 85; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 43; Köhler, ZFSH/SGB 2012, 383 (388 f.). 137  Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap.  1 S. 11; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 105; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S.  42 f.; Becker, SGb 2007, 721 (727); Kunze, VSSR 2005, 299 (313). 138  Vgl. nur BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (198), juris Rn. 10; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 147; Becker, MEDSACH 2010, 145 (149); Ricke, WzS 2013, 241 (242), kritisch zur Definition der haftungsbegründenden Kausalität. 139  Becker, MEDSACH 2010, 145 (149). 140  Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: §  8 SGB VII Rn. 147; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 21 f.; Becker, MEDSACH 2010, 145 (151); Köhler, SGb 2014, 69 (77).

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

aa) Aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand Grundlage für die Verursachung des Gesundheitsschadens durch das Unfallereignis auf der ersten Prüfungsstufe ist der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten.141 Der Erkenntnisstand ist aber kein eigener Prüfungspunkt für die Prüfung des Ursachenzusammenhangs,142 sondern die wissenschaftliche Grundlage, um anhand dieser die Verursachung des geltend gemachten Gesundheitsschadens im Einzelfall zu klären.143 Insbesondere auf dem Gebiet der Psychologie und Psychiatrie ist der Erkenntnisstand nach dem BSG anhand der einschlägigen Fachliteratur und Standardwerke vorzugsweise zur Begutachtung, anhand der jeweiligen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften, anhand aktueller Veröffentlichungen in den einschlägigen Zeitschriften, der Expertise Sachverständiger sowie statistisch-epidemiologischer Forschungen zu ermitteln.144 Hinsichtlich der Veröffentlichungen ist laut dem BSG zu beachten, dass sie oftmals einer kritischen Würdigung bedürfen, weil sich unter der Autorenschaft (ehemalige) Beschäftigte von Versicherungsträgern befinden.145 Statistisch-epidemiologische Forschungen als Teilgebiet der Medizin untersuchen, wie Krankheiten in der Bevölkerung verteilt sind und welche Variablen damit zusammenhängen.146 Es ist aber nicht erforderlich, dass es stets zu jedem Ursachenzusammenhang statistisch-epidemiologische Forschungen geben muss.147 Denn darin ist nur eine von vielen Methoden zur Gewinnung 141  BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (200), juris Rn. 17; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 21 ff. 142  Die haftungsbegründende Kausalität darf also beispielsweise nicht schon wegen des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes, der eine Verursachung allgemein ausschließt, abgelehnt werden. 143  Vgl. BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (201), juris Rn. 19; Becker, SGb 2007, 721 (728). 144  Statt vieler BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (201, 204), juris Rn.  18, 26  f.; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 148; Mehrhoff et al., Unfallbegutachtung, S. 317, 319; Becker, SGb 2007, 721 (728 f.); Spellbrink, MEDSACH 2017, 51 (54 f.); Ulmer, MEDSACH 2020, 134 (138), kritisch zur Verwendung von Fachliteratur und Standardwerken, da hier letztlich die persönliche Ansicht der Autoren wiedergegeben werde, nicht aber der allgemeine wissenschaftliche Erkenntnisstand. 145  BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (204), juris Rn. 26; Becker, SGb 2007, 721 (728). 146  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 159. 147  BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (201), juris Rn. 18; vgl. auch Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 148; kritisch dazu Stevens/Foerster, MEDSACH 2003, 104 (107).



B. Erfassung psychischer Erkrankungen49

wissenschaftlicher Erkenntnisse zu sehen, zudem eignen sie sich nicht für die Anwendung auf alle denkbaren Ursachenzusammenhänge.148 Bei Fragestellungen, zu denen kein aktueller allgemeiner wissenschaft­ licher Erkenntnisstand existiert, kann nach Abwägung der verschiedenen Auffassungen auch einer nicht nur vereinzelt vertretenen Auffassung gefolgt werden.149 bb) Gelegenheitsursachen Im Bereich der haftungsbegründenden Kausalität wird unter dem Begriff der Gelegenheitsursache150 eine Ursache verstanden, die zwar aus naturwissenschaftlicher Sicht eine Bedingung für den Gesundheitsschaden darstellt, jedoch auf zweiter Prüfungsstufe nicht als rechtlich wesentlich bewertet wird.151 In diesem Zusammenhang spielen Vorerkrankungen oder sonstige Schadensanlagen wie Krankheitsdispositionen eine Rolle. Das Unfallereignis ist dann lediglich Gelegenheitsursache, wenn eine Schadensanlage so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die „Auslösung“ akuter Erscheinungen durch jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit der Erscheinung hätte stattfinden können. Es darf also kein besonderes, in seiner Art unersetzliches, von außen einwirkendes Ereignis nötig gewesen sein.152 148  BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (201), juris Rn. 18; Ulmer, MEDSACH 2020, 134 (138); vgl. auch Burghardt, MEDSACH 2012, 186 (188) zum Bsp. der PTBS. 149  BSG, Urt. v. 17.07.1958 – 11/8 RV 1205/56, SozR Nr. 109 zu § 162 SGG; Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (201), juris Rn. 18; Urt. v. 30.03.2017 – B 2 U 6/15 R, BSGE 123, 24 (29), juris Rn. 18; vgl. auch Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/ Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 148. 150  Der Begriff sollte, um Missverständnisse zu vermeiden, nur im Bereich der haftungsbegründenden, nicht aber der Unfallkausalität verwendet werden, vgl. dazu: Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 8 Rn. 70; vgl. Schulin, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 31 Rn. 13; Köhler, ZFSH/SGB 2012, 383 (391); Köhler, VSSR 2013, 47 (58 f.); für einen gänzlichen Verzicht: Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII Rn. 6; Ricke, BG 1996, 770 (772). 151  Vgl. BSG, Urt. v. 27.10.1987 – 2 RU 35/87, BSGE 62, 220; Holtstraeter, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 8 SGB VII Rn. 92; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 149; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 102 f.; Köhler, VSSR 2013, 47 (54, 58 f.). 152  BSG, Urt. v. 27.10.1987 – 2 RU 35/87, BSGE 62, 220 (222 f.), juris Rn. 27; Urt. v. 12.04.2005 – B 2 U 27/04 R, BSGE 94, 269, juris Rn. 16; Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (200), juris Rn. 15; Holtstraeter, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 8 SGB VII Rn. 92; Schmitt, SGB VII, § 8 Rn. 157; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 28; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 102 f.; Köhler, VSSR 2013, 47 (53).

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

Nachweislich zur Überzeugung des Unfallversicherungsträgers muss feststehen, dass die schon vor dem Unfall vorhandene Krankheitsdisposition von derart überragender Bedeutung war, dass sie letztlich als einzig wesentliche Ursache zu bewerten ist.153 In Anlehnung an die Rechtsprechung zum unfallbedingten verfrühten Todeseintritt154 wird in der Literatur auch darauf abgestellt, ob die krankhafte Veränderung ohne das Unfallereignis zu einem nicht unwesentlich späteren Zeitpunkt aufgetreten wäre, durch das Unfallereignis aber nach vorne verlegt wurde.155 Teils wird das Unfallereignis als wesentliche Ursache angenommen, wenn es den Gesundheitsschaden wenige Wochen oder Monate früher eintreten lässt,156 teils wird dies angenommen, wenn der Gesundheitsschaden durch das Unfallereignis wenigstens ein Jahr früher eintritt.157 Ebenso wie schon für den Gesundheitsschaden erläutert,158 darf als Vergleich nicht herangezogen werden, ob es bei gesunden Menschen bei dem betreffenden Ereignis zu einem Schaden gekommen wäre, weil die Versicherten in demjenigen Zustand in den Unfallversicherungsschutz einbezogen sind, in dem sie sich aktuell befinden.159 f) Gesundheitsfolgeschäden und haftungsausfüllende Kausalität Verbleibt nach dem Abschluss einer Heilbehandlung, bei der ein durch einen Arbeitsunfall verursachter Gesundheitsschaden behandelt wurde, ein länger andauernder Folgeschaden, spielt dieser eine Rolle für die Gewährung von Leistungen gem. §§ 26 ff. SGB VII. Er ist nicht Voraussetzung für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls.160 Nach dem Folgeschaden bemisst sich die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE), sodass er Voraussetzung ist für eine 153  Krasney, in: Becker/Burchardt/Krasney/Kruschinsky, SGB VII: § 8 Rn. 792; Köhler, ZFSH/SGB 2012, 383 (386). 154  Statt vieler BSG, Urt. v. 27.10.1987 – 2 RU 35/87, BSGE 62, 220; Peltzer, Die Theorie der wesentlichen Bedingung, S. 77 ff. 155  Vgl. Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S.  28 f. 156  Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII Rn. 27; Ziegler, in: Becker/Franke/Molkentin, SGB VII: § 8 Rn. 194. 157  Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 165; Krasney, in: Becker/Burchardt/Krasney/Kruschinsky, SGB VII: § 8 Rn. 795; Keller, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 8 Rn. 301. 158  Vgl. o. S. 47. 159  BSG, Urt. v. 27.10.1987 – 2 RU 35/87, BSGE 62, 220 (221), juris Rn. 25; LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 11.04.2013 – L 6 U 80/10, juris Rn. 36; Holtstraeter, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 8 SGB VII Rn. 92 f. 160  BSG, Urt. v. 12.04.2005 – B 2 U 11/04 R, BSGE 94, 262 (263), juris Rn. 12; Becker, MEDSACH 2010, 145 (148 f.); Köhler, SGb 2014, 69 (78); Ricke, WzS



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Verletztenrente gem. § 56 SGB VII.161 Typische Unfallfolgen können ein Hörverlust aufgrund einer Trommelfellverletzung, die einseitige Erblindung aufgrund einer Augenverletzung, eine PTBS infolge eines psychischen Traumas oder Arthrose als Langzeitfolge einer Gelenkverletzung darstellen.162 Der Ursachenzusammenhang zwischen Gesundheitsschaden und Folgeschaden wird als haftungsausfüllende Kausalität bezeichnet.163 Er setzt voraus, dass der Folgeschaden rechtlich wesentlich durch den Gesundheitsschaden verursacht wurde.164 g) Verfahrens- und Beweisfragen Im Sozialrecht müssen gem. § 128 Abs. 1 S. 1 SGG grundsätzlich die einzelnen Voraussetzungen zur eigenen Überzeugung des zuständigen Richters oder der zuständigen Richterin feststehen, dies gilt auch für die Entscheidung des zuständigen Unfallversicherungsträgers.165 Der erforderliche Beweismaßstab, zu dem die richterliche Überzeugung feststehen muss, hängt davon ab, ob es sich um rechtserhebliche Tatsachen oder um Kausalzusammenhänge handelt.166 Außerdem gilt gem. § 20 Abs. 1 SGB X und § 103 SGG der Amtsermittlungsgrundsatz, wonach der zuständige Unfallversicherungsträger beziehungsweise das Gericht bei Bedarf Ermittlungen zur Wahrheitsfindung vorzunehmen hat. Darunter fällt die Einholung von Gutachten medizinischer oder technischer Sachverständiger, weil oftmals deren Sachkunde notwendig ist, um die Frage nach dem ursächlichen Zusammenhang zwischen schädigender Einwirkung und Gesundheitsschaden zu beantworten.167 2013, 241 (243), zudem kritisch aufgrund der Unbestimmtheit der Formulierung „länger andauernd“. 161  BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (203), juris Rn. 22; Holtstraeter, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 8 SGB VII Rn. 93; Becker, SGb 2007, 721 (727 f.). 162  Köhler, SGb 2014, 69 (78). 163  Vgl. zur Einführung der neuen Terminologie: BSG, Urt. v. 12.04.2005 – B 2 U 11/04 R, BSGE 94, 262 (263), juris Rn. 12; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/ Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 158; Holtstraeter, in: Knickrehm/ Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 8 SGB VII Rn. 93. 164  BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (202), juris Rn. 21; Holtstraeter, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 8 SGB VII Rn. 95; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 109 f.; Becker, SGb 2007, 721 (728). 165  Vgl. Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 7 Rn. 39; zur Verwaltung: Siefert, in: Schütze, SGB X: § 20 Rn. 12; Becker, SGb 2007, 721 (729). 166  Becker, MEDSACH 2010, 145 (147). 167  Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 7 Rn. 38; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 55; Hollo, SozSich 2019, 269 (271).

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

aa) Beweismaßstab für rechtserhebliche Tatsachen Für die rechtserheblichen Tatsachen, also die äußerlich fass- und feststellbaren Tatbestandsmerkmale, ist eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit nötig, oft auch als Vollbeweis bezeichnet.168 Das gilt für die ver­ sicherte Tätigkeit, die Verrichtung zur Zeit des Unfallereignisses, das Unfall­ ereignis und gegebenenfalls nicht versicherte Konkurrenzursachen, den Gesundheitsschaden, eventuelle Folgeschäden sowie konkret feststellbare, für die Beurteilung der Ursachenzusammenhänge rechtlich relevante Tatsachen, worunter anerkannte medizinische Erfahrungssätze oder konkurrierende Gesundheitsstörungen zu zählen sind.169 An Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit liegt vor, wenn die Tatsache in derart hohem Maß wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen.170 Auch kann sie angenommen werden, wenn kein vernünftiger, die Lebensverhältnisse klar überschauender Mensch noch zweifelt. Allerdings müssen Zweifel als Möglichkeit des Gegenteils nicht vollkommen ausgeschlossen sein, sie dürfen sich nur nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten.171 bb) Beweismaßstab für Kausalzusammenhänge Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge gilt ein geringerer Maßstab, hinreichende Wahrscheinlichkeit ist ausreichend.172 „Hinreichend“ dient hierbei lediglich der 168  BSG, Urt. v. 27.03.1958 – 8 RV 387/55, BSGE 7, 103 (106), juris Rn. 16; Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 7 Rn. 41; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG: § 128 Rn. 3b; Mehrtens/Valentin/ Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 56; Schöpf, Multikausale Schäden in der gesetzlichen Unfallversicherung, S. 77 ff., ausführlich zu Beweiswürdigung und Beweislast in der GUV; Becker, MEDSACH 2010, 145 (147). 169  Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap.  1 S. 57. 170  BSG, Urt. v. 27.03.1958 – 8 RV 387/55, BSGE 7, 103 (106), juris Rn. 16; vgl. auch Urt. v. 05.05.2009 – B 13 R 55/08 R, BSGE 103, 99 (104), juris Rn. 28; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG: § 128 Rn. 3b; Mehrtens/Valentin/ Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 56. 171  Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG: §  128 Rn.  3b; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 56; Becker, SGb 2007, 721 (729). 172  BSG, Urt. v. 02.04.2009 – B 2 U 9/08 R, BSGE 103, 59 (60), juris Rn. 9, m. w. N.



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Verdeutlichung, hat aber keine darüber hinausgehende Bedeutung.173 Weil die Beurteilung medizinischer oder allgemein naturwissenschaftlicher Zusammenhänge oftmals praktische Schwierigkeiten mit sich bringt, würden zu strenge Beweisanforderungen dem sozialen Schutzprinzip zuwiderlaufen.174 Bei vernünftiger Abwägung aller Umstände müssen die für den wesentlichen Ursachenzusammenhang sprechenden Umstände derart überwiegen, dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann, ohne dass ernste Zweifel existieren. Die bloße Möglichkeit der Verursachung genügt nicht.175 Nach der heranzuziehenden geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung, also der Summe wissenschaftlicher Erkenntnisse und Erfahrungen, die in Forschung und Lehre als hinreichend gesichert gelten, muss mehr für als gegen einen Zusammenhang sprechen. Nicht in Betracht gezogen werden dürfen die Arbeitshypothesen einzelner Personen aus der Wissenschaft sowie unbestätigte Erfahrungen oder persönliche Erklärungsversuche von Sach­ verständigen.176 In Fällen, in denen kein aktueller allgemeiner wissenschaft­ licher Erkenntnisstand existiert, kann nach Abwägung der verschiedenen Auffassungen auch einer nicht nur vereinzelt vertretenen Auffassung gefolgt werden.177 Kein Beweis kann erhoben werden über juristische Wertungsfragen wie die Erfüllung des Versicherungstatbestandes oder die juristische Bewertung der rechtlichen Wesentlichkeit einer Ursache. Deshalb muss stets differenziert werden, was im Einzelfall umstritten ist.178 Bereits die Tatsache, dass es zu psychischen im Gegensatz zu somatischen Erkrankungen keine „sichtbaren“ Befunde gibt, legt nahe, dass sich der Nachweis im erforderlichen Beweismaßstab für psychische Erkrankungen deutlich schwieriger gestaltet.

173  Keller,

in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG: § 128 Rn. 3c. BSG, Urt. v. 20.03.2007 – B 2 U 27/06 R, SozR 4-1300 § 45 Nr. 5, Rn. 20, juris Rn. 20; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 57; Becker, SGb 2007, 721 (729). 175  BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (202), juris Rn. 20, m. w. N.; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG: § 128 Rn. 3c; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 58; ­Becker, SGb 2007, 721 (729). 176  Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap.  1 S. 58. 177  BSG, Urt. v. 17.07.1958 – 11/8 RV 1205/56, SozR Nr. 109 zu § 162 SGG; Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (201), juris Rn. 18; vgl. auch Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 148. 178  Vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG: § 128 Rn. 3c; Becker, SGb 2007, 721 (729); vgl. Krasney, VSSR 1993, 81 (113). 174  Vgl.

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

cc) Umgang mit medizinischen Sachverständigengutachten Der Umgang mit medizinischen Sachverständigengutachten bereitet in der Praxis oft Probleme. Zwar sind die Aufgaben zwischen den medizinischen Sachverständigen und dem Gericht oder Unfallversicherungsträger eigentlich klar getrennt. Die Sachverständigen legen die naturwissenschaftlichen Verursachungszusammenhänge dar, liefern also die Tatsachen in Form von Aussagen über die Kausalzusammenhänge auf erster Stufe der Theorie der wesentlichen Bedingung. Gericht oder Unfallversicherungsträger bewerten diese anschließend im Rahmen der zweiten Stufe der Theorie der wesentlichen Bedingung. Sie beantworten die Frage, ob der naturwissenschaftliche Kausalzusammenhang ausreicht, um die jeweilige Norm nach ihrem Sinn und Zweck anzuwenden.179 Jedoch besteht insbesondere bei der Beurteilung medizinischer Sachverhalte die Gefahr, dass sich die Aufgabenverteilung zugunsten der Sachverständigen verschiebt, sodass sie unzulässigerweise auch Aussagen über die rechtliche Wesentlichkeit treffen.180 Zwar ist zur Vermeidung von Missverständnissen notwendig, dass medizinische Sachverständige einen Grundstock an für sie relevantem juristischen Wissen besitzen, darunter insbesondere die richtigen Begrifflichkeiten.181 Die klare Aufgabentrennung ist jedoch zwingende Voraussetzung für eine gelingende Zusammenarbeit.182 Schließlich wird kritisiert, dass eine Interessenkollision bereits von vornherein angelegt ist für den Fall, dass der zuständige Unfallversicherungsträger ein Sachverständigengutachten in Auftrag gibt. Dazu ist er durch den Amtsermittlungsgrundsatz verpflichtet.183 Zugleich ist er aber Leistungs­ erbringer.184 Die Praxis zeigt, dass es deshalb hilfreich ist, wenn sich Versicherte trotz Amtsermittlungsgrundsatz selbst frühzeitig aktiv an der Aufklärung des Sachverhalts beteiligen.185 Psychische Erkrankungen sind schon aufgrund des Fehlens „sichtbarer“ Befunde in besonderem Maß auf Sachverständigengutachten angewiesen, 179  Spellbrink, MEDSACH 2017, 51 (54); vgl. dazu auch Handbücher zur Begutachtung: Mehrhoff et al., Unfallbegutachtung, S. 318 f., im Vergleich zur Vorauflage nun sehr deutliche und instruktive Darstellung der Aufgabentrennung. 180  Becker, SGb 2007, 721 (728); Spellbrink, MEDSACH 2017, 51 (54); Fabra, MEDSACH 2020, 107. 181  Vgl. Mehrhoff et al., Unfallbegutachtung, S. 316. 182  Fabra, MEDSACH 2020, 107; vgl. auch Ulmer, MEDSACH 2020, 134. 183  Vgl. o. S. 51. 184  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 415 ff., ausführlich zur Problematik in Bezug auf Berufskrankheiten; Hollo, SozSich 2019, 269 (273). 185  Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 7 Rn. 58.



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weshalb dortige Probleme bei ihnen in besonderem Maße nachteilig zum Tragen kommen dürften. dd) Keine Beweislastumkehr Für den Arbeitsunfall existiert keine Beweislastregel, nach der bei einer fehlenden Alternativursache die versicherte naturwissenschaftliche Ursache automatisch wesentliche Ursache ist. Dies würde bei komplexen Krankheitsgeschehen faktisch zu einer Beweislastumkehr führen.186 Jedoch gibt es eine Ausnahme für Beweisnotstände, bei der aufgrund von Besonderheiten des Sachverhalts verminderte Anforderungen an den Beweis gestellt werden können. Dies bedeutet nicht eine Herabsetzung des Beweismaßstabes.187 Es ermöglicht nur, dass das Gericht oder der zuständige Unfallversicherungsträger im Rahmen der freien Beweiswürdigung gem. § 128 Abs. 1 SGG schon aufgrund weniger tatsächlicher Anhaltspunkte von einem bestimmten Geschehensablauf überzeugt sein können. Die Besonderheiten des Sachverhalts bei Beweisnotständen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie durch die versicherte Tätigkeit oder sonstige dem zuständigen Unfallversicherungsträger zurechenbaren Umstände verursacht sind oder das einzige Beweismittel ­unerreichbar oder unergiebig ist. Beispiele sind die Nichtveranlassung einer erkennbar notwendigen Leichenöffnung durch den zuständigen Unfall­ versicherungsträger,188 unfallbedingte Erinnerungslücken von Verletzten189 oder die Aufklärung eines viele Jahre zurückliegenden Sachverhalts190.191 Für die Anerkennung psychischer Erkrankungen als Arbeitsunfall sind bislang keine Fälle in der Rechtsprechung ersichtlich, für die ein Beweisnotstand bejaht wurde.

186  Vgl. statt vieler BSG, Urt. v. 24.10.1957 – 10 RV 945/55, BSGE 6, 70; Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (202), juris Rn. 20; Wagner, in: Schlegel/ Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 7 Rn. 47; Udsching, in: Krasney/­Udsching/ Groth, Hdb. soz.gerichtl. Verfahren: III. Kap. Rn. 29; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 58; Becker, SGb 2007, 721 (729). 187  Vgl. BSG, Urt. v. 27.05.1997 – 2 RU 38/96, SozR 3-1500 § 128 Nr. 11. 188  BSG, Urt. v. 27.05.1997 – 2 RU 38/96, SozR 3-1500 § 128 Nr. 11, selbst dann keine Beweislastumkehr, wenn dem Unfallversicherungsträger Beweisvereitelung vorzuwerfen ist. 189  BSG, Urt. v. 12.06.1990 – 2 RU 58/89, juris Rn. 15 f. 190  BSG, Urt. v. 02.12.2008 – B 2 U 26/06 R, BSGE 102, 111 (121), juris Rn. 39. 191  Zum Ganzen Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 7 Rn. 47; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 58.

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ee) Grundsatz der objektiven Beweislast Zwar tragen die Versicherten aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes keine Beweislast. Ist nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten zur Sachverhaltsaufklärung die Feststellung im erforderlichen Grad der Gewissheit jedoch nicht vollständig möglich, stellt sich die Frage nach der objektiven Beweislast.192 Auch im sozialgerichtlichen Verfahren gilt der sogenannte Grundsatz der objektiven Beweislast, nach dem die objektive Beweislast von der Person zu tragen ist, die Vorteile aus der Feststellung bestimmter Tatsachen ziehen würde.193 Zumeist sind das die Versicherten, die bei Bejahung der Tatbestandsmerkmale einen Anspruch gegen den Unfallversicherungsträger haben. Es gerät ihnen zum Nachteil, wenn die anspruchsbegründenden Normen und Tatsachen nicht nachweisbar sind. Der zuständige Unfallver­ sicherungsträger dagegen hat die Nachteile zu tragen, wenn die anspruchshindernden, -vernichtenden und -hemmenden Normen nicht nachweisbar sind.194 Kann mangels Konsenses kein allgemeiner aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand ermittelt werden, darf das jedoch nicht ausschließlich zu Lasten der Versicherten gehen. In diesen Fällen müssen medizinische Sachverständige ein umfassendes Bild über den Stand der aktuellen medizinischen Überlegungen und Forschungen liefern. Das Gericht hat darauf aufbauend die Entscheidung unter Berücksichtigung des Schutzzwecks der Norm zu treffen.195 Dies gilt auch bei der Beweisnot von Versicherten hinsichtlich des Vorliegens eines Gesundheitsschadens. Gibt es weder einen Bericht von Durchgangs-Arzt oder -Ärztin (D-Arzt oder -Ärztin) noch andere zeitnahe medizinische Befunde, ist der Nachweis eines Gesundheitsschadens nicht automatisch ausgeschlossen. Vielmehr kommt es in diesen Fällen auf die Schilderung der Verletzten und ihre Glaubwürdigkeit an, für welche Widerspruchsfreiheit, Schlüssigkeit und Übereinstimmung mit beweisbaren Nebenpunkten Anhaltspunkte sein können. Auch kann möglicherweise ein sicherer 192  Vgl. Holtstraeter, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 8 SGB  VII Rn. 7; Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 7 Rn. 45; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 60. 193  St. Rspr., statt vieler BSG, Urt. v. 24.10.1957 – 10 RV 945/55, BSGE 6, 70. 194  Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG: § 103 Rn. 19a; Siefert, in: Schütze, SGB X: § 20 Rn. 32; Udsching, in: Krasney/Udsching/Groth, Hdb. soz.gerichtl. Verfahren: III. Kap. Rn. 27; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 60; Schulin, in: Schulin, HdBSozVersR/ Bd. 2 UV: § 32 Rn. 21; Becker, SGb 2007, 721 (729); Köhler, ZFSH/SGB 2012, 138 (141). 195  Spellbrink, MEDSACH 2017, 51 (55).



B. Erfassung psychischer Erkrankungen57

Rückschluss von Unfallfolgen auf einen geeigneten Gesundheitsschaden weiterhelfen.196 Für Fälle psychischer Erkrankungen, bei denen die Beweisschwierigkeiten gerade für die haftungsbegründende Kausalität besonders groß sein können, liegt es nahe, dass sich der Grundsatz der objektiven Beweislast in besonderem Maße zum Nachteil der Versicherten auswirkt. h) Zwischenergebnis Aufgrund der Analyse der Voraussetzungen für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls sollen im Folgenden einige Punkte noch einmal besonders in den Blick genommen werden, bei denen sich in Bezug auf psychische Erkrankungen größere Probleme zu stellen scheinen. Im Wesentlichen sind dies Probleme im Rahmen des Unfallereignisses, des Gesundheitsschadens sowie der haftungsbegründenden Kausalität. 2. Probleme bei der Anerkennung als Arbeitsunfall a) Probleme bei der Feststellung des Unfallereignisses Für die Voraussetzung des Unfallereignisses soll in Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen auf das Kriterium der zeitlichen Begrenzung und das von außen einwirkende Ereignis eingegangen werden. aa) Zeitliche Begrenzung (1) Kriterium der zeitlichen Begrenzung häufig nicht erfüllt Wie erläutert,197 darf das Unfallereignis die Dauer einer Arbeitsschicht nicht überschreiten. Problematisch wäre dieses Kriterium, wenn sich psychische Erkrankungen gerade dadurch auszeichnen, oftmals durch mehrere Ereignisse verursacht zu werden. Denn mehrere Ereignisse, die erst zusammen den Gesundheitsschaden verursachen, erfüllen nicht das Kriterium der zeit­ lichen Begrenzung im Rahmen des Arbeitsunfalls. Das Kriterium soll dazu dienen, allmählich auf die Gesundheit einwirkende Faktoren vom Schutz als Arbeitsunfall auszunehmen.198

196  Kunze,

VSSR 2005, 299 (316). o. S. 37. 198  Burghardt, MEDSACH 2012, 186. 197  Vgl.

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

Tatsächlich ist die zeitliche Begrenzung des Unfallereignisses auf die Dauer von maximal einer Arbeitsschicht einer der Hauptgründe, warum für viele arbeitsbedingte psychische Belastungen und Erkrankungen keine hinreichende unfallversicherungsrechtliche Absicherung existiert.199 Denn in bestimmten Berufen treten gehäuft psychisch belastende Ereignisse auf. Sie wirken sich erst in ihrer Gesamtheit belastend aus, weshalb das einzelne Ereignis noch keinen Gesundheitsschaden hervorruft, die Ereignisse zusammen genommen aber die zeitliche Begrenzung einer Arbeitsschicht überschreiten und deshalb nicht als Arbeitsunfall anerkannt werden können.200 Das gehäufte Auftreten psychisch belastender Ereignisse wurde beobachtet für Beschäftigte im Not- und Rettungsdienst, die häufig bei Unglückssituationen vor Ort sind, und für Beschäftigte, bei denen es regelmäßig zu Bedrohungsund Gewalterfahrungen am Arbeitsplatz kommt. Zu letzteren gehören Zugbegleitungs-, Verkaufs-, Krankenpflege-, Wach- und Sicherheitspersonal sowie Polizei und weitere Beschäftigte mit intensivem Kontakt zu Kundschaft, Patientinnen und Patienten oder betreuten Personen.201 Die Problematik soll an den folgenden Beispielen verdeutlicht werden, in denen nicht ein einzelnes, zeitlich begrenztes Ereignis ausschlaggebend war:202 Bei Einsätzen in afrikanischen Ländern wird ein Beschäftigter des Deutschen Entwicklungsdienstes bei bürgerkriegsähnlichen Unruhen wiederholt mit dem Tod von einheimischen Teammitgliedern konfrontiert und leidet in der Folge unter einer PTBS.203 Ein Lokführer erlebt innerhalb mehrerer Jahre mehrere Suizid-Überfahrunfälle204 und leidet nach dem vierten Ereignis unter einer derart schweren psychischen Erkrankung, dass er seine Tätig-

199  Vgl. Tieste, Haftungsfall Stresserkrankung, S. 173; Spellbrink, SozSich 2019, 32 (33); Becker, ASUMed 2006, 304 (306). 200  Drechsel-Schlund, MEDSACH 2014, 153 (154); vgl. zur Problematik auch Molkentin, SGb 2021, 76 (82). 201  Drechsel-Schlund, MEDSACH 2014, 153 (154); vgl. zur Nennung entsprechender Berufsgruppen in Verbindung mit PTBS-Prävalenz Falkai et al., DSM-5, S. 376. 202  Vgl. zu den Beispielen Kranig, SGb 2019, 65 (75). 203  BSG, Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris. 204  Vgl. dazu auch den Sicherheitsbericht des Eisenbahn-Bundesamts 2019, S. 30, abrufbar unter: https://www.eba.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Allgemeines/ Sicherheitsbe-richte/sicherheitsbericht_2019.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (abgerufen am 16.12.2021): 2019 gab es 646 sog. Schienen-Suizide, was gleichzeitig bedeutet, dass in 646 Fällen eine lokführende Person davon betroffen war. Das Ausmaß der Problematik bei lokführenden Personen verdeutlicht auch der Tarifvertrag über besondere Bedingungen bei Verlust der Fahrdiensttauglichkeit zwischen GDL und AGV MoVe, vgl. insbesondere § 3 Abs. 2 und 3 des Tarifvertrags, abrufbar unter: https://uploads.gdl.de/Service/Download-1509959842.pdf (abgerufen am 16.12.2021).



B. Erfassung psychischer Erkrankungen59

keit aufgeben muss. Ein Schüler205 wird über einen längeren Zeitraum durch seinen Sportlehrer sexuell missbraucht und erleidet dadurch eine schwere psychische Erkrankung.206 Zwar ist es nicht ausgeschlossen,207 dass im Einzelfall ein individuelles, konkretes, auf eine Arbeitsschicht begrenztes Ereignis existiert, das sich von den nacheinander in verschiedenen Arbeitsschichten einwirkenden Ereignissen, die zusammen zu der Schädigung führten, aus der Gesamtheit der Einwirkungen derart hervorhebt, dass es nicht nur das letzte mehrerer gleichwertiger Ereignisse bildet. Dies kann angenommen werden, wenn dem Ereignis eine gleichsam eigenständige wesentliche Bedeutung für den eingetretenen Schaden zukommt, sodass es als Ereignis im Sinne des § 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII gewertet werden kann und damit ein Arbeitsunfall in Betracht kommt.208 Beispielsweise kann für die Entführung von Versicherten auf den Überfall am Anfang oder auf eine besondere Gewaltanwendung im Laufe der Entführung abgestellt werden.209 Schwieriger wird es aber bereits bei der Situation des Beschäftigten eines Entwicklungsdienstes im Ausland, der in der latenten Bedrohung vor Ort lebt und alltäglich Not und Elend erfährt.210 Dennoch bleibt das Abstellen auf das letzte oder das gravierendste Ereignis bislang die einzige Methode, um in diesen Fällen einen Arbeitsunfall annehmen zu können. Die Lage wird jedoch auch dadurch noch weiter erschwert, dass diese Methode keine sichere Option für die Betroffenen darstellt. Denn auch wenn ein solches herausragendes Ereignis existiert, gelingt den Betroffenen die Führung des Nachweises dafür, dass dieses Ereignis die rechtlich wesentliche Ursache war, nicht immer.211 Kann kein Arbeitsunfall angenommen werden, bleibt für diese Fälle lediglich der Versicherungsfall der Berufskrankheit gem. § 9 SGB VII. Allerdings enthält die Berufskrankheiten-Liste bisher keine psychischen Erkrankungen und auch die Anerkennung als Wie-Berufskrankheit gem. § 9 Abs. 2 SGB VII führte bisher in keinem Fall zu einem Erfolg.212 Dass durch die zeitliche Begrenzung des Unfallereignisses beim Arbeitsunfall eine Regelungslücke 205  Schüler

sind gem. § 2 Abs. 1 Nr. 8b SGB VII in der GUV versichert. SGb 2019, 65 (75). 207  Vgl. zu dieser Ausnahme bereits o. S. 38. 208  Vgl. BSG, Urt. v. 18.12.1979 – 2 RU 77/77, juris; vgl. zuletzt SG Stuttgart, Urt. v. 14.06.2019 – S 1 U 1827/17, juris Rn. 30, PTBS nach mehreren Ereignissen; Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 154 f.; Molkentin, SGb 2021, 76 (82). 209  Becker, MEDSACH 2012, 124 (126). 210  Becker, MEDSACH 2012, 124 (126). 211  Kranig, SGb 2019, 65 (75); vgl. Widder et al., MEDSACH 2016, 156 (158). 212  Vgl. Becker, ASUMed 2006, 304 (306); Spellbrink, SozSich 2019, 32 (33 ff.). 206  Kranig,

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

im Versicherungsschutz entsteht, ist indes nicht unbekannt. Vielmehr wird in Kauf genommen, dass durch die zeitliche Begrenzung nicht alle arbeitsbedingten Erkrankungen unter den Versicherungsschutz fallen. Schulin bezeichnet diese Regelungslücke als „wenig überzeugend“.213 Krasney unterbreitete bereits erfolglos den Vorschlag, die zeitliche Begrenzung auf eine Woche auszuweiten, um die Problematik zu entschärfen.214 Im Einzelfall existieren zu derartigen Situationen für bestimmte Gruppen Lösungen. Gem. § 10 Abs. 1 EhfG werden Leistungen entsprechend denen der gesetzlichen Unfallversicherung für Entwicklungshelfer und Entwicklungshelferinnen gewährt, wenn zwar kein Arbeitsunfall oder keine Berufskrankheit vorliegt, eine Gesundheitsstörung oder der Tod jedoch auf Verhältnisse zurückzuführen ist, die dem Entwicklungsland eigentümlich sind und für die Person auch außerhalb des Entwicklungsdienstes eine besondere Gefahr bedeuten. Auch durch den in der Schifffahrt existierenden Betriebsbann können derartige Fälle aufgefangen werden.215 Außerdem besteht eine Absicherung gem. § 2 Abs. 3 Nr. 3a S. 2 SGB VII für Personen aus dem öffentlichen Dienst, die eine Tätigkeit bei einer zwischenstaatlichen oder überstaatlichen Organisation ausüben. Die Absicherung erstreckt sich auf Unfälle oder Krankheiten, die infolge einer Verschleppung oder einer Gefangenschaft eintreten oder darauf beruhen, dass die Versicherten aus sonstigen mit ihrer Tätigkeit zusammenhängenden Gründen, die sie nicht zu vertreten haben, dem Einflussbereich ihres Arbeitgebers oder ihrer Arbeitgeberin entzogen sind. Diese Regelungen greifen jedoch nur punktuell und in sehr speziellen Fällen ein.216 Eine besondere Rolle spielt die Problematik der zeitlichen Begrenzung für die PTBS und Fälle psychischer Gewalt, insbesondere Mobbing. (2) PTBS Die PTBS kann nach den Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-5 nicht nur durch ein einzelnes Ereignis, sondern auch durch mehrere Ereignisse ausgelöst werden.217 DSM-5 stellt auf ein „direktes Erleben eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse“ ab,218 in ICD-10 wird unter F43.1 für die PTBS die „verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis 213  Schulin,

in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 28 Rn. 11. VSSR 1993, 81 (93). 215  Vgl. o. S. 32. 216  Zum Ganzen Becker, ASUMed 2006, 304 (306). 217  Molkentin, SGb 2019, 200 (203 f.). 218  Falkai et al., DSM-5, S. 369; vgl. Anhang S. 233. 214  Krasney,



B. Erfassung psychischer Erkrankungen61

oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer“ genannt.219 Die Formulierung in ICD-10 wird in dieser Hinsicht bislang noch als unpräzise bewertet, auch wenn man unter einer Situation kürzerer oder längerer Dauer bereits mehrere einzelne Ereignisse verstehen könne, welche die notwendige Schwere mit sich bringen.220 Jedenfalls findet durch die neue Version ICD11, die ab 2022 gelten soll, eine Klarstellung statt. Dort findet sich der Wortlaut „event or series of events“.221 In DSM-5 werden explizit Beispiele genannt für derartige wiederkehrende Ereignisse, die eine PTBS auslösen können. Aufgeführt wird die wiederkehrende Konfrontation mit aversiven Details wie bei Ersthelfenden, die menschliche Leichteile aufsammeln, und bei Polizisten und Polizistinnen, die wiederholt mit Bildern von Kindesmissbrauch arbeiten müssen.222 Bemerkenswert ist, dass die Klarstellung, die PTBS könne auch durch mehrere Ereignisse ausgelöst werden, eine Neuerung sowohl in DSM-5 als auch in ICD-11 darstellt.223 Daraus lässt sich ein gesteigertes Bewusstsein dafür folgern, dass psychische Erkrankungen wie die PTBS nicht nur durch einzelne, sondern auch durch mehrere Ereignisse ausgelöst werden können. An dieser Stelle zeigt sich aber auch das bisher noch unterschiedliche Verständnis von medizinischer Klassifizierung und der gesetzlichen Unfallver­ sicherung, weil sich Arbeitsunfall und Auslösung einer PTBS durch mehrere Ereignisse nicht in Einklang bringen lassen.224 Es bleibt nur der Versicherungsfall der (Wie-)Berufskrankheit gem. § 9 SGB VII, für den die Anerkennung einer PTBS bislang noch nie erfolgt ist.

219  Vgl.

Anhang S. 231. SGb 2019, 200 (204). 221  Molkentin, SGb 2019, 200 (204). 222  Falkai et al., DSM-5, S. 369; vgl. Anhang S. 233; Widder et al., MEDSACH 2016, 156 (158). 223  Vgl. zu DSM-5 Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 154 f.; vgl. Saß, DSM-IV, S. 520, allerdings kannte auch DSM-IV schon die Konfrontation mit einem oder mehreren Ereignissen; dennoch unterscheidet sich der Wortlaut, weil in DSM-5 nun nicht mehr in gleicher Weise auf das eine traumatische Ereignis abgestellt wird; vgl. zu ICD-11 Molkentin, SGb 2019, 200 (204). 224  Vgl. dazu zuletzt SG Stuttgart, Urt. v. 14.06.2019 – S 1 U 1827/17, juris; Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 154; vgl. zu dieser Problematik auch Fabra, MEDSACH 2020, 107 (111). 220  Molkentin,

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

(3) Fälle psychischer Gewalt, insbesondere Mobbing 2019 wurden etwa 16.000 anerkannte Arbeitsunfälle durch Gewalt, Angriff, Bedrohung oder Überraschung verursacht, wobei die meisten durch betriebsfremde Personen verursacht wurden.225 Bei derartigen Übergriffen stehen weniger körperliche, sondern meist psychische Folgen im Vordergrund.226 Aufgrund der zeitlichen Begrenzung des Überfalls ist die Anerkennung als Arbeitsunfall in diesen Fällen weniger problematisch. Anders sieht es dagegen bei Mobbing und sexueller Belästigung aus. Seit Jahren ist anerkannt, dass Belästigung und Mobbing am Arbeitsplatz ein großes Risiko für psychische Erkrankungen darstellen.227 Nicht jeder Konflikt im Kollegium oder jede Kritik von Vorgesetzten stellt gleich einen Fall von Mobbing dar. Bislang ist die Abgrenzung aber mangels einheitlicher international anerkannter Definition schwierig.228 Das Institut für Arbeit und Gesundheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung e. V. versteht unter Mobbing die konflikthafte Kommunikation am Arbeitsplatz unter Kollegen und Kolleginnen oder zwischen Vorgesetzten und Beschäftigten, bei der eine Person von einer oder einer Mehrzahl an Personen systematisch, oft (mindestens einmal pro Woche) und während einer längeren Zeit von mindestens sechs Monaten mit dem Ziel des Ausstoßes aus dem Arbeitsverhältnis direkt oder indirekt angegriffen wird.229 Durch das BSG wurde Mobbing bislang im Rahmen des sozialen Entschädigungsrechts definiert. Es versteht darunter einen sich über längere Zeit hinziehenden Konflikt zwischen dem Opfer und Personen seines gesellschaftlichen Umfeldes, in dessen Verlauf das Opfer verbal attackiert, in seinen Kommunikationsmöglichkeiten eingeschränkt, in seinen sozialen Beziehungen angegriffen und in seinem Ansehen herabgesetzt wird.230 DGUV, Arbeitsunfallgeschehen 2019, S. 89. et al., Bundesgesundheitsbl. 2016, 88 (92). 227  Köhler, ZFSH/SGB 2012, 138, m. w. N.; vgl. Steiger-Sackmann, Schutz vor psychischen Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz, Rn. 339 ff. zu Mobbing bei Beschäftigten in der Schweiz. 228  Köhler, ZFSH/SGB 2012, 138 (143 f.); vgl. auch Paridon, BG 2003, 154. 229  Vgl. dazu IAG, Mobbing am Arbeitsplatz. Aus der Arbeit des IAG Nr. 3005, abrufbar unter: https://publikationen.dguv.de/widgets/pdf/download/article/2438 (abgerufen am 16.12.2021); Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/ Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 173; Köhler, ZFSH/SGB 2012, 138 (143  f.); vgl. Weber/Hörmann/Köllner, Gesundheitswesen 2007, 267 (268 f.) zu weiteren Definitionsvorschlägen, m. w. N.; Paridon, BG 2003, 154. 230  BSG, Urt. v. 14.02.2001 – B 9 VG 4/00 R, BSGE 87, 276 (278), juris Rn. 15; Rademacker, in: Knickrehm/Dau, SER: § 1 OEG Rn. 54; Gelhausen, in: Gelhausen/ Weiner, OEG: § 1 Rn. 23, Mobbing werde im SER nur als gesellschaftlich missbilligt angesehen, erfülle bislang aber nicht die Definition des tätlichen Angriffs; ob sich 225  Vgl.

226  Nienhaus



B. Erfassung psychischer Erkrankungen63

Den beiden Definition gemeinsam ist der notwendige längere Zeitraum des Mobbings, sodass das Kriterium der zeitlichen Begrenzung auf längstens eine Arbeitsschicht nicht erfüllt wird.231 Mobbing zeichnet sich dadurch aus, dass nicht einzelne, abgrenzbare Handlungen, sondern die Zusammenfassung mehrerer Einzelhandlungen in einem Prozess zu einer Schädigung der Gesundheit der Betroffenen führen können.232 Jedoch kann sich ausnahmsweise auch hier ein zeitlich begrenztes Ereignis in besonderer Weise hervorheben, dass es nicht nur als das letzte von mehreren für den Erfolg gleichwertigen Ereignissen erscheint.233 Das BSG sah es als Voraussetzung an, dass sich die betriebsbedingten Umstände wie beispielsweise schwere betriebliche Auseinandersetzungen derart zugespitzt haben, dass sie bei den Betroffenen ein psychisches Trauma auslösen. Dieses müsse so intensiv sein, dass es zu einem Schock in Form einer schlagartig auftretenden schweren psychischen Erschütterung beziehungsweise einer reaktiven Depression führt, sodass sich Betroffene in einer ausweglosen Situation zu befinden meinen. In diesem Fall könne ein zeitlich begrenztes Ereignis gem. § 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII angenommen werden.234 Vergleichbar zu Mobbing besteht auch sexuelle Belästigung oftmals nicht aus einem einzelnen Ereignis, sodass sich die Problematik ähnlich gestaltet.

dies mit der Reform des SER und der Erweiterung des Gewaltbegriffs um Formen der psychischen Gewalt mit Geltung ab 01.01.2024 so erhält, bleibe abzuwarten. 231  Vgl. Hessisches LSG, Urt. v. 23.10.2012 – L 3 U 199/11, juris Rn. 24; W ­ ietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 100; Holtstraeter, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 8 SGB VII Rn. 2; Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 8 Rn. 13; Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 173; vgl. von Trotha, Stress am Arbeitsplatz, S. 252, die gleiche Problematik stellt sich auch bei arbeitsbezogenem Stress; Köhler, ZFSH/SGB 2012, 138 (144 f.); Paridon, BG 2003, 154 (155). 232  Hessisches LSG, Urt. v. 23.10.2012 – L 3 U 199/11, juris Rn. 24. 233  Vgl. BSG, Urt. v. 18.12.1979 – 2 RU 77/77, juris Rn. 16, Suizidversuch eines Schülers, der schon seit Längerem aufgrund seiner mangelhaften schulischen Leistungen Probleme hatte, durch Sprung aus dem Fenster nach einem Zwischenfall in der Englischstunde, bei dem er von der ganzen Klasse ausgelacht worden war; von ­Trotha, Stress am Arbeitsplatz, S. 252 f., zur vergeichbaren Ausnahmekonstellation bei arbeitsbedingtem Stress; Köhler, ZFSH/SGB 2012, 138 (144 f.). 234  BSG, Urt. v. 08.12.1998 – B 2 U 1/98 R, juris Rn. 23; Köhler, ZFSH/SGB 2012, 138 (145).

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

bb) Von außen einwirkendes Ereignis Wie gezeigt,235 genügt als von außen einwirkendes Ereignis jede bloße Wahrnehmung von Sinnesreizen. Es bedarf insbesondere keines äußerlichen, sichtbaren Ereignisses, denn die einzige Funktion dieses Kriteriums ist die Abgrenzung von den inneren, körpereigenen Geschehensabläufen, welche nicht vom Schutz der Unfallversicherung umfasst sein sollen.236 Trotz dieser niedrigschwelligen Voraussetzung stellen sich im Hinblick auf psychische Erkrankungen zwei Probleme. Zum einen ist auf Ebene der rechtlichen Vo­ raussetzungen fraglich, was die vom BSG in neuerer Zeit für das von außen einwirkende Ereignis geforderte Änderung des physiologischen Körperzustandes für psychische Erkrankungen bedeutet. Zum anderen ist im konkreten Fall auf der Ebene der Subsumtion unter die Voraussetzungen problematisch, wann in den Fällen einer nur eingebildeten Zugkollision und bei den sogenannten Beinaheunfällen das von außen einwirkende Ereignis bejaht werden kann. (1) Voraussetzung der Änderung des physiologischen Körperzustandes In neueren Entscheidungen setzt das BSG für das von außen einwirkende Ereignis eine Änderung des physiologischen Körperzustandes voraus, die vom Gesundheitsschaden zu unterscheiden sei.237 Ricke kritisiert dies, weil dadurch nicht deutlich werde, dass auch psychische Einwirkungen zu den äußeren Einwirkungen gezählt werden könnten, obwohl dies nach gefestigter Rechtsprechung so gewollt sei. Außerdem ergebe sich daraus kein zusätz­ licher Erkenntnisgewinn. Zudem finde in dem betreffenden Urteil eine Vermischung von Einwirkung und Gesundheitsschaden statt.238 Dem ersten Kritikpunkt Rickes ist zu entgegnen, dass die von ihm als psychische Einwirkungen benannten, von außen auf die Psyche einwirkenden Ereignisse durch das Erfordernis der Änderung des physiologischen Körperzustandes nicht ausgeschlossen werden. Liegt nicht lediglich eine in235  Vgl.

o. S. 36. Urt. v. 26.11.2019 – B 2 U 8/18 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 71, Rn. 18, juris Rn. 18; Bultmann/Fabra, MEDSACH 2012, 224 (226). 237  Vgl. BSG, Urt. v. 24.07.2012 – B 2 U 9/11 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 44, Rn. 42, juris Rn. 42; zuletzt: Urt. v. 26.11.2019 – B 2 U 8/18 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 71, Rn. 18, juris Rn. 18; in der Lit. übernommen durch Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 101; Wagner, in: Schlegel/ Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 113; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 7. 238  Ricke, WzS 2013, 241 (242 f.); vgl. dazu ausführlich Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S.  32 f. 236  BSG,



B. Erfassung psychischer Erkrankungen65

nere Ursache vor, wird stets zumindest eine bloße Wahrnehmung in Form von Sehen, Hören, Schmecken, Fühlen oder Riechen vorhanden sein. Denn wie erläutert,239 setzt ein von außen auf den Körper oder die Psyche einwirkendes Ereignis jedenfalls irgendeinen Umweltreiz in Form eines äußeren Anknüpfungspunktes für einen Sinneseindruck voraus.240 Das BSG hatte sich hierzu mit dem Fall eines Fahrdienstleiters zu beschäftigen, der den Beinahe-Zusammenstoß eines Pkw mit einem Zug sah, wodurch möglicherweise eine psychische Erkrankung bei ihm verursacht wurde. Es erläutert, dass die Änderung des physiologischen Zustandes im Fall des Sehens darin liege, dass Verletzte den Vorfall mit den Sehzellen wahrnehmen, diese den optischen Eindruck in elektrische Impulse übersetzen und über den Sehnerv an das Gehirn weiterleiten.241 An die visuelle Verarbeitung schließt sich dann die psychische Reaktion an, die jedoch erst im Rahmen des Gesundheitsschadens eine Rolle spielt. Diese Sichtweise lässt sich auf sämtliche von außen auf die Psyche einwirkende Ereignisse übertragen. Sie entspricht auch der oben genannten Definition Mülheims, der das tatsächliche Geschehen samt Sinneseindruck als das von außen einwirkende Ereignis sieht und von der späteren intellektuellen beziehungsweise emotionalen Verarbeitung dieses Eindrucks abgrenzt.242 Der Begriff der psychischen Einwirkung ist insofern missverständlich, weil er im Widerspruch zu „von außen einwirkend“ gem. § 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII zu stehen scheint. Denn letzteres verlangt jedenfalls einen Sinnesreiz, der dann im Rahmen eines Gesundheitsschadens psychische Konsequenzen nach sich ziehen kann. Wenn schon der Begriff der Einwirkung anstelle des Ereignisses verwendet wird, ist es deshalb verständlicher, von äußeren Einwirkungen auf den Körper beziehungsweise auf die Psyche zu sprechen, weil dies keine missverständliche Aussage über die Art, sondern eine Aussage über das (längerfristige) Ziel der Einwirkung enthält. Denn die Art der Einwirkung kann bei einem äußeren Ereignis, das mechanisch auf den Körper einwirkt, und einem äußeren Ereignis, das auf die Psyche einwirkt, die gleiche sein. So kann beispielsweise eine fühlbare Einwirkung in 239  Vgl.

o. S. 36. Urt. v. 26.11.2019 – B 2 U 8/18 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 71, Rn. 18, juris Rn. 18; vgl. auch Urt. v. 29.11.2011 – B 2 U 10/11 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 42, Rn. 16, juris Rn. 16. 241  BSG, Urt. v. 26.11.2019 – B 2 U 8/18 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 71, Rn. 18, juris Rn. 18, sog. visuelle Verarbeitung; Urt. v. 06.05.2021 – B 2 U 15/19 R, SozR 4 (vorgesehen), juris Rn. 18; trotz dieser Klarstellung herrscht anscheinend teilweise weiterhin in der Lit. ein anderes Verständnis: Ulmer, MEDSACH 2020, 134 (137), der die Änderung des physiologischen Körperzustandes in mit Erschrecken oder Angst verbundenen Reaktionen sieht wie Schweißausbrüche, Herzklopfen oder Erbleichen. 242  Vgl. o. S. 35; Mülheims, SGb 2019, 258 (260). 240  BSG,

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

Form eines an den Hals gedrückten Messers beim Überfall auf den Kassierer auf die Psyche einwirken. Eine fühlbare Einwirkung kann aber auch der Schlag auf den Kopf sein, der eine Platzwunde auslöst, und so auf den Körper einwirkt. (2) Fälle einer nur eingebildeten Zugkollision und Beinaheunfälle Äußere Ereignisse, die sich auf die Psyche auswirken, können in besonderen betrieblichen Belastungssituationen liegen. Darunter fallen zum Beispiel Beleidigungen oder Mobbing, die Bedrohung bei einem Überfall, der Bei­ naheunfall,243 der ernsthafte Streit mit Vorgesetzten oder ein Personalge­ spräch,244 das sehr belastend ist.245 Problematisch sind hierbei zwei Urteile des BSG zu Lokführern vom 29.11.2011.246 Die Entscheidungen wurden bereits vielerorts besprochen,247 weshalb an dieser Stelle nur auf die wesentlichen Aspekte eingegangen werden soll. Es stellt sich dabei insbesondere die Frage, wann ein von außen einwirkendes Ereignis angenommen werden kann und worin es genau besteht, wenn Versicherte nur fälschlicherweise davon ausgehen, dass es zu einem Zusammenstoß zwischen Zug und Personen kommen wird und allein dadurch psychische Gesundheitsschäden erleiden, sich der Zusammenstoß tatsächlich aber nicht bewahrheitet. Im ersten Fall löste der Lokführer eines Zuges eine Notbremsung aus, weil er meinte, gesehen zu haben, dass ein Fußgänger trotz geschlossener Schranke den Bahnübergang überquerte. Er brachte den Zug zwei Meter vor dem Übergang zum Stehen. Allerdings konnte nicht nachgewiesen werden, dass sich tatsächlich eine Person auf den Gleisen befand, weshalb das Gericht das Vorliegen eines von außen einwirkenden Ereignisses ablehnte.248

243  Vgl.

BSG, Urt. v. 29.11.2011 – B 2 U 23/10 R, NZS 2012, 390. Bayerisches LSG, Urt. v. 29.04.2008 – L 18 U 272/04, juris. 245  Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 113; vgl. Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII Rn. 24a, mit weiteren Beispielen, Rspr. und Lit. zu dieser Thematik seien kaum noch übersehbar; Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall, S. 79; Köhler, SGb 2014, 69 (71). 246  BSG, Urt. v. 29.11.2011 – B 2 U 10/11 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 42; Urt. v. 29.11.2011 – B 2 U 23/10 R, NZS 2012, 390. 247  Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: §  8 SGB VII Rn. 105; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 37 f.; Bultmann/Fabra, MEDSACH 2012, 224; Köhler, SGb 2014, 69 (72); Krasney, NZS 2014, 607 (609 ff.); Mülheims, SGb 2019, 258 (260). 248  BSG, Urt. v. 29.11.2011 – B 2 U 10/11 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 42. 244  Vgl.



B. Erfassung psychischer Erkrankungen67

Im zweiten Sachverhalt ging es um den Beinaheunfall an einem Bahnübergang aufgrund der Störung der Schrankenanlage. Der Lokführer hielt vor dem Übergang, setzte den Zug nach Geben eines „Achtungssignals“ aber wieder in Bewegung, nachdem er festgestellt hatte, dass keine Fahrzeuge in der Nähe waren. Als er den Übergang erreichte, fuhr jedoch ein Auto unmittelbar vor den Zug. Der Zusammenprall konnte durch eine sofortige Schnellbremsung verhindert werden. In diesem Fall bejahte das Gericht das Vorliegen eines von außen einwirkenden Ereignisses.249 In beiden Fällen ging es um die Anerkennung einer PTBS verursacht durch einen möglichen Arbeitsunfall. Der Unterschied zwischen den beiden Fällen liegt jedoch darin, dass nur im zweiten Fall ein objektives Geschehen nachweisbar war, das den Anlass für die Bremsung gab. Insbesondere für den ersten Fall des nicht nachweisbaren Fußgängers auf den Gleisen ist ein Kritikpunkt hervorzuheben. So wurde ausgeführt, das Urteil des BSG250 sei im Ergebnis nicht sachgerecht, weil es zu einer Schlechterstellung derjenigen führe, die einen Zusammenstoß mit Menschen vermeiden möchten, sich aber über das tatsächliche Vorliegen einer Gefahr irren, gegenüber denjenigen, die fahrlässig handeln und ihre Arbeitspflicht im Zeitpunkt des Unfallereignisses damit weniger gut erfüllen. Denn kommt der Lokführer beispielsweise an den Bremshebel und löst dadurch eine Bremsung aus, könne dies als nicht beherrschbare, körpereigene Bewegung vergleichbar mit dem Stolpern über die eigenen Füße problemlos als von außen einwirkendes Ereignis eingeordnet werden.251 Dieses Ergebnis erscheint jedoch nicht überzeugend, weil es die pflichtbewusst und umsichtig handelnden Versicherten benachteiligt, was nicht im Interesse der Unfallversicherung sein kann. Aus den beiden Urteilen lässt sich trotz der Kritik der Schluss ziehen, dass ein von außen auf die Psyche einwirkendes Ereignis abzulehnen ist, wenn es in keiner Weise durch ein Verhalten anderer oder eine objektiv gegebene Situation hervorgerufen wurde. Es handelt sich dann nur um eine irrige Fehlvorstellung über das Vorliegen einer bestimmten Sachlage.252 Für die Fälle der Lokführer bedeutet dies im Umkehrschluss, dass ein Unfallereignis nur dann angenommen werden kann, wenn tatsächlich ein Hindernis vorhanden war oder aber zumindest eine Situation vorlag, in welcher der Lokführer aufgrund objektiver Umstände auf das Vorliegen eines tatsächlich nicht gege249  BSG,

Urt. v. 29.11.2011 – B 2 U 23/10 R, NZS 2012, 390. Urt. v. 29.11.2011 – B 2 U 10/11 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 42. 251  Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 38 f.; Krasney, NZS 2014, 607 (611 f.), argumentiert mit dem Schutzzweck und der Gesamtschau auf die Umstände. 252  Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 105. 250  BSG,

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

benen Hindernisses schließen durfte. Ist jedoch nicht einmal irgendein objektives Geschehen vorhanden, das Anlass für die Annahme eines Hindernisses geben könnte, kann kein von außen einwirkendes Ereignis angenommen werden.253 Diese Schlussfolgerung entspricht auch einer dritten, neueren Entscheidung254 des BSG vom 26.11.2019. In diesem Sachverhalt ging es ebenfalls um einen Beinaheunfall. Der Fahrdienstleiter bediente aus dem Stellwerk die Schrankenanlage, sodass sich die Schranke schloss und der Zug den Bahnübergang passieren sollte. Er sah dann, wie ein Auto die Schrankenanlage durchbrach und hielt die Kollision zwischen Zug und Auto für unabwendbar. Tatsächlich wurde das Auto dabei unter der Schranke eingeklemmt und der Zug fuhr vorsichtig am Auto vorbei, es kam lediglich durch das Einklemmen zu leichten Schäden an Auto und Schranke.255 In dem Durchbrechen der Schranke durch das Auto sah das Gericht einen hinreichenden äußeren Anknüpfungspunkt für das Vorliegen eines äußeren Ereignisses. Es handele sich nicht lediglich um einen rein mentalen und eingebildeten Vorgang aufgrund von ausgeprägter Fantasie, Sinnestäuschung oder Überängstlichkeit ohne jegliche Entsprechung in der Außenwelt,256 auch wenn es letztlich nicht zu einer tatsächlichen Kollision kam. Im Ergebnis hat das Gericht so einen sachgerechten Mittelweg gefunden, indem der Versicherungsschutz auch umsichtige Versicherte umfasst, die einen aufgrund von objektiven Anknüpfungspunkten befürchteten Zusammenstoß mit Personen vermeiden möchten, auch wenn sich ihre Befürchtung nicht bewahrheitet. Dies könnte beispielsweise auch schon gelten, wenn nur ein Baumstamm in der Nähe der Gleise liegt, der für eine Person gehalten wird. Nur wenn absolut keine objektiven Anknüpfungspunkte vorliegen, kann kein von außen einwirkendes Ereignis angenommen werden. In diesem Fall werden aber auch pflichtbewusst und umsichtig handelnde Versicherte nicht benachteiligt, weil keinerlei Veranlassung zum Handeln besteht. Ein weiterer Kritikpunkt an dem ersten und zweiten Fall von 2011 ist, dass das von außen einwirkende Ereignis im zweiten Fall in dem Bremsvorgang und den daraus resultierenden physikalischen Kräften und nicht direkt im dem zugrunde liegenden äußeren Anlass gesehen wurde.257 Im ersten Fall, in dem ebenfalls ein Bremsvorgang mit entsprechenden physikalischen Kräften 253  Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 105. 254  BSG, Urt. v. 26.11.2019 – B 2 U 8/18 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 71. 255  BSG, Urt. v. 26.11.2019 – B 2 U 8/18 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 71. 256  BSG, Urt. v. 26.11.2019 – B 2 U 8/18 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 71, Rn. 18, juris Rn. 18. 257  Vgl. BSG, Urt. v. 29.11.2011 – B 2 U 23/10 R, NZS 2012, 390, juris Rn. 18.



B. Erfassung psychischer Erkrankungen69

vorlag, wurde dieser aber nicht als von außen einwirkendes Ereignis qualifiziert.258 Das von außen einwirkende Ereignis wurde folglich in den Urteilen nicht einheitlich erfasst.259 In der dritten Entscheidung des BSG von 2019 führte der Fahrdienstleiter, der sich nicht im Zug, sondern im Stellwerk befand, zwar keinen Bremsvorgang durch und spürte deshalb keine daraus resultierenden physikalischen Kräfte, sodass die Fälle nicht vollständig vergleichbar sind. Das BSG stellt nun aber für das von außen einwirkende Ereignis explizit auf die Wahrnehmung des Autos, das die Schranke durchbricht und sich auf den Bahnübergang zubewegt, ab.260 Es führt aus, dass nicht das Gefühl der Machtlosigkeit und der subjektiven Vorstellung, die Kollision nicht mehr abwenden zu können, ein äußeres Ereignis darstelle, sondern sieht dieses vielmehr in dem äußeren Anlass dafür.261 Dies kann als Klarstellung gegenüber dem zweiten Fall gewertet werden, sodass dort das Wahrnehmen des über die Gleise fahrenden Autos das von außen einwirkende Ereignis gewesen wäre. cc) Mindestintensität Teilweise wird behauptet, das Unfallereignis müsse bei auf die Psyche einwirkenden Ereignissen einen bestimmten Schweregrad erreichen, insbesondere bei der Belastung durch das Verhalten anderer Menschen.262 Der Unfallbegriff verlange in diesen Fällen, dass sich das Ereignis von alltäglichen Geschehnissen abhebe.263 Das Ereignis müsse sich subjektiv durch eine besondere psychische Anspannung mit der Auslösung einer dadurch bedingten Stresssituation auszeichnen. Eine Untergrenze für die Intensität des Ereignisses sei von der Rechtsprechung bisher noch nicht herausgearbeitet worden.264 258  Vgl.

BSG, Urt. v. 29.11.2011 – B 2 U 10/11 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 42. ausführlich dazu Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 37 f.; Krasney, NZS 2014, 607 (610); vgl. auch Bultmann/Fabra, MEDSACH 2012, 224 (226). 260  BSG, Urt. v. 26.11.2019 – B 2 U 8/18 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 71, Rn. 18, juris Rn. 18; dies würde wohl auch Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 37 f. entsprechen, die das Ereignis in den älteren Urteilen in dem auslösenden Grund für den Bremsvorgang sieht. 261  BSG, Urt. v. 26.11.2019 – B 2 U 8/18 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 71, Rn. 17 f., juris Rn.  17 f. 262  Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 8 Rn. 16; Köhler, SGb 2014, 69 (71). 263  Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 158 f., 176; vgl. so auch noch Fabra/Bultmann, MEDSACH 2009, 172 (178). 264  Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 158 f.; Köhler, SGb 2014, 69 (71). 259  Vgl.

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

Andere meinen, dass das Ereignis nicht unerheblich sein dürfe, es aber aus praktischen Gründen keine Untergrenze eines bestimmten Einwirkungsgrades geben könne.265 Zwar lässt sich grundsätzlich nachvollziehen, dass, je schwerer das Unfall­ ereignis ist, desto leichter die Auslösung eines psychischen Traumas bei Versicherten ist und das Trauma desto weniger dem allgemeinen Lebensrisiko zugerechnet werden kann.266 Das Erfordernis einer Mindestintensität kann aber nicht in Einklang gebracht werden mit dem Grundsatz, dass der Begriff des Unfallereignisses kein außergewöhnliches Geschehen voraussetzt und gerade auch übliche, alltägliche Geschehnisse im Rahmen der versicherten Tätigkeiten umfasst sein sollen.267 Die Frage, ob die Einwirkung hinreichend intensiv war, ist vielmehr im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität zu stellen und mithilfe der Theorie der wesentlichen Bedingung zu klären.268 Dies schon im Rahmen des Unfallereignisses aufzuwerfen, löst die dogmatische Trennung von Unfallereignis und haftungsbegründender Kausalität auf, wofür es keine verständliche Begründung gibt.269 Sowieso kann aufgrund des Erfordernisses eines Gesundheitsschadens eine gewisse Mindestintensität des Ereignisses als gesichert angesehen werden, sodass eine Untergrenze für die Intensität jedenfalls entbehrlich ist.270 Die Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen verlangt beispielsweise ein „traumatisch erlebtes Ereignis“ als Voraussetzung für die Einordnung als PTBS.271 Für eine Anpassungsstörung etwa verursacht durch Mobbing oder im Rahmen des Burn-out Syndroms kann es sich nach der Leitlinie dagegen aber um einen „beliebig stark ausgeprägten Belastungsfaktor“ handeln.272

265  Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 104; vgl. zur praktischen Schwierigkeit auch Ulmer, MEDSACH 2020, 134 (137). 266  Vgl. zu diesem Grundsatz bei Opfern von Verkehrsunfällen Schlanstein, NZV 2018, 406 (409). 267  St.Rspr., statt vieler BSG, Urt. v. 29.11.2011 – B 2 U 23/10 R, NZS 2012, 390, juris Rn. 15; Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 8 SGB VII Rn. 24; Bultmann/Fabra, MEDSACH 2012, 224 (225 f.); vgl. auch Benz, NZS 2002, 8 (10). 268  Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: §  8 SGB VII Rn. 104. 269  Vgl. Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 104. 270  Vgl. Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 8 SGB VII Rn. 104. 271  Vgl. Widder et al., AWMF Leitlinie Nr. 051-029, S2k, Teil III, S. 19, 34. 272  Widder et al., AWMF Leitlinie Nr. 051-029, S2k, Teil III, S. 42.



B. Erfassung psychischer Erkrankungen71

b) Probleme bei der Feststellung des Gesundheitsschadens Eine psychische Erkrankung kann unmittelbar durch das Unfallgeschehen hervorgerufen werden. Sie stellt dann den Gesundheitsschaden dar, für den die haftungsbegründende Kausalität zum Unfallereignis zu prüfen ist. Sie kann sich aber auch erst im weiteren Krankheitsverlauf entwickeln, zum Beispiel aufgrund der Beeinträchtigung durch starke, anhaltende, durch einen Arbeitsunfall verursachte Schmerzen. In diesem Fall stellt sie einen Folgeschaden dar.273 Die beim Gesundheitsschaden für psychische Erkrankungen aufkommenden Probleme lassen sich auf den Folgeschaden übertragen und werden deshalb nicht gesondert erläutert, zumal dieser nicht Voraussetzung für den Arbeitsunfall ist. aa) Notwendige exakte Definition Wie bereits gezeigt, bereitet der Begriff des Gesundheitsschadens an sich keine Probleme, er umfasst auch psychische Erkrankungen.274 Für diese hat das BSG besonders hervorgehoben, dass eine exakte Diagnose der Krankheit nach einem der international anerkannten Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-5 unter Verwendung der dortigen Schlüssel275 notwendig sei. Denn das erleichtere es, die Ursachen zu erkennen und zu beurteilen und letztlich auch die Minderung der Erwerbsfähigkeit zu bewerten.276 Abweichungen von den anerkannten, aber teils veralteten Klassifikationssystemen seien möglich, wenn sie mit dem wissenschaftlichen Fortschritt begründet werden.277 Die Problematik, die das Erfordernis der exakten Diagnose der Krankheit mit sich bringt, soll an ausgewählten Fällen verdeutlicht werden. Im allgemeinen Sprachgebrauch weit verbreitet ist der Begriff „Burn-out Syndrom“. 273  Vgl. Mehrhoff et al., Unfallbegutachtung, S. 316; Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 150. 274  Vgl. o. S. 47. 275  Vgl. ausführlich zur Diagnose der verschiedenen psychischen Erkrankungen: Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 152 ff.; Widder, MEDSACH 2020, 102, vergleichende Darstellung der Anforderungen für die Diagnose der im Bereich des Unfallversicherungsrechts wichtigsten Erkrankungen nach DSM-5, ICD-10 und ICD-11. 276  St.Rspr., BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (203), juris Rn. 22; zuletzt Urt. v. 26.11.2019 – B 2 U 8/18 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 71, Rn. 19, juris Rn. 19; Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 160 f.; Spellbrink, SozSich 2019, 32 (34); Ulmer, MEDSACH 2020, 134 (135); Keller, SGb 2016, 232 (237). 277  BSG, Urt. v. 26.11.2019 – B 2 U 8/18 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 71, Rn. 19, juris Rn. 19; Spellbrink, MEDSACH 2017, 51 (53).

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

Hierbei handelt es sich nicht um eine als eigenständiges Krankheitsbild durch die Klassifikationssysteme anerkannte Erkrankung. Es besteht zwar die Möglichkeit, dass in den betreffenden Fällen Symptome auftreten, die einer akuten Belastungsreaktion und in deren Folge einer Angststörung, Anpassungsstörung oder PTBS zugeordnet werden können. Allein die Diagnose eines Burn-out Syndroms genügt als Gesundheitsschaden jedoch nicht.278 Auch Mobbing279 stellt an sich keinen klassifizierbaren Gesundheitsschaden dar.280 Es ist folglich ebenso wie das Burn-out Syndrom zu behandeln und falls möglich eine Diagnose anhand der auftretenden Symptome zu stellen. Selbst bei der PTBS kam für das inzwischen veraltete DSM-IV im Vergleich zur ICD-10 das Problem auf, dass die PTBS in den Klassifikations­ systemen nicht einheitlich definiert wurde und zahlreiche Unklarheiten und offene Fragen bestanden.281 bb) Missverständnis um das Erfordernis eines Gesundheits-„erst“-schadens bei der PTBS In Fällen einer möglichen PTBS als Folge von beispielsweise Verkehrs­ unfällen wird für den Arbeitsunfall aktuell diskutiert, ob ein Gesundheits„erst“-schaden282 in Form einer initialen „seelischen Beeindruckung“ notwendig sei. Wenn Versicherte bei Erleben des traumatischen Ereignisses ruhig blieben, könne von keinem Gesundheitsschaden im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität ausgegangen werden und der Arbeitsunfall sei abzulehnen.283 Problematisch sei hieran insbesondere, dass aufgrund der Einordnung als Gesundheitsschaden für die „seelische Beeindruckung“ der Vollbe278  Drechsel-Schlund,

MEDSACH 2014, 153 (154 f.). dazu bereits o. S. 62. 280  Vgl. Schemmel, Haftungsfall Burn-Out, S. 247; Köhler, ZFSH/SGB 2012, 138 (145). 281  Foerster, MEDSACH 2010, 16 (17 f.), unterschiedliche Einordnung in ICD‑10 und DSM‑IV. 282  Das Gesetz kennt in § 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII nur den Begriff des Gesundheitsschadens, vgl. zu dieser begrifflichen Problematik, die auch in der juristischen Lit. verbreitet ist, bereits o. S. 45. Die vorliegende Untersuchung versucht sich im Sinne eines einheitlichen und klaren Begriffsverständnisses auf den Begriff des Gesundheitsschadens zu beschränken; zur Wiedergabe und Verdeutlichung der Ansicht aus der Lit. wird hier aber nun die Schreibweise des Gesundheits-„erst“-schadens gewählt. 283  So angenommen bei Hessisches LSG, Urt. v. 25.03.2014 – L 3 U 207/11, juris Rn. 33 f.; sehr ausführlich und gut verständlich zur gesamten Problematik: Spellbrink, MEDSACH 2020, 114; vgl. auch Spellbrink, SozSich 2019, 32 (34). 279  Vgl.



B. Erfassung psychischer Erkrankungen73

weis notwendig wäre, was sich in der Praxis schwierig gestalten könne und die Chancen auf die Anerkennung als Arbeitsunfall deutlich verringere.284 Als Begründung wurde angeführt, die Feststellung einer PTBS setze zwingend einen solchen seelischen Gesundheits-„erst“-schaden voraus, der den traumatischen Prozess anstoße und in dessen Verlauf die PTBS entstehen könne. Die PTBS selbst komme als Gesundheits-„erst“-schaden nicht in Frage, sie könne nur Folgeschaden sein.285 Dies wurde gestützt auf das mittlerweile veraltete DSM-IV. Dort musste für die Einordnung als PTBS das sogenannte A1- und A2-Kriterium vorliegen. Während A1 durch das Erfordernis der Gefahr der körperlichen Unversehrtheit ein niedrigschwelliges, objektives Schweregradkriterium darstellte, erforderte A2 eine subjektive Beeindruckung durch das äußere Ereignis in Form von intensiver Furcht, Hilflosigkeit und Entsetzen.286 Aufgrund des notwendigen A2-Kriteriums argumentiert man, dass dieses als initiale seelische Beeindruckung den Gesundheits-„erst“-schaden im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität darstelle und somit im Vollbeweis vorliegen müsse.287 Weil DSM-IV das Vorliegen des A2-Kriteriums als zeitlich vorausgehend verlangt, könne die PTBS selbst nur Folgeschaden sein.288 Es sei nicht möglich, den Gesundheits-„erst“-schaden bei einer als Folgeschaden vorliegenden PTBS schlicht zu unterstellen.289 Die medizinische Wissenschaft sei zudem bereits in der Lage, Folgen psychischer Traumata im Gehirn zu lokalisieren und neuroanatomisch nachzuweisen, was ebenfalls dafür spreche, die initiale seelische Beeindruckung als Gesundheits-„erst“-schaden im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität einzuordnen.290 Schon bevor DSM-IV durch DSM-5 abgelöst worden war,291 wurde dem entgegengehalten, dass die Differenzierung zwischen dem GesundheitsschaBurghardt, MEDSACH 2012, 186 (188). MEDSACH 2012, 224 (227). 286  Vgl. Saß, DSM-IV, S. 520; Widder et al., MEDSACH 2016, 156 f. 287  Vgl. Bultmann/Fabra, MEDSACH 2012, 224 (227  f.); Vgl. Widder et al., MEDSACH 2016, 156 (158 f.); vgl. zur Diskussion auch Foerster/Widder, MEDSACH 2012, 242; auf Foerster/Widder erwidernd: Burghardt, MEDSACH 2012, 243. 288  Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 152; Widder et al., MEDSACH 2016, 156 (158 f.), auch nach Einführung von DSM-5 so argumentierend. 289  Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 152; Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 163. 290  Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 152; vgl. Tölle, Psychiatrie, S. 59 f. 291  DSM-IV stammt von 1994 und wurde 2013 von DSM-5 abgelöst, die deutsche Version von DSM-5 wurde 2015 veröffentlicht. 284  Vgl.

285  Bultmann/Fabra,

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

den und dem Folgeschaden nur notwendig sei, wenn zu einer Gesundheitsschädigung länger anhaltende Schäden hinzukämen und deshalb die Voraussetzungen einer Verletztenrente geprüft werden müssten. Dies werde verkannt, wenn aufgrund der diagnostischen Unterscheidung zwischen Erstreaktion und Folgesymptomatik in DSM-IV geschlossen werde, dass die allmählich auftretenden Symptome der PTBS einzig als juristischer Folgeschaden eingeordnet werden könnten und dem notwendigerweise ein Gesundheits-„erst“-schaden in Form von intensiver Furcht, Hilflosigkeit und Entsetzen vorausgegangen sein müsse.292 Grundsätzlich bedarf die Anerkennung als Arbeitsunfall nur eines Gesundheitsschadens. Auch das Argument, dass bei Einordnung der PTBS als Gesundheitsschaden Versicherungsfall und Leistungsfall identisch wären,293 ist nicht weiterführend, weil nicht klar wird, welches Problem sich daraus ergibt, zumal Überschneidungen zwischen Gesundheitsschaden und Folgeschaden nicht selten sind.294 Es wird angeführt, dass durch die Schlussfolgerungen aufgrund der Unterscheidung in DSM-IV eine nicht gebotene Vermischung juristischer und medizinischer Begriffe stattfinde. Das habe zur Folge, dass den an einer PTBS erkrankten Versicherten aufgrund der verständlicherweise häufig nicht beweisrechtlich ausreichend dokumentierten Erstreaktion zu Unrecht der Unfallversicherungsschutz verwehrt bleibe.295 Bei der PTBS handele es sich um eine einheitliche Erkrankung, auch wenn sich die Symptome erst allmählich entwickeln. Sie könne ohne Weiteres als Gesundheitsschaden im Rahmen des § 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII angesehen werden, weil das Auftreten innerhalb eines unmittelbaren zeitlichen Zusammenhangs keine Voraussetzung für den Gesundheitsschaden sei.296 Diese Argumentation wird durch die Neuerungen in DSM-5 gestützt. Das bisherige A2-Kriterium fiel weg, weil wissenschaftlich nachgewiesen werden konnte, dass kein klarer Zusammenhang zwischen diesem und der Entwicklung einer PTBS besteht. Auch hat man die Schwierigkeiten bei der Erbringung des Nachweises erkannt.297 Spellbrink298 stellt klar, dass das Erfordernis 292  Burghardt,

MEDSACH 2012, 186 (188). angeführt bei Forchert, MEDSACH 2021, 15 (18). 294  Vgl. o. S. 45. 295  Burghardt, MEDSACH 2012, 186 (188); Haenel/Flatten/Denis, ASUMed 2017, 112 (114). 296  Burghardt, MEDSACH 2012, 186 (187); zustimmend: Spellbrink, SGb 2013, 154 (156 f.); Spellbrink, SozSich 2019, 32 (34); anders: Widder et al., MEDSACH 2016, 156 (159), wegen der Annahme, die GUV erfordere, dass der Gesundheitsschaden innerhalb einer Arbeitsschicht eingetreten sei. 297  Widder et al., MEDSACH 2016, 156 (157); Widder, MEDSACH 2020, 102 (104); Fabra, MEDSACH 2020, 107 (109 f.), zustimmend zum Wegfall; vgl. auch Spellbrink, MEDSACH 2020, 114 (117); Haenel/Flatten/Denis, ASUMed 2017, 112 (113). 293  So



B. Erfassung psychischer Erkrankungen75

einer initialen seelischen Beeindruckung nur dann verlangt werden kann, wenn nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand diese eine notwendige Voraussetzung für die Diagnose einer PTBS wäre. Lehne ein Gutachten eine PTBS mit der Begründung ab, dass der Verletzte am Unfallort keine Schockreaktion gezeigt habe, müsse in diesem Gutachten gleichfalls hinreichend begründet werden, dass nach dem aktuellen wissenschaft­ lichen Erkenntnisstand das Vorliegen einer initialen seelischen Beeindruckung Voraussetzung für die Diagnose einer PTBS sei. Dazu kommt, dass bei der Einordnung der initialen seelischen Beeindruckung als Gesundheitsschaden keine vollständige, nach ICD-10 oder DSM-5 klassifizierbare Erkrankung vorliegen würde. Dies würde eine Abkehr von der Rechtsprechung des BSG bedeuten, nach der der Gesundheitsschaden insbesondere bei psychischen Erkrankungen mit den Schlüsseln der Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-5 exakt bestimmt werden soll.299 In der medizinischen Literatur wird trotz Wegfall des A2-Kriteriums eine initiale seelische Beeindruckung weiterhin für erforderlich gehalten.300 Allerdings werden die Erscheinungsformen dieser als vielfältig angegeben und die zeitliche Verbindung zum Ereignis lediglich als „zeitnah“301 verlangt.302 Aus medizinischer Sicht scheint das Vorliegen der initialen seelischen Beeindruckung es zu erleichtern, dass von Unfallversicherungsträgern beziehungsweise Gerichten der Vollbeweis für die PTBS als Gesundheitsschaden angenommen werden kann.303 Gleichzeitig wird jetzt von medizinscher Seite klargestellt, dass es die juristische Aufgabe der Unfallversicherungsträger beziehungsweise Gerichte sei, zu bestimmen, worin der Gesundheitsschaden liege und worin der Folgeschaden. Von medizinischer Seite könne zwar das Erfordernis einer initialen seelischen Beeindruckung verlangt werden, jedoch nicht verlangt werden, dass diese den Gesundheitsschaden ausmache.304 Hält man die initiale seelische Beeindruckung weiterhin zumindest als Anknüp298  Spellbrink,

MEDSACH 2020, 114 (117). o. S. 71; die Einordnung der seelischen Beeindruckung als Gesundheitsschaden in Abkehr von der Rspr. des BSG dennoch befürwortend: Forchert, MEDSACH 2021, 15 (17). 300  Vgl. dazu Fabra, MEDSACH 2021, 6. 301  Vgl. Hessisches LSG, Urt. v. 25.03.2014 – L 3 U 207/11, juris Rn. 34. 302  Widder et al., MEDSACH 2016, 156 (157); Widder, MEDSACH 2020, 102 (104); vgl. auch Fabra, MEDSACH 2020, 107 (110); Falkai et al., DSM-5, S. 373. 303  Vgl. Fabra, MEDSACH 2020, 107 (110). 304  Fabra, MEDSACH 2020, 107 (108 f.); Fabra, MEDSACH 2021, 6 (9); anders: zwar bereits zu DSM‑5, aber weiterhin PTBS nur als Folgeschaden akzeptierend: Widder et al., MEDSACH 2016, 156 (158); auch aus juristischer Perspektive die PTBS weiterhin nur als Folgeschaden akzeptierend: Forchert, MEDSACH 2021, 15 ff. 299  Vgl.

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

fungspunkt für die Kausalitätsbeurteilung für erforderlich, ist zu bedenken, dass auch für sie der Beweismaßstab des Vollbeweises gilt.305 Die Gründe für die dargestellte Diskussion liegen wohl in einem Missverständnis zwischen medizinischen und juristischen Beteiligten.306 Bei ersteren war der Eindruck entstanden, dass für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls gem. § 8 Abs. 1 SGB VII ein Gesundheitsschaden nötig sei, der zeitnah zum Unfallereignis, das heißt längstens innerhalb einer Arbeitsschicht, eintritt.307 Deshalb wurde angenommen, dass die PTBS nur im Rahmen des Folgeschadens und der haftungsausfüllenden Kausalität Bedeutung erlangen könne.308 Damit aber überhaupt ein Arbeitsunfall vorliegen könne, sei dann zwingendermaßen noch ein Gesundheits-„erst“-schaden in Form einer seelischen Beeindruckung nötig.309 Dies ist der Kern des Missverständnisses, denn die PTBS kann wie jeder andere Gesundheitsschaden auch im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität festgestellt werden.310 cc) Nachweis Wie erläutert ist für den Nachweis des Gesundheitsschadens der Vollbeweis nötig.311 Bei psychischen Erkrankungen ist dieser mangels Röntgenbilder, Pathologiebefunde oder anderer anschaulicher Beweise im Vergleich zu sichtbaren Verletzungen deutlich schwieriger zu führen.312 Nach dem Amtsermittlungsgrundsatz ist es Aufgabe der Unfallversicherungsträger oder des Gerichts, bei Bedarf ein medizinisches Gutachten in Auftrag zu geben. Die Rechtsprechung sieht es insbesondere bei der neurologisch-psychiatrischen Begutachtung als Kernaufgabe der medizinischen Sachverständigen an, sich im Rahmen einer persönlichen Begegnung mit den Betroffenen einen eigenen Eindruck zu verschaffen und dies nicht Dritten zu überlassen.313 Forchert, MEDSACH 2021, 15 (26). ähnlich Spellbrink, MEDSACH 2020, 114 (117). 307  Vgl. Fabra, MEDSACH 2021, 6. 308  Vgl. bspw. bei Widder et al., MEDSACH 2016, 156 (158), weil es sich um eine „post“‑traumatische Störung handle, komme sie nur als Folgeschaden in Betracht. 309  Vgl. Spellbrink, MEDSACH 2020, 114 (118); Widder et al., MEDSACH 2016, 156 (158). 310  Vgl. Spellbrink, MEDSACH 2020, 114 (118 f.). 311  Vgl. o. S. 52. 312  Spellbrink, MEDSACH 2020, 114 (116); Fabra/Bultmann, MEDSACH 2009, 172 (175); Ulmer, MEDSACH 2020, 134 (135 f.), kritisch zum Beweismaßstab des Vollbeweises für psychische Erkrankungen als Gesundheitsschaden aufgrund der divergierenden subjektiven Einschätzung von Ärztinnen und Ärzten. 313  BSG, Beschluss v. 18.09.2003 – B 9 VU 2/03 B, SozR 4-1750 § 407a Nr. 1, Rn. 7, juris Rn. 9; Beschluss v. 20.03.2017 – B 9 SB 54/16 B, juris Rn. 7; Kohl305  Vgl. 306  Vgl.



B. Erfassung psychischer Erkrankungen77

Die in der medizinisch-gutachterlichen Literatur beschriebenen Anforderungen an den Vollbeweis des Gesundheitsschadens bei einer PTBS müssen bislang noch oft vor dem Hintergrund des beschriebenen Missverständnisses gesehen werden. Dies gilt beispielsweise für die Frage der Zulässigkeit von Rückschlüssen von dem vermeintlichen Folgeschaden PTBS auf den vermeintlichen Gesundheitsschaden der initialen seelischen Beeindruckung.314 Dennoch lässt sich zumindest aus juristischer und damit medizinisch-laienhafter Perspektive zusammenfassen, dass nicht allein der objektive Ablauf für den Nachweis des Gesundheitsschadens einer PTBS entscheidend ist, sondern auch das subjektive Erleben der Situation in möglichst genauer Schilderung erfragt werden muss.315 Für den Nachweis wird es als hilfreich angesehen, wenn im Moment des Erlebens des Unfallereignisses eine Reaktion wie Zittern, Schweißausbrüche, Angstgefühle oder ähnliches gezeigt wurde und dies zum Beispiel durch die Polizei dokumentiert wurde. Auch die zeitnahe Inanspruchnahme psychiatrischer oder psychotherapeutischer Hilfe könne den Nachweis erleichtern. Weniger sei dies der Fall bei von Betroffenen, Angehörigen, Ärzten und Ärztinnen oder Anwälten und Anwältinnen vorgetragenen Angaben im Verlauf der gerichtlichen Auseinandersetzung im Rahmen eines „Kampfes um die Entschädigung“.316 Zudem könne eine initiale seelische Beeindruckung, so man sie nach den Klassifikationssystemen verlange, auch ohne eine Dokumentation der Symptome unmittelbar nach dem Ereignis vorausgesetzt werden, wenn das Ereignis die objektiven Anforderungen nach ICD-10 und DSM-5 erfülle. Damit werde der Praxis Rechnung getragen, dass oftmals keine bezeugenden Personen vorhanden sind oder kein Vermerk in der Akte erfolgte.317 c) Probleme bei der Feststellung der haftungsbegründenden Kausalität Ebenso wie die Problematik beim Gesundheitsschaden auf den Folgeschaden übertragbar ist,318 stellen sich auch für die haftungsbegründende und haftungsausfüllende Kausalität vergleichbare Probleme, weil im Vordergrund rausch, MEDSACH 2020, 130 (131 f.), mit Erläuterung, anhand welcher Merkmale das Gutachten von medizinischen Sachverständigen aus Perspektive der Prozessbevollmächtigten auch ohne vertiefte medizinische Kenntnisse auf seine Verwertbarkeit und Überzeugungskraft überprüft werden kann; Ulmer, MEDSACH 2020, 134 (135). 314  Vgl. Fabra/Bultmann, MEDSACH 2009, 172 (175 f.). 315  Vgl. Fabra/Bultmann, MEDSACH 2009, 172 (174). 316  Fabra/Bultmann, MEDSACH 2009, 172 (175). 317  Vgl. Fabra, MEDSACH 2020, 107 (109); Widder, MEDSACH 2020, 102 (104), es sei eine kritische Würdigung nötig. 318  Vgl. o. S. 71.

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

der Nachweis und die Beurteilung des Kausalzusammenhangs an sich stehen. Die Problematik wird deshalb ebenfalls nur an der Stelle der haftungsbegründenden Kausalität untersucht. aa) Beurteilung des Kausalzusammenhangs Das BSG hebt für psychische Erkrankungen besonders hervor, dass die haftungsbegründende Kausalität nur angenommen werden kann, wenn nach dem aktuellen medizinischen Erkenntnisstand das Unfallereignis allgemein geeignet ist, die betreffende Erkrankung hervorzurufen.319 Zwar stellt die zur Ermittlung des Kausalzusammenhangs verwendete Theorie der wesentlichen Bedingung auf den Einzelfall und damit auf die individuellen Geschädigten ab und nicht wie die Adäquanztheorie auf die generelle Geeignetheit einer Ursache. Dem widerspricht jedoch nicht, dass die Beurteilung der Kausalität auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zu erfolgen hat.320 Es handelt sich hierbei um eine Frage der medizinisch-psychologischen Wissenschaft. Nach dem aktuellen, das heißt neuesten Stand des anerkannten medizinisch-psychologischen Erfahrungswissens ist zu beantworten, ob ein Kausalzusammenhang zwischen Unfallereignis und konkreter Erkrankung vorliegt.321 Probleme entstehen hierbei nicht nur durch fehlende Studien,322 sondern auch dadurch, dass im Bereich der Psychologie mehrere konkurrierende Schulen bestehen, die sich gegenseitig ihre Wissenschaftlichkeit absprechen. Es wird deshalb angedeutet, die hohen Anforderungen des BSG im Sinne einer herrschenden Ansicht seien möglicherweise zu hoch gegriffen. Es habe sich noch im Einzelfall zu erweisen, inwiefern Erfahrungssätze über Kausalzusammenhänge bei psychischen Erkrankungen als generell akzeptiert gelten können.323

319  BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (200), juris Rn. 17, das BSG bezieht sich hierbei sowohl auf haftungsbegründende als auch auf haftungsausfüllende Kausalität; Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 26/04 R, juris Rn. 21; Spellbrink, SozSich 2019, 32 (34). 320  BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (200 f.), juris Rn. 17; Aumann, Arbeitsunfall 4.0, S. 87. 321  Spellbrink, SozSich 2019, 32 (34). 322  Vgl. bspw. Drechsel-Schlund, MEDSACH 2014, 153 (155 f.) zur nicht möglichen stringenten Herleitung der Kausalitätsbeziehung zwischen arbeitsplatzbezogenen Faktoren und der Entstehung und Unterhaltung des Burn-out Syndroms aufgrund fehlender medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse. 323  Zum Ganzen: Spellbrink, SozSich 2019, 32 (35).



B. Erfassung psychischer Erkrankungen79

Die Beurteilung der Kausalität bei psychischen Erkrankungen wird zudem dadurch erschwert, dass die Klassifizierung nach ICD-10 und DSM-5 gerade bei den unfallversicherungsrechtlich relevanten psychischen Erkrankungen oftmals nicht auf die Erkrankungsursache abstellt. Stattdessen erfolgt die Einordnung bei affektiven Störungen wie der depressiven Episode und Angststörungen, die beispielsweise infolge von Mobbing oder beim Burn-out Syndrom auftreten können, anhand der auftretenden Symptome. Eine Ausnahme bildet die PTBS, bei der zur Klassifikation auch auf den Ursachenfaktor abgestellt wird.324 Das Hauptproblem besteht in der Herausbildung von Kriterien zur Beurteilung der rechtlichen Wesentlichkeit, wie die drei folgenden Fallgruppen zeigen. (1) Gelegenheitsursache Die Thematik der Gelegenheitsursache325 stellt bei psychischen Erkrankungen ein besonderes Problem dar, weil vorhergehende persönliche Erfahrungen und die psychische Reaktion auf das Unfallereignis im Einzelfall kaum voneinander getrennt werden können. Es gibt oft mehrere naturwissenschaftliche Ursachen. Deshalb kommt der Frage der rechtlichen Wesentlichkeit eine große Bedeutung zu.326 Während eine Person infolge eines traumatischen Ereignisses, von extremem Stress oder Mobbing am Arbeitsplatz eine psychische Erkrankung erleidet, bleibt eine andere Person beispielsweise aufgrund ihrer weniger belasteten persönlichen Vorgeschichte oder größeren Resilienz bei gleichen Ereignissen gesund. Das BSG stellt klar, dass es bei psychischen Erkrankungen keinen Rechtsoder Erfahrungssatz gibt, wonach ein als geringfügig beurteiltes Trauma stets als bloße Gelegenheitsursache anzusehen ist. Weil auf die individuellen Versicherten abzustellen sei, schließe eine „abnorme seelische Bereitschaft“ die Bewertung einer psychischen Reaktion als Unfallfolge nicht aus.327 Stattdes324  Grobe,

BPUVZ 2012, 192. o. S. 49. 326  Vgl. Spellbrink, SozSich 2019, 32 (35). 327  BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (207), juris Rn. 37; zuletzt Urt. v. 26.11.2019 – B 2 U 8/18 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 71, Rn. 25, juris Rn. 25; vgl. auch SG Stuttgart, Urt. v. 14.06.2019 – S 1 U 1827/17, juris, Versicherter mit eventuellen außerberuflichen psychischen Vorbelastungen, Betonung, dass eine Ursachenbewertung im Einzelfall stattfinde, Ausgangspunkt sei der konkrete Ver­ sicherte mit ggf. bestehenden Krankheitsanlagen und Vorerkrankungen; Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 171; vgl. Mehrhoff et al., Unfallbegutachtung, S. 319; Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/ 325  Vgl.

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

sen gelten die bereits beschriebenen Grundsätze zur Gelegenheitsursache.328 Fraglich bleibt, welche objektiven Kriterien für die Beurteilung herangezogen werden können. Es kann abgestellt werden auf den Schweregrad des Unfall­ ereignisses sowie des Unfallerlebens, auf die Persönlichkeitsstruktur und die individuelle Belastbarkeit, nachgewiesene Vorerkrankungen sowie auf mög­ liche sekundäre Motive wie Begehrensvorstellungen.329 Auch kann eine Rolle spielen, wie Versicherte in der Vergangenheit auf ähnliche Ereignisse reagiert haben330 sowie ihr aktuelles Befinden, die allgemeinen Lebensverhältnisse und die Situation am Arbeitsplatz zur Zeit des Geschehens.331 Bei der Problematik der Gelegenheitsursache ist es in besonderem Maße Aufgabe der medizinisch-psychologischen Sachverständigen, die naturwissenschaftlichen Ursachenzusammenhänge darzustellen und dabei auch auf das qualitative und quantitative Ausmaß unfallunabhängiger sowie persönlichkeitsimmanenter Faktoren gegenüber dem Ausmaß des Unfallereignisses einzugehen. Ausgehend von diesen Angaben obliegt anschließend dem Gericht die Beurteilung der rechtlichen Wesentlichkeit, die keine rein medizinische Kausalitätsfrage darstellt.332 (2) M  issverhältnis oder zeitlich verzögertes Auftreten bei Unfallereignis und psychischer Reaktion Als Orientierung wird davon ausgegangen, dass, je geringfügiger das Unfallereignis und je ausgeprägter die unfallunabhängigen, konkurrierenden Ursachen waren, desto eher die Ursächlichkeit des Unfallereignisses ab­ gelehnt werden könne.333 Die Rechtsprechung stellt bei Missverhältnissen Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 166; Spellbrink, SozSich 2019, 32 (35 f.). 328  Vgl. o. S. 49. 329  Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 163 ff.; vgl. Benz, NZS 2002, 8 (13). 330  Vgl. Bayerisches LSG, Urt. v. 27.06.2006 – L 3 U 224/05, juris Rn. 23; Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 165; Mehrhoff et al., Unfallbegutachtung, S. 320; Fabra/ Bultmann, MEDSACH 2009, 172 (178). 331  Mehrhoff et al., Unfallbegutachtung, S. 319 f. 332  Mehrhoff et al., Unfallbegutachtung, S. 319; Ulmer, MEDSACH 2020, 134 (139). 333  Mehrhoff et al., Unfallbegutachtung, S. 320; so i.  E. wohl auch DrechselSchlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 167; Benz, NZS 2002, 8 (13), spricht sich bei Missverhältnis für Vermutung einer bloßen Gelegenheitsursache aus; Widder et al., MEDSACH 2016, 156 f.; vgl. Schlanstein, NZV 2018, 406 (409); kritisch dazu: Pitz/Strametz, SGb 2021, 405 (409).



B. Erfassung psychischer Erkrankungen81

zwischen Unfallereignis und psychischer Reaktion auf die allgemeinen Grundsätze zur Theorie der wesentlichen Bedingung ab und nennt keinen Grenzwert für eine Mindestintensität334 des Unfallereignisses.335 Auch tritt die psychische Erkrankung teils erst mit Verzögerung zum Unfallereignis auf. Beispielsweise die PTBS wird nach ICD 10: F43.1 als „verzögerte oder protrahierte Reaktion“ beschrieben. Vorrangig ist zu klären, ob wirklich eine Verzögerung vorliegt oder lediglich ein anderer, auffälligerer Schaden zunächst im Vordergrund stand. Bejaht man die Verzögerung, wird davon ausgegangen, dass, je gravierender die psychische Beeinträchtigung war, desto länger eine Latenz nachvollziehbar sein kann.336 (3) Bewusstseinsnahe Begehrensvorstellungen Stellt das Unfallereignis den Anlass zur Verwirklichung eines Lebenszieles wie den Rückzug aus dem Beruf oder die Erlangung einer möglichst hohen Rente dar, spricht man von bewusstseinsnahen Begehrensvorstellungen, die den Kausalzusammenhang ausschließen können. Diese beeinflussen – bewusst oder unbewusst – den Folgezustand nach dem Unfallereignis negativ. Beispiele sind die Aggravation, das heißt die im Verhältnis zum objektiven Befund übertriebene, zweckgerichtete Präsentation subjektiv empfundener Symptome, oder seltener die Simulation, die vorsätzliche Täuschung.337 Mit dieser Problematik lässt sich auch die Frage in Zusammenhang bringen, ob der Kausalzusammenhang durch das Kriterium der sogenannten „zu­ mutbaren Willensanspannung“ begrenzt werden kann.338 Die Frage komme 334  Vgl.

auch schon o. S. 69. BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (207), juris Rn. 35; vgl. statt vieler Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 167, ein solcher belastbarer Grenzwert wird in der gutachterlichen Literatur aber oft verlangt. 336  Vgl. Bayerisches LSG, Urt. v. 04.08.2014 – L 2 U 4/11, juris Rn. 119, Bsp. einer zweijährigen Latenz; Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/ Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 168; vgl. zum zeitlich verzögerten Beginn bei der PTBS: Widder et al., AWMF Leitlinie Nr. 051-029, S2k, Teil III S. 22 f. 337  Benz, NZS 2002, 8 (12 f.); vgl. auch Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 8 Rn. 171; Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/ Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 167, der Kausalzusammenhang sei in derartigen Fällen regelmäßig abzulehnen. 338  Dies bei Bagatellfällen befürwortend: Schneider/Weber-Papen, in: Ludolph, Unfallmann: Kap. 17 S. 505; Dreßing/Foerster, MEDSACH 2012, 165; vgl. zur Thematik auch Foerster/Dreßing, Der Nervenarzt 2010, 1092, ausführlich zum Begriff und zur Beurteilung der zumutbaren Willensanspannung. 335  Vgl.

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

insbesondere auf bei lang anhaltenden psychischen Erkrankungen und Renten auf unbestimmte Zeit, bei denen die Kausalitätsbeurteilung besonders schwer falle.339 Das Kriterium stammt aus dem Rentenversicherungsrecht, wo es auch seinen Hauptanwendungsbereich hat.340 Überwiegend wird es im Unfallversicherungsrecht aber als nicht notwendig oder hilfreich betrachtet, insbesondere aufgrund der schlechten Nachweisbarkeit. Eine bewusste oder bewusstseinsnahe Motivation kann als unfallunabhängiger, krankheitsunterhaltender Faktor bei der Kausalitätsabwägung bereits ausreichend berücksichtigt werden.341 bb) Nachweis Zum bereits erwähnten generellen Problem der klaren Aufgabentrennung beim Umgang mit medizinischen Sachverständigengutachten342 kommen weitere hinzu. Bei der Begutachtung der haftungsbegründenden Kausalität bei psychischen Erkrankungen darf nicht auf die wissenschaftliche Auffassung und Erfahrung der einzelnen Sachverständigen zurückgegriffen werden, sondern die Beurteilung durch die Sachverständigen muss auf der Grundlage des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes stattfinden. Abweichungen davon sind wissenschaftlich zu begründen.343 Trotz der mittlerweile großen Anzahl an wissenschaftlichen Beiträgen gelinge das in der Praxis noch nicht immer.344 Auch dürfen Sachverständige keinen Schluss „post hoc, ergo propter hoc“ ziehen: Allein aus dem tatsächlichen Verlauf der psychischen Erkrankung nach dem Ereignis kann nicht ohne weitere Abwägung auf die Zwangsläufigkeit des Kausalzusammenhangs geschlossen werden.345 Kausalität ist nicht nur die logische Verknüpfung zweier Geschehnisse, sondern bedarf eines Nachweises. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund der bezweckten Risikoabgrenzung zwischen betrieblichem und privatem Bereich.346 339  Grobe,

BPUVZ 2012, 192 (195 f.). BSG, Urt. v. 01.07.1964 – 11/1 RA 158/61, BSGE 21, 189; Meelfs, MEDSACH 2012, 169; Dreßing/Foerster, MEDSACH 2012, 165. 341  Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 166; vgl. zur Erkrankung durch Begehrensvorstellungen auch schon: von Caemmerer, Das Problem des Kausalzusammenhangs im Privatrecht, S.  19 f.; Benz, NZS 2002, 8 (13); zur zumutbaren Willensanspannung: Meelfs, MEDSACH 2012, 169. 342  Vgl. o. S. 54. 343  BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (204 f.), juris Rn. 28; Becker, SGb 2007, 721 (729). 344  Spellbrink, SozSich 2019, 32 (35); Grobe, BPUVZ 2012, 192 (195). 345  Grobe, BPUVZ 2012, 192 (195). 340  Vgl.



B. Erfassung psychischer Erkrankungen83

Um Aussagen über die Kausalzusammenhänge treffen zu können, benötigen Sachverständige die Vorbefunde, Erstbefunde wie den Bericht von ­D-Ärztin oder -Arzt oder gegebenenfalls Unterlagen der Polizei, Befunde zur Krankheitsentwicklung sowie aktuelle Befunde der behandelnden Ärzte und Ärztinnen. Aufgabe des Gerichts oder des zuständigen Unfallversicherungsträgers als Auftraggeber ist es, passgenaue Beweisfragen zu stellen.347 Den Sachverständigen kann entweder bindend vorgegeben werden, welche Tatsachen als Unfallgeschehen der Begutachtung zugrunde zu legen sind. Der Auftraggeber kann sie aber auch eigene Feststellungen zu Unfallverlauf und den weiteren Ereignissen treffen lassen,348 denn Sachverständige wissen oftmals besser, wonach als Ursache zu suchen ist.349 Hilfreich sein können zudem die exakten Schilderungen der erstbehandelnden Ärzte und Ärztinnen hinsichtlich der beobachteten Schreck- oder Schocksymptome sowie ihre täglichen Aufzeichnungen zur Krankheitsgeschichte, die eine sachgerechte Würdigung erleichtern.350 Insbesondere den dokumentierten Erstangaben der Verunfallten zum Unfallhergang sei besondere Beachtung zu schenken, weil diese noch nicht durch Begehrensvorstellungen beeinflusst seien. Eine davon abweichende Darstellung bei der späteren Begutachtung sei entsprechend kritisch zu würdigen.351 In den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften wird mittlerweile auch die Verwendung psychometrischer Tests und strukturierter, standardisierter diagnostischer klinischer Interviews vorgegeben. Durch spezifische Interviews beispielsweise zur PTBS kann die Dia­ gnostik unterstützt werden. Auch existieren spezifische psychometrische Selbstbeurteilungsskalen und neuropsychologische Tests.352 Schließlich werden im Rahmen der Anamneseerhebung auch vorbestehende psychische Beeinträchtigungen ermittelt. Dadurch können eventuelle kritische Lebensereig-

346  Vgl. Watermann, Die Ordnungsfunktionen von Kausalität und Finalität im Recht, S. 38; Benz, NZS 2002, 8 (11). 347  Ulmer, MEDSACH 2020, 134; vgl. zu den erforderlichen Unterlagen auch Mehrhoff et al., Unfallbegutachtung, S. 317. 348  Vgl. § 118 Abs. 1 SGG i. V. m. § 404a Abs. 3, 4 ZPO. 349  Ulmer, MEDSACH 2020, 134. 350  Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 176; vgl. Pitz/Strametz, SGb 2021, 405 (409 f.), schlagen für Fälle des sog. Second Victim Phänomens bei medizinischem Fachpersonal eine standardisierte psychotherapeutische Notfallversorgung vor, die neben der Behandlung auch Dokumentationszwecke haben könnte. 351  Ulmer, MEDSACH 2020, 134 f. 352  Mehrhoff et al., Unfallbegutachtung, 317  f.; Ulmer, MEDSACH 2020, 134 (138); Schäfer et al., AWMF Leitlinie Nr. 155/001 S3, S. 18, 20.

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

nisse ausgemacht werden, deren Mitwirkungsanteil für die vorliegende psychische Erkrankung eingeschätzt werden muss.353 Letztlich gilt aber auch für den Nachweis des Kausalzusammenhangs der Grundsatz der objektiven Beweislast,354 sodass die bei psychischen Erkrankungen im Vergleich zu sichtbaren Verletzungen schwierigere Führung des Nachweises mangels Röntgenbilder, Pathologiebefunde oder anderer anschaulicher Beweise355 am Ende zu Lasten der Versicherten geht. d) Zwischenergebnis Bei der Anerkennung psychischer Erkrankungen als Arbeitsunfall stellen sich noch erhebliche Probleme. Für das Unfallereignis verbleibt die Problematik der zeitlichen Begrenzung auf eine Arbeitsschicht, die insbesondere psychische Erkrankungen wie die PTBS trifft und eine Lücke im Versicherungsschutz bewirkt. Die geforderte Mindestintensität des Ereignisses kann nicht in Einklang gebracht werden mit den Grundsätzen der gesetzlichen Unfallversicherung. Das Erfordernis der Änderung des physiologischen Körperzustandes für das von außen einwirkende Ereignis stellt für psychische Erkrankungen entgegen entsprechender Befürchtungen kein Problem dar. Auch die Bestimmung, wann ein von außen einwirkendes Ereignis in den erwähnten Fällen der Lokführer vorliegt, dürfte durch die jüngste Rechtsprechung erleichtert worden sein. Für die Feststellung des Gesundheitsschadens bleibt zu hoffen, dass die fortlaufende Aktualisierung der Klassifikationssysteme, insbesondere auch durch die baldige Einführung von ICD-11, eine einheitliche und exakte Definition der jeweiligen Erkrankung nach dem aktuellsten medizinisch-psychologischen Kenntnisstand zulässt. Weiterhin Probleme bereitet das Missverständnis um einen Gesundheits-„erst“-schaden in Form einer initialen seelischen Beeindruckung bei der PTBS. Für die haftungsbegründende Kausalität ist neben der Ermittlung des ak­ tuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes die Herausbildung von Kriterien zur Beurteilung der rechtlichen Wesentlichkeit das Hauptproblem. Das Kriterium der zumutbaren Willensanspannung sollte bei der Beurteilung keine Anwendung finden. Der Nachweis des Kausalzusammenhangs wird durch die teils unklare Aufgabentrennung beim Umgang mit medizinischen 353  Ullmann/Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 120 (121 f.), ausführlich zu vielen verschiedenen Konstellationen multifaktorieller Verursachung psychischer Erkrankungen und zur Vorgehensweise bei der Begutachtung dieser. 354  Vgl. o. S. 56. 355  Vgl. bereits o. S. 76.



B. Erfassung psychischer Erkrankungen85

Sachverständigengutachten und den Rückgriff auf persönliche Überzeugungen erschwert. Positiv hervorzuheben ist aber, dass es immer mehr und bessere Möglichkeiten der Begutachtung von psychischen Erkrankungen in Form von standardisierten Interviews und Tests gibt. 3. Ergebnis Die Anerkennung psychischer Erkrankungen als Arbeitsunfall in der gesetzlichen Unfallversicherung ist zwar möglich, es stellen sich jedoch spezifische Probleme im Rahmen des Unfallereignisses, des Gesundheitsschadens und der haftungsbegründenden Kausalität.

II. Psychische Erkrankungen im Rahmen der Berufskrankheit Im Anschluss an den Arbeitsunfall soll nun untersucht werden, inwiefern psychische Erkrankungen im Rahmen des Versicherungsfalls der Berufskrankheit gem. § 9 SGB VII erfasst werden können und welche Probleme sich dabei stellen. Das Berufskrankheitenrecht gehört aufgrund von Umsetzungs- und Anwendungsproblemen zu den schwierigsten und umstrittensten Bereichen des Unfallversicherungsrechts.356 Ein weiterer Grund dafür ist das ständige Dilemma zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und Möglichkeiten zur Ursachenerforschung auf der einen und der fehlenden Verdichtung zur beweisrechtlich notwendigen Wahrscheinlichkeit auf der anderen Seite. Dieses Dilemma zeichnet das Berufskrankheitenrecht insbesondere bei der Anerkennung der sogenannten Volkskrankheiten aus.357 Dazu kommt die starke emotionale Komponente der Verfahren. Durch die zur Beurteilung notwendige Langzeitperspektive betrachten die Versicherten die Anerkennung einer Berufskrankheit oftmals als Urteil über ihr gesamtes Berufs­ leben.358 Für psychische Erkrankungen liegt die Subsumtion unter den Versicherungsfall der Berufskrankheit näher als unter den Arbeitsunfall, weil sie öfter 356  Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: §  9 Rn. 4; vgl. Krasney, in: HVBG, FS für Friedrich Watermann, S. 91, „Achillesferse“ der Unfallversicherung; Becker, in: Bender/Eicher, FS saarländische Sozialgerichtsbarkeit, S. 105 (119); Spellbrink, SR 2014, 140; Axer, SGb 2016, 177, „Dauerbaustelle“; Siefert, NZS 2019, 121 (129); Ricke, WzS 2012, 43 (49), Problem der Berufskrankheiten als „Perpetuum mobile“. 357  Ricke, WzS 2012, 43 (49). 358  Spellbrink, in: Ruland/Becker/Axer/Maydell, SRH: § 16 Rn. 144.

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

durch länger andauernde Belastungen am Arbeitsplatz und seltener durch ein einzelnes Ereignis ausgelöst werden.359 Der Versicherungsfall der Berufskrankheit lässt sich in zwei Unterfälle gliedern, die Listen-Berufskrankheit gem. § 9 Abs. 1 SGB VII und die WieBerufskrankheit gem. § 9 Abs. 2 SGB VII. Die Unterscheidung hängt davon ab, ob die Bundesregierung als Verordnungsgeberin eine Krankheit bereits in der Berufskrankheiten-Liste, Anlage 1 der BKV, bezeichnet hat.360 Das Verfahren und die Voraussetzungen zur Anerkennung von Berufskrankheiten wurde unlängst ausführlich dargestellt.361 Die zum 01.01.2021 in Kraft getretenen Änderungen des § 9 SGB VII362 haben das Verfahren in seiner bisherigen Form ergänzt, nicht grundlegend reformiert. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich deshalb auf eine knappe Darstellung der Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 und 2 SGB VII. Es werden verstärkt die für psychische Erkrankungen relevanten Punkte herausgestellt, bevor die Pro­ bleme am aktuellen Verfahren im Hinblick auf die Anerkennung psychischer Erkrankungen als Berufskrankheit diskutiert werden. 1. Die Anerkennung als Berufskrankheit gem. § 9 Abs. 1 SGB VII Gem. § 9 Abs. 1 S. 1 SGB VII sind Berufskrankheiten Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden. Daraus ergibt sich, dass zwischen der abstrakten Anerkennung einer Krankheit als Listen-Berufskrankheit und der konkreten Anerkennung des individuellen Versicherungsfalls differenziert werden kann.363 In der Berufskrankheiten-Liste existiert bislang keine Erkrankung psychischer Art.364

Tieste, Haftungsfall Stresserkrankung, S. 174; Spellbrink, WzS 2012, 259. SGb 2010, 131 (132). 361  Vgl. Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten. 362  Siebtes Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze v. 12.06.2020, BGBl. I S. 1248. 363  Vgl. BSG, Urt. v. 20.06.1995 – 8 RKnU 2/94, SozR 3-5679 Art. 3 Nr. 1; zu den Begrifflichkeiten vgl. Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 65; Hollo, SozSich 2019, 269 (270); vgl. Spellbrink, SR 2015, 15, generelle Anerkennung und individuelle Feststellung. 364  Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 55; Spellbrink, WzS 2012, 259 (260); Jung, BEPR 2019, 82 (83). 359  Vgl.

360  Becker,



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a) Abstrakte Anerkennung als Listen-Berufskrankheit aa) Abgrenzung zu arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren und Erkrankungen Die Anforderungen, die § 9 Abs. 1 SGB VII an die Aufnahme als ListenBerufskrankheit stellt, dienen der Abgrenzung zu den sogenannten arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren und Erkrankungen. Die Begriffe werden gesetzlich nicht definiert. Arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren werden nach § 14 SGB VII neben Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten vom Präven­ tionsauftrag der Unfallversicherungsträger erfasst. Der Begriff der arbeitsbedingten Erkrankungen kommt unter anderem in § 3 Abs. 1 Nr. 3 ASiG vor.365 Zwar handelt es sich sowohl bei arbeitsbedingten Erkrankungen als auch bei Berufskrankheiten um gesundheitliche Gefährdungen und Erkrankungen, die durch Bedingungen am Arbeitsplatz beeinflusst werden. Die arbeitsbedingten Erkrankungen erfüllen jedoch nicht die Voraussetzungen gem. § 9 Abs. 1 SGB VII. Für sie sind als Ausdruck des allgemeinen Lebensrisikos grundsätzlich die anderen Sozialversicherungsträger zuständig mit Ausnahme der sogenannten kleinen Versicherungsfälle von § 3 BKV.366 Berufskrankheiten können auch als Teilmenge der arbeitsbedingten Erkrankungen verstanden werden.367 Zu den arbeitsbedingten Erkrankungen zählen insbesondere multifakto­ rielle Erkrankungen, bei denen die arbeitsbedingte Teilursache im Einzelfall nicht bestimmbar und im Sinne einer rechtlich wesentlichen Kausalität nachweisbar ist. Hierzu werden bislang auch psychische Erkrankungen gezählt.368 Der Gesetzgeber hat entschieden, die arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren und Erkrankungen nur im Rahmen der Prävention einzubeziehen.369 Gleichzeitig führt das Konzept der Aufnahme nur einer Teilmenge der ar365  Brandenburg,

in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 54. in: Becker/Franke/Molkentin, SGB VII: § 9 Rn. 16; Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 54 f.; vgl. Holt­ straeter, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 9 SGB VII Rn. 3, dem gegenüber stünden die Berufskrankheiten als Sonderrisiko, das durch die BKListe definiert werde; vgl. Axer, SGb 2016, 177 (180 f.), ausführliche Auseinandersetzung mit der Beschränkung auf Berufskrankheiten aus verfassungsrechtlicher Per­ spektive, insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes; vgl. auch Oppolzer, BG 2000, 508 (510). 367  Vgl. Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 55; Axer, SGb 2016, 177 (180). 368  Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 55; vgl. Spellbrink, SGb 2013, 154 (159). 369  Vgl. Krasney, in: HVBG, FS für Friedrich Watermann, S. 91 (93). 366  Brandenburg,

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

beitsbedingten Erkrankungen, namentlich der Berufskrankheiten, in den vollständigen Versicherungsschutz dazu, dass das Berufskrankheitenrecht von Beginn an sozialpolitisch hoch umstritten war.370 bb) Die Berufskrankheiten-Liste (1) E  rmächtigung der Bundesregierung als Verordnungsgeberin gem. § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII Wegen des für Sozialleistungen in § 31 SGB I besonders hervorgehobenen Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes können grundsätzlich nur die in der Berufskrankheiten-Liste aufgeführte Krankheiten als Berufskrankheit anerkannt werden.371 Gem. § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII wird die Bundesregierung ermächtigt, in der BKV solche Krankheiten als Listen-Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind. Bei der Prüfung der Voraussetzungen für die Aufnahme einer Listen-Berufskrankheit steht ihr aufgrund unbestimmter Rechtsbegriffe ein Gestaltungsspielraum zu.372 Die gerichtliche Überprüfung des Gestaltungsspielraums erfolgt nur dahingehend, ob dieser pflichtgemäß dem Zweck der Ermächtigung entsprechend ausgeübt worden ist.373 Es wird angenommen, dass die Entscheidung über die Auf370  Kranig, in: Devetzi/Janda, FS für Eberhard Eichenhofer, S. 359 (368); Ricke, WzS 2012, 43 ff., ausführlich zur geschichtlichen Entwicklung. 371  Spellbrink, SR 2014, 140 (141 f.); vgl. Axer, SGb 2016, 177. 372  Vgl. BVerfG, Beschluss v. 04.02.1975 – 2 BvL 5/74, BVerfGE 38, 348 (363), juris Rn. 50; vgl. BSG, Urt. v. 23.03.1999 – B 2 U 12/98 R, BSGE 84, 30 (33), juris Rn. 25 ff.; Urt. v. 18.03.2003 – B 2 U 13/02 R, BSGE 91, 23 (26), juris Rn. 15; Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 76; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 195, kritisch zur verwirrenden synonymen Verwendung verschiedener Begriffe (Beurteilungsspielraum, normatives Ermessen, Ermessensspielraum, Gestaltungsfreiraum) durch das BSG, m. w. N.; Bieresborn, SGb 2016, 310 (313 f.); Spellbrink, SR 2014, 140 (147 f.); vgl. auch Axer, SGb 2016, 177 (179); andere Ansicht bei: Welter-Birk, Der Entscheidungsspielraum der Bundesregierung bei Berufskrankheiten, S. 257, ein Entscheidungsspielraum bestehe einzig bei der Ausgestaltung des Listen‑Tatbestandes. 373  BSG, Urt. v. 18.11.1997 – 2 RU 48/96, juris Rn. 16; Urt. v. 23.03.1999 – B 2 U 12/98 R, BSGE 84, 30 (33), juris Rn. 27; Spellbrink, WzS 2012, 259 (261); kritisch: Welter-Birk, Der Entscheidungsspielraum der Bundesregierung bei Berufskrankheiten, S. 132, spricht sich für eine vollständige gerichtliche Überprüfung aus.



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nahme einer Krankheit in die Berufskrankheiten-Liste insbesondere sozial­ politischer Art sei, was gerichtlich nur eingeschränkt überprüft werden könne.374 Als Kriterien für die Ausübung des Gestaltungsspielraums werden in der Literatur die Definierbarkeit der tätigkeitsspezifischen Risikoerhöhung und die hinreichende Differenzierbarkeit des Krankheitsbildes angeführt. Sozialpolitische Aspekte seien, ob die Anerkennung als Berufskrankheit für die Versicherten nur eine geringe Bedeutung habe, weil sie lediglich zu einer Verlagerung der Behandlungskosten führe, dem aber ein deutlich erhöhter Ermittlungsaufwand gegenüber stünde.375 Sozialpolitische Erwägungen seien außerdem Schwere, Verlauf, regelmäßige Dauer und Entstehung der durch die jeweiligen Einwirkungen verursachten Krankheiten, die Existenz in der Allgemeinbevölkerung, ihre zukünftige Relevanz und die Anzahl der Betroffenen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie die Abgrenzung zu anderen Sozialversicherungszweigen und die Frage nach der Lastenverteilung zwischen Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung.376 Nicht zuletzt stelle die Notwendigkeit der Sicherung einer finanziell stabilen und funk­ tionsfähigen Unfallversicherung ein bedeutendes sozialpolitisches Kriterium dar, gerade im Hinblick auf die alleinige Beitragstragung durch Unternehmerinnen und Unternehmer.377 Es stellt sich die Frage, ob der Gestaltungsspielraum auch umfasst, bei geringerem medizinischem Kenntnisstand eine Listen-Berufskrankheit zu normieren. Für psychische Erkrankungen, bei denen die wissenschaftlichen Meinungen teils noch sehr auseinandergehen und bei denen es teils noch an wissenschaftlichen Studien fehlt, ist dies in besonderem Maße relevant. Grundsätzlich kann die Bundesregierung als Verordnungsgeberin innerhalb der Grenzen des Gestaltungsspielraums frei entscheiden, ab wann sie sich auch neuesten oder einem kleineren Teil wissenschaftlicher Untersuchungen anschließen will. Sie kann entscheiden, ab welcher Schwelle einer ernstzu374  Vgl. BSG, Urt. v. 18.03.2003 – B 2 U 13/02 R, BSGE 91, 23 (26), juris Rn. 15, Berücksichtigung der „sozialpolitische[n] Notwendigkeit gesteigerten Schutzes gegen betriebliche Risiken“; Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 51 f.; Becker, in: Bender/Eicher, FS saarländische Sozialgerichtsbarkeit, S. 105 (117); vgl. Molkentin, SGb 2014, 659; Mummenhoff, ZIAS 1989, 93 (96); Axer, SGb 2016, 177 (179 f.), kritisch zum sozialpolitischen Gestaltungsspielraum als „Blackbox“. 375  Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 76 f. 376  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 218; Rottmann, Zurechnungsprobleme im Berufskrankheitenrecht, S. 21 ff. 377  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 219, vermutet entsprechend auch, dass Kostengesichtspunkten bei der Aufnahme einer neuen Berufskrankheit ein ganz bedeutender Stellenwert zukommt; Axer, SGb 2016, 177 (180).

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

nehmenden Mindermeinung noch Gewicht beigemessen wird oder nicht, auch wenn sich die überwiegende Anzahl an Personen in der Fachwissenschaft noch nicht von ihrer Richtigkeit überzeugen konnte. Es soll erst dann nicht mehr von einem wissenschaftlich gesicherten Ursachenzusammenhang ausgegangen werden können, wenn aus der Wissenschaft nicht einmal mehr deutliche Hinweise für einen Zusammenhang herleitbar sind.378 Im Gegenzug wird eine Zuspitzung des Ermessensspielraums zu einer Verpflichtung angenommen, wenn die Voraussetzungen für die Anerkennung gem. § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII erfüllt sind.379 Dies kritisiert man zu Recht, weil durch den Gestaltungsspielraum gleichzeitig die Verordnungsgeberin in der Hand hat, ob die Voraussetzungen erfüllt sind, sodass sie letztlich selbst über ihre eigene Verpflichtung entscheidet.380 Schließlich verpflichtet die Ermächtigungsnorm die Verordnungsgeberin zur Beobachtung der Entwicklung medizinischer Erkenntnisse und damit zu Korrekturen und Nachbesserungen.381 Sie darf nicht mit Verweis auf die Möglichkeit der Anerkennung als Wie-Berufskrankheit gem. § 9 Abs. 2 SGB VII untätig bleiben, weil es sich bei § 9 Abs. 2 SGB VII nicht um eine General- oder Härtefallklausel handelt, sondern die Norm als Ausnahmevorschrift ausgestaltet ist.382 378  BSG, Urt. v. 23.03.1999 – B 2 U 12/98 R, BSGE 84, 30 (35 f.), juris Rn. 31; vgl. Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 74, methodische Bedenken dagegen anbringend, dass sich die Verordnungsgeberin auch aus sozialpolitischen Gründen einem kleineren Teil der Wissenschaft anschließen könne; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 225; vgl. Axer, SGb 2016, 177 (179 ff.), zu den verfassungsrechtlichen Grenzen, insbesondere zum Gleichheitssatz; Bieresborn, SGb 2016, 310 (314); Mummenhoff, ZIAS 1989, 93 (95 f.,  101), m. w. N.; Spellbrink, WzS 2012, 259 (261), zur Einführung einer psychische Erkrankungen betreffenden Listen-BK; Spellbrink, SR 2014, 140 (148); vgl. Verron, SGb 1992, 585 (591). 379  BSG, Urt. v. 18.03.2003 – B 2 U 13/02 R, BSGE 91, 23 (26), juris Rn. 15; Spellbrink, in: Ruland/Becker/Axer/Maydell, SRH: § 16 Rn. 149; Welter-Birk, Der Entscheidungsspielraum der Bundesregierung bei Berufskrankheiten, S. 187 ff., i. E. genauso, allerdings weil sie einen Entscheidungsspielraum der Verordnungsgeberin insgesamt ablehnt; Spellbrink, SR 2014, 140 (149), Ableitung aus § 38 SGB I und dem mittelbaren Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf Sozialleistungen, soweit für die Unfallversicherungsträger kein Ermessen bestehe; Bieresborn, SGb 2016, 310 (314). 380  Vgl. Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 76; Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 9 SGB VII Rn. 10; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 230 f.; Brandenburg, SGb 2004, 70 (72); Molkentin, SGb 2014, 659 f. 381  Vgl. BSG, Urt. v. 30.09.1999 – B 8 KN 5/98 U R, BSGE 85, 24 (30), juris Rn. 33; Axer, SGb 2016, 177 (179). 382  Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 09.10.2000 – 1 BvR 791/95, SozR 3-2200 § 551 Nr. 15, die Aufnahme als BK in die Liste hat Vorrang gegenüber der



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(2) Listensystem In § 9 Abs. 1 S. 1 SGB VII wird das sogenannte Listensystem verankert.383 Im Gegensatz zum Arbeitsunfall zeichnen sich die ins Berufskrankheitenrecht fallenden Gesundheitsschäden, die Folge längerer oder sich wiederholender Expositionen sind, durch eine wesentlich schwierigere oder sogar teils ausgeschlossene klare ursächliche Zuordnung von Einwirkungsexposition und Krankheitsentwicklung aus. Grund dafür sind mangelnde erkennbare zeitliche Zusammenhänge aufgrund von Latenz, parallel verlaufende natürlichen Degenerationsprozesse und schicksalsmäßige Erkrankungen.384 Nicht jede Person, die einer bestimmten Einwirkung ausgesetzt war, erkrankt zwingend. Die Gründe für eine besondere Empfindlichkeit bleiben oft unbekannt.385 Die verursachte Erkrankung kann, muss jedoch nicht zwingend typisch sein für die Einwirkungen. Im Extremfall können in der Gesellschaft weit verbreitete Volkskrankheiten wie Meniskusschäden, Haut- oder Wirbelsäulenerkrankungen durch die Einwirkungen verursacht werden.386 Zwar sollen durch die hohen Anforderungen für die Aufnahme in die Berufskrankheiten-Liste derartige Erkrankungen ausgenommen werden, die eher als Ausfluss des allgemeinen Lebensrisikos verstanden werden.387 Diese zeichnen sich dadurch aus, dass Menschen untrennbar Gefährdungen aus Arbeitswelt, der übrigen Umwelt, ihrer privaten Lebensführung sowie ihrer individuellen Konstitution ausgesetzt sind.388 Allerdings sind Volkskrankheiten nicht generell von der Anerkennung als Listen-Berufskrankheit ausgeschlossen, sondern können durchaus die Anforderungen an die Aufnahme erfüllen.389 Um Aussagen über Zusammenhänge zwischen Einwirkung und Erkrankung treffen zu können, bedarf es gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse

Anerkennung als Wie-BK; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 361; Axer, SGb 2016, 177 (179). 383  Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 67; vgl. Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 9 SGB VII Rn. 8. 384  Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 67; vgl. Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 9 SGB VII Rn. 8. 385  Becker, BG 2011, 73, so erkranken bspw. nicht alle „Asbestarbeiter“ an Lungenkrebs. 386  Becker, BG 2011, 73. 387  Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 9 SGB VII Rn. 8; Hollo, SozSich 2019, 269 (270); Wilde/Schulte, SGb 2004, 599 (601). 388  Vgl. Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 9 SGB VII Rn. 8; Keller, SGb 2001, 226 (227); Wilde/Schulte, SGb 2004, 599 (601). 389  Vgl. Molkentin, SGb 2014, 659 (663).

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auf Grund langjähriger Beobachtung einer Vielzahl von Erkrankungen.390 Das Listensystem in Form einer rechtsverbindlichen Liste schafft Rechts­ sicherheit, die Gleichbehandlung der Versicherten sowie Praktikabilität.391 (3) Normenstruktur der Berufskrankheiten-Tatbestände Die Tatbestände der Listen-Berufskrankheiten in der Anlage 1 zur BKV folgen keiner einheitlichen Normenstruktur.392 Es existieren sogenannte offene Berufskrankheiten-Bezeichnungen, bei denen nur die Einwirkungen benannt werden, wie zum Beispiel Nr. 1101 BKV Anlage 1, Erkrankungen durch Blei oder seine Verbindungen.393 In anderen Bezeichnungen wird nur die Erkrankung benannt wie zum Beispiel Nr. 2301 BKV Anlage 1, Lärmschwerhörigkeit.394 Bei den jüngeren Listen-Berufskrankheiten sind Kombinationen von bestimmten Erkrankungen und Einwirkungen üblich, beispielsweise Nr. 2112 BKV Anlage 1, Gonarthrose durch eine Tätigkeit im Knien oder vergleichbare Kniebelastung mit einer kumulativen Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens von mindestens 13.000 Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht.395 Die Tatbestandsmerkmale der Einwirkung der konkreten Listen-Berufskrankheit werden oft mit unbestimmten Rechtsbegriffen wie „langjährig“ oder „schwer“, nur selten anhand exakter numerischer Einwirkungsgrößen definiert.396 Diese Auslegungsbedürftigkeit ist keine Verletzung des Bestimmtheitsgebots.397 Vielmehr haben Unfallversicherungsträger und Gerichte die Aufgabe, unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien sowie

390  Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 67; vgl. Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 9 SGB VII Rn. 8. 391  Vgl. Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 67; Rottmann, Zurechnungsprobleme im Berufskrankheitenrecht, S. 9; Keller, SGb 2001, 226 (229). 392  Becker, SGb 2010, 131 (132); Bieresborn, SGb 2016, 379 f.; Hollo, SozSich 2019, 269 (270); Spellbrink, SR 2014, 140 (142). 393  Vgl. BSG, Urt. v. 18.08.2004 – B 8 KN 1/03 U R, BSGE 93, 149 (153 f.), juris Rn. 22; Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 62; Hollo, SozSich 2019, 269 (270). 394  Becker, SGb 2010, 131 (132); Bieresborn, SGb 2016, 310 (316). 395  Vgl. Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 87; Becker, SGb 2010, 131 (132). 396  Vgl. Bieresborn, SGb 2016, 310 (316). 397  Vgl. zur BK Nr. 2108: BSG, Urt. v. 23.03.1999 – B 2 U 12/98 R, BSGE 84, 30 (33), juris Rn. 26; Urt. v. 18.03.2003 – B 2 U 13/02 R, BSGE 91, 23; Urt. v. 18.11.2008 – B 2 U 14/08 R, juris; Bieresborn, SGb 2016, 310 (316).



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der Vorgaben der gegebenenfalls vom BMAS herausgegebenen Merkblätter die notwendigen Einwirkungen näher zu konkretisieren.398 Gibt die Verordnungsgeberin präzise Kriterien als Voraussetzung für das Vorliegen der Berufskrankheit vor und sind diese im Einzelfall erfüllt, nimmt das BSG für die konkrete Anerkennung im Einzelfall eine Vermutung der haftungsbegründenden Kausalität zwischen berufsbedingter Schadensexposition und betreffender Krankheit an.399 cc) Voraussetzungen für die abstrakte Anerkennung (1) Krankheit und besondere Einwirkung Der Krankheitsbegriff entspricht dem des Gesundheitsschadens beim Arbeitsunfall. Es muss ein regelwidriger, körperlicher, geistiger oder seelischer Zustand vorliegen.400 Grundsätzlich können alle medizinisch anerkannten Erkrankungen als Berufskrankheit in die Liste aufgenommen werden.401 Damit wäre auch die Aufnahme einer medizinisch anerkannten psychischen Erkrankung möglich. 2017 hat das BSG den Krankheitsbegriff im Berufskrankheitenrecht leicht verändert und legt nun ein normativ-funktionelles Verständnis zugrunde. Nicht jeder körperlichen Regelwidrigkeit komme ein Krankheitswert im Rechtssinne zu, es bedürfe zusätzlich einer Beeinträchtigung der Körperfunktionen des Versicherten.402 Abgesehen von der Kritik an dieser Entscheidung betrifft sie zumindest dem Wortlaut nach psychische Erkrankungen nicht, weil bei diesen keine körperlichen, sondern „geistige“ oder „seelische“ Regelwidrigkeiten bestehen. Über das Erfordernis der Beeinträchtigung der „geistigen“ oder „seelischen“ Funktionen finden sich in Literatur und Rechtsprechung bislang keine Ausführungen.

398  Bieresborn,

SGb 2016, 310 (316); Spellbrink, SR 2015, 15 (16).

399  BSG, Urt. v. 30.01.2007 – B 2 U 15/05 R, SozR 4-5671 Anl. 1 Nr. 4104 Nr. 2, am

Bsp. von BK Nr. 4104, Lungenkrebs in Verbindung mit Asbeststaublungenerkrankung; Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 116 f.; vgl. Krasney, MEDSACH 2001, 103 (104); Spellbrink, SR 2014, 140 (151 f.). 400  Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 60; vgl. Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 53 f. 401  Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 30. 402  BSG, Urt. v. 27.06.2017 – B 2 U 17/15 R, SozR 4-5671 Anl. 1 Nr. 3102 Nr. 1; sehr kritisch dazu Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 9 SGB VII Rn. 6b; Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 61; Linder, SGb 2018, 475, ausführlich und ablehnend zur Neuschöpfung des BSG; vgl. auch Siefert, NZS 2019, 121 (130).

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Der Begriff der Einwirkungen wird ebenso wie beim Arbeitsunfall weit verstanden.403 Ein Nichts oder ein bloßer Mangel wie zum Beispiel das Unterlassen einer speziellen schulischen Förderung ist jedoch nicht ausreichend.404 Auch Einwirkungen auf die Psyche werden erfasst.405 Im Arbeitsund Organisationsumfeld können insbesondere Überforderung, Zeitdruck, Monotonie, geringe Autonomie, unzureichendes Feedback und Konflikte mit anderen Beschäftigten, Kundschaft oder Vorgesetzten Einwirkungen sein, nicht jedoch Persönlichkeitsfaktoren, die der Person innewohnen, wie Dispositionen und Anlagen.406 Mit „besondere“ ist gemeint, dass die Einwirkungen nach Art und Umfang für eine bestimmte Personengruppe über die übliche Belastung in der übrigen Bevölkerung hinausgehen müssen.407 (2) Genereller Ursachenzusammenhang Die Einwirkungen müssen generell geeignet sein, bestimmte Erkrankungen hervorzurufen.408 Der generelle Ursachenzusammenhang im abstrakten Anerkennungsverfahren ist von dem im konkreten Anerkennungsverfahren zu unterschieden.409 Ersterer ist eine theoretische Größe aus der Summe vieler Einzelfälle, wobei die individuelle haftungsbegründende Kausalität im Einzelfall nicht zwingend aus diesem hergeleitet werden kann.410 403  Vgl. Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 69; Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 31; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 171; Tieste, Haftungsfall Stresserkrankung, S. 175; Becker, BG 2011, 73 (77); Molkentin, SGb 2014, 659 (661); Spellbrink, SR 2014, 140 (146). 404  BSG, Urt. v. 27.04.2010 – B 2 U 13/09 R, SozR 4-2700 § 9 Nr. 18, Rn. 22, juris Rn. 22; Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 32. 405  BSG, Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris Rn. 23; Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 69; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 171; Schemmel, Haftungsfall Burn-Out, S. 211; Spellbrink, SR 2014, 140 (146). 406  Schemmel, Haftungsfall Burn-Out, S. 211, letztere können i. R. d. Kausalitätsbeurteilung Berücksichtigung finden. 407  Brandenburg, in: Becker/Franke/Molkentin, SGB VII: § 9 Rn. 29, dies komme ebenfalls in dem Erfordernis zum Ausdruck, dass die Personengruppe den Einwirkungen in erheblich höherem Maß ausgesetzt sein muss; vgl. Römer, in: Hauck/Noftz/ Keller, SGB VII: § 9 Rn. 33; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S.  172 f. 408  Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 71; Bieresborn, SGb 2016, 310 (314); Spellbrink, SR 2014, 140 (144). 409  Vgl. BSG, Urt. v. 27.04.2010 – B 2 U 13/09 R, SozR 4-2700 § 9 Nr. 18, Rn. 29, juris Rn. 29. 410  Vgl. Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 174; Becker, SGb 2006, 449 (453).



B. Erfassung psychischer Erkrankungen95

Gem. § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII müssen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft zum generellen Ursachenzusammenhang vorliegen. Von derartigen Erkenntnissen geht man aus, wenn die überwiegende Mehrheit der medizinischen Sachverständigen, die auf den jeweils in Betracht kommenden Gebieten über spezielle Erfahrungen und Kenntnisse verfügen, zu derselben, wissenschaftlich fundierten Meinung gelangt.411 Zudem müssen diese Erkenntnisse gesichert sein, das heißt die generelle Eignung bestimmter Einwirkungen muss mit wissenschaftlichen Methoden und Überlegungen belegt werden.412 Es bedarf statistisch relevanter Zahlen, also einer Fülle gleichgelagerter Gesundheitsbeeinträchtigungen zusammen mit einer langfristigen zeitlichen Überwachung. Man nimmt an, dass nur so mit der notwendigen Sicherheit auf den Kausalzusammenhang geschlossen werden kann.413 Dazu zieht man epidemiologische Studien414 heran, die für valide Schlussfolgerungen eine große Anzahl an Versuchspersonen erfordern.415 Dennoch liefern sie nie eine absolute Sicherheit, es bedarf stets einer normativen Bewertung der Ergebnisse.416 Neben epidemiologischen Studien können ausnahmsweise auch Einzelfallstudien, Erkenntnisse aus anderen Ländern und frühere Anerkennungen entsprechender Erkrankungen, auch in der ehemaligen DDR, eine Rolle spielen.417 Da in der medizinischen Wissenschaft selten eine einheit­ liche Meinung zu der schwierigen Frage nach der Verursachung von Krankheiten besteht, ist die Entscheidung, dass gesicherte Kenntnisse vorliegen, letztlich eine wertende. Die Verordnungsgeberin hat dabei wie gezeigt418 einen Gestaltungsspielraum.419 411  Brandenburg, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 2 S. 67. 412  Vgl. Brandenburg, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 2 S. 67; Bieresborn, SGb 2016, 310 (314); Spellbrink, SR 2014, 140 (144 ff.), kritisch zum bisherigen Vorgehen bei der Ermittlung des medizinischen Erkenntnisstandes. 413  BSG, Urt. v. 23.03.1999 – B 2 U 12/98 R, BSGE 84, 30 (34), juris Rn. 29; Becker, SGb 2006, 449 (452). 414  Vgl. zur Epidemiologie bereits o. S. 48. 415  Spellbrink, in: Ruland/Becker/Axer/Maydell, SRH: § 16 Rn. 146; Koch, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 35 Rn. 7 f., es bedürfe aber einer realistischen, kritischen Bewertung der Rolle der Epidemiologie, denn statistische Evidenz sei nur ein, wenn auch erstrangiges Anzeichen für die Gruppentypik einer Gefährdung. 416  Spellbrink, SR 2014, 140 (144); vgl. auch Wilde/Schulte, SGb 2004, 599 (600). 417  BSG, Urt. v. 23.03.1999 – B 2 U 12/98 R, BSGE 84, 30 (34 f.), juris Rn. 30; Urt. v. 18.06.2013 – B 2 U 6/12 R, SozR 4-2700 § 9 Nr. 22, Rn. 20, juris Rn. 20; Urt. v. 18.06.2013 – B 2 U 3/12 R, juris Rn. 18; vgl. Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 71; Becker, SGb 2006, 449 (452); vgl. Keller, SGb 2001, 226 (228); Krasney, MEDSACH 2001, 103 (104); Spellbrink, SR 2014, 140 (146). 418  Bereits o. S. 88. 419  Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 51.

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

Die Notwendigkeit von Erkenntnissen medizinischer Wissenschaft hat den Vorteil, dass Forschung zu arbeitsbedingten Erkrankungen angeregt wird. Gem. § 9 Abs. 8 S. 1 SGB VII sind die Unfallversicherungsträger sogar verpflichtet, bei der Gewinnung neuer medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse mitzuwirken, um Ursachenzusammenhänge aufzuklären.420 Insbesondere für psychische Erkrankungen können zur Ermittlung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes421 mangels spezieller Studien auch Erkenntnisse aus der militärischen Forschung herangezogen werden.422 Dennoch wird die Hürde des generellen Ursachenzusammenhangs in der Literatur bislang noch für keine psychische Erkrankung als überwindbar angesehen.423 (3) E  inwirkungsexposition einer bestimmten Personengruppe in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung Die Personengruppe, die den Einwirkungen in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sein muss, kann nicht vorab abstrakt nach gesetzesfremden Merkmalen bestimmt werden. Sie ist allein durch die Prüfung nach § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII zu bestimmen. Dafür muss zunächst die Art der Einwirkungen, die generell als Ursache für die betreffende Krankheit in Betracht kommen, ermittelt werden. Anschließend ist die Frage zu klären, ob diese Einwirkungen abstrakt-generell einer bestimmten Art verrichteter versicherter Tätigkeiten zugerechnet werden können. Aus der Verbindung der krankheitsbezogenen Einwirkungen und der versicherten Tätigkeiten ergibt sich die abstrakt-generelle Personengruppe.424 Die Gruppe muss lediglich 420  Vgl. Spellbrink, in: Ruland/Becker/Axer/Maydell, SRH: § 16 Rn. 146; Spellbrink, SR 2014, 140 (144). 421  Vgl. auch schon o. die Ermittlung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes beim Arbeitsunfall, S. 48. 422  Vgl. BSG, Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris Rn. 24; Jung, BEPR 2020, 182 (183), in Hinblick auf die PTBS; Molkentin, SGb 2014, 659 (661); Knickrehm, SGb 2010, 381 (385), nennt Bsp. anwendungsorientierter Ressortforschung auf dem Gebiet militärspezifischer psychischer Belastungsreaktionen bis hin zur PTBS am Institut für den Medizinischen Arbeits- und Umweltschutz der Bundeswehr in Berlin, auch Fälle von Traumatisierung ohne konkreten Kampfeinsatz würden erfasst; vgl. dazu auch Biesold, MEDSACH 2010, 23 ff. 423  Vgl. Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 55; Schemmel, Haftungsfall Burn-Out, S. 224 ff., m. w. N., S. 249 f. ausführliche Subsumtion des Burn-out Syndroms unter die Voraussetzungen zur abstrakten Anerkennung; Spellbrink, WzS 2012, 259 (261); Spellbrink, SozSich 2019, 32 (37). 424  Vgl. zum Ganzen BSG, Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris Rn. 23; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 177; Molkentin, SGb 2014, 659 (661); Spellbrink, SR 2014, 140 (154); Spellbrink, SozSich 2019, 32 (36).



B. Erfassung psychischer Erkrankungen97

eine bestimmte versicherte Tätigkeit gemeinsam haben, die in beliebigen Berufsgruppen auftreten kann, ansonsten gibt es keine charakterisierenden Merkmale.425 Auch wird keine Mindestgruppengröße vorgegeben.426 Krankheiten, die alle Berufsgruppen oder die Bevölkerung nach Art und Umfang gleichermaßen betreffen können, scheiden durch dieses Kriterium aus.427 Die gruppentypische Risikoerhöhung hängt eng mit dem generellen Ursachenzusammenhang zusammen und bedarf ebenfalls statistisch relevanter Zahlen.428 Ungeklärt ist die Frage, ob die Erheblichkeit der Exposition quantifizierbar ist. In der Praxis wurde für die Anerkennung einer Berufskrankheit darauf abgestellt, ob das Risiko zu erkranken in einer bestimmten Gruppe doppelt so hoch ist wie in einer Kontrollgruppe, die sogenannte Risikoverdopplung.429 Zum einen wird daran richtigerweise kritisiert, dass es nach dem Wortlaut von § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII gar nicht um die Erkrankungsrate, sondern allein um die Erheblichkeit der Einwirkungsexposition geht.430 Zum anderen hat das BSG die Risikoverdopplung für nicht aus dem Gesetz ableitbar erklärt. Stattdessen werde der Verordnungsgeberin durch den unbestimmten Rechtsbegriff ein normativer Spielraum gelassen, der die Bewertung der oft streitigen medizinischen Ansichten zulässt.431 425  BSG, Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris Rn. 23; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 177 f.; vgl. Spellbrink, SR 2014, 140 (154). 426  BSG, Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris Rn. 23; Becker, in: Becker/ Burchardt/Krasney/Kruschinsky, SGB VII: § 9 Rn. 53, dennoch sei die Größe von drei Personen die logische Mindestanzahl; Schemmel, Haftungsfall Burn-Out, S. 229, mindestens drei; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 178, lediglich zwingend, dass Gruppe und nicht einzelne Versicherte; so auch Becker, Die anzeigepflichtigen Berufskrankheiten, S. 19. 427  Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 40; Brandenburg, in: Becker/ Franke/Molkentin, SGB VII: § 9 Rn. 29. 428  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 175; vgl. Mummenhoff, ZIAS 1989, 93 (99). 429  Spellbrink, in: Ruland/Becker/Axer/Maydell, SRH: § 16 Rn. 147; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 192 ff., ausführlich zur Thematik; Spellbrink, SR 2014, 140 (147). 430  Vgl. zutreffend aber: Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 72, in der Regel werde die erheblich erhöhte Exposition allerdings im Fall der generellen Eignung zur Verursachung der Erkrankung auch mit einer erhöhten Erkrankungshäufigkeit einhergehen; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 198; Schemmel, Haftungsfall Burn-Out, S. 235 f., durch die Erkrankungsrate würden höhere Anforderungen gesetzt als von der Norm verlangt. 431  BSG, Urt. v. 23.03.1999 – B 2 U 12/98 R, BSGE 84, 30 (37 f.), juris Rn. 35; Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 73, das Erfordernis einer Risikoverdopplung sei aber nicht völlig ausgeschlossen, sondern könne bei manchen BK-Tatbeständen aus Gründen der Umsetzbarkeit sachgerecht und geboten sein; Schemmel, Haftungsfall Burn-Out, S. 238; dem BSG zustimmend:

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

Das Erfordernis der erhöhten Einwirkungsexposition einer bestimmten Personengruppe verhindert bislang die Aufnahme von psychischen Erkrankungen wie dem Burn-out Syndrom, stressbedingten Erkrankungen oder Folgen von Mobbing, die weite Teile der Bevölkerung und viele Berufs­ gruppen treffen können.432 Für die bestimmte Gruppe der Beschäftigten bei Entwicklungsdiensten im Ausland und die damit zusammenhängende Erkrankung an einer PTBS hat das BSG es zumindest für möglich erachtet, dass die Gruppe in erheblich höherem Grad besonderen Einwirkungen ausgesetzt ist.433 Zur Umgehung der fehlenden Spezifik beim Burn-out Syndrom wurde vorgeschlagen, die Aufnahme des Burn-out Syndroms als Listen-Berufskrankheit durch die Einschränkungsoption in § 9 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 Alt. 1 SGB VII von vornherein auf Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen einzuschränken, namentlich Lehr- und Pflegekräfte, weil die Studienlage besser sei, sodass die erhöhte Einwirkungsexposition bejaht werden könne.434 Dies verkennt, dass die Einschränkungsoption erst in einem zweiten Schritt, nach Vorliegen der Voraussetzungen zur Aufnahme als ListenBerufskrankheit, erfolgen kann. Denn sie ermöglicht der Verordnungsgeberin auf bestimmte Sonderrisiken und Bereiche, in denen Versicherte den Einwirkungen in besonders hohem Maß ausgesetzt sind, zu reagieren.435 Nicht gedacht ist sie, um die Aufnahme als Listen-Berufskrankheit aufgrund besserer Studienlagen für bestimmte Gefährdungsbereiche erst zu ermöglichen.

Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 201; Hollo, ­SozSich 2019, 269 (273), Kriterium aus praktischen Gründen verständlich, als generelle Mindestschwelle aber zu hoch; zustimmend auch Krasney, MEDSACH 2001, 103 (105); ebenso Molkentin, SGb 2014, 659 (662); kritisch: Wilde/Schulte, SGb 2004, 599 (600). 432  Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 9 SGB VII Rn. 10a; Spellbrink, WzS 2012, 259 (260), zu Burn-out. 433  Vgl. BSG, Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris Rn. 23 f.; Hüttmann-Stoll, in: Deutscher Sozialgerichtstag e. V., Sozialstaat, S. 239 (244); Spellbrink, WzS 2012, 259 (260). 434  Schemmel, Haftungsfall Burn-Out, S. 230 f., 233 ff., der Vorschlag fand in der Lit. soweit ersichtlich bislang keine weitere Aufmerksamkeit; Schemmel orientiert sich dabei an Weber/Hörmann/Ferreira, Psychosoziale Gesundheit im Beruf: Mensch, Arbeitswelt, Gesellschaft, S. 87; Weber/Kraus, ASUMed 2000, 180 (186), die dadurch aber lediglich das Kriterium der bestimmten Personengruppe, nicht aber der erhöhten Einwirkungsexposition erfüllt sehen wollen. 435  Vgl. Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 83; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 56.



B. Erfassung psychischer Erkrankungen99

(4) Funktion des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Berufskrankheiten Der Ärztliche Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten wurde durch das BMAS eingerichtet als federführendes Ressort zur Anerkennung von Berufskrankheiten. Seit dem 01.01.2021 ist er in § 9 Abs. 1a SGB VII gesetzlich verankert.436 Er berät die Bundesregierung als Verordnungsgeberin zu den Voraussetzungen von § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII.437 Dazu erstellt er wissenschaftliche Empfehlungen über die Aufnahme von Krankheiten in die Berufskrankheiten-Liste, die im Gemeinsamen Ministerialblatt veröffentlicht werden.438 Er kann jedoch nicht an die Stelle der Verordnungsgeberin treten. Diese muss selbst ihre Befugnisse aus der Ermächtigung wahrnehmen und ist nicht an eine positive oder negative Empfehlung des Sachverständigenbeirats gebunden.439 Nach aktuellem Stand wird laut Website des Sachverständigenbeirats keine psychische Erkrankung bei diesem geprüft oder beraten.440 Zudem ist mangels negativer Abschlussvermerke, die vom Sachverständigenbeirat zu Themen erstellt werden, bei denen nach Vorprüfung keine weitere Beratung aufgenommen wird, ersichtlich, dass es bisher auch noch nie zu einer Vorprüfung psychischer Erkrankungen für die Aufnahme als Listen-Berufskrankheit kam.441

436  Siebtes Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze v. 12.06.2020, BGBl. I S. 1248; vgl. dazu auch Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 110 ff., Kritik an der seit Jahren fehlenden gesetzlichen Normierung, sowie S. 208 ff., (nicht vollständig umgesetzte) Vorschläge zur Normierung; Spellbrink, SR 2014, 140 (147 f.), ebenfalls kritisch zur bis vor Kurzem fehlenden gesetzlichen Verankerung. 437  Spellbrink, in: Ruland/Becker/Axer/Maydell, SRH: § 16 Rn. 148; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 105  ff., ausführlich zum ÄSVB; Molkentin, SGb 2014, 659 (660); Spellbrink, SR 2014, 140 (147 f.). 438  Spellbrink, in: Ruland/Becker/Axer/Maydell, SRH: § 16 Rn. 148; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 212; vgl. Axer, SGb 2016, 177 (179). 439  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 224; Axer, SGb 2016, 177 (179). 440  Abrufbar unter: https://www.bmas.de/DE/Soziales/Gesetzliche-Unfallversi cherung/Aerztlicher-Sachverstaendigenbeirat/aerztliche-sachverstaendigenbeirat.html (abgerufen am 16.12.2021); vgl. auch Hessisches LSG, Urt. v. 13.08.2019 – L 3 U 145/14, juris Rn. 30, keine Befassung des ÄSVB mit der Frage einer PTBS als BK durch das Erleben einer Vielzahl traumatischer Ereignisse, die andere Personen betreffen. 441  Abrufbar unter: https://www.baua.de/DE/Angebote/Rechtstexte-und-Techni sche-Regeln/Berufskrankheiten/Abschlussvermerke.html (abgerufen am 16.12.2021).

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

b) Konkrete Anerkennung aa) Die Voraussetzungen gem. § 9 Abs. 1 S. 1 SGB VII Die Voraussetzungen der Anerkennung als Arbeitsunfall gem. § 8 Abs. 1 SGB VII und als Berufskrankheit im Einzelfall gem. § 9 Abs. 1 S. 1 SGB VII stimmen in weiten Teilen überein.442 Nach dem BSG muss die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt haben (Einwirkungskausalität) und durch diese Einwirkungen muss eine Krankheit verursacht worden sein (haftungsbegründende Kausa­ lität).443 Wie auch beim Arbeitsunfall ist die haftungsausfüllende Kausalität zwischen Erkrankung und den weiteren Folgen der Berufskrankheit keine Voraussetzung für das Vorliegen des Versicherungsfalls.444 Die versicherte Tätigkeit bestimmt sich wie beim Arbeitsunfall.445 Allerdings ist zu beachten, dass Versicherte die versicherte Tätigkeit im Zeitpunkt des Auftretens der Krankheit wegen der teils erheblichen Latenzzeiten zwischen Einwirkungsbeginn und Auftreten der Krankheit nicht notwendigerweise mehr ausüben müssen.446 Die Verrichtung der Tätigkeit muss aber zur Zeit der Einwirkungen erfolgt sein.447 Der sachliche Zusammenhang ist keine Kausalitäts-, sondern eine juristische Wertungsfrage.448 Was als Einwirkung in Frage kommt, wird durch die Berufskrankheiten-Liste direkt oder zumindest indirekt durch die Verursachung einer bestimmten Krankheit vorgege-

442  BSG, Urt. v. 02.04.2009 – B 2 U 9/08 R, BSGE 103, 59 (60 f.), juris Rn. 10 ff., grundsätzlich zur Neustrukturierung der Voraussetzungen für die Anerkennung einer Listen-BK im Einzelfall; Becker, SGb 2010, 131 f. 443  St.Rspr., statt vieler BSG, Urt. v. 02.04.2009 – B 2 U 9/08 R, BSGE 103, 59 (60 f.), juris Rn. 10, 12; zuletzt Urt. v. 27.06.2017 – B 2 U 17/15 R, SozR 4-5671 Anl. 1 Nr. 3102 Nr. 1, Rn. 13, juris Rn. 13; Brandenburg, in: Becker/Franke/Molkentin, SGB VII: § 9 Rn. 13; Spellbrink, in: Ruland/Becker/Axer/Maydell, SRH: § 16 Rn. 150; Becker, SGb 2010, 131 (133); vgl. Becker, MEDSACH 2010, 145, zum Schema bei der Prüfung einer BK; Spellbrink, SR 2015, 15. 444  St.Rspr., statt vieler BSG, Urt. v. 02.04.2009 – B 2 U 9/08 R, BSGE 103, 59 (61), juris Rn. 12; Spellbrink, SR 2015, 15. 445  Vgl. o. S. 31; vgl. Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 350. 446  Vgl. Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 9 SGB VII Rn. 6; Becker, SGb 2010, 131 (134). 447  Becker, SGb 2010, 131 (134), vergleichbar der Verrichtung zur Zeit des Unfallereignisses beim Arbeitsunfall. 448  Vgl. Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 350; Becker, SGb 2010, 131 (134); Bieresborn, NZS 2008, 354.



B. Erfassung psychischer Erkrankungen101

ben.449 Die Einwirkungskausalität ist mithilfe der Theorie der wesentlichen Bedingung zu ermitteln und bereitet außer bei Konkurrenzursachen450 keine spezifischen Probleme.451 Ist eine bestimmte Krankheit in der Liste genannt, muss diese vorliegen. Für den zukünftigen Fall, dass eine psychische ListenBerufskrankheit existiert, sollte aufgrund des erforderlichen Vollbeweises eine exakte Diagnose nach den anerkannten Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-5 erfolgen.452 Hierfür spricht auch die einheitliche Rechtsanwendung, schließlich wird dies für psychische Erkrankungen als Gesundheitsschaden beim Arbeitsunfall auch verlangt.453 bb) Beweis- und Verfahrensfragen Wie beim Arbeitsunfall gilt der Amtsermittlungsgrundsatz.454 Damit die Unfallversicherungsträger aber überhaupt über einen Berufskrankheiten-Verdacht Kenntnis erlangen, ist eine Anzeigepflicht der Unternehmerinnen und Unternehmer (vgl. § 193 Abs. 1, 2 SGB VII), des ärztlichen Fachpersonals, (vgl. § 202 SGB VII), sowie der Krankenkassen, (vgl. § 20c Abs. 1 S. 3 SGB V), normiert. Betroffene können auch selbst einen Antrag stellen.455 Im Unterschied zur Frage nach der generellen Aufnahme einer Berufskrankheit in die Anlage 1 der BKV besteht im konkreten Einzelfall bei der Anerkennung einer Berufskrankheit durch den Unfallversicherungsträger kein Ermessen auf Rechtsfolgenseite. Wenn die Voraussetzungen für die Anerkennung als Versicherungsfall zur Überzeugung der sachbearbeitenden Person vorliegen, ist der Versicherungsfall anzuerkennen.456 449  Vgl. Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 100; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 350 f.; Kunze, VSSR 2005, 299 (326). 450  Vgl. o. S. 42. 451  Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 9 SGB VII Rn. 35; vgl. Becker, SGb 2010, 131 (135), nicht Bezeichnung als haftungsbegründende Kausalität, wie früher praktiziert; andere Ansicht bei Rottmann, Zurechnungsprobleme im Berufskrankheitenrecht, S. 131, keine Anwendung der Theorie der wesentlichen Bedingung, weil die Eingrenzung bereits durch den engeren Begriff der besonderen Einwirkungen vorgenommen werde. 452  Vgl. Becker, SGb 2010, 131 (135); vgl. Spellbrink, SR 2015, 15 (16), die Anforderungen des Vollbeweises bereiten bei zahlreichen Krankheitsformen Probleme wie bspw. bei Polyneuropathie oder Enzephalopathie in BK Nr. 1307, m. w. N. 453  Vgl. o. S. 71. 454  Vgl. o. S. 51; Bieresborn, SGb 2016, 310 (311). 455  Vgl. Becker, BG 2011, 73 (78); Hollo, SozSich 2019, 269 (271); Molkentin, SGb 2019, 200 (201), wegen des Amtsermittlungsgrundsatzes ist ein Antrag der Betroffenen aber gerade keine Voraussetzung für die Anerkennung. 456  Vgl. Welter-Birk, Der Entscheidungsspielraum der Bundesregierung bei Berufskrankheiten, S.  88 f.; Bieresborn, SGb 2016, 310 (311); Hollo, SozSich 2019, 269 (271).

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

Auch der Beweismaßstab entspricht dem beim Arbeitsunfall. Grundsätzlich ist der Vollbeweis nötig, für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu behandelnden Kausalzusammenhänge genügt eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, und juristische Wertungsfragen sind nicht dem Beweis zugänglich.457 Insbesondere bei Berufskrankheiten kommt es durch die Zeitdimension und die Spezifik der Einwirkungen häufig zu erheblichen Beweisschwierigkeiten.458 Nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast gehen diese wie beim Arbeitsunfall bei Nichterweislichkeit einzelner Voraussetzungen letztlich meist zu Lasten der Versicherten.459 c) Zwischenergebnis Berufskrankheiten grenzen sich durch ihre Aufführung in der Anlage 1 zur BKV, der Berufskrankheiten-Liste, zu den arbeitsbedingten Erkrankungen ab. Die Entscheidung über die Aufnahme erfolgt durch die Bundesregierung als Verordnungsgeberin, § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII, der dabei ein Gestaltungsspielraum zukommt. § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII setzt insbesondere einen generellen Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkungen und Erkrankung sowie eine Einwirkungsexposition einer bestimmten Personengruppe in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung voraus. Grund für diese vom Arbeitsunfall divergierenden Voraussetzungen ist, dass es – im Unterschied zum einzelnen Ereignis beim Arbeitsunfall – in Fällen, in denen Personen längeren oder wiederkehrenden Ereignissen ausgesetzt sind, für schwieriger erachtet wird, Einwirkungsexposition und Krankheitsentwicklung kausal zuzuordnen. Bei der Aufnahme von Berufskrankheiten kommt dem Ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten eine beratende Rolle zu. Neben dieser abstrakten Anerkennung als Listen-Berufskrankheit müssen die Vo­ raussetzungen für die konkrete Anerkennung gem. § 9 Abs. 1 S. 1 SGB VII vorliegen.

457  St.Rspr., statt vieler vgl. BSG, Urt. v. 02.04.2009 – B 2 U 9/08 R, BSGE 103, 59 (60), juris Rn. 9; Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 114, gerade bei Berufskrankheiten zeige sich, dass der Beweismaßstab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit für die Kausalzusammenhänge der einzig mögliche sei, denn er trage den begrenzten Möglichkeiten der Ursachenaufklärung insbesondere bei der BK Rechnung; Becker, SGb 2010, 131 (133 f.); vgl. Bieresborn, SGb 2016, 310; Spellbrink, SR 2015, 15. 458  Vgl. Kunze, VSSR 2005, 299 (328). 459  Vgl. o. S. 56; Spellbrink, SR 2015, 15 (20).



B. Erfassung psychischer Erkrankungen103

2. Die Anerkennung als Wie-Berufskrankheit gem. § 9 Abs. 2 SGB  VII a) Funktion von § 9 Abs. 2 SGB VII Die Anerkennung als Wie-Berufskrankheit gem. § 9 Abs. 2 SGB VII stellt für psychische Erkrankungen mangels Listen-Berufskrankheit aktuell die einzige Möglichkeit zur Anerkennung als Versicherungsfall i. R. d. § 9 SGB VII dar.460 § 9 Abs. 2 SGB VII kommt gegenüber der Anerkennung als Listen-Berufskrankheit gem. § 9 Abs. 1 S. 1 SGB VII nur untergeordnete Bedeutung zu.461 Es handelt sich nicht um eine generelle Härtefallklausel, für die ausreichend wäre, dass die rechtlich wesentliche Ursache einer nicht in der Berufskrankheiten-Liste bezeichneten Krankheit im Einzelfall eine arbeitsbedingte Einwirkung ist.462 Vielmehr soll sie nur diejenigen Härten beseitigen, die dadurch entstehen, dass neue Erkrankungen nur mit einer zeitlichen Verzögerung aufgenommen werden können und den neuen Erkenntnissen in der Zwischenzeit Rechnung tragen.463 In den Fällen von § 9 Abs. 2 SGB VII hätte die Verordnungsgeberin aufgrund der Verdichtung der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse bereits tätig werden können, hat dies aber noch 460  Scheuch/Pardula, in: DGUV, Erfahrungen mit § 9 Abs. 2 SGB VII, 6. Bericht, S. 125 (132); Spellbrink, WzS 2012, 259 (260); vgl. Jung, BEPR 2019, 82 (83). 461  Keller, SGb 2001, 226 (228); Kranig, DGUV-Forum 2012 Nr. 4, 30 (32); vgl. auch Stellungnahme des Sozialverbandes VdK Deutschland e. V. vom 17.04.2020 zur schriftlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Entwurf eines 7. SGB IV-Änderungsgesetzes sowie zu den Anträgen der Fraktionen, Ausschuss-Drs. 19(11)599, S. 83, abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/691954/2b7 c2ce06585bb201346a80c39105a83/19-11-599-data.pdf (abgerufen am 16.12.2021), 2018 seien 19.370 Fälle von Berufskrankheiten nach der BK-Liste anerkannt worden, aber nur 12 Fälle einer Wie-BK. 462  Vgl. BSG, Urt. v. 23.06.1977 – 2 RU 53/76, BSGE 44, 90 (93), juris Rn. 20; Urt. v. 30.01.1986 – 2 RU 80/84, BSGE 59, 295; zuletzt Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris Rn. 19; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 359; vgl. Hamacher/Pittroff, in: HVBG, FS für Herbert Lauterbach II, S. 256 (260); Becker, VSSR 2010, 247 (263 ff.), dazu sowie zur Frage der Lückenlosigkeit des Schutzes; Jung, BEPR 2019, 82 (83); Spellbrink, SR 2014, 140 (153). 463  Breuer, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 1 Rn. 112; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 359 f.; Becker, in: Bender/Eicher, FS saarländische Sozialgerichtsbarkeit, S. 105 (119); vgl. auch Rottmann, Zurechnungsprobleme im Berufskrankheitenrecht, S. 40, „prinzipiell anpassungsträge[s]“ Listensystem; vgl. auch Jung, BPUVZ 2013, 121 (122), „Einfallstor“ für die Anerkennung neuer Berufskrankheiten; Keller, SGb 2005, 205 (210), aufgrund der langen Verfahrensdauer sei es Aufgabe von Praxis und Rspr., bestehende Lücken durch Anwendung von § 9 Abs. 2 SGB VII zu schließen; vgl. Mummenhoff, ZIAS 1989, 93 (99 f.).

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

nicht getan.464 Die Anerkennung als Wie-Berufskrankheit ist im Prinzip die zeitlich frühere Entschädigung einer späteren möglichen Listen-Berufskrankheit.465 Im Gegensatz zur Aufnahme einer Berufskrankheit in die Liste durch die Verordnungsgeberin steht den Unfallversicherungsträgern bei der Anerkennung gem. § 9 Abs. 2 SGB VII kein Ermessensspielraum zu,466 sondern verpflichtet sie zur Anerkennung, wenn die Voraussetzungen vorliegen.467 b) Voraussetzungen der Anerkennung als Wie-Berufskrankheit Gem. § 9 Abs. 2 SGB VII haben die Unfallversicherungsträger eine Krankheit, die nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet oder bei der die dort normierten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII erfüllt sind. Durch diesen Verweis auf den ersten Absatz muss die Krankheit auch bei der WieBerufskrankheit nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sein und die versicherte Person einer Personengruppe angehören, die durch ihre versicherte Tätigkeit den schädigenden Einwirkungen nach neuen, allgemein anerkannten medizinischwissenschaftlichen Erkenntnissen in erheblich höherem Grad ausgesetzt ist als die übrige Bevölkerung.468 Die Unfallversicherungsträger beziehungsweise Gerichte müssen grundsätzlich die gleichen Schritte einleiten wie die Verordnungsgeberin.469 Zur Ermittlung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes sind ebenfalls epidemiologische Studien heranzuziehen, wobei auch bei § 9 Abs. 2 SGB VII ausnahmsweise insbesondere bei seltenen Erkrankungen auf andere Erkenntnisquellen zurückgegriffen werden kann.470 Von hinreichenden wissenschaftlichen Erkenntnissen kann ausgegangen wer464  Vgl. BSG, Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris Rn. 19; Spellbrink, WzS 2012, 259 (260), die Verordnungsgeberin hätte tätig werden „müssen“. 465  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 360; Spellbrink, SR 2015, 15 (22); vgl. Pitz/Strametz, SGb 2021, 405 (410). 466  Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 51, 192. 467  Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: §  9 Rn. 149; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 357. 468  Vgl. Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 190 f.; Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 9 SGB VII Rn. 22a; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 363; Bieresborn, SGb 2016, 310 (313); Keller, SGb 2005, 205 (207); Spellbrink, SozSich 2019, 32 (36). 469  Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 39; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 374 f. 470  Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 191; Koch, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 37 Rn. 6; vgl. Spellbrink, SR 2014, 140 (154 f.), dies be-



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den, wenn die Mehrheit der auf dem betreffenden Gebiet über entsprechende Erfahrungen und Kenntnisse verfügenden Fachleute zu derselben wissenschaftlich fundierten Meinung gelangt.471 Es muss sich nicht um die einstimmige Meinung handeln, vereinzelte Ansichten einiger Sachverständiger sind aber nicht ausreichend.472 Auch für den generellen Ursachenzusammenhang der Wie-Berufskrankheit gilt der Beweismaßstab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit.473 Neu sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse, wenn sie bei Erlass der letzten Änderungsverordnung noch nicht bestanden.474 Dies gilt bis auf drei Ausnahmen. Erstens wird auch als neu angesehen, wenn die Erkenntnisse zwar bereits vorlagen, aber erst nach Erlass der letzte Änderungsverordnung wissenschaftliche Anerkennung gefunden und sich so zur sogenannten Berufskrankheitenreife verdichtet haben.475 Zweitens sind Erkenntnisse immer noch neu, wenn sie zwar geprüft wurden, trotz positiver Bewertung aber zunächst von der Umsetzung abgesehen wurde. Die dritte Ausnahme wird gemacht, wenn neue Erkenntnisse zwar vorlagen, der Verordnungsgeberin aber schlicht unbekannt waren.476

deute aber nicht, dass § 9 Abs. 2 SGB VII mittlerweile als generelle Härtefallklausel verwendet wird. 471  BSG, Urt. v. 04.06.2002 – B 2 U 20/01 R, juris Rn. 22; Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris Rn. 24; Urt. v. 18.06.2013 – B 2 U 6/12 R, SozR 4-2700 § 9 Nr. 22, Rn. 17, juris Rn. 17; Spellbrink, SozSich 2013, 431 (434). 472  BSG, Urt. v. 04.06.2002 – B 2 U 20/01 R, juris Rn. 22; Urt. v. 18.06.2013 – B 2 U 6/12 R, SozR 4-2700 § 9 Nr. 22, Rn. 17, juris Rn. 17; Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 142. 473  Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: §  9 Rn. 142,  148; Koch, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 37 Rn. 9; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 366 f.; Keller, SGb 2001, 226 (228), ein höherer Grad an Überzeugungsbildung sei regelmäßig nicht möglich; Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 192, anderer Ansicht, weil die Unfallversicherungsträger keinen sozialpolitischen Gestaltungsraum hätten, sei ein stärkerer Grad an Überzeugung als bei der Verordnungsgeberin nötig, der geringere Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit könne erst im Einzelfall nach Bejahung der generellen Geeignetheit herangezogen werden. 474  BSG, Urt. v. 29.09.1964 – 2 RU 30/64, BSGE 21, 296 (298), juris Rn. 15; Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 143; Spellbrink, SR 2014, 140 (155). 475  BSG, Urt. v. 23.06.1977 – 2 RU 53/76, BSGE 44, 90 (93), juris Rn. 21; Urt. v. 04.08.1981 – 5a/5 RKnU 1/80, SozR 2200 § 551 Nr. 18, S. 29, juris Rn. 36. 476  BVerfG, Beschluss v. 22.10.1981 – 1 BvR 1369/79, BVerfGE 58, 369, juris Rn. 16; BSG, Urt. v. 04.08.1981 – 5a/5 RKnU 1/80, SozR 2200 § 551 Nr. 18, S. 29, juris Rn. 36; zum Ganzen Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 143.

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Liegen die genannten „abstrakten“ Voraussetzungen vor, stimmen die weiteren Anforderungen mit denen der konkreten Anerkennung einer Listen-­ Berufskrankheit im Einzelfall überein, insbesondere muss der individuelle Ursachenzusammenhang, die haftungsbegründende Kausalität zwischen konkreter Einwirkung und Erkrankung, vorliegen.477 c) Psychische Erkrankungen im Rahmen der Wie-Berufskrankheit Die aktuellen Entwicklungen in der Rechtsprechung und Literatur zur Möglichkeit der Anerkennung einer psychischen Erkrankung als Wie-Berufskrankheit gem. § 9 Abs. 2 SGB VII werden im Folgenden nach psychischen Erkrankungen und Beeinträchtigungen geordnet dargestellt. Behandelt werden die PTBS, Erkrankungen infolge von beruflichem Stress generell, das Burn-out Syndrom sowie Mobbing im Speziellen und sonstige psychische Erkrankungen. aa) PTBS (1) P  ersonengruppe der im Ausland im Bereich der Entwicklungshilfe Tätigen Das BSG entschied 2010 über den Fall eines Mitarbeiters beim Deutschen Entwicklungsdienst, der durch jahrelange Aufenthalte in Krisengebieten mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen eine PTBS entwickelt hatte.478 Das LSG Baden-Württemberg hatte die PTBS als Wie-Berufskrankheit gem. § 9 Abs. 2 SGB VII bejaht. Nach seiner Überzeugung war es hinreichend wahrscheinlich, dass Beschäftigte eines Entwicklungsdienstes besonderen Einwirkungen ausgesetzt sind, die geeignet sind, eine PTBS hervorzurufen. Hierfür zog es im Analogieschluss Erkenntnisse zu anderen Berufsgruppen wie Feuerwehrleuten, Beschäftigten im Rettungssanitätsdienst oder in der Katastrophenhilfe sowie Kriegsveteranen heran.479 477  Vgl. o. S.  100; Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB  VII: § 9 Rn. 141; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S.  361 f. 478  BSG, Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris; vorhergehend LSG BadenWürttemberg, Urt. v. 14.05.2009 – L 6 U 845/06, juris; vorhergehend SG Freiburg, Urt. v. 25.10.2005 – S 9 U 2976/04, nicht veröffentlicht; Besprechung des BSG-Urteils bei: Molkentin, SGb 2019, 200, mit dem ausdrücklichen Anliegen, die Debatte um psychische Erkrankungen im BK-Recht erneut anzustoßen; Spellbrink, WzS 2012, 259 (260); Spellbrink, SGb 2013, 154 (159 f.); Becker, MEDSACH 2012, 124 (126); Knickrehm, SGb 2010, 381, generell zur Thematik der PTBS bei Beschäftigten von Entwicklungshilfediensten.



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Das BSG hielt es in diesem Fall tatsächlich für möglich, dass für die bestimmte Gruppe der im Entwicklungsdienst Beschäftigten die Voraussetzungen gem. § 9 Abs. 2 SGB VII erfüllt sind.480 Diese Aussage erfolgte aber nur in Form eines Hinweises. Denn laut BSG durfte das LSG mangels Zuständigkeit nicht über das Vorliegen einer Wie-Berufskrankheit entscheiden.481 Zur Streitbeilegung stützte sich der Unfallversicherungsträger sodann auf ein Einzelfallgeschehen und nahm einen Arbeitsunfall an, sodass es letztlich nicht zur Entscheidung über die Frage der Wie-Berufskrankheit kam.482 Subsumiert man den Fall unter die Voraussetzungen gem. § 9 Abs. 2 SGB VII, sind die besonderen Einwirkungen in den Belastungen über längere Zeit durch das Erleben schwerer Not und großen Elends und einer über längere Zeit anhaltende Bedrohung zu sehen.483 Auf Einwirkungskausalität kann aus den genannten Einwirkungen und der Ausübung des Dienstes in den Krisengebieten in seiner Gesamtheit geschlossen werden.484 Aus der Verbindung der Einwirkungen und der versicherten Tätigkeiten ergeben sich als Personengruppe diejenigen Personen, die mit Tätigkeiten der Entwicklungshilfe im weitesten Sinne485 beim Auslandseinsatz in Krisengebieten befasst sind.486 Für den generellen Ursachenzusammenhang zwischen den Einwirkungen und einer PTBS wurde das Vorliegen von wissenschaftlichen Erkenntnissen bezweifelt.487 2012 wurde dazu ausgeführt, dass bislang keine größeren Studien, 479  LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 14.05.2009 – L 6 U 845/06, juris Rn. 39 ff.; Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 210s. 480  Vgl. BSG, Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris Rn. 17 ff.; Spellbrink, WzS 2012, 259 (260); Hüttmann-Stoll, in: Deutscher Sozialgerichtstag e. V., Sozialstaat, S. 239 (244). 481  BSG, Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris Rn. 13 ff.; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 358, Fn. 68: Die Widerspruchsbehörde hatte die Feststellung einer Wie‑Berufskrankheit abgelehnt, obwohl sich der ursprüngliche Antrag des Versicherten nur auf die Feststellung als Listen‑Berufskrankheit bezogen hatte. Sie entschied damit anstelle der Ausgangsbehörde über ein erstmals im Widerspruchverfahren geltend gemachtes Recht, sodass nun zunächst die sachlich zuständige Behörde das Verwaltungsverfahren durchführen musste. 482  Molkentin, SGb 2019, 200. 483  Molkentin, SGb 2019, 200 (202). 484  Molkentin, SGb 2019, 200 (202). 485  Vgl. Mikulicz, ASUMed 2006, 301 (302). 486  Vgl. BSG, Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris Rn. 23, grundsätzliche Vorgaben dazu, wie die Personengruppe zu bestimmen ist; vgl. LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 14.05.2009 – L 6 U 845/06, juris Rn. 38; Molkentin, SGb 2019, 200 (202). 487  BSG, Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris Rn. 24, das Gericht äußerte sich, dass das Vorliegen von Erkenntnissen zur PTBS für einen generellen Ursachenzusammenhang bei in der Entwicklungshilfe tätigen Personen von Becker und Knickrehm bezweifelt werde. Tatsächlich bezweifelt nur Becker; Knickrehm, SGb

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wie sie generell der Einführung als Berufskrankheit vorhergehen, zum Thema der Dauerbelastung wie im vorliegenden Fall existieren.488 Das BSG hielt im vorliegenden Fall explizit aber militärische Studien für heranziehbar.489 Solche Studien zu Einsätzen der Bundeswehr in Afghanistan ergaben, dass es weniger die Art als vielmehr die Häufigkeit und Dichte der Ereignisse war, die eine PTBS auslösen,490 und weniger Kampfhandlungen, sondern die moralisch belastenden Situationen wie das Erleben von Armut, Bürgerkriegen oder Gräueltaten, die die Wahrnehmung der Betroffenen prägten.491 Aus militärischen Studien lassen sich epidemiologische Aussagen treffen, wonach das ­Risiko, bei einem Auslandseinsatz an einer PTBS zu erkranken, immerhin zwei- bis vierfach erhöht ist.492 Hält man diese Erkenntnisse für ausreichend, wären sie auch neu im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB VII.493 Problematisch an der Entscheidung des BSG ist, dass der Senat bei den Voraussetzungen für das Vorliegen einer Wie-Berufskrankheit im konkreten Einzelfall darauf hinwies, dass bei Schockschadensopfern, also solchen, die eine Verletzung Dritter beobachten, ein enger personaler Bezug zur dritten Person nötig sei.494 Er verwies auf ein Urteil aus dem Opferentschädigungsrecht, das wiederum auf die entsprechenden Grundsätze im Zivilrecht verweist.495 Im Unfallversicherungsrecht sind jedoch keine Gründe für das Er2010, 381 (385) verweist zwar auf ihn, schreibt aber gleichzeitig, dass militärische Studien herangezogen werden können; vgl. Molkentin, SGb 2019, 200 (203 ff.). 488  Becker, MEDSACH 2012, 124 (126). 489  BSG, Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris Rn. 24; so auch Knickrehm, SGb 2010, 381 (385). 490  Wittchen, Schönfeld et al., Traumatische Ereignisse, PTBS und psychische Störungen bei Soldaten mit oder ohne Auslandseinsatz: Erste Ergebnisse. Abrufbar unter: https://alumni.tu-dresden.de/magazin/pdfs/Wittchen.pdf (abgerufen am 16.12.2021). Bei Berücksichtigung der Studienergebnisse ist jedoch zu beachten, dass gegen HansUlrich Wittchen im Zusammenhang mit einer anderen Studie schwerwiegende Vorwürfe der Datenmanipulation vorliegen, derzeit ermittelt die Staatsanwaltschaft, vgl. Pressemitteilung der TU Dresden: https://tu-dresden.de/tu-dresden/newsportal/presse/ aktuelle-informationen-der-tu-dresden-zur-ppp-studie (abgerufen am 16.12.2021). 491  Molkentin, SGb 2019, 200 (203), m. w. N. 492  Wittchen et al., Deutsches Ärzteblatt 2012, 559, beachte auch hier den obigen Hinweis zu Wittchen; Molkentin, SGb 2019, 200 (204), hält Voraussetzung des generellen Ursachenzusammenhangs und der erhöhten Einwirkungsexposition damit wohl für erfüllt, will dies aber ausdrücklich offen lassen. 493  Vgl. BSG, Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris Rn. 25; Molkentin, SGb 2019, 200 (205). 494  BSG, Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris Rn. 26; so auch übernommen von SG Stuttgart, Urt. v. 08.11.2018 – S 1 U 1682/17, juris; Molkentin, SGb 2019, 200 (205). 495  BSG, Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R, juris Rn. 26, ohne weitere Begründung, warum dies speziell auch für das Unfallversicherungsrecht gelten soll; der



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fordernis eines engen personalen Bezuges ersichtlich.496 Erstens wird die Konstellation, die das Zivilrecht in diesen Fällen vor Augen hat, die Nachricht vom Tod von Angehörigen, mangels Berufsbedingtheit und Versicherteneigenschaft schon gar nicht vom Unfallversicherungsrecht erfasst.497 Zweitens verlangt das BSG den engen personalen Bezug auch nicht für den Arbeitsunfall, bei dem auch Schockschadensfälle auftreten.498 Drittens erfordert auch die Anerkennung einer PTBS als Wehrdienstbeschädigung im sozialen Entschädigungsrecht keine besondere Beziehung zu den zivilen Opfern im Krisengebiet. Entsprechend kann dies ebenso wenig bei einem zivilen Auslandseinsatz im Krisengebiet gelten und auch für Fälle wie die der Lokführer bei einem Überfahrunfall erscheint die Anforderung unvertretbar.499 Denn nicht nur Ereignisse, bei denen nahestehende Personen zu Schaden kommen, können eine PTBS verursachen.500 (2) Personengruppe der Ersthelfenden bei traumatischen Ereignissen Das hessische LSG501 beschäftigte sich mit dem Fall eines bei einer Autobahnmeisterei tätigen Straßenwartes, der während seines gesamten Berufs­ lebens mit Kontroll- und Überwachungstätigkeiten beauftragt war. Dies be­ inhaltete, bei Verkehrsunfällen so lange am Unfallort zu bleiben, bis von notärztlicher Seite sowie durch Feuerwehr und Kriminalpolizei alles geregelt war. Aufgrund der Vielzahl erlebter und beobachteter Verletzungs- und Todesfälle machte er die Anerkennung einer PTBS als Wie-Berufskrankheit geltend. Das LSG lehnte dies ab mangels neuer medizinischer Erkenntnisse dafür, dass „(allein) die wiederholte Konfrontation“ der Ersthelfenden mit traumatischen Ereignissen bei anderen Personen generell geeignet sei, eine PTBS zu verursachen.502 Es urteilte, dass die Frage einer PTBS als BerufsVerweis erfolgt auf Urt. v. 08.08.2001 – B 9 VG 1/00 R, BSGE 88, 240 (244), juris Rn. 18, allerdings lässt dieses Urteil in Leitsatz 4 explizit weiterhin offen, ob bei Schockschäden besondere Beziehungen nötig sind. 496  So auch Molkentin, SGb 2019, 200 (205); Molkentin, SGb 2021, 76 (81), der Ansicht des BSG entschieden widersprechend. 497  Vgl. Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 175; vgl. auch ähnlich Molkentin, SGb 2021, 76 (81), das Erfordernis betreffe nur das Erfahren von einem solchen Ereignis, nicht aber das Erleben von einem solchen Ereignis bei anderen Personen. 498  Statt vieler, vgl. zuletzt BSG, Urt. v. 26.11.2019 – B 2 U 8/18 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 71. 499  Molkentin, SGb 2019, 200 (205). 500  Molkentin, SGb 2019, 200 (205). 501  Hessisches LSG, Urt. v. 13.08.2019 – L 3 U 145/14, juris. 502  Hessisches LSG, Urt. v. 13.08.2019 – L 3 U 145/14, juris Rn. 29; Jung, BEPR 2020, 182; anderer Ansicht zum generellen Ursachenzusammenhang: Molkentin, SGb

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krankheit durch das Erleben einer Vielzahl traumatischer Ereignisse den Ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten noch nicht beschäftigt habe.503 Zudem habe der medizinische Sachverständige dargelegt, dass keine hinreichende Evidenz in der vorhandenen wissenschaftlichen Literatur dafür bestehe, dass die wiederholte Erfahrung traumatischer Ereignisse bei Ersthelfenden im Sinne der Kumulation geeignet sei, eine PTBS zu verursachen. Er habe das Fehlen von Studien anhand strukturierter psychopathologischer Untersuchungen hervorgehoben. Bisher bestünde nur eine heterogene Studienlage und keine Einigkeit über die Bedeutung kumulativer potenziell traumatisierender Ereignisse. Zudem würden die bisherigen Studien nicht ausreichend behandeln, ob eine PTBS bei Ersthelfenden auch nach den Kriterien der Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-5 diagnostiziert werden könne.504 Ein ähnlicher Fall lag dem Urteil des SG Stuttgart505 und darauffolgend des LSG Baden-Württemberg506 zugrunde. Das SG lehnte ohne eigene Ermittlung neuer medizinischer Erkenntnisse unter Hinweis auf mehrere Jahre alte Aufsätze und Urteile die Anerkennung einer PTBS eines Rettungssanitäters nach Einsatz bei Amokläufen und Suiziden gem. § 9 Abs. 2 SGB VII unter anderem mit der problematischen507 Begründung ab, dass kein enger personaler Bezug zu den direkt Geschädigten bestand.508 Das LSG holte die bislang fehlende Ermittlung neuer medizinischer Erkenntnisse im Wege eigener Literaturrecherche nach. Es kam jedoch zu dem Ergebnis, dass keine ausreichend gesicherten Erkenntnisse in Sachen des § 9 Abs. 2 SGB VII für den Rettungssanitätsdienst vorliegen.509 Bis auf eine Ausnahme existiere bislang keine Studie zum PTBS-Risiko von Feuerwehrleuten und Rettungssanitätsdienst mit einer eigenen Kontrollgruppe. Auch sei noch keine Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen Dauer und Schwere der beruflichen Traumata und dem Risiko für PTBS oder Depression nachgewiesen worden. Es bedürfe noch weiterer systematischer Übersichtsarbeiten sowie analytischer epidemiologischer Studien in Berufsgruppen mit „chroni2021, 76 (80), da die entsprechende Störung unter Beachtung ihrer kausalen Entstehung in ICD‑10 und DSM‑5 aufgelistet sei. 503  Hessisches LSG, Urt. v. 13.08.2019 – L 3 U 145/14, juris Rn. 30. 504  Zum Ganzen Hessisches LSG, Urt. v. 13.08.2019 – L 3 U 145/14, juris Rn. 31. 505  SG Stuttgart, Urt. v. 08.11.2018 – S 1 U 1682/17, juris. 506  LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 13.12.2019 – L 8 U 4271/18, juris. 507  Soeben erläutert, vgl. o. S. 108. 508  Vgl. SG Stuttgart, Urt. v. 08.11.2018 – S 1 U 1682/17, juris; Jung, BEPR 2020, 182 (183); Molkentin, SGb 2021, 76 (80 f.). 509  LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 13.12.2019 – L 8 U 4271/18, juris Rn. 27 f.; das LSG verwies dafür auf Bolm-Audorff/Petereit-Haack/Seidler, Psychiatr Prax 2019, 184.



B. Erfassung psychischer Erkrankungen111

scher Traumaexposition“ wie Rettungssanitätsdienst oder Feuerwehr.510 Das LSG holte jedoch kein eigenes Sachverständigengutachten dazu ein, ob die PTBS nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen, denen die bestimmte Personengruppe der Rettungs­ sanitäter durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung ausgesetzt ist. Dies nahm das BSG zum Anlass, ein Gutachten zu dieser Frage in Auftrag zu nehmen, welches derzeit noch aussteht.511 Interessant ist das Urteil des LSG insbesondere auch wegen des Bezugs auf den Wortlaut eines Schreibens des BMAS vom 31.10.2016 nach einer Anfrage des SG Meiningen zu der Fragestellung, ob eine PTBS die gesetz­ lichen Voraussetzungen einer Berufskrankheit erfüllen kann.512 Das BMAS argumentierte, die Anforderungen des § 9 Abs. 1 SGB VII seien schwer zu erfüllen, weil die PTBS oftmals infolge einmaliger Geschehensabläufe entstehe, wofür aber der Versicherungsfall des Arbeitsunfalls einschlägig sei. Wenn doch mehrere Einzelereignisse Auslöser seien, könne man meist auf das letzte „auslösende“ Ereignis abstellen.513 Diese Argumentation ist zirkelschlüssig. Der Bedarf der Anerkennung als Berufskrankheit besteht gerade für die nicht zu vernachlässigende Anzahl an Fällen, in denen die PTBS nicht auf ein einzelnes, auch nicht auf das letzte, Ereignis zurückgeführt werden kann und in denen das Erfordernis der zeitlichen Begrenzung deshalb der Anerkennung als Arbeitsunfall entgegensteht.514 Wäre die Anerkennung als Arbeitsunfall möglich, würden sich die Betroffenen nicht um die Anerkennung als (Wie-)Berufskrankheit bemühen, weil diese durch den generellen Ursachenzusammenhang und die Einwirkungsexposition in erheblich höherem Grad als bei der übrigen Bevölkerung viel größere Hürden bereit hält.

510  Vgl. LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 13.12.2019 – L 8 U 4271/18, juris Rn. 27; Bolm-Audorff/Petereit-Haack/Seidler, Psychiatr Prax 2019, 184 (189). 511  Vgl. Terminbericht des BSG Nr. 17/21 zur GUV in der Sache B 2 U 11/20 R; vgl. zu ähnlicher Thematik auch Pitz/Strametz, SGb 2021, 405 (410 ff.), Prüfung, ob für medizinisches Personal, das in Notaufnahmen, im Notarzt- und Rettungsdienst oder auf der Intensivstation tätig ist, wenn es z. B. aufgrund der Covid-19 Pandemie traumatisierenden Belastungen ausgesetzt ist und am sog. Second Victim Phänomen leidet, die Anerkennung als Wie-BK möglich ist. Dies hänge entscheidend vom Vorliegen neuer medizinischer Erkenntnisse dazu ab. 512  Vgl. LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 13.12.2019 – L 8 U 4271/18, juris Rn. 5. 513  Schreiben des BMAS v. 31.10.2016, zitiert nach LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 13.12.2019 – L 8 U 4271/18, juris Rn. 5. 514  Vgl. zu dieser Problematik bereits oben beim Arbeitsunfall, S. 57.

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

Auch äußert das BMAS, dass die unbestimmte Vielzahl von Ereignissen und persönlichen Erlebnissen, die als besondere Einwirkungen in Betracht kommt, nicht in einen abstrakten Rechtssatz gefasst werden kann.515 Hier könnte jedoch speziell für die PTBS eine Orientierung an ICD-10 und DSM-5 eine Lösung bieten, wo es gelingt, in für die medizinische Laienperspektive verständlicher Weise die Vielzahl der Einwirkungen abstrakt zusammenzufassen. Schließlich stellt das BMAS fest, dass keine bestimmte Personengruppe bekannt sei, bei der sich das Risiko der PTBS dauerhaft manifestiere.516 ­Daraus lässt sich jedoch schließen, dass aufgrund der praktischen Bedeutung im Rahmen des Forschungsauftrags der Unfallversicherungsträger gem. § 9 Abs. 8 S. 1 SGB VII weitere gezielte Studien durchgeführt oder in Auftrag gegeben werden müssen. bb) Erkrankungen infolge von beruflichem Stress generell Das Bayerische LSG beschäftigte sich mit dem Fall eines Versicherungsfachwirts, der aufgrund langer Arbeitszeiten, auch an Wochenenden, schwieriger Kundschaft, fehlenden Rückhalts durch Vorgesetzte, schlechter Zusammenarbeit mit dem Kollegium sowie mangelhafter technischer Unterstützung unter psychischen Beeinträchtigungen litt. Im Raum stand die An­ erkennung als Berufskrankheit oder Wie-Berufskrankheit.517 Dies wurde abgelehnt mangels gesicherter medizinischer Erkenntnisse dazu, welche Krankheitsbilder durch beruflichen Stress im Einzelnen tatsächlich verursacht oder verschlimmert werden, und ob die Tätigkeit als Versicherungsfachwirt zu einer Einwirkungsexposition in erheblich höherem Grad und damit zu einem erhöhten Risiko führt, an etwaigen psychischen Krankheiten zu erkranken.518 Stress an sich stellt keine Erkrankung dar. Infolge von Stress können aber diverse, nicht nur psychische, Erkrankungen entstehen. Beispielsweise werden als Folge Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychosomatische Erkrankungen wie gehäufte Infektionen, Tinnitus und Hauterkrankungen sowie psychi515  Schreiben des BMAS v. 31.10.2016, zitiert nach LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 13.12.2019 – L 8 U 4271/18, juris Rn. 5. 516  Schreiben des BMAS v. 31.10.2016, zitiert nach LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 13.12.2019 – L 8 U 4271/18, juris Rn. 5. 517  Bayerisches LSG, Urt. v. 27.04.2018 – L 3 U 233/15, juris; vorhergehend SG Regensburg, Gerichtsbescheid v. 27.04.2015 – S 7 U 14/15, nicht veröffentlicht; Jung, BEPR 2019, 82 f. 518  Vgl. Bayerisches LSG, Urt. v. 27.04.2018 – L 3 U 233/15, juris; Jung, BEPR 2019, 82.



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sche Erkrankungen wie Depression, Burn-out Syndrom, Angstzustände oder PTBS diskutiert.519 Für die Anerkennung im Berufskrankheitenrecht ist es erstens bislang faktisch unmöglich, die Belastungsfaktoren und gesundheit­ lichen Folgen von Stress sinnvoller Weise so zu umschreiben, dass sie in die BKV aufgenommen werden könnten.520 Zweitens ist Stress ein komplexes Geschehen. Wegen der kaum trennbaren Verbindung beruflicher und außerberuflicher Ursachen und Mechanismen der Bewältigung und Kompensation gestaltet sich der hinreichende Nachweis der Kausalität sehr schwierig, sodass in absehbarer Zeit nicht mit einer Entschädigungsreife im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB VII gerechnet werden kann.521 Drittens kann Stress in jeder ­Arbeitstätigkeit auftreten und ist stark subjektiv determiniert, sodass sich bislang mangels ausreichender Forschungsergebnisse weder spezifische arbeitsplatzbezogene Faktoren umschreiben lassen noch spezifische Berufsgruppen feststellbar sind.522 Unter Umständen kann Betroffenen von Gesundheitsschäden durch beruflichen Stress jedoch ein Anspruch auf Schadensersatz gegen den Arbeitgeber oder die Arbeitgeberin wegen Verletzung von Schutzpflichten zustehen.523 cc) Burn-out Syndrom im Speziellen Mit Urteil vom 10. Juni 2003 lehnte das LSG Rheinland-Pfalz die Anerkennung eines Burn-out Syndroms als Wie-Berufskrankheit bei einem Erzieher in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche ab. Es fehle an neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen darüber, dass diese Berufsgruppe durch ihre Tätigkeit in erheblich höherem Grad Einwirkungen ausge519  Vgl. Bayerisches LSG, Urt. v. 27.04.2018 – L 3 U 233/15, juris Rn. 58; Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 210s; Cusumano et al., SR 2017, 58 (61); Portmann, ARV/DTA 2008, 1 (3). 520  Vgl. Bayerisches LSG, Urt. v. 27.04.2018 – L 3 U 233/15, juris Rn. 53; von Trotha, Stress am Arbeitsplatz, S. 255. 521  Vgl. dazu auch LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 10.06.2003 – L 3 U 76/03, juris Rn. 12 f.; Bayerisches LSG, Urt. v. 27.04.2018 – L 3 U 233/15, juris Rn. 53; Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 210s; Tieste, Haftungsfall Stresserkrankung, S. 171; Spellbrink, SGb 2013, 154 (158 f.), generell zu dieser Problematik bei psychischen Erkrankungen. 522  Vgl. Bayerisches LSG, Urt. v. 27.04.2018 – L 3 U 233/15, juris Rn. 53; von Trotha, Stress am Arbeitsplatz, S. 255. 523  Vgl. dazu von Trotha, Stress am Arbeitsplatz, S. 82 ff., 256; Tieste, Haftungsfall Stresserkrankung, S. 250 ff.; vgl. zu den sog. Stresshaftungsklagen auch die Situation in der Schweiz, wo derartige Klagen auf Art. 328 OR gegründet werden: SteigerSackmann, AJP 2017, 729 ; Portmann, ARV/DTA 2008, 1 (5 ff.), für den europäischen Raum komme England eine Vorreiterrolle zu.

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

setzt sei, die zu einem Burn-out Syndrom führen können.524 Ein nachgewiesener Zusammenhang im Einzelfall sei nicht ausreichend, es fehle am generellen Ursachenzusammenhang.525 Zwar kann das Burn-out Syndrom in Zusammenhang gebracht werden mit pflegenden Berufen und solchen, die verstärkt mit menschlicher Zuwendung in Verbindung stehen.526 Generell handelt es sich aber um ein sehr unspezifisches Phänomen, das etwa durch erhöhte Arbeitsverdichtung oder gesteigerte Präsenz- oder Erreichbarkeitsanforderungen praktisch alle Beschäftigten treffen kann.527 Ein genereller Ursachenzusammenhang zwischen besonderen Einwirkungen und dem Burn-out Syndrom ist bisher nicht den Anforderungen gem. § 9 Abs. 2 SGB VII entsprechend feststellbar.528 Auch kann das Burn-out Syndrom nicht nach ICD-10 oder DSM-5 als behandlungsbedürftige Krankheit klassifiziert werden.529 dd) Mobbing im Speziellen Auch für Mobbing530 stellt sich die Frage nach der Anerkennung als WieBerufskrankheit.531 Mobbing ist grundsätzlich unabhängig von Geschlecht, Lebensalter, Art der beruflichen Tätigkeit oder Beschäftigungsdauer und kann alle treffen.532 Am häufigsten betroffen sind die Berufsgruppen der Sozialberufe wie Lehrkräfte sowie Beschäftigte in Erziehung, Sozialarbeit und Altenpflege, der Gesundheitsberufe wie ärztliches und Pflegepersonal, der bei Banken oder Versicherungen Beschäftigten, der Beschäftigten im öffentlichen Dienst wie Polizei und Verwaltung und schließlich des Verkaufs524  LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 10.06.2003 – L 3 U 76/03, juris Rn. 24, 12 f.; vgl. auch Spellbrink, WzS 2012, 259 (260); Spellbrink, SozSich 2019, 32 (37). 525  LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 10.06.2003 – L 3 U 76/03, juris Rn. 25; Schemmel, Haftungsfall Burn-Out, S. 244. 526  Spellbrink, WzS 2012, 259 (260); Spellbrink, SozSich 2019, 32 (37). 527  Spellbrink, WzS 2012, 259 (260); Spellbrink, SozSich 2019, 32 (37). 528  Schemmel, Haftungsfall Burn-Out, S. 240, 249 f.; vgl. Drechsel-Schlund, MEDSACH 2014, 153 (156); Hüttmann-Stoll, in: Deutscher Sozialgerichtstag e. V., Sozialstaat, S. 239 (244). 529  Vgl. zur Anwendung von ICD-10 und DSM-5 auch im BK-Recht o. S. 101; vgl. Bayerisches LSG, Urt. v. 27.04.2018 – L 3 U 233/15, juris Rn. 51; Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 210s, auch in ICD-11 werde Burn-out keine eigene klassifzierte Krankheit darstellen; Spellbrink, WzS 2012, 259 (261); lediglich Nennung in BfArM, ICD-10-GM Version 2021, Kap. XXI unter Z73: Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung. 530  Vgl. zum Begriff bereits o. S. 62. 531  Zuletzt Bayerisches LSG, Urt. v. 12.05.2021 – L 3 U 11/20, juris Rn. 34 ff. 532  Weber/Hörmann/Köllner, Gesundheitswesen 2007, 267 (270).



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personals.533 Als besondere Einwirkungen kommen Konflikte am Arbeitsplatz mit anderen Beschäftigten und Vorgesetzten in Betracht.534 Probleme bereitet, dass Mobbing vielfältige Krankheitsbilder verursacht.535 Zudem werden die medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse für die Anforderungen gem. § 9 Abs. 2 SGB VII bislang nicht als ausreichend bewertet.536 Die Klärung der ursächlichen Zusammenhänge insbesondere im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität im Einzelfall wird bei Mobbing durch häufig lange Vorgeschichten, multiple Beschwerden und vielfältige Einflussfaktoren erschwert.537 Eine Verbesserung der Forschungslage könnte durch den bereits mehrfach geforderten jährlichen Report zu Mobbing in Deutschland erreicht werden.538 ee) Sonstige psychische Erkrankungen Eine weitere Entscheidung des BSG zur Anerkennung psychischer Erkrankungen als Wie-Berufskrankheit betraf den Fall eines von schwerer Legasthenie und Dyskalkulie betroffenen Schülers, der einen Anspruch auf Anerkennung einer sekundären Neurotisierung als Wie-Berufskrankheit aufgrund falscher Schulpädagogik geltend machte. Das BSG urteilte ablehnend mangels wissenschaftlicher Erkenntnisse dazu, dass die Ausgestaltung des Schulunterrichts an allgemeinbildenden Schulen ein gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöhtes Risiko der Schulkinder zur Folge habe, psychisch zu erkranken.539 Als Einwirkungen wurden die allgemeinen Einwirkungen des Schulbesuchs auf Schulkinder aufgefasst. Denn auf Schulkinder mit Behinderung gebe es keine anderen Einwirkungen als auf jene ohne Behinderung, da ein Nichts oder ein Mangel nicht als Einwirkung verstanden werden

533  Vgl. BAuA: Meschkutat/Stackelbeck/Langenhoff, Der Mobbing-Report, S. 31; Weber/Hörmann/Köllner, Gesundheitswesen 2007, 267 (270), m. w. N. 534  Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 210m. 535  Vgl. Weber/Hörmann/Köllner, Gesundheitswesen 2007, 267 (272). 536  Vgl. LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 16.08.2001 – L 7 U 18/01, Breithaupt 2002, 435, juris Rn. 27; Hessisches LSG, Urt. v. 23.10.2012 – L 3 U 199/11, juris Rn. 22; Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 210m; Schemmel, Haftungsfall Burn-Out, S. 247 f.; Hüttmann-Stoll, in: Deutscher Sozialgerichtstag e. V., Sozialstaat, S. 239 (244); Köhler, ZFSH/SGB 2012, 138 (145). 537  Vgl. Weber/Hörmann/Köllner, Gesundheitswesen 2007, 267 (273), m. w. N. 538  Vgl. zuletzt Forderung im Januar 2020 durch Bundestagsabgeordnete, BTDrs.19/16480; ebenfalls durch Thüsing/Bleckmann, BB 2020, 249 (252). 539  BSG, Urt. v. 27.04.2010 – B 2 U 13/09 R, SozR 4-2700 § 9 Nr. 18; Spellbrink, in: Ruland/Becker/Axer/Maydell, SRH: § 16 Rn. 152; Spellbrink, SR 2014, 140 (154).

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könne.540 Die sekundäre Neurotisierung kam für das Gericht allerdings grundsätzlich als Krankheit in Betracht. Es stellte zwar ausdrücklich fest, dass dies keine Einordnung nach den international anerkannten Klassifika­ tionssystemen sei, hielt dies wohl aber auch nicht für erforderlich.541 d) Zwischenergebnis Ohne die Anmaßung vorzunehmen, bewerten zu können, inwiefern die medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zu psychischen Erkrankungen für die Anerkennung als Wie-Berufskrankheit bislang ausreichend sind, lassen sich jedoch die wiedergegebenen Meinungen aus der Literatur zusammenfassen. Nach aktuellem Stand und unter den momentanen gesetzlichen Anforderungen des § 9 Abs. 2 SGB VII ist die Anerkennung als Wie-Berufskrankheit für die meisten Fälle arbeitsbedingter psychischer Erkrankungen unwahrscheinlich542 – möglicherweise mit Ausnahme der PTBS im Bereich der in der Entwicklungshilfe oder bei im Rettungsdienst Beschäftigten. Neben dem abzulehnenden Erfordernis eines engen personalen Bezugs werden als Hauptursache dafür meist fehlende belastbare wissenschaftliche Erkenntnissen über generelle gruppenspezifische Ursachenzusammenhänge zwischen einzelnen psychischen Erkrankungen und bestimmten beruflichen Belastungen gesehen.543 Zu zahlreichen Berufsgruppen wie beispielsweise Einsatzkräften im Rettungssanitätsdienst oder Pflegekräften sind deshalb entsprechende Forschungsvorhaben mit repräsentativen, epidemiologischen Untersuchungen anzuregen.544 3. Probleme bei der Anerkennung als Berufskrankheit Abgesehen von fehlender medizinisch-wissenschaftlicher Forschung als Ursache für die bislang nicht erfolgte Anerkennung psychischer Erkrankungen als (Wie-)Berufskrankheit, bereiten bestimmte Punkte des Verfahrens zur Anerkennung als Berufskrankheit bei psychischen Erkrankungen in recht­ licher und tatsächlicher Hinsicht spezielle Probleme.

540  BSG, Urt. v. 27.04.2010 – B 2 U 13/09 R, SozR 4-2700 § 9 Nr. 18, Rn. 21 ff., juris Rn.  21 ff. 541  Vgl. BSG, Urt. v. 27.04.2010 – B 2 U 13/09 R, SozR 4-2700 § 9 Nr. 18, Rn. 27, juris Rn. 27. 542  So auch Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 166 f., aufgrund der restriktiven Handhabung von § 9 Abs. 2 SGB VII. 543  Vgl. Spellbrink, SozSich 2019, 32 (37). 544  Vgl. Molkentin, SGb 2019, 200 (205).



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a) Probleme bei der abstrakten Anerkennung als Listen-Berufskrankheit aa) Sozialpolitische Erwägungen für die Aufnahme als Listen-Berufskrankheit Wie erläutert, hat die Bundesregierung als Verordnungsgeberin einen weiten Gestaltungsspielraum für die Aufnahme von Berufskrankheiten in die Berufskrankheiten-Liste, zu der sie nach § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII ermächtigt ist. Dazu darf sie auch sozialpolitische Erwägungen anstellen, zu welchen die Sicherung einer finanziell stabilen und funktionsfähigen Unfallversicherung gezählt wird.545 Angesichts der großen Anzahl an Arbeitsunfähigkeitstagen und Erwerbsminderungsrenten verursacht durch psychische Erkrankungen546 ist vorstellbar, dass finanzielle Erwägungen der Aufnahme psychischer Erkrankungen in die Berufskrankheiten-Liste entgegenstehen. Deshalb ist fraglich, ob diese Erwägungen herangezogen werden dürfen. Teils wird gar kein Raum für sozialpolitische Erwägungen, wie beispielsweise die finanzielle Stabilität der Unfallversicherung, gesehen.547 Die Entscheidungsprärogativen für die Aufnahme als Berufskrankheit seien durch den Gesetzgeber in § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII vorgegeben: Die Krankheit muss nach Erkenntnissen der medizi­ nischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sein, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind.548 Die Erwägungen müssen letztlich also stets von der Arbeitsbedingtheit herrühren und darauf zielen, nicht arbeitsbedingte Erkrankungen auszuschließen. Beispielsweise der unbestimmte Rechtsbegriff „in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung“ erfordere einen statistischen Nachweis, der im Kontext der konkreten Erkrankung und der Studienergebnisse zu bewerten sei und allein dazu Flexibilität anstatt einer starren Grenze ermögliche.549 Eine Erwägung könnte danach beispielsweise sein, dass bei weit in der Bevölkerung verbreiteten Erkrankungen der Grad der Einwirkungsexposition bei der bestimmten Personengruppe höher sein muss als bei weniger weit verbreiteten 545  Vgl.

o. S. 89. o. S. 18. 547  Welter-Birk, Der Entscheidungsspielraum der Bundesregierung bei Berufskrankheiten, S.  128 f. 548  Welter-Birk, Der Entscheidungsspielraum der Bundesregierung bei Berufskrankheiten, S. 128, lehnt einen Entscheidungsspielraum der Bundesregierung, ob die Tatbestandsvoraussetzungen für die Aufnahme einer Berufskrankheit vorliegen, vollständig ab. 549  Welter-Birk, Der Entscheidungsspielraum der Bundesregierung bei Berufskrankheiten, S. 129. 546  Vgl.

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

Erkrankungen. Denn bei letzteren ist die Gefahr geringer, dass man auch nicht durch die Arbeitstätigkeit verursachte Fälle in die Unfallversicherung aufnehmen würde. Diese Erwägung würde der Prärogative des Gesetzgebers in § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII entsprechen. Die sozialpolitischen Erwägungen sind auch deshalb problematisch, weil die Bundesregierung keine Auskünfte über diese gibt. Eine gerichtliche Überprüfung ist mangels Transparenz sehr erschwert.550 Selbst bei Befürwortung der Einbeziehung sozialpolitischer Erwägungen ist unstreitig, dass die Verordnungsgeberin nicht nach „Nützlichkeit oder sozialer Wünschbarkeit“551, also nach sozialpolitischer Willkür handeln darf.552 Fraglich bleibt, wie sozialpolitische Willkür aber überhaupt festgestellt werden kann. Es lässt sich folgern, dass sozialpolitische Erwägungen in der Praxis zwar wohl nicht völlig außen vor gelassen werden können, sie sich aber nicht zu weit von der Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers aus § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII entfernen sollten, wie dies bei einem pauschalen Ausschluss psychischer Erkrankungen aufgrund finanzieller Erwägungen der Fall wäre. Denn einerseits ergeben sie sich teils nicht ohne Weiteres aus § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII, andererseits erschweren sie die gerichtliche Überprüfung auf sozialpolitische Willkür. bb) Ermittlung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes Der unabhängig von der Art der Erkrankung langwierige wissenschaftliche und legislatorische Prozess der abstrakten Anerkennung als Listen-Berufskrankheit ist insbesondere der Schwierigkeit geschuldet, den aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand in Erfahrung zu bringen.553 Das bisherige System der medizinischen Wissensgrundlagen wird neuerdings in Frage gestellt.554 Das könnte auch der Anerkennung psychischer Erkrankungen zugutekommen. Zur Aufnahme als Listen-Berufskrankheit i. S. d. § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII wird das Vorliegen gesicherter medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse vorausgesetzt. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass es zu jeder zu beurteilenden Erkrankung in der medizinischen Forschung einen bestimmten 550  Vgl. Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 237; Axer, SGb 2016, 177 (179 f.). 551  BSG, Urt. v. 23.03.1999 – B 2 U 12/98 R, BSGE 84, 30 (36), juris Rn. 32; Koch, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 35 Rn. 14; Thomas, ASPMed 1991, 181 (183). 552  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 220. 553  Vgl. Spellbrink, SR 2014, 140 (141). 554  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 146.



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Stand an anerkanntem Wissen gibt, auf den verbindliche Einschätzungen und Bewertungen gestützt werden können.555 Unter den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen wird das verstanden, was der Meinung der überwiegenden Mehrheit der medizinischen Sachverständigen auf dem jeweiligen Fachgebiet entspricht.556 Dies beinhaltet die Annahme, dass sich Fachkreise gebildet haben, die in der Lage sind, eine gefestigte Meinung der Mehrheit zu bilden, und dass die Verordnungsgeberin diese Meinung in angemessener Zeit umsetzen kann.557 Die (medizinische) Wissenschaft hat sich jedoch grundlegend gewandelt, Komplexität und Heterogenität nehmen immer mehr zu.558 Neues Wissen findet viel schneller Aufmerksamkeit, während Vorhandenes schnell an Bedeutung verlieren kann. Neue Bewertungsansätze, die insbesondere auf klinische Tests und deren statistische Auswertung gestützt werden, relativieren den Status professioneller Erfahrung.559 Auch die Organisation medizinischen Wissens ist im Wandel. Sie wird komplexer und neue Methoden können teils nur noch durch diejenigen beurteilt werden, die unmittelbar am Projekt beteiligt waren. Erfassung und Bewertung erfolgen zunehmend in geordneten Verfahren durch fachlich verantwortliche und förmlich autorisierte Stellen. Die Überzeugungen und Erfahrungssätze, die allgemein oder in Fachkreisen als gesichert gelten, verlieren immer mehr an Bedeutung.560 Demgegenüber ordnet das Rechtssystem den Sachverständigen weiterhin die Aufgabe zu, den wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu erläutern und die Richtigkeitsüberzeugungen der „maßgeblichen ärztlichen Kreise“ zum Zweck

555  Vgl. Hase, in: Masuch/Spellbrink/Becker/Leibfried, Denkschrift 60 Jahre BSG, S. 423 (430); Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 146 f. 556  Vgl. o. S. 95; vgl. Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 147. 557  Vgl. Hase, in: Masuch/Spellbrink/Becker/Leibfried, Denkschrift 60 Jahre BSG, S. 423 (427), dem sei nicht mehr so; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 147. 558  Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: §  9 Rn. 27; Hase, in: Masuch/Spellbrink/Becker/Leibfried, Denkschrift 60 Jahre BSG, S. 423 (427, 431); Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S.  147 ff.; Spellbrink, SR 2014, 140 (144 f.). 559  Vgl. Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 9 Rn. 27; Hase, in: Masuch/Spellbrink/Becker/Leibfried, Denkschrift 60 Jahre BSG, S. 423 (431); Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 147 f.; Spellbrink, SR 2014, 140 (144 f.). 560  Vgl. zum Ganzen Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB  VII: § 9 Rn. 27; Hase, in: Masuch/Spellbrink/Becker/Leibfried, Denkschrift 60 Jahre BSG, S. 423 (431); Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S.  147 f.; Spellbrink, SR 2014, 140 (144 f.).

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der Rechtsfindung darzustellen.561 Die juristische Annahme, dass gut informierte Fachleute bei der Erfassung und Bewertung von Zweifelsfällen im Bereich der Medizin auf hinreichende und gesicherte fachliche Kenntnisse zurückgreifen können, entspricht jedoch oft nicht mehr der Wirklichkeit.562 Problematisch ist, dass diese Veränderungen sowie die Frage, welche juristischen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind, bislang in den Rechts­ wissenschaften und der Rechtsprechung noch nicht ausreichend Berück­ sichtigung gefunden haben.563 Statt weiterhin einseitig auf gutachterlich ­beglaubigte Überzeugungen „maßgeblicher Kreise“ abzustellen, sollte mehr Aufmerksamkeit den neuen professionellen Standards wie den Leitlinien wissenschaftlicher Fachgesellschaften zukommen.564 Zwar wird in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung der evidenzbasierten Medizin und der wachsenden Bedeutung eines professionellen gesundheitlichen Wissensmanagements schon stärker Beachtung geschenkt. Dennoch fehlen ausgearbeitete und hinreichend komplexe dogmatische Konzepte, die an den neuen Bedingungen des Zusammenwirkens zwischen rechtlicher Normgebung, Rechtskonkretisierung und der Rezeption und Generierung von Wissen ausgerichtet sind.565 Der Bereich der untergesetzlichen Rechtsetzung, in dem das komplexe und professionell aufbereitete Wissen in förmlichen untergesetzlichen Regelwerken erfasst und strukturiert werden soll, wie beispielsweise die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses gem. § 92 SGB V, wird hierbei aufgrund der notwendigen Dynamik als besonders problematisch erachtet.566 Es bedarf mehr Diskussion dazu, ob das etablierte System und damit ein zeitlich und institutionell aufwendiger Prozess von dem neuen medizinischen Wissensstand hin zur legislatorischen Normierung als Listen-Berufskrankheit

561  Hase, in: Masuch/Spellbrink/Becker/Leibfried, Denkschrift 60 Jahre BSG, S. 423 (430). 562  Hase, in: Masuch/Spellbrink/Becker/Leibfried, Denkschrift 60 Jahre BSG, S. 423 (432); Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 148. 563  Hase, in: Masuch/Spellbrink/Becker/Leibfried, Denkschrift 60 Jahre BSG, S. 423 (432). 564  Hase, in: Masuch/Spellbrink/Becker/Leibfried, Denkschrift 60 Jahre BSG, S. 423 (432); ähnlich Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 151. 565  Hase, in: Masuch/Spellbrink/Becker/Leibfried, Denkschrift 60 Jahre BSG, S. 423 (433); Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 149; Spellbrink, SR 2014, 140 (145). 566  Hase, in: Masuch/Spellbrink/Becker/Leibfried, Denkschrift 60 Jahre BSG, S. 423 (433); Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 149 f.; Spellbrink, SR 2014, 140 (145).



B. Erfassung psychischer Erkrankungen121

noch zeitgemäß ist.567 Man wirft die Frage auf, ob sich die Rechtsprechung nicht eingestehen muss, dass die Ermittlung eines eindeutigen medizinischen Standards mittlerweile Fiktion ist und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.568 Es müsse ebenfalls gefragt werden, welchen Krankheitsgeschehen die zuständigen Gremien verstärkt Aufmerksamkeit und (Forschungs-) Aktivität zukommen lassen und welchen nicht.569 Das Beispiel der Synkanzerogenese, einer multikausal verursachten Krebserkrankung, zeigt, dass die schlechte Studienlage aus dem Fehlen des Interesses des Wissenschaftssystems und regulatorischer Anreize sowie der fehlenden Ausrichtung der Forschungsförderung auf Haftung und Kompensation resultieren kann,570 folglich keine Faktoren, die nicht zu beeinflussen wären. Das alles könnten auch die Gründe dafür sein, dass der wissenschaftliche Erkenntnisstand für die Anerkennung psychischer Erkrankungen als Berufskrankheit mangels entsprechender Studien für nicht ausreichend erachtet wird. Die beschriebenen Erkenntnisse setzen für Veränderungen im Berufskrankheitenrecht voraus, dass der Ärztliche Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten und die Verordnungsgeberin sich den erläuterten Wandel der Wissensgrundlagen der Medizin eingestehen und ihn akzeptieren.571 Denn nur so kann sich das Berufskrankheitenrecht in ein dynamisches und flexibles System wandeln, das den Anforderungen an einen zeitgemäßen und transparenten Wissenstransfer genügt.572 Zudem wird angeregt, dass als Ausgangspunkt Begriffe wie „Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft“ oder „erheblich höherer“ Grad der Einwirkungsexposition zu überdenken seien und im Rahmen eines wissenschaftlichen und politischen Diskurses ein neuer medizinischer Standard für die Aufnahme von Berufskrankheiten in die Berufskrankheiten-Liste festgelegt werden müsse.573

567  Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: §  9 Rn. 27; Hase, in: Masuch/Spellbrink/Becker/Leibfried, Denkschrift 60 Jahre BSG, S. 423 (434); vgl. Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 152, BK-Recht in seiner jetzigen Form hinke dem medizinischen Wissensstand hinterher und sei häufig schon überholt; vgl. ähnlich auch Schöpf, Multikausale Schäden in der gesetzlichen Unfallversicherung, S. 206, für neue Mechanismen zwecks einer schnelleren Anpassung der BKV an das medizinische Wissen; Spellbrink, SR 2014, 140 (146). 568  Spellbrink, SR 2014, 140 (146). 569  Spellbrink, SR 2014, 140 (146). 570  Hallier, in: DGUV, Erfahrungen mit § 9 Abs. 2 SGB VII, 6. Bericht, S. 72 (77). 571  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 152. 572  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 152. 573  Vgl. Spellbrink, SR 2015, 15 (23).

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Ein weiterer Kritikpunkt besteht darin, dass die international anerkannten Klassifikationssysteme bislang im Berufskrankheitenrecht nicht konsequent angewendet werden.574 Das BSG sah, allerdings im Fall einer Wie-Berufskrankheit, eine Einordnung der psychischen Erkrankung in ICD-10 oder DSM-5 – anders als beim Arbeitsunfall575 – als nicht erforderlich an.576 Mit den gleichen Argumenten wie beim Arbeitsunfall, dem besseren Erkennen und Beurteilen von Ursachen sowie der Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit, sollten auch im Berufskrankheitenrecht psychische Erkrankungen sowohl bei der abstrakten als auch bei der konkreten Anerkennung im Einzelfall einheitlich mit den Schlüsseln der anerkannten Klassifikationssysteme benannt und eingeordnet werden.577 cc) Ärztlicher Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten Für den Ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten wurde eine bessere Ausstattung angesichts seiner ehrenamtlichen Tätigkeit gefordert,578 weil letztere lange Beratungszeiten und eine lange Dauer bis zur Aufnahme einer Berufskrankheit zur Folge hat.579 Das langwierige Aufnahmeverfahren wird als nicht vereinbar angesehen mit rechtsstaatlichen Verfahren, die auch internationalen Standards genügen.580 Auch wenn gründliche und deshalb meist lang dauernde Prüfungsverfahren in besonders hohem Maß ein den gesetzlichen Anforderungen entsprechendes Ergebnis gewährleisten,581 ist eine gewisse Beschleunigung des Verfahrens im Sachverständigenbeirat in Form einer Professionalisierung wichtig.582

574  Vgl. zur Problematik auch Scheuch/Pardula, in: DGUV, Erfahrungen mit § 9 Abs. 2 SGB VII, 6. Bericht, S. 125 (132), es herrsche ein „Wirrwarr“ an Diagnosen bei psychischen Erkrankungen und Belastungen. 575  Vgl. o. S. 71; st.Rspr., BSG, Urt. v. 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 (203), juris Rn. 22. 576  Vgl. o. S. 116; BSG, Urt. v. 27.04.2010 – B 2 U 13/09 R, SozR 4-2700 § 9 Nr. 18, Rn. 27, juris Rn. 27. 577  Ähnlich Molkentin, SGb 2019, 200 (202), zum generellen Ursachenzusammenhang. 578  DGUV, Berufskrankheitenrecht 2016, S. 27; vgl. dazu Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 108 f.; Kranig, in: Devetzi/Janda, FS für Eberhard Eichenhofer, S. 359 (373); Spellbrink, SR 2015, 15 (23). 579  Urban, SozSich 2019, 275 (277). 580  Becker, in: Bender/Eicher, FS saarländische Sozialgerichtsbarkeit, S. 105 (127), verweist auf das Beschleunigungsgebot für gerichtliche Verfahren, Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK. 581  Vgl. Kranig, in: Devetzi/Janda, FS für Eberhard Eichenhofer, S. 359 (373); vgl. Molkentin, SGb 2014, 659 (660).



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Neben der unzureichenden Ausstattung kritisiert man die Divergenz zwischen der faktischen Macht des Sachverständigenbeirats und der bis vor kurzem noch völlig fehlenden gesetzlichen Legitimation.583 Denn in der Praxis werde das Vorliegen neuer Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft gem. § 9 Abs. 2 SGB VII angenommen, wenn der Sachverständigenbeirat eine entsprechende positive Empfehlung abgegeben habe. Im Umkehrschluss werde die Wie-Berufskrankheit abgelehnt, wenn die Empfehlung negativ ist oder der Sachverständigenbeirat die Krankheit-EinwirkungsKonstellation noch nicht behandelt hat.584 Die Veröffentlichung der Empfehlungen des Sachverständigenbeirats im Gemeinsamen Ministerialblatt durch das BMAS bewirke die Anerkennung als „herrschende Lehrmeinung“, führe faktisch zur Berufskrankheitenreife und damit zur Anerkennungsfähigkeit einer Krankheit als Wie-Berufskrankheit.585 Schließlich wird problematisiert, dass der Sachverständigenbeirat durch die Festlegung von Schwellenwerten wertende Entscheidungen treffe, ohne sich deren Bedeutung bewusst zu sein.586 Für psychische Erkrankungen ist das deshalb besonders bedeutsam, weil dort oftmals Einwirkungen eine Rolle spielen, die sowohl bei versicherten als auch bei unversicherten Tätigkeiten vorkommen. Diese Art von Einwirkungen bedarf zwingend einer bestimmten Dosis oder Häufigkeit im Sinne eines Schwellenwertes, um die Sonderbehandlung in Form der Aufnahme als Berufskrankheit zu rechtfertigen.587 Der Sachverständigenbeirat gewichtet die besondere Beziehung der berufsbedingten Einwirkung zu der verursachten Erkrankung und grenzt sie gegenüber solchen Einwirkungen ohne derartige besondere Beziehung ab. Die besondere Beziehung wird ab einer bestimmten Schwelle zu- oder abgesprochen, es handelt sich um eine medizinisch wertende Abwägungsentscheidung.588 Es wird das Problem konstatiert, dass die Bundesregierung als Verordnungs582  Vgl. so auch Keller, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: Einführung E 050 S. 7; Becker, in: Bender/Eicher, FS saarländische Sozialgerichtsbarkeit, S. 105 (127). 583  Vgl. Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 180 ff., 214 f.; Hollo, SozSich 2019, 269 (272). 584  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 214 f.; vgl. so auch die DGUV selbst: DGUV, Berufskrankheitenrecht 2016, S. 26; Hollo, ­SozSich 2019, 269 (272); vgl. auch Axer, SGb 2016, 177 (178 f.), kritisch insbesondere im Vergleich zum Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen und seiner Normierung in § 139a SGB V. 585  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 215. 586  Vgl. Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 180 ff. 587  Vgl. Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 183 f.; vgl. ausführlich zu den Begrifflichkeiten der Dosis und Häufigkeit sowie deren Relation: Becker, SGb 2006, 449 (453 f.). 588  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 183 f., wohlgemerkt keine sozialpolitisch wertende Entscheidung.

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geberin die Schwellenwerte des Sachverständigenbeirats übernimmt, weil sie sie für medizinisch belegt hält; der Sachverständigenbeirat wiederum orientiert sich für neue Berufskrankheiten an den bisherigen Schwellenwerten in der Berufskrankheiten-Liste. Insgesamt fehle es an dem Bewusstsein, einerseits der Verordnungsgeberin, dass sie die rechtlich wertende Entscheidung hinsichtlich der Schwellenwerte treffen muss, andererseits des Sachverständigenbeirats, dass die Verordnungsgeberin die Schwellenwerte als medizinisch belegt übernehmen könnte und es deshalb einer medizinisch fundierten Begründung für exakt diesen Wert bedarf.589 Die Verordnungsgeberin dürfe ihre Befugnisse in Form ihres Gestaltungsspielraumes nicht vollständig auf ein Fachgremium delegieren, sie müsse sie selbst wahrnehmen.590 dd) Uneinheitlichkeit der Berufskrankheiten-Tatbestände Im Hinblick auf eine eventuelle zukünftige Normierung einer psychischen Erkrankung als Berufskrankheit ist problematisch, dass die bisherigen Berufskrankheiten-Tatbestände uneinheitlich gefasst sind.591 Durch die teils unpräzise Fassung der Tatbestände verschiebt die Bundesregierung als Verordnungsgeberin das Problem der Definition der Berufskrankheiten auf die Ebene der Rechtsanwendung und Rechtsprechung.592 Als eindeutig konform mit der Ermächtigungsgrundlage in § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII werden in der Literatur diejenigen Tatbestände angesehen, die sowohl Krankheit als auch verursachende Einwirkungen exakt bezeichnen oder umschreiben.593 Auch als ermächtigungskonform gelten jene, in denen nur das Krankheitsbild, nicht aber die verursachenden Einwirkungen bezeichnet werden.594 Zweifel werden angemeldet für die sogenannten offenen Tatbestände mangels Krankheits-Bezeichnung.595 Unstreitig ist, dass eine genaue Bezeichnung der Berufskrankheiten-Tatbestände, insbesondere der schädigenden Einwirkungen nach Art, Menge und Dauer, die Ursachenbeurteilung 589  Hollo,

Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 185 f. Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 224. 591  Zur Uneinheitlichkeit vgl. o. S. 92. 592  Vgl. BSG, Urt. v. 27.06.2006 – B 2 U 20/04 R, BSGE 96, 291 (293 f.), juris Rn. 18; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 243; Welter-Birk, Der Entscheidungsspielraum der Bundesregierung bei Berufskrankheiten, S.  198 f.; Spellbrink, SR 2014, 140 (152); Becker, SGb 2010, 131 (132). 593  Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 82; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 240 f.; Spellbrink, SR 2014, 140 (151). 594  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 244 ff. 595  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 241 ff.; vgl. Spellbrink, SR 2014, 140 (143). 590  Vgl.



B. Erfassung psychischer Erkrankungen125

im Verfahren zur konkreten Anerkennung einer Berufskrankheit erleichtert.596 Auch wird dadurch eine aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit wünschenswerte gleichmäßigere Anwendung im Einzelfall ermöglicht.597 Pläne zur Vereinheitlichung der Anforderungen an die Formulierung von BerufskrankheitenTatbeständen wurden bislang nicht umgesetzt.598 Bei den in jüngerer Zeit neu aufgenommenen Berufskrankheiten hat die Verordnungsgeberin aber versucht, den Reformüberlegungen entsprechend insbesondere Krankheit und Einwirkung konkret zu bezeichnen.599 Dies sollte deshalb auch der Maßstab für die Normierung einer psychischen Erkrankung als Berufskrankheit sein. ee) Systembedingter Ausschluss bestimmter Erkrankungen Systembedingt verschließt sich das Berufskrankheitenrecht der Anerkennung bestimmter Erkrankungen, was ebenfalls psychische Erkrankungen betrifft. Hauptgrund dafür ist, dass seine Regelungsstruktur auf eine monokausale Betrachtung der gesundheitlichen Folgen einzelner Noxen ausgelegt ist: Ein Schadstoff wird mit einer Krankheit in Zusammenhang gebracht.600 Das System bereitet dadurch Probleme, multikausal verursachten berufsbedingten Erkrankungen gerecht zu werden und diese als Listen- oder Wie-Berufskrankheit anzuerkennen.601 Prominentestes Beispiel hierfür ist die Synkanze596  Vgl. Keller, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: Einführung E 050 S. 7; Kranig, in: Devetzi/Janda, FS für Eberhard Eichenhofer, S. 359 (385); Molkentin, in: Deutscher Sozialgerichtstag e. V., Sozialrecht im Umbruch, S. 123 f., zu den bisherigen Reformüberlegungen; Becker, SGb 2010, 131 (134); Hollo, SozSich 2019, 269 (272 f.), dadurch auch Entschärfung des Streits um die Frage nach einer notwendigen Verdopplung des Erkrankungsrisikos. 597  Becker, SGb 2006, 449 (454). 598  Kranig, in: Devetzi/Janda, FS für Eberhard Eichenhofer, S. 359 (363). 599  Kranig, in: Devetzi/Janda, FS für Eberhard Eichenhofer, S. 359 (366), mangels wissenschaftlicher Erkenntnisse fehle es aber meist an Angaben zur Dosis-WirkungBeziehung, dafür sei aber die Darstellung des wissenschaftlichen Kenntnisstandes in der wissenschaftlichen Begründung umfassender; vgl. auch Molkentin, in: Deutscher Sozialgerichtstag e. V., Sozialrecht im Umbruch, S. 123 (124 f.); Becker, VSSR 2010, 247 (270), dies für den richtigen Weg haltend. 600  Vgl. Hallier, in: DGUV, Erfahrungen mit § 9 Abs. 2 SGB VII, 6. Bericht, S. 72; Spellbrink, in: DGUV, Erfahrungen mit § 9 Abs. 2 SGB VII, 6. Bericht, S. 53 (54); Spellbrink, BPUVZ 2012, 360. 601  Vgl. Tieste, Haftungsfall Stresserkrankung, S. 176  f.; Spellbrink, in: DGUV, Erfahrungen mit § 9 Abs. 2 SGB VII, 6. Bericht, S. 53 (54); Spellbrink, BPUVZ 2012, 360; Hollo, SozSich 2019, 269 (274), die Anerkennung multikausal verursachter Erkrankungen sei höchst unwahrscheinlich; vgl. auch Oppolzer, BG 2000, 508 (509 f.), zu psychischen Belastungen und Erkrankungen.

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rogenese, eine multikausal verursachte Krebserkrankung,602 für die de lege lata keine Lösung ersichtlich ist.603 Ein Lösungsvorschlag, zu prüfen, ob eine von mehreren Einwirkungen wesentliche Teilursache war, bekam in der ­Praxis aufgrund fehlender einschlägiger medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse keine erkennbare Unterstützung.604 Die Situation ähnelt jener bei psychischen Erkrankungen. Ein weiterer Grund für den systembedingten Ausschluss bestimmter Erkrankungen ist, dass das Kriterium der statistisch-epidemiologischen Absicherung des Kausalzusammenhangs, welches das BSG für § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII verlangt, der Anerkennung von Erkrankungen durch selten oder nur in kleinen Gruppen von Betroffenen auftretenden Einwirkungen entgegensteht.605 Das kann auch psychische Erkrankungen betreffen. Die bereits genannte Gruppe der im Entwicklungsdienst Beschäftigten weist keine besonders große Anzahl auf. Dies kann ein Grund für das Fehlen spezifischer Studien in diesem Bereich sein, auch wenn das BSG speziell hierfür, vermutlich auch gerade vor dem Hintergrund der kleinen Berufsgruppe, die Übertragbarkeit der Ergebnisse militärischer Studien für möglich erachtete.606 Teils wird epidemiologische Forschung auch generell für ungeeignet erachtet, die Berufsbedingtheit psychischer Erkrankungen zu erklären. Denn die für die Gültigkeit epidemiologischer Studien notwendige Zuordnung jeder Versuchsperson zu einer Vergleichsgruppe sei bei psychischen Erkrankungen problematisch, weil für sie nicht eine Diagnose mit den Methoden zur Feststellung somatischer Erkrankungen getroffen werden könne.607 Dabei 602  Ausführlich zum Begriff: Spellbrink, in: DGUV, Erfahrungen mit § 9 Abs. 2 SGB VII, 6. Bericht, S. 53 ff.; Becker, MEDSACH 2005, 115. 603  Spellbrink, in: DGUV, Erfahrungen mit § 9 Abs. 2 SGB VII, 6. Bericht, S. 53 (71), man könne der Sykanzerogenese im deutschen System des Berufskrankheitenrechts womöglich nur schwer gerecht werden; Spellbrink, SR 2014, 140 (150); vgl. zur Problematik mit Überlegungen zur Einführung einer Generalklausel: Becker, Zbl Arbeitsmed 2015, 301 (302); Bieresborn, SGb 2016, 310 (313), ebenfalls zur Generalklausel; Hallier, in: DGUV, Erfahrungen mit § 9 Abs. 2 SGB VII, 6. Bericht, S. 72 ff., zur medizinischen Perspektive. 604  Becker, Zbl Arbeitsmed 2015, 301 (302). 605  Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 72; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 160; Spellbrink, SR 2014, 140 (146, 154 f.); die verwendete Terminologie in Rspr. und Lit. ist bei den sog. Seltenheitsfällen uneinheitlich, teils ist die Rede von seltenen Erkrankungen, teils von seltenen Einwirkungen oder Gefährdungen, die eine Krankheit verursachen; letztlich verhindert beides statistisch-relevante Aussagen. 606  Vgl. o. S. 106 ff. 607  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 164 ff., deshalb der Aufnahme einer psychischen Listen-BK oder der Anerkennung als Wie-BK sehr pessimistisch gegenüber stehend.



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handelt es sich jedoch um eine medizinische Frage, die an dieser Stelle nicht beantwortet werden kann und soll. b) Probleme bei der konkreten Anerkennung als Berufskrankheit Bei der konkreten Anerkennung als (Wie-)Berufskrankheit ergeben sich im Einzelfall oft Beweisschwierigkeiten. Für psychische Erkrankungen, die oftmals multikausal verursacht sind und bei denen unversicherte Ursachen aus dem Privatleben eine Rolle spielen können, gilt dies ganz besonders. Da der Grundsatz der objektiven Beweislast Anwendung findet, wird die Anerkennung zu Lasten der Versicherten abgelehnt, wenn die Voraussetzungen nicht mit dem erforderlichen Beweismaßstab zu beweisen sind.608 Diese Beweisschwierigkeiten waren schon 1925 bei der Einführung der ersten Berufskrankheiten bekannt, man sah die Unzufriedenheit der Betroffenen mit dem System voraus.609 Die Kritik beinhaltet seit jeher die Stichworte der Berufsgenossenschafts-„Nähe“ der medizinischen Sachverständigen und deren ­behauptete Voreingenommenheit.610 Deutlich wird die Problematik an der Aussage Molkentins, man könne bei manchen Berufsgenossenschaften den Eindruck gewinnen, die Anerkennungspraxis von Berufskrankheiten stehe unter einem „Kostendiktat“, während andere Berufsgenossenschaften auch im Zweifel zu Gunsten der Versicherten entscheiden würden.611 Der Kritik hält man entgegen, dass die gesetzliche Unfallversicherung mit § 200 Abs. 2 SGB VII eine Privilegierung der Versicherten enthalte.612 Die Unfallversicherungsträger sollen den Versicherten mehrere Sachverständige für Gutachten vorschlagen und müssen auf das Widerspruchsrecht gem. § 76 Abs. 2 SGB X hinweisen, was so von der Rechtsprechung auch für das Gerichtsverfahren bekräftigt wird.613 Auch ist im Sozialgerichtsprozess gem.

608  Hollo,

SozSich 2019, 269 (273 f.). SR 2014, 140 (142). 610  Vgl dazu ausführlich Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S.  419 ff.; Spellbrink, SR 2015, 15 (20). 611  Molkentin, in: Deutscher Sozialgerichtstag e. V., Sozialrecht im Umbruch, S. 123 (134). 612  Kranig, in: Devetzi/Janda, FS für Eberhard Eichenhofer, S. 359 (375); Spellbrink, SR 2015, 15 (20 f.). 613  Vgl. BSG, Urt. v. 05.02.2008 – B 2 U 8/07 R, BSGE 100, 25; Urt. v. 18.01.2011 – B 2 U 5/10 R, SozR 4-2700 § 200 Nr. 3; Kranig, in: Devetzi/Janda, FS für Eberhard Eichenhofer, S. 359 (375); Spellbrink, SR 2015, 15 (20 f.); vgl. aber kritisch zum Widerspruchsrecht: Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 200 SGB VII Rn. 4, das Widerspruchsrecht stelle i. E. keine Privilegierung der Versicherten dar. 609  Spellbrink,

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

§ 109 Abs. 1 SGG die Beauftragung von bestimmtem ärztlichen Fachpersonal mit dem Gutachten möglich.614 Den Versicherten fehlt mangels eigener Kenntnisse über die vorgeschlagenen Sachverständigen jedoch oftmals die Fähigkeit, ihre Geeignetheit einzuschätzen.615 Dazu kommt, dass geeignete Sachverständige schwierig zu finden sind aufgrund der erforderlichen spezifischen Sachkompetenz und der geringen Anzahl an qualifiziertem, sachkundigem ärztlichen Fachpersonal.616 Als Ausweg wird vorgeschlagen, regelmäßige besondere Schulungen für die Sachverständigen zur Erstellung der Gutachten durchzuführen, verstärkt Begutachtungsrichtlinien zu den jeweiligen Berufskrankheiten, die als verbindliche Leitlinien geführt werden, durch die Bundesregierung als Verordnungsgeberin zu erarbeiten sowie das Sachverständigenvorschlagsrecht auf die Gewerbeärzte und -ärztinnen als unabhängige, externe Instanz auszulagern.617 Neben einer generellen Verbesserung des Systems könnte dies auch der Begutachtung und der Beweisbeibringung bei psychischen Erkrankungen zugutekommen. Abgesehen von den Beweisschwierigkeiten bereitet das bereits erläuterte,618 vom BSG aufgestellte Erfordernis eines engen personalen Bezugs in Fällen des Erlebens der Verletzung Dritter Probleme. Wie gezeigt, ist dieses Erfordernis jedoch abzulehnen. Die Anerkennung als Versicherungsfall sollte in diesen Fällen nicht daran scheitern, dass die Versicherten keinen engen personalen Bezug zu der verletzten dritten Person haben. c) Probleme bei der Anerkennung als Wie-Berufskrankheit Kritik ist auch an der Anerkennung als Wie-Berufskrankheit zu üben. In diesem Fall werden an die Unfallversicherungsträger und Gerichte sehr viel höhere Anforderungen hinsichtlich der medizinisch-wissenschaftlichen Aufklärung des Sachverhalts gestellt als bei einer Listen-Berufskrankheit. Denn sie müssen prüfen, ob die Berufskrankheitenreife einer Erkrankung vorliegt.619 614  Spellbrink, SR 2015, 15 (21); Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 423, kritisch, weil die Norm nicht im Verwaltungsverfahren gelte und die Unfallversicherungsträger nicht an die Beweisanträge der Versicherten gebunden sind. 615  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 421. 616  Becker, Die anzeigepflichtigen Berufskrankheiten, S.  234; Hollo, SozSich 2019, 269 (271). 617  Vgl. ausführlich dazu Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S.  424 ff. 618  Vgl. o. S. 108. 619  Kranig, in: Devetzi/Janda, FS für Eberhard Eichenhofer, S. 359 (381); zustimmend: Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 374 f.



B. Erfassung psychischer Erkrankungen129

Wie erläutert, sind grundsätzlich die gleichen Schritte einzuleiten wie durch die Bundesregierung als Verordnungsgeberin.620 Die dargestellten Urteile zu psychischen Erkrankungen im Rahmen des § 9 Abs. 2 SGB VII zeigen deutlich die Schwierigkeiten auf, welche die Gerichte bei der Ermittlung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes haben, die sie ohne die direkte Unterstützung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Berufskrankheiten vornehmen müssen.621 Deshalb sollte über eine „verfahrensmäßige Brücke“ zur Arbeit des Sachverständigenbeirats nachgedacht werden. Es bedarf einer systematischen Aufarbeitung der Anwendung des § 9 Abs. 2 SGB VII und der Rückkopplung an den Sachverständigenbeirat.622 d) Vergleich auf europäischer Ebene Die Kritik am deutschen Berufskrankheitenrecht legt nahe, einen Blick auf die Systeme anderer europäischer Staaten und die dortige Berücksichtigung psychischer Erkrankungen zu werfen. Für einen solchen Vergleich ist jedoch ein gewisses Maß an Zurückhaltung bei der Übernahme von Ideen geboten, weil die Systeme sehr unterschiedlich ausgestaltet sind.623 Hervorgehoben werden sollen zunächst Schweden, wo man sich gegen das Listensystem und für eine Generalklausel entschied, und Dänemark, das aktuell einzige Land, in dem eine psychische Erkrankung Teil der Berufskrankheiten-Liste ist. In Schweden wird vollständig auf die Aufzählung der Berufskrankheiten verzichtet. Stattdessen gibt es eine Generalklausel, sodass alle Erkrankungen Berufskrankheit sein können, wenn sie wesentlich arbeitsbedingt sind und in relevantem Maß die Erwerbsfähigkeit mindern.624 Dies führt zu einer Verlagerung der Entscheidung über die Abgrenzung zwischen Berufskrankheit und Allgemeinerkrankung auf den Einzelfall, sodass in Schweden unter anderem auch Folgen psychischer Belastungen entschädigt werden.625 Zusätzlich wurde im schwedischen Unfallversicherungsrecht bis 1993 der ursächliche Zusammenhang zwischen schädigender Einwirkung und Krankheit vermu620  So

bereits o. S. 104. o. insbesondere S. 109 ff. 622  Kranig, in: Devetzi/Janda, FS für Eberhard Eichenhofer, S. 359 (381); diesen Vorschlägen grundsätzlich zustimmend: Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S.  375 f. 623  Vgl. Kranig, BG 2002, 236; vgl. bspw. zu Dänemark Pontoppidan, BG 2003, 572. 624  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 546 f.; Kranig, in: Devetzi/Janda, FS für Eberhard Eichenhofer, S. 359 (377); Spellbrink, SR 2015, 15 (22). 625  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 547; Kranig, in: Devetzi/Janda, FS für Eberhard Eichenhofer, S. 359 (377). 621  Vgl.

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

tet.626 Dieses System führte in der Praxis zu fehlender Rechtsklarheit und -sicherheit und hatte eine Kostenexplosion zur Folge.627 Für die schwedische Unfallversicherung versiebenfachte sich in den Jahren von 1979 bis 1988 der Leistungsaufwand, der Verwaltungsaufwand versechsfachte sich.628 Um das System inhaltlich und finanziell beherrschbar zu halten, wurde es 1993 wieder stark eingeschränkt durch die Neuregelung des nun erforderlichen Kausalitätsnachweises und die Abkehr von der Vermutungsregelung. Auch die Leistungen wurden derart eingeschränkt, dass Renten durch die Unfallver­ sicherung nur im Fall dauernder Erwerbsunfähigkeit gezahlt werden.629 In Dänemark fand in Reaktion auf die in den letzten 100 Jahren stark veränderte Arbeitswelt ein grundlegender Systemwandel statt. Eingeführt wurde ein liberales Entschädigungssystem mit nicht zu strengen Voraussetzungen, das auch die Anerkennung psychischer Erkrankungen als Berufskrankheit ermöglicht. Die hohe Anzahl anerkannter Berufskrankheiten aufgrund psychischer Belastungen falle jedoch ökonomisch kaum ins Gewicht, weil die gezahlten Renten gering seien.630 Das ökonomische Ausmaß des Systems sei mit Deutschland vergleichbar, was aber auch daran liege, dass das dänische Berufskrankheitensystem nur für Anerkennung und Entschädigung, nicht aber für die medizinische Versorgung zuständig sei.631

626  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 547; Breuer/ Velten, NZS 1995, 146 (150); Mikaelsson/Lister, Internationale Revue für Soziale Sicherheit 1991 Bd. 44 Nr. 3, 43 (45 ff.); Mummenhoff, ZIAS 1989, 93 (105). 627  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 548; Kranig, in: Devetzi/Janda, FS für Eberhard Eichenhofer, S. 359 (377 f.); Breuer/Velten, NZS 1995, 146 (151); Kranig, BG 2002, 236 (241). 628  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 548; Breuer/ Velten, NZS 1995, 146 (151); Mikaelsson/Lister, Internationale Revue für Soziale Sicherheit 1991 Bd. 44 Nr. 3, 43 (47). 629  Kranig, in: Devetzi/Janda, FS für Eberhard Eichenhofer, S. 359 (377 f.); Kranig, BG 2002, 236 (241), zudem wurden die zuvor erhöhten Leistungssätze während Heilbehandlung und Rehabilitation wieder abgeschafft und die Meldung von BKVerdachtsfällen erfolgt seitdem mittelbar über den Arbeitgeber und nicht mehr unmittelbar bei den Sozialversicherungsträgern; Ricke, WzS 2012, 43 (49). 630  Kranig, DGUV-Forum 2012 Nr. 4, 30 (33); vgl. auch Eurogip, What recognition of work-related mental disorders?, S. 22 ff., der Grund für die geringeren Renten könnte darin liegen, dass in Dänemark der dauerhafte Gesundheitsschaden aufgrund einer psychischen Erkrankung bei der Berechnung der Entschädigungsleistung mit einem Anteil von maximal 35 % bemessen werden kann; allerdings ist hierbei auch die deutlich andere Art der Berechnung der Entschädigungsleistungen im Vergleich zu Deutschland zu beachten. 631  Zum Ganzen Kranig, DGUV-Forum 2012 Nr. 4, 30 (33); vgl. zum dänischen Unfallversicherungsrecht generell Pontoppidan, BG 2003, 572; Svarrer, in: HVBG, FS für Günther Sokoll, S. 179 (181 ff.).



B. Erfassung psychischer Erkrankungen131

Einen Vergleich der Berufskrankheiten-Systeme von zehn europäischen Staaten hinsichtlich der Anerkennung psychischer Erkrankungen bietet zudem eine 2013 veröffentlichte französische Studie.632 Das deutsche Listensystem bleibt danach im Vergleich zu anderen europäischen Staaten im Hinblick auf psychische Erkrankungen zurück.633 Zwar hat als einziges Land Dänemark eine psychische Erkrankung in die Berufskrankheiten-Liste aufgenommen.634 Möglich und auch so praktiziert ist die Anerkennung zumindest über Ergänzungsklauseln vergleichbar § 9 Abs. 2 SGB VII aber auch in Belgien, Italien und Frankreich.635 Als Begründung für die Situation in Deutschland wird angeführt, die Zurückhaltung erfolge bewusst, weil dort Fälle psychischer Erkrankungen über den Arbeitsunfall gelöst werden und in der Prävention ein Fokus auf psychische Erkrankungen gelegt werde. Zudem erkläre sich die Zurückhaltung daraus, dass die Abgrenzung zwischen arbeitsbedingten und nicht arbeitsbedingten Ursachen bei psychischen Erkrankungen besonders schwierig sei.636 Das dient aber nur bedingt als Erklärung. Die Anerkennung psychischer Erkrankungen infolge eines Arbeitsunfalls ist überall in Europa möglich; aufgrund des Elements der zeitlichen Begrenzung und Plötzlichkeit des Ereignisses können aber nicht alle psychischen Erkrankungen davon erfasst werden.637 Deshalb ist die zusätzliche Möglichkeit einer Lösung über das Berufskrankheitenrecht notwendig und wird so in mehreren europäischen Staaten praktiziert – auch wenn man sich dort ähnlichen Problemen bei der Abgrenzung von arbeitsbedingten und nicht arbeitsbedingten Ursachen stellen muss, die aber nicht unüberwindbar zu sein scheinen. Im Sinne eines gegenseitigen Voranbringens wäre unter anderem deshalb eine verstärkte Zusammenarbeit auf europäischer Ebene, zum Beispiel in Form eines Informationsaustausches, sehr wünschenswert.638 632  Eurogip,

What recognition of work-related mental disorders? What recognition of work-related mental disorders?, S. 8 f., Studie sieht die Anerkennung als (Wie-)BK in Deutschland als faktisch ausgeschlossen an, ebenso wie in Finnland und der Schweiz; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 165, Fn. 270; Kranig, in: Devetzi/Janda, FS für Eberhard Eichenhofer, S. 359 (387). 634  Eurogip, What recognition of work-related mental disorders?, S. 5 ff., betreffend die PTBS; die Anerkennung der PTBS ist auch als AU möglich, die Einordnung hängt von der zeitlichen Dauer der Einwirkungsexposition ab. 635  Eurogip, What recognition of work-related mental disorders?, S. 7 f.; SteigerSackmann, Schutz vor psychischen Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz, Rn. 836. 636  Kranig, in: Devetzi/Janda, FS für Eberhard Eichenhofer, S. 359 (387). 637  Eurogip, What recognition of work-related mental disorders?, S. 9. 638  Vgl. für eine bessere Zusammenarbeit innerhalb der EU: Keller, in: Hauck/ Noftz/Keller, SGB VII: Einführung E 010 S. 9; Kranig, DGUV-Forum 2013 Nr. 1/2, 46 (50 ff.); vgl. so auch die Kommission selbst: Europäische Kommission, Report on the current situation in relation to occupational diseasesʼ systems in EU Member ­States and EFTA/EEA countries, in particular relative to Commission Recommenda633  Eurogip,

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

Eine Erklärung für die bislang nicht erfolgte Aufnahme einer psychischen Erkrankung als Listen-Berufskrankheit könnte auch in der zumindest theoretischen Anerkennungsmöglichkeit über § 9 Abs. 2 SGB VII zu sehen sein. Nimmt man die Ergänzungsklauseln wie § 9 Abs. 2 SGB VII im europäischen Vergleich in den Blick, fällt auf, dass solche Klauseln dazu führen können, dass wie beispielsweise in der Schweiz die Aufnahme neuer Berufskrankheiten zu lange unterbleibt, oder dass abgewartet wird, um mehrere Berufskrankheiten gebündelt in die Liste einzuführen.639 Dadurch würde der eigentliche Zweck konterkariert, Härten zu vermeiden, die dadurch entstehen, dass neue Erkrankungen nur mit einer zeitlichen Verzögerung aufgenommen werden können und den neuen Erkenntnissen in der Zwischenzeit Rechnung zu tragen.640 Die Betroffenen werden länger als nötig auf das schwierigere Verfahren der Anerkennung als Wie-Berufskrankheit verwiesen. Es existieren immer wieder Überlegungen zur Abschaffung des Listensystems in Deutschland,641 unter anderem aufgrund seiner Schwerfälligkeit und weil es tendenziell die „frühen“ Opfer schädigender Einwirkungen trifft, wenn noch keine ausreichenden wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen.642 Das Listenprinzip ruft Unverständnis hervor, warum bei Arbeitsunfällen aufwendigste, schwierige Ermittlungen angestellt werden, um Kausalzusammenhänge aufzuklären, während bei Erkrankungen, die in klarem und zweifelsfrei aufklärbarem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen, jedoch nicht durch ein einzelnes Ereignis verursacht wurden, nur diejenigen Erkrankungen anerkannt werden können, die in der Berufskrankheiten-Liste aufgeführt werden oder die im Vergleich zum Arbeitsunfall höheren Anforderungen des § 9 Abs. 2 SGB VII erfüllen.643 Mangels Härtefallklausel trifft die Bundesregierung als Verordnungsgeberin im Rahmen ihres Gestaltungsspielraums eine besondere Verantwortung zum Tätigwerden. Ein System wie in Schweden, das alle arbeitsbedingten Erkrankungen nach dem Kausalsystem erfasst, wäre denkbar.644 Das würde aber nicht nur eine Verschiebung der Kosten von Kranken- und Rentenversicherung hin zur tion 2003/670/EC concerning the European Schedule of Occupational Diseases and gather­ing of data on relevant related aspects. 639  Kranig, in: Devetzi/Janda, FS für Eberhard Eichenhofer, S. 359 (379). 640  Vgl. o. S. 103. 641  Vgl. zuletzt Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 544 ff., insgesamt dem aber ablehnend gegenüberstehend. 642  Vgl. Mummenhoff, ZIAS 1989, 93 (99). 643  Vgl. Krasney, in: HVBG, FS für Friedrich Watermann, S. 91. 644  Wilde/Schulte, SGb 2004, 599.



B. Erfassung psychischer Erkrankungen133

Unfallversicherung bedeuten, sondern durch den erheblich höheren Umfang an Verwaltungstätigkeit auch die Verwaltungskosten deutlich steigern.645 Auch eine Steigerung der Kosten für die Leistungen wäre denkbar, allerdings ist der direkte Vergleich zu Schweden aufgrund der bei der Einführung der Generalklausel zusätzlich eingeführten Vermutungsregelung schwierig. Letztlich war die Einführung des Listensystems in Deutschland eine verfassungsgemäße646 sozialpolitische Entscheidung des Gesetzgebers.647 Denn der Gesetzgeber hat bei der notwendigen Grenzziehung und den leistungsrechtlichen Grundentscheidungen einen Gestaltungsspielraum.648 Er muss Inhalt und Umfang des Leistungsanspruchs gesetzlich regeln und Leistungsbeschränkungen aus dem Gesetz deutlich machen. Auch muss er die Sicherungslücken auf andere Weise schließen. Für arbeitsbedingte Erkrankungen, die keine Listen-Berufskrankheit darstellen, verlangt dies eine hinreichende Absicherung in Kranken- und Rentenversicherung.649 Auch die Kommission der Europäischen Union und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) empfehlen nationale Berufskrankheiten-Entschädigungssysteme mit Listenprinzip.650 Das europäische Recht beschränkt sich für die soziale Sicherheit zwar bislang auf die Koordinierung der nationalen Systeme, es existiert kein einheitliches materielles europäisches Sozialrecht.651 Die Kommission geht aber von einem zukünftigen gesamteuropäischen Listensystem aus, das im Rahmen einer schrittweisen Harmonisierung zu einer europäischen Berufskrankheiten-Liste zusammengeführt werden

Krasney, in: HVBG, FS für Friedrich Watermann, S. 91. Axer, SGb 2016, 177 (180 f.). 647  Krasney, in: HVBG, FS für Friedrich Watermann, S. 91; Krasney, NZS 1996, 259 (264). 648  Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 22.05.2003 – 1 BvR 1077/00, SozR 4-3300 § 14 Nr. 1, Rn. 11, juris Rn. 18. 649  Zum Ganzen Axer, SGb 2016, 177 (180 f.), der eine Parallele zum Teilleistungssystem der sozialen Pflegeversicherung zieht. 650  Empfehlung 2003/670/EC der Kommission v. 19.09.2003 über die Europäische Liste der Berufskrankheiten, ABl. EU L 238, S. 28; ILO Empfehlung Nr. 194 betreffend die Liste der Berufskrankheiten sowie die Aufzeichnung und Meldung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, abrufbar unter: http://www.ilo.org/wcmsp5/ groups/public/---ed_norm/---normes/documents/normativeinstrument/wcms_r194_ de.pdf (abgerufen am 16.12.2021); Kranig, in: Devetzi/Janda, FS für Eberhard Eichenhofer, S. 359 (378); Keller, SGb 2001, 226 (229). 651  Vgl. Art. 48 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) u. speziell zu Berufskrankheiten: Art. 36–41 VO (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. EU L 166, S. 1; Steinmeyer, in: Franzen/Gallner/Oetker, EuArbRK: Art. 48 AEUV Rn. 7. 645  Vgl. 646  Vgl.

134

1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

soll.652 Eine Reform des deutschen Berufskrankheitenrechts im Sinne eines grundlegenden Systemwechsels ist insgesamt nicht sinnvoll.653 e) Bewertung der Änderungen durch das Siebte Gesetz zur Änderung des SGB IV und anderer Gesetze Die letzte Änderung des SGB VII durch Gesetz vom 12. Juni 2020654 brachte keine weitreichenden Änderungen im Berufskrankheitenrecht mit sich. Wesentliche und längst überfällige Änderung war die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für den Ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten in § 9 Abs. 1a SGB VII. In Reaktion auf die Kritik an der ­fehlenden Transparenz des Sachverständigenbeirats,655 die eine gerichtliche Kontrolle der Entscheidung der Verordnungsgeberin und des Sachverhalts, den sie zugrunde gelegt hat, erschwere,656 werden seit einigen Jahren die Mitglieder, Beratungsthemen sowie der Ablauf im Internetauftritt des BMAS657 vorgestellt.658 Nun sind zudem gem. § 9 Abs. 1a S. 4 SGB VII i. V. m. §§ 7–11 BKV die Stellung und Organisation des Sachverständigenbeirats geregelt. Insbesondere die Aufführung der Zusammensetzung gem. § 8 Abs. 1 BKV und die verpflichtende Veröffentlichung der Beratungsthemen gem. § 9 Abs. 3 BKV sind unter Transparenzgesichtspunkten zu begrüßen. Kritisiert wird, dass in dem Verb „unterstützt“ in § 9 Abs. 1a S. 2 SGB VII weder die Unabhängigkeit des Sachverständigenbeirats vom BMAS hinreichend zum Ausdruck kommt, noch, dass es sich lediglich um eine Beratungstätigkeit, nicht jedoch um die Entscheidung über die Aufnahme als Berufskrankheit, handelt.659 Nicht umgesetzt bleibt der Vorschlag, eine Vertretung von Versicherten in den Sachverständigenbeirat aufzunehmen wie beim Gemeinsamen Bundesausschuss der gesetzlichen Krankenversicherung, 652  Vgl. Empfehlung 2003/670/EC; Spellbrink, SR 2015, 15 (23); vgl. Kranig, DGUV-Forum 2013 Nr. 1 46 (53). 653  Vgl. so auch Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S.  544 ff.; Kranig, in: Devetzi/Janda, FS für Eberhard Eichenhofer, S. 359 (388); Keller, SGb 2001, 226 (229). 654  Siebtes Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, BGBl. I S. 1248. 655  Hollo, SozSich 2019, 269 (272); Siefert, NZS 2021, 81 (82); vgl. Spellbrink, SR 2015, 15 (23 f.). 656  Axer, SGb 2016, 177 (179); Hollo, SozSich 2019, 269 (272). 657  Abrufbar unter: https://www.bmas.de/DE/Soziales/Gesetzliche-Unfallversi cherung/Aerztlicher-Sachverstaendigenbeirat/aerztliche-sachverstaendigenbeirat.html (abgerufen am 16.12.2021). 658  Vgl. Hollo, SozSich 2019, 269 (270). 659  Vgl. ähnlich Hollo, SozSich 2019, 269 (274).



B. Erfassung psychischer Erkrankungen135

§ 91 SGB V.660 Immerhin wurde die Ausstattung des Sachverständigenbeirats deutlich verbessert durch die nun in § 9 Abs. 1a S. 3 SGB VII i. V. m. § 10 BKV vorgeschriebene Einrichtung einer Geschäftsstelle.661 Ob es dadurch zu der erhofften Beschleunigung des Verfahrens662 kommt, die auch der Anerkennung psychischer Erkrankungen zugutekommen kann, bleibt abzuwarten. Die zweite für die vorliegende Thematik hervorzuhebende Änderung ist die Verpflichtung der Unfallversicherungsträger gem. § 9 Abs. 8 S. 2, 3 SGB VII zur Veröffentlichung eines jährlichen gemeinsamen Berichts über ihre Forschungsaktivitäten mit den Themen der Forschungsvorhaben, der Höhe der aufgewendeten Mittel, den Zuwendungsempfängern und Forschungsnehmern externer Projekte als vorgeschriebenem Inhalt. Dies ist zu begrüßen, weil dadurch zum einen mehr Transparenz663 und zum anderen ein gewisser Öffentlichkeitsdruck zu entsprechenden Forschungen entstehen kann. Dies kann auch der Erforschung psychischer Erkrankungen zugutekommen. Die Forderung, den Sachverständigenbeirat gesetzlich zur Berücksichtigung psychischer Erkrankungen zu verpflichten, wurde im Ausschuss für Arbeit und Soziales abgelehnt,664 weitere Forderungen im Hinblick auf psychische Erkrankungen im Rahmen der Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf blieben bei der jetzigen Reform ebenfalls unberücksichtigt.665 Der Gesetzgeber hat damit eine Chance verpasst, sich tiefergehend mit der Problematik der Anerkennung psychischer Erkrankungen in der gesetzlichen Unfallversicherung zu beschäftigen. f) Zwischenergebnis Es existieren einige Probleme, die der Anerkennung psychischer Erkrankungen im Berufskrankheitenrecht bislang entgegenstehen. Die Aufnahme einer psychischen Erkrankung als Listen-Berufskrankheit könnte in tatsäch­ so Spellbrink, SR 2015, 15 (24). zur entsprechenden Forderung: DGUV, Berufskrankheitenrecht 2016, S. 27; Kranig, in: Devetzi/Janda, FS für Eberhard Eichenhofer, S. 359 (373); Römer/ Keller, SGb 2020, 651 (654). 662  Vgl. o. S. 122. 663  Vgl. so auch Hollo, SozSich 2019, 269 (274). 664  BT-Drs. 19/19037 S. 39 f.; Römer/Keller, SGb 2020, 651 (656). 665  Vgl. schriftliche Stellungnahmen von IG Metall, Sozialverband VdK, DGB und Bundes-Psychotherapeuten-Kammer zur Anhörung im schriftlichen Verfahren von Sachverständigen u. a. zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines 7. SGB IV-ÄndG, Ausschuss-Drs. 19(11)613, abrufbar unter: https://www.bundestag. de/resource/blob/692172/4c0bd3056a10d604b29a9fce05bc4f4a/19-11-613-Materialzu sammenstellung-data.pdf (abgerufen am 16.12.2021). 660  Vgl. 661  Vgl.

136

1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

licher Hinsicht durch sozialpolitische Erwägungen erschwert sein, welche die Bundesregierung als Verordnungsgeberin im Rahmen ihres Gestaltungsspielraums anstellen kann. Diese Erwägungen müssten sich jedoch verstärkt an der gesetzgeberischen Entscheidungsprärogative in § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII orientieren. Außerdem ist die Ermittlung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes nicht mehr zeitgemäß und erfordert ein Umdenken, verbunden mit der Definition neuer medizinischer Standards für die Aufnahme von Berufskrankheiten. Weiterhin werden psychische Erkrankungen auch im Berufskrankheitenrecht bislang nicht konsequent nach ICD-10 und DSM-5 eingeordnet. Die letzte Reform des § 9 SGB VII verbesserte die Transparenz des Verfahrens beim Ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten; ob die verbesserte Ausstattung zu der notwendigen Verfahrensbeschleunigung führt, bleibt abzuwarten. Ein größeres Bewusstsein beim Sachverständigenbeirat für die Bedeutung der von ihm festgelegten Schwellenwerte wäre auch einer eventuellen zukünftigen Normierung einer psychischen Erkrankung als Berufskrankheit zuträglich. Die bisherigen Berufskrankheiten-Tatbestände sind sehr uneinheitlich, eindeutig ermächtigungskonform wäre jedoch nur die konkrete Bezeichnung von Krankheit und Einwirkung. Ein weiterhin bestehendes Problem in rechtlicher Hinsicht für die Anerkennung psychischer, oftmals multikausal verursachter Erkrankungen bleibt die monokausale Ausgestaltung des Berufskrankheitenrechts. Die unter anderem dadurch entstehenden Beweisschwierigkeiten werden in tatsächlicher Hinsicht durch die schwierige Suche nach geeigneten medizinischen Sachverständigen für Gutachten verstärkt. Das rechtliche Erfordernis eines engen personalen Bezugs in Fällen des Erlebens der Verletzung Dritter ist abzulehnen. Durch das Verfahren zur Anerkennung als Wie-Berufskrankheit werden in tatsächlicher Hinsicht hohe Anforderungen an Gerichte und Unfallversicherungsträger gestellt, was die Ermittlung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes auf abstrakter Ebene betrifft. Ein Vergleich auf europäischer Ebene zeigt, dass kein vollständiger Systemwechsel weg vom Listenprinzip sinnvoll ist und notwendig wäre, um auch psychische Erkrankungen erfassen zu können. Die kürzlich in § 9 SGB VII erfolgten Neuerungen reichen für eine Anerkennung von psychischen Erkrankungen als Berufskrankheit aber noch nicht aus. 4. Ergebnis Bislang existiert unter den Listen-Berufskrankheiten in der Anlage 1 der BKV keine einzige psychische Erkrankung und es kam noch nie zur A­nerkennung einer psychischen Erkrankung als Wie-Berufskrankheit. Dies ist unter anderem den höheren Anforderungen im Berufskrankheitenrecht im Vergleich zur Anerkennung als Arbeitsunfall geschuldet. Denn es wird nicht allein auf den konkreten Einzelfall abgestellt, sondern es müssen auf abstrak-



B. Erfassung psychischer Erkrankungen137

ter Ebene ein genereller Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung sowie eine erhöhte Einwirkungsexposition einer bestimmten Personengruppe gegenüber der übrigen Bevölkerung vorliegen. Dadurch werden die Berufskrankheiten gegenüber den übrigen arbeitsbedingten Erkrankungen abgegrenzt, die als Ausdruck des allgemeinen Lebensrisikos gesehen und von Renten- und Krankversicherung aufgefangen werden. Dieses System ist beizubehalten. Dennoch ist fraglich, ob weiterhin alle arbeitsbedingten psychischen Erkrankungen als allgemeines Lebensrisiko verstanden werden können oder nicht einzelne der Verantwortung der Unternehmer und Unternehmerinnen und damit der Unfallversicherung zuzuordnen sind. Theoretisch möglich ist die Anerkennung als Wie-Berufskrankheit. Doch in den bisherigen erfolglosen Versuchen wird deutlich, dass es an belastbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen über generelle gruppenspezifische Ursachenzusammenhänge zwischen psychischen Erkrankungen und bestimmten beruflichen Belastungen fehlt. Deshalb muss auf konkrete, den Anforderungen des Berufskrankheitenrechts entsprechende Forschungsvorhaben gedrängt werden. In systematischer Hinsicht ergeben sich einige Kritikpunkte am Berufskrankheitenrecht im Hinblick auf psychische Erkrankungen. Für die abstrakte Anerkennung als Listen-Berufskrankheit könnten sozialpolitische Erwägungen, welche die Bundesregierung als Verordnungsgeberin im Rahmen ihres Gestaltungsspielraums anstellen kann, der Aufnahme psychischer Erkrankungen als Listen-Berufskrankheit entgegenstehen. Diese Erwägungen müssten sich verstärkt an der gesetzgeberischen Entscheidungsprärogative in § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII orientieren. Die Ermittlung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes ist nicht mehr zeitgemäß und erfordert ein Umdenken und die Einführung neuer wissenschaftlicher Standards. Bei dem nun gesetzlich verankerten Ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten wird sich zeigen, ob die gesetzliche Neuerung ausreichend ist, um die bisherige Verfahrensdauer zu verkürzen. Die Berufskrankheiten-Tatbestände sind uneinheitlich, zukünftig sollten jedoch nur Einwirkungs-Erkrankungs-Kombinationen aufgenommen werden. Das Berufskrankheitenrecht schließt systembedingt bestimmte Erkrankungen aus, wovon auch psychische Erkrankungen betroffen sind. Für die konkrete Anerkennung stellen die Beweisanforderungen und ein Defizit an geeigneten Sachverständigen die höchste Hürde dar. Dazu kommt das abzulehnende Erfordernis eines engen personalen Bezugs in Fällen des Erlebens der Verletzung Dritter. Zudem bringt das Verfahren zur Anerkennung als Wie-Berufskrankheit einen hohen Ermittlungsaufwand für Gerichte und Unfallversicherungsträger mit sich. Insgesamt sollte am Listenprinzip festgehalten werden, weitere Reformen sind aber notwendig.

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1. Kap.: Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall

C. Gesamtbetrachtung des 1. Kapitels Psychische Erkrankungen spielen schon seit Einführung der gesetzlichen Unfallversicherung eine Rolle und sind nicht nur ein Phänomen der heutigen Zeit. Seit der Grundsatzentscheidung des BSG von 1962 steht fest, dass sie ebenso wie somatische Erkrankungen grundsätzlich in der Unfallversicherung zu erfassen sind. Auch heute noch sind psychische Erkrankungen im Zusammenhang mit der gesetzlichen Unfallversicherung in Rechtsprechung und Literatur ein Thema. Psychische Erkrankungen, die durch die Arbeitstätigkeit verursacht sind, werden in der gesetzlichen Unfallversicherung bisher nur als Versicherungsfall gem. § 8 Abs. 1 SGB VII, als Arbeitsunfall, anerkannt. Doch auch dies ist nicht ohne Weiteres möglich, Probleme stellen sich bei der Feststellung des Unfallereignisses, des Gesundheitsschadens und der haftungsbegründenden Kausalität. Als Versicherungsfall der Berufskrankheit gem. § 9 SGB VII ist eine Anerkennung psychischer Erkrankungen bislang mangels Listen-Berufskrankheit nicht möglich, auch als Wie-Berufskrankheit ist bislang keine Anerkennung erfolgt. Probleme stellen sich hier sowohl auf Ebene der abstrakten Anerkennung einer Listen-Berufskrankheit als auch auf Ebene der konkreten Anerkennung im Einzelfall. Die gesetzlichen Neuerungen waren nicht in der Lage, diese Probleme vollständig auszuräumen.

2. Kapitel

Analyse im Hinblick auf Gründe für eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen in der gesetzlichen Unfallversicherung Die Untersuchung des derzeitigen Standes der Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall in der gesetzlichen Unfallversicherung ergab, dass noch zahlreiche Probleme bestehen. In der Folge stellt sich die Frage, ob und welche Gründe für eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen in der Unfallversicherung sprechen, als es im aktuellen Recht der Fall ist, oder ob die vorgefundenen Probleme schlichtweg hinzunehmen sind. Dazu ist ein Blick auf die Grundprinzipien der Unfallversicherung zu werfen und in Zusammenhang damit das Leistungsniveau dieser mit dem der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung zu vergleichen. Außerdem werden dazu die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung nach § 1 SGB VII näher beleuchtet.

A. Die hinter dem versicherten Personenkreis und den Versicherungsfällen stehenden Grundprinzipien und Vergleich des Leistungsniveaus mit gesetzlicher Kranken- und Rentenversicherung Nach einem kurzen Überblick über die Dogmatik des versicherten Personenkreises und der Versicherungsfälle in der Unfallversicherung wird das dahinterstehende Telos betrachtet, um zu klären, ob und welche Gründe für eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen sprechen. Damit zusammenhängend wird das Leistungsniveau der gesetzlichen Unfallver­ sicherung mit dem der Kranken- und Rentenversicherung verglichen, um herauszufinden, ob bereits ein ausreichender Schutz innerhalb des Sozialversicherungssystems besteht.

I. Versicherter Personenkreis und Versicherungsfälle Der versicherte Personenkreis der gesetzlichen Unfallversicherung ist schon aufgrund der praktischen Bedeutung, vor allem aber als Strukturmerk-

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2. Kap.: Analyse

mal wesentlich durch die Ausübung einer Beschäftigung gekennzeichnet, vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB  VII.1 Nach ihrer Zielsetzung handelt es sich bei der gesetzlichen Unfallversicherung um eine Beschäftigtenversicherung.2 Sie versteht den Begriff der Beschäftigung entsprechend § 7 Abs. 1 SGB IV als nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis.3 Neben dieser sogenannten „echten“ Unfallversicherung fasst man unter die „unechte“ Unfallversicherung die versicherten Personengruppen in § 2 Abs. 1 SGB VII, die in keinem abhängigen Beschäftigungsverhältnis stehen, sondern deren Tätigkeit gemeinnützig ist und mit einer Beschäftigung nur minimale Berührungspunkte hat.4 Wie bereits erwähnt,5 sind die beiden wichtigsten Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung der Arbeitsunfall gem. § 8 Abs. 1 SGB VII und die Berufskrankheit gem. § 9 SGB VII. Beiden Versicherungsfällen ist gemeinsam, dass sie infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit entstanden sein müssen. Deshalb handelt es sich bei der gesetzlichen Unfallversicherung auch um eine tätigkeitsbezogene Personenversicherung.6 Festzuhalten ist damit, dass der versicherte Personenkreis in der gesetz­ lichen Unfallversicherung gem. § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII insbesondere alle Beschäftigten umfasst. Als Versicherungsfälle kennt die Unfallversicherung den Arbeitsunfall gem. §§ 7 Abs. 1, 8 SGB VII und die Berufskrankheit gem. §§ 7 Abs. 1, 9 Abs. 1 SGB VII beziehungsweise Wie-Berufskrankheit gem. §§ 7 Abs. 1, 9 Abs. 2 SGB VII.

1  BVerfG, Beschluss v. 20.05.1987 – 1 BvR 762/85, BVerfGE 75, 348 (358), juris Rn. 36; Bieresborn, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 2 Rn. 8; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: §  2 SGB VII Rn. 2; von Koppenfels-Spies, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 2 Rn. 9. 2  von Koppenfels-Spies, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 2 Rn. 9. 3  Bieresborn, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 2 Rn. 23; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 2 SGB VII Rn. 4. 4  von Koppenfels-Spies, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 2 Rn. 2; Bieresborn, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 2 Rn. 9. 5  Vgl. o. S. 30. 6  Lilienfeld, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 2 SGB VII Rn. 2 f.; Grundlegendes dazu bei Dausmann/Platz, BG 1986, 748 (750).



A. Grundprinzipien141

II. Telos der gesetzlichen Unfallversicherung 1. Die Grundprinzipien Die Elemente der gesetzlichen Unfallversicherung sind im Wesentlichen die Ablösung der Haftung der Unternehmer und Unternehmerinnen durch verschuldensunabhängige, öffentlich-rechtliche Versicherungsansprüche, die Orientierung der Versicherungsleistungen am Schadenersatzprinzip, der Versicherungsschutz unabhängig von der formalen Begründung eines Versicherungsverhältnisses, die alleinige Finanzierung durch die Unternehmerinnen und Unternehmer, der Ausschluss von Haftungsansprüchen der Beschäftigten gegen die Unternehmer und Unternehmerinnen, später auch der Haftungsausschluss unter den Beschäftigten desselben Betriebs, die Durchführung durch eigene Körperschaften, im gewerblichen und im landwirtschaftlichen Bereich durch Berufsgenossenschaften, die Selbstverwaltung, seit 1953 paritätisch durch Beschäftigte und Unternehmerinnen und Unternehmer, die Gliederung der Berufsgenossenschaften nach Branchen, welche Unternehmen mit vergleichbaren Unfallrisiken zusammenfassen, sowie der Präventionsauftrag der Unfallversicherungsträger zur Verhütung von Arbeitsunfällen.7 Seit der Einführung der Unfallversicherung durch das Unfallversicherungsgesetz 1884 hatten die Grundprinzipien weitgehend Bestand.8 Die zwei tragenden Prinzipien der gesetzlichen Unfallversicherung sind das soziale Schutzprinzip und das Prinzip der Haftungsersetzung.9 Dies muss vor dem historischen Hintergrund gesehen werden. So war Ziel der Unfallversicherung bei ihrer Entstehung zur Zeit der Industrialisierung die Beseitigung der wirtschaftlichen Notlage, wenn Arbeiter oder Arbeiterinnen aufgrund eines Arbeitsunfalls (teilweise) erwerbsunfähig wurden, denn die damalige Absicherung gegen die Folgen eines Arbeitsunfalls war völlig unzureichend.10 Die Unfallgefahren hatten sich durch neue Maschinen mit ungekannten Geschwindigkeiten und Kräften deutlich erhöht. Denn die Arbeiterinnen und Arbeiter, die aus einer bis dahin weitestgehend agrarisch und 7  So in der Begründung zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz (UVEG) v. 24.8.1995 BT-Drucks. 13/2204, S. 72; Reyels, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 1 Rn. 31; vgl. auch Keller, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: Einführung E 010 S. 2 f. 8  Gitter/Nunius, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd.  2 UV: § 5 Rn. 1; Reyels, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 1 Rn. 31; Spellbrink, SR 2014, 140. 9  Gitter/Nunius, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 5 Rn. 28; Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, S. 38; Jantz, in: Schimmelpfennig, FS für Herbert Lauterbach I, S. 15 (16); Becker, VSSR 2010, 247 (254). 10  Gitter/Nunius, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 5 Rn. 29.

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2. Kap.: Analyse

handwerklich geprägten Bevölkerung stammten, waren mit deren Umgang überfordert.11 Die bisherigen Handwerksbetriebe wurden durch die Indus­ trialisierung verdrängt. Es entstanden große und anonyme Industriestädte, in denen sich die neuen Großbetriebe konzentrierten, was oft den Verlust sozialer Bindungen zur Folge hatte.12 Durch das soziale Schutzprinzip sollte den Arbeitern und Arbeiterinnen und ihren Angehörigen sozialer Schutz durch die Gewährung eines vom Verschulden unabhängigen Entschädigungsanspruchs gegen eine leistungsfähige Genossenschaft der Unternehmer und Unternehmerinnen zukommen. Das Prinzip der Haftungsersetzung sollte letztere und ihr Leitungspersonal im Gegenzug zur alleinigen Beitragszahlung vom Haftpflichtrisiko befreien, um so innerbetriebliche Konflikte zu vermeiden und damit dem Betriebsfrieden zu dienen.13 Es besagt, dass an die Stelle der Unternehmerinnen und Unternehmer als zur Schadensersatzleistung Verpflichtete ein Versicherungsträger als Anspruchsgegner tritt.14 Diese Prinzipien gelten so auch noch heute.15 Aus der alleinigen Beitragstragung durch die Unternehmerinnen und Unternehmer und dem Prinzip der Haftungsersetzung resultiert in der gesetzlichen Unfallversicherung das Erfordernis einer kausalen Verbindung zwischen der betrieblichen Sphäre und dem Schaden.16 Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten müssen kausal auf der versicherten Tätigkeit beruhen. Das Kausalitätserfordernis stellt das maßgebliche Abgrenzungskriterium gegenüber den anderen Sozialversicherungszweigen dar, für die die Ursache des Versicherungsfalls unbedeutend ist.17 So liegt der Renten- und Krankenversicherung, die dem Schutz gegen allgemeine Lebensrisiken dienen, kein kausales System zugrunde. Es handelt sich stattdessen um finale Systeme.18 11  Gitter/Nunius, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 5 Rn. 30 f.; Podzun, BG 1951, 159. 12  Gitter/Nunius, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 5 Rn. 32. 13  Gitter/Nunius, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 5 Rn. 42, 52 f.; Jantz, in: Schimmelpfennig, FS für Herbert Lauterbach I, S. 15 f. 14  Gitter/Nunius, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 5 Rn. 51. 15  Zum sozialen Schutzprinzip: von Koppenfels-Spies, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 1 Rn. 6; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/ Meßling/Udsching, BeckOK: § 1 SGB VII Rn. 4; zum Prinzip der Haftungsersetzung, das mittlerweile in § 104 SGB VII geregelt ist: Rolfs, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt, Erfurter Kommentar: § 104 SGB VII Rn. 1; von Koppenfels-Spies, in: Knickrehm/ Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 104 SGB VII Rn. 2; Becker, VSSR 2010, 247 (254 f.); Spellbrink, SR 2012, 17 f. 16  Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: §  7 Rn. 25; Spellbrink, SR 2014, 140 (141). 17  Wagner, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 7 Rn. 25. 18  Molkentin, in: Becker/Franke/Molkentin, SGB VII: § 1 Rn. 4; Gitter/Nunius, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 5 Rn. 115; Mehrtens/Valentin/Schönberger,



A. Grundprinzipien143

Die einseitige Finanzierung und das Prinzip der Haftungsersetzung basieren auf dem Gedanken, dass die betriebliche Gefahr zur Risikosphäre des Unternehmens gehört. Selbst wenn die Unternehmer oder Unternehmerinnen nicht selbst den Unfall verschuldet haben, liegt die Rechtfertigung in ihrer aus dem Arbeitsverhältnis resultierenden Schutz- und Fürsorgepflicht.19 Es sind vor allem sie, die finanziell von dem Unternehmen profitieren und den Betriebsablauf und damit die Betriebssicherheit beeinflussen können.20 2. Veränderungen in der gesetzlichen Unfallversicherung Die grundlegenden Struktur- und Regelungsprinzipien der gesetzlichen Unfallversicherung sind seit ihrer Einführung im Grundsatz erhalten geblieben, es kam aber auch zu Veränderungen.21 Diese sind ihrerseits von Kontinuität geprägt.22 Es gab Veränderungen in Form der Erweiterung des versicherten Personenkreises, der Ausdehnung des Versicherungsschutzes in Form der Aufnahme von Wegeunfällen und Berufskrankheiten, der Verbesserung des Leistungsniveaus im Rahmen der vorgegebenen Leistungsstruktur23 sowie der Erweiterung der Haftungsbeschränkung über die Unternehmerinnen und Unternehmer hinaus auf weitere im Betrieb tätige Personen, insbesondere das Kollegium.24 a) Ausdehnung des versicherten Personenkreises Ursprünglich folgte der versicherte Personenkreis dem Enumerationsprinzip und bestand aus einer Aufzählung der versicherten Betriebe. Denn bezweckt war keine generelle Unfallversicherung, sondern der Versicherungsschutz sollte nur für bestimmte als besonders schützenswert – da besonders gefährlich – angesehene Betriebe gelten und hierbei nur für die aufgrund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses Beschäftigten.25 Nach und nach Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 1 S. 20; Watermann, in: Gitter, FS für Georg Wannagat, S. 661. 19  Gitter/Nunius, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 5 Rn. 118 f. 20  Gitter/Nunius, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 5 Rn. 122. 21  Gitter/Nunius, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 5 Rn. 71. 22  Becker, VSSR 2010, 247 (259). 23  Becker, VSSR 2010, 247 (259); Watermann, in: HVBG, FS für Herbert Lauterbach II, S. 33 (40). 24  Vgl. BSG, Urt. v. 26.06.2007 – B 2 U 17/06 R, BSGE 98, 285; Becker, VSSR 2010, 247 (257, 259). 25  Gitter/Nunius, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 5 Rn. 90 ff.; Jantz, in: Schimmelpfennig, FS für Herbert Lauterbach I, S. 15 (16 f.); Wickenhagen, Ge-

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2. Kap.: Analyse

wurde der versicherte Personenkreis aber immer weiter ausgedehnt, was letztlich zu einer Abkehr vom Enumerationsprinzip führte.26 b) Ausdehnung des Versicherungsschutzes Für die vorliegende Untersuchung ist die Ausdehnung des Versicherungsschutzes insbesondere auf Berufskrankheiten und Wegeunfälle zu erwähnen. aa) Berufskrankheiten Die Idee, auch Berufskrankheiten neben dem Arbeitsunfall als Versicherungsfall in die gesetzliche Unfallversicherung mitaufzunehmen, kam schon bald nach Einführung der Unfallversicherung 1884 auf.27 1911 wurde der damalige Bundesrat durch Einführung von § 547 S. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO)28 ermächtigt, die Unfallversicherung auf bestimmte gewerbliche Berufskrankheiten auszudehnen.29 Denn es war offensichtlich, dass der Arbeitsunfall Schädigungen durch allmählich auftretende, schädliche betriebliche Einwirkungen, sogenannte Noxen,30 nicht miteinschloss, obwohl auch diese durch die Arbeitstätigkeit verursacht worden waren.31 Durch die technische Entwicklung im Rahmen der Industrialisierung waren völlig andere Krankheiten entstanden, als man sie zuvor kannte. Krankheiten, die durch die Schädlichkeit des Berufs hervorgerufen wurden, nannte man Gewerbekrankheiten. Die Schädlichkeit konnte vom Arbeitsmaterial oder der Arbeitsstätte ausgehen, aber auch in der Arbeit selbst liegen, beispielsweise weil diese zu lange andauerte oder zu einseitig war, sodass einzelne Organe besonders beansprucht wurden. Ein Beispiel für einen Berufskranken war ein sogenannter Heimarbeiter, der aufgrund einer überlangen Arbeitszeit von 14 bis 16 Stunden geschwächt und „blutarm“ wurde.32 schichte der gewerblichen Unfallversicherung, S. 25: so auch schon beim Vorgänger der Unfallversicherung, dem Reichshaftpflichtgesetz vom 7.6.1871. 26  Gitter/Nunius, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 5 Rn. 95 f. 27  Wickenhagen, Geschichte der gewerblichen Unfallversicherung, S. 184; Breuer, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 1 Rn. 102; Schönberger, in: Schimmelpfennig, FS für Herbert Lauterbach I, S. 155 (170). 28  Einführungsgesetz zur Reichsversicherungsordnung v. 19.7.1911, RGBl. I, S. 509. 29  Wickenhagen, Geschichte der gewerblichen Unfallversicherung, S. 185. 30  Vgl. zum Begriff: Spellbrink, SR 2014, 140 (143). 31  Vgl. Gitter/Nunius, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 5 Rn. 98; Becker, VSSR 2010, 247 (255 f.). 32  Zum Ganzen Wickenhagen, Geschichte der gewerblichen Unfallversicherung, S. 185.



A. Grundprinzipien145

Problematisch an der Aufnahme eines neuen Versicherungsfalls der Berufskrankheit war die praktische Umsetzung. Die Entscheidung, ob nur solche Krankheiten eine Berufskrankheit darstellen, die durch bestimmte Berufe ausgelöst werden, oder ob die Unfallversicherung auch auf andere Krankheiten ausgedehnt werden kann, war lange streitig.33 Damals war weder hinreichend sicher, wie Schäden, die sowohl im Berufsleben als auch im Privaten entstanden sein konnten, voneinander abgegrenzt werden sollten, noch war die Forschung im Gebiet der Berufskrankheiten fortgeschritten.34 Letztlich entschied man sich dafür, die Reichsregierung zu ermächtigen, bestimmte gewerbliche Berufskrankheiten durch Verordnung in die Unfallversicherung aufzunehmen.35 Erstmals wurden durch die Verordnung vom 12.05.192536 elf Berufskrankheiten aufgenommen.37 Schon damals wurde die Bedeutung der Anerkennung dieser elf Erkrankungen weniger in der geleisteten Entschädigung gesehen als vielmehr darin, dass die Aufmerksamkeit für (potenzielle) Berufskrankheiten im Hinblick auf Erkennung und Verhütung gesteigert wurde. Denn nun wurde wissenschaftliche Forschung nicht nur zu den bereits anerkannten, sondern auch zu bislang nicht anerkannten Berufskrankheiten betrieben.38 Die erste Verordnung machte die Schwierigkeit der Umschreibung und Bestimmung von Berufskrankheiten deutlich: Man hatte erkannt, dass es erstens Krankheiten gibt, die sich tatsächlich nahezu ausschließlich bestimmten Gewerbezweigen oder Betriebsarten zuordnen lassen, wie zum Beispiel das Augenzittern der Bergleute. Zweitens hatte man Krankheiten ausgemacht, die bei bestimmten Berufen besonders häufig auftraten, daneben aber auch in der Gesellschaft weit verbreitet sind. Drittens identifizierte man Krankheiten, die generell in der Gesellschaft häufig vorkommen, in Ausnahmefällen aber auch durch die Arbeitstätigkeit auftreten können.39 Vor dem Hintergrund, dass die an einer eventuellen Berufskrankheit Erkrankten auch damals schon im Rahmen des bestehenden Sozialversiche33  Breuer, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 1 Rn. 102; Bauer et al., Dritte Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten vom 16. Dezember 1936, S. 65; Podzun, BG 1951, 159 (161). 34  Breuer, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 1 Rn. 102. 35  Breuer, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 1 Rn. 102. 36  Verordnung über die Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten v. 12.05.1925, RGBl. I, S. 69. 37  Wickenhagen, Geschichte der gewerblichen Unfallversicherung, S. 186. 38  Wickenhagen, Geschichte der gewerblichen Unfallversicherung, S. 199. 39  Spellbrink, SR 2014, 140 (141); vgl. dazu Reichsrats-Drs. Nr. 23, 07.02.1925, S. 3.

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2. Kap.: Analyse

rungssystems durch die Kranken- und Rentenversicherung geschützt waren, deren Leistungsniveau aber niedriger ausfiel als das der Unfallversicherung, stellte sich die Frage der Abgrenzung.40 Aufgrund der einseitigen Finanzierung, dem Haftungsersetzungsprinzip und dem daraus resultierenden Kausalprinzip bedurfte es eines kausalen Zusammenhangs mit der betrieblichen Tätigkeit.41 Zudem wurde zur Anerkennung als Berufskrankheit für erforderlich erachtet, dass eine derartig spezifische berufliche Einwirkung vorlag, dass die soziale Notwendigkeit eines besonderen Versicherungsschutzes bestand. Es musste sich um ein versicherungsrechtliches Risiko im Zuständigkeitsbereich der Unfallversicherung handeln. Eine besondere Rolle spielten bei der Abgrenzung die Schwere der Krankheit, ihr regelmäßiger Verlauf, die normale Dauer, ihre (möglicherweise außerberuflichen) Ursachen und die Abgrenzung zu normalen Alterserscheinungen. Denn kurzfristigere Erkrankungen wurden der Krankenversicherung, normale Verschleißerscheinungen der Rentenversicherung zugeordnet.42 Nach dem Vorbild anderer Staaten hatte man sich für das Listenprinzip entschieden und nicht, wie oft gefordert, dafür, alle durch die Beschäftigung verursachten Erkrankungen in die Unfallversicherung miteinzubeziehen.43 Die Auflistung der Berufskrankheiten hatte den Vorteil, dass sie den Versicherungsträgern und Gerichten die sehr schwierige Prüfung des beschriebenen Kausalzusammenhangs zwischen Krankheit und Arbeitstätigkeit erleichterte. Der Nachteil bestand jedoch darin, dass die gesetzliche Regelung dem aktuellen medizinischen Kenntnisstand stets „nachhinkte“, sodass Versicherte teilweise nicht den erforderlichen Versicherungsschutz erhielten.44 Das starre System zur Anerkennung einer Berufskrankheit wurde deshalb durch die Einführung des damaligen § 551 Abs. 2 RVO45, heute § 9 Abs. 2 SGB VII, durchbrochen, der die Anerkennung als Wie-Berufskrankheit ermöglicht.46 Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine allgemeine Härtefallklausel.47 40  Spellbrink,

SR 2014, 140 f. Gitter/Nunius, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 5 Rn. 101, 115; Spellbrink, SR 2014, 140 (141). 42  Zum Ganzen Watermann, BG 1958, 283 (284). 43  Wickenhagen, Geschichte der gewerblichen Unfallversicherung, S. 187. 44  Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, S. 80. 45  Im Rahmen des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes v. 9.5.1963, BGBl I S. 249. 46  Breuer, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 1 Rn. 111. 47  Hamacher/Pittroff, in: HVBG, FS für Herbert Lauterbach II, S. 256 (260); Spellbrink, SGb 2013, 154 (159); Becker, VSSR 2010, 247 (263 f.). 41  Vgl.



A. Grundprinzipien147

bb) Wegeunfälle Der Wegeunfall wurde 192548 eingeführt und findet sich nun in § 8 Abs. 2 Nr. 1–4 SGB VII. Versicherte sollen auch geschützt sein, wenn sie sich infolge der betrieblichen Tätigkeit den Risiken des Weges aussetzen müssen.49 Dadurch hebelte man das Prinzip der Haftungsersetzung zugunsten des sozialen Schutzprinzips aus für Unfälle, die zwar nicht unmittelbar mit dem Unternehmen, aber dennoch sehr eng mit der Tätigkeit zusammenhängen.50 Einer solchen Systemabkehr widersprechend, hatte das RVA vor 1925 eine Ausdehnung des Versicherungsschutzes auf Wegeunfälle noch abgelehnt, weil hierbei die Voraussetzung, dass Versicherte einer betrieblichen Gefahr ausgesetzt seien, nicht gegeben sei und der Weg vielmehr der Eigenwirtschaft diene.51 Gerechtfertigt wird der Versicherungsschutz bei den Wegeunfällen mit dem Gedanken, dass den Unternehmerinnen und Unternehmern eine Schutzund Fürsorgepflicht gegenüber den Versicherten zukomme, die aus dem Arbeitsverhältnis resultiere und auch dann gelte, wenn die Unternehmer und Unternehmerinnen den Unfall nicht selbst verschuldet hätten.52 Außerdem könne der versicherte Weg i. S. d. § 8 Abs. 2 Nr. 1–4 SGB VII deshalb nicht zur Eigenwirtschaft der Versicherten gezählt werden, weil sie sich nicht freiwillig, sondern aufgrund der arbeitsvertraglichen Verpflichtung auf diesen begeben.53 Der zurückgelegte Weg diene damit indirekt dem Unternehmen, das für die Produktion auf Arbeitskräfte angewiesen sei.54 Dennoch sind die Wegeunfälle seit Aufnahme in den Versicherungsschutz der Unfallversicherung der Kritik ausgesetzt, die Ausdehnung des Versicherungsschutzes sei zu weit.55 Sie werden als Beispiel dafür angesehen, dass die Einheitlichkeit der kausalen Betrachtung in Form des kausalen Bezugs zur betrieblichen Gefährdung, die das Haftungssystem der Unfallversiche48  Zweites Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung v. 14.07.1925, RGBl. I, S. 97. 49  Breuer, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 1 Rn. 98. 50  Jantz, in: Schimmelpfennig, FS für Herbert Lauterbach I, S. 15 (17 f.); vgl. auch Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: vor § 1 SGB VII Rn. 3a. 51  Vgl. RVA, v. 13.12.1886, AN 1887, 8; v. 27.09.1887, AN 1887, 356; v. 23.12.1887, AN 1888, 176; Breuer, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 1 Rn. 87. 52  Gitter/Nunius, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 5 Rn. 119; Watermann, in: HVBG, FS für Herbert Lauterbach II, S. 33 (41). 53  Vgl. Gitter/Nunius, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 5 Rn. 122. 54  Reyels, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 1 Rn. 71. 55  Gitter/Nunius, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 5 Rn. 72; vgl. Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: vor § 1 SGB VII Rn. 9; vgl. zur Diskussion auch Kranig/Aulmann, NZS 1995, 203.

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2. Kap.: Analyse

rung bestimme, nicht mehr uneingeschränkt aufrechterhalten werden könne.56 3. Folgerungen für die Erfassung psychischer Erkrankungen Anhand der dargestellten Grundprinzipien und Veränderungen in der gesetzlichen Unfallversicherung sind Folgerungen zu ziehen, ob und welche Gründe für eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen in der gesetzlichen Unfallversicherung bestehen. Das Prinzip der Haftungsersetzung und das dadurch unter anderem verfolgte Ziel des Betriebsfriedens sprechen für eine umfangreichere Erfassung. Die betriebliche Gefahr gehört zur Risikosphäre der Unternehmerinnen und Unternehmer, sie können diese beeinflussen. Ihre Schutz- und Fürsorgepflicht für die Beschäftigten umfasst die Gestaltung von Arbeitsabläufen, die sich weder auf die physische noch psychische Gesundheit negativ belastend auswirken. Andernfalls gehören diese Fälle aufgrund der Haftungsersetzungsfunktion in den Zuständigkeitsbereich der Unfallversicherung. Beispielsweise Fälle von Mobbing unter Beschäftigten oder durch den Unternehmer oder die Unternehmerin selbst sowie negative psychische Belastungen durch ungünstige Arbeitsabläufe behindern außerdem den Betriebsfrieden und können zu (juristischen) Auseinandersetzungen führen. Das Kausalsystem der Unfallversicherung steht einer umfangreicheren Erfassung in Form der Anerkennung durch die Arbeitstätigkeit verursachter psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall jedenfalls nicht entgegen. Die Ermittlung der kausalen Verbindung zur Arbeitstätigkeit bei psychischen Erkrankungen stellt zwar eine besondere Herausforderung dar, sie ist aber grundsätzlich möglich. Auch aus den aufgezeigten Veränderungen in der Unfallversicherung lassen sich Gründe für eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen in der Unfallversicherung ziehen. Die Ausdehnung des versicherten Personenkreises auf explizit alle Beschäftigten, vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII, verdeutlicht, dass ein umfassender Schutz bezweckt ist. Es wird nicht nach der Art der Tätigkeit differenziert. Tätigkeiten, die sich verstärkt durch psychische Belastungen auszeichnen, sind also nicht von vornherein ausgeschlossen. Die praktizierte kontinuierliche Weiterentwicklung der BerufskrankheitenListe lässt die Aufnahme einer psychischen Listen-Berufskrankheit als logische Konsequenz erscheinen, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Dies würde die Aufmerksamkeit für derartige Berufskrankheiten erhöhen und 56  Watermann,

in: HVBG, FS für Herbert Lauterbach II, S. 33 (41 f.).



A. Grundprinzipien149

Erkennung und Verhütung vorantreiben, wie es seit Einführung der ersten Berufskrankheiten generell der Motivation hinter der Aufnahme von Berufskrankheiten entspricht.57 Auch die Ausdehnung des Versicherungsschutzes auf Wegeunfälle zeigt, dass sogar Unfälle anerkannt werden, die nur noch indirekt mit der betrieb­ lichen Sphäre zusammenhängen und auf die Unternehmer und Unternehmerinnen (nahezu) keine Einwirkungsmöglichkeit haben. Ein Erst-recht-Schluss spricht für die umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen in der Unfallversicherung. Denn im Gegensatz zu den Gefahren, die sich bei einem Wegeunfall verwirklichen, sind die arbeitsbedingten Umstände, die zu einer psychischen Erkrankung führen, der betrieblichen Sphäre deutlich näher. Auch haben Unternehmer und Unternehmerinnen im Gegensatz zum Wegeunfall Einwirkungsmöglichkeiten insbesondere durch Prävention. Das soziale Schutzprinzip könnte allerdings gegen eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen in der Unfallversicherung sprechen, wenn durch die Arbeitstätigkeit verursachte psychische Erkrankungen bereits durch die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung erfasst werden. Eine gänzlich fehlende Absicherung wäre dann ausgeschlossen. Allerdings verlangt das soziale Schutzprinzip auch, dass die wirtschaftlichen Folgen von Versicherungsfällen bestmöglich aufgefangen werden.58 Es könnte deshalb dann als Argument für eine umfangreichere Erfassung angeführt werden, wenn die Leistungen in der Unfallversicherung besser ausfallen als in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung und so auch besser geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit wiederherzustellen oder die Minderung der Erwerbsfähigkeit zu entschädigen. Deshalb ist im Folgenden der Vergleich des Leistungsniveaus zwischen gesetzlicher Unfallversicherung auf der einen und gesetzlicher Kranken- und Rentenversicherung auf der anderen Seite zu ziehen. 4. Ergebnis Mit den beiden tragenden Prinzipien der gesetzlichen Unfallversicherung, dem sozialen Schutzprinzip und dem Haftungsersetzungsprinzip, verfolgt die Unfallversicherung grundsätzlich den gleichen Zweck wie zur Zeit ihrer Einführung 1884. Auch heute noch liegt der Unfallversicherung der Gedanke zugrunde, dass die betriebliche Gefahr zur Risikosphäre der Unternehmer und Unternehmerinnen gehört, weil diese Betriebsablauf und -sicherheit am Wickenhagen, Geschichte der gewerblichen Unfallversicherung, S. 199. Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 1 SGB VII Rn. 4. 57  Vgl. 58  Vgl.

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2. Kap.: Analyse

ehesten beeinflussen können. Im Gegenzug zur Haftungsersetzung obliegt die Finanzierung deshalb allein ihnen, weshalb sich die Unfallversicherung im Gegensatz zu den anderen Sozialversicherungszweigen insbesondere durch ein Kausalsystem auszeichnet: Der Schaden muss kausal mit der betrieblichen Sphäre zusammenhängen. Solange an der einseitigen Finanzierung der Unfallversicherung festgehalten wird, kann auf das Kausalitätserfordernis nicht verzichtet werden. Daneben gab es jedoch auch Veränderungen im Hinblick auf den Zweck der Unfallversicherung. Durch die Ausdehnung des versicherten Personenkreises sollen nun explizit alle Beschäftigten, unabhängig von der Art ihrer Tätigkeit, in den Versicherungsschutz aufgenommen werden. Außerdem wurde der Versicherungsschutz erweitert durch die kontinuierliche Aufnahme von immer mehr Berufskrankheiten, momentan sind es 80 anerkennungsfähige Berufskrankheiten, vgl. Anlage 1 BKV. Die praktischen Schwierigkeiten hinsichtlich der Umsetzung und konkreten Bezeichnung von Berufskrankheiten waren von Anfang an bekannt. Dennoch wurde die Möglichkeit der Anerkennung als Wie-Berufskrankheit nicht als Härtefallklausel ausgestaltet. Auch im Hinblick auf das Kausalitätserfordernis kam es zu Veränderungen. Ein Beispiel für die Abschwächung des kausalen Bezugs zur betrieb­ lichen Sphäre ist in der Aufnahme von Wegeunfällen in den Versicherungsschutz zu sehen, was zeigt, dass der soziale Schutz teils stärker gewichtet wird als das Haftungsersetzungsprinzip. Gründe für eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen in der Unfallversicherung lassen sich aus dem Prinzip der Haftungsersetzung und aus den bisherigen Veränderungen in der Unfallversicherung in Form der Ausdehnung des versicherten Personenkreises, der kontinuierlichen Weiterentwicklung der Berufskrankheiten-Liste und der Aufnahme der Wegeunfälle ziehen. Der Erfassung psychischer Erkrankungen jedenfalls nicht entgegen steht das Kausalsystem der Unfallversicherung. Einzig das soziale Schutzprinzip könnte aufgrund einer bestehenden Absicherung über Kranken- und Rentenversicherung als Gegenargument angeführt werden, wenn diese äquivalent wäre. Deshalb wird im Folgenden das Leistungsniveau der gesetz­ lichen Unfallversicherung mit dem der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung verglichen.

III. Vergleich des Leistungsniveaus der gesetzlichen Unfallversicherung mit dem der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung Die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung sind vorrangig zu den Leistungen von gesetzlicher Kranken- und Rentenversicherung zu erbringen.



A. Grundprinzipien151

Wenn Leistungen als Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung zu erbringen sind, ist die Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung gem. § 11 Abs. 5 S. 1 SGB V ausgeschlossen. Dies gilt aber nur, wenn die Krankheiten unmittelbar auf einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit zurückzuführen sind, sodass die Leistungen von den Unfallversicherungsträgern tatsächlich zu erbringen sind. In anderen Fällen bleibt die Krankenversicherung zuständig.59 Eine entsprechende Regelung findet sich auch für die gesetzliche Rentenversicherung. Gem. § 93 Abs. 1 SGB VI wird die Rente aus der Rentenversicherung gar nicht oder zumindest teilweise nicht geleistet, wenn für den Zeitraum ebenfalls ein Anspruch auf eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung besteht und bestimmte Grenzbeträge überschritten werden. Dadurch soll eine Überversorgung vermieden werden.60 Auch hieraus folgt im Umkehrschluss, dass die Rentenversicherung unter den im SGB VI normierten Voraussetzungen zuständig ist, wenn es mangels Versicherungsfalls nicht zu einer Leistung in Form einer Rente durch die gesetzliche Unfallversicherung kommt. Für Betroffene von durch die Arbeitstätigkeit verursachten Gesundheitsschäden besteht also bereits ein gewisser Schutz durch die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung. Tatsächliche Abgrenzungsprobleme entstehen dann, wenn das Leistungsniveau dort niedriger ausfällt.61 1. Allgemeines Ein erster Unterscheidungspunkt liegt darin, dass die gesetzliche Unfallversicherung dem Bereich der Fremdvorsorge zuzurechnen ist, das heißt Leistungsberechtigte sind die Beschäftigten, beitragspflichtig sind die Unternehmerinnen und Unternehmer. Dagegen sind gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung zum Bereich der Eigenvorsorge zu zählen, weil die Leistungsberechtigten zugleich Beitragspflichten treffen.62 Hinsichtlich der Art der Leistungserbringung ist das Sachleistungsprinzip vorherrschend. In der gesetzlichen Unfallversicherung werden im Rahmen der Heilbehandlung die Leistungen als Dienst- und Sachleistungen und somit als Naturalleistungen zur Verfügung gestellt, vgl. § 26 Abs. 4 S. 2 SGB VII, 59  Vgl. BSG, Urt. v. 23.11.1995 – 1 RK 13/94, SozR 3-2500 § 11 Nr. 1; Becker/ Kingreen, in: Becker/Kingreen, SGB V: § 11 Rn. 32; Roters, in: Körner/Leitherer/ Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 11 SGB V Rn. 27. 60  Dankelmann, in: Kreikebohm/Roßbach, SGB VI: § 93 Rn. 3. 61  Vgl. Spellbrink, SR 2014, 140 f. 62  Eichenhofer, Sozialrecht, Rn. 268.

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2. Kap.: Analyse

sodass die Versicherten diese ohne Bezahlung oder Kostenerstattung direkt in Anspruch nehmen können.63 Gleiches gilt für die Leistungen zur medizi­ nischen Rehabilitation der gesetzlichen Rentenversicherung, vgl. §  15 SGB VI.64 Für die gesetzliche Krankenversicherung regelt § 2 Abs. 2 S. 1 SGB V das Sachleistungsprinzip, die private Krankenversicherung erbringt Leistungen jedoch nach dem Kostenerstattungsprinzip.65 Zu beachten ist auch, dass bei letzterer Zuschläge zum Beitrag oder Leistungsausschlüsse möglich sind, wenn bei Vertragsabschluss ein erhöhtes gesundheitliches Risiko vorliegt. Denn die Prämie richtet sich nach dem individuellen Krankheitsrisiko.66 2. Das Leistungsniveau bestimmende Prinzipien Gem. §§ 1, 14 Abs. 1 S. 1, 26 Abs. 2 SGB VII muss die Unfallversicherung ihre gesetzlichen Aufgaben Prävention, Rehabilitation und Entschädigung „mit allen geeigneten Mitteln“ verfolgen. Es besteht ein weiter Entscheidungsspielraum für die Leistungen, der dadurch begrenzt wird, dass die Mittel und Maßnahmen den Anforderungen des SGB VII entsprechen müssen.67 In der gesetzlichen Krankenversicherung wird das Leistungsniveau dagegen maßgeblich durch das in § 12 Abs. 1 SGB V normierte Wirtschaftlichkeitsgebot bestimmt. Dieses bildet eine Obergrenze, die das Spannungsverhältnis zwischen der Finanzierbarkeit der Krankenversicherung und einer bestmöglichen, auf die Gesundheit des individuellen Menschen und am medizinisch-technischen Fortschritt ausgerichteten Behandlung wiedergibt.68 63  BSG, Urt. v. 05.10.1995 – 2 RU 47/94, SozR 3-2200 § 557 Nr. 1, S. 3 f., juris Rn. 24; Urt. v. 24.02.2000 – B 2 U 12/99 R, SozR 3-2200 § 567 Nr. 3, S. 12, juris Rn. 16; Urt. v. 03.04.2014 – B 2 U 21/12 R, BSGE 115, 247 (249), juris Rn. 14; vgl. auch Palsherm, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 26 Rn. 22, der aber von einem „Naturalleistungsprinzip“ sprechen möchte; Feddern, in: Körner/ Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 26 SGB VII Rn. 5; Möller, SGb 2015, 423 (428). 64  Vgl. Zabre, in: Kreikebohm/Roßbach, SGB VI: § 15 Rn. 10. 65  Eichenhofer, Sozialrecht, Rn. 356; vgl. Joussen, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/ Meßling/Udsching, BeckOK: § 2 SGB V Rn. 5 ff.; Überblick zur Entstehung des Sachleistungsprinzips und Kritik daran bei Fischer, SGb 2008, 461. 66  Sodan/Adam, Handbuch des Krankenversicherungsrechts, § 42 Rn. 7; Eichenhofer, Sozialrecht, Rn. 356. 67  Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: §  1 SGB  VII Rn.  6 f.; von Koppenfels-Spies, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 1 Rn. 10. 68  Roters, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 12 SGB V Rn. 24; Ulmer, in: Eichenhofer/Koppenfels-Spies/Wenner, SGB V: § 12 SGB V Rn. 4 ff.



A. Grundprinzipien153

Sämtliche von den Krankenkassen zu erbringende Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein, wobei sie das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen, vgl. § 12 Abs. 1 S. 1 SGB V.69 Auch für die Rentenversicherung findet sich in § 13 Abs. 1 S. 1 SGB VI das Gebot, die Leistungen entsprechend den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit nach pflichtgemäßem Ermessen zu erbringen, sodass auch hier die Leistungen an strengeren Maßstäben gemessen werden.70 Zwar kommt auch in der Unfallversicherung den in § 69 SGB IV für alle Sozialversicherungsträger verankerten Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit Geltung zu.71 Ein Wirtschaftlichkeitsgebot insbesondere vergleichbar zu § 12 Abs. 1 SGB V, das die Notwendigkeit als Grenze vorgibt, kennt die Unfallversicherung bis auf wenige Ausnahmen72 jedoch nicht.73 Die Unfallversicherung folgt anstelle eines Grundsatzes der wirtschaftlichen Rehabilitation einem solchen der optimalen Rehabilitation.74 Ein Kosten-Nutzen-Vergleich, wie er in der Krankenversicherung zur Leistungsbegrenzung erfolgt,75 findet in der Unfallversicherung nicht statt.76 Das hat zur Folge, dass auch sehr hohe Kosten in Kauf zu nehmen sind, wenn nur so die Handlungsziele für das Tätigwerden der Unfallversicherungsträger, die in § 26 Abs. 2 SGB VII verankert sind, erreicht werden können.77

69  Joussen, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 12 SGB V Rn. 1. 70  Vgl. Kater, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 13 SGB VI Rn. 20; Streubel, in: Becker/Franke/Molkentin, SGB VII: § 26 Rn. 3. 71  Reyels, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 1 Rn. 53.1; Auhuber et al., Rehabilitation 2017, 55 (57). 72  Ausnahmen sind bspw. der Umfang der stationären Behandlung, § 33 Abs. 1 S. 3 SGB VII, oder die Betriebs- und Haushaltshilfe, § 54 Abs. 4 SGB VII. 73  Palsherm, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 26 Rn. 13; von Koppenfels-Spies, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 1 Rn. 10; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 1 SGB VII Rn. 7. 74  Palsherm, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 26 Rn. 14. 75  Vgl. Waltermann, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar: § 12 SGB V Rn. 5. 76  Schmitt, SGB VII, § 26 Rn. 9; Palsherm, in: Eichenhofer/von KoppenfelsSpies/Wenner, SGB VII: § 26 Rn. 15. 77  Palsherm, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 26 Rn. 11, 15; Schmitt, SGB VII, § 26 Rn. 9.

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2. Kap.: Analyse

3. Leistungsniveau bei Heilbehandlung und Geldleistungen während der Heilbehandlung Die gesetzliche Unfallversicherung bietet bei der Heilbehandlung in einigen Bereichen einen umfassenderen Schutz als die gesetzliche Krankenversicherung, so beispielsweise durch besondere Heilverfahren, die zum Teil deutlich von der Versorgung in der Krankenversicherung abweichen.78 Der Rehabilitationsumfang der Unfallversicherung wird im Vergleich zu den anderen Sozialversicherungszweigen insgesamt als der weiteste angesehen.79 Als besonderes Heilverfahren ist vorliegend das sogenannte Psychotherapeutenverfahren zu nennen, welches eine zeitnahe Versorgung von Akutintervention bis hin zur beruflichen Reintegration sowie Regelungen zum Verfahrensablauf beinhaltet.80 Im Gegensatz zu den langen Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz im Rahmen der Heilbehandlung durch die Krankenversicherung81 verpflichten sich die am Psychotherapeutenverfahren beteiligten Psychotherapeutinnen und -therapeuten, innerhalb einer Woche nach Auftragserteilung durch den Unfallversicherungsträger oder durch D-Ärzte oder -Ärztinnen mit der ambulanten Therapie zu beginnen.82 Zudem verfügen sie über spezielle Fortbildungen und Erfahrungen bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen nach traumatischen Ereignissen.83 Insgesamt gewährleistet dies ein höheres Niveau der Behandlung.

78  Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 1 SGB VII Rn. 7; Möller, SGb 2015, 423 (428); andere Ansicht bei Fischer, in: Erlenkämper/ Fichte/Fock, Sozialrecht: Kap. 17 Rn. 90: „In Art und Umfang entspricht die Heilbehandlung weitgehend der Krankenbehandlung in der GKV“. 79  Reyels, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 1 Rn. 51.1; Möller, SGb 2015, 423 (428). 80  DGUV, Grundsatz 306-001, Traumatische Ereignisse – Prävention und Reha­ bilitation, S. 8; vgl. DGUV, Psychotherapeutenverfahren; vgl. dazu auch Nienhaus et al., Bundesgesundheitsbl. 2016, 88 (95); Drechsel-Schlund/Ullmann/Angenendt, ASUMed 2018, 20 (22); Göltenbodt, in: Deutscher Sozialgerichtstag e. V., Sozialstaat, S. 248 (249). 81  Nach einer Auswertung der Bundespsychotherapeutenkammer warteten 2019 40 % der Patientinnen und Patienten mindestens drei bis neun Monate auf den Beginn einer Behandlung nach der vorherigen Feststellung, dass sie psychisch krank und behandlungsbedürftig sind. Seit der Corona-Pandemie hat sich die Lage noch verschärft, eine Umfrage der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung von Januar 2021 ergab, dass knapp 40 % nun länger als sechs Monate auf eine Behandlung warten müssen: https://www.bptk.de/bptk-auswertung-monatelange-wartezeiten-bei-psycho therapeutinnen/?cookie-state-change=1628777616066 (abgerufen am 16.12.21). 82  DGUV, Psychotherapeutenverfahren, S. 9, allerdings sind keine Angaben dazu auffindbar, inwiefern dies auch tatsächlich stets gelingt. 83  DGUV, Psychotherapeutenverfahren, S. 4.



A. Grundprinzipien155

Auch die Leistungspflicht im Bereich der Hilfsmittelversorgung ist deutlich weiter gefasst als in der gesetzlichen Krankenversicherung, sie ist nicht auf die rein medizinische Rehabilitation begrenzt.84 Das in § 47 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII normierte Verletztengeld bei einem Arbeitsunfall, welches zeitlich nicht zwingend befristet ist und den Erwerbsschaden zu 80 % kompensiert, steht dem Krankengeld gem. § 47 Abs. 1 S. 1 SGB V gegenüber, welches maximal 78 Wochen lang geleistet wird und nur bis zu einer Höhe von 70 % den Erwerbsschaden ausgleicht.85 Zur privaten Krankenversicherung ist anzumerken, dass die medizinisch notwendige Heilbehandlung durch Psychotherapie anhand von Klauseln in Allgemeinen Versicherungsbedingungen eingeschränkt werden kann. Die Heilbehandlung kann auf die Durchführung durch niedergelassene approbierte Ärztinnen und Ärzte oder in einem Krankenhaus begrenzt werden, wodurch die Behandlung durch psychologische Psychotherapeuten und -therapeutinnen ausgeschlossen wird.86 4. Leistungsvoraussetzungen und -niveau bei Renten Sowohl die gesetzliche Unfallversicherung als auch die gesetzliche Rentenversicherung erbringen bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen Geldleistungen in Form von Renten. Für die Unfallversicherung spielt dabei neben den Leistungen an Hinterbliebene, §§ 63 ff. SGB VII, die Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit, §§ 56 ff. SGB VII, die größte Rolle. Die Rentenversicherung dagegen ist neben den Renten wegen Todes, §§ 33 Abs. 4, 46 ff. SGB VI, insbesondere für die Renten wegen Alters, §§ 33 Abs. 2, 35 ff. SGB VI, bekannt. Der vorliegende Vergleich soll aber zu den dortigen Renten wegen Erwerbsminderung, §§ 33 Abs. 3 Nr. 1 u. 2, 43 SGB VI, gezogen werden, die ebenfalls wichtiger Bestandteil der Rentenversicherung sind. Gem. § 56 Abs. 1 S. 1 SGB VII ist Voraussetzung für den Erhalt einer Verletztenrente aus der Unfallversicherung eine MdE von mindestens 20 % über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus. Der Grad der MdE richtet sich gem. § 56 Abs. 2 S. 1 SGB VII nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des 84  BSG, Urt. v. 25.02.2015 – B 3 KR 13/13 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 44, Rn. 33, juris Rn. 33; Wietfeld, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK: § 1 SGB VII Rn. 7. 85  Vgl. Burmann/Jahnke, NZV 2014, 5 (7). 86  BGH, Urt. v. 15.02.2006 – IV ZR 305/04, VersR 2006, 643; Oehler, Rechtslage und Fallstricke bei psychischen Erkrankungen, S. 179.

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2. Kap.: Analyse

Erwerbslebens. Damit folgt die Bestimmung dem Prinzip der abstrakten Schadensberechnung, wobei die individuelle Erwerbsfähigkeit der Verletzten vor Eintritt des Versicherungsfalls ermittelt und mit 100 vom Hundert (v. H.) bewertet wird, unabhängig von Vorschäden.87 Es ist unerheblich, ob tatsächlich unfallbedingt Einkommenseinbußen eingetreten sind.88 Die Einschätzung der MdE erfolgt in Form der sogenannten MdE-Werte. Diese stellen Anhaltspunkte dar, die auf allgemeinen Erfahrungssätzen beruhend den nach medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu bestimmenden Funktionsverlust widerspiegeln.89 Die Höhe der Rente liegt in der Unfallversicherung gem. § 56 Abs. 3 SGB VII für die Vollrente bei zwei Drittel des Jahresarbeitsverdienstes. Ist die Erwerbsfähigkeit nur teilweise gemindert, wird die Höhe entsprechend des Prozentsatzes festgesetzt, der dem Grad der MdE entspricht. In der gesetzlichen Rentenversicherung wird der Begriff der Erwerbsminderung verwendet. Für den Erhalt einer Rente wegen Erwerbsminderung ist gem. § 43 Abs. 1 S. 2 SGB VI Voraussetzung, dass die Minderung auf nicht absehbare Zeit besteht. § 101 Abs. 1 SGB VI wird entnommen, dass sie voraussichtlich mindestens sechs Monate andauern muss.90 Daneben bestehen in der Rentenversicherung zwei zusätzliche Voraussetzungen, wie eine dreijährige Pflichtbeitragszeit gem. § 43 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB VI und das Erfüllen einer allgemeinen Wartezeit von fünf Jahren gem. § 50 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 2 SGB VI. Es wird zwischen teilweiser und voller Erwerbsminderung differenziert. Gem. § 43 Abs. 1 S. 2 SGB VI liegt eine teilweise Erwerbsminderung vor, wenn weniger als sechs Stunden täglich eine Erwerbstätigkeit möglich ist. Eine volle Minderung wird angenommen, wenn dies weniger als drei Stunden täglich möglich ist, § 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI. Man orientiert sich an konkreten Maßstäben und an den objektiv bestehenden Erwerbsmöglichkei87  BSG, Urt. v. 04.08.1955 – 2 RU 67/54, BSGE 1, 174 (178), juris Rn. 14; Urt. v. 14.11.1984 – 9b RU 38/84, SozR 2200 § 581 Nr. 22. 88  BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 16.03.2011 – 1 BvR 591/08, 1 BvR 593/08, NZS 2011, 895 (896), juris Rn. 37 ff.; BSG, Urt. v. 30.05.1988 – 2 RU 54/87, BSGE 63, 207 (209), juris Rn. 18; Seewald, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 4 SGB I Rn. 42; zum Ganzen Möller, SGb 2015, 423 (429); vgl. auch ­Peters-Lange, SGb 2019, 464 (467); Roßbruch, PflR 2020, 36 (37). 89  BSG, Urt. v. 23.06.1982 – 9b/8/8a RU 86/80, SozR 2200 § 581 Nr. 15; Urt. v. 14.11.1984 – 9b RU 38/84, SozR 2200 § 581 Nr. 22; Urt. v. 18.03.2003 – B 2 U 31/02 R, juris Rn. 17; Urt. v. 20.12.2016 – B 2 U 11/15 R, SozR 4-2700 § 56 Nr. 4; Peters-Lange, SGb 2019, 464 (467). 90  Vgl. noch zum RVO-Recht BSG, Urt. v. 23.03.1977 – 4 RJ 49/76, SozR 2200 § 1247 Nr. 16; Gürtner, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 43 SGB VI Rn. 25.



A. Grundprinzipien157

ten.91 Gem. § 96a Abs. 1a SGB VI ist die Rente auch abhängig vom erzielten Hinzuverdienst. Denn in der Rentenversicherung kommt es auf die tatsächliche Verwertbarkeit des Restleistungsvermögens auf dem gesamten Arbeitsmarkt an, es sind nicht allein die nach körperlichem, seelischem und geistigem Leistungsvermögen zu bestimmenden Erwerbsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entscheidend, wie dies in der Unfallversicherung der Fall ist.92 Die Höhe der Rente richtet sich in der Rentenversicherung wesentlich nach den durch die Versicherten gezahlten Beiträgen gem. § 63 Abs. 1 SGB VI. Es spielt somit eine große Rolle, zu welchem Zeitpunkt die Erwerbsminderung eintritt und wie lange die Versicherten zuvor Beiträge einzahlen konnten. Außerdem wird für die Rentenhöhe gem. § 67 Nr. 2 und Nr. 3 SGB VI lediglich zwischen Renten wegen teilweiser Erwerbsminderung, deren Höhe die Hälfte der Vollrente beträgt, und Renten wegen voller Erwerbsminderung unterschieden, für welche die Vollrente ausgezahlt wird. Es wird nicht weiter nach dem Grad der Erwerbsminderung differenziert. 5. Ergebnis Schon das Prinzip der Fremdvorsorge in der gesetzlichen Unfallversicherung gestaltet sich für die Versicherten günstiger, werden sie doch nicht durch zusätzliche Beiträge belastet. Zwar gilt hinsichtlich der Leistungserbringung sowohl für gesetzliche Unfallversicherung als auch für die gesetzliche Krankenversicherung das Sachleistungsprinzip, sodass sich abgesehen von der privaten Krankenversicherung keine Unterschiede ergeben. Doch aufgrund der das Leistungsniveau bestimmenden unterschiedlichen Prinzipien sind die Leistungen, die im Rahmen der Kranken- und Rentenversicherung erbracht werden, weniger umfangreich und nicht mit denen der Unfallversicherung vergleichbar.93 Dies kommt insbesondere bei dem näheren Blick auf die Leistungen im Rahmen der Heilbehandlung, gerade bei der psychotherapeutischen Behandlung, und Leistungen wie Verletztengeld beziehungsweise Krankengeld zum Ausdruck. Auch hinsichtlich der Renten erscheinen diejenigen der Rentenversicherung bei Erwerbsminderung insbesondere aufgrund der Bestimmung nach den tatsächlich bestehenden Erwerbsmöglichkeiten und der Abhängigkeit von den eingezahlten Beiträgen im Ergebnis ungünstiger als die Verletztenrenten der Unfallversicherung. Letztere können im Einzelfall wegen des Prinzips der abstrakten Schadens91  Vgl. Freudenberg, in: Skipka, JurisPK SGB VI: § 43 Rn. 75 ff.; Peters-Lange, SGb 2019, 464 (468). 92  Peters-Lange, SGb 2019, 464 (468). 93  Vgl. Streubel, in: Becker/Franke/Molkentin, SGB VII: § 26 Rn. 3.

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2. Kap.: Analyse

berechnung in der Praxis sogar zu einem höheren Einkommen führen als vor dem Versicherungsfall, wenn Versicherte zwar aufgrund ihrer MdE Verletztenrente beziehen, aber dennoch weiterhin vollständig ihrer beruflichen Tätigkeit nachgehen können.94 Im Ergebnis lässt sich deshalb feststellen, dass das Leistungsniveau in der Kranken- und Rentenversicherung niedriger ist als in der Unfallversicherung.95 Insbesondere durch dieses Problem werden Abgrenzungsfragen aufgeworfen, was dem besonderen Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung unterstellt werden soll und was nicht.96 Es lässt sich der Schluss ziehen, dass das soziale Schutzprinzip ebenfalls für eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen in der Unfallversicherung spricht, denn einzig die Unfallversicherung gewährleistet die bestmöglichste Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit beziehungsweise eine höhere Entschädigung bei fortbleibend geminderter Erwerbsfähigkeit.

IV. Fazit Die Betrachtung des hinter dem versicherten Personenkreis und den Versicherungsfällen stehenden Telos der gesetzlichen Unfallversicherung hat ergeben, dass mehrere Gründe für eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen, die durch die Arbeitstätigkeit verursacht sind, in der gesetzlichen Unfallversicherung sprechen. Sowohl das Prinzip der Haftungsersetzung als auch die bisherigen Veränderungen in der Unfallversicherung in Form der Ausdehnung des versicherten Personenkreises, der kontinuierlichen Weiterentwicklung der Berufskrankheiten-Liste und der Aufnahme der Wegeunfälle sprechen letztlich für eine umfangreichere Erfassung. Der Erfassung psychischer Erkrankungen jedenfalls nicht entgegen steht das Kausalsystem der Unfallversicherung. Auch aus dem sozialen Schutzprinzip lassen sich letztlich Gründe für eine umfangreichere Erfassung ziehen. Denn es besteht zwar eine gewisse Absicherung über die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung. Allerdings fällt das Leistungsniveau dort niedriger aus. Durch das höhere Niveau sind die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung besser geeignet, die Erwerbsfähigkeit wiederherzustellen oder die Minderung der Erwerbsfähigkeit zu entschädigen. 94  Vgl. Seewald, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 4 SGB I Rn. 42; Roßbruch, PflR 2020, 36 (37). 95  Vgl. so im Ergebnis im Vergleich zum Krankenversicherungsrecht auch Spellbrink, in: Ruland/Becker/Axer/Maydell, SRH: § 16 Rn. 144; vgl. Steiger-Sackmann, Schutz vor psychischen Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz, Rn. 840 zur ähnlichen Situation in der Schweiz, sodass die fehlende Anerkennung psychischer Erkrankungen aufgrund des geringeren Leistungsniveaus zu Lasten der Versicherten geht. 96  Vgl. Spellbrink, SR 2014, 140 f.



B. Die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung159

B. Die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung Um die Frage zu klären, ob und welche Gründe für eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen in der gesetzlichen Unfallversicherung sprechen, ist außerdem ein Blick auf die Aufgaben der Unfallversicherung zu werfen. Nach § 1 SGB VII lassen sie sich in drei Bereiche unterteilen: Prävention, Rehabilitation und Entschädigung. Im Folgenden sollen sie daraufhin untersucht werden, wie sich die Aufgaben speziell in Bezug auf psychische Erkrankungen gestalten, inwiefern die Unfallversicherung ihren Aufgaben bereits gerecht wird oder wo noch Verbesserungspotential besteht. Daraus werden sodann Folgerungen zur Beantwortung der obigen Frage gezogen.

I. Die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung in Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen 1. Prävention Gem. §§ 1 Nr. 1, 14 Abs. 1 SGB VII ist es Aufgabe der Unfallversicherung, mit allen geeigneten Mitteln Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten sowie arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu verhüten. Anders als Rehabilitation und Entschädigung setzt der Präventionsauftrag nicht zwingend einen Versicherungsfall voraus, sondern erstreckt sich zudem auf die Abwehr arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren.97 Deshalb spielt Prävention für arbeitsbedingte psychische Belastungen und Erkrankungen eine große Rolle, weil häufig keine Anerkennung als Arbeitsunfall mangels zeitlich begrenztem Ereignis und keine Anerkennung als (Wie-)Berufskrankheit in Frage kommt.98 Arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren können definiert werden als jede Möglichkeit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung, die infolge betrieblicher Einflüsse, der Risiken des Arbeitsplatzes und entsprechender Tätigkeiten entsteht.99 Beispielsweise Mobbing ordnet man als arbeitsbedingte Gesundheitsgefahr ein, sodass die Unfallversicherungsträger Maßnahmen zur Ver­ hütung zu erbringen haben.100 Arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren sind 97  von Koppenfels-Spies, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 1 Rn. 14, erst seit Eingliederung der Unfallversicherung in das SGB durch das UVEG. 98  Vgl. Siefert, VSSAR 2019, 339 (342). 99  Reyels, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 1 Rn. 38; Kutscher/Stoy, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 40 Rn. 16. 100  Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 173; Paridon, BG 2003, 154 (157); Weber/Hörmann/Köllner, Gesundheitswesen 2007, 267 (275).

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2. Kap.: Analyse

grundlegend von den beiden Versicherungsfällen Arbeitsunfall und Berufskrankheit zu unterscheiden, da sie nicht zu eigenen, individuell einklagbaren Ansprüchen der Versicherten auf konkrete Einzelmaßnahmen führen.101 a) Zuständigkeitsverteilung innerhalb der Prävention Die Zuständigkeit für die Prävention ist geprägt von einem Dualismus zwischen den Unfallversicherungsträgern und den Arbeitsschutzbehörden.102 Die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie, die durch das Unfallver­ sicherungsmodernisierungsgesetz vom 30.10.2008103 kodifiziert wurde, sollte diesen überwinden und Arbeitsschutzrecht und unfallversicherungsrechtliche Regelungen miteinander verbinden.104 Dies kommt unter anderem in § 14 Abs. 3 SGB VII und § 20a Abs. 1 ArbSchG zum Ausdruck.105 Die Rechtsgrundlagen für die Prävention finden sich deshalb insbesondere in §§ 14 ff. SGB VII und im Arbeitsschutzgesetz106.107 Zwar richtet sich der Präventionsauftrag in §§ 1 Nr. 1, 14 Abs. 1 SGB VII an die Unfallversicherungsträger, dadurch wird aber nicht den vorrangig zur Durchführung von Arbeitsschutzmaßnahmen verpflichteten Unternehmerinnen und Unternehmern die Aufgabe der Prävention abgenommen.108 Letztere sind gem. § 2 Abs. 1 ArbSchG verantwortlich für Maßnahmen zur Verhütung von Unfällen bei der Arbeit und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren einschließlich Maßnahmen der menschengerechten Gestaltung der Arbeit. Sie müssen die Arbeit so gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und die psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst geringgehalten wird, vgl. § 4 Nr. 1 ArbSchG. Die Unfallversicherungsträger übernehmen die Aufgabe der Steuerung, somit die Beratung der beteiligten Verantwortlichen des Arbeitslebens, die Durchführung der notwendigen Forschung und den Erlass von Unfallverhütungsvorschriften.109 Deutlich wird die Aufgabe der Unfallversicherungs101  Becker, in: Bender/Eicher, FS saarländische Sozialgerichtsbarkeit, S.  105 (107); Paridon, BG 2003, 154 (157). 102  Keller, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: Einführung E 050 S. 6, kritisch; Becker, BPUVZ 2012, 82 (83). 103  BGBl. I S. 2130. 104  Vgl. Becker, BPUVZ 2012, 82 (83 f.). 105  Vgl. Becker, BPUVZ 2012, 82 (83 f.). 106  ArbSchG v. 07.08.1996, BGBl. I S. 1246. 107  Becker, BPUVZ 2012, 82 (84). 108  Jung/Brose, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 14 Rn. 19; vgl. Siefert, VSSAR 2019, 339 (340). 109  von Koppenfels-Spies, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB VII: § 1 Rn. 12; Kutscher/Stoy, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 40 Rn. 1.



B. Die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung161

träger am Beispiel der Früherkennung psychischer Belastungen, wie beispielsweise bei einem Banküberfall auf das Bankpersonal. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e. V. (DGUV) stellt unterstützend Materialien zur Verfügung,110 wer wann wie und mit wem aktiv werden muss hinsichtlich Schulung, Ansprache Betroffener nach dem Ereignis sowie Kooperation zwischen den einzelnen Beteiligten.111 b) Verschiedene Bereiche der Prävention Innerhalb der Prävention kann nach dem Zeitpunkt des Ansetzens der Maßnahmen zwischen Primärprävention, Sekundärprävention und Tertiärprävention differenziert werden.112 Die Primärprävention umfasst Maßnahmen zur Ausschaltung schädlicher Faktoren, bevor sie wirksam werden.113 Hier spielt für psychische Belastungen insbesondere die Gefährdungsbeurteilung als Grundlage für weitere Maßnahmen eine wichtige Rolle, um am Arbeitsplatz vorhandene Gefährdungen strukturiert festzustellen und zu bewerten.114 § 5 Abs. 1 ArbSchG verpflichtet Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen zu einer Gefährdungsbeurteilung, bei der gem. § 5 Abs. 3 Nr. 6 ArbSchG auch psychische Belastungen der Arbeit zu berücksichtigen sind.115 Dabei geht es nicht um individuelle Belastungen oder psychische Erkrankungen einzelner Personen, sondern um die aus der Tätigkeit resultierenden Belastungen.116 Allerdings ist gesetzlich nur das „Ob“, nicht aber das „Wie“ der Gefährdungsbeurteilung vorgeschrieben.117 Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hat bestimmte Mindestanforderungen an die Gefährdungsbe110  Vgl. dazu insbesondere: DGUV, Grundsatz 306-001, Traumatische Ereignisse – Prävention und Rehabilitation; DGUV, Information 206-023, Standards in der betrieblichen psychologischen Erstbetreuung (bpE) bei traumatischen Ereignissen; DGUV, Information 206-026, Psychische Belastung – der Schritt der Risikobeurteilung; DGUV, Information 206-018, Trauma-Psyche-Job, Ein Leitfaden für Aufsichtspersonen; DGUV, Information 206-030, Umgang mit psychisch beeinträchtigten Beschäftigten, Handlungsleitfaden für Führungskräfte. 111  Vgl. Mehrhoff, in: Blumenthal/Schliehe, FS 100 Jahre DVfR, S. 189 (193). 112  Kutscher/Stoy, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 40 Rn. 2. 113  Kutscher/Stoy, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 40 Rn. 2. 114  Gerlach, Trauma und Berufskrankheit 2012, 180; DGUV, Grundsatz 306-001, Traumatische Ereignisse – Prävention und Rehabilitation, S. 6. 115  Vgl. BAuA: Rothe et al., Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt, S. 102, die Klarstellung, dass auch die psychische Gesundheit zu berücksichtigen ist, existiert seit 2013. 116  DGUV, Erkrankungsrisiken durch arbeitsbedingte psychische Belastung, S. 4. 117  Cusumano et al., SR 2017, 58 (66).

162

2. Kap.: Analyse

urteilung psychischer Belastungen herausgearbeitet: Basis sollen fundierte Theorien über den Zusammenhang von Arbeitsmerkmalen und psychischer Gesundheit sein. Dabei sollen empirisch erprobte Instrumente zum Einsatz kommen, nicht etwa selbstkonstruierte Fragebögen. Zielführend ist eine Kombination aus einem objektiven und subjektiven Verfahren, bei dem objektive Daten durch die subjektive Bewertung von Arbeitsmerkmalen durch die Beschäftigten ergänzt werden.118 Auch von der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie und der DGUV existieren inzwischen Informationsbroschüren zur Durchführung der Gefährdungsbeurteilung bei psychischen Belastungen.119 Die in den §§ 17–19 SGB VII zum Ausdruck kommende Überwachungspflicht der Unfallversicherungsträger umfasst auch die Überwachung der Durchführung der Gefährdungsbeurteilung.120 In tatsächlicher Hinsicht ist jedoch problematisch, dass laut einer Befragung 2015 nur 22 % aller Betriebe nach eigenen Auskünften über eine Gefährdungsbeurteilung, die auch psychische Belastungsfaktoren berücksichtigt, verfügten. Selbst in Großbetrieben mit 250 und mehr Beschäftigten wurde sie nur in etwa 30 % der Betriebe durchgeführt.121 Ebenfalls problematisch ist, dass die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen und die „klassische“, technisch geprägte Gefährdungsbeurteilung oft voneinander getrennt durchgeführt werden, obwohl es einer Gesamtbetrachtung der relevanten Einflüsse und eines engen Informationsaustauschs bedarf.122 Ein Ansatzpunkt wäre, den Betriebsrat in dieser Hinsicht besser zu schulen, denn er kann über sein Mitbestimmungsrecht gem. § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG eine Gefährdungsbeurteilung hinsichtlich psychischer Belastungen einfordern.123 Die Primärprävention umfasst neben technischen Maßnahmen organisatorische Maßnahmen, wie die Ausbildung von Ersthelfenden bei traumatischen Ereignissen sowie Zusammenarbeitskonzepte mit professionellen Kriseninterventionsteams, und personelle Maßnahmen, wie die Vorbereitung poten­ ziell gefährdeter Personen auf mögliche psychisch belastende Situationen.124 118  BAuA: Rau et al., Untersuchung arbeitsbedingter Ursachen für das Auftreten von depressiven Störungen, S. 116 f.; Balikcioglu, DRV 2017, 88 (92). 119  GDA, Empfehlungen zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung; DGUV, Information 206-026, Psychische Belastung – der Schritt der Risikobeurteilung. 120  Becker, BPUVZ 2012, 82 (85). 121  BAuA: Rothe et al., Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt, S. 93; vgl. auch Beermann/Schütte, SozSich 2017, 305; Fergen, SozSich 2017, 313 (315). 122  BAuA: Rothe et al., Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt, S. 122. 123  Vgl. Brück/Schröer, BEPR 2018, 350 (352). 124  Gerlach, Trauma und Berufskrankheit 2012, 180 f.; vgl. dazu auch DGUV, Grundsatz 306-001, Traumatische Ereignisse – Prävention und Rehabilitation, S. 6.



B. Die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung163

Im Rahmen von Schulungen der Beschäftigten kann die Entstigmatisierung arbeitsbedingter psychischer Erkrankungen vorangetrieben werden.125 Gegen psychische Gewalt, Aggression, Mobbing und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz kann eine organisatorische Maßnahme durch die Unfallversicherungsträger sein, zur Enttabuisierung des Themas Artikel in Mitgliederzeitschriften zu veröffentlichen, Veranstaltungen und Vorträge zu organisieren sowie Personal in deeskalierender Kommunikation zu qualifizieren.126 Im Rahmen der Sekundärprävention geht es um Maßnahmen zur unmittelbaren Betreuung und Unterstützung nach dem traumatischen Ereignis, die dazu beitragen, die Betroffenen zu stabilisieren und zu verhindern, dass sich die psychische Situation verschlimmert.127 Die sogenannte betriebliche psychologische Erstbetreuung bei traumatischen Ereignissen konkretisiert die Handlungsoptionen und wird durch die DGUV definiert als die „durch Arbeitgebende kurzfristig und ereignisnah angebotene methodisch-strukturierte, nicht-therapeutische psychosoziale Beratung und Unterstützung für Betroffene von traumatischen Ereignissen durch speziell qualifizierte Erstbetreuerinnen und Erstbetreuer. Die betriebliche psychologische Erstbetreuung beinhaltet die Bedürfnis- und Bedarfserhebung, die psychische Stabilisierung sowie die Vermittlung in das soziale Netzwerk der Betroffenen und/oder in mittel- und gegebenenfalls längerfristige psychosoziale Hilfen.“128 Abgesehen vom Zeitpunkt des Ansetzens lässt sich Prävention auch danach unterschieden, ob die Maßnahmen am Verhalten ansetzen wie das Vermeiden oder Minimieren gesundheitskritischer Verhaltensweisen, sogenannte Verhaltensprävention, oder an den Verhältnissen der Arbeit durch bauliche, technische oder organisatorische Maßnahmen, sogenannte Verhältnisprävention.129 Verhaltenspräventive Maßnahmen können sinnvoll sein, jedoch erst, wenn keine verhältnispräventiven Maßnahmen mehr zu Verfügung stehen oder sie eine Ergänzung zu letzteren darstellen.130 Zuletzt lässt sich Prävention danach differenzieren, an wen die Maßnahmen gerichtet sind: Die sogenannte Generalprävention soll Gesundheitsge125  Schneider,

(310).

BEPR 2018, 210; vgl. auch Beermann/Schütte, SozSich 2017, 305

126  Nienhaus et al., Bundesgesundheitsbl. 2016, 88 (93 f.); vgl. auch Paridon, BG 2003, 154 (157 f.). 127  DGUV, Grundsatz 306-001, Traumatische Ereignisse – Prävention und Rehabilitation, S. 7; Drechsel-Schlund/Ullmann/Angenendt, ASUMed 2018, 20. 128  DGUV, Information 206-023, Standards in der betrieblichen psychologischen Erstbetreuung (bpE) bei traumatischen Ereignissen, S. 7; DGUV, Grundsatz 306-001, Traumatische Ereignisse – Prävention und Rehabilitation, S. 7. 129  Cusumano et al., SR 2017, 58 (59 f.). 130  Cusumano et al., SR 2017, 58 (60).

164

2. Kap.: Analyse

fahren am Arbeitsplatz verringern und betrifft vorrangig die Umsetzung der im Arbeitsschutzrecht normierten Pflichten der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Die sogenannte Individualprävention umfasst Schutzmaßnahmen speziell für Personen, die ein durch individuelle Umstände höheres einschlägiges Erkrankungsrisiko haben, bei denen sich das Risiko bereits verwirklicht oder sogar schon erste Symptome auftreten.131 Eine besondere Rolle im Rahmen der Individualprävention kommt § 3 BKV zu, der auch für die Individualprävention psychischer Erkrankungen fruchtbar gemacht werden könnte. Er konkretisiert bislang die Pflicht der Unfallversicherungsträger gegenüber den einzelnen Versicherten, sie vor Gesundheitsgefahren zu schützen, die durch das Entstehen, Wiederaufleben oder das Verschlimmern einer Berufskrankheit auftreten können.132 Der Unterschied zum „klassischen“ Präventionsauftrag der Unfallversicherungsträger nach §§ 1 Nr. 1, 14 Abs. 1 SGB VII besteht darin, dass die Unfallver­ sicherungsträger für ihre Pflicht nach § 3 BKV verschiedene Abwehrinstrumente erhalten, also nicht auf Steuerung und Beratung beschränkt sind.133 Die Maßnahmen können die Beratung der Versicherten bezüglich präventiven Verhaltens und persönlicher Schutzmaßnahmen, vorbeugende medizinische Behandlung einschließlich Arzneimittelversorgung, berufliche Rehabilitation bei Tätigkeitswechsel oder Hinwirken auf Arbeitsumstellungen im Betrieb umfassen.134 Liegt eine entsprechende Gefahr vor, haben die Versicherten sogar einen Rechtsanspruch auf Maßnahmen, wobei die Unfallversicherungsträger ein Auswahlermessen hinsichtlich der geeigneten Mittel haben.135 Diese Möglichkeit für die Unfallversicherungsträger, bereits im Früh­ stadium verschiedene gestufte Maßnahmen zu initiieren, hat sich bei Haut­ erkrankungen bewährt, die Zahl der anerkannten Berufskrankheiten und der Tätigkeitsaufgaben ging deutlich zurück.136 Die Maßnahmen wie ambulante Heilbehandlungen, stationäre Maßnahmen, persönliche Schutzmaßnahmen oder Hautschutzseminare werden dort gestuft gewährt, sodass niedrigschwelligere zuerst erbracht werden.137 Aufgrund der positiven Erfahrungen schlägt man vor, die Möglichkeiten im Rahmen des § 3 BKV auch auf Fälle psychischer Belastungen zu übertragen. So könnte psychischen Erkrankungen vorbeugt werden, wenn Anhaltspunkte einer beruflichen Beeinflussung beste131  Brandenburg

et al., DGUV-Forum 2018 Nr. 12, 10 (12). in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 3 BKV Rn. 1. 133  Vgl. Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 3 BKV Rn. 1. 134  Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 3 BKV Rn. 60. 135  Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 3 BKV Rn. 60. 136  Drechsel-Schlund, MEDSACH 2014, 153 (157); Schneider/Krohn/DrechselSchlund, DGUV-Forum 2018 Nr. 12, 14 (17 ff.). 137  Schneider/Krohn/Drechsel-Schlund, DGUV-Forum 2018 Nr. 12, 14 (18). 132  Römer,



B. Die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung165

hen.138 Weil § 3 Abs. 1 S. 1 BKV allerdings eine drohende Berufskrankheit voraussetzt, wäre eine Reform von § 3 BKV nötig.139 Entsprechend dem aktuellen Gefahrbegriff in § 3 BKV müsste nach den Umständen des Falles die zu besorgende Wahrscheinlichkeit bestehen, dass es zu einer psychischen Erkrankung kommt. Nicht ausreichend wäre, dass eine Tätigkeit ausgeübt wird, bei der allgemein eine entsprechende Erkrankung auftreten kann, sondern die Gefahr muss den einzelnen Versicherten persönlich und konkret am jeweiligen Arbeitsplatz drohen. Sie müsste höher sein als die Gefahren für andere Versicherte bei vergleichbarer Tätigkeit und in absehbarer Zeit müsste mit der Entstehung der Erkrankung zu rechnen sein.140 Im Sinne der Prävention und eines schnellen Handelns sollte das Kausalitäts­erfordernis allerdings ähnlich wie bei der Rehabilitation141 nicht zu streng behandelt werden. Eine Anwendung des kompletten § 3 BKV auf psychische Erkrankungen wäre jedoch zu weitgehend. Die Erbringung von Übergangsleistungen nach § 3 Abs. 2 BKV würde eine unangemessene finanzielle Belastung der Unfallversicherung durch Erkrankungen, die zumindest derzeit häufig nicht als Versicherungsfall anerkannt werden können, bedeuten. Sinnvoll wäre aber die Einführung eines Abs. 3, der die genannten Maßnahmen der Individualprävention im Rahmen des § 3 Abs. 1 S. 1 BKV bei der Gefahr psychischer Erkrankungen, die durch beruflich bedingte psychische Belastungen ausgelöst werden, für anwendbar erklärt. Denn die Verringerung von Fehlzeiten und Tätigkeitsaufgaben aufgrund psychischer Erkrankungen sowie die Verbesserung der psychischen Gesundheit der Beschäftigten durch die Nutzung des gut ausgebauten und etablierten Systems der Prävention in der gesetz­ lichen Unfallversicherung steht im Interesse aller. c) Zwischenergebnis Der Präventionsauftrag gilt nicht nur für Versicherungsfälle, sondern ebenfalls für arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren. Für arbeitsbedingte psychische Erkrankungen, die nach aktueller Rechtslage häufig nicht als Versicherungsfall anerkannt werden können, spielt er deshalb eine große Rolle. In tatsächlicher Hinsicht existiert eine Vielzahl an ausführlichen, unterstützenden Materialien zur Information, welche die Unfallversicherungsträger zur Steuerung der Prävention von psychischen Erkrankungen zur Verfügung stellen. Nicht zufriedenstellend ist bislang die Durchführung der gesetzlich vorgeschriebe138  Drechsel-Schlund,

MEDSACH 2014, 153 (157 f.). MEDSACH 2014, 153 (157 f.). 140  Vgl. zum Gefahrenbegriff in § 3 BKV Ricke, in: Körner/Leitherer/Mutschler/ Rolfs, KassKomm: § 3 BKV Rn. 61. 141  Vgl. u. S. 166. 139  Drechsel-Schlund,

166

2. Kap.: Analyse

nen Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen, die trotz bestehender Pflicht der Unfallversicherungsträger zur Überwachung der Durchführung nur selten stattfindet. Der Grundsatz, dass verhältnispräventive vor verhaltens­ präventiven Maßnahmen zu erfolgen haben, gilt auch für psychische Belastungen und Erkrankungen. In rechtlicher Hinsicht besteht Verbesserungs­ potential bei der Individualprävention. § 3 Abs. 1 S. 1 BKV könnte als Zwischenlösung, bis die Anerkennung psychischer Erkrankungen als Berufskrankheit möglich ist, zwecks individualpräventiver Maßnahmen auch bei der Gefahr psychischer Erkrankungen, die durch beruflich bedingte psychische Belastungen ausgelöst werden, Anwendung finden. 2. Rehabilitation Gem. § 1 Nr. 2 SGB VII ist es Aufgabe der Unfallversicherung, nach Eintritt von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit der Versicherten mit allen geeigneten Mitteln wiederherzustellen. Zwar haben die Unfallversicherungsträger im Rahmen der Rehabilitation entsprechend keine Leistungen zu erbringen, wenn kein Versicherungsfall vorliegt. Vielmehr sind dann andere Sozialversicherungsträger zuständig.142 Im Hinblick auf psychische Erkrankungen hat die Rehabilitation aber als oberstes Ziel, die Entwicklung oder Chronifizierung einer psychischen Erkrankung zu vermeiden und die Teilhabe zu sichern.143 Aus diesem Grund hat schnelle und rechtzeitige therapeutische Hilfe stets Vorrang vor einer komplexen Kausalitätsprüfung.144 a) Das Psychotherapeutenverfahren der DGUV 2012 wurde das sogenannte Psychotherapeutenverfahren der DGUV eingeführt.145 Es stellt ein besonderes Heilverfahren nach § 34 Abs. 1 S. 3 SGB VII dar146 und ist in § 1 Abs. 2 des mit der Kassenärztlichen Vereinigung abgeschlossenen Vertrags Ärzte/Unfallversicherung nach § 34 Abs. 3 SGB VII Paridon, BG 2003, 154 (155). in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 34 SGB VII Rn. 20; DGUV, Grundsatz 306-001, Traumatische Ereignisse – Prävention und Rehabilitation, S. 8. 144  DGUV, Grundsatz 306-001, Traumatische Ereignisse – Prävention und Rehabilitation, S. 8. 145  Drechsel-Schlund/Scholtysik/Ullmann, DGUV-Forum 2015 Nr. 10, 18; Drechsel-Schlund/Ullmann/Angenendt, ASUMed 2018, 20 (22). 146  Feddern, in: Körner/Leitherer/Mutschler/Rolfs, KassKomm: § 34 SGB VII Rn. 20. 142  Vgl.

143  Feddern,



B. Die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung167

verankert.147 Das Psychotherapeutenverfahren umfasst die zeitnahe Versorgung von Akutintervention bis hin zur beruflichen Reintegration sowie Regelungen zum Verfahrensablauf.148 Neben Handlungsanleitungen nennt es auch die Qualifikationsvoraussetzungen. Ärztliche oder psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten bedürfen neben der Approbation spezieller Fortbildungen hinsichtlich psychischer Erkrankungen nach traumatischen Ereignissen, einer Mindestanzahl an bestimmten Behandlungsfällen sowie der Teilnahme an einer Einführungsveranstaltung der DGUV.149 Ihre Beteiligung erfolgt auf Antrag durch öffentlich-rechtlichen Vertrag nach § 53 SGB X mit dem zuständigen Landesverband der DGUV.150 Sie verpflichten sich zu gewährleisten, dass der erste Behandlungstermin innerhalb einer Woche nach Auftragserteilung stattfinden kann, zu formgebundenen und kontinuierlichen Berichten an die Unfallversicherungsträger und zu einem Fokus auf die rasche berufliche Reintegration.151 Professionelle psychotherapeutische Versorgung kann durch die Unfallversicherungsträger schon bei unspezifischen psychopathologischen Auffälligkeiten, bei Verdacht auf klinisch relevante Unfallfolgebeschwerden oder bei besonderen Risikofaktoren erbracht werden, es bedarf nicht beispielsweise einer diagnostizierten PTBS.152 D-Ärztinnen und -Ärzte und Unfallversicherungsträger haben eine Lotsenfunktion für die Heilverfahrenssteuerung.153 Sie schalten bei psychischen Auffälligkeiten oder der Manifestation einer psychischen Erkrankung psychotherapeutisches Fachpersonal ein, ein Antrag der Versicherten ist nicht nötig.154 Problematisch ist hieran, ob Fachärztinnen und -ärzte der Unfallchirurgie und Orthopädie155 für eine solche Einschät147  Abrufbar unter: https://www.dguv.de/medien/inhalt/reha_leistung/verguetung/ 2021-01-07-aerztevertrag.pdf (abgerufen am 16.12.2021). 148  Vgl. bereits o. S. 154; DGUV, Grundsatz 306-001, Traumatische Ereignisse – Prävention und Rehabilitation, S. 8; vgl. DGUV, Psychotherapeutenverfahren; vgl. dazu auch Nienhaus et al., Bundesgesundheitsbl. 2016, 88 (95); Drechsel-Schlund/ Ullmann/Angenendt, ASUMed 2018, 20 (22); Göltenbodt, in: Deutscher Sozialgerichtstag e. V., Sozialstaat, S. 248 (249). 149  DGUV, Psychotherapeutenverfahren, S. 5 f., Ziff. 2; DGUV, Grundsatz 306001, Traumatische Ereignisse – Prävention und Rehabilitation, S. 8; vgl. auch Drechsel-Schlund/Ullmann/Angenendt, ASUMed 2018, 20 (22); Drechsel-Schlund/Hauck, Trauma und Berufskrankheit 2015, 96 f. 150  DGUV, Psychotherapeutenverfahren, S. 8, Ziff. 5.1. 151  Vgl. DGUV, Psychotherapeutenverfahren, S. 7  f., Ziff. 4; Drechsel-Schlund/ Ullmann/Angenendt, ASUMed 2018, 20 (22). 152  Drechsel-Schlund/Ullmann/Angenendt, ASUMed 2018, 20 (21). 153  Nienhaus et al., Bundesgesundheitsbl. 2016, 88 (95). 154  Drechsel-Schlund/Ullmann/Angenendt, ASUMed 2018, 20 (22 f.). 155  D-Ärztinnen und -Ärzte müssen grundsätzlich die Facharztbezeichnung „Orthopädie und Unfallchirurgie“ führen, vgl. DGUV, Anforderungen der gesetzlichen

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2. Kap.: Analyse

zung geeignet sind. Anders als für Augen-, Hals-Nasen-Ohren-Verletzungen sowie Verletzungen der Hand156 existiert für psychische Erkrankungen bislang keine Ausnahme vom Vorstellungserfordernis bei D-Ärztinnen und -Ärzten. Abgesehen davon wird angeführt, dass es in Abstimmung mit dem zuständigen Unfallversicherungsträger und auf Grundlage eines Betreuungskonzepts in tatsächlicher Hinsicht auch bereits möglich sei, dass betriebs- und werksärztlicher Dienst Versicherte nach Gewaltereignissen auch ohne Einschaltung von D-Arzt oder -Ärztin eine psychotherapeutische Behandlung vermitteln. Dies geschehe bislang bei großen Verkehrsbetrieben mit häufigen Gewaltereignissen. Das umfassende Betreuungskonzept für traumatische Ereignisse müsse insbesondere Vorsorge treffen für Personen mit sekundärer Traumatisierung wie Ersthelfende und Brandschutzhelfende oder Personen, bei denen die psychische Belastung erst mit zeitlicher Verzögerung erkennbar werde. Ideal sei es, wenn betriebsärztliche Dienste potenziell Betroffene beobachten und identifizieren im Sinne einer systematischen und aufmerk­ samen Verlaufsbeobachtung.157 Kritisch anzumerken bleibt, dass dieses Verfahren nicht in den Vorschriften zum Psychotherapeutenverfahren158 aufgeführt ist. Das Psychotherapeutenverfahren ermöglicht schnelle Hilfe für die Betroffenen im Rahmen von bis zu fünf „probatorischen“ Sitzungen.159 Die erste Sitzung erfolgt innerhalb einer Woche nach Behandlungsauftrag durch Unfallversicherungsträger oder D-Arzt oder -Ärztin ohne eine Kausalitätsprüfung oder sonstige Genehmigungserfordernisse.160 Die in rechtlicher Hinsicht eigentlich notwendige Beurteilung, ob ein Versicherungsfall vorliegt, vgl. § 1 Nr. 2 SGB VII, ob also im Rahmen des Arbeitsunfalls161 die psychische Erkrankung kausal durch ein Unfallereignis bedingt ist, wird zunächst im InteUnfallversicherungsträger nach § 34 SGB VII zur Beteiligung am Durchgangsarztverfahren, Ziff. 2.1, abrufbar unter: https://www.dguv.de/medien/landesverbaende/de/ med_reha/documents/d_arzt3.pdf (abgerufen am 16.12.2021). 156  Vgl. § 26 Abs. 2 Vertrag Ärzte/Unfallversicherung nach § 34 Abs. 3 SGB VII, abrufbar unter: https://www.dguv.de/medien/inhalt/reha_leistung/verguetung/202101-07-aerztevertrag.pdf (abgerufen am 16.12.2021). 157  Zum Ganzen: Drechsel-Schlund/Ullmann/Angenendt, ASUMed 2018, 20 (23 f.); vgl. Nienhaus et al., Bundesgesundheitsbl. 2016, 88 (95). 158  DGUV, Psychotherapeutenverfahren. 159  DGUV, Psychotherapeutenverfahren, S. 9, Ziff. 3. 160  DGUV, Psychotherapeutenverfahren, S. 9, Ziff. 1 f.; DGUV, Grundsatz 306001, Traumatische Ereignisse – Prävention und Rehabilitation, S. 8; vgl. auch Drechsel-Schlund/Ullmann/Angenendt, ASUMed 2018, 20 (23). 161  Mangels Anerkennung als (Wie-)Berufskrankheit kommt bislang noch einzig der Arbeitsunfall als Versicherungsfall in Betracht.



B. Die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung169

resse der Frühintervention und der Vermeidung von Chronifizierungen zurückgestellt.162 Die Hälfte der Fälle konnte 2016 bereits nach den fünf Sitzungen abgeschlossen werden, die andere Hälfte bedurfte jedoch einer län­ geren Behandlung.163 Die Fortführung nach den fünf Sitzungen bedarf der Genehmigung durch den zuständigen Unfallversicherungsträger.164 Wenn Hinweise auf eine Verursachung durch vordergründig unfallunabhängige Faktoren wie beispielsweise psychische Vorerkrankungen bestehen, kontaktiert der zuständige Unfallversicherungsträger in Absprache mit den behandelnden Psychotherapeutinnen oder Psychotherapeuten die zuständigen Leistungsträger für einen möglichst nahtlosen Übergang der ambulanten Psychotherapie. Auch kann eine Begutachtung zur Klärung der Leistungspflicht des jeweiligen Unfallversicherungsträgers nötig werden.165 Insbesondere bei psychischen Erkrankungen kommt das sogenannte CaseManagement, in der Unfallversicherung Reha-Management genannt, zum Einsatz.166 Darunter ist ein Ansatz zur Versorgungssteuerung komplexer Bedarfssituationen zu verstehen.167 Im Hinblick auf psychische Erkrankungen betrifft es Fälle, in denen mehrere, individuell aufeinander abgestimmte Maßnahmen erforderlich sind und/oder mehrere Leistungsträger zuständig sind.168 Eine Person, Reha-Manager oder -Managerin genannt, ist für die gesamte Fallsteuerung verantwortlich.169 Ein Handlungsleitfaden schafft einen einheitlichen Standard für alle Unfallversicherungsträger.170 b) Problem der Meldung von Unfällen Das Hauptproblem in tatsächlicher Hinsicht in Bezug auf psychische Erkrankungen besteht bei der Rehabilitation darin, dass die Fälle nicht oder 162  Drechsel-Schlund/Ullmann/Angenendt,

ASUMed 2018, 20 (23). Drechsel-Schlund/Ullmann/Angenendt, ASUMed 2018, 20 (23), verweist auf statistische Daten des DGUV‑Psychotherapeutenverfahrens, allerdings mit dem Hinweis, dass längere Behandlungsfälle in dieser Statistik aufgrund einer veränderten Erhebungsmethode unterrepräsentiert seien, möglichweise bedarf deshalb mehr als die Hälfte der Fälle einer längeren Behandlung. 164  Drechsel-Schlund/Ullmann/Angenendt, ASUMed 2018, 20 (23). 165  Vgl. DGUV, Grundsatz 306-001, Traumatische Ereignisse – Prävention und Rehabilitation, S. 9; Drechsel-Schlund/Ullmann/Angenendt, ASUMed 2018, 20 (23). 166  Vgl. Schwarz/Albert, BG 2011, 172 (173); Cusumano et al., SR 2017, 58 (63 ff.). 167  Cusumano et al., SR 2017, 58 (63); vgl. Toepler, BG 2007, 282. 168  Cusumano et al., SR 2017, 58 (63). 169  DGUV, Grundsatz 306-001, Traumatische Ereignisse – Prävention und Rehabilitation, S. 9; vgl. Schwarz/Albert, BG 2011, 172. 170  Vgl. DGUV, Reha-Management Handlungsleitfaden; Cusumano et al., SR 2017, 58 (65). 163  Vgl.

170

2. Kap.: Analyse

nicht frühzeitig gemeldet werden.171 Gem. § 193 Abs. 1 S. 1 SGB VII sind Unternehmer und Unternehmerinnen zur Meldung von Unfällen von Versicherten in ihrem Unternehmen verpflichtet, wenn diese so schwer verletzt wurden, dass sie mehr als drei Tage arbeitsunfähig werden. Jedoch wird berichtet, dass es in der Praxis Probleme bereite, wenn kein körperlicher Schaden vorliege, die Meldepflicht deshalb nicht offenkundig sei und Betroffene unmittelbar nach dem Unfallereignis nicht arbeitsunfähig seien.172 Erstens fehle das Bewusstsein dafür, dass gerade bei extremen Unfallereignissen wie der tödlichen Brandverletzung einer anderen Person im Betrieb dies auch für Beschäftigte belastend sei, die die Situation direkt beobachten. Deren psychische Beeinträchtigungen würden von den Verantwortlichen im Unternehmen oft nicht bedacht.173 Zweitens trete die behandlungsbedürftige psychische Erkrankung insbesondere bei sekundär traumatisierten Personen oft erst zeitlich verzögert nach dem Unfallereignis auf. Zu diesem späteren Zeitpunkt werde aber keine Meldung mehr erstattet. Die Unfallversicherungsträger würden deshalb empfehlen, möglichst alle Betroffenen zu erfassen und vorsorglich zu melden.174 Drittens sei weiterhin die Bagatellisierung und Tabuisierung psychischer Belastungen wie Gewalt, Aggression, Bedrohungen und Beleidigungen ein großes Problem. Deshalb würden die Unfallversicherungsträger eine hohe Dunkelziffer fehlender Meldungen vermuten. Die Auffälligkeiten würden sich bei Betroffenen erst später zeigen, die damit eher zu ihrer Hausärztin oder dem Hausarzt gingen, weshalb die Unfallversicherungsträger keine Kenntnis erlangen würden. Eine Meldung werde deshalb sogar dann empfohlen, wenn keine Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Tagen vorliege. Außerdem müssten vermeintliche Bagatellvorfälle dokumentiert werden, um die Umstände bei einer späteren Meldung nachvollziehen zu können.175 c) Zwischenergebnis Im Rahmen der Rehabilitation gewährleistet das Psychotherapeutenverfahren der DGUV schnelle Hilfe. Dadurch, dass von der Unfallversicherung bis zu fünf probatorische Sitzungen ohne Kausalitätsprüfung übernommen werden, wird die rechtliche Problematik, dass es für die Rehabilitation eigentlich der Anerkennung als Versicherungsfall bedarf, abgemildert. Vor dem Hintergrund der langwierigen und schwierigen Kausalitätsermittlung bei psychischen Erkrankungen erscheint dies angemessen. Allerdings kann die BehandDrechsel-Schlund/Ullmann/Angenendt, ASUMed 2018, 20 (21). ASUMed 2018, 20 (21). 173  Drechsel-Schlund/Ullmann/Angenendt, ASUMed 2018, 20 (21). 174  Drechsel-Schlund/Ullmann/Angenendt, ASUMed 2018, 20 (21). 175  Drechsel-Schlund/Ullmann/Angenendt, ASUMed 2018, 20 (21 f.). 171  Vgl.

172  Drechsel-Schlund/Ullmann/Angenendt,



B. Die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung171

lung nur bei einem Teil der gemeldeten Fälle von psychischen Beschwerden im Rahmen der fünf probatorischen Sitzungen auch abgeschlossen werden. In der Hälfte der Fälle bestand 2016 anschließend weiter Behandlungsbedarf, sodass sich hier die schwierige Anerkennung als Versicherungsfall negativ auswirkt. Hinzu kommt die hohe Dunkelziffer an Fällen mangels Meldung an die Unfallversicherungsträger. Insgesamt bleibt so eine große Anzahl an Fällen, denen die Rehabilitation der Unfallversicherung nicht gerecht wird. Deshalb müssen zum einen die aufgezeigten Probleme bei der Anerkennung als Versicherungsfall abgebaut werden und zum anderen die Anzahl an Meldungen in tatsächlicher Hinsicht durch Aufklärung und Sensibilisierung erhöht werden. Letztlich würde die Aufmerksamkeit und damit die Meldezahlen aber ebenfalls durch die verbesserte Möglichkeit der Anerkennung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall erhöht. 3. Entschädigung Gem. § 56 Abs. 1 S. 1 SGB VII haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Deshalb wird untersucht, wie die MdE bei psychischen Erkrankungen ermittelt und unter welchen Voraussetzungen sie wieder aberkannt wird. a) Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit Gem. § 56 Abs. 2 S. 1 SGB VII richtet sich die MdE nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Für psychische Erkrankungen fand man es bis vor einigen Jahren nicht angemessen, den Grad der MdE allein daran auszurichten. Man stellte darauf ab, welche Überwindung beziehungsweise welcher Energieaufwand durch die Betroffenen aufgebracht werden musste, um trotz der psychischen Erkrankung ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können.176 Von dieser von somatischen Erkrankungen abweichenden Bemessung ist man mittlerweile abgekommen, entscheidend sind nun allein die Funk­

176  Vgl. so das Standardwerk zur Begutachtung bis einschließlich zur 7. Aufl.: Brandenburg, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. 2003: Kap. 5 S. 246; Brandenburg, Trauma und Berufskrankheit 1999, 192 (196); dazu kritisch Benz, NZS 2002, 8 (14); anders dann ab 8. Aufl.: DrechselSchlund, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010: Kap. 5 S. 155 f.

172

2. Kap.: Analyse

tionsstörungen und deren Auswirkungen auf das Leistungsvermögen im Erwerbsleben.177 Ausgangspunkt für eine objektive, reliable und valide Begutachtung der psychischen Folgen eines Versicherungsfalles ist die Diagnose der psychischen Erkrankung nach den Klassifikationssystemen ICD und DSM.178 In der Praxis bereitet dies noch Probleme, oft werden Diagnosen ohne Beachtung der diagnostischen Kriterien gestellt, sogenannte „impressionistische“ Diagnosen, oder unter Verwendung eines stark vereinfachten Modells.179 Die Diagnose umfasst nur die Art des Krankheitsbildes, nicht Schwere und Ausmaß der Schädigung. Die Versicherten haben jedoch einen Anspruch auf Entscheidung durch die Unfallversicherungsträger über Versicherungsfall und Unfallfolgen.180 So wie beispielsweise bei einer Sprunggelenksfraktur die Unfallfolgen Grad der Bewegungseinschränkung, Ausmaß der Geh-/Stehbehinderung, Umfang von Muskel- und Kraftminderung konkretisiert werden, muss dies auch bei psychischen Unfallfolgen geschehen, was ebenfalls in der Praxis noch Probleme bereitet.181 Die Beurteilung der MdE bei psychischen Erkrankungen erfolgt wie bei somatischen Erkrankungen nach den allgemeinen Erfahrungssätzen,182 die sich in der maßgeblichen Literatur zur Begutachtung finden.183 Die „Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen“ der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften verweist dafür aktuell auf die bislang einzigen beiden MdE-Tabellen-Vorschläge von Foerster184 und Philipp185, ohne einen weiteren medizinischwissenschaftlichen Konsens darzulegen.186 In tatsächlicher Hinsicht ist pro­ 177  Vgl. Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 169. 178  Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 125 (126); vgl. Widder et al., AWMF Leitlinie Nr. 051-029, S2k, Teil II Ziff. 1 S. 4. 179  Stevens/Grüner, MEDSACH 2017, 15 (18), am Bsp. der PTBS; DrechselSchlund, MEDSACH 2020, 125 (128), Bsp. für impressionistische Diagnose: „Verschlimmerung depressiver Symptome sowie deutlich reduzierte Fähigkeit zur Entwicklung von Strategien zur Schmerzbewältigung“. 180  BSG, Urt. v. 05.07.2011 – B 2 U 17/10 R, BSGE 108, 274 (276), juris Rn. 14. 181  Zum Ganzen: Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 125 (126 f.). 182  Vgl. st.Rspr. zu der Beurteilung nach allgemeinen Erfahrungssätzen statt vieler BSG, Urt. v. 02.05.2001 – B 2 U 24/00 R, SozR 3-2200 § 581 Nr. 8; DrechselSchlund, MEDSACH 2020, 125 (128). 183  Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 125 (127); Widder et al., AWMF Leitlinie Nr. 051-029, S2k, Teil III Ziff. 8.1.1 S. 54. 184  Foerster et al., MEDSACH 2007, 52. 185  Philipp, MEDSACH 2015, 255. 186  Widder et al., AWMF Leitlinie Nr. 051-029, S2k, Teil III Ziff. 8.1.1 S. 54; Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 125 (127); vgl. auch Mehrhoff et al., Unfallbe-



B. Die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung173

blematisch, dass es sich dabei um Einzelmeinungen handelt, die bislang keine allgemeinen Erfahrungssätze darstellen.187 Dennoch werden diese MdE-Tabellen in der Praxis bereits angewendet.188 An der MdE-Tabelle von Foerster kritisiert man neben sonstigen begutachtungsmethodischen Problemen wie der heterogenen Terminologie, dass sie eine diagnosebezogene MdE-Bewertung darstelle. Dadurch werde vom eigentlichen Kriterium der funktionellen Einschränkung abgelenkt.189 Auch an der MdE-Tabelle von Philipp wird die nicht konsequent funktionsbezogene MdE-Bewertung kritisiert.190 Hauptkritikpunkt ist, dass beide Autoren vorschlagen, die Beeinträchtigung des Erwerbslebens der Versicherten in drei Dimensionen zu fassen: Psychisch-emotional, also das innere Erleben wie Ängste oder Zwänge, sozial-kommunikativ, das heißt Probleme in der sozialen Interaktion wie Rückzugsverhalten, und körperlich-funktionell, beispielsweise reduzierte Konzentration und Aufmerksamkeit.191 Es fehle eine Begründung für die Verwendung dieser Kategorien wie empirische Befunde, die die Aufgliederung rechtfertigen könnten.192 Statt der Entwicklung einer eigenen Systematik sei es näherliegend, sich an die allgemein anerkannte Funktionsbewertung nach der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähiggutachtung, S. 322 ff., ebenfalls Verweis auf diese Veröffentlichungen, allerdings mit dem Hinweis, dass es sich noch nicht um anerkannte MdE Erfahrungswerte handele; ebenso: Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 169 ff., kritisch gegenüber Foerster, jedoch zustimmend zu Philipp. 187  Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 169; Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 125 (128). 188  Konkludente Heranziehung durch Bezugnahme auf Standardwerk zur Begutachtung Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 169 ff.; so geschehen durch: Thüringer LSG, Urt. v. 30.11.2017 – L 1 U 98/17, juris Rn. 30; LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 19.07.2018 – L 6 U 2309/17, juris Rn. 47; Hessisches LSG, Urt. v. 13.08.2019 – L 3 U 152/18, juris Rn. 46; vgl. Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 125 (128). 189  Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 171; Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 125 (128); Stevens/Grüner, MEDSACH 2017, 15 (19); vgl. auch Philipp, MEDSACH 2015, 255 (257 ff.). 190  Stevens/Grüner, MEDSACH 2017, 15 (19); Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 125 (128). 191  Foerster et al., MEDSACH 2007, 52 (54); Philipp, MEDSACH 2015, 255; darauf verweisend: Drechsel-Schlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 169; später aber kritisch: DrechselSchlund, MEDSACH 2020, 125 (127). 192  Stevens/Grüner, MEDSACH 2017, 15 (19); Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 125 (127).

174

2. Kap.: Analyse

keit, Behinderung und Gesundheit (ICF)193 der WHO anzulehnen.194 Die ICF wird in der Rehabilitationsdiagnostik verwendet, geht über die biomedizinische Krankheitsbetrachtung wie Diagnose und Befunde hinaus und ermöglicht die Kategorisierung der funktionalen Gesundheit auf den Ebenen von Aktivität und Teilhabe.195 Diese finde Anerkennung in der Praxis, es fehle bislang aber an einer abschließenden Untersuchung, ob und inwieweit die Heranziehung der an die ICF angelehnten Funktionsmerkmale zur strukturierten Ermittlung von Funktionseinschränkungen im Bereich der Unfallversicherung geeignet sei.196 Eine Ausrichtung an der ICF für die Ermittlung der MdE-Werte bei psychischen Erkrankungen wird als Lösungsansatz angesehen.197 Letztlich bedarf es weiterer Diskussion über die Kriterien zur Beurteilung der MdE bei psychischen Erkrankungen durch Literatur und Rechtsprechung.198 Die Begutachtung der MdE erfordert im Einzelfall die Feststellung von Funktionseinschränkungen durch medizinische Sachverständige.199 Seit Anfang 2010 existiert ein Muster-Gutachtenauftrag zur Kausalitätsfrage bei psychischen Erkrankungen mit standardisierten Beweisfragen, unter anderem zu Unfallfolgen, Funktionseinschränkungen und MdE-Bewertung.200 Problematisch ist, dass keine einheitlichen Anforderungen an die Qualifikation der begutachtenden medizinischen Sachverständigen bestehen.201 Die Anforderungen für den Erwerb entsprechender gutachterlicher Zusatzqualifikationen zwischen der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie und der Deutschen Gesellschaft für Neurowissenschaftliche Begutachtung e. V. unterscheiden sich beispielsweise bei den Facharztqualifikationen und der Zulassung psychologischer Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen.202 193  DIMDI,

Deutsche Version der ICF, Stand 2005. MEDSACH 2020, 125 (127); vgl. Stevens/Grüner, MEDSACH 2017, 15 (20 ff.). 195  Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 125 (127); Ullmann/Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 120 (121). 196  Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 125 (127). 197  Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 125 (128), insbesondere auch für die Ermittlung einer Gesamt-MdE bei mehreren psychischen Unfallfolgen. 198  Stevens/Grüner, MEDSACH 2017, 15 (19), die Rspr. habe sich bislang darauf beschränkt, allgemein einheitliche Maßstäbe zur Umsetzung des Gleichheitssatzes zu begrüßen. 199  Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 125 (127). 200  Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 125 (126); Formtext A 2202, abrufbar unter: https://www.dguv.de/medien/formtexte/aerzte/a_2202/a2202.pdf (abgerufen am 16.12.2021). 201  Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 125 (127). 202  Vgl. Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 125 (127); vgl. die Anforderungen, abrufbar unter: https://www.degpt.de/DeGPT-Dateien/DeGPT-Curriculum%20Begut 194  Drechsel-Schlund,



B. Die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung175

Schließlich wird kritisiert, dass bislang wenig Diskussion über den Umgang mit unfallunabhängigen Vorerkrankungen im psychischen Bereich stattfindet.203 Denn auch für psychische Vorerkrankungen gilt, dass der Vorschaden die MdE in Form einer Abweichung vom Regelfall sowohl nach oben als auch nach unten beeinflussen kann, wenn er in Wechselwirkung zu den Folgen des Versicherungsfalls steht. Die Unfallversicherung trägt das Risiko dafür, dass die unmittelbaren Unfallfolgen bei vorgeschädigten Versicherten eine stärkere MdE verursachen als bei nicht vorgeschädigten Versicherten.204 b) Aberkennung der Minderung der Erwerbsfähigkeit und Entzug der Verletztenrente Eine Verletztenrente kann entzogen werden bei Eintreten einer wesentlichen Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des die Verletztenrente bewilligenden Verwaltungsaktes vorgelegen haben, vgl. § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X. Als Änderungen kommen insbesondere Änderungen im Gesundheitszustand in Betracht.205 Gem. § 73 Abs. 3 SGB VII sind diese nur wesentlich, wenn die Veränderungen der Höhe des Grads der MdE mehr als 5 v. H. betragen. Für einen vollständigen Entzug muss die verbliebene MdE weniger als 20 v. H. betragen.206 Einen Fall des § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X stellt auch die sogenannte Verschiebung der Wesensgrundlage dar.207 Eine solche liegt vor, wenn ein Wechsel der Ursache einer Gesundheitsstörung bei unverändert gebliebenen Krankheitserscheinungen stattgefunden hat.208 Insbesondere bei chronisch achtung_2016.pdf (abgerufen am 16.12.2021) und https://dgnb-ev.de/itrfile/_1_/f9813 f445a2dd2e54b7a16df0448c13a/Zertifizierungsrichtlinien_ab_01.02.2018.pdf (abgerufen am 16.12.2021). 203  Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 125 (129). 204  Vgl. Scholz, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 56 Rn. 51; Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 125 (129). 205  BSG, Urt. v. 06.10.2020 – B 2 U 10/19 R, SozR 4-2700 § 73 Nr. 2, Rn. 9, juris Rn. 9. 206  BSG, Urt. v. 06.10.2020 – B 2 U 10/19 R, SozR 4-2700 § 73 Nr. 2, Rn. 8, juris Rn. 8. 207  Vgl. aktuelle Entscheidungen dazu: LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 11.07.2018 – L 3 U 3108/17, juris Rn. 67, PTBS; Bayerisches LSG, Urt. v. 09.12.2015 – L 2 U 496/12, juris Rn. 71 f., schmerzmittelinduzierter Kopfschmerz; Bayerisches LSG, Urt. v. 18.02.2014 – L 15 VG 2/09, juris, zum SER; Woltjen, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 4 S. 141; Ullmann/DrechselSchlund, MEDSACH 2020, 120 (121). 208  BSG, Urt. v. 23.05.1969 – 10 RV 273/66, juris; Woltjen, in: Mehrtens/Valentin/ Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 4 S. 141; Widder et al., AWMF Leitlinie Nr. 051-029, S2k, Teil III Ziff. 8.1 S. 53.

176

2. Kap.: Analyse

verlaufenden Entwicklungen muss geprüft werden, ob die Schädigungsfaktoren tatsächlich fortwirken oder ob die überwiegende Verantwortung inzwischen schädigungsunabhängigen konkurrierenden Ursachen zukommt.209 Der Begriff wird im medizinischen Begutachtungskontext ausschließlich bei psychischen Erkrankungen verwendet.210 Voraussetzung für eine Neubewertung anerkannter Unfallfolgen gem. § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X aufgrund einer Verschiebung der Wesensgrundlage ist, dass die konkurrierenden, unfallunabhängigen Ursachen gesichert sind und unfallbedingte und unfallunabhängige Ursachen nach dem jeweiligen Verursachungsbeitrag gewichtet werden. Es muss nachvollziehbar sein, dass das Unfallereignis als Ursache durch die konkurrierende Ursache derart in den Hintergrund gerückt ist, dass es nicht mehr als die wesentliche Ursache angesehen werden kann.211 Wie allgemein im Rahmen von § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X tragen die Unfallversicherungsträger die objektive Beweislast für die Änderung oder den Wegfall der Unfallfolge, entsprechend gilt dies auch für die Verschiebung der Wesensgrundlage.212 Die gesundheitliche Verfassung zum Zeitpunkt der letzten, bindend gewordenen Feststellung des Verletztenrentenanspruchs stellt die Vergleichsgrundlage dar für die Bewertung der wesentlichen Änderung des Gesundheitszustandes bei der jeweiligen Nachuntersuchung. Bedeutsam dafür sind insbesondere die medizinischen Gutachten, die zu den zwei maßgeblichen Zeitpunkten eingeholt wurden.213 Problematisch erscheint, dass das BSG die Verschiebung der Wesensgrundlage zuletzt abweichend von der gängigen gutachterlichen Literatur definierte als Konstellation, in der die ursprüngliche Erkrankung durch eine andere, unfallfremde, entweder bereits vor dem Unfallereignis bestehende oder zeitlich nachfolgend hinzugetretene Erkrankung vollständig ersetzt wurde oder so weit in den Hintergrund getreten ist, dass letztere ­ alleine rechtlich wesentlich die vorhandenen Funktionsbeeinträchtigungen ­ 209  LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 11.07.2018 – L 3 U 3108/17, juris Rn. 67, inbesondere bei einer (vermeintlich) mehrere Jahre anhaltenden PTBS; DrechselSchlund/Gonschorek, in: Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit: Kap. 5 S. 154; Ullmann/Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 120 f.; Widder et al., AWMF Leitlinie Nr. 051-029, S2k, Teil III Ziff. 8.1 S. 53. 210  Ullmann/Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 120. 211  Vgl. BSG, Urt. v. 06.10.2020 – B 2 U 10/19 R, SozR 4-2700 § 73 Nr. 2, Rn. 20, juris Rn. 20; SG Karlsruhe, Urt. v. 26.04.2016 – S 1 U 90/14, juris Rn. 29; Ullmann/Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 120 (124). 212  BSG, Urt. v. 23.05.1969 – 10 RV 273/66, juris Rn. 19; LSG Hamburg, Urt. v. 31.01.2012 – L 3 U 19/08, juris; Bayerisches LSG, Urt. v. 18.02.2014 – L 15 VG 2/09, juris Rn. 157; Ullmann/Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 120 (123). 213  BSG, Urt. v. 13.02.2013 – B 2 U 25/11 R, NZS 2013, 464 (465), juris Rn. 16; Urt. v. 06.10.2020 – B 2 U 10/19 R, SozR 4-2700 § 73 Nr. 2, Rn. 17, juris Rn. 17; Ullmann/Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 120 (123).



B. Die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung177

bewirkt.214 Das BSG stellt hierbei also nicht die veränderten Ursachen der Erkrankung in den Vordergrund, sondern die Ersetzung der Erkrankung, die die Funktionseinschränkungen auslöst. Dies macht die Sache jedoch unnötig kompliziert. Für diesen Fall bedarf es der Figur der Verschiebung der Wesensgrundlage nicht, weil es sich schlicht um eine andere, nicht unfallbedingte Erkrankung handelt, sodass die Verletztenrente nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X entzogen werden kann.215 In der durch das BSG definierten Konstellation müsste schlicht eine Prüfung der Besserung des Gesundheitszustandes hinsichtlich der ursprünglichen unfallbedingten Erkrankung im Rahmen des § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X stattfinden, während die aktuelle psychische Erkrankung als unfallunabhängig bewertet werden könnte.216 Zwar erscheint es auf den ersten Blick sinnvoll, im Rahmen der MdE-Einschätzung auf die Funktionseinschränkungen abzustellen. Der Bedarf für die Figur der Verschiebung der Wesensgrundlage besteht aber nur, wenn die ursprüngliche Erkrankung weiterhin vorliegt, sich aber die Ursache geändert hat. c) Zwischenergebnis Für psychische Erkrankungen, die als Versicherungsfall durch die Unfallversicherungsträger anerkannt werden, besteht die Aussicht auf eine Entschädigung. Grundlage für die Bemessung der MdE im Rahmen der Entschädigung ist die Diagnose der psychischen Erkrankung nach ICD-10 und DSM-5. Weiterhin ist auf die Funktionsstörungen und deren Auswirkungen auf das Leistungsvermögen im Erwerbsleben abzustellen. Neben anderen Schwierigkeiten bleibt in tatsächlicher Hinsicht das Hauptproblem, dass bislang keine MdE-Tabelle existiert, die als allgemeiner Erfahrungssatz angesehen wird. Zu den Kriterien zur Beurteilung der MdE besteht weiterer Diskussionsbedarf. Möglicherweise könnte die ICF als Orientierung dienen. Schließlich sind auch bei psychischen Erkrankungen die Aberkennung der MdE und der Entzug der Verletztenrente nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X möglich. Eine Besonderheit im Rahmen psychischer Erkrankungen stellt die Verschiebung der Wesensgrundlage dar, die bislang aber nicht einheitlich angewendet wird. 4. Ergebnis Angesichts der bestehenden Probleme bei der Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall in der gesetzlichen Unfallversicherung mag 214  Vgl. BSG, Urt. v. 06.10.2020 – B 2 U 10/19 R, SozR 4-2700 § 73 Nr. 2, Rn. 20, juris Rn. 20. 215  Vgl. ähnlich Ullmann/Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 120 (124). 216  Vgl. Ullmann/Drechsel-Schlund, MEDSACH 2020, 120 (124).

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2. Kap.: Analyse

es auf den ersten Blick überraschen, dass die Unfallversicherungsträger insbesondere im Rahmen von Prävention und Rehabilitation hinsichtlich psychischer Erkrankungen vergleichsweise aktiv sind, auch wenn durchaus noch Defizite bestehen. Dies hat vor allem den Grund, dass der Präventionsauftrag neben Arbeitsunfall und Berufskrankheit auch für arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren gilt, unter welche arbeitsbedingte psychische Erkrankungen ohne größere Probleme gefasst werden können. Für die Rehabilitation liegt der Grund in der zunächst zurückhaltenden Handhabe des Kausalitätserfordernisses. Für die Aufgabe der Entschädigung bedarf es jedoch zwingend eines Versicherungsfalles. Die jeweilige psychische Erkrankung muss also im Rahmen eines Arbeitsunfalls oder als Berufskrankheit von den Unfallversicherungsträgern anerkannt werden, damit Betroffene Aussicht auf eine Entschädigung durch die gesetzliche Unfallversicherung haben. Auch wenn noch Verbesserungsbedarf besteht, kann die MdE bei psychischen Erkrankungen ebenso wie bei somatischen bemessen und auch wieder aberkannt werden.

II. Folgerungen für die Erfassung psychischer Erkrankungen Aus der vorangegangenen Untersuchung der Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung sollen nun Schlüsse darauf gezogen werden, ob und welche Gründe für eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen in der Unfallversicherung sprechen. Die Untersuchung hat ergeben, dass psychische Erkrankungen bereits zu einem gewissen Grad Berücksichtigung finden, auch ohne Versicherungsfall zu sein beziehungsweise trotz der Schwierigkeiten bei der Anerkennung als Versicherungsfall, was gegen den Bedarf einer umfangreicheren Erfassung sprechen könnte. Es fällt jedoch auf, dass bei dem Versuch der verstärkten Erfassung psychischer Erkrankungen im bestehenden System in rechtlicher Hinsicht Systembrüche in Kauf genommen werden. Für die Prävention besteht der Systembruch darin, dass Leistungen nicht nur zur Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten erfolgen, sondern zusätzlich zur Abwehr von arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren. Der Präventionsauftrag wurde also über die Versicherungsfälle hinaus erweitert. Der Gesetzgeber hat erkannt, dass allein die Versicherungsfälle zu eng gefasst sind, um den Präventionsauftrag der Unfallversicherung in sinnvollem Maße erfüllen zu können. Für die Rehabilitation findet sich der Systembruch, dass die komplexe Kausalitätsprüfung und damit die Frage nach der Anerkennung als Versicherungsfall zunächst zurückgestellt wird und therapeutische Hilfe in Form von fünf probatorischen Sitzungen erbracht wird, um die Entwicklung und Chro-



C. Gesamtbetrachtung des 2. Kapitels179

nifizierung einer psychischen Erkrankung zu vermeiden. Doch eigentlich ist nach § 1 Nr. 2 SGB VII für Leistungen im Rahmen der Rehabilitation ein anerkannter Versicherungsfall notwendig. Für die Entschädigung findet sich kein solcher Systembruch, hier ist die Anerkennung als Versicherungsfall zwingende Voraussetzung für sämtliche Leistungen. Das steht jedoch im Gegensatz dazu, dass man bei Prävention und Rehabilitation erkannt hat, dass die Versicherungsfälle zusammen mit den Kausalitätserfordernissen zu eng sind und man dort Wege gefunden hat, durch Systembrüche damit umzugehen. Insgesamt ist die Vorgehensweise deshalb wenig konsequent. Die Analyse der Aufgabe der Entschädigung hat zudem ergeben, dass auch bei psychischen Erkrankungen der in der Unfallversicherung bewährte Weg der Bemessung der MdE, beziehungsweise bei Entfallen der MdE die Aberkennung der MdE, möglich ist. Daraus kann folglich zumindest kein Argument gegen eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen in der Unfallversicherung gezogen werden.

III. Fazit Insgesamt ergibt sich im Hinblick auf die Aufgaben der Unfallversicherung im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen damit ein wenig zufriedenstellendes Bild. Denn es ist zum einen durch Systembrüche gekennzeichnet, weil man das Bedürfnis nach einer umfangreicheren Erfassung psychischer Erkrankungen erkannt hat und dieses über systemwidrige Wege gelöst hat. Zum anderen möchte man diese umfangreichere Erfassung durch Systembrüche aber nicht konsequent bis zur Entschädigung durchsetzen. Letztlich ist es deshalb der sinnvollere Weg, den Problemen bei der Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall in der gesetzlichen Unfallversicherung entgegenzuwirken, sodass eine Anerkennung als Arbeitsunfall oder Berufskrankheit leichter möglich ist. Dies würde ermöglichen, dass die Unfallversicherung innerhalb des Systems ihren Aufgaben auch bei psychischen Erkrankungen besser gerecht werden könnte.

C. Gesamtbetrachtung des 2. Kapitels Das zweite Kapitel widmete sich der Frage, ob und welche Gründe für eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen in der gesetzlichen Unfallversicherung sprechen. Dazu wurde zunächst das Telos der Unfallversicherung und in Zusammenhang damit ein Vergleich des Leistungsspek­ trums mit dem der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung in den

180

2. Kap.: Analyse

Blick genommen. Die Betrachtung des hinter dem versicherten Personenkreis und den Versicherungsfällen stehenden Telos ergab, dass mehrere Gründe für eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen sprechen. Dies würde dem Prinzip der Haftungsersetzung entsprechen, weil die Unternehmerinnen und Unternehmer im Rahmen ihrer Schutz- und Fürsorgepflicht für die Gestaltung von Arbeitsabläufen verantwortlich sind, die psychische Belastungen in krankmachendem Ausmaß vermeiden. Durch die Arbeitstätigkeit verursachte psychische Erkrankungen sind deshalb der betrieblichen Sphäre zuzurechnen. Auch die bisherigen Veränderungen in der Unfallversicherung lassen auf Gründe für eine umfangreichere Erfassung schließen. Denn die Aufnahme einer psychischen Erkrankung in die Berufskrankheiten-Liste in Anlage 1 der BKV wäre letztlich die logische Konsequenz der bisherigen kontinuierlichen Weiterentwicklung der Berufskrankheiten-Liste. Auch die Ausdehnung des Versicherungsschutzes auf Wegeunfälle ermöglicht den Erst-recht-Schluss für die Erfassung durch die Arbeitstätigkeit verursachter psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall. Das Kausalsystem der Unfallversicherung steht der Erfassung psychischer Erkrankungen jedenfalls nicht entgegen. Letztlich spricht auch das soziale Schutzprinzip für eine umfangreichere Erfassung. Denn trotz einer gewissen Absicherung über die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung, fällt das Leistungsniveau dort niedriger aus. Die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung sind durch das höhere Niveau besser zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit und zur Entschädigung der Minderung der Erwerbsfähigkeit geeignet. Zudem wurden die Aufgaben der Unfallversicherung gem. § 1 SGB VII untersucht. Dies ergab, dass psychischen Erkrankungen bei der Prävention und Rehabilitation trotz bestehender Defizite bereits verstärkt Rechnung getragen wird, was gegen den Bedarf einer umfangreicheren Erfassung psychischer Erkrankungen in der Unfallversicherung sprechen könnte. Allerdings wird die bisherige Erfassung in großem Maße durch Systembrüche ermöglicht: bei der Prävention durch die arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren und bei der Rehabilitation durch das Zurückstellen der Kausalitätsprüfung und damit der Frage nach der Anerkennung als Versicherungsfall. Letztlich fehlt es aber an Konsequenz. Denn während man bei Prävention und Rehabilitation das Bedürfnis nach einer umfangreicheren Erfassung psychischer Erkrankungen erkannt hat, setzt man dieses nicht konsequent bis zur Entschädigung durch. Dort sind keine Systembrüche zu finden sind, die Anerkennung als Versicherungsfall ist zwingend. Insgesamt erscheint es deshalb sinnvoller, die Hürden für psychische Erkrankungen bei der Anerkennung als Versicherungsfall zu senken, um so eine systemgerechte und vollständigere Lösung zu finden.



C. Gesamtbetrachtung des 2. Kapitels181

In der Gesamtschau lassen sich viele Gründe für eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen in der gesetzlichen Unfallversicherung finden, als dies nach aktueller Rechtslage der Fall ist. Eine umfangreichere Erfassung sollte jedoch durch eine Fortentwicklung des bestehenden Systems erfolgen und nicht unter weiterem Rückgriff auf Systembrüche. Deshalb werden im Folgenden Lösungsansätze rechtlicher und tatsächlicher Art betrachtet, um den bestehenden Problemen bei der Erfassung psychischer ­Erkrankungen als Versicherungsfall in der gesetzlichen Unfallversicherung entgegenzuwirken.

3. Kapitel

Lösungsansätze A. Lösungsansätze im Rahmen des Arbeitsunfalls Im Hinblick auf die Probleme bei der Anerkennung psychischer Erkrankungen als Arbeitsunfall sollen zwei rechtliche Lösungsvorschläge diskutiert werden, welche durch die Reform des sozialen Entschädigungsrechts auf­ kamen, das im neuen SGB XIV geregelt ist und zum 1. Januar 2024 in Kraft treten wird.1 Hierzu erfolgt ein kurzer Exkurs. Die Lösungsvorschläge setzen an beim Problem der zeitlichen Begrenzung des Unfallereignisses sowie beim Nachweis der haftungsbegründenden Kausalität bei psychischen Erkrankungen.

I. Exkurs: Soziales Entschädigungsrecht Ursprünglich für die Versorgung von Kriegsopfern geschaffen, steht im sozialen Entschädigungsrecht zunehmend die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten im Rahmen des Opferentschädigungsgesetzes2 (OEG) im Vordergrund.3 Der Entschädigungsgrund liegt in der Einstandspflicht des Staates, der als Inhaber des Gewaltmonopols für eine funktionierende Verbrechensbekämpfung sorgen muss.4 Der Gedanke der Einstandspflicht des Staates für Bürgerinnen und Bürger lässt sich mit dem der Schutz- und Fürsorgepflicht der Unternehmerinnen und Unternehmer für ihre Beschäftigten vergleichen. Ähnlich wie der Staat Vorkehrungen zur Vermeidung von Gewalttaten wie Terroranschlägen treffen muss, ist es ihre Aufgabe, das Unternehmen so zu organisieren, dass Beschäftigte einem möglichst geringen geKranig, SGb 2019, 65 (75). v. 07.01.1985, BGBl. I S. 1. 3  Kranig, SGb 2019, 65 (70). 4  Vgl. BSG, Urt. v. 07.11.1979 – 9 RVg 1/78, BSGE 49, 98 (101), juris Rn. 17; Urt. v. 23.10.1985 – 9a RVg 4/83, BSGE 59, 40 (45), juris Rn. 22; Petri-Kramer, in: Plagemann, MAH Sozialrecht: § 34 Rn. 3; Hase, in: Ruland/Becker/Axer/Maydell, SRH: § 26 Rn. 4 f., kritisch dazu, weil vom Staat nicht eine vollständige Verhinderung von Gewalttaten erwartet werden könne, eher sei auf den Gedanken eines solidarischen Einstehens aller für die Geschädigten abzustellen; Tabbara, NZS 2020, 210 (211). 1  Vgl.

2  Opferentschädigungsgesetz



A. Lösungsansätze im Rahmen des Arbeitsunfalls183

sundheitlichen Risiko ausgesetzt sind. Dadurch, dass sowohl im Unfallversicherungsrecht als auch im sozialen Entschädigungsrecht der Grund für die Leistungserbringung im Schädigungsereignis liegt, folgen beide zudem einem Kausalsystem im Hinblick auf die Leistungserbringung.5 Auch wird in beiden Rechtsgebieten die Theorie der wesentlichen Bedingung angewendet, um die haftungsbegründende und haftungsausfüllende Kausalität zu ermitteln.6 Vorweggestellt sei, dass der Gedanke nicht weiterführend ist, die unfallversicherungsrechtlich problematischen Fälle psychischer Erkrankungen über das reformierte soziale Entschädigungsrecht zu lösen. Zwar gibt es Konstellationen der Überschneidung von Unfallversicherungsrecht und sozialem Entschädigungsrecht.7 Dies betrifft aber nur wenige Fälle. Denn für das soziale Entschädigungsrecht ist nach § 13 Abs. 1 Nr. 2 SGB XIV eine psychische Gewalttat Leistungsvoraussetzung. Darunter versteht man ein vorsätzliches, rechtswidriges, unmittelbar gegen die freie Willensentscheidung einer Person gerichtetes schwerwiegendes Verhalten. Das Verhalten ist gem. § 13 Abs. 2 SGB XIV in der Regel schwerwiegend, wenn es den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs (§§ 174–176b StGB), des sexuellen Übergriffs, der sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung (§§ 177, 178 StGB) des Menschenhandels (§§ 232–233a StGB), der Nachstellung (§ 238 Abs. 2 und 3 StGB), der Geiselnahme (§ 239b StGB) oder der räuberischen Erpressung (§ 255 StGB) erfüllt oder von mindestens vergleichbarer Schwere ist. Während ein Überfall als psychische Gewalttat in Frage kommt, kann beispielsweise Mobbing außer in Extremfällen nur als verwerflich, nicht jedoch als rechtswidrig eingeordnet werden.8 Ebenfalls nicht erfasst sind Fälle, in denen gar nicht von psychischer Gewalt gesprochen werden kann, wie Konstellationen des sogenannten Burn-out Syndroms, die durch arbeitsbedingten Stress verursacht sind, oder Konstellationen von im Rettungsdienst Beschäftigten, die aufgrund im Rahmen ihrer Tätigkeit erlebter Extremsituationen an einer PTBS erkranken.9 Außerdem versagen Sinn und Zweck eine generelle 5  Hase, in: Ruland/Becker/Axer/Maydell, SRH: §  26 Rn. 8; Becker, Soziales Entschädigungsrecht, S. 34, 38. 6  Hase, in: Ruland/Becker/Axer/Maydell, SRH: § 26 Rn. 9; vgl. Keller, SGb 2016, 232 (238). 7  Kranig, SGb 2019, 65 (68); vgl. Kranig, NZV 2020, 21 (25 f.), Bsp. des Terroranschlages auf dem Berliner Breitscheidplatz: Für die Konstellation der in den Weihnachtsmarktbuden Beschäftigten kommt sowohl ein Arbeitsunfall als auch ein Entschädigungsfall im Sinne des OEG infrage; vgl. Köhler, VSSAR 2021, 23 (26 f.), zum Verhältnis von Ansprüchen aus dem SGB VII und dem OEG bzw. SGB XIV. 8  Vgl. zu Mobbing, allerdings noch nach dem OEG: Gelhausen, in: Gelhausen/ Weiner, OEG: § 1 Rn. 23. 9  Fraglich wäre in dem Zusammenhang auch, ob in den Fällen der Suizid-Überfahrunfälle durch Züge von einer psychischen Gewalttat gegenüber der Lokführerin oder dem Lokführer gesprochen werden kann.

184

3. Kap.: Lösungsansätze

Lösung über das Entschädigungsrecht. Denn dies würde die Verantwortung der Unternehmer und Unternehmerinnen für den Schutz ihrer Beschäftigten ausblenden, die Motivation zu Präventionsmaßnahmen herabsetzen und die Verantwortung allein dem Staat überlassen.

II. Lösungsansätze in rechtlicher Hinsicht 1. Einführung eines zusätzlichen Versicherungsfalls „wiederkehrendes Ereignis“ vergleichbar § 1 Abs. 3 SGB XIV Als erster Lösungsansatz für die Probleme beim Arbeitsunfall kommt in rechtlicher Hinsicht die Einführung eines zusätzlichen Versicherungsfalls, dem wiederkehrenden Ereignis, in Betracht. Denn für das Unfallereignis wird eine zeitliche Begrenzung von längstens einer Arbeitsschicht vorausgesetzt. Wenn jedoch wiederholte Unfallereignisse, die sich über mehrere Arbeitsschichten erstrecken, erst zusammen eine psychische Erkrankung verursachen und sich keines von ihnen besonders hervorhebt, ist keine Anerkennung als Arbeitsunfall möglich.10 Auch die Anerkennung als Berufskrankheit ist bislang nicht gelungen,11 denn das Berufskrankheitenrecht setzt wie gezeigt12 höhere Anforderungen als beim Arbeitsunfall: Es verlangt gem. § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII, dass die Krankheit nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht wird, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind. Grund dafür ist die Annahme, dass sich im konkreten Einzelfall – anders als bei einem zeitlich auf eine Arbeitsschicht begrenzten Ereignis – nur schwer verwertbare Aussagen über den ursächlichen Zusammenhang zwischen längeren oder sich wiederholenden Einwirkungsexpositionen und der Erkrankung treffen lassen. Dadurch können jedoch diejenigen durch wiederholte Ereignisse verursachten Fälle nicht erfasst werden, in denen der Ursachenzusammenhang im konkreten Fall klar nachgewiesen werden kann, die genannten Anforderungen gem. § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII mangels ausreichender Forschung auf dem Gebiet jedoch nicht. Die eindeutige kausale Zuordnung von mehreren Ereignissen und einer Erkrankung im konkreten Fall ist sicherlich nicht für viele Fälle möglich, dennoch ist sie nicht ausgeschlossen. Letztlich entsteht durch die aktuelle Rechtslage damit eine Lücke im Versicherungsschutz. Die Problematik der Verursachung psychischer Erkrankungen durch wiederkehrende Ereignisse war Bestandteil der Reform des sozialen Entschädi10  Vgl.

o. S. 57 ff. o. S. 136. 12  Vgl. o. S. 91. 11  Vgl.



A. Lösungsansätze im Rahmen des Arbeitsunfalls185

gungsrechts. Deshalb soll als Lösungsansatz in rechtlicher Hinsicht eine Übernahme der dortigen Neuregelung erwogen werden. Aufgrund der zunehmenden Bedeutung des Opferentschädigungsrechts musste die Auslegung des sozialen Entschädigungsrechts vor allem auf dessen Belange eingehen.13 Eine Reform war dringend notwendig, insbesondere unter dem Aspekt der Ausdehnung des Gewaltbegriffs auf psychische Gewalt.14 Die Reform bezweckte, Fälle psychischer Gewalt aufgrund von veränderten gesellschaftlichen Entwicklungen und Erkenntnissen besser zu erfassen.15 Nach bisheriger Rechtslage im sozialen Entschädigungsrecht setzt der Entschädigungsfall eine Schädigung voraus, auch schädigendes Ereignis genannt.16 Über die zeitliche Länge des Ereignisses findet sich keine allgemeingültige Aussage, vielmehr müssen die näheren Voraussetzungen den einzelnen Spezialgesetzen entnommen werden. Im für das vorliegende Thema relevanten OEG liegt das schädigende Ereignis im tätlichen Angriff gem. § 1 Abs. 1 S. 1 OEG. Darunter versteht man eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper einer anderen Person zielende gewaltsame Einwirkung.17 Er dauert bis zu dem Zeitpunkt an, in dem sich die geschädigte Person in Sicherheit befindet.18 In § 1 Abs. 3 SGB XIV findet sich nun die Neuregelung, dass das schädigende Ereignis nicht nur ein zeitlich begrenztes Ereignis oder ein über längere Zeit einwirkendes Ereignis sein kann, sondern auch wiederkehrende schädigende Ereignisse umfasst sind. Das wiederkehrende Ereignis ist speziell auf den Bereich der psychischen Gewalt ausgelegt. Auch mehrere aufeinander folgende Ereignisse, die sich erst in ihrer Gesamtheit schädigend auswirken, sollen erfasst werden. Als 13  Kranig,

SGb 2019, 65 (70); Tabbara, NZS 2020, 210. BSG, Urt. v. 16.12.2014 – B 9 V 1/13 R, BSGE 118, 63; vgl. Loytved, jurisPR-SozR 13/2015 Anm. 6; Weber, RP Reha 2019, 26 (27), dies soll sich durch das reformierte SER nun ändern; Knickrehm, Stellungnahme Regierungsentwurf SGB XIV, Ausschuss-Drs. 19(11)505, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/ resource/blob/664210/ 829eab8d24e6%20c8906844b883f17c194b/Materialzusammen stellung-Soz-Entschaedigungsrecht-data.pdf (abgerufen am 16.12.2021), S. 65 f. 15  Vgl. Koalitionsvertrag für die 18. Legislaturperiode, abrufbar unter https:// www.cdu.de/sites/default/files/media/dokumente/koalitionsvertrag.pdf (abgerufen am 16.12.2021), S. 53. 16  Hase, in: Ruland/Becker/Axer/Maydell, SRH: § 26 Rn. 32. 17  St.Rspr.,BSG, Urt. v. 10.12.2003 – B 9 VG 3/02 R, SozR 4-3800 § 1 Nr. 5, Rn. 6, juris Rn. 13, m. w. N.; Urt. v. 02.10.2008 – B 9 VG 2/07 R, juris Rn. 14; Rademacker, in: Knickrehm/Dau, SER: § 1 OEG Rn. 32; Gelhausen, in: Gelhausen/Weiner, OEG: § 1 Rn. 11. 18  Vgl. BSG, Urt. v. 30.11.2006 – B 9a VG 4/05 R, SozR 4-3800 § 1 Nr. 10, Rn. 15, juris Rn. 15; Gelhausen, Soziales Entschädigungsrecht, Rn. 729; Gelhausen, in: Gelhausen/Weiner, OEG: § 1 Rn. 14. 14  Vgl.

186

3. Kap.: Lösungsansätze

Beispiele nennt die Begründung des Regierungsentwurfs unter anderem die Nachstellung.19 Nach bisheriger Rechtslage hatte das BSG eine solche Gesamtbetrachtung der Vielzahl von Nachstellungs- oder „Stalking“-Handlungen abgelehnt. Es prüfte an den konkreten, einzelnen Stalking-Handlungen, ob ein tätlicher Angriff vorlag.20 Dies erschwerte die Entschädigung für Stalking-Opfer, zeichnet sich Stalking doch gerade durch die fortwährende Nachstellung aus.21 Diese Problematik ist vergleichbar zu der, die sich ak­ tuell in der Unfallversicherung beim Erfordernis der zeitlichen Begrenzung am Beispiel von psychischen Erkrankungen infolge von Mobbing oder der Erkrankung an einer durch mehrere Ereignisse verursachten PTBS zeigt. Die Neuregelung in § 1 Abs. 3 SGB XIV verdeutlicht, dass man im sozialen Entschädigungsrecht erkannt hat, dass die Konstellation wiederkehrender Ereignisse, die zu einer psychischen Gesundheitsschädigung führen, eine dritte Variante neben dem einzelnen Ereignis und der Einwirkung über längere Zeit darstellt und einer Lösung bedarf.22 Es wird die Übernahme der Variante des wiederkehrenden Ereignisses für das Unfallversicherungsrecht erwogen,23 in Betracht kommt ein zusätzlicher Versicherungsfall neben dem Arbeitsunfall und der Berufskrankheit. Es wird damit argumentiert, dass § 1 Abs. 3 Var. 1 und Var. 3 SGB XIV, zeitlich begrenztes Ereignis und über längere Zeit einwirkendes Ereignis, dem Arbeitsunfall beziehungsweise der Berufskrankheit entsprechen würden, sich für § 1 Abs. 3 Var. 2 SGB XIV, wiederkehrendes Ereignis, aber keine direkte Entsprechung im Unfallversicherungsrecht finde.24 Gegen die Übernahme eines Versicherungsfalles des wiederkehrenden Ereignisses wie in § 1 Abs. 3 Var. 2 SGB XIV spricht jedoch, dass die Varianten in § 1 Abs. 3 SGB XIV nur bedingt mit den Versicherungsfällen der Unfallversicherung vergleichbar sind. Größter Unterschied ist, dass im Hinblick auf das mit der Berufskrankheit verglichene über längere Zeit einwirkende Ereignis im sozialen Entschädigungsrecht kein Listen-Prinzip ver19  Vgl. Regierungsentwurf SGB XIV v. 05.08.2019, abrufbar unter https://www. bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Gesetze/Regierungsentwuerfe/reg-regelungsoziales-entschaedigungsrecht.pdf?__blob=publicationFile&v=1 (abgerufen am 16.12. 2021), S. 196, allerdings falsche Bezeichnung des Abs. bzw. Satzes, gemeint ist wohl § 1 Abs. 3 SGB XIV. 20  BSG, Urt. v. 07.04.2011 – B 9 VG 2/10 R, BSGE 108, 97 (111), juris Rn. 61; Rademacker, in: Knickrehm/Dau, SER: § 1 OEG Rn. 56. 21  Vgl. zu den Merkmalen von Stalking BSG, Urt. v. 07.04.2011 – B 9 VG 2/10 R, BSGE 108, 97 (109 f.), juris Rn. 57. 22  Vgl. ähnlich Knickrehm/Mushoff/Schmidt, Das neue Soziale Entschädigungsrecht – SGB XIV, Rn. 36. 23  Kranig, SGb 2019, 65 (75). 24  Kranig, SGb 2019, 65 (75).



A. Lösungsansätze im Rahmen des Arbeitsunfalls187

gleichbar der Berufskrankheiten-Liste existiert. In der Vergangenheit wurde lediglich zur Orientierung auf § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII abgestellt.25 Aus der neuen Formulierung in § 1 Abs. 3 Var. 3 SGB XIV, „über längere Zeit einwirkendes Ereignis“, wird geschlossen, dass sich der Rückgriff auf die Regelungen des Berufskrankheitenrechts durch die eigenständige Regelung nun erübrigt.26 Dadurch besteht ein deutlicher Unterschied zwischen den Anforderungen der Anerkennung als Berufskrankheit gem. § 9 SGB VII und § 1 Abs. 3 Var. 3 SGB XIV, sodass nur bedingt aus den Varianten in § 1 Abs. 3 SGB XIV auf die Notwendigkeit einer Übernahme eines entsprechenden dritten Versicherungsfalls in das SGB VII geschlossen werden kann. Auch würde eine Übernahme eines Versicherungsfalles des wiederkehrenden Ereignisses den Grund für die Notwendigkeit der besonderen Anforderungen für die Anerkennung als Berufskrankheit außer Acht lassen, dass sich nämlich im konkreten Fall über den ursächlichen Zusammenhang zwischen längeren oder sich wiederholenden Expositionen und der Erkrankung nur schwer verwertbare Aussagen treffen lassen. Die Übernahme eines Versicherungsfalls des wiederkehrenden Ereignisses würde eine zusätzliche Belastung der Gerichte und Behörden bei der ohnehin schon schwierigen Ermittlung des Kausalzusammenhangs bei psychischen Erkrankungen bedeuten. Außerdem ist zu bedenken, dass im sozialen Entschädigungsrecht Zahlender letztlich der Staat ist und nicht die Unternehmerinnen und Unternehmer. Auch deshalb lassen sich die drei Varianten in § 1 Abs. 3 SGB XIV nur bedingt auf das Unfallversicherungsrecht übertragen. Dem System des SGB VII entspricht es eher, das Berufskrankheitenrecht und die BerufskrankheitenListe weiterzuentwickeln und die Aufnahme einer psychischen Erkrankung als Listen-Berufskrankheit zu ermöglichen, als einen weiteren Versicherungsfall des wiederkehrenden Ereignisses aufzunehmen. 2. Beweislastumkehr vergleichbar § 4 Abs. 5 SGB XIV Angesichts der Probleme beim Nachweis des Kausalzusammenhangs könnte in rechtlicher Hinsicht eine Beweislastumkehr bei psychischen Erkrankungen vergleichbar § 4 Abs. 5 SGB XIV in Betracht gezogen werden. Wie bereits erläutert, hat sich das BSG beim Arbeitsunfall unmissverständ25  Vgl. BSG, Urt. v. 05.05.1993 – 9/9a RV 25/92, SozR 3-3200 § 81 Nr. 8, S. 40 f., juris Rn. 17; Becker, Die anzeigepflichtigen Berufskrankheiten, S. 32, BKRecht habe Vorbildfunktion für Soldaten- und Kriegsopferversorgung, dort auch teils Orientierung an der BK-Liste; Aufführung in der BK-Liste aber jedenfalls keine ­Voraussetzung im OEG: BSG, Urt. v. 18.10.1995 – 9/9a RVg 4/92, BSGE 77, 1. 26  Knickrehm/Mushoff/Schmidt, Das neue Soziale Entschädigungsrecht – SGB XIV, Rn. 36.

188

3. Kap.: Lösungsansätze

lich ablehnend zu einer Beweislastumkehr positioniert. Nur weil eine Alternativursache fehle, sei nicht die versicherte Ursache wesentlich für den Gesundheitsschaden. Die Fälle der verminderten Anforderungen an den Beweis stellen die klare Ausnahme dar.27 Auch für psychische Erkrankungen ist keine Beweislastumkehr vorgesehen.28 Gleichzeitig gestaltet sich die Führung des Nachweises des Kausalzusammenhangs jedoch insbesondere bei psychischen Erkrankungen schwierig aufgrund der teils unklaren Aufgabentrennung beim Umgang mit medizinischen Sachverständigengutachten, des unzulässigen Rückgriffs auf persönliche Überzeugungen durch Sachverständige sowie des Grundsatzes der objektiven Beweislast.29 Im neuen SGB XIV ist explizit für psychische Erkrankungen eine Beweislastumkehr geregelt. Gem. § 4 Abs. 5 SGB XIV wird bei psychischen Gesundheitsstörungen die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs im Einzelfall vermutet, wenn diejenigen medizinischen Tatsachen vorliegen, die nach den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft geeignet sind, einen Ursachenzusammenhang zwischen einem nach Art und Schwere geeigneten schädigenden Ereignis und der gesundheitlichen Schädigung und der Schädigungsfolge zu begründen und diese Vermutung nicht durch einen anderen Kausalverlauf widerlegt wird. Die Regelung übernimmt die bisherige Rechtsprechung des BSG im sozialen Entschädigungsrecht zu psychischen Erkrankungen.30 Das BSG führt aus, dass bei psychischen Erkrankungen regelmäßig erhebliche Schwierigkeiten bestehen, das schädigende Ereignis als wesentliche medizinische Ursache festzustellen, weil zahlreiche Möglichkeiten für den Ursachenzusammenhang bestehen. Ist eine bestimmte Ursache nach den medizinischen Erkenntnissen in signifikant erhöhtem Maß geeignet, die betreffende Erkrankung hervorzurufen, nimmt es in Fällen, in denen für eine psychische Erkrankung mehrere Ursachen vorliegen, für die bestimmte Ursache eine sogenannte „bestärkte“ Wahrscheinlichkeit an. Diese kann nur durch einen sicheren anderen Kausalverlauf widerlegt werden, was praktisch zu einer Beweislastumkehr führt.31 Die Anforderung an den Kausalitätsnachweis wird so auf ein Mindestmaß reduziert.32 27  Vgl.

o. S. 55. NZS 2002, 8 (9); Gitter, SGb 1988, 299 (301). 29  Vgl. o. S. 82. 30  Vgl. BSG, Urt. v. 12.06.2003 – B 9 VG 1/02 R, BSGE 91, 107; Tabbara, NZS 2020, 210 (213); Knickrehm, JbSozR 2019, 317 (332). 31  BSG, Urt. v. 12.06.2003 – B 9 VG 1/02 R, BSGE 91, 107 (111  f.), juris Rn.  20 ff.; Rademacker, in: Knickrehm/Dau, SER: § 1 OEG Rn. 94; Grobe, BPUVZ 2012, 192 (194), Hintergrund dafür war die große Anzahl divergierender Gutachten und widersprüchlicher Entscheidungen zu psychischen Erkrankungen und die große Unsicherheit bei der Kausalitätsbeurteilung; Knickrehm, SGb 2010, 381 (384 f.); 28  Benz,



A. Lösungsansätze im Rahmen des Arbeitsunfalls189

Um diese Regelung richtig einordnen zu können, sind Hinweise zur Dogmatik im sozialen Entschädigungsrecht im Vergleich zum Unfallversicherungsrecht notwendig. Im Unfallversicherungsrecht kann bei multikausalen Erkrankungen eine nicht annährend gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Bedingung dennoch für den Erfolg rechtlich wesentlich sein.33 Im sozialen Entschädigungsrecht dagegen muss die Teilursache für die rechtliche Wesentlichkeit annährend gleichwertig zu den anderen Ursachen sein.34 Hintergrund für die niedrigeren Anforderungen im Unfallversicherungsrecht ist der dortige Schutzzweck. Denn bei höheren Anforderungen wäre der Nachweis insbesondere bei Berufskrankheiten, die oft multikausal verursacht sind, schwer zu führen. In ihrer Funktion der Haftpflichtersetzung wären höhere Anforderungen unangemessen. Die zivilrechtliche Haftung entfiele schließlich auch nicht, nur weil eine Ursache nicht gleichwertig zu den anderen Ursachen war. Auch eine rechnerisch verhältnismäßig geringere Beteiligung würde für die Haftung genügen.35 Die vergleichsweise höheren Anforderungen an den Verursachungsbeitrag im sozialen Entschädigungsrecht machen deutlich, dass eine Übertragung der betreffenden Regelung ins Unfallversicherungsrecht nicht angemessen ist. Denn die Beweislastumkehr kompensiert dort faktisch die höheren Anforderungen der annähernden Gleichwertigkeit, welche das Unfallversicherungsrecht nicht kennt. Gegen eine Übertragung spricht auch, dass das Kausalitätsverständnis im Entschädigungsrecht zumindest bislang generell ein anderes, vergleichsweise lockeres ist. Kausalität wird als interpretationsoffene und im Zusammenhang des Einzelfalls formbare Größe aufgefasst. Neben der eine gewisse Abwägung zulassenden Theorie der wesentlichen Bedingung gibt es zahlreiche weitere Lockerungen wie Beweiserleichterungen, Fiktionen und Vermutungen.36 Das ist dem Unfallversicherungsrecht in dieser ausgeprägten Form unbekannt. Eine Beweislastumkehr vergleichbar § 4 Abs. 5 SGB XIV ist deshalb abzulehnen.

Knickrehm, Stellungnahme Regierungsentwurf SGB XIV, Ausschuss-Drs. 19(11)505, abrufbar unter: http://www.bundestag.de/resource/blob/664210/829eab8d24e6c89068 44b883f17c194b/Materialzusammenstellung-Soz-Entschaedigungsrecht-data.pdf (abgerufen am 16.12.2021), S. 66. 32  Krücker, DAR 2020, 18 (21). 33  Vgl. o. S. 40. 34  Vgl. Hase, in: Ruland/Becker/Axer/Maydell, SRH: § 26 Rn. 9. 35  Zum Ganzen Keller, SGb 2016, 232 (238). 36  Hase, in: Ruland/Becker/Axer/Maydell, SRH: § 26 Rn. 9.

190

3. Kap.: Lösungsansätze

3. Ergebnis Weder die Einführung eines weiteren Versicherungsfalls „wiederkehrendes Ereignis“ vergleichbar zu § 1 Abs. 3 SGB XIV noch die Einführung einer Beweislastumkehr vergleichbar zu § 4 Abs. 5 SGB XIV in Orientierung am reformierten sozialen Entschädigungsrecht sind zu befürworten.

III. Fazit Die durch das reformierte soziale Entschädigungsrecht aufgekommenen Lösungsansätze für die Erfassung psychischer Erkrankungen als Arbeitsunfall sind abzulehnen. Weitere Lösungsansätze sind deshalb im Folgenden im Berufskrankheitenrecht zu suchen.

B. Lösungsansätze im Rahmen der Berufskrankheit Um durch die Arbeitstätigkeit verursachte psychische Erkrankungen als Berufskrankheit erfassen zu können, wurden bereits Vorschläge gemacht. Zum einen wurde in rechtlicher Hinsicht die Abkehr von dem in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden „Alles-oder-Nichts-Prinzip“ vorgeschlagen, um der Multikausalität psychischer Erkrankungen gerecht zu werden.37 Das Prinzip besagt, dass die Unfallversicherung trotz konkurrierender TeilUrsachen für den gesamten Schaden aufkommt, wenn die wesentliche TeilUrsache eine versicherte ist.38 Nach dem Vorschlag würde nur der Anteil an Leistungen übernommen, der der beruflichen Verursachung der Erkrankung entspricht.39 Neben praktischen Schwierigkeiten bei der Ermittlung des entsprechenden Anteils steht dem aber entgegen, dass im Alles-oder-NichtsPrinzip das soziale Schutzprinzip der gesetzlichen Unfallversicherung zum Ausdruck kommt. Eine Abkehr würde eine nicht erstrebenswerte Verringerung des sozialen Schutzes arbeitsbedingt psychisch Erkrankter bewirken.40 Zum anderen wurde in tatsächlicher Hinsicht die Einrichtung eines „Sondertopfes“ für psychische Erkrankungen vorgeschlagen, in den die Unfallversicherungsträger einen Anteil einzahlen, der dem mutmaßlichen durchschnitt37  Steiger-Sackmann, Schutz vor psychischen Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz, Rn. 830, allerdings zur (vergleichbaren) Situation in der Schweiz; vgl. ablehnend Molkentin, SGb 2014, 659 (663). 38  Molkentin, SGb 2014, 659 (663). 39  Steiger-Sackmann, Schutz vor psychischen Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz, Rn.  830 f. 40  Vgl. ähnlich Bsp. der durch UV-Strahlung an Hautkrebs Erkrankten, wo ebenfalls private und berufliche Ursachen konkurrieren: Molkentin, SGb 2014, 659 (663).



B. Lösungsansätze im Rahmen der Berufskrankheit191

lichen berufsbedingten Verursachungsanteil an der Entstehung psychischer Erkrankungen entspricht.41 Der restliche Teil sowie die versicherungstechnische und -rechtliche Erfassung und Abwicklung würde durch die Krankenversicherung übernommen.42 Dieser Vorschlag würde wohl die schwierige Klärung des Kausalzusammenhanges hinfällig machen, es käme nicht mehr auf die Anerkennung als (Wie-)Berufskrankheit gem. § 9 SGB VII an. Allerdings wäre damit nicht dem Problem der Schlechterstellung arbeitsbedingt psychisch Erkrankter aufgrund der tendenziell besseren Leistungen in der Unfallversicherung beigekommen. Außerdem würde es eine Kapitulation davor bedeuten, nachzuweisen, dass eine psychische Erkrankung die Anforderungen des Berufskrankheitenrechts erfüllen und rechtlich wesentlich durch die Berufstätigkeit verursacht sein kann. Man würde den Versuch aufgeben, zumindest für eine psychische Erkrankung wie die PTBS entsprechende Forschungen anzuregen, den Kausalzusammenhang zu belegen und sie in die Berufskrankheiten-Liste aufzunehmen. Stattdessen kann man sich den aufgezeigten Problemen im Berufskrankheitenrecht stufenweise nähern. In tatsächlicher Hinsicht müssen die Voraussetzungen für die Möglichkeit der Aufnahme einer psychischen Erkrankung als Listen-Berufskrankheit geschaffen werden, wozu Lösungsansätze zur Ermittlung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes und Nachbesserungen beim Ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten angeführt werden. In rechtlicher Hinsicht ist die Aufnahme einer entsprechenden Listen-Berufskrankheit oder zumindest das Bejahen der Voraussetzungen gem. § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII im Rahmen der Anerkennung als Wie-Berufskrankheit gem. § 9 Abs. 2 SGB VII wiederum Voraussetzung dafür, sich weiteren Überlegungen hinsichtlich Beweiserleichterungen für die Anerkennung im konkreten Einzelfall zu widmen. Schließlich kommen auch Härtefallklauseln in Betracht. Diese Lösungsansätze werden im Folgenden dargestellt und bewertet.

I. Lösungsansätze in tatsächlicher Hinsicht 1. Ermittlung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes Wie gezeigt bereitet die Ermittlung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes Probleme. Die Kritik geht so weit, dass das System der medizinischen Wissensgrundlagen in Frage gestellt wird.43 Neuerdings findet sich der Vor41  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 169, die Autorin führt den geschätzten Wert von 30 % an. 42  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 169. 43  Vgl. o. S. 118.

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3. Kap.: Lösungsansätze

schlag, dass, wenn die internationalen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-5 für die Diagnose einer bestimmten Erkrankung ein Ereignis einer bestimmten Schwere voraussetzen, bei der Anerkennung als Wie-Berufskrankheit im Rahmen des generellen Ursachenzusammenhangs zwischen entsprechenden Einwirkungen und der entsprechenden Erkrankung von einem gesicherten aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand ausgegangen werden könne, ohne weitere Ermittlungen anzustellen.44 Folglich könne bei der PTBS der generelle Ursachenzusammenhang im medizinisch-wissenschaftlichen Sinne unterstellt werden, wenn die in ICD-10 oder DSM-5 aufgestellten Traumakriterien erfüllt seien.45 Dagegen spricht jedoch, dass man insbesondere zu DSM-5 betont, dieses könne nicht ohne Weiteres zur Beantwortung rechtlicher Fragen herangezogen werden, weil das Risiko des Missverständnisses diagnostischer Informationen bestehe.46 ICD-10 und DSM-5 würden der Diagnosestellung dienen, aber keine Aussagen zur kausalen Entstehung von Erkrankungen treffen.47 Außerdem würde dieser Lösungsansatz die Anerkennung jedenfalls nur begrenzt erleichtern. Denn die ausführliche Ermittlung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes wäre weiterhin nötig für die Frage der Einwirkungsexposition einer bestimmten Personengruppe in erheblich höherem Grad als die Allgemeinbevölkerung. Sie ergibt sich auch für die PTBS nicht ohne Weiteres aus ICD-10 und DSM-5. Der Lösungsansatz ist deshalb insgesamt nicht zielführend. 2. Verbesserungen beim Ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten Beim Ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten wurden als Probleme in tatsächlicher Hinsicht die fehlende Transparenz, die unzureichende Ausstattung und das fehlende Bewusstsein für die faktische Tragweite seiner Entscheidungen festgestellt.48 Neben den erwähnten begrüßenswerten Änderungen durch das Siebte Gesetz zur Änderung des SGB IV und anderer Gesetze49 könnte der vermehrte Einbezug arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse beim Sachverständigenbeirat die Möglichkeit zur Anerkennung psychischer Erkrankungen als Listen-Berufskrankheit in tatsächlicher Hinsicht 44  Molkentin,

SGb 2021, 76 (80). SGb 2021, 76 (82). 46  Falkai et al., DSM-5, S. 33; Fabra, MEDSACH 2021, 6 (8); Forchert, MEDSACH 2021, 15 (25). 47  Falkai et al., DSM-5, S. 34; Forchert, MEDSACH 2021, 15 (25). 48  Vgl. o. S. 122. 49  Vgl. o. S. 134. 45  Molkentin,



B. Lösungsansätze im Rahmen der Berufskrankheit193

verbessern. Dafür sollte Arbeitspsychologie und Ergonomie neben der traditionellen medizinischen Wissenschaft mehr Raum zukommen.50 Angesichts der Wandlungen der Arbeitswelt, in der psychische Belastungen und Erkrankungen eine immer größere Rolle spielen, wäre auch die Einbindung der Arbeitssoziologie konsequent und zeitgemäß.51 Die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft gem. § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII sollten deshalb in rechtlicher Hinsicht um arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse erweitert werden.52 Bereits bei den Vorarbeiten zum UVEG53 hatte der Bundesrat einen ähnlichen Vorschlag zur Einbeziehung arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse gemacht.54 Die Bundesregierung argumentierte damals dagegen, dass arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse aus Ergonomie und Arbeitssoziologie nicht geeignet seien, tragfähige Aussagen über den generellen Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkungen und Erkrankungen zu treffen.55 Das übersieht jedoch, dass die Arbeit des Sachverständigenbeirats insgesamt ergiebiger und der heutigen Realität arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren besser gerecht werden könnte. Dass dies bislang nicht gelingt, beweist die schlechte oder zumindest nicht ausreichende Forschungslage, gerade bei arbeitsbedingten psychischen Erkrankungen. Durch einen vergrößerten und flexibilisierten Fundus an wissenschaftlichen Erkenntnissen würde es wahrscheinlicher, berufsbedingte (psychische) Erkrankungen als solche nachweisen zu können und so die Aufnahme in die Berufskrankheiten-Liste zu erreichen.56 Unter der Annahme, dass Arbeitspsychologie und Ergonomie auch schon durch die jetzige arbeitsmedizinische Besetzung des Sachverständigenbeirats zumindest theoretisch hinreichend einbezogen werden könnten,57 wird die Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 156. Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 156 f. 52  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 158, 556, mit eigenem Formulierungsvorschlag, der explizit die einzelnen Wissenschaften Ergonomie, Arbeitspsychologie und Arbeitssoziologie aufzählt. 53  Gesetz zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch v. 07.08.1996, BGBl. I S. 1254. 54  BT-Drs. 13/2333, S. 5. 55  BT-Drs. 13/2333, S. 19. 56  Vgl. zum Ganzen Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S.  157 f. 57  Vgl. anders schriftliche Stellungnahme Bundes-Psychotherapeuten-Kammer zur Anhörung im schriftlichen Verfahren von Sachverständigen u. a. zum Gesetz­entwurf der Bundesregierung, Entwurf eines 7. SGB IV-ÄndG, Ausschuss-Drs. 19(11)613, S. 249 f., abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/692172/4c0bd3056a 10d604b29a9f ce05bc4f4a/19-11-613-Materialzusammenstellung-data.pdf (abgerufen 50  Vgl.

51  Hollo,

194

3. Kap.: Lösungsansätze

zusätzliche Aufnahme von zwei Mitgliedern aus dem Bereich der Arbeitssoziologie in den Sachverständigenbeirat vorgeschlagen.58 Bislang gehören ihm gem. § 8 Abs. 1 S. 2 BKV acht Hochschullehrende aus den Bereichen der Arbeitsmedizin und Epidemiologie, zwei staatliche Gewerbeärztinnen oder Gewerbeärzte sowie zwei Ärztinnen oder Ärzte aus dem betriebs- oder werksärztlichen Bereich an. Der Aufnahme von zwei Mitgliedern aus der Arbeitssoziologie ist zuzustimmen. Um außerdem die Berücksichtigung aller drei Gebiete sicherzustellen, sollten diese zusätzlich ausdrücklich in § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII genannt werden59 oder zumindest in § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII als Erkenntnisse der Arbeitswissenschaft aufgeführt werden, die dann in § 7 BKV näher als Ergonomie, Arbeitspsychologie und Arbeitssoziologie definiert werden. 3. Ergebnis Die Erfassung durch die Arbeitstätigkeit verursachter psychischer Erkrankungen im System des Berufskrankheitenrechts kann durch verschiedene Lösungsansätze in tatsächlicher Hinsicht vorangebracht werden. Es findet sich der Lösungsansatz, im Rahmen des generellen Ursachenzusammenhangs einen entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnisstand bei der PTBS zu unterstellen, wenn die betreffenden Einwirkungen die Traumakriterien von ICD-10 oder DSM-5 erfüllen. Dies erweist sich jedoch als nicht zielführend. Durchaus zielführend kann aber der Lösungsansatz sein, im Rahmen der Beratung durch den Ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten vermehrt arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse einzubeziehen. Darunter fallen die Arbeitspsychologie, Ergonomie und Arbeitssoziologie. Dies kann gelingen durch die explizite Nennung dieser Disziplinen in § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII und durch die Erweiterung des Sachverständigenbeirats um zwei zusätzliche Mitglieder aus dem Bereich der Arbeitssoziologie.

am 16.12.2021), Forderung der Aufnahme von zwei zusätzlichen Mitgliedern aus dem Bereich der Psychotherapie. 58  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 110, 156 ff. 59  Vgl. so auch der Formulierungsvorschlag von Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 556.



B. Lösungsansätze im Rahmen der Berufskrankheit195

II. Lösungsansätze in rechtlicher Hinsicht 1. Aufnahme einer neuen Listen-Berufskrankheit Grundsätzlich könne laut Molkentin kein Zweifel daran bestehen, dass eine psychische Erkrankung Berufskrankheit sein kann.60 Es passiere aber nichts, „die beteiligten Kreise verharren in Bewegungsstarre“.61 Es kam die Frage auf, ob aus der bislang nicht erfolgten Anerkennung von psychischen Erkrankungen als Wie-Berufskrankheit gem. § 9 Abs. 2 SGB VII geschlossen werden muss, dass auch die Bundesregierung als Verordnungsgeberin eine psychische Erkrankung nicht in die Berufskrankheiten-Liste aufnehmen kann. In anderen Worten ist fraglich, ob die Verordnungsgeberin die Anforderungen von § 9 Abs. 2 SGB VII an den wissenschaftlichen Nachweis unterschreiten, also „großzügiger“ sein kann.62 Diese Frage stellte sich bereits in den 90er Jahren im Rahmen der Berufskrankheit Nr. 2108.63 Das BSG betonte damals neben der nur begrenzten Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung der Entscheidungen der Verordnungsgeberin64 die Unterscheidung zwischen den harten, strengen Kriterien des § 9 Abs. 2 SGB VII und denen in § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII, die nur für die Verordnungsgeberin gelten.65 Die Berufskrankheitenreife verlangt zwingend eine Bewertung medizinischer Meinungen, denn es muss mit medizinisch-wissenschaftlichen Methoden und Überlegungen begründet werden können, dass bestimmte Einwirkungen generell geeignet sind, bestimmte Erkrankungen zu verursachen.66 Die Verordnungsgeberin kann sich hierbei aber frei entscheiden, ab wann sie sich auch neuesten oder einem kleineren Teil wissenschaftlicher Untersuchungen anschließen will. Sie entscheidet innerhalb ihres Gestaltungsspielraumes, ab welcher Schwelle sie einer ernst­ zunehmenden Mindermeinung noch Gewicht bemisst oder nicht. Erst dann kann nicht mehr von einem wissenschaftlich gesicherten Ursachenzusam60  Molkentin,

SGb 2019, 200. SGb 2019, 200. 62  Spellbrink, SozSich 2013, 431 (435); vgl. auch Spellbrink, SozSich 2019, 32 (37). 63  BK Nr. 2108 Anlage 1 BKV: Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten; Spellbrink, ­SozSich 2019, 32 (37). 64  Vgl. o. S. 88. 65  BSG, Urt. v. 23.03.1999 – B 2 U 12/98 R, BSGE 84, 30; kritisch dazu: Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke/Brandenburg, JurisPK SGB VII: § 9 Rn. 74; Brandenburg, SGb 2004, 70 (71); dagegen zustimmend: Spellbrink, WzS 2012, 259 (261); Spellbrink, SozSich 2019, 32 (37 f.). 66  Spellbrink, SozSich 2013, 431 (435 f.). 61  Molkentin,

196

3. Kap.: Lösungsansätze

menhang ausgegangen werden, wenn aus der Wissenschaft nicht einmal mehr deutliche Hinweise für einen Zusammenhang herleitbar sind.67 Es würde eine Kompetenzverschiebung hin zur Rechtsprechung bedeuten, wenn diese prüft, ob die in § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII genannten Voraussetzungen für die Aufnahme einer neuen Berufskrankheit vorlagen und ob die Verordnungsgeberin dabei die richtigen sachlichen und wissenschaftlichen Annahmen zugrunde gelegt hat.68 Vor diesem Hintergrund gibt Spellbrink die vorsichtige Einschätzung ab, dass die Rechtsprechung in der Aufnahme einer psychischen Erkrankung als Berufskrankheit keine Überschreitung des Regelungsermessens der Verordnungsgeberin sehen würde, wenn die notwendige wissenschaftliche Begründung für arbeitsbedingte psychische Erkrankungen spezifischer Personengruppen beigefügt wird.69 Wie ein Aufruf wirkt seine Aussage, es dürfe nicht übersehen werden, dass der erhebliche Gestaltungsspielraum gerade wegen der Schwierigkeiten einer konsensuellen Feststellung medizinischer Standards und Erkenntnisse bestehe und sich eine politisch denkende Verordnungsgeberin jedenfalls juristisch nicht hinter der „Autorität“ des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Berufskrankheiten verstecken könne.70 Deshalb sowie aufgrund der Möglichkeit der Verordnungsgeberin, auch einer ernstzunehmenden Mindermeinung Gewicht beizumessen, erscheint es widersprüchlich, dass für eine solche Aufnahme einer psychischen Erkrankung als Berufskrankheit teils neben der wissenschaftlich haltbaren amtlichen Begründung durch die Verordnungsgeberin auch eine Begründung des Sachverständigenbeirats verlangt wird.71 Konsequenterweise reicht die amtliche Begründung aus.72 Vorausgesetzt, eine amtliche Begründung kann in Zukunft vorgelegt werden, stellt sich die Frage nach der Formulierung der Berufskrankheit. Es 67  Vgl.

o. S. 89. WzS 2012, 259 (261). 69  Spellbrink, WzS 2012, 259 (261); Spellbrink, SozSich 2013, 431 (436); Spellbrink, SozSich 2019, 32 (38), erachtet die wissenschaftliche Begründung jedenfalls für den Bereich des Burn-out Syndroms bislang für schwierig; Pitz/Strametz, SGb 2021, 405 (412), zustimmend; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 225 f., Fn. 516, zustimmend, vorausgesetzt, es gebe entsprechende Meinungen in der medizinischen Wissenschaft, nach denen die Voraussetzungen zur Aufnahme als BK erfüllt sind, dem sei bislang aber wohl nicht so. 70  Spellbrink, SR 2014, 140 (149). 71  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S.  225  f., Fn. 516; so nämlich bei Spellbrink, WzS 2012, 259 (261); Spellbrink, SGb 2013, 154 (161); Spellbrink, SozSich 2013, 431 (436); Spellbrink, SozSich 2019, 32 (38). 72  So auch Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 225 f., Fn. 516. 68  Spellbrink,



B. Lösungsansätze im Rahmen der Berufskrankheit197

wurde die Formulierung als Generalklausel vorgeschlagen.73 Die Gewerkschaft ver.di formulierte: „Psychische Erkrankungen, die zu Erwerbsunfähigkeit führen und deren Ursachen auf Fehlbelastungen und Überlastungen im Berufsleben zurückzuführen sind“.74 Eine Generalklausel könnte im Einzelfall mehr Gerechtigkeit und Zielgenauigkeit ermöglichen. Allerdings lässt sie kaum noch generalisierbare Maßstäbe erkennen und würde das Berufskrankheitenrecht zu case law machen. Anreize für Forschung zu Zusammenhängen von Arbeitsbedingungen und konkreten Erkrankungen, die das jetzige Listensystem schafft, würden wegfallen. Das hätte negative Auswirkungen auf die Prävention, auch die Abgrenzung zwischen Kranken- und Unfallversicherung würde immer fraglicher.75 Zudem würde die Verordnungsgeberin durch eine Generalklausel den gesetzlichen Ermächtigungsrahmen überschreiten, weil im Prinzip jede psychische Erkrankung aufgrund jeder Einwirkung anerkannt werden könnte und keine spezifische Belastung einer von der Allgemeinbevölkerung abgrenzbaren Personengruppe bestimmbar wäre.76 Stattdessen sollte sich die Formulierung an der neueren Praxis bei der Bezeichnung von Listen-Berufskrankheiten orientieren und Krankheit und Einwirkung konkret benennen.77 Eine Formulierung einer solchen Einwirkungs-Erkrankungs-Kombination könnte lauten: „Posttraumatische Belastungsstörung nach ICD-10 Nr. F43.1 aufgrund belastender Ereignisse oder andauernder belastender Umstände, wenn Versicherte diesen im Rahmen einer mindestens zehnjährigen Tätigkeit im Notarzt- oder Rettungsdienst oder auf der Intensivstation ausgesetzt waren.“78 Für die Einwirkungen müsste gerade bei psychischen Erkrankungen auf deren Schwere und Dauer abgestellt werden.79 Insbesondere zur PTBS80 könnten die internationalen Klassifikationssysteme zur Orientierung dienen, weil dort der objektive Charakter der Einwirkung betont wird.81 Für die Formulierung als Norm bräuchte es 73  Bspw. bei Schemmel, Haftungsfall Burn-Out, S. 262  ff.; vgl. Spellbrink, SR 2015, 15 (23). 74  Zitiert nach Spellbrink, SR 2015, 15 (22 f.). 75  Zum Ganzen Spellbrink, SR 2015, 15 (23). 76  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S.  225  f., Fn. 516; vgl. Spellbrink, SozSich 2019, 32 (38). 77  Vgl. dazu schon o. S. 125; so auch Spellbrink, SozSich 2019, 32 (38). 78  Vgl. ähnlich Spellbrink, SozSich 2019, 32 (38); Pitz/Strametz, SGb 2021, 405 (413). 79  Vgl. Spellbrink, WzS 2012, 259 (263). 80  Vgl. Knickrehm, SGb 2010, 381 (388), sich für die Erwägung der Aufnahme der PTBS als Listen-BK aussprechend. 81  Nach ICD-10: F43.1 bedarf es eines belastenden Ereignisses oder einer Situation mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde, vgl. schon o. S. 24 und Anhang S. 231; vgl. Spellbrink, WzS 2012, 259 (263), Fn. 26.

198

3. Kap.: Lösungsansätze

aber derart exakte und gesicherte Erfahrungssätze über die Einwirkungs-Erkrankungs-Relation, dass dies momentan für schwierig erachtet wird.82 So stellte auch die dem BMAS untergeordnete Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2017 in einer wissenschaftlichen Standortbestimmung zu psychischer Gesundheit in der Arbeitswelt fest, dass zwar Befunde zu Zusammenhängen zwischen Arbeitsbedingungsfaktoren und psychischen Erkrankungen vorlägen, sich aus der aktuellen Studienlage aber keine Empfehlung ableiten lasse, dass sich der Ärztliche Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten mit der Thematik psychischer Belastung befassen sollte.83 In anderen Worten sah die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin es 2017 als nicht realistisch an, dass arbeitsbedingte psychische Erkrankungen als Listen-Berufskrankheit eingeführt werden können. Letztlich liegt die Aufnahme einer psychischen Erkrankung als ListenBerufskrankheit in der Hand der Bundesregierung als Verordnungsgeberin. Sie sollte ihren Gestaltungsspielraum angesichts der schwierigen konsensuellen Feststellung medizinischer Erkenntnisse wahrnehmen. Sie wird dabei realistischer Weise sozialpolitische Erwägungen nicht völlig ausnehmen. Diese dürfen sich aber nicht zu weit von der Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers aus § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII entfernen, wie es bei finanziellen Erwägungen wie der Mehrbelastung der Unfallversicherung durch psychische Erkrankungen der Fall wäre.84 2. Einführung von Beweiserleichterungen Die Diskussion um die Einführung von Beweiserleichterungen im Berufskrankheitenrecht wird immer wieder geführt.85 Weil dieser Lösungsansatz nicht allein psychische Erkrankungen betrifft, soll er für die vorliegende Untersuchung nur knapp dargestellt werden. Beweiserleichterungen kommen zunächst bei der Feststellung der Einwirkungen in Betracht. Neuerdings soll die Erstellung tätigkeitsbezogener Ex­ 82  Spellbrink, SozSich 2019, 32 (38); vgl. auch Spellbrink, WzS 2012, 259 (263), zu Burn-out; vgl. dazu auch Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 225 f., Fn. 516, es sei schwer zu beurteilen, ob durch hinreichenden politischen Willen insbesondere in Form der Förderung passgenauer und verstärkter Forschung im Bereich der arbeitsbedingten psychischen Erkrankungen die Situation hergestellt werden könnte. 83  BAuA: Rothe et al., Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt, S. 79. 84  Vgl. o. S. 118. 85  Zuletzt i. R. d. Reform durch das 7. SGB IV-ÄndG, Ablehnung durch die Bundesregierung: BT-Drs. 19/17586, S. 163; vgl. Keller, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: Einführung E 050 S. 3; Koch, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 36 Rn. 23 ff.; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 428 ff.



B. Lösungsansätze im Rahmen der Berufskrankheit199

positionskataster gem. § 9 Abs. 3a S. 4 und 5 SGB VII den Nachweis der Einwirkungen erleichtern.86 Das wird jedoch für nicht ausreichend gehalten.87 Abgesehen davon wird es ebenso wie beim Arbeitsunfall für möglich er­ achtet, in den Fällen des Beweisnotstandes weniger hohe Anforderungen an den Beweis des Vorliegens berufsbedingter Einwirkungen im Rahmen der freien Beweiswürdigung zu stellen.88 Die Beweisschwierigkeiten entstehen durch die oft lange Latenzzeit zwischen Einwirkungen und Erkrankung,89 die es auch bei psychischen Belastungen wie beispielsweise Stress oder Mobbing über mehrere Jahre geben kann. Im Rahmen des Berufskrankheitenrechts bestünden die weniger hohen Anforderungen darin, dass schon wenige ­tatsächliche Anhaltspunkte ausreichen, um die richterliche Überzeugung b ­ egründen zu können.90 Das Ausmaß der Einwirkungsexposition kann geschätzt werden, indem ein realitätsgerechter Maßstab zugrunde gelegt wird.91 Die Möglichkeit geringerer Anforderungen an den Beweis der Einwirkungen ist jedoch in rechtlicher Hinsicht mangels gesetzlicher Verpflichtung und somit fehlender Rechtssicherheit nicht ausreichend.92 Deshalb wäre eine gesetzliche Regelung bedenkenswert, in der subsidiär für die Fälle des Beweisnotstandes, die außerhalb des Verantwortungsbereiches der Versicherten liegen, der Beweismaßstab für das Vorliegen schädigender arbeitsbedingter Einwirkungen auf die Glaubhaftmachung herabgesetzt wird.93 Dazu wird ausgeführt, dass eine solche Regelung sinnvollerweise nur in Fällen Anwendung finden sollte, in denen alle anderen Möglichkeiten zur Sachverhaltsaufklärung ausgeschöpft sind und in denen die Abkehr von den allgemeinen Grundsätzen der Beweislastverteilung gerechtfertigt ist. Gemeint seien Fälle, dazu Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 222. SozSich 2019, 269 (274). 88  Vgl. zum Arbeitsunfall o. S. 55; ausführlich zur Übertragung in das BKRecht: Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 446 ff.; vgl. auch Rottmann, Zurechnungsprobleme im Berufskrankheitenrecht, S. 121 ff.; Bieresborn, SGb 2016, 379 (383); Keller, SGb 2001, 226. 89  Vgl. Bieresborn, SGb 2016, 379 (383); Keller, SGb 2001, 226. 90  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 448. 91  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 448 f.; Bieresborn, SGb 2016, 379 (383), unter Bezug auf BSG, Urt. v. 15.09.2011 – B 2 U 25/10 R, SozR 4-5671 Anl. 1 Nr. 4111 Nr. 3 Rn. 18. 92  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 449 f. 93  Ausführlich dazu: Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 450 ff., in Anlehnung an § 15 KOVVfG; vgl. auch Bieresborn, SGb 2016, 379 (383); Spellbrink, SR 2015, 15 (21); allerdings zuletzt i. R. d. Reform durch das 7. SGB IV-ÄndG Ablehnung von Beweiserleichterungen durch die Bundesregierung, BT-Drs. 19/17586, S. 163, Begründung: Die Versicherten könnten regelmäßig keine Angaben über Art und Ausmaß der Einwirkungen machen. 86  Vgl.

87  Hollo,

200

3. Kap.: Lösungsansätze

in denen der Vollbeweis aus Gründen scheitert, die nicht im Verantwortungsbereich der Versicherten liegen und nicht zu ihren Lasten gehen dürfen. Für die Beweiserleichterung müsse ein angemessener Ausgleich gefunden werden, sodass weder die Versicherten einseitig begünstigt würden noch zu hohe Anforderungen gestellt werden, sodass diese tatsächlich nur selten erfüllt werden können. Dies sei bei der Glaubhaftmachung der Fall.94 Gem. § 23 Abs. 1 S. 2 SGB X wurde eine Tatsache glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist. Beweiserleichterungen kommen auch für den Nachweis des Kausalzusammenhangs zwischen Einwirkung und Krankheit bei der konkreten Anerkennung als Berufskrankheit in Betracht. Zwar besteht bereits die Möglichkeit, den Nachweis des Kausalzusammenhangs über eine möglichst exakte Formulierung des Berufskrankheiten-Tatbestandes in der Berufskrankheiten-Liste zu erleichtern.95 Denn sind Krankheitsbild und schädigende Einwirkung nach Art, Intensität und Dauer derart beschrieben, dass kein oder nahezu kein Raum für Interpretation bleibt, und liegen diese im konkreten Fall vor, wird der Kausalzusammenhang bei der konkreten Anerkennung im Wege des Anscheins­ beweises vermutet.96 Der Anscheinsbeweis kann aber bereits durch das Aufzeigen der ernsthaften Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs erschüttert werden, ohne dass dafür der Vollbeweis nötig wäre.97 Die mehrmals geforderte gesetzliche Einführung einer Beweislastumkehr98 würde die Gefahr des Verzichts auf die grundlegende Aufklärung der Ursachen von Erkrankungen mit sich bringen.99 Je eher sie dazu beiträgt, die fehlende Nähe zur betrieblichen Sphäre zu überwinden, desto systemwidriger würde sie sich auswirken und die Risikozuordnung der Sozialversicherungszweige in Frage stellen.100 Auch würde es dem Prinzip der Unfallversiche94  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 453 f., mit entsprechendem Gesetzesvorschlag. 95  Vgl. ausführlich dazu: Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 459. 96  Vgl. o. S. 93; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 459. 97  Foerste, in: Musielak/Voit, ZPO: § 286 Rn. 23; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 461. 98  Vgl. Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 135; Schöpf, Multikausale Schäden in der gesetzlichen Unfallversicherung, S. 93 f.; Spellbrink, SR 2015, 15 (21); Hien, SozSich 2012, 382 (390 f.), ein entsprechender Prüfungsauftrag wurde bspw. 2011 von der Arbeits- und Sozialministerkonferenz an die Bundesregierung gerichtet. 99  Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 135; Spellbrink, SR 2015, 15 (21). 100  Koch, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 36 Rn. 24; Schöpf, Multikausale Schäden in der gesetzlichen Unfallversicherung, S. 208 f.



B. Lösungsansätze im Rahmen der Berufskrankheit201

rung als Haftpflichtversicherung widersprechen, gerade in schwierigen Fällen das Risiko der Nichterweislichkeit den Unternehmern und Unternehmerinnen als alleinigen Beitragszahlenden aufzubürden.101 Das BSG lehnt eine auf bloße Rechtsfortbildung gestützte Beweislastumkehr bislang auch bei erheblichen Beweisschwierigkeiten konsequent ab.102 Eine Beweislastumkehr ist letztlich im Berufskrankheitenrecht und somit auch im Bereich psychischer Erkrankungen abzulehnen.103 Vielmehr empfiehlt man in rechtlicher Hinsicht niedrigere Beweisanforderungen für die Kausalität durch Vermutungsregelungen.104 So führten die Diskussionen um die Beweislastumkehr zur Einführung von § 9 Abs. 3 SGB VII.105 Danach wird die Verursachung der Erkrankung infolge der versicherten Tätigkeit vermutet, wenn keine Anhaltspunkte für eine Verursachung außerhalb der versicherten Tätigkeit festgestellt werden können. Weil in den fraglichen, problematischen Fällen aber stets Anhaltspunkte für eine nicht arbeitsbedingte Verursachung vorliegen, findet die Norm praktisch keine Anwendung.106 Als effektiverer Weg wird die Einführung einer widerlegbaren gesetzlichen Vermutung zur Erleichterung des Nachweises des Kausalzusammenhangs zwischen Einwirkung und Krankheit bei der konkreten Anerkennung als ­Berufskrankheit vorgeschlagen.107 Eine gesetzliche Vermutung leitet sich aus einer Rechtsvorschrift ab, nach der aus dem Vorliegen einer Tatsache der Beweisschluss auf eine andere Tatsache zu ziehen ist.108 Gem. § 292 S. 1 ZPO ist bei einer gesetzlichen Vermutung der Beweis des Gegenteils zulässig, sofern nicht das Gesetz ein anderes vorschreibt. Allerdings erfordert die 101  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 470; Bieresborn, SGb 2016, 379 (384). 102  St.Rspr., BSG, Urt. v. 29.01.1974 – 8/7 RU 18/72, SozR 2200 § 551 Nr. 1; Beschluss v. 04.02.1998 – B 2 U 304/97 B, juris; Urt. v. 07.09.2004 – B 2 U 34/03 R, juris Rn. 22; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 445; Bieresborn, SGb 2016, 379 (384). 103  Vgl. so auch Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 471; Bieresborn, SGb 2016, 379 (384). 104  Koch, in: Schulin, HdBSozVersR/Bd. 2 UV: § 36 Rn. 25; vgl. anders Bieresborn, SGb 2016, 379 (384), den abgemilderten Beweismaßstab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit für den Schutz der Versicherten für ausreichend erachtend. 105  Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 135; Becker, MEDSACH 2010, 145 (150); Spellbrink, SR 2015, 15 (21). 106  Vgl. Römer, in: Hauck/Noftz/Keller, SGB VII: § 9 Rn. 156; Becker, MEDSACH 2010, 145 (150); Spellbrink, SR 2015, 15 (21 f.). 107  Vgl. Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 471 ff. 108  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 472; SchulzWeidner, SGb 1992, 59 (65).

202

3. Kap.: Lösungsansätze

erfolgreiche Widerlegung den vollen Beweis des Gegenteils.109 Als Kompromisslösung zwischen Anscheinsbeweis und Beweislastumkehr wird die widerlegbare gesetzliche Vermutung angeführt, um den Nachweis der haftungsbegründenden Kausalität bei der Anerkennung als Berufskrankheit im konkreten Fall zu erleichtern. Es wird vorgeschlagen, dass, wenn tätigkeits- beziehungsweise arbeitsplatzbedingte Einwirkungen nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet seien, die eingetretene Krankheit zu verursachen, vermutet werden soll, dass die Krankheit durch diese Einwirkungen verursacht worden sei.110 Dies könnte eine Möglichkeit darstellen, die Beweisschwierigkeiten unter anderem bei psychischen Erkrankungen im Hinblick auf den Kausalzusammenhang im konkreten Fall zu vermindern. 3. Einführung einer Härtefallklausel Ein weiterer Lösungsansatz in rechtlicher Hinsicht, der ebenfalls unabhängig von psychischen Erkrankungen für das Berufskrankheitenrecht gefordert wird, wäre die Einführung einer ergänzenden Härtefallklausel.111 Eine generelle Härtefallklausel existiert im deutschen Berufskrankheitenrecht bislang nicht.112 Für eine solche müsste der Gesetzgeber tätig werden.113 Fraglich wäre, ob eine Härtefallklausel überhaupt die Anerkennung psychischer Erkrankungen als Berufskrankheit voranbringen würde. Denn bislang fordert man eine solche Klausel für Fälle von Erkrankungen aufgrund selten oder nur in kleinen Personengruppen auftretenden Einwirkungen sowie für Fälle multikausaler Erkrankungen, insbesondere der Synkanzerogenese.114

109  Huber, in: Musielak/Voit, ZPO: § 292 Rn. 5; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 472. 110  Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 473, vgl. den (noch ausführlicheren) Vorschlag für eine gesetzliche Regelung auf S. 475. 111  Zuletzt abgelehnt durch die Bundesregierung i. R. d. 7. SGB IV-ÄndG aufgrund fehlender Erforderlichkeit und Aushöhlung des Listenprinzips, BT-Drs 19/17586 S. 163; vgl. Molkentin, in: Deutscher Sozialgerichtstag e. V., Sozialrecht im Umbruch, S. 123 (135); Spellbrink, SR 2015, 15 (24 f.); Hollo, SozSich 2019, 269 (274); Siefert, NZS 2019, 121 (130), so auch die Forderungen auf der 93. Arbeits- und Sozialministerkonferenz 2016. 112  Vgl. so auch schon o. S. 103. 113  Spellbrink, in: DGUV, Erfahrungen mit § 9 Abs. 2 SGB VII, 6. Bericht, S. 53 (70 f.); Spellbrink, SozSich 2013, 431 (436). 114  Vgl. Vorschlag des Bundesrats i.  R. d. 7. SGB IV-ÄndG, BT-Drs 19/17586 S.  153 f.; Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 526; Axer, SGb 2016, 177 (182 f.); Spellbrink, SozSich 2013, 431 (436); Hollo, SozSich 2019, 269 (274).



B. Lösungsansätze im Rahmen der Berufskrankheit203

Eine generelle Härtefallklausel, die nicht ausschließlich diese Fälle betrifft, ist abzulehnen. Denn sie würde einen Systembruch bedeuten, indem das aktuelle System der Erforschung und Beobachtung von Berufskrankheiten hinterfragt würde, und die Entscheidung des Gesetzgebers für Rechtssicherheit und gegen eine umfassende Einzelfallgerechtigkeit umgangen würde.115 Für die genannten Härtefälle wird das Erfordernis einer Härtefallklausel aber mit dem Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG, der Unmöglichkeit hinreichender epidemiologischer Erkenntnisse sowie der einer Anerkennung multikausaler Erkrankungen entgegenstehenden monokausalen Ausgestaltung des Berufskrankheitenrechts begründet.116 Im Hinblick auf psychische Erkrankungen führt man an, dass eine Härtefallklausel nicht weiterhelfe, weil das Problem darin liege, dass die wissenschaftliche Erforschung am unspezifischen Charakter der Belastungen und Erkrankungen und nicht an einer zu kleinen Gruppe von Betroffenen oder der Hochspezifität der Einwirkungen wie bei der Synkanzerogenese scheitere.117 Dem ist zuzustimmen. Zwar kann das Problem zu kleiner Gruppen von Betroffenen in Einzelfällen auch psychische Erkrankungen betreffen.118 Auch die Problematik der Multikausalität kennzeichnet psychische Erkrankungen. Allerdings erscheint eine Härtefallklausel, die nur ausnahmsweise greifen soll, nicht als das richtige Instrument, weil die Multikausalität bei psychischen Erkrankungen sehr häufig eine Rolle spielt. Psychische Erkrankungen generell über eine Härtefallklausel anzuerkennen, würde dem Zweck einer Härtefallklausel und dem Listensystem widersprechen. Eine Härtefallklausel mag deshalb generell sinnvoll sein, würde aber nicht speziell die Anerkennung psychischer Erkrankungen voranbringen. 4. Ergebnis In rechtlicher Hinsicht wurden drei Lösungsansätze untersucht. Wenn eine wissenschaftlich haltbare amtliche Begründung möglich ist, sollte die Bundesregierung als Verordnungsgeberin erstens die Aufnahme einer psychischen Erkrankung als neue Listen-Berufskrankheit wagen. Hierbei müsste die Einwirkungs-Erkrankungs-Kombination im Tatbestand möglichst exakt formuliert werden. Zweitens wird allgemein für das Berufskrankheitenrecht eine 115  Vgl. Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten, S. 528; vgl. Spellbrink, in: DGUV, Erfahrungen mit § 9 Abs. 2 SGB VII, 6. Bericht, S. 53 (71); Spellbrink, SozSich 2013, 431 (437). 116  Vgl. zum systembedingten Ausschluss schon o. S. 125; Axer, SGb 2016, 177 (182 f.); Spellbrink, SozSich 2013, 431 (436); Hollo, SozSich 2019, 269 (274). 117  Spellbrink, SozSich 2013, 431 (436), es könne jede Person treffen. 118  Vgl. dazu auch schon o. S. 126.

204

3. Kap.: Lösungsansätze

gesetzliche Beweiserleichterung dahingehend gefordert, dass in Fällen des Beweisnotstandes die Glaubhaftmachung der arbeitsbedingten Einwirkungen ausreicht. Zur Erleichterung des Nachweises der haftungsbegründenden Kausalität zwischen Einwirkungen und Erkrankung schlägt man zudem die Einführung einer widerlegbaren gesetzlichen Vermutung vor. Diese beiden Beweiserleichterungen sind nicht nur generell, sondern auch für die Anerkennung psychischer Erkrankungen sinnvoll. Drittens wird ebenfalls allgemein eine Härtefallklausel für Fälle selten oder nur in kleinen Personengruppen auftretender Einwirkungen gefordert sowie für die Problematik multikausaler Erkrankungen. Eine solche eignet sich jedoch nicht, um speziell die Anerkennung von psychischen Erkrankungen im Berufskrankheitenrecht voranzubringen.

III. Fazit Die Probleme an vielen verschiedenen Stellen im Berufskrankheitenrecht machen mehrere Veränderungen nötig, allein die Aufnahme einer neuen Listen-Berufskrankheit ist nicht ausreichend. Notwendig sind vielmehr Nachbesserungen sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht.

C. Gesamtbetrachtung des 3. Kapitels Das 3. Kapitel widmete sich der Untersuchung von Lösungsansätzen, um den bestehenden Problemen bei der Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall in der gesetzlichen Unfallversicherung zu begegnen und so eine umfangreichere Erfassung herbeizuführen. Als Lösungsansätze im Rahmen des Arbeitsunfalls kommen in rechtlicher Hinsicht die Einführung eines zusätzlichen Versicherungsfalls „wiederkehrendes Ereignis“ vergleichbar zu § 1 Abs. 3 SGB XIV und eine Beweislastumkehr vergleichbar zu § 4 Abs. 5 SGB XIV in Betracht. Diese Lösungsansätze sind jedoch abzulehnen. Als Lösungsansatz im Rahmen der Berufskrankheit sind in tatsächlicher Hinsicht Nachbesserungen beim Ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten in Form des Einbezugs arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse wünschenswert. In rechtlicher Hinsicht bestehen die Lösungsansätze darin, dass erstens die Bundesregierung als Verordnungsgeberin eine psychische Erkrankung als Listen-Berufskrankheit aufnimmt, wenn die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen. Zweitens ist die Einführung von Beweiserleichterungen erforderlich, wohingegen eine Härtefallklausel speziell für psychische Erkrankungen nicht gewinnbringend erscheint.



C. Gesamtbetrachtung des 3. Kapitels205

Die Schwierigkeit bei psychischen Erkrankungen als Berufskrankheit bleibt, arbeitsbedingte und nicht arbeitsbedingte Einwirkungen voneinander zu trennen und hinsichtlich ihrer Ursächlichkeit für die Erkrankung zu beurteilen. Sinnvoll könnte es dafür sein, sich für die Anerkennung als (Listen-) Berufskrankheit zunächst auf Erkrankungen wie die PTBS nach Extrembelastungen zu konzentrieren,119 weil hier bislang am ehesten die Möglichkeit zur Aufklärung des Kausalzusammenhangs besteht. Dem entspricht auch, dass das BSG wie gezeigt120 die Anerkennung als Wie-Berufskrankheit in einem solchen Fall zumindest für möglich erachtete.

119  So auch Molkentin, in: Deutscher Sozialgerichtstag e. V., Sozialrecht im Umbruch, S. 123 (131). 120  Vgl. o. S. 107.

4. Kapitel

Zusammenfassung Die Problematik der Erfassung psychischer Erkrankungen in der gesetz­ lichen Unfallversicherung existiert seit deren Einführung 1884. Das BSG kehrte in seinem Grundsatzurteil vom 18.12.19621 von den vom RVA aufgestellten Grundsätzen zur sogenannten Unfallneurose ab. Seitdem steht fest, dass psychische Erkrankungen wie beispielsweise depressive Episoden, somatoforme Störungen, Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen ebenso wie somatische Erkrankungen grundsätzlich in der gesetzlichen Unfallversicherung zu erfassen sind. Indes sind psychische Erkrankungen im Zusammenhang mit der gesetzlichen Unfallversicherung in Rechtsprechung und Literatur auch heute noch Bestandteil der Diskussion. Zunächst wurde der aktuelle Stand der Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall in der Unfallversicherung untersucht, also die Frage, inwiefern eine psychische Erkrankung nach aktueller Rechtslage durch die Unfallversicherungsträger als Versicherungsfall anerkannt werden kann, sodass in der Folge Anspruch auf Leistungen durch die gesetzliche Unfallversicherung besteht. Die Möglichkeit der Anerkennung einer psychischen Erkrankung als Arbeitsunfall kann im aktuellen Recht grundsätzlich bejaht werden. Allerdings zeigen sich deutliche Probleme: Das Erfordernis der zeitlichen Begrenzung des Unfallereignisses führt zu einer Regelungs­ lücke im Versicherungsschutz, die vor allem psychische Erkrankungen betrifft, darunter die PTBS und Erkrankungen infolge von psychischer Gewalt, wie beispielsweise Mobbing. Hinsichtlich des Vorliegens eines Unfallereignisses war für die sogenannten Lokführer-Fälle länger unklar, wann ein von außen einwirkendes Ereignis bei Einwirkungen auf die Psyche vorliegt und worin dieses besteht. Die aktuelle Rechtsprechung hat dies weiter aufgeklärt. Auch wurde eine Mindestintensität für das Unfallereignis gefordert. Dies ist abzulehnen und vielmehr im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität zu behandeln. Die Feststellung des Gesundheitsschadens erfordert eine exakte und konsequente Definition der psychischen Erkrankung nach ICD-10 und DSM-5, wobei sich eine Divergenz zwischen dem allgemeinen Sprachgebrauch und der Klassifikation beispielsweise bei Burn-out Syndrom sowie Mobbing aufzeigt. Ebenfalls Probleme bereiten Missverständnisse zwischen 1  BSG,

Urt. v. 18.12.1962 – 2 RU 189/59, BSGE 18, 173.



4. Kap.: Zusammenfassung207

juristischen und medizinischen Beteiligten bei der Anerkennung der PTBS betreffend die Einordnung einer initialen seelischen Beeindruckung als Gesundheits-„erst“-schaden, was sich auch negativ auf die Nachweiserbringung auswirkt. Die Beurteilung der haftungsbegründenden Kausalität wird insbesondere bei psychischen Erkrankungen durch fehlende Studien sowie konkurrierende unfallunabhängige Ursachen erschwert. Neben der Beurteilung bereitet der Nachweis in tatsächlicher Hinsicht Probleme, weil beim Umgang mit medizinischen Sachverständigengutachten teils die Aufgabentrennung zwischen Sachverständigen und juristischen Entscheiderinnen und Entscheidern nicht befolgt oder durch Sachverständige auf persönliche Überzeugungen anstatt auf allgemeine, wissenschaftlich fundierte Aussagen abgestellt wird. Positiv hervorzuheben ist aber, dass es immer mehr und bessere Möglichkeiten der Begutachtung von psychischen Erkrankungen in Form von standardisierten Interviews und Tests gibt. Die Anerkennung einer psychischen Erkrankung als Berufskrankheit gem. § 9 Abs. 1 SGB VII durch die Unfallversicherungsträger ist mangels psychischer Erkrankungen in der Berufskrankheiten-Liste in der Anlage 1 der BKV nach aktueller Rechtslage nicht möglich. Die Anerkennung als Wie-Berufskrankheit gem. § 9 Abs. 2 SGB VII ist zwar theoretisch möglich, es fehlen aber belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse über gruppenspezifische Ursachenzusammenhänge zwischen einzelnen psychischen Erkrankungen und bestimmten beruflichen Belastungen, möglicherweise mit Ausnahme der PTBS im Bereich der in der Entwicklungshilfe oder bei im Rettungsdienst Beschäftigten. Es bedarf weiterer Forschung unter Beachtung der für die Anerkennung als (Wie-)Berufskrankheit spezifischen Anforderungen. Daneben ist das Verfahren zur Anerkennung als Berufskrankheit im Hinblick auf psychische Erkrankungen zu kritisieren. Bei der abstrakten Anerkennung als Listen-Berufskrankheit könnten sozialpolitische Erwägungen, welche die Bundesregierung als Verordnungsgeberin im Rahmen ihres Gestaltungsspielraums anstellen kann, der Aufnahme psychischer Erkrankungen als ListenBerufskrankheit entgegenstehen. Diese Erwägungen müssten sich jedoch verstärkt an der gesetzgeberischen Entscheidungsprärogative in § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII orientieren. Zudem ist in tatsächlicher Hinsicht das etablierte System zur Ermittlung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes und dessen Zeitgemäßheit in Frage zu stellen. Außerdem hat sich im Berufskrankheitenrecht noch nicht die konsequente Anwendung der international anerkannten Klassifikationssysteme durchgesetzt. Weitere Probleme bereiten die Arbeit des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Berufskrankheiten, die uneinheitlichen Berufskrankheiten-Tatbestände und der systembedingte Ausschluss bestimmter Erkrankungen. Der konkreten Anerkennung im Einzelfall stehen Beweisschwierigkeiten entgegen sowie das abzulehnende Erfordernis eines engen personalen Bezugs beim Erleben der Verletzung Dritter. Für die Aner-

208

4. Kap.: Zusammenfassung

kennung als Wie-Berufskrankheit stellt das entsprechende Verfahren deutlich höhere Anforderungen an Unfallversicherungsträger und Gerichte als die Anerkennung nach § 9 Abs. 1 SGB VII, was sich aufgrund begrenzter Ressourcen negativ auf die Anerkennung auswirken kann. Der Vergleich auf europäischer Ebene zeigt, dass Deutschland bei der Anerkennung psychischer Erkrankungen als Berufskrankheit hinter anderen Ländern zurückbleibt, gleichzeitig aber auch, dass kein vollständiger Systemwechsel weg vom Listenprinzip sinnvoll ist. Die Neuerungen durch das Siebte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze waren längst überfällig, sind jedoch nicht ausreichend. Die Untersuchung des derzeitigen Standes der Erfassung psychischer ­Erkrankungen als Versicherungsfall in der gesetzlichen Unfallversicherung ­ergab damit, dass im aktuellen Recht noch zahlreiche Probleme bestehen. In der Folge war fraglich, ob und welche Gründe für eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen in der Unfallversicherung sprechen oder ob die vorgefundenen Probleme schlichtweg hinzunehmen sind. Dazu wurden zum einen die hinter dem versicherten Personenkreis und den Versicherungsfällen stehenden Grundprinzipien der Unfallversicherung zusammen mit dem Leistungsniveau der Unfallversicherung im Vergleich zu gesetzlicher Kranken- und Rentenversicherung untersucht. Gründe für eine umfangreichere Erfassung sind dem Prinzip der Haftungsersetzung zu entnehmen, da Unternehmerinnen und Unternehmer im Rahmen ihrer Schutzund Fürsorgepflicht verantwortlich sind für die Gestaltung von Arbeitsab­ läufen, die psychische Belastungen in krankmachendem Ausmaß vermeiden, sodass durch die Arbeitstätigkeit verursachte psychische Erkrankungen der betrieblichen Sphäre zuzurechnen sind. Auch die bisherige kontinuierliche Weiterentwicklung der Berufskrankheiten-Liste in Anlage 1 der BKV lässt die Aufnahme einer psychischen Erkrankung als logische Konsequenz erscheinen. Die Ausdehnung des Versicherungsschutzes auf Wegeunfälle ermöglicht den Erst-recht-Schluss für die Erfassung durch die Arbeitstätigkeit verursachter psychischer Erkrankungen als Arbeitsunfall. Auch das soziale Schutzprinzip spricht trotz der bestehenden Absicherung durch Kranken- und Rentenversicherung aufgrund des im Ergebnis höheren Leistungsniveaus in der Unfallversicherung für eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen. Denn die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung sind besser geeignet, die Erwerbsfähigkeit wiederherzustellen beziehungsweise die Minderung der Erwerbsfähigkeit zu entschädigen. Zum anderen wurden die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung gem. § 1 SGB VII auf Gründe für eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen untersucht. Hinsichtlich des Präventionsauftrages, der neben den Versicherungsfällen auch für arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren



4. Kap.: Zusammenfassung209

greift, stellen die Unfallversicherungsträger in tatsächlicher Hinsicht bereits eine Vielzahl an Materialien zu Steuerung der Prävention von psychischen Erkrankungen zur Verfügung. Angesichts der nur in wenigen Betrieben stattfindenden Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen bleiben sie aber hinter ihrem Auftrag zur Überwachung der Durchführung zurück. Die Individualprävention könnte in rechtlicher Hinsicht durch eine Reform des § 3 BKV auf psychische Erkrankungen ausgedehnt werden. Im Rahmen der Rehabilitation hat die DGUV das Psychotherapeutenverfahren etabliert. Grundsätzlich setzt dieses insbesondere für längere Behandlungen die Anerkennung als Versicherungsfall voraus, fünf sogenannte probatorische Sitzungen werden aber bereits unkompliziert ohne tiefergehende Kausalitätsprüfung gewährt. Zusammen mit der vermuteten hohen Dunkelziffer an Fällen mangels Meldung bleibt in tatsächlicher Hinsicht aber eine Vielzahl von Fällen psychischer Erkrankungen, die durch die Arbeitstätigkeit verursacht wurden, denen die Unfallversicherung im Rahmen der Rehabilitation nicht vollständig gerecht wird. Auch bei der Entschädigung gestaltet sich die Erfassung psychischer Erkrankungen noch schwierig. Zum einen wird in rechtlicher Hinsicht ein Versicherungsfall vorausgesetzt. Zum anderen existiert für die Bemessung der MdE in tatsächlicher Hinsicht keine MdE-Tabelle, die als allgemeiner Erfahrungssatz angesehen wird. Zu den Kriterien zur Beurteilung der MdE besteht weiterer Diskussionsbedarf. Eine Orientierungsmöglichkeit könnte die ICF bieten. Der Entzug der Verletztenrente kann bei psychischen Erkrankungen aufgrund einer Verschiebung der Wesensgrundlage erfolgen. Hier wäre eine einheitliche Anwendung der Figur wünschenswert. Daraus lässt sich schließen, dass bei Prävention und Rehabilitation trotz bestehender Defizite psychischen Erkrankungen bereits verstärkt Rechnung getragen wird. Dies könnte gegen eine umfangreichere Erfassung in der Unfallversicherung sprechen. Allerdings gelingt die verstärkte Erfassung psychischer Erkrankungen bislang nur durch Systembrüche. Denn der Präven­ tionsauftrag gilt neben den Versicherungsfällen zusätzlich für arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren. Bei der Rehabilitation wird die Kausalitätsprüfung und damit die Frage nach der Anerkennung als Versicherungsfall zunächst zurückgestellt, um fünf probatorische Sitzungen zu ermöglichen. Letztlich wird der Weg über Systembrüche aber auch nicht konsequent durchgesetzt, denn während man bei Prävention und Rehabilitation wohl das Bedürfnis nach einer umfangreicheren Erfassung psychischer Erkrankungen erkannt hat, bleibt für die Entschädigung die Anerkennung als Versicherungsfall auch in der Praxis der Unfallversicherungsträger zwingend, es findet kein Systembruch statt. Sinnvoller als der Weg über Systembrüche wäre es deshalb, die rechtlichen und tatsächlichen Hürden für die Anerkennung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall in der Unfallversicherung generell zu sen-

210

4. Kap.: Zusammenfassung

ken, um so eine systemgerechte und vollständigere Erfüllung der Aufgaben der Unfallversicherung zu gewährleisten. Insgesamt sprechen damit gute Gründe für eine umfangreichere Erfassung psychischer Erkrankungen in der Unfallversicherung. Um eine solche zu erreichen, wurden im dritten Kapitel Lösungsansätze untersucht, um die bestehenden Probleme bei der Anerkennung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall zu überwinden. Als Lösungsansätze im Rahmen des Arbeitsunfalls sind in rechtlicher Hinsicht die Einführung eines zusätzlichen Versicherungsfalls „wiederkehrendes Ereignis“ vergleichbar zu § 1 Abs. 3 SGB XIV und einer Beweislastumkehr vergleichbar zu § 4 Abs. 5 SGB XIV in Betracht zu ziehen. Aufgrund der Unterschiede zwischen SGB VII und SGB XIV sind die Lösungsansätze jedoch im Ergebnis abzulehnen. Für das Berufskrankheitenrecht sind verschiedene Ansätze zu bedenken. Nicht zielführend ist der Lösungsansatz, bei der Anerkennung einer PTBS als Wie-Berufskrankheit im Rahmen des generellen Ursachenzusammenhangs einen entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu unterstellen, wenn die betreffenden Einwirkungen die Traumakriterien von ICD-10 oder DSM-5 erfüllen. Dagegen erwägenswert ist es, in die Arbeit des Ärzt­ lichen Sachverständigenbeirats Berufskrankheiten in tatsächlicher Hinsicht vermehrt arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse einzubeziehen. Sobald eine amtliche wissenschaftliche Begründung möglich ist, sollte die Bundesregierung als Verordnungsgeberin in rechtlicher Hinsicht den Schritt der Aufnahme einer psychischen Erkrankung als Listen-Berufskrankheit wagen. Daneben bedarf es der Einführung von Beweiserleichterungen. Eine Härtefallklausel eignet sich hingegen nicht, um speziell die Anerkennung von psychischen Erkrankungen im Berufskrankheitenrecht voranzubringen. Letztlich ist damit festzuhalten, dass der derzeitige Stand der Erfassung psychischer Erkrankungen als Versicherungsfall in der gesetzlichen Unfallversicherung nach aktueller Rechtslage noch durch zahlreiche Probleme gekennzeichnet ist. Es sprechen jedoch gute Gründe dafür, dass psychische Erkrankungen in der Unfallversicherung umfangreicher als nach der aktuellen Rechtslage erfasst werden sollten. Deshalb sind insbesondere im Berufskrankheitenrecht Nachbesserungen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht nötig, um psychischen Erkrankungen, die durch die Arbeitstätigkeit verursacht wurden, besser gerecht zu werden.

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Anhang Auszug aus ICD-10-GM Version 2021 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, German Modification, Version 2021)1 Mit Aktualisierungen vom 11.11.2020 und 10.03.2021 „Kapitel V Psychische und Verhaltensstörungen (F00-F99) […] Affektive Störungen (F30-F39) Diese Gruppe enthält Störungen deren Hauptsymptome in einer Veränderung der Stimmung oder der Affektivität entweder zur Depression – mit oder ohne begleitende(r) Angst – oder zur gehobenen Stimmung bestehen. Dieser Stimmungswechsel wird meist von einer Veränderung des allgemeinen Aktivitätsniveaus begleitet. Die meisten anderen Symptome beruhen hierauf oder sind im Zusammenhang mit dem Stimmungs- und Aktivitätswechsel leicht zu verstehen. Die meisten dieser Störungen neigen zu Rückfällen. Der Beginn der einzelnen Episoden ist oft mit belastenden Ereignissen oder Situationen in Zusammenhang zu bringen. […] F32.- Depressive Episode Bei den typischen leichten (F32.0), mittelgradigen (F32.1) oder schweren (F32.2 und F32.3) Episoden leidet der betroffene Patient unter einer gedrückten Stimmung und einer Verminderung von Antrieb und Aktivität. Die Fähigkeit zu Freude, das Interesse und die Konzentration sind vermindert. Ausgeprägte Müdigkeit kann nach jeder kleinsten Anstrengung auftreten. Der Schlaf ist meist gestört, der Appetit vermindert. Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sind fast immer beeinträchtigt. Sogar bei der leichten Form kommen Schuldgefühle oder Gedanken über eigene Wertlosigkeit vor. Die gedrückte Stimmung verändert sich von Tag zu Tag wenig, reagiert nicht auf Lebensumstände und kann von so genannten „somatischen“ Symptomen begleitet 1  Abrufbar unter: https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/ kode-suche/htmlgm2021/#V (abgerufen am 16.12.2021).

Anhang229 werden, wie Interessenverlust oder Verlust der Freude, Früherwachen, Morgentief, deutliche psychomotorische Hemmung, Agitiertheit, Appetitverlust, Gewichtsverlust und Libidoverlust. Abhängig von Anzahl und Schwere der Symptome ist eine depressive Episode als leicht, mittelgradig oder schwer zu bezeichnen. Inkl.: Einzelne Episoden von: •  depressiver Reaktion •  psychogener Depression •  reaktiver Depression (F32.0, F32.1, F32.2) Exkl.: Anpassungsstörungen (F43.2) depressive Episode in Verbindung mit Störungen des Sozialverhaltens (F91.-, F92.0) rezidivierende depressive Störung (F33.-) F32.0 Leichte depressive Episode Gewöhnlich sind mindestens zwei oder drei der oben angegebenen Symptome vorhanden. Der betroffene Patient ist im Allgemeinen davon beeinträchtigt, aber oft in der Lage, die meisten Aktivitäten fortzusetzen. F32.1 Mittelgradige depressive Episode Gewöhnlich sind vier oder mehr der oben angegebenen Symptome vorhanden, und der betroffene Patient hat meist große Schwierigkeiten, alltägliche Aktivitäten fortzusetzen. F32.2 Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome Eine depressive Episode mit mehreren oben angegebenen, quälenden Symptomen. Typischerweise bestehen ein Verlust des Selbstwertgefühls und Gefühle von Wertlosigkeit und Schuld. Suizidgedanken und -handlungen sind häufig, und meist liegen einige somatische Symptome vor. Einzelne Episode einer agitierten Depression Einzelne Episode einer majoren Depression [major depression] ohne psychotische Symptome Einzelne Episode einer vitalen Depression ohne psychotische Symptome F32.3 Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen Eine schwere depressive Episode, wie unter F32.2 beschrieben, bei der aber Halluzinationen, Wahnideen, psychomotorische Hemmung oder ein Stupor so schwer ausgeprägt sind, dass alltägliche soziale Aktivitäten unmöglich sind und Lebensgefahr durch Suizid und mangelhafte Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme bestehen kann. Halluzinationen und Wahn können, müssen aber nicht, synthym sein.

230 Anhang Einzelne Episoden: •  majore Depression [major depression] mit psychotischen Symptomen •  psychogene depressive Psychose •  psychotische Depression •  reaktive depressive Psychose F32.8 Sonstige depressive Episoden Atypische Depression Einzelne Episoden der „larvierten“ Depression o.n.A. F32.9 Depressive Episode, nicht näher bezeichnet Depression o.n.A. Depressive Störung o.n.A. […] Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (F40-F48) Exkl.: In Verbindung mit einer Störung des Sozialverhaltens (F91.-, F92.8) […] F43.- Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen Die Störungen dieses Abschnittes unterscheiden sich von den übrigen nicht nur aufgrund der Symptomatologie und des Verlaufs, sondern auch durch die Angabe von ein oder zwei ursächlichen Faktoren: ein außergewöhnlich belastendes Lebensereignis, das eine akute Belastungsreaktion hervorruft, oder eine besondere Veränderung im Leben, die zu einer anhaltend unangenehmen Situation geführt hat und eine Anpassungsstörung hervorruft. Obwohl weniger schwere psychosoziale Belastungen („life events“) den Beginn und das Erscheinungsbild auch zahlreicher anderer Störungen dieses Kapitels auslösen und beeinflussen können, ist ihre ätiologische Bedeutung doch nicht immer ganz klar. In jedem Fall hängt sie zusammen mit der individuellen, häufig idiosynkratischen Vulnerabilität, das heißt, die Lebensereignisse sind weder notwendig noch ausreichend, um das Auftreten und die Art der Krankheit zu erklären. Im Gegensatz dazu entstehen die hier aufgeführten Störungen immer als direkte Folge der akuten schweren Belastung oder des kontinuierlichen Traumas. Das belastende Ereignis oder die andauernden, unangenehmen Umstände sind primäre und ausschlaggebende Kausalfaktoren, und die Störung wäre ohne ihre Einwirkung nicht entstanden. Die Störungen dieses Abschnittes können insofern als Anpassungsstörungen bei schwerer oder kontinuierlicher Belastung angesehen werden, als sie erfolgreiche Bewältigungsstrategien behindern und aus diesem Grunde zu Problemen der sozialen Funktionsfähigkeit führen.

Anhang231 F43.0 Akute Belastungsreaktion Eine vorübergehende Störung, die sich bei einem psychisch nicht manifest gestörten Menschen als Reaktion auf eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung entwickelt, und die im Allgemeinen innerhalb von Stunden oder Tagen abklingt. Die individuelle Vulnerabilität und die zur Verfügung stehenden Bewältigungsmechanismen (Coping-Strategien) spielen bei Auftreten und Schweregrad der akuten Belastungsreaktionen eine Rolle. Die Symptomatik zeigt typischerweise ein gemischtes und wechselndes Bild, beginnend mit einer Art von „Betäubung“, mit einer gewissen Bewusstseinseinengung und eingeschränkten Aufmerksamkeit, einer Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten und Desorientiertheit. Diesem Zustand kann ein weiteres Sichzurückziehen aus der Umweltsituation folgen (bis hin zu dissoziativem Stupor, siehe F44.2) oder aber ein Unruhezustand und Überaktivität (wie Fluchtreaktion oder Fugue). Vegetative Zeichen panischer Angst wie Tachykardie, Schwitzen und Erröten treten zumeist auf. Die Symptome erscheinen im Allgemeinen innerhalb von Minuten nach dem belastenden Ereignis und gehen innerhalb von zwei oder drei Tagen, oft innerhalb von Stunden zurück. Teilweise oder vollständige Amnesie (siehe F44.0) bezüglich dieser Episode kann vorkommen. Wenn die Symptome andauern, sollte eine Änderung der Diagnose in Erwägung gezogen werden. Akut: •  Belastungsreaktion •  Krisenreaktion Kriegsneurose Krisenzustand Psychischer Schock F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung Diese entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Prädisponierende Faktoren wie bestimmte, z. B. zwanghafte oder asthenische Persönlichkeitszüge oder neurotische Krankheiten in der Vorgeschichte können die Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms senken und seinen Verlauf erschweren, aber die letztgenannten Faktoren sind weder notwendig noch ausreichend, um das Auftreten der Störung zu erklären. Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhall­ erinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Albträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situa­ tionen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten. Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern

232 Anhang kann. Der Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung erwartet werden. In wenigen Fällen nimmt die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine andauernde Persönlichkeitsänderung (F62.0) über. Traumatische Neurose F43.2 Anpassungsstörungen Hierbei handelt es sich um Zustände von subjektiver Bedrängnis und emotionaler Beeinträchtigung, die im Allgemeinen soziale Funktionen und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensveränderung oder nach belastenden Lebensereignissen auftreten. Die Belastung kann das soziale Netz des Betroffenen beschädigt haben (wie bei einem Trauerfall oder Trennungserlebnissen) oder das weitere Umfeld sozialer Unterstützung oder soziale Werte (wie bei Emigration oder nach Flucht). Sie kann auch in einem größeren Entwicklungsschritt oder einer Krise bestehen (wie Schulbesuch, Elternschaft, Misserfolg, Erreichen eines ersehnten Zieles und Ruhestand). Die individuelle Prädisposition oder Vulnerabilität spielt bei dem möglichen Auftreten und bei der Form der Anpassungsstörung eine bedeutsame Rolle; es ist aber dennoch davon auszugehen, dass das Krankheitsbild ohne die Belastung nicht entstanden wäre. Die Anzeichen sind unterschiedlich und umfassen depressive Stimmung, Angst oder Sorge (oder eine Mischung von diesen). Außerdem kann ein Gefühl bestehen, mit den alltäglichen Gegebenheiten nicht zurechtzukommen, diese nicht vorausplanen oder fortsetzen zu können. Störungen des Sozialverhaltens können insbesondere bei Jugendlichen ein zusätzliches Symptom sein. Hervorstechendes Merkmal kann eine kurze oder längere depressive Reaktion oder eine Störung anderer Gefühle und des Sozialverhaltens sein. Hospitalismus bei Kindern Kulturschock Trauerreaktion Exkl.: Trennungsangst in der Kindheit (F93.0) F43.8 Sonstige Reaktionen auf schwere Belastung F43.9 Reaktion auf schwere Belastung, nicht näher bezeichnet […] F45.- Somatoforme Störungen Das Charakteristikum ist die wiederholte Darbietung körperlicher Symptome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind. Wenn somatische Störungen vorhanden sind, erklären sie nicht die Art und das Ausmaß der Symptome, das Leiden und die innerliche Beteiligung des Patienten.

Anhang233 Für die Anwendung der Schlüsselnummer F45.41 sind die vorgenannten Kriterien nicht heranzuziehen. Für die Anwendung dieser Kategorie gelten die im Hinweistext der Schlüsselnummer aufgeführten Kriterien.

[…]“ Auszug aus Falkai et al.: Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-5. 2. Aufl. Göttingen 2018, S. 369 ff. „Posttraumatische Belastungsstörung Diagnostische Kriterien F 43.10 Beachte: Die folgenden Kriterien gelten für Erwachsene, Jugendliche und Kinder, die älter als 6 Jahre sind. […] A. Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt auf eine (oder mehrere) der folgenden Arten: 1. Direktes Erleben eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse. 2. Persönliches Erleben eines oder mehrerer solcher traumatischen Ereignisse bei anderen Personen. 3. Erfahren, dass einem nahen Familienmitglied oder einem engen Freund ein oder mehrere traumatische Ereignisse zugestoßen sind. Im Falle von tatsächlichem oder drohendem Tod des Familienmitgliedes oder Freundes muss das Ereignis bzw. müssen die Ereignisse durch Gewalt oder einen Unfall bedingt sein. 4. Die Erfahrung wiederholter oder extremer Konfrontation mit aversiven Details von einem oder mehreren derartigen traumatischen Ereignissen (z. B. Ersthelfer, die menschliche Leichenteile aufsammeln, oder Polizisten, die wiederholt mit schockierenden Details von Kindesmissbrauch konfrontiert werden). Beachte: Eine Konfrontation durch elektronische Medien, Fernsehen, Spielfilme oder Bilder erfüllt das Kriterium A4 nicht, es sei denn, diese Konfrontation ist berufsbedingt. B. Vorhandensein eines (oder mehrerer) der folgenden Symptome des Wiedererlebens (Intrusionen), die auf das oder die traumatischen Ereignisse bezogen sind und die nach dem oder den traumatischen Ereignissen aufgetreten sind: 1. Wiederkehrende, unwillkürlich sich aufdrängende belastende Erinnerungen (Intrusionen) an das oder die dramatischen Ereignisse. Beachte: Bei Kindern, die älter als 6 Jahre sind, können traumabezogene Themen oder Aspekte des oder der traumatischen Ereignisse wiederholt im Spielverhalten zum Ausdruck kommen. 2. Wiederkehrende belastende Träume, deren Inhalte und/oder Affekte sich auf das oder die traumatischen Ereignisse beziehen. Beachte: Bei Kindern können stark beängstigende Träume ohne wiedererkennbaren Inhalt auftreten.

234 Anhang 3. Dissoziative Reaktionen (z. B. Flashbacks), bei denen die Person fühlt oder handelt, als ob sich das oder die traumatischen Ereignisse wieder ereignen würden. (Diese Reaktionen können in einem Kontinuum auftreten, bei dem der völlige Wahrnehmungsverlust der Umgebung die extremste Ausdrucksform darstellt.) Beachte: Bei Kindern können Aspekte des Traumas im Spiel nachgestellt werden. 4. Intensive oder anhaltende psychische Belastung bei der Konfrontation mit inneren oder äußeren Hinweisreizen, die einen Aspekt des oder der traumatischen Ereignisse symbolisieren oder an Aspekte desselben bzw. derselben erinnern. C. Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem oder den traumatischen Ereignissen verbunden sind, und die nach dem oder den traumatischen Ereignissen begannen. Dies ist durch eines (oder beide) der folgenden Symptome gekennzeichnet: 1. Vermeidung oder Bemühungen, belastende Erinnerungen, Gedanken oder Gefühle zu vermeiden, die sich auf das oder die Ereignisse beziehen oder eng mit diesem/ diesen verbunden sind. 2. Vermeidung oder Bemühung, Dinge in der Umwelt (Personen, Orte, Gespräche, Aktivitäten, Gegenstände, Situationen) zu vermeiden, die belastende Erinnerungen, Gedanken oder Gefühle hervorrufen, die sich auf das oder die Ereignisse beziehen oder eng mit diesem bzw. diesen verbunden sind. D. Negative Veränderungen von Kognitionen und der Stimmung im Zusammenhang mit dem oder traumatischen Ereignissen. Die Veränderungen haben nach dem oder den traumatischen Ereignissen begonnen oder sich verschlimmert und sind durch zwei (oder mehr) der folgenden Symptome gekennzeichnet: 1. Unfähigkeit, sich an einen wichtigen Aspekt des oder der traumatischen Ereignisse zu erinnern (typischerweise Dissoziative Amnesie und nicht durch andere Faktoren wie Kopfverletzungen, Alkohol oder Drogen bedingt). 2. Anhaltende und übertrieben negative Überzeugungen oder Erwartungen, die sich auf die eigene Person, andere Personen oder die Welt beziehen (z. B. „Ich bin schlecht“, „Man kann niemandem trauen“, „Die ganze Welt ist gefährlich“, „Mein Nervensystem ist dauerhaft ruiniert“). 3. Anhaltende verzerrte Kognitionen hinsichtlich der Ursache und Folgen des oder der traumatischen Ereignisse, die dazu führen, dass die Person sich oder anderen die Schuld zuschreibt. 4. Andauernder negativer emotionaler Zustand (z. B. Furcht, Entsetzen, Wut, Schuld oder Scham). 5. Deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten. 6. Gefühle der Abgetrenntheit oder Entfremdung von anderen. 7. Anhaltende Unfähigkeit, positive Gefühle zu empfinden (z. B. Glück, Zufriedenheit, Gefühle der Zuneigung).

Anhang235 E. Deutliche Veränderungen des Erregungsniveaus und der Reaktivität im Zusammenhang mit dem oder den traumatischen Ereignissen. Die Veränderungen haben nach dem oder den traumatischen Ereignissen begonnen oder sich verschlimmert und sind durch zwei (oder mehr) der folgenden Symptome gekennzeichnet: 1. Reizbarkeit und Wutausbrüche (ohne oder aus geringfügigem Anlass), welche typischerweise durch verbale oder körperliche Aggression gegenüber Personen oder Gegenständen ausgedrückt werden. 2. Riskantes oder selbstzerstörerisches Verhalten. 3. Übermäßige Wachsamkeit (Hyperviliganz). 4. Übertriebene Schreckreaktionen. 5. Konzentrationsschwierigkeiten. 6. Schlafstörungen (z.  B. Ein- oder Durchschlafschwierigkeiten oder unruhiger Schlaf). F. Das Störungsbild (Kriterien B, C, D und E) dauert länger als 1 Monat. G. Das Störungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. H. Das Störungsbild ist nicht Folge der physiologischen Wirkung einer Substanz (z. B. Medikament, Alkohol) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors. Bestimme, ob: Mit Dissoziativen Symptomen: Die beim Betroffenen auftretenden Symptome erfüllen die Kriterien für eine Posttraumatische Belastungsstörung. Zusätzlich erlebt der Betroffene als Reaktion auf das auslösende Ereignis dauerhaft oder wiederkehrend eines der beiden folgenden Symptome 1. Depersonalisation: Anhaltende oder wiederkehrende Erfahrung des Losgelöstseins und das Gefühl, die eigenen Gedanken und Körperempfindungen von außen zu beobachten (z. B. Gefühl, als sei man in einem Traum; Gefühl der Unwirklichkeit des Selbst oder des Körpers oder alles wie in Zeitlupe zu erleben). 2. Derealisation: Anhaltende oder wiederkehrende Erfahrung der Unwirklichkeit der Umgebung (z. B. die Umgebung wird als unwirklich, wie im Traum, entfernt oder verzerrt wahrgenommen). Beachte: Um diesen Subtyp zu vergeben, dürfen die dissoziativen Symptome nicht auf die physiologische Wirkung einer Substanz (z. B. Erinnerungsverlust, Verhalten während einer Alkoholintoxikation) oder einen medizinischen Krankheitsfaktor (z. B. komplex fokale Anfälle) zurückgehen. Bestimme, ob: Mit verzögertem Beginn: Wenn das Auftreten und das Beschreiben einzelner Symptome zwar initial erfolgt, aber erst mindestens 6 Monate nach dem Ereignis alle diagnostischen Kriterien erfüllt sind.“

Sachwortregister Alkoholkonsum  43 Alles-oder-Nichts-Prinzip  190 Angriff, tätlicher  62, 185 f. Arbeitsschicht  30, 37 f., 57 ff., 63, 76, 184 Arbeitsschutzgesetz  160 f. Arbeitssicherheitsgesetz  87 Ärztlicher Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten  99, 102, 110, 121 ff., 129, 134 ff., 191 ff. Begrenzung, zeitliche  38, 57 ff., 184 Berufsgenossenschaft  127, 141 Berufskrankheiten-Liste  30, 59, 86, 88 ff., 99 f., 103, 117, 121, 124, 129, 131 ff., 148, 150, 180, 187, 193, 195, 200 Betriebliche Sphäre  142, 149 f., 180, 200 Betriebsbann  32, 60 Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin  18, 161, 198 Bundesministerium für Arbeit und Soziales  18, 93, 99, 111 f., 123, 134, 198 Bundesverfassungsgericht  88, 90, 105, 133, 140, 156 Burn-out Syndrom  29, 38, 70 ff., 79, 98, 106, 113 f., 183 D-Arzt bzw. D-Ärztin  56, 154, 167 f. Entschädigungsrecht, soziales  62, 109, 182 ff. Entscheidungsprärogative  118, 136 f., 198 Entwicklungsdienst/-hilfe  58, 59 f., 98, 106 f., 116, 126

Epidemiologie  48, 95, 104, 108, 126 Erkenntnisstand, wissenschaftlicher  28, 48, 53, 56, 75, 78, 82, 96, 104, 118 f., 128 f., 136 f., 191 f., Ersthelfende  61, 109 f., 162, 168 Europäische Kommission  131, 133 Forschungsauftrag  112 Fürsorgepflicht  143, 147 f., 180, 182 Gefahr –– allgemein wirkende  44 –– betriebliche  143, 148 Gefährdungsbeurteilung  161 f., 166 Gestaltungsspielraum  88 ff., 117, 133, 196, 198 Gesundheitsgefahren, arbeitsbedingte  21, 87, 159 f., 164, 178, 180, 193 Günstigkeitsprinzip  30 Handlungssequenz  32 Handlungstendenz  33 Intensivstation  111, 197 Internationale Arbeitsorganisation  133 Kausalität –– haftungsausfüllende  39, 50 f., 76 f., 100, 183 –– haftungsbegründende  31, 39, 47 ff., 70 ff., 94, 100, 106, 115, 202 –– Unfall-  31, 38 ff. Kausalitätslehren –– Adäquanztheorie  39, 78 –– Äquivalenztheorie  39 –– Theorie der wesentlichen Bedingung  39 ff., 52, 54, 70, 78, 81, 101 f., 183, 189

Sachwortregister237 Krankenversicherung –– Gesetzliche  132 ff., 139, 142, 146, 49, 151 ff., 191 –– Private  152 Lärmschwerhörigkeit  92 Latenzzeit  81, 91, 100, 199 Leistungsniveau  139, 143, 146, 149 ff., 180 Leistungsrecht  133 Listensystem  91, 129, 131 ff., 197, 203 Lokführer (siehe auch Zugführer)  58, 66 f., 84, 109, 183 MdE-Tabelle  172 f. militärische Forschung  96, 108, 126 Minderung der Erwerbsfähigkeit  23, 50, 71, 122, 149, 155, 171, 175, 180 Mindestintensität  69 f., 81, 84 Mobbing  29, 37 f., 60, 62 f., 66, 70, 72, 79, 98, 106, 114 f., 148, 159, 163, 183, 186, 199 Neurose –– traumatische  24 –– Unfall-  25 Neurotisierung, sekundäre  115 f. Opferentschädigungsrecht/-gesetz  108, 182, 185 Pflegekräfte  98, 116 Präventionsauftrag  87, 141, 159 f., 164 f., 178 Prinzip der Haftungsersetzung  141 ff., 148, 150, 180 Probatorische Sitzungen  168, 178 PTBS  23 f., 38, 51, 58, 60 ff., 72 ff., 98, 106 ff., 183, 186, 192, 197, 205

Reichshaftpflichtgesetz  144 Reichsversicherungsamt  25 f., 39, 147 Reichsversicherungsordnung  144, 146 Rentenversicherung, gesetzliche  18, 82, 132 ff., 139, 142, 146, 149, 150 ff. Rettungssanitäter  110 f. Rettungssanitätsdienst  58, 106, 110 f., 183, 197 Risikoverdopplung  97 Soziales Schutzprinzip  53, 141 f., 147, 149 f., 158, 180, 190 Tätigkeit –– eigenwirtschaftliche  33, 147 –– höchstpersönliche  34 Traumakriterien  192 Unfallversicherungsträger  28, 30, 50 f., 54 ff., 75 f., 83, 87, 92, 96, 101, 104, 107, 112, 127, 135, 154, 190 Unfreiwilligkeit  36 Ursache –– Gelegenheits-  49, 79 f. –– Konkurrenz-  42 f., 52, 101 Ursache, innere  42 ff. Ursachenzusammenhang, genereller  94 ff. Verbotswidriges Handeln  40 Verkehrsunfälle  72, 109 Verletztenrente  27, 51, 74, 155, 157 f., 175 ff. Wegeunfall  143, 147, 149 f., 158, 180 Zugführer (siehe auch Lokführer)  58, 66 f., 84, 109, 183 Zusammenhang, sachlicher oder innerer  32, 100