Solidarität und soziales Schutzprinzip in der gesetzlichen Unfallversicherung: Die Anwendbarkeit des Europarechts auf mitgliedstaatliche Systeme der sozialen Sicherung am Beispiel der Berufsgenossenschaften [1 ed.] 9783428527311, 9783428127313

Die gesetzliche Unfallversicherung gehört zu den traditionellen Zweigen der deutschen Sozialversicherung und begegnet zu

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Solidarität und soziales Schutzprinzip in der gesetzlichen Unfallversicherung: Die Anwendbarkeit des Europarechts auf mitgliedstaatliche Systeme der sozialen Sicherung am Beispiel der Berufsgenossenschaften [1 ed.]
 9783428527311, 9783428127313

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Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 267

Solidarität und soziales Schutzprinzip in der gesetzlichen Unfallversicherung Die Anwendbarkeit des Europarechts auf mitgliedstaatliche Systeme der sozialen Sicherung am Beispiel der Berufsgenossenschaften

Von

Katie Baldschun

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

KATIE BALDSCHUN

Solidarität und soziales Schutzprinzip in der gesetzlichen Unfallversicherung

Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 267

Solidarität und soziales Schutzprinzip in der gesetzlichen Unfallversicherung Die Anwendbarkeit des Europarechts auf mitgliedstaatliche Systeme der sozialen Sicherung am Beispiel der Berufsgenossenschaften

Von

Katie Baldschun

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln hat diese Arbeit im Wintersemester 2006/2007 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Werksatz, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0227 ISBN 978-3-428-12731-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Clara Muriel

Vorwort Die Arbeit wurde im Wintersemester 2006/2007 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zur Köln als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur entsprechen diesem Stand, so dass insbesondere der sogenannte Reformvertrag von Lissabon zur Änderung der bestehenden europäischen Verträge noch keine Berücksichtigung fand. Zur Zeit der Drucklegung befand sich der Vertrag im Ratifizierungsprozess. Mein Dank gilt im Besonderen Herrn Prof. Dr. Stefan Muckel, der das Thema angeregt, die Arbeit betreut und mir während meiner Tätigkeit am Institut für Kirchenrecht und rheinische Kirchenrechtsgeschichte der Universität zu Köln immer Zeit und Raum auch für das eigene Vorwärtskommen gewährt hat. Danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Stephan Hobe für das Verfassen des Zweitgutachtens. Ich freue mich, dass die Arbeit in die Reihe „Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht“ des Verlages Duncker & Humblot aufgenommen wurde. Ein besonderer Dank gilt zudem dem Verein der Freunde und Förderer der Universität zu Köln, der diese Arbeit für den Ehrhardt-Imelmann-Preis ausgewählt hat. Die Veröffentlichung wurde mit einem großzügigen Zuschuss der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung, Hamburg, gefördert. Der Weg der Arbeit wurde begleitet und gefördert durch die Studienstiftung des deutschen Volkes, auch hierfür möchte ich mich bedanken. Für seinen unverzüglichen und geduldigen Einsatz bei den Korrekturarbeiten danke ich Herrn Oliver Kaczmarek. Ein letztes Wort des Dankes schließlich gilt meiner Familie und insbesondere meiner Mutter für steten Zuspruch. Dortmund, im Mai 2008

Katie Baldschun

Inhaltsverzeichnis Einleitung und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1. Teil Das System der gesetzlichen Unfallversicherung I.

Geschichtliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. System des ersten Unfallversicherungsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Neuerungen und Konstanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Personelle Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sachliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Leistungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die gesetzliche Unfallversicherung als Zweig der Sozialversicherung . . . . . . . . 1. (Sozial-)Versicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff der Versicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Versicherungsvertragsrecht und Wirtschaftswissenschaften . . . . . . . bb) Sozialversicherungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begriff der Sozialversicherung im verfassungsrechtlichen Kontext . . . . . c) Versicherung als Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sozialer Ausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Prinzip des sozialen Schutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prinzip des sozialen Ausgleichs in der Abgrenzung zum Risikoausgleich aa) Das Adjektiv „sozial“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Adjektiv „solidarisch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Sozialer Ausgleich als Ausgleich sozialer Risiken . . . . . . . . . . . . . . dd) Mittel des sozialen Ausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Praktische Umsetzung in der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sozialversicherung als Konstrukt eigener Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Typisches und Abweichendes in der gesetzlichen Unfallversicherung . . . . . a) Versicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Versicherungstechnik in der Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Äquivalenz in der Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Versichertes Risiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20 20 20 22 23 24 24 25 27 28 29 29 30 32 33 34 35 36 40 42 43 44 47 48 49 50 51 51 53 55

10

Inhaltsverzeichnis

b) Soziales Schutzprinzip und Haftungsersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 aa) Haftungsersetzung als Begründung der Beitragspflicht . . . . . . . . . . 59 (1) Qualifizierung des Beitrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 (2) Schutz des Betriebsfriedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 (3) Ausschluss aller Ersatzansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 bb) Hypothetische Haftung des Unternehmers als Wertentscheidung . . . 64 c) Sozialer Ausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 aa) Sozialer Ausgleich auf der Beitragsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 (1) Anknüpfung an das Arbeitsentgelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 (2) Anknüpfung an Tarifstellen und Gefahrklassen . . . . . . . . . . . . . . 71 (3) Festlegung des Beobachtungszeitraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 (4) Versicherung der Wie-Beschäftigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 (5) Wegeunfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 (6) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 bb) Sozialer Ausgleich auf der Leistungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 (1) Mindest- und Höchstrenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 (2) Leistungen an Hinterbliebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 (3) Funktion der Rente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 (4) Versicherungsschutz unabhängig von der Beitragszahlung . . . . . 87 (5) Leistung unabhängig vom Verschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 (6) Versicherung der Wie-Beschäftigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 (7) Wegeunfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 (8) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 cc) Sozialer Ausgleich durch das Lastenausgleichsverfahren . . . . . . . . . 92 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 d) Versicherungsverhältnis und Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 e) Präventionsauftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 aa) Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 bb) Rechtsgrundlage und Verfassungsmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 cc) Bedeutung innerhalb des Systems der gesetzlichen Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 f) Grundsatz der Wirtschaftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 III. Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung als Zwangsversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1. Typisches und Abweichendes in der gesetzlichen Unfallversicherung . . . . 112 a) Art und Weise der organisatorischen Bewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 b) Versicherung und sozialer Ausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 c) Extensive Inanspruchnahme der Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 2. Wahrung von Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 a) Negative Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . 116

Inhaltsverzeichnis b) Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Berufsfreiheit der beitragspflichtigen Unternehmer . . . . . . . . . . . . (1) Schutzbereich: Beruf und berufsspezifische Handlungen . . . . . (2) Eingriff: Berufsregelnde Tendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Unfallverhütungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Beitragspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Berufsfreiheit privater Versicherungsunternehmer . . . . . . . . . . . . . c) Allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . d) Allgemeiner Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung 1. Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 119 119 119 120 121 121 122 128 128 130 131 132 133

2. Teil

I.

Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

135

Wettbewerbsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Bedeutung des Wettbewerbsrechts in der Europäischen Union . . . . . . 2. System der Wettbewerbsregeln in §§ 81 ff. EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anwendbarkeit auf nationale Systeme der sozialen Sicherheit . . . . . . . . . . 4. Der Begriff des Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Funktionaler und relativer Unternehmensbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH im Bereich der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rechtssache Höfner und Elser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rechtssachen Poucet und Pistre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rechtssache Fédération française des sociétés d’assurance / CCMSA dd) Rechtssache Brentjens’ Handelsonderneming BV u. a. . . . . . . . . . . ee) Rechtssache Pavlov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Rechtssache Cisal / INAIL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Rechtssachen AOK-Bundesverband und FENIN . . . . . . . . . . . . . . 5. Die gesetzliche Unfallversicherung als Unternehmen im Sinne der Art. 81 ff. EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einzelne Funktionen der gesetzlichen Unfallversicherung . . . . . . . . . . . aa) „Haftpflichtversicherung“ der Unternehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Versicherung der Beschäftigten gegen das Risiko Arbeitsunfall und Berufskrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Nachfragetätigkeit für die Leistungserbringung . . . . . . . . . . . . . . . dd) Unfallverhütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

137 137 138 139 141 141 143 143 143 145 146 148 149 155 159 159 160 163 164 166

12

Inhaltsverzeichnis

b) Kriterien des EuGH für die Unternehmenseigenschaft einer gesetzlichen Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bezugnahme durch das Bundessozialgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Automatische Leistungsgewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Umverteilende Wirkung durch eingeschränkte Proportionalität von Beitrag und Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Lastenausgleichsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Herkömmlichkeit, Sozialer Zweck und staatliche Aufsicht . . . . . . . cc) Solidarausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kriterium der Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kriterium der Substituierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Pflicht zum Abschluss einer privaten Haftpflichtversicherung . . . . bb) Pflicht zum Abschluss einer privaten Unfall- und Krankenversicherung auf fremde Rechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Zu versichernde Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Zu gewährende Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Sonstige Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis: Unternehmenseigenschaft der gesetzlichen Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Als Versicherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Als Nachfrager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Möglicher Verstoß gegen Art. 81, 82 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Ausnahme gemäß Art. 86 Abs. 2 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Haltung der Literatur im Hinblick auf Systeme der sozialen Sicherung b) Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse . . . . . . . . . . aa) Dienstleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Allgemeines wirtschaftliches Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Betrauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verhinderungsmaßstab und verhältnismäßige Handelsbeeinträchtigung aa) Verhinderung der besonderen Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Beschreibung der besonderen Aufgabe der Berufsgenossenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Verhinderung der Aufgabenerfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beeinträchtigung der Entwicklung des Handelsverkehrs . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung der Art. 49 ff. EG im Kontext der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . 2. Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch die Zwangsversicherung in der gesetzlichen Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

168 168 172 172 175 179 182 186 191 193 194 195 196 196 201 202 205 205 205 208 211 213 217 217 218 221 222 222 222 225 230 232 232 234 234 235

Inhaltsverzeichnis a) Beschränkende Maßnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bereichsausnahme für Sozialversicherungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ausnahme gemäß Art. 86 Abs. 2 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch den Präventionsauftrag . . 4. Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch das Leistungserbringungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtsprechung zur Dienstleistungsfreiheit in der Leistungserbringung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Spannungsverhältnis zwischen mitgliedstaatlicher Primärzuständigkeit und Bindung an das Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beschränkende Maßnahme im Unfallversicherungsrecht . . . . . . . . . . . . d) Keine Ausnahme gemäß Art. 86 Abs. 2 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Anforderungen an eine beschränkende Maßnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung 2. Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 235 237 239 240 241 241 242 243 245 247 248 249 249 250

3. Teil Einfluss des Europäischen Sozialrechts I.

Bisherige Entwicklung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Ausgangspunkt der Europäischen Union als Wirtschaftsgemeinschaft 2. Kompetenzen der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sozialpolitik gemäß Art. 136 ff. EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Koordinierungskompetenz aus den Vorschriften über die Grundfreiheiten 3. Entwicklung des Europäischen Sozialrechts durch den Europäischen Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zukunft des Europäischen Sozialrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konvergenz als Kompromiss für gemeinsame Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . 2. Lissabon-Strategie und Offene Methode der Koordinierung . . . . . . . . . . . . 3. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Soziale Wertegemeinschaft EU? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

252 253 253 254 254 255 257 258 258 259 262 265

4. Teil Gesamtergebnis

266

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Abkürzungsverzeichnis aA ABl. Abs. a. F. Art. BAG BB Bd. BG BGB BGBl. BR-Drucks. Breith. BSG BSGE BT-Drucks. Buchst. BVerfG BVerfGE bzw. DRV EAS EG/EGV EU/EUV EuG EuGH EuZW EVV f. ff. Fn. GG GRUR HdB Hrsg. HS-UV HVBG

anderer Ansicht Amtsblatt Absatz alte Fassung Artikel Bundesarbeitsgericht Betriebsberater Band Die Berufsgenossenschaft Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesratsdrucksache Breithaupt, Sammlung von Entscheidungen der Sozialversicherung, Versorgung und Arbeitslosenversicherung Bundessozialgericht Entscheidungen des Bundessozialgerichts Bundestagsdrucksache Buchstabe Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht beziehungsweise Die Rentenversicherung Europäisches Arbeits- und Sozialrecht Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Vertrag über die Europäische Union Europäisches Gerich erster Instanz Europäischer Gerichtshof Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Vertrag über eine Verfassung für Europa folgende/r fortfolgende Fußnote Grundgesetz Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Handbuch Herausgeber Handbuch des Sozialversicherungsrecht, Unfallversicherung Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften

Abkürzungsverzeichnis HVBG-Info i. e. i. V. m. KassKomm LSG m. w. N. n. F. NJW NZS PflVG RGBl. RHG Rn. Rs. RVO S. SGB SGb Slg. SozR SRH StVG u. a. VAG VersR vgl. VO VSSR VVG VwVfG z. B. Ziff. ZRP

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Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (Hrsg.), Aktueller Informationsdienst für die berufsgenossenschaftliche Sachbearbeitung iter est (das heißt) in Verbindung mit Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht Landessozialgericht mit weiteren Nachweisen neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift Neue Zeitschrift für Sozialrecht Pflichtversicherungsgesetz Reichsgesetzblatt Reichshaftpflichtgesetz Randnummer Rechtssache Reichsversicherungsordnung Seite Sozialgesetzbuch Die Sozialgerichtsbarkeit Sammlung Sozialrecht, Rechtsprechung und Schrifttum, bearbeitet von den Richtern des Bundessozialgerichts Sozialrechtshandbuch Straßenverkehrsgesetz und andere / unter anderem Versicherungsaufsichtgesetz Versicherungsrecht vergleiche Verordnung Vierteljahresschrift für Sozialrecht Versicherungsvertragsgesetz Verwaltungsverfahrensgesetz zum Beispiel Ziffer Zeitschrift für Rechtspolitik

Einleitung und Gang der Untersuchung Die deutsche gesetzliche Unfallversicherung ist über 120 Jahre alt. Sie ist seit jeher umstritten. Schon ihre Gründung war begleitet von langen Debatten um die „richtige“ organisatorische Bewältigung des notwendig gewordenen Schutzes von Arbeitnehmern vor Arbeitsunfällen. Weiterentwicklungen und Ausweitungen wurden stets kritisch begleitet; um die dogmatische Einordnung ins soziale Sicherungssystem wurde noch bis vor wenigen Jahren im juristischen Schrifttum gerungen. Konstante und heftige Kritik richtet sich von Beginn an gegen den Charakter der Unfallversicherung als Zwangsversicherung, in der die Unternehmer einseitig belastet werden: Mit einem Monopol ausgestattet, so lautet der Vorwurf, stünden die Unfallversicherungsträger außerhalb des Wettbewerbs, der, so die These, die Unfallversicherung effizienter, günstiger, wirksamer, kurz: besser machen würde. Dass die Rufe nach Abschaffung des „Staatsmonopols“ bis heute nicht verhallt sind, zeigt eine neuerdings wieder steigende Zahl von Klagen vor den Sozialgerichten von Unternehmern, die sich gegen die Zwangsversicherung bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften wehren. Das muss verwundern, scheint doch die Diskussion um das Unfallversicherungsmonopol durch Richterspruch mit breiter Zustimmung der Literatur beendet worden zu sein: Das Bundessozialgericht urteilte im November 2003 1, dass die Zwangsversicherung weder gegen Europarecht noch gegen, dies in Bestätigung der früheren Rechtsprechung, das Grundgesetz verstößt. Mit Verweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache INAIL war es überzeugt genug von der Europarechtskonformität der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung, dass es auf eine Vorlage in Luxemburg verzichtete. Anlass dieser Arbeit ist die Frage, ob die Argumentation des Bundessozialgerichts belastbar ist. Sie stellt sich vor allem vor dem Hintergrund einer vielschichtigen und von Kasuistik geprägten Urteilspraxis des Europäischen Gerichtshofs zu den Einrichtungen der sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten. Als staatlich organisierte Systeme mit erheblichem volkswirtschaftlichen Einfluss können sie in Konflikt mit den Grundfreiheiten und dem Wettbewerbsrecht des EG-Vertrags geraten. Die wettbewerbsrechtliche Prüfung indes ist in der Rechtsprechung schnell beendet, wenn die Tätigkeit der Einrichtung als nicht wirtschaftlich gelten muss. Die Antwort auf diese Frage kreist im Duktus des Europäischen Gerichtshofs um den Grundsatz der Solidarität: Stark ausgeprägt, vermag er die Anwendung der

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BSGE 91, 263.

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Einleitung und Gang der Untersuchung

Wettbewerbsregeln abzuschneiden und damit die Frage auf einen Verstoß negativ zu beantworten. Solidarität ist ein wiederkehrender Begriff auch im deutschen Sozialversicherungsrecht. Häufig wird es zu dem „Prinzip“ erhoben, das der Sozialversicherung ihr soziales Gepräge gibt. Dabei teilt der Begriff auf europäischer wie nationaler Ebene das Schicksal eines zuweilen unklaren bis ungenauen Gebrauchs – dies wiegt umso schwerer, je stärker davon die Zugehörigkeit zu einem bestimmten System oder die rechtliche Zulässigkeit abhängen soll. Für die gesetzliche Unfallversicherung bestehen berechtigte Zweifel daran, ob sie einem Grundsatz der Solidarität folgt oder ein Solidarprinzip verwirklicht. Wenn sie jedoch nicht nur historisch sondern auch systematisch klassischer Zweig der deutschen Sozialversicherung ist, kann dann das Fehlen eines unpräzise verwendeten „Prinzips“ schon zu ihrer Unzulässigkeit führen? Diese Frage will die vorliegende Arbeit beantworten. Dabei darf die gesetzliche Unfallversicherung, begrenzt auf ihren gewerblichen von den Berufsgenossenschaften getragenen Teil, als Beispiel gelten. An ihr können begriffliche und dogmatische Auseinandersetzungen im deutschen Sozialversicherungsrecht ebenso nachgezeichnet werden wie der Grundkonflikt öffentlicher Einrichtungen in den Mitgliedstaaten mit dem Gemeinschaftsziel eines Gemeinsamen Marktes mit unverfälschtem Wettbewerb. Schließlich ist auch die gesetzliche Unfallversicherung ein möglicher Bereich für die Gemeinsame Sozialpolitik der EU. Die Untersuchung wird einen Gang vom deutschen zum Gemeinschaftsrecht nehmen. Im ersten Teil der Untersuchung wird das System der gesetzlichen Unfallversicherung erläutert. Nach einem Überblick über ihre Entwicklung vom ersten Gesetz bis heute geht es vor allem darum, die gesetzliche Unfallversicherung an der Struktur der Sozialversicherung zu messen. Erforderlich dazu ist eine Besinnung darauf, was „Sozialversicherung“ ist. Daran wird sich zeigen, ob die Unfallversicherung mehr als nur historisch begründbar zu diesem System sozialer Sicherheit gehört. Ihre Besonderheiten darzustellen, ist erforderlich, um die Auseinandersetzung um die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts zu führen. Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung greift insbesondere die Frage der durch den Versicherungszwang betroffenen Grundrechte neu auf. Der zweite Teil geht der europarechtlichen Zulässigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung nach. Sie kann in den Anwendungsbereich der Wettbewerbsordnung fallen und zudem an der Dienstleistungsfreiheit zu messen sein. Sowohl zum Wettbewerbsrecht als auch zur Dienstleistungsfreiheit hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die Behandlung von Einrichtungen der sozialen Sicherheit maßgeblich geprägt. Diese gilt es darzustellen und zu ordnen, insbesondere mit dem Ziel, eine methodisch und dogmatisch nachvollziehbare und tragfähige Argumentationslinie zu gewinnen. Am Ende soll eine belastbare Antwort auf die

Einleitung und Gang der Untersuchung

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Frage stehen, wie die gesetzliche Unfallversicherung gemeinschaftsrechtlich zu behandeln ist. Der dritte Teil schließlich widmet sich dem Einfluss, den das sogenannte Europäische Sozialrecht auf die deutsche gesetzliche Unfallversicherung im besonderen und die mitgliedstaatlichen Sozialrechtsordnungen im allgemeinen nimmt. Europäisches Sozialrecht und Europäische Sozialpolitik sind beständig im Fluss, dessen Geschwindigkeit zu Beginn des neuen Jahrhunderts erneut zugenommen hat. Vor diesem Hintergrund und der Ungewissheit über die Zukunft des Vertrags über eine Verfassung für Europa kann dieser Abschnitt nicht mehr als einen Einblick in aktuelle Rechtslage und absehbare Entwicklungen geben. An dieser Stelle sei noch darauf hingewiesen, dass, wann immer in dieser Untersuchung eine Person in männlicher Form genannt, selbstverständlich zugleich die weibliche Variante mitgedacht ist. Die männliche Endung sprachlich vorzuziehen, ist allein einer vereinfachten Schreib- und Lesepraxis geschuldet.

1. Teil

Das System der gesetzlichen Unfallversicherung I. Geschichtliche Entwicklung 1. Historische Grundlagen Die gesetzliche Unfallversicherung ist ein Zweig der deutschen Sozialversicherung und seit dem Unfallversicherungseinordnungsgesetz vom 7. August 1997 1 geregelt im Siebten Buch des Sozialgesetzbuchs, SGB VII. Das System des Unfallversicherungsrechts in Deutschland geht zurück auf das zweite Sozialgesetz von 1884 2 innerhalb der Sozialgesetzgebung auf Initiative von Reichskanzler Otto von Bismarck und verfolgt in seinem Grundmodell den umfassenden Schutz des abhängig Beschäftigten bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten. Bis zum Erlass dieses Gesetzes hatte es keinen Versicherungsschutz für abhängig Beschäftigte gegeben: Im ausgehenden 19. Jahrhundert brachte die sich enorm entwickelnde Industrialisierung zwar einer großen Zahl der Bevölkerung wirtschaftliche Chancen, ohne aber über Sicherungssysteme gegen die entstehenden Risiken zu verfügen 3. In den Fabriken existierten keine Vorschriften zur Verhütung von Unfällen an Maschinen oder vor Krankheiten bei gefährdender Tätigkeit. Einem Arbeiter, der wegen eines Unfalls oder einer Berufskrankheit arbeitsunfähig blieb, drohte der Verlust der Existenzgrundlage, denn seine Arbeitskraft war leicht ersetzbar und die Durchsetzung eines unter Umständen bestehenden deliktsrechtlichen Anspruchs gegen den Arbeitgeber nahezu unmöglich 4. Gesetze, die einem Verletzten Ansprüche unabhängig vom Nachweis eines Verschuldens gewährten, existierten nur in einigen wenigen Bereichen 5. Das Reichshaftpflichtgesetz von 1871 6 vermochte 1

BGBl. I S. 1254. RGBl. I S. 69. 3 Die Gefahr von Gesundheitsschäden durch berufliche Betätigung bestand freilich auch schon weit vor der Industrialisierung, vgl. Breuer, HS-UV, 1, Rn. 7ff. 4 Muckel, Sozialrecht, § 10 Rn. 2. 5 So etwa für Schiffsmänner durch das Preußische Allgemeine Landrecht vom 5. 2. 1810, für das Gesinde durch die Preußische Gesindeordnung vom 8. 11. 1810 oder, als allgemeinere Regelung, für mit der Bahn beförderte Personen durch das Preußische Eisenbahngesetz vom 3. 11. 1810, vgl. Breuer, HS-UV, § 1, Rn. 17ff. 6 RGBl. S. 297. 2

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nicht die erhoffte Lösung zu bringen, obwohl es zwar die Haftungstatbestände erweiterte – so sollte etwa der Unternehmer auch für vom leitenden Personal verschuldete Unfälle haften. Das RHG hielt aber aus rechtshistorischen Gründen an der Verschuldenshaftung fest, der Nachweis des Verschuldens gelang dem Verletzten in der Regel jedoch nicht. Zudem blieben Fälle ungesichert, in denen Selbstverschulden des Arbeiters eine Rolle spielte. Selbst bei aussichtsreichen Prozessvoraussetzungen war es aus vielerlei Gründen riskant, den Klageweg zu beschreiten: Selbst im Falle des Obsiegens war die erfolgreiche Vollstreckung nicht gesichert, zudem musste der Arbeiter damit rechnen, neben dem Arbeitsplatz die Chance auf freiwillige Zuwendungen des Arbeitgebers zu verlieren. Auch auf Seiten der potenziellen Anspruchsgegner waren die Risiken als nicht zu gering zu erachten, denn hohe und mitunter zahlreiche Ansprüche etwa bei Massenunfällen drohten die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Unternehmers zu überfordern. Die Schwächen dieses System wurden im Bismarckschen Unfallversicherungsgesetz behoben, in dem ein umfassendes öffentlich-rechtliches Versicherungssystem die individuelle Haftung des Arbeitgebers für eigenes oder fremdes Verschulden ersetzte. Dieser Neuordnung des Entschädigungsrechts bei Arbeitsunfällen waren umfassende Beratungen vorweggegangen, aus denen sich die letztendlich gefundene Lösung nur langsam abzeichnete. Als Grundlage hatte das existierende RHG gedient, dessen Schwächen – darunter die als willkürlich empfundene Erfassung derjenigen Industriearten, die als besonders gefährliche vom Regelungsbereich erfasst sein sollten – eliminiert werden mussten. Zwar blieb man gedanklich zunächst bei der Haftung, sah sich aber in juristischen Zwängen im Hinblick auf die traditionell durch das römische Recht begründete strenge Bindung an das Verschuldensprinzip 7. Gleichwohl wurde schon frühzeitig der Gedanke einer schärferen Haftung der Bergwerks- und Fabrikbesitzer formuliert, weil sie allein die Gewinnchancen nutzten und folglich auch allein die Verlustchancen, anders ausgedrückt das Risiko übernehmen müssten 8. Daraus entwickelte sich das Modell einer umfassenden Haftung der Unternehmer unabhängig vom Verschulden nach dem Prinzip einer Gefährdungshaftung, das sich indes nicht durchsetzen konnte – vorgeblich wegen des Bruchs mit dem traditionellen Rechtsdenken im Obligationenrecht. Diesem Modell, in dem sich die Unternehmer durch den zwangsweisen oder freiwilligen Abschluss einer privatrechtlichen Versicherung gegen die ausgedehnte Haftung absichern sollten, stand das öffentlich-rechtliche Modell gegenüber, das sich an den Grundsätzen der schon existierenden Invalidenversorgung orientieren sollte. Sowohl Bismarck als auch die Industrie bevorzugten diese Variante mit unterschiedlichen Motiven: Die Industrie, weil 7

Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, S. 18 ff. Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, S. 18, zitiert den Abgeordneten Bethusy-Huc, der seinerseits zudem zur weiteren Begründung auf die Existenzbedrohung für Arbeiter und ihre Familien durch unentschädigte Arbeitsunfälle hinweist. 8

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

sie sich einen Staatszuschuss erhoffte, Bismarck, um zum einen ein „soziales Band“ zwischen Arbeitern und Arbeitgebern zu knüpfen und zum anderen, um die Unfallversicherung als staatliche Leistung präsentieren zu können, die den „Wohlfahrtszweck“ des folglich erhaltenswerten Staates bewies 9. Am Ende standen sich zwei Alternativvorschläge für die Absicherung gegen das Risiko des Arbeitsunfalls gegenüber – die noch mehrmals überarbeitete privatrechtliche Variante und die letztlich sogar vom Staatszuschuss und damit vom Element staatlicher Versorgung bereinigte öffentlich-rechtliche –, die sich in den Rechtsfolgen nicht mehr voneinander unterschieden. Gitter spricht folglich vom bloßen „Etikettenaustausch“ und fasst zusammen: „Die Belastung der Unternehmer mit den gesamten Kosten der Unfallversicherung unterschied sich nicht wesentlich von der Lage, die bei einer privatrechtlichen Haftpflichtrevision und einer damit verbundenen privaten Haftpflichtversicherung eingetreten wäre“ 10. Streng öffentlich-rechtlich blieb lediglich die Begründung für die alleinige Kostentragung der Unternehmer, die sich aus einer öffentlich-rechtlich auferlegten Fürsorgepflicht der Arbeitgeber 11 erklärte, während die Arbeiter ihrerseits nicht etwa einen (zivilrechtlichen) Anspruch auf Schadensersatz, sondern einen Anspruch auf angemessene Versorgung erhielten. Mag über die gesellschaftlichen und staatspolitischen Hintergründe und die daraus resultierende Motivation des Gesetzesinitiators Bismarck, insbesondere im Hinblick auf den Zusammenhang mit den zeitlich nahen Sozialistengesetzen, aus Historikersicht Diskussionsbedarf bestehen 12, so kann es keine Zweifel daran geben, dass das Unfallversicherungsgesetz aus dem Jahre 1884 mehr als nur den Kern der noch heute gültigen Regelung enthält. Jedenfalls in diesem Zweig der Sozialversicherung war die von Bismarck beeinflusste Gesetzgebung nicht nur bloßer „Anstoß zur Entwicklung der modernen Sozialversicherungssysteme“ 13, sondern gestaltete darüber hinaus den Inhalt auf lange Sicht prägend. Die Grundelemente des ersten Unfallversicherungsgesetzes, die zum Teil wesentliche Neuerungen brachten, stellen seither die Charakteristika des deutschen Systems dar. 2. System des ersten Unfallversicherungsgesetzes Durch die in diesem Zusammenhang oft verwendete Formulierung der „Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz“ 14 wird vor allem die Strukturänderung 9

Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, S. 26 ff. Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, S. 32. 11 Diese wiederum knüpfte jedoch an das Bestehen eines (privatrechtlichen!) Arbeitsvertrags an, wodurch die streng öffentlich-rechtliche Argumentation nur schwerlich aufrecht zu erhalten ist; vgl. Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, S. 55. 12 Kaltenborn, JZ 1998, S. 770, 772 f. 13 Kaltenborn, JZ 1998, S. 770, 773. 10

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auf Seiten des Anspruchsgegners im Falle eines Arbeitsunfalles beschrieben, also diejenigen Regelungen, die die Arbeitgeber betreffen: Der einzelne Arbeitgeber haftet seit 1884 nicht länger individuell und nur bei Verschulden, vielmehr werden die Unternehmer in ihrer Gesamtheit in Anspruch genommen. Die Unternehmerhaftung wird jedoch ersetzt durch ein öffentlich-rechtliches Sicherungssystem, in dem Beschäftigte gegen die spezifischen Risiken abgesichert sind. Die Lasten der beitragsfinanzierten Versicherung tragen die Unternehmer, die gewissermaßen im Gegenzug nicht länger zivilrechtlich haften. Versicherungsträger waren von Beginn an einzig die Berufsgenossenschaften, die öffentlich-rechtliche Zwangszusammenschlüsse darstellen und sich aus Gründen der Risiko- und Versichertennähe branchenspezifisch untergliedern. Die Unternehmer als Mitglieder der Berufsgenossenschaften sind seit Inkrafttreten des Unfallversicherungsgesetzes allein beitragspflichtig, auch dies betont die Risikoverteilung in der Arbeitswelt, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts erstmals Eingang ins Gesetz fand. Abgewichen wurde im Zuge der Weiterentwicklung der Unfallversicherung mit der Zeit jedoch vom ursprünglichen Konzept, den Unternehmern allein die Verwaltung der Unfallversicherungsträger zu überlassen: Ihnen wurden ab 1923 ein Vertreter der Versicherten als mitentscheidungsbefugt an die Seite gestellt, wenn es um die Gewährung von Leistungen ging; ab 1951 ging das Unfallversicherungsrecht über zur Selbstverwaltung durch paritätische Besetzung aller Organe der Träger 15. Umgekehrt ist seither der Anspruch eines Verletzten nicht mehr zivilrechtlich sondern öffentlich-rechtlich ausgestaltet als Entschädigungsanspruch unabhängig vom eigenen wie fremden Verschulden; Anspruchsgegner ist nicht der Arbeitgeber des Verletzten, sondern die in der Berufsgenossenschaft zusammengefasste Unternehmerschaft als „Solidargemeinschaft“. Beide Aspekte überwanden so die Schwierigkeit, die sich mit der zivilrechtlichen Durchsetzung eines Anspruchs durch einen Arbeiter ergeben hätte. 3. Neuerungen und Konstanten Durch das Unfallversicherungsgesetz von 1884 entstand mehr als nur ein Grundgerüst für das heutige System. Durch Novellierungen in der Folgezeit bis heute wurden die Grundstrukturen nicht angetastet, vielmehr einzelne Bereiche erweitert, verfeinert oder den sich verändernden Lebensbedingungen angepasst 16.

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Zur Herkunft der Formel Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, S. 38. Kater / Leube, Unfallversicherung, Einführung Rn. 45. 16 Ausführlich (zu allen Zweigen der Sozialversicherung) Tennstedt, in: v. Maydell / Ruland, Sozialrechtshandbuch, Kap. 2 Rn. 17 ff. 15

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

a) Personelle Ebene In personeller Hinsicht zeigte sich die Tendenz zur Ausweitung des Versicherungsschutzes schon bald. Einschneidend geändert wurde das Gesetz im Jahr 1942 17 dahingehend, dass nicht mehr die Zugehörigkeit zu einem – versicherten – Betrieb entscheidend für den Versicherungsschutz sein sollte, sondern die Verrichtung einer bestimmten Tätigkeit. Die Versicherung des „Wie-Beschäftigten“, heute geregelt in § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII, war schon in die Gesetzesfassung von 1942 eingebracht und entsprach der seinerzeit ergangenen Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes 18. Unter dem Stichwort Ausweitung des personellen Schutzbereiches mag auch diejenige Versicherung zu nennen sein, die gemeinhin als „unechte Unfallversicherung“ bezeichnet wird: Sie bringt Personengruppen in den Genuss des Versicherungsschutzes, an deren Tätigkeiten ein Interesse der Allgemeinheit besteht, weswegen Träger dieser Versicherung die öffentliche Hand – also Bund, Land und Kommunen, vergleiche §§ 125, 128, 129 SGB VII –, letztlich also der Steuerzahler ist. Für die Auseinandersetzung mit dem hier untersuchten Bereich der gewerblichen Unfallversicherung in der Trägerschaft der Berufsgenossenschaften ist der gesamte Bereich der unechten Unfallversicherung 19 daher nicht von Belang und gehört systematisch nach überwiegender Ansicht nicht in den Bereich der Sozialversicherung, sondern eher in den Bereich der sozialen Entschädigung 20. b) Sachliche Ebene In sachlicher Hinsicht war zunächst nur der Betriebsunfall, aus dem konsequenterweise durch die Neufassung des Unfallversicherungsgesetzes von 1942 begrifflich der Arbeitsunfall wurde, der Tatbestand, der den Versicherungsschutz auslösen konnte. Entschädigungen wurden gewährt bei Tod oder Erwerbsbeeinträchtigung durch Unfälle, die vom Verletzten nicht selbst herbeigeführt wurden und auf dem Betrieb eigentümliche Gefahren zurückzuführen waren 21. Der Schutz wurde in der Folge ausgedehnt auf den betrieblichen Umgang mit dem Arbeitsgerät 22, auf Beschädigungen an Körperersatzstücken 23, vor allem aber auf Wegeunfälle 24. Berufskrankheiten, im heutigen Unfallversicherungsrecht 25 ebenso wie 17

RGBl. I S. 107. Schlegel, HS-UV, § 14, Rn. 79. 19 Ausführlich zur unechten Unfallversicherung Schlegel, HS-UV, § 17. 20 Zur Dreiteilung in der Sozialrechtssystematik Fuchs / Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 36 f. 21 Kaltenborn, JZ 1998, S. 770, 772. 22 Gesetz vom 14. 7. 1925, RGBl. I S. 97. 23 Gesetz vom 17. 2. 1939, RGBl. I S. 267. 24 Gesetz vom 14. 7. 1925, RGBl. I S. 97. 18

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in der berufsgenossenschaftlichen Praxis gleichrangiger Versicherungsfall neben dem Arbeitsunfall, gehörten in der ersten wirksamen Gesetzesfassung nicht zu den Tatbeständen, die den Versicherungsschutz auslösen konnten. Zwar sollten Betroffene auch in diesen Fällen durchaus entschädigt werden, allerdings erwiesen sich praktische wie wissenschaftlich Einordnungsprobleme als Hürden 26. Man griff daher auf die Konstruktion zurück, die Regierung zum Erlass einer Rechtsverordnung zu ermächtigen, durch die der Versicherungsschutz auf Berufskrankheiten ausgedehnt werden konnte 27. Dies entspricht ebenfalls teilweise der heutigen Systematik: Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII bezeichnet die Bundesregierung Krankheiten durch Rechtsverordnung als Berufskrankheiten. Dass Berufskrankheiten grundsätzlich Versicherungsfälle sind, legt § 7 Abs. 1 SGB VII eindeutig fest, durch § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII wird die Regierung folglich nur ermächtigt zu bestimmen, welche Krankheiten vom Begriff erfasst sein sollen. Der Gefahr von Lücken in der Berufskrankheitenverordnung 28 beugte seit 1963 § 551 Abs. 2 RVO (heute § 9 Abs. 2 SGB VII) vor. c) Leistungsebene Innerhalb des Leistungsspektrums in der Unfallversicherung haben sich die Grundsätze des Gesetzes von 1884 durchgesetzt: Leitend war und ist der Gedanke, dass die Schutzwürdigkeit des einzelnen Versicherten aus seiner Teilnahme am allgemeinen Arbeitsleben resultiert, dem er als abhängig Beschäftigter seine vollständige Einsatzfähigkeit widmet, wodurch er folglich in der Existenzsicherung (seiner eigenen und häufig zudem der Familie) zur Gänze von der Gegenleistung abhängt. Das Risiko, durch einen Gesundheitsschaden in der Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt zu sein, sollte durch die Unfallversicherung aufgefangen werden: Entschädigt wurde der Erwerbsschaden, der aber nicht konkret sondern abstrakt ermittelt wurde, erlittenes „Unrecht“ sollte indes nicht kompensiert werden 29. Zum Leistungsspektrum gehörten die Erstattung der Kosten einer Heilbehandlung sowie Geldleistungen, wobei eine Rente die Minderung der Erwerbsfähigkeit voraussetzte; bei Tod gewährte die Versicherung den Hinterbliebenen eine Rente und einen festen Betrag für Beerdigungskosten 30. Als Ausprägung der öffentlichrechtlichen Ausgestaltung der Versicherung wurden die Leistungen von Amts wegen unmittelbar und schnell erbracht 31. Die Unternehmer ihrerseits wurden 25

§§ 7 Abs. 1, 9 SGB VII. Breuer, HS-UV, § 1 Rn. 102. 27 Durch die Verordnung vom 12. 5. 1925 (RGBl. I S. 69) wurden erstmals elf entschädigungsfähige Berufskrankheiten benannt. 28 Vom 31. 10. 1997, BGBl. I 1997, S. 2623, zuletzt bearbeitet 23. 10. 2002. 29 Kater / Leube, Einführung Rn. 3f. 30 Kaltenborn, JZ 1998, S. 770 (772). 31 Kater / Leube, Unfallversicherung, Einführung Rn. 7. 26

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

von etwaigen zivilrechtlichen Ansprüchen eines geschädigten Arbeitnehmers frei gestellt. Die gesetzliche Unfallversicherung heute gewährt gemäß § 26 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Leistungen zur Heilbehandlung einschließlich Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gemeinschaft, ergänzende Leistungen, Leistungen bei Pflegebedürftigkeit sowie Geldleistungen. Neben die Kompensation erlittener Schäden ist also die Rehabilitation getreten. Deren Bedeutung ist zum einen § 1 Nr. 2 SGB VII zu entnehmen: Die Unfallversicherungsträger haben die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Versicherten mit allen geeigneten Mitteln wiederherzustellen. Zum anderen normiert § 26 Abs. 3 SGB VII das Prinzip, das Rehabilitation der Rente vorzugehen habe. In der Sache wird durch die Rehabilitation die Sicherung vor dem eigentlichen Risiko konsequent auf breitere Füße gestellt. Indem Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Versicherten wiederhergestellt werden, wird er in die Lage versetzt, seine Erwerbstätigkeit weiterzuführen. Er ist also, um seine Existenz und die seiner Angehörigen zu sichern, nicht auf Fürsorge der Allgemeinheit angewiesen. Erst wenn dies nicht gelingt, erhält der Versicherte eine Entschädigung in Geld. Gemäß § 26 Abs. 4 Satz 2 SGB werden die Leistungen zur Heilbehandlung und Rehabilitation als Dienst- und Sachleistung erbracht 32. Dem Versicherten werden die Leistungen, die nicht Geldleistungen sind, in natura erbracht, die Unfallversicherung sieht also keine Kostenerstattung vor. Der Versicherte, der Anspruch etwa auf ärztliche Behandlung oder Arzneimittel hat, erhält diese, ohne in finanzielle Vorleistung treten zu müssen. Die Entgeltung der Leistung wird im Verhältnis zwischen den Leistungserbringern und den Unfallversicherungsträgern abgewickelt: Die Unfallversicherungsverträger schließen gemäß § 34 Abs. 3 SGB VII Vereinbarungen zur Durchführung der Heilbehandlung 33. Nicht Versicherungsleistung im Sinne einer Leistung im Versicherungsfall, wohl aber gemäß § 1 Nr. 1 SGB VII Aufgabe der Unfallversicherungsträger ist es, mit allen geeigneten Mitteln Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten sowie arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu verhüten. Der Präventionsauftrag ist historisch gewachsen: Zwar schon im Gesetz von 1884 enthalten, gewann die Prävention erst über die Jahre den Stellenwert, den sie heute hat 34.

32 Zur erstmaligen Übernahme der Verantwortung für das Heilverfahren durch die Berufsgenossenschaften im Jahr 1925 Breuer, HS-UV, § 1 Rn. 144. 33 Abkommen und Verträge abrufbar auf http://www.hvbg.de/d/pages/reha/verguet/ index.html. 34 Ausführlich Breuer, HS-UV, § 1 Rn. 161 ff. und unten II.e)cc).

I. Geschichtliche Entwicklung

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d) Träger Wer Träger der gesetzlichen Unfallversicherung ist, ergibt sich aus § 114 Abs. 1 SGB VII. In einer Grobstruktur unterscheidbar sind als Träger die gewerblichen Berufsgenossenschaften, die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften und die Unfallkassen der öffentlichen Hand. Die Zuständigkeit ergibt sich gemäß § 121 Abs. 1 SGB VII für die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften und die Unfallkassen enumerativ aus §§ 123 ff. SGB VII, so dass in der Folge die gewerblichen Berufsgenossenschaften für die dort nicht aufgezählten Unternehmen zuständig sind. Der Begriff 35 des Unternehmens wird in dieser Norm denkbar weit verstanden und umfasst Betriebe, Verwaltungen, Einrichtungen, Tätigkeiten. Zweck des weiten Begriffsverständnisses, das insbesondere über dasjenige des Unternehmers aus § 136 Abs. 3 SGB VII hinausgeht, ist es, § 121 Abs. 1 SGB VII die Funktion eines Auffangtatbestands in der Zuständigkeitssystematik der gesetzlichen Unfallversicherung zu übertragen. Einschlägige Vorschrift für die Zuständigkeit der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften ist § 123 SGB VII, der diejenigen Unternehmensformen benennt, die landwirtschaftliche Unternehmen im Sinne der Vorschrift sind. Auch hier gilt eine Zuständigkeit, soweit nicht die Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand gemäß §§ 125 ff. SGB VII zuständig sind. Diese auch als Unfallkassen bezeichneten Träger auf Bundes-, Landes und Gemeindeebene betreffen die öffentliche Hand im weitesten Sinne, also die öffentlichen Unternehmen des Bundes, der Länder und der Kommunen. Darüber hinaus sind sie zuständig für den großen Bereich der sogenannten unechten Unfallversicherung, also für diejenigen Versicherten, die in eine der Fallgruppen gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 8 bis 17 SGB VII gehören. Unfallkassen, landwirtschaftliche und gewerbliche Berufsgenossenschaften fallen unter den gemeinsamen Begriff Unfallversicherungsträger. Die historische Entwicklung zeigt, dass die gewerblichen Berufsgenossenschaften gewissermaßen den Ur-Typ des Unfallversicherungsträgers bilden. Auch dem SGB VII kann man zum Teil noch entnehmen, dass trotz vieler Reformen das Gesetzeswerk auf diesen ursprünglichen Träger zugeschnitten ist: In §§ 182 ff. SGB VII finden sich besondere Vorschriften für die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften und die Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand, durch die im Bereich der Finanzierung vom „Grundmodell“ für die gewerblichen Berufsgenossenschaften abgewichen wird. Für die Fragestellung, die der Arbeit zugrunde liegt, ist es möglich und nötig, den Untersuchungsgegenstand auf die gewerblichen Berufsgenossenschaften zu 35 Zur Definition des Unternehmers vgl. § 136 Abs. 3 SGB VII, dazu auch mit Blick auf die Wechselbeziehung zum Begriff des Unternehmens in § 121 Abs. 1 SGB VII Muckel, Sozialrecht, § 10 Rn. 6 f.

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

beschränken. Der Ur-Typ ist zugleich der in der systematischen und auch tagesaktuellen Diskussion beispielhafte. Die gewerblichen Berufsgenossenschaften gliedern sich nach Branchen. Nach Fusionen im Mai 2005 tragen derzeit 26 gewerbliche Berufsgenossenschaften die gesetzliche Unfallversicherung für die Unternehmen in ihrem Zuständigkeitsbereich. Weitere Fusionen oder Kooperationen zwischen den Verwaltungseinrichtungen der einzelnen Berufsgenossenschaften sind für Zukunft nicht auszuschließen, werden jedoch, soweit absehbar, keine grundsätzliche Änderung im System der branchengegliederten Zuständigkeit bewirken 36. Diese Aufteilung nach Branchen ist historisch gewachsen, wird aber auch heute noch als besonderer Beleg für die Funktionsfähigkeit des Systems herangezogen. Insbesondere der Bereich der Prävention und darin die Gefahrverhütung lässt sich zweckmäßig und effektiv dadurch erreichen, dass die zuständige Berufsgenossenschaft eine besondere Spezialisierung auf eine Branche und somit auf die spezifischen Gefährdungen innerhalb dieser Branche erfährt.

II. Die gesetzliche Unfallversicherung als Zweig der Sozialversicherung Sozialversicherung – verstanden als Gattungsbegriff oder Typus 37 – ist nach überkommener Beschreibung eine staatlich organisierte, nach den Grundsätzen der Selbstverwaltung aufgebaute öffentlich-rechtliche, vorwiegend auf Zwang beruhende Versicherung großer Teile der arbeitenden Bevölkerung für den Fall der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit und des Todes sowie des Eintritts der Arbeitslosigkeit 38. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner umfänglichen Rechtsprechung zur Sozialversicherung vier Wesensmerkmale herausgearbeitet: Dazu gehört die Technik der Versicherung 39, die Verwirklichung eines sozialen Ausgleichs 40, die Finanzierung durch Beiträge 41 und die Art und Weise der organisatorischen Bewältigung 42. Das letztgenannte Kriterium ergibt sich explizit aus Art. 87 Abs. 2 GG sowie einfachgesetzlich aus § 29 Abs. 1 SGB IV und unterschei36 Ein Eckpunktepapier von Bund und Ländern über eine Reform der gesetzlichen Unfallversicherung beinhaltet allerdings den Vorschlag, die Berufsgenossenschaften auf die Zahl von nur noch sechs zu senken; ein Vorschlag zur Umsetzung wird vom Hauptverband der Berufsgenossenschaften bis Ende 2009 erwartet; vgl. Entwurf des Eckpunktepapiers S. 5, abrufbar auf http://www.lsv.de/verbaende/01aktuelles/01-presse-aktuell/eckpunkte_GUV.pdf. 37 BVerfGE 11, 105, 112; 88, 203, 313; BSGE 6, 213, 218, 227 f.; Kunig, in v. Münch / Kunig, GG, Art. 74 Rn. 67; Stettner, in: Dreier, GG, Art. 74, Rn. 65. 38 Wannagat, Lehrbuch, S. 25. 39 „Gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“, BVerfGE 11, 105, 112; dazu sogleich. 40 BVerfGE 11, 105, 114. 41 BVerfGE 11, 105, 113. 42 BVerfGE 11, 105, 113.

II. Die gesetzliche Unfallversicherung als Zweig der Sozialversicherung

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det sich von den vorgenannten vor allem insofern, als es in der Begrifflichkeit grundsätzlich eindeutiger ist 43, wenngleich vor allem wegen des rechtsförmlichen Mischcharakters einiger Sozialversicherungsträgers sinnvoller von einer Körperschaft sui generis zu sprechen ist als vom durch das allgemeine Verwaltungsrecht nach festgelegten Maßstäben definierten Begriff der Körperschaft des öffentlichen Rechts vor allem in Abgrenzung zur Anstalt 44. Gleichwohl stellt dieses für das Bundesverfassungsgericht zwingende Merkmal 45 ein rein formales Kriterium dar, dessen Überprüfung keinen überdurchschnittlichen Schwierigkeiten begegnet. Umfänglich diskutiert wird hingegen das Merkmal der Finanzierung durch Beiträge aus vielfältigen Blickwinkeln 46. Die Diskussion kann und soll hier nicht im Detail nachgezeichnet werden. Auf den Beitrag wird zurückzukommen sein, soweit er als konkretes Merkmal der Unfallversicherung betroffen ist. Mindestens ebenso vielfältig wird die Auseinandersetzung geführt um die durchaus problematischen Begrifflichkeiten der Versicherung auf der einen sowie des Solidarprinzips oder, um den komplexen Begriff des Prinzips 47 zu vermeiden, des sozialen bzw. solidarischen Ausgleichs innerhalb der Solidargemeinschaft auf der anderen Seite. Unstreitig ist insoweit jedenfalls für das Unfallversicherungsrecht allein aus historischer Betrachtung, dass der Gedanke des sozialen Schutzes vor den Wechselfällen des Lebens leitend schon für die Geburt der gesetzlichen Unfallversicherung war und die Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz die systematische Grundentscheidung bildete 48. Die Diskussion um etwa daraus resultierende „Prinzipien“ und deren Ausgestaltung für den gesamten Bereich der Sozialversicherung sei im Folgenden skizziert. 1. (Sozial-)Versicherung a) Begriff der Versicherung Versicherung an sich ist nicht per se privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich determiniert. Beide Bereiche werden von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und 12 GG als bestehend vorausgesetzt, jenes als privatrechtliches Versicherungs“wesen“, dieses als Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung. Das einfache Recht verzichtet für beide Bereiche auf eine Legaldefinition des Begriffs 43 Zum oftmals gleichwohl nachlässigen Umgang mit den Begriffen Körperschaft und Anstalt Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 246. 44 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 244 ff. 45 BVerfGE 11, 105, 113; 89, 365, 377. 46 Statt vieler die Darstellung bei Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 256 ff. 47 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich 2000, S. 75 ff. 48 Dazu schon unter I.1. und 2.

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Versicherung. Sowohl das Versicherungsvertragsgesetz (VVG) und das Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) als auch das Sozialgesetzbuch setzen den Begriff schlicht voraus. aa) Versicherungsvertragsrecht und Wirtschaftswissenschaften Für den Bereich des Privatversicherungsrechts wird vereinzelt eine Definition insgesamt für überflüssig gehalten 49. Traditionell aber wird zivilrechtlich die Versicherung definiert als Gemeinschaft gleichartig Gefährdeter mit selbstständigen Rechtansprüchen auf wechselseitige Bedarfsdeckung 50. Nach neueren Ansätzen, die den vertraglichen Gesichtspunkt der Versicherung insbesondere in Abgrenzung zu anderen Schuldverhältnissen herausgreifen 51, ist ein Versicherungsvertrag ein privatrechtlicher Vertrag, der einen Vertragspartner verpflichtet, gegen Prämie des anderen Teils eine Leistung für den Fall zu zahlen, dass ein bestimmtes wirtschaftliches Interesse zufällig beeinträchtigt wird 52. Dieser Ansatz verzichtet zwar auf das durchaus problematische Konstrukt der Gefahrengemeinschaft 53, ist jedoch für den Bereich der Sozialversicherung wegen der Betonung des Vertraglichen nur begrenzt fruchtbar zu machen. Auch auf das Versicherungsaufsichtsrecht wird mitunter zurück gegriffen, um eine Definition des Begriffs Versicherung zu generieren 54. Nach dem Bundesverwaltungsgericht sind Versicherungsgeschäfte solche, in denen ein Unternehmen gegen Entgelt für den Fall des Eintritts eines ungewissen Ereignisses bestimmte Leistungen übernimmt, wobei das dadurch begründete Risiko auf eine Mehrzahl durch die gleiche Gefahr bedrohter Personen verteilt wird und der Risikoübernahme eine auf dem Gesetz der großen Zahl beruhende Kalkulation zugrunde liegt 55. Augenfällig – und naturgemäß gewollt – ist bei diesen Definitionsansätzen die Betonung der rechtsgeschäftlichen Aspekte. Der aufsichtsrechtliche Versicherungsbegriff ist ein funktionaler, der insbesondere um Abgrenzung von Versicherungsverträgen zu Verträgen anderer Art bemüht ist, so dass insoweit auch hier der „Nutzen“ für die im Sozialversicherungsrecht gesuchte Definition auf Grenzen stößt 56. Diese Anätze lassen den Versuch erkennen, die wesentlichen Merkmale des Versicherungsbegriffs zur Gewinnung eines Typus zusammenzufassen 57: Über49

Prölls, in Prölls / Martin, VVG, § 1 Rn. 1. Bruck / Möller, VVG, § 1 Rn. 3. 51 Gebler, Versicherungsprinzip, S. 11. 52 Gebler, Versicherungsprinzip, S. 12. 53 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 29 f. 54 Gebler, Versicherungsprinzip, S. 13 mit Nachweisen. 55 BVerwGE 3, 220, 221; 75, 155, 159 f. 56 Eine Bestimmung, die umgekehrt auf die Abgrenzung zur Sozialversicherung abstellt, zeigt Präve, in: Prölss (Hrsg.), VAG, § 1 Rn. 8. 50

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nahme eines Risikos respektive einer Gefahr auf der einen Seite, Anspruch auf Bedarfsdeckung auf der anderen Seite, Verknüpfung beider durch das Kriterium der Entgeltlichkeit. Innerhalb dieses Merkmalbündels ist vor allem die Frage nach dem Wie der Verknüpfung für das Sozialversicherungsrecht problematisch. Im privaten Rechtsgeschäft gibt zumeist das Synallagma die Antwort. Das „do ut des“ des Privatrechts ist dem öffentlichen Recht jedoch fremd 58. Falls also die synallagmatische Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung zum Wesen der Versicherung gehörte, es gar ausmachte, wäre der Generierung des sozialversicherungsrechtlichen Versicherungsbegriffs aus dem privatrechtlichen der Weg verstellt 59, zumindest aber erschwert. Eine erschöpfende Darstellung dieses Problems, mehr noch die Lösung der Fragestellung nähme ganz sicher einen diese Arbeit sprengenden Raum ein. Hilfreich mag aber eine vereinfachende Überlegung sein: Das Synallagma ist als zivilrechtlicher Begriff eng mit dem des Vertrages verwoben 60. Damit ein Vertrag ein gegenseitiger (also synallagmatischer) wird, müssen zunächst beide Seiten Leistungspflichten übernehmen. Wesen des Vertrages ist als Ausfluss der Privatautonomie die Freiwilligkeit des Abschlusses 61, ergo die freiwillige Übernahme der Leistungspflichten. Schon dieser Grundgedanke ist auf das Sozialversicherungsrecht nicht übertragbar. Zudem muss die eine Partei eines synallagmatischen Vertrages ihre jeweilige Pflicht übernehmen, gerade damit auch die andere Partei die ihre übernimmt 62. Auch diese Vorstellung ist jedenfalls mit Blick auf die Träger der Sozialversicherung befremdlich: Sie sind öffentlichrechtlich organisiert, erfüllen eine staatliche Aufgabe und verfolgen nicht etwa einen Zweck in Eigeninteresse 63. Wenn also die synallagmatische Verknüpfung der Spezifizierung eines Vertrages dient, etwa in Abgrenzung zum einseitigen Vertrag, muss er nicht zwingend das Wesen eines bestimmten Vertragstypus sein. (Auch wenn dies in der Regel so sein wird, etwa beim Kauf, der Miete, dem Tausch – nicht aber im Dienstvertrag. Hier stehen zwar in der Regel gemäß § 611 Abs. 2 BGB die Leistung der versprochenen Dienste und die Gewährung der vereinbarten Vergütung im Gegenseitigkeitsverhältnis, die Formulierung des § 612 Abs. 1 BGB lässt indes den Schluss zu, dass auch Dienstleistung ohne Vergü57

Etwa durch Gebler, Versicherungsprinzip, S. 15. Mit Ausnahme bestimmter Formen des öffentlich-rechtlichen Vertrags gemäß § 54 VwVfG, Fehling, in: Fehling / Kastner / Wahrendorf (Hrsg.), Verwaltungsrecht, § 54 VwVfg Rn. 40. 59 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 119 ff. u. 174 f. mit Nachweisen insbesondere der älteren Stimmen in der sozialversicherungsrechtlichen Literatur; anders Gebler, Versicherungsprinzip, S. 79 ff.; Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, S. 121. 60 Siehe nur Medicus, Bürgerliches Recht, allein in der Überschrift des § 12. 61 Exemplarisch Medicus, Schuldrecht AT, Rn. 63 ff. 62 Brox, Allgemeines Schuldrecht, Rn. 22. 63 Gerade die gesetzliche Unfallversicherung kann hier als Beispiel dienen: Sie leistet auch ohne Gegenleistung; vgl. auch Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 119 f. zur Unanwendbarkeit der §§ 320 ff. BGB. 58

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

tung denkbar ist.) Die Frage nach Leistung und Gegenleistung insbesondere in ihrer synallagmatischen Ausgestaltung ist daher richtigerweise eine des Versicherungsvertragsrechts, dessen besondere Probleme 64 folgerichtig dort zu behandeln sind. Insofern findet sich in der traditionellen Formulierung, Versicherung liege in der Übernahme einer Gefahr durch eine Seite mit selbstständigen Rechtansprüchen auf Bedarfsdeckung der anderen Seite, durchaus ein zielführender Ansatz auch für die Sozialversicherung, indem auf die synallagmatische Verknüpfung verzichtet wird. Den Versuch der Begriffbestimmung unternehmen auch die Wirtschaftswissenschaftler. Prägend sind hier insbesondere die Überlegungen von Manes, der in seiner knappsten Formulierung Versicherung beschreibt als die gegenseitige Deckung zufälligen schätzbaren Geldbedarfs zahlreicher gleichartig bedrohter Wirtschaften 65. Mag man es auch aus methodischen Erwägungen durchaus kritisch sehen, für die rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Versicherungsbegriff auf wirtschaftswissenschaftliche, zumeist funktionale Definitionen zu rekurrieren 66, so bleibt dennoch schlicht festzustellen, dass ebendiese Ansätze Eingang in den Versicherungsbegriff gefunden haben, wie er in juristischer Literatur wie Rechtsprechung überwiegend gebraucht wird. bb) Sozialversicherungsrecht Im sozialversicherungsrechtlichen Schrifttum und in der Rechtsprechung erfolgt die Annäherung an den Begriff der Versicherung zum Großteil sehr offen 67 in Anlehnung an die privatrechtliche (zum Teil gar wirtschaftswissenschaftliche) Vorgehensweise. Versicherung ist danach gerichtet auf die Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit 68. Der Ausdruck der organisierten Vielheit wird häufig durch den konkreteren der Gefahrengemeinschaft ersetzt 69. Die Vorstellung, in einer Versicherung schlössen sich gleichartig Gefährdete zu einer Gefahrengemeinschaft zusammen, ist nicht unumstritten 70. Die Kritiker 64

Ewa der Streit darum, welche Leistung der Prämienzahlung gegenüber steht, der von Vertretern der „Geldleistungs-“ und der „Gefahrtragungstheorie“ ausgefochten wird; dazu Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 96 ff. 65 Manes, Grundzüge des Versicherungswesens, S. 3. 66 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 40 f. 67 Etwa für die Unfallversicherung Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 462; dagegen Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd I, S. 1. 68 Rüfner, Einführung in das Sozialrecht, S. 137; BVerfGE 11, 105, 112; BSGE 6, 213, 218, 227 f. 69 Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, S. 73.

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geben vor allem die rechtliche Eigenständigkeit der so entstehenden Organisation „Versicherung“ (sei es als privatwirtschaftliches Unternehmen, sei es öffentlichrechtlicher Versicherungsträger) in all ihrer Komplexität zu bedenken, die mehr ist als ein bloßer Zusammenschluss, sondern ihrerseits den Versicherten autonom gegenüber steht. Insbesondere die gesamtgesellschaftliche Komponente dieser aus der Sozialwissenschaft stammenden Überlegung 71 ist nicht von der Hand zu weisen. Für den in dieser Untersuchung angestrengten Versuch, sich – in aller gebotenen Kürze – dem Begriff der Versicherung anzunähern, eröffnet dieser Diskurs indes ein zu weites Feld. Den Bedürfnissen der Untersuchung werden die im übrigen anerkannten Ansätze in Literatur und Rechtsprechung gerecht, zumal sie nicht in einem grundsätzlichen Widerspruch stehen zu dem, was für das Privatversicherungsrecht als Wesen der Versicherung gilt 72. b) Begriff der Sozialversicherung im verfassungsrechtlichen Kontext Eine Annäherung an den Begriff der Versicherung ist zudem über das Verfassungsrecht möglich. Die in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes zugewiesene Sozialversicherung wird verstanden als verfassungsrechtlicher Gattungsbegriff, der alles beinhaltet, was seinem Wesen nach als Sozialversicherung anzusehen ist 73. Das Bundesverfassungsgericht formuliert dafür zwei Voraussetzungen: Die schon erwähnte „gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“ 74, also Lastentragung durch Solidargemeinschaft 75. Hinzu tritt die Festlegung der Art und Weise der organisatorischen Bewältigung durch selbstständige Körperschaften des öffentlichen Rechts, die ihre Mittel durch Beiträge aufbringen und grundsätzlich in eigener Verantwortung ohne Fachaufsicht tätig sind. Während die Art und Weise der organisatorischen Bewältigung, wie sie die letztgenannte Voraussetzung postuliert, jedenfalls kein Merkmal für den Begriff Versicherung ist, rekurriert die erstgenannte Voraussetzung auf die Umschreibung des Merkmals Versicherung, wie sie etwa beispielhaft Wannagat begrifflich umreißt 76. Eine eigene Herleitung dessen, was Versicherung ausmacht, 70

Darstellung bei Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 29 f. Di Fabio, Offener Diskurs und geschlossene Systeme, S. 113 ff, 178 ff. 72 Oben unter II.1.a)aa). 73 Gitter / Nunius, HS-UV, § 4 Rn. 12; Nachweise in Fn. 37. 74 BVerfGE 11, 105, 111 f. 75 Gitter / Nunius, HS-UV, § 4 Rn. 12. 76 Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 3: „Die Versicherung weist daher folgende Begriffsmerkmale auf: a) Eine Gefahrengemeinschaft – Zusammenschluss gleichartig mit schätzbaren Risiken Gefährdeter. b) Ein Risiko (Vermögens-)ausgleich innerhalb der Gefahrengemeinschaft mit selbständigen Rechtsansprüchen, wobei die Versicherten die erforderlichen Mittel zur Bedarfsdeckung zu leisten haben.“ 71

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

blieben die Gerichte schuldig. Zudem stellt die Formulierung der Lastentragung durch die Solidargemeinschaft eine Vermischung mehrerer Aspekte dar, die nicht unbedingt mit Versicherung zusammenhängen. Die Verwendung des Ausdrucks Solidargemeinschaft ist typisch eben nur für die Sozialversicherung 77. Ausdrücklich für möglich hält das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 die Einbeziehung neuer Lebenssachverhalte in die Sozialversicherung 78. Dabei hat aber der Gesetzgeber keine gänzliche Gestaltungsfreiheit. Sozialversicherung sei, so das Gericht im Urteil zu Künstlersozialversicherungsgesetz 79, nicht gleichzusetzen mit sozialer Sicherheit, dem Bund komme also keine allgemeine Kompetenz zur Umsetzung sozialstaatlicher Aufgaben aus Art. 20 Abs. 1 GG zu, sondern er sei dabei auf das Mittel der Versicherung beschränkt. Hier stellt also auch das Bundesverfassungsgericht noch einmal das klar, was schon nach wörtlicher Bedeutung eine Selbstverständlichkeit sein muss: „Versicherung“ ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Sozialversicherung. Mit der in der Rechtsprechung zugrunde gelegten Begriffsbildung, die auch von der Literatur überwiegend akzeptiert wird und sich darüber hinaus auch nicht im grundsätzlichen Widerspruch zu den Ansätzen des Privatrechts sieht, befindet man sich – trotz aller Möglichkeiten des Diskurses – für die meisten Fragestellungen auf gesichertem Boden. c) Versicherung als Prinzip Zu fragen ist bei methodisch korrekter Herangehensweise weiterhin danach, ob „Versicherung“, wie sie soeben als Begriff festgelegt wurde, im Sozialversicherungsrecht zum Prinzip erhoben ist. Dazu bedarf es in einem ersten Schritt der Klärung, wodurch sich ein Prinzip auszeichnet. Im allgemein gebrauchten Sprachsinne wird Prinzip (von lat. principium: Anfang, Ursprung, Grundlage) verstanden als Grundlage und Grundsatz 80. So gebraucht, steht der Begriff Prinzip jedenfalls nicht im Widerspruch zu dem, wie Versicherung im sozialversicherungsrechtlichen Kontext Verwendung findet. Grundlegende Voraussetzung und Grundsatz ist Versicherung jedenfalls nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 81 und auch jedenfalls nach den Vertretern der Ansicht, Sozialversicherung baue auf den Grundsätzen der (privaten) Versicherung auf 82. Letzteres darf in77

Dazu unter 2. BVerfGE 87, 1, 34. 79 BverfGE 75, 108. 80 Vgl. etwa Duden, Die deutsche Rechtschreibung. 81 Siehe oben unter II.1.b). 82 Und zwar sowohl bei denjenigen, die Sozialversicherung als Modifikation der „reinen Versicherung“ und mithin als eigene Sicherungsform verstehen (Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 34 ff. mwN), als auch naturgemäß bei denjenigen, für die die 78

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zwischen als Konsens gelten, wird doch das Modell der reinen sozialen Fürsorge mittlerweile nicht mehr vertreten, sondern die Versicherungsqualität 83 allgemein anerkannt 84. Im juristischen Zusammenhang ist der Begriff Prinzip schillernd. Nach der Formulierung von Röhl bilden Prinzipien die Tiefenstrukturen des Rechts 85. Prinzip im rechtstheoretischen Sinne ist im Unterschied zur Regel nicht darauf angelegt, ein Ge- oder Verbot auszusprechen und zwingende Festlegungen vorzugeben, bei denen ein Widerspruch zu einer anderen Regel denklogisch zur Ungültigkeit einer der beiden führt. Prinzipien bieten vielmehr die Gründe für das Aufstellen von Regeln, können womöglich als Optimierungsgebote verstanden werden und dienen im Konfliktfall als Maßstab innerhalb der Abwägung. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den „Dimensionen des Versicherungsprinzips“ leistet Hase 86, der den Begriff im normtheoretischen Sinn, d. h. als Auslegungsleitlinie verwendet, aber auch – als Besonderheit in der Sozialversicherung – die Eigenschaft des Versicherungsprinzips als verfassungsrechtliche Regel zur Sicherung individueller Rechtsstellungen betont. Auf die Sensibilität des Prinzipienbegriffs soll in dieser Untersuchung Rücksicht genommen werden. 2. Sozialer Ausgleich Die organisierte Vielheit, die im Versicherungswesen das Risiko trägt, wird in der Begriffswelt der Sozialversicherung zur Solidargemeinschaft 87. Dieser Terminus soll zum einen verdeutlichen, dass die „Vielheit“ in der Sozialversicherung mehr ist als bloße Risikogemeinschaft insofern, als nicht nur die Versicherten (im Regelfall die Arbeitnehmer), sondern als Ausfluss eines Fürsorgegedankens auch die Arbeitgeber in diese Gemeinschaft einbezogen sind 88, denn beide Gruppen tragen regelmäßig gemeinsam die Lasten. Konstitutiv für die Sozialversicherung ist darüber hinaus das System eines gewissen Ausgleichs: Als Ausfluss sozialer Ausrichtung am Privatversicherungsrechtlichen gerade das Wesen der Sozialversicherung ausmacht (hierzu auch ausführlich Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 26 ff. mwN). 83 So Hase in Vermeidung des Begriffs Prinzip, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 25. 84 Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 71; Gitter / Nunius, HS-UV, § 5 Rn. 65f.; Muckel, Sozialrecht, § 7 Rn. 4; zum aktuellen Stand Fuchs / Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 30 ff. 85 Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 251. 86 Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 149 ff. 87 Maunz, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Art. 74 Rn. 171. 88 Maunz, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Art. 74 Rn. 171; zur Schwierigkeit, über eine Fürsorgepflicht den Arbeitgeberbeitrag zu rechtfertigen Schnapp, Die arbeitsrechtliche Fürsorgepflicht – Legitimation für den Arbeitgeberanteil in der gesetzlichen Rentenversicherung?, in: FS Heinze, S. 815 ff.

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

Gesichtspunkte wird der versicherungsmäßige Risikoausgleich in der Sozialversicherung mit einem sozialen Ausgleich in der Versichertengemeinschaft verbunden 89. Für diesen sozialen Ausgleich werden regelmäßig synonym die Begriffe des Solidarausgleichs, des solidarischen Ausgleichs und der Solidarität verwandt 90. Eine allgemeine Begriffsbestimmung für den sozialen Ausgleich fehlt bisher. Er gilt als wesentliches Korrektiv und Unterscheidungsmerkmal zur Äquivalenz von Beitrag und Leistung, von Prämienhöhe und Risiko, wie sie für die Privatversicherung kennzeichnend ist. Nach Ansicht Meydams vollzieht sich der soziale Ausgleich innerhalb der Solidargemeinschaft und auch unter Beteiligung des Staates, wobei Anknüpfungspunkt ein sozialer Schutztatbestand ist. Dieser wiederum liegt vor, wenn ein Risiko nicht durch individuelle Vorsorge abgeglichen werden kann. 91 Sozialer Schutz und solidarischer Ausgleich hängen also eng miteinander zusammen, womit das Verhältnis beider zueinander noch nicht bestimmt ist: Der soziale Schutz vermag den solidarischen Ausgleich zu begründen, womöglich muss er es sogar. Der Solidarausgleich kann das – oder richtiger: ein Mittel zum sozialen Schutzzweck darstellen, indes der soziale Schutz sich auch anders, namentlich ausschließlich fürsorgerisch verwirklichen lässt. Unter Umständen lassen sich beide zumindest personell losgelöst voneinander betrachten, wenn der soziale Schutz einer Gruppe gilt, der durch eine andere Gruppe finanziert wird. Der soziale Schutz bestimmter Personen(-gruppen) und die Tragung durch eine „solidarische“ Gemeinschaft berühren jedenfalls das verfassungsrechtliche Wesen der Sozialversicherung: Sie tragen „zur Realisierung zentraler Grundwerte der Verfassung bei, die von den beiden Prinzipien der Individualität (Freiheit der Person, Art. 1 und 2 GG) und der Solidarität (Ausfluss der Sozialstaatlichkeit, Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 Satz 1 GG) ausgeht, also vom Eigenwert der Person und von der Gemeinschaftsgebundenheit aller Bürger (‚Einer für alle, alle für einen’).“ 92 Die Prinzipen des sozialen Schutzes und des sozialen Ausgleichs sowie der Solidarität seien im folgenden erläutert. a) Prinzip des sozialen Schutzes Ein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal privater und „sozialer“ Versicherung stellt ihre Ausrichtung dar: Die Privatversicherung folgt vor allem betriebswirtschaftlichen Linien, während bei der Sozialversicherung die sozialpolitische 89

BVerfGE 17, 1, 9. Zur Begriffsvielfalt in teilweise „völliger Regellosigkeit“ Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 221 ff.; für Waltermann, Sozialrecht, Rn. 98, scheint der „Gedanke der Solidarität“ der Überbegriff für einen prinzipiell unbedingten Schutz und den sozialen Ausgleich zu sein. 91 Meydam, Eigentumsschutz und sozialer Ausgleich in der Sozialversicherung, S. 70 f. 92 Schulin / Igl, Sozialrecht, Rn. 78. 90

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Zielsetzung im Vordergrund steht. Das ging schon aus der Kaiserlichen Botschaft von 1881 hervor, die die „Heilung sozialer Schäden“ als Antwort auf die sogenannte soziale Frage formulierte 93. Dahinter steckte der Gedanke, den Schutzbedürftigen zu helfen und dem sozialen Frieden zu dienen 94. Der Gesichtspunkt des Sozialen war und ist dabei schon in der Herkunft des Begriffs auf societas, die Gesellschaft bezogen. Lange Jahre nach ihrem ersten Erscheinen war zwar der Terminus „Arbeiterversicherung“ statt Sozialversicherung üblich 95. Durch diesen war einerseits die Schutzrichtung des Systems auf die direkt Betroffenen angesprochen, andererseits die Verortung des abzusichernden Risikos, das aus der Binnenstruktur des Arbeitsprozesses, also sachlich wie persönlich aus dem Grundkonflikt zwischen Kapital und Arbeit resultiert 96. Der Terminus des Sozialen hebt hingegen umfassender auf die Frage der Verantwortung ab, die der Gesamtgesellschaft obliegt, die im übrigen ihrerseits wieder mittelbar von dem Konzept der Sozialversicherung profitiert. Insofern schützt die Sozialversicherung die sie tragende Gesellschaft. Gleichwohl ergibt sich auch die Notwendigkeit, „das Soziale“ der Sozialversicherung materiell zu bestimmen. Sie ergibt sich auch aus dem Bedürfnis, das Sachgebiet der Sozialversicherung als tatbestandliche Voraussetzung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zur öffentlich-rechtlichen Zwangsversicherung hin abzugrenzen 97. Zum Teil wird angemahnt, es herrsche „über die Bedeutung des Wortes ‚Sozial‘ oft Begriffsverwirrung“ 98. „Sozial“ ist nach Ansicht von Murer der Inhalt der Normen der Sozialversicherungsgesetze und nicht etwa der Vollzug dieser Normen. „Das heißt: Die typischen sozialversicherungsrechtlichen Normen zeichnen sich dadurch aus, dass sie das strenge versicherungstechnische Äquivalenzprinzip nach dem Willen des Gesetzgebers zu Gunsten der Versicherten mehr oder weniger durchbrechen.“ 99 Das soziale Gepräge der Sozialversicherung ist demnach kein Zusatz, sondern eine Modifikation des Versicherungsmäßigen. Die Sozialversicherung gilt als Vorsorge vor bestimmten Lebensrisiken durch ein Kollektiv, das die Lasten dieser Vorsorge trägt. Diese im Grundsatz versicherungstechnische Ausgestaltung differiert in einigen Punkten von der Privatversicherung. Kirchhof etwa benennt drei Unterfälle von Abweichungen: Erstens die „soziale Verantwortung“, die der Arbeitgeber übernimmt, indem er einen eigenen Beitrag leistet. Zweite Besonderheit sei der soziale Ausgleich durch Umverteilung und die dritte die Zuschussbefugnis des Bundes, die sich aus Art. 120 93 94 95 96 97 98 99

Verhandlungen des Reichstags, 5. Legislaturperiode, I. Session 1881/82, Bd. 1, 1. Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 27. Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 17. Gröschner, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Art. 20 (Sozialstaat) Rn. 42. Papier / Möller, NZS 1998, 353, 354 f. Murer, BG 1999, S. 96, 99. Murer, BG 1999, S. 96, 99.

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Abs. 1 4 GG ergibt. Die Mittel hierfür werden aus dem Steueraufkommen generiert, daher entstehe eine „Solidarität aller Bürger mit der Sozialversicherung“ 100. Tatsächlich sind diese drei Punkte nur der Sozialversicherung eigen. Um das Wesen der Sozialversicherung begreifbar zu machen, müssen die beschriebenen Abweichungen in einen Begründungszusammenhang gestellt werden. Die erstgenannten Komponenten hängen zum Teil ihrerseits voneinander ab. Zudem ist zu hinterfragen, ob sozialer Ausgleich und Umverteilung dasselbe meinen oder jener nur durch diese zu verwirklichen ist. Im Hinblick auf die Zuschüsse des Staates sei angemerkt, dass diese insbesondere dann eingefordert und gewährt werden, wenn Sozialversicherungsträger mit Lasten beschwert sind, die nicht aus den eigentlich versicherten Risiken resultieren 101. Daher ist fraglich, ob und aus welchem Grund eine Solidarität „mit der Sozialversicherung“ 102 besteht, wenn es um Lasten geht, die unter Umständen rechtssystematisch nicht zur Versicherung gehören. In dieser Untersuchung sei jedoch das weite Feld der Bundeszuschüsse außen vor gelassen, weil sie in der gesetzlichen Unfallversicherung durch die gewerblichen Berufsgenossenschaften keine Rolle spielen 103. Die Sozialversicherung und somit auch die Unfallversicherung als deren klassischer Zweig verfolgen in den genannten Abweichungen ein sozialpolitisches Ziel 104. Die Berechtigung und Verpflichtung des Staates, sozialpolitisch tätig zu werden, ergibt sich unmittelbar aus dem Sozialstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das neben der Literatur maßgeblich zur Konturierung des Bekenntnisses zum Sozialstaat als verfassungsrechtliches Novum beigetragen hat, umfasst das Sozialstaatsprinzip: Den Ausgleich der sozialen Gegensätze und die Schaffung einer gerechten Sozialordnung im Sinne von sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit 105. Verständlich wird dieser als Staatszielbestimmung formulierte Auftrag an den Staat aus der ebenfalls im Grundgesetz festgeschriebenen Entscheidung für eine grundsätzliche Trennung von Staat und Gesellschaft, in der sich die einzelnen Teile der Gesellschaft frei entfalten können und vor Eingriffen des Staates geschützt sind. Größtmögliche Freiheit und Rechtsgleichheit aber werden durch soziale Ungleichheit nicht nur bedroht 106, erst durch soziale Gleichheit kann die Freiheit aller Teile einer Gesellschaft verwirklicht werden. 100

Kirchhof, NZS 1999, 161, 166. Fuchs / Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 32, unter Verwendung des Begriffs „versicherungsfremde Leistungen“, dazu grundlegend Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 31 ff. 102 Unklar auch, ob mit der Sozialversicherung als Träger, als Risikogemeinschaft oder im abstrakten Sinne der gesamten Lasten. 103 Muckel, Sozialrecht, § 10 Rn. 19. 104 Gitter / Nunius, HS-UV § 5 Rn. 15. 105 BVerfGE 22, 180, 204. 106 Eichenhofer, Sozialrecht, Rn. 119. 101

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Das genuine Anliegen des Sozialstaatsprinzips sind die Fürsorge und der Schutz des Schwächeren 107. Sozialpolitisches Ziel ist es also, sozial Schutzbedürftigen zu helfen. Dies gilt für das gesamte Sozialrecht mit seinen Komponenten Vorsorge, Entschädigung sowie soziale Hilfe und Förderung 108. Das System der sozialen Vorsorge ist durch die Sozialversicherung abgedeckt, die historisch und systematisch an einen besonderen Fall der sozialen Schutzbedürftigkeit anknüpft, namentlich die Erwerbstätigkeit. Dahinter steckt der Gedanke, dass der Einzelne zur Sicherung und zum Erhalt seiner Lebensgrundlage (und der seiner Familie) in der Regel auf die Nutzung seiner Arbeitskraft angewiesen ist, durch die er Einkommen erzielt. Er bedarf des Schutzes vor den Wechselfällen des Lebens, die ihm die erwerbswirtschaftliche Nutzung seiner selbst erschweren oder gar unmöglich machen können, etwa durch Unfall, Krankheit, Alter oder Tod. Vorsorge und Absicherung gegen solche Risiken können individuell gestaltet oder durch die Gemeinschaft übernommen werden; das deutsche System sieht beide Möglichkeiten, zum Teil auch kombiniert als Mischform vor. Das soziale Schutzprinzip, das bereits in die Kaiserliche Botschaft Eingang gefunden hatte 109, wird auch vom modernen Gesetzgeber bisher streng beachtet 110. Für das Bundesverfassungsgericht ist das soziale Bedürfnis nach dem Ausgleich besonderer Lasten kennzeichnendes Merkmal für die Gattung Sozialversicherung 111. Der soziale Schutz dient indes nicht nur Individualinteressen. Auch die Allgemeinheit wird in den Schutzgedanken einbezogen, da ihr die Fürsorge für diejenigen obliegen würden, die – ohne hinreichende Eigenvorsorge – bei Verlust oder Einschränkung der Erwerbsfähigkeit nicht mehr selbst für ihren Unterhalt und den der Angehörigen aufkommen können. Die Sozialversicherung schützt also auch vor dem Risiko einer „Fürsorgegefahr“. Das Bundesverfassungsgericht begründet dies volkswirtschaftlich: „Es wäre [ . . . ] zu eng, die Einwirkung des Sozialstaatsprinzips auf das Regelungssystem der gesetzlichen Unfallversicherung nur als Schutz sozial besonders Schwacher zu begreifen. Die sozialstaatliche Pflicht zu einer umfassenden Sicherung in der gesetzlichen Unfallversicherung wird auch durch das Interesse der Allgemeinheit an der Arbeitswelt als einer wesentlichen Grundlage der Volkswirtschaft begründet: die mit dem Arbeitsleben der Industriegesellschaft zwangsläufig verbundenen Risiken können nicht von dem einzelnen Arbeitnehmer getragen werden, sondern müssen durch um107

Eichenhofer, Sozialrecht, Rn. 121; Fuchs / Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 46 f. Die klassische Dreiteilung unterscheidet in der Binnenstruktur des Sozialrechts Versicherung, Versorgung und Fürsorge, damit werden aber im Wesentlichen die gleichen Bereiche wie in der moderneren Einteilung zusammengefasst, diese hat zudem den Vorteil, für neue Regelungsbereiche offen zu sein; Fuchs / Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 36 f. 109 Die „Heilung der sozialen Schäden“ wird als Ziel ausdrücklich erwähnt, vgl. Verhandlungen des Reichstags, 5. Legislaturperiode, I. Session 1881/82, Bd. 1, 1. 110 Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, 1992, S. 115. 111 BVerfGE 11, 105; 63, 1, 35 f. 108

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fassende Systeme der sozialen Sicherung wie insbesondere durch die gesetzliche Unfallversicherung aufgefangen oder doch gemildert werden. Erst hierdurch ist es dem Einzelnen möglich, seinen für die Allgemeinheit wichtigen Beitrag in der Arbeitswelt zu leisten. Je besser das System der sozialen Sicherheit ausgestaltet ist, desto eher werden demnach nicht nur schutzwürdige individuelle Belange gewahrt, sondern wird zugleich dem Allgemeinwohl gedient.“ 112 Dieser Gedanke trägt freilich für sämtliche Zweige der Sozialversicherung, wobei in den Zweigen unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden: Während in der gesetzlichen Unfallversicherung, der Arbeitslosen- und der Rentenversicherung der Wegfall der Erwerbstätigkeit offenkundiger Anknüpfungspunkt des Schutzgedankens ist, zielt die gesetzliche Krankenversicherung ebenso wie der Rehabilitationsbereich in der Unfallversicherung auf Wiederherstellung der Gesundheit und somit auch der Arbeitskraft und Leistungsfähigkeit (vgl. § 1 Nr. 2 SGB VII) bzw. auf die Teilhabe am Arbeitsleben (§ 26 SGB VII) ab. In der gesetzlichen Pflegeversicherung kommt der Schutz der Allgemeinheit in besonderem Maße zum tragen: Rechtspolitisch motiviert als Ausweg aus der extremen Belastung der eigentlich als subsidiäre Hilfe konzipierten Sozialhilfe, knüpft sie zwar im Hinblick auf die versicherten Personen an die gesetzliche Krankenversicherung an. Ein Bezug zum Schutzbedürfnis aus Erwerbstätigkeit lässt sich aber kaum direkt herstellen. Individuellen sozialen Schutz leistet sie gleichwohl: Nicht nur der Versicherte selbst wird vor dem finanziellen Risiko Pflegebedürftigkeit geschützt, sondern mittelbar zudem auch die Angehörigen, soweit sie unterhaltsverpflichtet sind 113 und damit etwa aus ihrem Erwerbseinkommen diese Lasten tragen müssen. b) Prinzip des sozialen Ausgleichs in der Abgrenzung zum Risikoausgleich Dogmatisch zu trennen vom Prinzip des sozialen Schutzes, wenn auch zum Teil überlappend, ist das Prinzip des sozialen Ausgleichs, für das häufig unreflektiert synonym auch die Begriffe Solidaritäts- und Solidarprinzip verwendet werden 114: Der soziale Ausgleich verlangt nach einer Formulierung des Bundessozialgerichts, dass die bei den verschiedenen Versicherten bestehenden ungleichen Risiken ausgeglichen werden, wobei der Ausgleich der gesamten Solidargemeinschaft obliegt und nach sozialen Gesichtspunkten zu erfolgen hat 115. Während das soziale Schutzprinzip 116 als das erklärte Ziel der Sozialversicherung gilt und nach zugespitzter 112

BVerfGE 45, 376, 387 f. Fuchs / Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 350. 114 Dazu oben II.2. mit Verweis auf die Darstellung bei Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 221 ff. 115 BSGE 48, 134, 137 f. 116 Zur Schutzbedürftigkeit als verfassungsrechtlich determinierter Grundbegriff Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, 46 ff. 113

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Formulierung 117 auch ihre einzige Legitimation darstellt, verbindet sich nach Fuchs das Solidarprinzip mit dem Prinzip der Schutzbedürftigkeit und entfaltet seine besondere Wirkung dort, wo jenes allein nicht unbedingt die Pflichtversicherung begründen kann, etwa weil die effektive soziale Sicherung einer Gruppe die Einbeziehung aller Gruppenmitglieder notwendig macht 118. Das Solidarprinzip soll mithin Strukturprinzip oder Grundpfeiler 119 der Sozialversicherung sein. Einmal getroffen, gehört sie seither auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 120, des Bundessozialgerichts 121 und auch des Europäischen Gerichtshofs 122 zu den notwendigen Bedingungen einer Sozialversicherung. Die Legitimation, zuweilen auch die Existenz des sozialen Ausgleichs und / oder der Solidarität, wird zum Teil in Zweifel gezogen. Widerspruch formuliert etwa Hase, für den allein der Schutzgedanke prägend und rechtfertigend für die Sozialversicherung ist. Solidarität sei „weder ein Rechtsbegriff im technischen Sinne noch ein Rechtsgrund, aus dem irgendein Schluss auf bestimmte Berechtigungen oder Verpflichtungen gezogen werden dürfte“ 123. Gleichwohl bestreitet er nicht, dass „Ausgleichsvorkehrungen“ Bestandteil der Sozialversicherung sind; sie seien „anders, aber doch nicht schwächer als diejenigen Vorschriften ( . . . ), die durch das Versicherungsprinzip geprägt sind“ in das Gefüge integriert. Legitimationsgrund ist nach dieser Ansicht aber die Eigenverantwortung des Einzelnen für sich selbst und seine nächsten Angehörigen, nicht jedoch Fürsorge des Staates oder Sorge aller füreinander 124. Festzustellen ist somit, dass diese Auffassung zwar ein solidarisches Element, nicht aber den Ausgleich an sich bestreitet. Auch Leisners Kritik wendet sich gegen den sozialen Ausgleich als Rechtsbegriff: Er sei zu unbestimmt und sage nichts darüber aus, zwischen wem, was, mit welchem Ziel und bis zu welcher Grenze auszugleichen sei. Daher könne er als Begriff zur verfassungsrechtlichen Rechfertigung bei Grundrechtseingriffen nicht als überragend wichtiges Gemeinschaftsgut herhalten. Dass eine ausgleichende Funktion Wesen, gar „hervorstechendes Prinzip“ zur Ausfüllung der Sozialstaatsklausel 125, der Sozialversicherung ist, kann nicht ernstlich in Zweifel gezogen werden: Schon 117

Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974, S. 126. Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, 1992, S. 114, verweist auf die Aufhebung der Pflichtversicherungsgrenze für Angestellte in der gesetzlichen Rentenversicherung 1968 und das zustimmende Urteil des BVerfG (NJW 1971, 365 ff.); ablehnend aber Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 304 ff.; zuvor auch schon Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974, S. 52 ff. 119 Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 176. 120 BVerfGE 23, 12, 22; BVerfGE 36, 383, 392; BVerfGE 14, 221, 242 f. 121 BSGE 91, 263. 122 EuGH 2002. I-691 (INAIL) mwN. 123 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 307. 124 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 311. 125 Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 223. 118

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

das Versicherungsmäßige erfordert einen Risikoausgleich. Wenn für die Sozialversicherung nun als entscheidend-unterscheidendes Wesenselement ein sozialer oder solidarischer Ausgleich gefordert wird, ist den Kritikern darin Recht zu geben, dass die Begriffe sozial und solidarisch als Rechtsbegriffe unbestimmt sind. Der Umgang damit wird durch den häufig unpräzisen, synonymen und mit wechselnder Bedeutung versehenen Gebrauch durch Literatur und Rechtsprechung erheblich erschwert. Eine Annäherung an die Begriffe sozial und solidarisch ist also vonnöten. aa) Das Adjektiv „sozial“ Im Gegensatz zur Solidarität hat das Wort sozial als Adjektiv zum Bundesstaat in Art. 20 Abs. 1 GG und zum Rechtsstaat in Art. 28 Abs. 1 GG Eingang ins Grundgesetz gefunden und kann also verfassungsrechtlich erhellt werden. Das Wort selbst verweist primär auf das Verhältnis von Individuum zu Staat und Gesellschaft 126. In der Konzeption des freiheitlichen Sozialstaats kommt bereits eine gewisse Dialektik zwischen Sozialstaatlichkeit und individueller Freiheit zum Ausdruck 127. Ein sozialer Staat oder Sozialstaat muss soziale Gegensätze ausgleichen und eine gerechte Sozialordnung schaffen 128. Schon in dieser Formel des Bundesverfassungsgerichts wird eine doppelte Verwendung des Wortes sozial deutlich: Soziale Gegensätze meinen die Gegensätze in Wohlstand, Bildung, Chancen etc. zwischen unterschiedlichen Teilen, zugespitzt Individuen in einer Gesellschaft, also das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen. Der soziale Staat hingegen ist derjenige, der diese Gegensätze zu überwinden sucht. Somit wird das Adjektiv sozial im ersten Zusammenhang als Beschreibung eines Zustands, im zweiten Zusammenhang als Auftrag, Handlungsmaxime oder Prozess verwendet. Einfachgesetzlich wird Sozialrecht als dasjenige Recht qualifiziert, das zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten soll, § 1 Abs. 1 SGB I. Auch hier wird das Adjektiv sozial in einem Satz gleich mehrfach mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendet: Soziale Gerechtigkeit und Sicherheit meinen als Zielvorgabe Gerechtigkeit und Sicherheit für den Einzelnen in der Gesellschaft; Sozialleistungen sind diejenigen Mittel, durch die diese Ziele erreicht werden; durch Sozialrecht schließlich werden die Mittel gestaltet. Was das Wort sozial bedeutet, ist also nicht von vornherein bestimmt. Es ergibt sich vielmehr aus dem Verwendungszusammenhang und insbesondere aus dem systematischen Zusammenhang mit dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes. Dabei bleibt die lexikalische Bedeutung für sozial als das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft 126

Fuchs / Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 2. Gröschner, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Art. 20 (Sozialstaat) Rn. 1 mit Fn. 2. 128 BVerfGE 22, 180, 204. 127

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der Ausgangspunkt der Auslegung. So verstanden, kann sozialer Ausgleich den Ausgleich unterschiedlicher Positionen Einzelner in der Gesellschaft bedeuten. Da vorliegend ein sozialer Ausgleich in der Sozialversicherung als besonderes „soziales“ Gepräge des Systems Versicherung zu bestimmen ist, ist er insbesondere vom versicherungsmäßigen Risikoausgleich abzugrenzen: Sozial in diesem systematischen Kontext ist ein Ausgleich unterschiedlicher individueller in die Versicherung eingebrachter Risiken, die ihrerseits aus unterschiedlichen individuellen Positionen in der Gesellschaft resultieren. bb) Das Adjektiv „solidarisch“ Solidarität hingegen ist kein Verfassungsbegriff. Er hat jedoch breiten Eingang in Rechtsprechung, Literatur und auch ins einfache Gesetz gefunden: Gemäß § 1 Satz 1 SGB V hat die Krankenversicherung als Solidargemeinschaft die aufgeführten Aufgaben zu übernehmen. Eine Definition des Begriffs scheint leichter möglich als für das Wort sozial: Solidarität beschreibt einen gesellschaftlichen Zustand, in dem die Beziehungen zwischen dem einzelnen und dem Gemeinwesen gleichermaßen durch Eigenständigkeit und Verantwortung der Individuen und durch Anspruch und Verantwortung des Gemeinwesens gekennzeichnet sind 129. Auch hier geht es also um das Verhältnis des Individuums in und zu der Gesellschaft, das indes noch weiter, nämlich durch Eigenständigkeit, Verantwortung und Anspruch zueinander qualifiziert wird. Das besondere des als Gruppe abgrenzbaren Gemeinwesens kann ein Zusammengehörigkeitsgefühl, rationaler aber eine Mitverantwortlichkeit des Einzelnen für alle anderen Mitglieder der Gruppe und somit der Gruppe als ganzes für den Einzelnen sein 130. Im Bereich des Sozialrechts wird Solidarität verstanden als Grund für die Pflicht der Mitglieder einer Personengemeinschaft, für andere einzustehen 131. Der Unterschied zum Begriff des Sozialen wird deutlich dadurch, dass Solidarität einen Zustand in einer abgrenzbaren Gruppe als Teil der Gesellschaft beschreibt, der durch den Willen oder die Verpflichtung zur Verantwortung füreinander und für die Gruppe gekennzeichnet ist. Der Sozialversicherung kann der Gedanke des „Solidarischen“ insofern zugrunde liegen, als in ihr eine Gemeinschaft Verantwortung für den Einzelnen trägt. Zu dieser Einschätzung könnte man jedoch auch für die Privatversicherung kommen 132: Schließlich wird die Versicherung insgesamt definiert als Gemeinschaft 129 Zacher, in: Deutscher Verein für Öffentliche und Private Fürsorge (Hrsg.), Fachlexikon der sozialen Arbeit, Solidarität, S. 830. 130 Denninger, Verfassungsrecht und Solidarität, KritV 1995, S. 7, 11. 131 Ruland, Solidarität und Individualität, DRV 2000, S. 733, 736. 132 Etwa Seewald, Kein Monopol der gesetzlichen Unfallversicherung Teil II, SGB 2004, S. 453, 458.

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

gleichartig Gefährdeter mit selbstständigen Rechtansprüchen auf wechselseitige Bedarfsdeckung. Auch wenn man den umstrittenen Begriff der Gefahrgemeinschaft durch den der organisierten Vielheit oder den der gleichartig bedrohten Wirtschaften ersetzt, so scheint Grundlage der Versicherung ein gewisser Zusammenschluss zu sein, auf den die Tragung der Lasten des Einzelnen verteilt wird. Jedoch wäre es zu schnell geschlossen, hielte man diesen Zusammenschluss für ein Kollektiv, das durch Solidarität gekennzeichnet ist. Eine Verantwortungsbeziehung besteht nicht. Die Risikoabsicherung des einzelnen gelingt in der Privatversicherung durch gemeinsam gebildetes Kapital, ohne dass die Versicherten eine Gemeinschaft im Sinne einer Gruppe bilden. Solidarität im Sinne von „ontisch wechselseitiger Verbundenheit und ethisch wechselseitiger Verantwortlichkeit im Füreinander-Einstehen“ 133 existiert in der Privatversicherung nicht. Demgegenüber liegt Solidarität in der Sozialversicherung jedenfalls für die Gruppe der beitragzahlenden Versicherten vor, die mit ihren Beiträgen die Lasten des Versichertenkollektivs tragen, das seinerseits auf Verantwortung, sprich Leistungsgewährung für den Einzelnen verpflichtet ist. Dies stellt jedoch kein Alleinstellungsmerkmal für die Sozialversicherung dar, denn nach diesen Prinzipien waren schon die historischen Knappschafts- und Hilfskassen aufgebaut 134, ohne zugleich artverwandt mit der öffentlich-rechtlichen Sozialersicherung zu sein. Für die Sozialversicherung muss es also auch hier darum gehen, Solidarität als besonderes Merkmal für einen Ausgleich zu gewinnen, der anders ausgestaltet ist als ein versicherungsmäßiger Risikoausgleich. Ein solidarischer Ausgleich ist mithin ein Ausgleich unterschiedlicher individueller in die Versicherung eingebrachter Risiken durch die Verantwortung einer Gemeinschaft für den Einzelnen. cc) Sozialer Ausgleich als Ausgleich sozialer Risiken Soziale Risiken unter anderem mittels einer Sozialversicherung abzufedern, gehört als Auftrag aus dem Sozialstaatsprinzip unbestritten zur staatlichen Befugnis. Damit ist jedoch noch nicht geklärt, wie diese Absicherung zu erreichen ist und wem sie zugute kommen soll. Damit ist insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen Eigenverantwortlichkeit und Freiheit des Einzelnen auf der einen Seite und sozialstaatlicher Eingriffsbefugnis und -notwendigkeit auf der anderen Seite angesprochen. Als Methode sozialer Sicherung versagt nach Rolfs 135 ein nur auf dem Äquivalenzprinzip aufbauender Risikoausgleich überall dort, wo die wirtschaftliche Kraft des einzelnen, gemessen an der Einkommenshöhe, nicht ausreicht, um die für einen ausreichenden Versicherungsschutz erforderliche Prämienhöhe aufzubringen. Das werde noch verstärkt, wenn der Bedarf an Versicherungsschutz 133 134 135

Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 174. Fuchs / Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 5. Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 204 mwN.

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aus persönlichen Gründen besonders groß und dringlich ist. Hier sei über den versicherungstechnischen Risikoausgleich hinaus ein sozialer Ausgleich erforderlich; dementsprechend sei die Sozialversicherung seit jeher wesentlich durch Elemente des Solidarausgleichs, der sozialen Umverteilung geprägt. In dieser Darstellung sind wesentliche Punkte angesprochen: Soll soziale Sicherheit durch Vorsorge, also Versicherung erreicht werden, ist zu entscheiden, ob und inwieweit die Grundtechniken der Versicherung, im besonderen die Äquivalenz von Risiko und Beitrag bzw. Prämie, zu modifizieren sind, damit der Versicherungsschutz für alle, die seiner bedürfen, ein ausreichender ist. Das Mittel zu einem derart ausreichenden Versicherungsschutz ist neben dem versicherungsmäßigen Risikoausgleich ein zusätzlicher sozialer oder solidarischer Ausgleich. Den Ausgleich als Mittel für den höheren Zweck eines erreichbaren und ausreichenden Versicherungsschutzes einzuordnen, ist der richtige methodische Ansatz. Allerdings leidet dieser Ansatz konkret darunter, dass sozialer und solidarischer Ausgleich nicht trennscharf und wohl zudem synonym mit dem Begriff der („sozialen“!) Umverteilung 136 verwendet werden. Beim Bemühen, das Soziale oder Solidarische der Sozialversicherung zu bestimmen, fehlt es häufig an Trennschärfe und / oder einer abstrakten Begriffsgewinnung. Zumeist werden sozialer bzw. solidarischer Ausgleich über die Beschreibung ihrer Ausgestaltung erläutert: Nach Zacher und Wannagat macht das Wesen der Sozialversicherung der soziale Ausgleich innerhalb der Versichertengemeinschaft aus, der durch Staffelung und Relation der Beiträge und Leistungen erreicht wird 137. Auch die Zuschüsse des Bundes über Steuermittel sollen zum sozialen Ausgleich beitragen, denn durch sie werden auch Teile der Bevölkerung in die Finanzierung einbezogen, die keine Leistungsansprüche gegen die Sozialversicherung haben 138. Umgekehrt fehle die soziale Komponente, wenn die Bemessung von Beiträgen an einem versicherungstechnischen Äquivalenzprinzip ohne Umverteilungseffekt orientiert ist 139. Für den einzelnen Versicherten müsse darüber hinaus der Solidarausgleich die Möglichkeit des Wechsels zwischen Ausgleichsbelastung und -begünstigung beinhalten 140. Auch wenn diese und die eingangs zitierten Beispiele eine ausgleichende Wirkung unterschiedlicher Elemente der Sozialversicherung zeigen, so stellen sie doch keine methodische Herangehensweise an die Fragen dar, was, für wen, durch wen und warum ausgeglichen wird. Die Idee, eine Versicherung zu etablieren, 136 Zum nicht nur dogmatischen, sondern auch praktischen Problem der Umverteilung Haverkate / Huster, Europäisches Sozialrecht, Rn. 504 ff. 137 Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, 1982, S. 54. 138 Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 176; BVerfGE 11, 105. 139 Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 48. 140 Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, S. 20.

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liegt im sozialen Schutzprinzip als direkter sozialpolitischen Ausprägung des Sozialstaatsprinzips begründet. Das Konzept einer versicherungsbasierten Vorsorge dient diesem Prinzip. Die Tatsache, dass das Sozialstaatsprinzip erstmals durch das Grundgesetz Verfassungsrang erhielt, die traditionellen Zweige der Sozialversicherung jedoch vorkonstitutionell sind, ist dabei unschädlich 141. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht hinter der Sozialversicherung das soziale Bedürfnis nach dem Ausgleich besonderer Lasten 142. In die Versicherung einbezogen sind als Versicherte diejenigen, die des sozialen Schutzes vor den Wechselfällen des Lebens bedürfen. Dabei sind sowohl die Risiken, die die Versicherten einbringen, als auch die Leistungsfähigkeit zur versicherungsmäßigen Absicherung vor diesen Risiken durchaus unterschiedlich. Diese Unterschiede resultieren aus oder führen zu sozialen Ungleichheiten. Damit gleichwohl alle Schutzbedürftigen in den Genuss eines ausreichenden Schutzes kommen, bedarf es eines Ausgleiches, der über den versicherungsmäßigen Risikoausgleich hinausgeht. Ziel und Hintergrund des sozialen Ausgleichs ist es – insoweit gültig nicht nur für die Sozialversicherung, sondern das gesamte Sozialrecht – unterschiedliche Lebens- und Einkommenslagen innerhalb der Gesellschaft auszugleichen, sofern sie ohne diesen Ausgleich zu sozialen Gegensätzen und sozialer Ungerechtigkeit führen. In der Sozialversicherung geht es in erster Linie um den Ausgleich unterschiedlicher Risiken. Dabei kann man mit Rolfs 143 zwischen Primärrisiko und Sekundärrisiko unterscheiden. Primärrisiko ist der eigentliche und auch gesetzlich festgelegte Versicherungsfall. Das Sekundärrisiko ist nicht, nicht allein oder nicht unmittelbar ein Versicherungsfall im Sinne des Gesetzes und dementsprechend grundsätzlich nicht geeignet, Versicherungsleistungen auszulösen. Es ist aber ein Risiko insofern, als es ebenfalls einen Wechselfall des Lebens darstellt, gegen den eine Versicherung möglich wäre, das sich aber nur bei Eintritt des Primärrisikos realisiert: In der Rentenversicherung etwa wirken sich beitragsfreie Zeiten negativ auf die Höhe der Leistungen bei Eintritt des Versicherungsfalls aus. Dazu kann es kommen, wenn keine Erwerbstätigkeit ausgeübt und folglich kein Einkommen erzielt wird. Dieser Fall stellt also ein Risiko innerhalb der Rentenversicherung dar, das sich auf verschiedene Weise realisieren kann, etwa weil wegen der Betreuung eines Kindes keine Erwerbsarbeit möglich ist. Dass Erziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung als Beitragszeiten gelten, stellt eine Absicherung dieses sekundären Risikos dar. Solche Sekundärrisiken sind immer soziale Risiken. Diese durch die Sozialversicherung beitragsneutral abzusichern, bewirkt einen sozialen Ausgleich im dargelegten Sinne, der insbesondere über einen versicherungsmäßigen Risiko141 Sozialversicherung wird ausdrücklich in der Kompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 GG in Nr. 12 erwähnt. 142 BVerfGE 11, 105, 111 ff; 63, 1, 35 f. 143 Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 208.

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ausgleich hinausreicht. Dies umso mehr, als die Sozialversicherung auf eine individuelle Risikoprüfung verzichtet und damit einen grundsätzlichen „Respekt vor der eigenverantwortlich getroffenen Entscheidung über den individuellen Lebensentwurf“ 144 beweist. Geprüft werden weder Primärrisiken (beispielsweise Vorerkrankungen bei der gesetzlichen Krankenversicherung) noch Sekundärrisiken (beispielsweise die Zahl mitversicherter Familienangehöriger in der gesetzlichen Krankenversicherung). dd) Mittel des sozialen Ausgleichs Zu fragen ist, ob ein Ausgleich zwingend eines Ausgleichenden bedarf. Damit ist die Frage angestoßen, wer die Lasten dieses sozialen Ausgleichs trägt. Sie wird regelmäßig mit Verweis auf die Solidargemeinschaft 145 beantwortet. Zugleich wird häufig das Mittel des Ausgleichs genannt, namentlich die „sozialversicherungsrechtliche Umverteilung“ 146 genauer durch die „Umverteilung des von den Versicherten durch die Verwertung ihrer Arbeitskraft am Markt erzielten Einkommens“ 147. Wie gezeigt, ist ein Ausgleich der versicherten Risiken durch einen solidarischen Ausgleich möglich. Voraussetzung ist eine abgrenzbare Gruppe, die als Kollektiv Verantwortung für den Einzelnen und in der der Einzelne Verantwortung für das Kollektiv übernimmt. In der Sozialversicherung bilden die beitragzahlenden Versicherten eine solche Gruppe. Ein Ausgleich der eingebrachten Risiken kann dadurch erreicht werden, dass die Beiträge unabhängig von diesem Risiko nach der individuellen Leistungsfähigkeit bemessen werden und auch Leistungen unabhängig vom eingebrachten Risiko bzw. der Beitragshöhe erbracht werden. Weil die Versicherten selbst durch ihre nach Einkommen gestaffelten Beiträge für diesen Ausgleich sorgen, ist eine Umverteilung von Mitteln gleichermaßen das Mittel und das Ergebnis des sozialen Risikoausgleichs. Soziale Risiken lassen sich indes auch ausgleichen, ohne dass innerhalb einer solidarischen Gruppe umverteilt werden muss. Auch einseitige Zuwendung eines anderen Teils des Gemeinwesens oder der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit haben ausgleichende Wirkung, wenn die so aufgebrachten Mittel für Leistungen verwandt werden, von der auch besonders Risikobelastete profitieren: Wenn eine Absicherung sekundärer Risiken auch oder nur über Beiträge von außerhalb der Versichertengruppe möglich ist, bewirken diese Zuwendungen einen sozialen Ausgleich. Dies ist für den Arbeitgeberbeitrag zur Sozialversicherung 148 ebenso anzunehmen wie für die Zuschüsse des Bundes aus den Steuereinnahmen der 144

Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 208. Aus neuerer Rechtsprechung etwa BSGE 51, 253, 255. 146 Isensee, Umverteilung, S. 18; Oeter, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Kommentar, Art. 74 Rn. 117 f. 147 Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000, S. 111. 145

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

gesamten Gesellschaft. Dieser soziale Ausgleich gründet nicht in einer Solidargemeinschaft, ist also kein solidarischer Ausgleich. Er kann für den Arbeitgeberbeitrag als Fall der Fremdvorsorge zwar aus einer besonderen Verantwortlichkeit begründet werden, kaum aber aus einer Solidaritätsbeziehung 149, weil es dazu an einem Kollektiv zwischen Arbeitgebern und Versicherten fehlt. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Begriffe sozialer Ausgleich und solidarischer Ausgleich scharf zu trennen sind. Das heißt jedoch nicht, dass sie losgelöst voneinander stünden: Sozialer Ausgleich ist zunächst Ausgleich eines unterschiedlichen individuellen Risikos und unterschiedlicher Leistungsfähigkeit, die auf gesellschaftlichen Ungleichheiten beruhen. Der Ausgleich von Primär- und Sekundärrisiken kann auf unterschiedliche Weise erreicht werden: Ein Mittel ist das der Solidarität oder des solidarischen Ausgleichs, der Umverteilung in einer abgrenzbaren Gruppe anwendet und bewirkt. Anknüpfungspunkt und Legitimation für beide als Wesen der Sozialversicherung ist die soziale Schutzbedürftigkeit dessen, der der Absicherung vor den Wechselfällen des Lebens bedarf. Im Bereich der Arbeitnehmerversicherung ergibt sich diese Schutzbedürftigkeit aus der Notwendigkeit für den Arbeitnehmer, seine Arbeitskraft in abhängiger Beschäftigung zur Schaffung und Sicherung einer Existenzgrundlage zu verwerten. c) Praktische Umsetzung in der Sozialversicherung Exemplarisch lässt sich diese Vorgehensweise gut an der gesetzlichen Krankenversicherung darstellen, die in § 1 SGB V ausdrücklich als Solidargemeinschaft definiert wird: Der Beitrag zur Krankenkasse ist abhängig vom Einkommen, nicht aber die (Sach-) Leistung aus der Versicherung, so dass Versicherte mit unterschiedlichen Einkommenshöhen zwar dieselben Leistungen erhalten, der Besserverdienende jedoch einen höheren Beitrag zur Bedarfsdeckung leistet. Darüber hinaus erhalten Personen Leistungen, die überhaupt keinen Beitrag zahlen (Kinder und Ehegatten gemäß § 3 Satz 3, § 10 SGB V), deren Bedarf wird also komplett durch Beiträge anderer Versicherter gedeckt. Und in einem dritten findet eine Beitragsbemessung statt, die unabhängig vom eingebrachten Risiko etwa durch Alter, Geschlecht oder Vorerkrankung und unabhängig von der Zahl der über den Versicherten mitversicherten Angehörigen ist. 150 In der Unfallversicherung ist die Verwirklichung eines solidarischen Ausgleichs bei richtigem Begriffsverständnis erschwert. Die vor dem Risiko von Arbeitsunfall und Berufskrankheit geschützten Versicherten beteiligen sich nicht mit ihrem 148 Nach herrschender Meinung stellt er keinen Teil des Lohnes dar, Schnapp, Die arbeitsrechtliche Fürsorgepflicht – Legitimation für den Arbeitgeberanteil in der gesetzlichen Rentenversicherung?, in: FS Heinze, S. 815 ff. 149 BVerfGE 75, 108, 156 f. 150 Vgl. auch Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974, S. 52.

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Einkommen an den Beiträgen zur Versicherung, sie bilden folglich auch keine Solidargemeinschaft, in der umverteilt werden könnte. Beitragspflichtig sind allein die Unternehmer, daher wird für die Beitragsberechnung zum Teil sogar die „strikte Einhaltung des Versicherungsprinzips“ gefordert 151. Wegen der Beitragspflicht kann also allenfalls die in den Berufsgenossenschaften zusammengefasste Unternehmerschaft als Solidargemeinschaft gelten 152. Beleg für einen Ausgleich in dieser Gruppe muss dann eine Abkopplung von Beitragshöhe und eingebrachtem Risiko sein. Die Beiträge knüpfen an die Lohnsumme innerhalb des Unternehmens an, die als Indiz für dessen Ertragskraft dienen kann. Dies entspricht dem Verständnis eines sozialen Ausgleichs, in dem allein die Leistungsfähigkeit relevant ist. Weil sich die Geldleistungen in der Unfallversicherung jedoch nach den Gehältern richten, stellt die Lohnsumme indes zugleich einen Anhaltspunkt für das Risiko im Unternehmen dar. Zudem werden Unternehmen branchenmäßig zusammengefasst und in Gefahrklassen eingeteilt. Beides führt dazu, dass sich die Lastentragung am Risikopotenzial orientiert. Indessen kann der Finanzausgleich zwischen den Berufsgenossenschaften gemäß §§ 176 ff. SGB VII dafür sorgen, dass bei extrem hohem Risikopotential gepaart mit geringer Leistungsfähigkeit die Last der einzelnen Branche nicht erdrückend hoch ist. Ob auf Unternehmerseite ein über den Risikoausgleich hinausgehender sozialer Ausgleich verwirklicht ist, kann also nicht auf Anhieb entschieden werden, zumal unter Berücksichtigung der Bedingung sozialer Schutzbedürftigkeit. Ein sozialer Ausgleich zugunsten der Versicherten ist denkbar, wenngleich ohne Umverteilung: Einen Ausgleich sozialer Risiken kann eine bestimmte Ausgestaltung der Leistungsgewährung verwirklichen. 3. Sozialversicherung als Konstrukt eigener Art Der Streit darum, was Sozialversicherung ist, insbesondere in ihrem stärkeren oder schwächeren Bezug zur – im Hinblick auf das „Versicherungsmäßige“ mit Vorbildfunktion ausgestatteten – Privatversicherung, ist nunmehr historisch zu nennen 153. Nicht zuletzt durch die insoweit eindeutige Rechtsprechung durch Bundesverfassungsgericht und Bundessozialgericht kann als anerkannt gelten, dass es sich bei der Sozialversicherung um ein Konstrukt eigener Art handelt. Die Sozialversicherung ist nach einer Formulierung des Bundessozialgerichts eine Versicherung besonderer Art, bei der neben dem Risikoausgleich von wesentlicher Bedeutung der soziale Ausgleich ist, weshalb Beiträge und Leistungen nach sozialen Gesichtspunkten gestaffelt werden 154. Die Argumente und Überlegungen aus 151 152 153 154

Fuchs, BG 1996, S. 248, 250. Ablehnend wohl BSG SozR 2200 Nr. 2 zu § 731 RVO, S. 7. Dazu ausführlich Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich 2000, S. 35 ff. BSGE 6, 213, 277.

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

der lange ausgefochtenen Diskussion um den Charakter der Sozialversicherung vermögen indes nach wie vor die notwendigen Bedingungen für „Sozialversicherung“ vorzugeben. Strukturelemente für die Sozialversicherung sind Versicherung, sozialer Ausgleich, Beitragsfinanzierung und die Organisationsform als Körperschaft des öffentlichen Rechts 155. Während der Schwerpunkt des juristischen Streits lange Zeit darauf gelegen hatte, eine endgültige Entscheidung zugunsten eines vorherrschenden „Prinzips“ zu fällen, so herrscht mittlerweile weitgehende Einigkeit dahingehend, dass alle Elemente wesentlich sind. Für unterschiedliche Fragestellungen kann es jedoch notwendig sein, den Versicherungsaspekt oder umgekehrt das „Sozialen“ innerhalb der Sozialversicherung genauer herauszuarbeiten. Die Notwendigkeit des sozialen Ausgleichs hat das Bundesverfassungsgericht etwa bei der Finanzierung des Kindergelds, die Finanzierung der Künstlersozialversicherung und die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung betont und dadurch die Einschränkung des „Versicherungsprinzips“ gerechtfertigt 156. Umgekehrt bezieht sich auf den Versicherungsgedanken, wer Beitragserhebung und versichertes Risiko stärker in Abhängigkeit bringen und dadurch auch eine weniger solidarische Lastenverteilung erreichen will 157. Vorliegend wird es wegen der Bezüge zu Markt und Wettbewerb erforderlich sein, das soziale und solidarische Element der Unfallversicherung zu belegen. 4. Typisches und Abweichendes in der gesetzlichen Unfallversicherung In einem Urteil fasst das Bundesverfassungsgericht die Besonderheit der gesetzlichen Unfallversicherung dahingehend zusammen, dass „es eine Zwangsgemeinschaft der ‚Unternehmer‘ begründet, die ohne Ansehen der individuellen Verantwortlichkeit solidarisch für die Folgen der von den Versicherten erlittenen Berufsunfälle aufkommt“ 158. Tatsächlich wartet die Unfallversicherung mit Eigenheiten im Vergleich zur übrigen Sozialversicherung auf. Sie gilt gleichwohl als klassischer Zweig der Sozialversicherung. Diese Einschätzung ist vor allem historisch begründet, weil die Unfallversicherung nach der Krankenversicherung das zweite Feld sozialen Schutzes war, das Bismarck in seiner Sozialgesetzgebung abdeckte 159. Seither gehört die gesetzliche Unfallversicherung trotz aller Ausweitungen 160 zur Sozialversicherung im soeben beschriebenen Sinne. Die gesetzliche Unfallversicherung weist jedoch einige Besonderheiten auf, die insbesondere von den Grundprinzipien zumindest teilweise abweichen oder aber im Vergleich zu 155

BVerfGE 11, 105, 112; 88, 203, 313; BSGE 6, 213, 218, 227 f. BVerfGE 11, 105, 112; 75, 108, 146; 87, 1, 34. 157 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 156 f. 158 BVerfGE 23, 12. 159 Dazu oben I.1. 160 Insbesondere problematisch die sogenannte unechte Unfallversicherung, dazu Fuchs / Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 475 ff. 156

II. Die gesetzliche Unfallversicherung als Zweig der Sozialversicherung

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anderen Sozialversicherungszweigen wesentlich weiter gehen. Daraus kann sich die Frage ergeben, ob Abweichungen zu erheblich sind, um noch die Subsumtion der Unfallversicherung unter die Sozialversicherung insbesondere im kompetenzrechtlichen Sinne (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) zu gestatten. Zusammengefasst wird die das Wesen der gesetzlichen Unfallversicherung vielfach durch Nennung zweier Elemente 161, nämlich die Haftungsersetzung und den sozialen Schutz der Arbeitnehmer. Haftungsersetzung meint dabei, dass die grundsätzlich bestehende Haftung des Unternehmers für Arbeitsunfälle in seinem Unternehmen abgelöst wird durch eine Versicherung der Beschäftigten bei den Berufsgenossenschaften als Träger der Unfallversicherung. Der soziale Schutz der Arbeitnehmer besteht darin, dass diese das Risiko des Arbeitsunfalls nicht selbst tragen 162. Anders als in anderen Zweigen der Sozialversicherung lässt sich die Ausprägung eines sozialen Ausgleichs nicht einfach durch das Verhältnis von Beitrag und Leistung erklären, wie es etwa im Krankenversicherungsrecht möglich ist. Der soziale Ausgleich ist für die gesetzliche Unfallversicherung mithin gesondert zu bestimmen. Ausgangspunkt ist jedoch auch hier die Versicherungsqualität. a) Versicherung Der Streit um die Versicherungsnatur der Sozialversicherung wurde und wird auch für die Unfallversicherung ausgetragen (dazu aa). Ein Versuch, der Unfallversicherung den Versicherungscharakter abzusprechen, knüpft an ihre Finanzierung an (dazu bb). Besonders hervorzustellen ist für die Versicherung vor allem, welches Risiko versichert wird (dazu cc). Anders formuliert, bedarf es der Begründung, warum es die Unternehmer sind, die in der Berufsgenossenschaft zusammengeschlossen werden und nicht die Arbeitnehmer, die vom eigentlichen Schadensfall Betroffen sind. Diese Frage hängt eng mit der nach der Haftung und daran anschließend mit dem sozialen Schutzprinzip zusammen (dazu sodann b). aa) Versicherungstechnik in der Unfallversicherung Für die gesetzliche Unfallversicherung wurde insbesondere in der Zeit während und nach der Einführung um ihre Rechtsnatur gestritten, namentlich darum, ob es sich um eine Versicherung oder um staatliche Fürsorge handelte 163. Vertreter der Fürsorge-Theorie beriefen sich auf das Argument, dass die Ansprüche der Arbeiter nach einem Unfall nicht privatrechtlich durch geleistete Beiträge erworben seien, sondern vielmehr vom Staat verliehen, der seinerseits dadurch eine sozialpolitische Aufgabe erfülle 164. Dem war entgegen zu halten, dass zwar nicht 161 162 163

Häufig als „Prinzipien“ bezeichnet, dazu II.1.c). Ausnahmen sind die Fälle der vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Herbeiführung. Darstellung bei Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, S. 49 ff.

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die Arbeiter, wohl aber die Unternehmer Beiträge entrichteten. Empfänger der Beiträge und Gewährer der Leistungen waren zwar bereits in der ursprünglichen Form der Unfallversicherung die Berufsgenossenschaften und somit als öffentlichrechtlicher Träger mittelbar der Staat. Die Rechtsform des Trägers steht indes der Versicherungsqualität nicht entgegen. Vor Einführung der Unfallversicherung der Arbeiter im Jahr 1884 war in der Tat auch eine privatrechtliche Lösung diskutiert worden, die jedoch wegen vieler Vorbehalte gegen das Privatversicherungswesen 165 zugunsten der öffentlich-rechtlichen Form aufgegeben wurde. Bis heute gilt die garantierte Leistungsfähigkeit einer (auch mittelbar) staatlichen Einrichtung als wichtiges Argument für die öffentlich-rechtliche Ausgestaltung 166. Dazu kommt, dass der verfassungsmäßige Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gilt. Das Verwaltungsverfahren erleichtert zudem die Beitragseinziehung, weil Zahlungsaufforderungen als Bescheid ergehen und die Vollstreckung möglich ist. Grundgedanke war jedoch nicht die Durchführung durch eine bestimmte, in diesem Fall mittelbar staatliche, Einrichtung, sondern vielmehr die Entscheidung dafür, dass überhaupt das Einstehen für den durch Arbeitsunfall entstehenden Schaden auf einen Dritten übertragen wird. Risikoübernahme durch einen Dritten ist gerade typisch für eine Versicherung, wobei dieser Dritte sich durch Zusammenschluss von gleichartig Gefährdeten bildet: Versicherung ist der Zusammenschluss gleichartig Gefährdeter, um die alle Glieder betreffenden Risiken zu verteilen. Die Gemeinschaft ihrerseits erhält einen selbstständigen Rechtsanspruch auf Bedarfsdeckung aus der Summe der Beiträge 167. In der gesetzlichen Unfallversicherung wurden – historisch – die Unternehmer in den Berufsgenossenschaften zusammengeschlossen. Diese übernehmen das Risiko von Arbeitsunfall und Berufskrankheit und gewähren im Versicherungsfall Leistungen, die dafür erforderlichen Mittel werden über die Beiträge der Unternehmer zur Verfügung gestellt. Die Rolle der Berufsgenossenschaft als Dritter im zuvor genannten Sinne beschreibt Schulz 168: „Die versicherungstechnische Leistung der Berufsgenossenschaften liegt für alle Mitgliedsunternehmen in der Übernahme der finanziellen Risiken für Arbeitsunfälle (Risikotransfer). Die Leistung der Berufsgenossenschaften besteht somit darin, den Finanzplan der Versicherungsnehmer durch 164 Diese Ansicht entsprach durchaus dem politischen Ansinnen Bismarcks, dem an der Betonung der staatlichen Leistung gelegen war. Weiter ging noch Laband, der in der Arbeiterversicherung gar „die sozialistische Staatsidee“ verwirklicht sah, nach der der Staat seinen Angehörigen auch den Lebensunterhalt zu gewähren habe; vgl. Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, S. 49. 165 Auch hier war insbesondere Bismarck treibende Kraft, Kaltenborn, JZ 1998, S. 770, 773. 166 Gitter / Nunius, HS-UV, § 5 Rn. 56. 167 Gitter / Nunius, HS-UV, § 5 Rn. 12 f. 168 Schulz, BG 1987, 252, 253.

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die Übernahme ungewisser Auszahlungen für Arbeitsunfälle sicherer zu machen. Dafür zahlen die Unternehmer ihren Beitrag.“ Klarstellend sei noch einmal auf folgendes hingewiesen: Wenn die in den Berufsgenossenschaften organisierten Risikogemeinschaften mitunter als Solidargemeinschaft der Unternehmer bezeichnet wird 169, ist das dann unschädlich, wenn der Begriff der Solidargemeinschaft in diesem Zusammenhang klar von dem des Solidarausgleichs getrennt verwendet wird. Solidarischer oder sozialer Ausgleich sind gerade nicht typisch für Versicherung im generellen Sinne 170. Insofern kann der Ausdruck Solidarität bei Bestimmung des Versicherungsmäßigen für Verwirrung sorgen und ist daher zu vermeiden. Der Versicherung eigen ist aber jedenfalls das „Prinzip des gegenseitigen Risikoausgleichs“ 171. Daher ist Risikogemeinschaft innerhalb der Versicherungsbegrifflichkeit der bessere Terminus. Dieser Bereich der Unfallversicherung entspricht also dem privatrechtlichen Verständnis von Versicherung. Dass der Zusammenschluss der Unternehmer und die Übertragung des Risikos zwangsweise erfolgen, führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Pflichtversicherungen sind auch aus dem Bereich der Privatversicherung bekannt 172. Ihr öffentlich-rechtliches Gepräge erhält die Versicherung durch die Rechtsform der Berufsgenossenschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts und durch die Ausgestaltung von Versicherungsverhältnis und Beitragspflicht durch Gesetz. bb) Äquivalenz in der Finanzierung Die Art der Finanzierung der Sozialversicherung insgesamt und somit auch der gesetzlichen Unfallversicherung kann als Gegenargument zur Versicherungsnatur gelten: Das Umlageverfahren, in dem die entstandenen Lasten nachträglich durch die Beiträge getragen werden, wird zum Teil als Durchbrechung des Versicherungsgedankens gesehen 173: Dies stelle keine risiko- und verursacherorientierte Berechnung der Entschädigungsverpflichtung dar. Diese Argumentation ist aus mehreren Gründen fragwürdig. Tatsächlich ist das Umlageverfahren auch in der Privatversicherung bekannt 174. Zudem ist auch die Finanzierung einer Versicherung nach dem Kapitaldeckungsverfahren für sich genommen kein Indiz für eine risikogerechte Beitragsbemessung. Im Kapitaldeckungsverfahren wird durch die Beiträge eine Kapitalmasse angespart, aus der die Lasten der Versicherung finan169 170 171 172 173 174

Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 13 f. Dazu oben II.2.b). Bigge in: Wannagat, Sozialgesetzbuch, Kommentar, SGB VII § 157, Rn. 19. Zum Beispiel § 1 PflVG i. V. m. § 7 StG. Römer, Reform der gesetzlichen Unfallversicherung, S. 48 ff. Wenngleich kaum noch praktiziert, Weigel, in: Prölss (Hrsg.), VAG, § 24 Rn. 12.

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ziert werden – Kapitaldeckung und Umlage unterscheiden sich also bezogen auf die Beiträge erst einmal nur durch den Zeitpunkt der Zahlung im Verhältnis zum Zeitpunkt der Entstehung der Lasten. Ob eine Versicherung risiko- und verursachergerecht finanziert wird, liegt aber nicht am Zeitpunkt, sondern an der Höhe des Beitrages. Es ist also vielmehr entscheidend, ob und inwieweit die Finanzierung an den Grundsätzen der Äquivalenz ausgerichtet ist. Im Versicherungswesen unterscheidet man zwischen Global- und Einzeläquivalenz, um das Verhältnis zwischen Beitragshöhe und Risiko zu beschreiben 175. Risiko ist dabei zum einen dasjenige, dem die gesamte Risikogemeinschaft unterliegt. Um dies aufzufangen, muss eine zur Deckung der schätzbaren Lasten ausreichende Beitragssumme erbracht werden. Diese Globaläquivalenz ist also auf die Gesamtheit von Beitragssumme und Lasten bezogen. Demgegenüber qualifiziert die Einzel- oder Individualäquivalenz eine Beitragshöhe, die an das eingebrachte Risiko des individuellen Beitragszahlers angepasst ist. Zwar ist in der Privatversicherung das Verhältnis von Prämie und Risiko regelmäßig proportional ausgestaltet. Einzeläquivalenz ist deshalb jedoch keine notwendige Voraussetzung für „Versicherung“, der Verzicht auf individuelle Risikoberechnung kann nicht einmal die Gegenseitigkeit des privaten Versicherungsvertrags in Frage stellen 176. Grundsätzlich ist also eine rein an der Globaläquivalenz orientierte Finanzierung ebenso Versicherung wie eine zusätzlich individualäquivalente. Im übrigen trägt gerade für die gesetzliche Unfallversicherung der Vorwurf nicht, sie sei nicht risikoorientiert. Gerade dort hängt die Höhe der Beiträge durch die Berechnung nach §§ 152 ff. SGB VII und schon durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgenossenschaft in erster Linie vom durch das einzelne Unternehmen eingebrachten Risiko ab: Die primäre Beitragsdifferenzierung knüpft an vorher erkennbare Risikomerkmale wie Wirtschaftszweig, Gewerbszweig und Tätigkeit an, die sekundäre differenziert im Beitragsausgleichverfahren nach § 162 SGB VII nach individuellen Schadensverläufen im Unternehmen 177. Die Entschädigungsverpflichtung für Altfälle etwa 178 kann allenfalls als – für die Sozialversicherung notwendiges – Element des sozialen Ausgleichs betrachtet werden 179. Die Form der Finanzierung kann also keine Zweifel an der Versicherungsqualität der Unfallversicherung wecken.

175

Dazu etwa Bley / Kreikebohm / Marschner, Sozialrecht, Rn. 279. Bley / Kreikebohm / Marschner, Sozialrecht, Rn. 279. 177 Schulz, BG 1987, 252, 253 ff. 178 Römer, Reform der gesetzlichen Unfallversicherung, S. 48 ff., nimmt diese als Beleg für die „Durchbrechung des Versicherungsprinzips“. 179 Dazu unter II.4.c)aa)(3). 176

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cc) Versichertes Risiko Noch unbeantwortet ist die oben aufgeworfene Frage, welches Risiko in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert ist. Zwei Antworten sind denkbar: Versichertes Risiko ist entweder der Eintritt eines Arbeitsunfalls oder eine Berufskrankheit und damit die spezifische Bedrohung der (materiellen) Existenz des Beschäftigten oder aber ein Haftungsrisiko der Unternehmer. Um diese Frage zu beantworten, kann ein Blick auf Versicherungen lohnen, durch die Haftungsrisiken abgedeckt werden. Das ist der Fall etwa in der (freiwilligen) Haftpflichtversicherung von Privatpersonen oder der gesetzlich angeordneten Pflichtversicherung eines Fahrzeughalters gemäß § 1 Pflichtversicherungsgesetz (PflVG). Auch der Nutzen dieser Versicherung geht in zwei Richtungen: Sowohl der Geschädigte als auch der Schädiger (der Versicherte) profitieren, denn der Geschädigte muss nicht die fehlende Leistungsfähigkeit des Schädigers fürchten, der sich seinerseits vor hohen Belastungen durch gegen ihn gerichtete Schadensersatzansprüche schützt 180. Also könnte man vermuten, durch eine Haftpflichtversicherung werde zweierlei Risiko versichert. Dies wird aber für den Bereich des Haftpflichtversicherungsrechts abgelehnt. Hier soll nur ein versichertes Risiko bestehen, je nachdem, aus welchen Eigenschaften, Rechtsverhältnissen oder Tätigkeiten der Versicherungsnehmer einem Dritten gegenüber möglicherweise haftpflichtig werden kann. Der Schutzbereich ergibt sich erst dadurch, dass das Risiko einer bestimmten Haftung im Vertrag beschrieben wird. Unstreitig ist zudem im privaten Haftpflichtrecht, dass zwischen dem Dritten und dem Versicherer mittelbare Rechtsbeziehungen nicht bestehen, insbesondere gibt es keinen Direktanspruch des Geschädigten gegen den Versicherer 181. Beides ist im System der gesetzlichen Unfallversicherung wie gezeigt anders. Hier bestehen gesetzlich geregelte Rechtsbeziehungen zwischen drei Beteiligten: Den Berufsgenossenschaften als Versicherungsträger, den Unternehmern als Beitragspflichtige zur Versicherung und den Beschäftigten als Versicherte und potenziell Geschädigte. Gitter qualifiziert daher die Unfallversicherung als Versicherung zugunsten Dritter 182 in Anlehnung an die zivilrechtlichen Regelungen zum Vertrag zugunsten Dritter gemäß §§ 328 ff. BGB. Dieser Vertrag stellt ein Schuldverhältnis dar, durch das der Schuldner verpflichtet wird, nicht an den Gläubiger, sondern an einen Dritten zu leisten 183. Gemäß § 328 Abs. 1 BGB erwirbt der Dritte dadurch unmittelbar das Recht, die vereinbarte Leistung zu fordern. Eine Versicherung zugunsten Dritter ist demnach ein Vertrag, der einen Vertragspartner (den Versicherer) verpflichtet, gegen Prämie / Beitrag des anderen Teils bei Eintritt des 180 181 182 183

Medicus, Schuldrecht I, Rn. 686. Prölss / Martin, VVG, 2004, Vor §§ 149 –158k, Rn. 1 f.; Ausnahme gemäß § 3 PflVG. Gitter, Schadensausgleich, S. 72 ff. Medicus, Schuldrecht I, Rn. 758.

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

Versicherungsfalls eine Leistung an einen Dritten zu gewähren, wobei dem Dritten ein unmittelbarer Anspruch auf die Leistung gegen den Versicherer zusteht. Zwar wird das Sozialversicherungsverhältnis – im Falle der gesetzlichen Unfallversicherung als „Dreiecksverhältnis“ Versicherungsträger, Mitglied, Versicherter – nicht durch Vertrag, sondern in der Regel kraft Gesetzes begründet (§§ 2, 150 SGB VII). Ansonsten stimmt die Zuordnung der jeweiligen Leistungspflichten und des Forderungsrechts jedoch mit dem System der gesetzlichen Unfallversicherung überein. In der Privatversicherung ist die Unfallversicherung für einen anderen bekannt. Gemäß § 179 Abs. 1 VVG kann die Unfallversicherung für Unfälle, die einem anderen zustoßen, abgeschlossen werden. Es handelt sich dann um eine Versicherung für fremde Rechnung gemäß § 74 Abs. 1 VVG. Der Prämienzahler ist in der Begrifflichkeit des Privatversicherungsrechts der Versicherungsnehmer, der Begünstigte ist der Versicherte. Problematisch im Vergleich der privaten Unfallversicherung mit der gesetzlichen Unfallversicherung ist die Ausgestaltung von Prämie bzw. Beitrag insofern, als die privatversicherungsrechtliche Prämie für das einzelne Versicherungsverhältnis, also gewissermaßen für den einzelnen Versicherten gezahlt wird. Der Beitrag zur gesetzlichen Unfallversicherung hingegen bemisst sich gemäß § 153 Abs. 1 SGB VII nach dem Finanzbedarf der Berufsgenossenschaft, dem Arbeitsentgelt der Versicherten im gesamten Unternehmen und den Gefahrklassen, denen das Unternehmen des Beitragszahlers zugeordnet ist; der Beitrag kann also nicht einem abgegrenzten Versicherungsverhältnis zugeordnet werden 184. Dieser Unterschied in der Berechnung hindert jedoch nicht die Beurteilung, dass im Ergebnis in beiden Fällen einer für die Versicherung eines anderen den Beitrag bzw. die Prämie erbringt. Während in der privaten Unfallversicherung das versicherte Risiko unbestritten der Eintritt des ungewissen Ereignisses Unfall ist, bestand aber im Hinblick auf die gesetzliche Unfallversicherung schon in der historischen Diskussion keine Einigkeit über das versicherte Risiko. Teils hielt man das Haftungsrisiko des Unternehmers, teils das Unfall- bzw. Berufskrankheitenrisiko des Arbeitnehmers für eigentlich absicherungswert 185. Arbeitsunfall und Berufskrankheiten stellen gemäß § 7 Abs. 1 SGB VII jedenfalls den Versicherungsfall dar. Dieser muss aber nicht gleichbedeutend mit dem versicherten Risiko sein: So ist etwa bei einer Lebensversicherung Versicherungsfall der Tod des Versicherungsnehmers. Als Risiko aufgefangen wird aber regelmäßig der Unterhaltsverlust der Hinterbliebenen. Dabei ist unerheblich, woraus sich Unterhaltspflichten des Versicherungsnehmers ergeben oder ob solche gar nicht bestehen. Dieser Gedanke lässt sich auf die gesetzliche Unfallversicherung übertragen: Versicherungsfall sind Arbeitsunfall und Berufskrankheit, geschützt wird der Versicherte vor dem Verlust oder der Min184

Wobei natürlich errechnet werden könnte, welcher Teil des Gesamtbeitrags eines Unternehmens auf welchen Beschäftigten entfällt. 185 Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, S. 53.

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derung seiner Erwerbsfähigkeit bei Eintritt des Versicherungsfalls. Die Frage, aus welchem Grund und mit welchem möglichen eigenen Schutzinteresse (namentlich dem eines hypothetischen Haftungsrisikos) die Unternehmer als Beitragszahler herangezogen werden, ist auf einer anderen Ebene zu beantworten. Dies bestätigt sich beim Blick auf private Pflichtversicherung: Dort ergibt sich der Schutzbereich der Versicherung wie gezeigt aus der Beschreibung im Vertrag. Die gesetzliche Unfallversicherung und ihre Schutzwirkung werden nicht durch Vertrag, sondern durch Gesetz begründet und darin sind gemäß §§ 1 und 7 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten als Schutzbereich festlegt. Mit Gitter 186 lässt sich daher sagen, dass die Einrichtung der gesetzlichen Unfallversicherung sich primär als Unfallversicherung zugunsten Dritter darstellt und nur zugleich in gewissen Beziehungen die Wirkung einer Haftpflichtversicherung entfaltet. Sie ist in ihrer gesamten Ausformung Versicherung im Rechtssinne 187. Sie ist jedoch, auch wenn in der historischen Entwicklung dies der Ausgangspunkt war, keine Haftpflichtversicherung, weil im System des Unfallversicherungsrechts der Unternehmer gemäß §§ 104, 105 SGB VII gerade von der Haftung freigestellt ist 188. Kraft Gesetzes existiert also kein Haftungsrisiko, gegen das sich ein Unternehmer versichern müsste. Versichertes Risiko ist in der gesetzlichen Unfallversicherung die Minderung oder der Verlust der Erwerbsfähigkeit durch den Eintritt de Versicherungsfalls Arbeitsunfall oder Berufskrankheit. Gegen die Annahme der gesetzlichen Unfallversicherung als Versicherung im Rechtssinne wird schließlich zum Teil eingewandt, es stelle eine Missachtung des „Versicherungsprinzips“ dar, dass in der gesetzlichen Unfallversicherung anders als in der privaten (Haftpflicht-) Versicherung ein Rückgriff gegen den grob fahrlässigen Schädiger möglich sei 189. Eine im Detail anders abweichend ausgestaltete Rückgriffsmöglichkeit kann aber zum einen nicht die gesamte Versicherungsqualität in Frage stellen. Zum anderen ist gerade entscheidend, dass sich die gesetzliche Unfallversicherung eben primär als Unfallversicherung zugunsten Dritter darstellt und nur zugleich in gewissen Beziehungen die Wirkung einer Haftpflichtversicherung entfaltet 190, wobei klar bleiben muss, dass sie mangels eines Haftungstatbestands keine Haftpflichtversicherung ist. Anders ausgedrückt: Hauptaufgabe und eigentlicher Zweck der gesetzlichen Unfallversicherung ist es, Arbeitnehmer gegen das spezifische Risiko eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit mittels einer Versicherung abzusichern, in der die Unternehmer die Beitragszahler sind. Der alleinigen Beitragspflicht 186 187 188 189 190

Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, S. 75. Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 15. Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 13. Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, 1992, S. 202. Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, S. 75.

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

liegt eine grundsätzliche Entscheidung zulasten der Unternehmer zugrunde, die durch die haftungsersetzende Funktion der Unfallversicherung gewissermaßen abgefedert wird. Erläutert sei diese Grundentscheidung sogleich (unter b). Den eingangs geschilderten Streit um den Fürsorge- oder Versicherungscharakter der Unfallversicherung kann man schließlich als für die gesamte Sozialversicherung als entschieden ansehen. Tragend sind aktuell Argumente, die auf einfachgesetzlichen und grundgesetzlichen Wertentscheidungen fußen: Das Individualisierungsgebot gemäß Art. 33 SGB I und das Menschenbild des Grundgesetzes sprechen dafür, dass der Leistungsempfänger im Sozialversicherungsrecht Inhaber einer Subjektsposition ist und nicht Objekt staatlicher Wohlfahrtsmaßnahmen 191. b) Soziales Schutzprinzip und Haftungsersetzung Ein wesentliches Merkmal der Sozialversicherung ist, wie gezeigt 192, das soziale Schutzprinzip. In der gesetzlichen Unfallversicherung wird das soziale Schutzprinzip dadurch verwirklicht, dass Beschäftigten (und ihnen gleichgestellten Personen gemäß § 2 Abs. 2 SGB VII) ein verschuldensunabhängiger Entschädigungsanspruch gegen eine leistungsfähige Risikogemeinschaft eingeräumt wird 193, der zudem unabhängig von einer tatsächlichen Beitragsentrichtung ist und grundsätzlich ohne Prüfung der Bedürftigkeit gewährt wird. Wechselfälle des Lebens, vor denen geschützt wird, sind die Bedrohung durch Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, aufgrund derer der Einzelne zeitweise oder dauerhaft daran gehindert werden kann, erwerbswirtschaftlich tätig zu sein. Gemäß § 7 Abs. 2 SGB VII lässt grundsätzlich nicht einmal verbotswidriges Handeln einen Anspruch auf Leistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung scheitern 194. Für das Bundesverfassungsgericht ist neben der Verwirklichung des sozialen Schutzprinzips wesentlicher Gedanke des Unfallversicherungssystems die „Ablösung der Haftung des einzelnen Unternehmers gegenüber seinen Arbeitnehmern zu Lasten einer Unternehmergemeinschaft“ 195. Damit ist das zweite Prinzip der Unfallversicherung angesprochen, das durch die Formel „Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz“ beschrieben wird. Die Formel geht auf Sieg zurück 196 und erhellt sich mit Blick auf die historische Entwicklung: Statt – wie etwa im Reichhaftpflichtgesetz oder in den in Rede stehenden verschuldensunabhän191

Bley / Kreikebohm / Marschner, Sozialrecht, Rn. 68. Oben II.2.a). 193 BVerfGE 45, 376, 385. 194 Wohl aber die sog. selbstgeschaffene Gefahr: Selbstgeschaffene Gefahr bedeutet, dass der Geschädigte die Ursache für den Unfall selbst gesetzt hat, Prüfungspunkt ist die Kausalität und nicht etwa das Verschulden; vgl. Muckel, Sozialrecht, § 10, Rn. 48 f. 195 BVerfGE 45, 376, 385. 196 Vgl. Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, S. 38. 192

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gigen Alternativen vorgesehen – im Falle eines Unfalls einem zivilrechtlichem Haftungsanspruch der bei ihnen beschäftigten Arbeitnehmer ausgesetzt zu sein, verlagerten die Unternehmer dieses Risiko auf eine Versicherung, die einem Geschädigten selbstständige Rechtsansprüche gewährt und deren Lasten allein durch die Unternehmerschaft getragen werden. aa) Haftungsersetzung als Begründung der Beitragspflicht Die vom Bundesverfassungsgericht so bezeichnete „leistungsfähige Solidargemeinschaft“, die als wirtschaftlicher Träger des versicherten Risikos fungiert, setzt sich allein aus den Unternehmern, das sind im Falle der gewerblichen Berufsgenossenschaften in der Regel die Arbeitgeber, zusammen. Die Finanzierung des Unfallversicherungsbedarfs allein durch die Arbeitgeber stellt eine der erheblichen Abweichungen der gesetzlichen Unfallversicherung dar. In den übrigen Zweigen ist die Lastentragung paritätisch auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer verteilt (§ 249 Abs. 1 SGB V, § 58 Abs. 1 SGB XI, § 168 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI, § 346 Abs. 1 SGB III). (1) Qualifizierung des Beitrags Der Beitrag zur Sozialversicherung, sei er nun vom Arbeitgeber oder vom Arbeitnehmer getragen, gilt als Abgabe eigener Art 197. Grund dafür ist die Schwierigkeit, den Beitrag zur Sozialversicherung den herkömmlichen Begrifflichkeiten Gebühr, Beitrag oder Steuer zuzuordnen 198. Als Sonderlast oder Abgabe eigener Art ist sie legitimationsbedürftig. Die Rechtfertigung des Arbeitgeberbeitrags zur Sozialversicherung hängt eng damit zusammen, wie er im Hinblick auf Lohnund Kostenstruktur des Unternehmens eingeordnet wird: Betrachtete man den Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung als Bestandteil des Lohnes 199, so bedürfte es keiner weiteren Legitimation etwa aus einer Fürsorgepflicht des Arbeitgebers für seine Arbeitnehmer 200. Die Argumente gegen die Einstufung des Arbeitgeberanteils als Lohnbestandteil sind von der herrschenden Meinung überzeugend zusammengetragen worden 201. 197

Isensee, Umverteilung, S. 41 f. Isensee, Umverteilung, S. 31. 199 Isensee, Umverteilung, S. 19; weitere Nachweise bei Schnapp, Die arbeitsrechtliche Fürsorgepflicht – Legitimation für den Arbeitgeberanteil in der gesetzlichen Rentenversicherung?, in: Söllner u. a. (Hrsg), FSHeinze, S. 815, 819 mit Fn. 22. 200 Schnapp, Die arbeitsrechtliche Fürsorgepflicht – Legitimation für den Arbeitgeberanteil in der gesetzlichen Rentenversicherung?, in: Söllner u. a. (Hrsg), FSHeinze, S. 815, 819 f. 201 Schnapp, Die rechtliche Legitimation des Arbeitgeberanteils in der gesetzlichen Krankenversicherung, SGB 2005, S. 1, 2 ff.; Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 586 ff. 198

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

Für den Beitrag zur gesetzlichen Unfallversicherung erlangt diese Diskussion ohnehin kaum Bedeutung. Zwar werden betriebswirtschaftlich auch die Beiträge zur Berufsgenossenschaft als Faktor bewertet, der auf den Produktionskosten liegt und sich auch an der Lohnsumme orientiert. Der Unfallversicherungsbeitrag wird aber zum einen nicht gemäß § 28 SGB IV mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag für einen Beschäftigten an die Einzugsstelle gezahlt. Zum anderen zahlt der Unternehmer auch an die Berufsgenossenschaft nicht Beiträge für einzelne Beschäftigte, sondern einen Beitrag, der sich gemäß § 153 Abs. 1 SGB VII nach dem Bedarf, der Gefahrklasse und der Lohnsumme richtet. Auf die einzelne Entlohnung kommt es also nicht an. Für die Berufsgenossenschaften ist der einzelne Arbeitnehmer im Hinblick auf die Beiträge nur ein Rechnungsposten: Die Nennung der Namen der Versicherten ist nicht konstitutiv für das Versicherungsverhältnis, vielmehr ist die Führung eines konkreten, individualisierten Entgeltnachweises je Beschäftigten nur eine Nebenpflicht im Verhältnis Unternehmer-Berufsgenossenschaft mit der Folge, dass das Versicherungsverhältnis – bis zum Eintritt eines Versicherungsfalls – wesentlich anonymisiert ist 202. Da er kein Lohnbestandteil ist, bedarf der Beitrag des Unternehmers zur Unfallversicherung der Rechtfertigung. Nach Papier / Möller 203 gilt für den Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung insgesamt: „Die soziale Schutzbedürftigkeit der Beschäftigten und die Verantwortungsbeziehung zwischen diesen und dem Arbeitgeber ist die entscheidende innere Rechtfertigung für die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung, nicht wie im Steuerrecht die ‚besondere Leistungsfähigkeit‘ des Unternehmers“ und auch nicht, wie für den Arbeitnehmeranteil gültig, die Leistungsfähigkeit des Versicherten selbst.“ An der sozialen Schutzbedürftigkeit der abhängig Beschäftigten besteht kein Zweifel. Dass der Staat zum Schutz sozial Schwacher aufgefordert ist, ergibt sich aus dem Sozialstaatsprinzip. Dass es aber (auch) die Arbeitgeber sind, die einen Teil zur gewählten Sicherungsform der Sozialversicherung beitragen sollen, muss anders begründet werden. Fürsorgepflicht, Verantwortungsbeziehung und arbeitsvertragliche Nebenpflicht werden als Begründung für zu schwach gehalten 204. Für de gesetzliche Unfallversicherung ist jedoch das Prinzip der Haftungsersetzung tragfähig. (2) Schutz des Betriebsfriedens Zur Begründung der Haftungsersetzung hält neben dem sozialen Schutzprinzip auch heute noch allgemein das Schlagwort des Betriebsfriedens her, der gesichert 202

Spellbrink, in: Schulin (Hrsg.), HS-UV, § 23 Rn. 6 f. Papier / Möller, SGB 1998, 337, 345. 204 Schnapp, Die arbeitsrechtliche Fürsorgepflicht – Legitimation für den Arbeitgeberanteil in der gesetzlichen Rentenversicherung?, in: Söllner u. a. (Hrsg), FS Heinze, S. 815 ff; ders., Die rechtliche Legitimation des Arbeitgeberanteils in der gesetzlichen Krankenversicherung, SGB 2005, S. 1, 5 ff. 203

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wird, indem zivilrechtliche Prozesse um Haftungsfragen und komplizierte Verschuldensprüfungen vermieden werden. Gesetzliche Grundlage dafür sind §§ 104, 105 SGB VII, die den Unternehmer sowie Arbeitskollegen 205 von der zivilrechtlichen Haftung freistellen. Den Frieden innerhalb des einzelnen Betriebs zu wahren, ist das auf individueller und konkreter Ebene erklärte Ziel der gesetzlichen Unfallversicherung, die abstrakt und generell betrachtet als Zweig des gesamten Sozialversicherungssystems den sozialen Frieden 206 in der Gesellschaft sichern soll. Mitunter wird die Rückgriffsmöglichkeit der Sozialversicherungsträger als Widerspruch zum Ziel des Betriebsfriedens angesehen, da es durch sie doch zu Prozessen gegen Betriebsangehörige kommen könne 207. Der Rückgriff ist in § 110 SGB VII geregelt: Sofern Personen, die durch die Vorschriften der §§ 104 ff. SGB VII in der Haftung privilegiert sind, einen Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig herbei geführt haben, haften sie gegenüber den Sozialversicherungsträgern – also nicht nur gegenüber der zuständigen Berufsgenossenschaft – für die entstandenen Aufwendungen, jedoch nur in Höhe des zivilrechtlichen Schadensersatzanspruchs. Zwar kann es, wenn Sozialversicherungsträger einen solchen Anspruch geltend machen, durchaus zu einem gerichtlichen Verfahren kommen, in dem der Geschädigte als Zeuge gehört wird und insofern in der Tat die Gefahr besteht, dass in der Folge auch das Betriebsklima belastet wird. Diese Situation ist jedoch keinesfalls mit derjenigen zu vergleichen, in der ein Geschädigter unmittelbar gegen Unternehmer oder Arbeitskollegen vorgehen müsste, um eine Entschädigung zu erhalten. In diesem Fall ist die reale Gefahr für den Betriebsfrieden ungleich höher. (3) Ausschluss aller Ersatzansprüche Der Haftungsausschluss bezieht sämtliche aus der Personenschädigung anderenfalls entstehenden zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche aus. Dazu gehört auch der Ersatz des immateriellen Schadens, also der Anspruch auf Schmerzensgeld gemäß § 253 Abs. 2 BGB. Dadurch wird der durch einen schuldhaft fremdverursachten Arbeitsunfall Geschädigte schlechter gestellt als derjenige, der aus anderer Ursache einen Personenschaden erleidet. Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs noch zur früher geltenden, insoweit aber vergleichbaren Vorschrift des § 898 Reichsversicherungsordnung (RVO) gleichen die Vorteile der Unfallversicherung jedoch die Nachteile durch den Haftungsausschluss aus 208: „Die 205 Auch der Ausschluss der „Kameradenhaftung“ schützt indes in letzter Konsequenz den Unternehmer, der sich ansonsten einem Freistellungsanspruch des Unfallverursachers ausgesetzt sähe; vgl. Muckel, Sozialrecht § 10, Rb. 81. 206 Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 27. 207 Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, 1992, S. 202. 208 BGHZ 3, 298.

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Haftungsbeschränkung des § 898 RVO findet ihren Grund darin, daß die Leistungen aus der Unfallversicherung allein von den Betriebsunternehmern getragen werden und daß andererseits die Schlechterstellung der Versicherten hinsichtlich der Entschädigung durch eine geringere Sozialrente im Vergleich zu dem nach bürgerlichem Recht zu leistenden vollen Schadensersatz durch die Vorteile aufgewogen wird, die sich daraus ergeben, daß der Sozialversicherte bei einem Arbeitsunfall der Entschädigung durch die Berufsgenossenschaft gewiß ist ohne Berücksichtigung der Verschuldensfrage.“ Insbesondere in Fällen schwerer körperlicher Schädigung begegnet diese Ansicht jedoch Kritik: Der Haftungssauschluss verletze den allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG. Mit diesem Ansatz beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht 209 und kam zu dem Ergebnis, dass der Ausschluss auch des Anspruchs auf Ersatz des immateriellen Schadens mit der Verfassung vereinbar ist. Im Hinblick auf eine mögliche Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes führte es aus, dass (zivilrechtliches) Deliktsrecht und Unfallversicherungsrecht zwei voneinander unterschiedliche Ordnungssysteme mit anderen zugrunde liegenden Prinzipien darstellten, die klar voneinander abgegrenzte Lebensbereiche regelten. So sei etwa der Gedanke des sozialen Schutzes dem Deliktsrecht fremd, das seinerseits vom Verschuldensprinzip ausgehe und davon, dass jeder für eigenes willentliches Verhalten einzustehen habe 210. Ohne es ausdrücklich zu formulieren, scheint das Gericht hier der Ansicht zu sein, beim Vergleich von Deliktsrecht und Unfallversicherungsrecht handele es sich schon nicht um wesentlich Gleiches im Sinne der Systematik des Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG 211. Gleichwohl – sozusagen hilfsweise – stellt es in der Folge die sachliche Rechtfertigung der Ungleichbehandlung durch das System der Unfallversicherung dar, die im besonderen Schutz der Arbeitnehmer durch einen leistungsfähigen Anspruchsgegner, dem Schutz der Unternehmer vor dem Haftpflichtrisiko und dem Schutz des Betriebsfriedens zu sehen seien. Der Haftungssauschluss verstößt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts also nicht gegen das Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG. Ob diese Ansicht auch bei Anwendung der sogenannten „neuen Formel“ 212 haltbar ist, erscheint fraglich. Bei Ungleichbehandlungen größerer Intensität verlangt nämlich auch das Bundesverfassungsgericht mittlerweile eine Verhältnismäßigkeitsprüfung. In seinem Urteil zum Haftungssausschluss in der gesetzlichen Unfallversicherung stellte das Gericht nur auf Fälle geringerer Intensität ab, namentlich diejenigen bei leichten und mittelschweren Unfällen. Hintergrund dafür ist nach richtiger Einschätzung die Tatsache, dass durch einen Unfall nur teilweise beeinträchtigte Arbeitnehmer zwar eine dementsprechende 209 210 211 212

BVerfGE 34, 118. BVerfGE 34, 118, 130. Jarass, in:Jarass / Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 5. Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3 Rn. 21 ff.

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Rente erhalten, in der Regel aber keine Lohneinbußen hinzunehmen haben. Dies gilt indes regelmäßig nicht für Arbeitnehmer, die schwere und schwerste Unfälle erleiden, dadurch tatsächlich in der Erwerbsfähigkeit gemindert oder ganz gehindert sind, Lohneinbußen hinnehmen müssen und in der Folge allein auf die Rente der Unfallversicherung angewiesen sind. Obwohl gerade in diesen Fällen auch eine besonders intensive Beeinträchtigung immaterieller Güter – sei es abstrakt die Lebensqualität oder konkreter die bedeutsame Fähigkeit, für sich und seine Familie ohne fremde Hilfe den Lebensunterhalt zu bestreiten – vorliegt, greift die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts nicht, denn ein faktischer Ersatz des Nicht-Vermögensschadens findet gerade nicht statt. Eine globale Betrachtung des gesamten Systems verbietet sich hier, weil individuelle Interessen und Güter erheblich betroffen sind. Der Haftungssauschluss auch bei schweren und schwersten Arbeitsunfällen hätte also einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzogen werden müssen 213. Einen erheblichen, wenn auch aus der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung konsequenten Wandel der Unfallversicherung bedeutete es, dass der Haftungsausschluss auf von Arbeitskollegen verschuldete Unfälle ausgeweitet wurde, denn dadurch wurde auch das Haftpflichtrisiko der Arbeitnehmer abgelöst 214. Gemäß § 105 Abs. 1 SGB VII gilt dies für durch eine betriebliche Tätigkeit verursachte Unfälle. Tatbestandsvoraussetzung ist zudem, dass es sich um Personen desselben Betriebes handelt, darunter fallen nur solche Personen, die in die Betriebsorganisation eingegliedert sind, also durch die Weisungsgebundenheit zum Arbeitgeber in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen 215. Hintergrund dieser Regelung ist zum einen auch der Betriebsfrieden, der geschützt wird, wenn das Prozessrisiko auch unter Arbeitskollegen minimiert wird 216. Zum anderen wurde durch § 637 Abs. 1 RVO, der die Haftungsfreistellung der Arbeitskollegen erstmals regelte, die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur gefahrgeneigten Tätigkeit 217 umgesetzt: Danach ist die Haftung des Arbeitnehmers bei gefahrgeneigter Tätigkeit eingeschränkt und zwar auch dann, wenn eine andere Person geschädigt wird. Bei verschuldeter Schädigung eines Dritten, ohne dass jedoch eine schwere Schuld gegeben ist, hat der Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber einen Freistellungsanspruch in Höhe seiner eigenen Entschädigungsverpflichtung. Wenn nun der Dritte 213 Gegen eine Rechtfertigung mit Verweis auf die zivilrechtliche Rechtslage seit 2002 Eichenhofer, Sozialrecht, Rn. 430. 214 Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, S. 39. 215 Bley / Kreikebohm / Marschner, Sozialrecht, Rn. 901. Durch § 105 Abs. 2 SGB VII wird das Haftungsprivileg der Arbeitnehmer ausgeweitet auf Fälle, in denen der Unternehmer geschädigt wird, der, sofern nicht selbst versichert, nicht unter den Tatbestand des Abs. 1 fällt. 216 Vgl. Entwurf des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung von 1963, BTDrucks. IV/120 S. 62 f. 217 BAG 5, 1.

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

ein Arbeitskollege ist, müsste der Arbeitgeber über den Freistellungsanspruch für den Schaden haften, obwohl die Haftung gerade durch die gesetzliche Unfallversicherung ersetzt werden soll. Diesen Widerspruch löst die ursprünglich in § 637 Abs. 1 RVO und nun in § 105 Abs. 1 SGB VII geregelte Haftungsbeschränkung in Umsetzung der bundesarbeitsgerichtlichen Rechtsprechung 218 auf. bb) Hypothetische Haftung des Unternehmers als Wertentscheidung Im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung existiert also ein Schutz abhängig Beschäftigter vor dem Risiko, bei ihrer Tätigkeit einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit zu erleiden. Geschützt werden sie durch eine Versicherung und nicht durch haftungsrechtliche Tatbestände: Vom eigenen möglichen Haftungsrisiko kauft sich der Unternehmer durch die Beiträge zur Unfallversicherung gewissermaßen frei, davon profitiert auch der Betriebsfrieden. Zu klären ist indes noch, warum das hypothetische Haftungsrisiko allein vom Unternehmer zu tragen ist, woraus sich also seine Einstandspflicht ergibt. Bereits in der historischen Debatte um die Sozialversicherung und speziell um die Reform bzw. Ablösung des Reichshaftpflichtgesetzes war die Notwendigkeit erkannt worden, eine grundsätzliche Entscheidung zu treffen, ob das Risiko des Arbeitsunfalls dem Unternehmer zur Last fallen soll. Gefordert wurde seinerzeit ein im Vergleich zu den traditionell vom römischen Recht abgeleiteten Grundsätzen neues Rechtsprinzip: Derjenige, der den Vorteil eines Geschäfts habe, müsse auch den dabei entstehenden zufälligen Schaden tragen 219. Den Vorteil einer privatwirtschaftlichen Tätigkeit verbucht der, der sie ausübt. Im Hinblick auf ein Arbeitsverhältnis sind zwar beide Seiten privatwirtschaftlich tätig. Die Arbeitskraft des Arbeitnehmers kommt aber unmittelbar nur dem Arbeitgeber als Vorteil zugute, während der Arbeitnehmer lediglich einen mittelbaren Vorteil durch die Vergütung erhält (der Einsatz seiner Arbeitskraft wird entgolten). Auch § 136 Abs. 3 Nr. 1 SGB VII definiert denjenigen zum Unternehmer, dem das Ergebnis des Unternehmens unmittelbar zum Vor- oder Nachteil gereicht. Nach Manes 220 schafft zudem der Unternehmer, der einen Betrieb einrichtet und sich mit Arbeitern und Maschinen umgibt, damit die Möglichkeit der Schädigung, die, unbeeinflusst von der Frage eines Verschuldens, ohne weiteres zu Lasten des Unternehmers gehe. Die aus den Betriebsunfällen sich ergebenden Lasten bilden Passivum des Unternehmers wie Instandhaltung und Amortisation der Arbeitsgeräte, Unterhaltung der Räumlichkeiten, der Arbeitslohn und das Angestelltengehalt. Wichtiger Gedanke bei dieser Herangehensweise ist für Manes der der Versachlichung der Haftung. 218 219 220

BAG 5, 1. Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, 1992, S. 35. Manes, Versicherungswesen, Bd. 3, S. 299 ff.

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Nach Fuchs sind für die Zurechnung der Schadenstragung an einen anderen als den Betroffenen zwei Kriterien möglich, nämlich entweder individuelle Verantwortung des anderen oder kollektive Solidarität 221. Für den Bereich der Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten gilt beides: Individuell verantwortlich für diese Risiken innerhalb eines Unternehmens ist nach der beschriebenen Grundsatzentscheidung der einzelne Unternehmer, der seinerseits diese Risiken auf die Risikogemeinschaft Berufsgenossenschaft überträgt. Organisiert wird diese Verlagerung mittels einer öffentlich-rechtlichen Zwangsversicherung. So stellt sich das Element der Haftungsersetzung als Ursprung der Unfallversicherung dar. Aus dem sozialen Schutzprinzip resultiert die Grundentscheidung, die dem System zugrunde liegt, nämlich der Schutz der abhängig Beschäftigten. Dieses Prinzip wiederum prägt auch einzelne Elemente des ganzen Systems Unfallversicherung. So tritt die gesetzliche Unfallversicherung auch ein in Fällen, in denen sich eine Haftung des Unternehmers nach den Grundsätzen der Gefährdungshaftung nicht begründen ließe: im Bereich der Wegeunfälle und der durch Kollegen verursachten Unfälle. Zudem entspringt die Absicherung der Familie dem Schutzgedanken. Nicht zuletzt ist das Bestehen eines gesetzlichen Sicherungssystems gegen den Risikofall der unfallbedingten Minderung oder des Wegfalls der Erwerbsfähigkeit an sich Verkörperung eines staatlichen Schutzauftrags. Die gesetzliche Unfallversicherung ist also ein Institut der Daseinsvorsorge, das sich der Technik der Versicherung bedient 222. c) Sozialer Ausgleich Der soziale Ausgleich ist konstitutives Merkmal der Sozialversicherung und muss deshalb auch in der Unfallversicherung realisiert werden. Er ist gerichtet auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse im Sinne einer sozial gerechten Teilhabe aller Versicherten an den Gütern der staatlichen Gemeinschaft und auf eine soziale Sicherung, die nicht nur dem Schaden, sondern auch dem Bedarf entspricht 223. Sozialer Ausgleich geht damit über den versicherungsmäßigen Risikoausgleich hinaus bzw. weicht seine Prinzipien teilweise auf, um den Geboten des Sozialstaatsprinzips und dem Gedanken der iustitia distributiva 224 Rechnung zu tragen. Er kann verwirklicht werden einerseits durch eine Beitragsgestaltung, die unabhängig vom versicherten Risiko, aber abhängig von der Leistungsfähigkeit des Einzelnen ist; andererseits durch eine Leistungsgewährung, die nicht (ausschließlich) an die Höhe der Beitragszahlung anknüpft und durch die auch sekundäre Risiken abgedeckt werden 225. In der gesetzlichen Unfallversicherung 221

Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, 1992, S. 158 f. Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, S. 55, 57. 223 Bley / Kreikebohm / Marschner, Sozialrecht, Rn. 283. 224 Zur Sozialpolitik als Umverteilungspolitik Bley / Kreikebohm / Marschner, Sozialrecht, Rn. 32 ff. 222

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

muss das Element des sozialen Ausgleichs auf andere Weise verwirklicht werden als durch Umverteilung innerhalb einer Gruppe. Da gemäß § 150 Abs. 1 SGB VII allein beitragspflichtig die Unternehmer sind 226, die Versicherten aber die Beschäftigten, existieren Beitragspflicht und Leistungsanspruch per se unabhängig voneinander und sind zudem auf zwei theoretisch wie praktisch klar voneinander abgegrenzte 227 Personengruppen verteilt. Solidarischer Ausgleich kann aber bei richtigem Begriffsverständnis nur innerhalb einer Gruppe stattfinden. Einen sozialen Ausgleich im weiteren Sinne erreicht ein Sicherungssystem, das auch sekundäre Risiken abdeckt. aa) Sozialer Ausgleich auf der Beitragsebene Ein Solidarausgleich unter den Beitragszahlern der Sozialversicherung wird allgemein dadurch erreicht, dass die Höhe des zu entrichtenden Beitrags unabhängig vom versicherten Risiko festgesetzt wird und sich stattdessen an der Leistungsfähigkeit der Versicherten orientiert 228. Das wäre in Reinform für die gesetzliche Unfallversicherung der Fall, wenn einziges Kriterium der Beitragserhebung der jährliche Bedarf wäre, der im Wege der Umlage von den versicherten Unternehmen durch einheitliche, d. h. nach einheitlichen Berechnungsmaßstäben bemessene 229, Beiträge gedeckt würde. Tatsächlich richtet sich aber die Beitragserhebung gemäß § 153 Abs. 1 SGB VII neben dem Finanzbedarf (§ 152 Abs. 1 SGB VII) auch nach dem Arbeitsentgelt der Versicherten und den Gefahrklassen. Sowohl Arbeitsentgelt der Versicherten als auch der in Gefahrklassen abgestufte Gefahrtarif gemäß § 157 Abs. 1 SGB VII stellen eine Bezugsgröße dar, die das Gefahrenpotenzial des einzelnen Unternehmens widerspiegeln: Um gemäß § 159 Abs. 1 SGB VII das versicherte Unternehmen zu einer Gefahrklasse zu veranlagen, stuft der Unfallversicherungsträger das Risiko des Eintritts von Versicherungsfällen innerhalb des Unternehmens ein. Durch Einbeziehung der Bruttolohnsumme des Betriebs in die Beitragsberechnung wird zudem das Risiko der Leistungshöhe bei Entgeltersatzleistungen wie Verletztengeld, Rente und Abfindung sowie Leistungen an Hinterbliebene zum Anknüpfungspunkt. Zusammengefasst ist Bezugspunkt der Beitragsberechnung auch das Versicherungsrisiko des einzelnen Unternehmers, das von Lohnsumme und Gefährlichkeit der Beschäftigung abhängt 230. Darüber 225

Oben II.2.b)cc). Zur Definition des Unternehmers vgl. § 136 Abs. 3 SGB VII, dazu auch mit Blick auf die Wechselbeziehung zum Begriff des Unternehmens in § 121 Abs. 1 SGB VII Muckel, Sozialrecht, § 10 Rn. 6 f. 227 Eine Ausnahme besteht, wenn gemäß § 3 SGB VII kraft Satzung die Unternehmer in die Versicherung einbezogen sind. Dieser Fall der versicherungsrechtlichen Eigenhilfe (Fuchs / Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 494), ist jedoch eine Ausnahme außerhalb der Systematik der Beschäftigtenversicherung, deren Lasten der Unternehmer immer trägt. 228 Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 17. 229 BSGE 43, 289, 292 f. 226

II. Die gesetzliche Unfallversicherung als Zweig der Sozialversicherung

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hinaus liegt nach Ansicht des Bundessozialgerichts 231 schon generell der Sinn des berufsgenossenschaftlichen Prinzips, also die branchenspezifische Einteilung der Versicherungsträger und der bei ihnen Versicherten, darin, jeden Gewerbezweig entsprechend der ihm eigentümlichen Gefahr zu belasten. Dass Hintergrund der branchenspezifischen Gliederung der Berufsgenossenschaften auch das Ziel einer effektiveren Präventionsarbeit ist, kann ergänzt werden, ist aber jedenfalls kein Widerspruch zur Formulierung des Bundessozialgerichts. In demselben Urteil aus dem Jahr 1977 hatte das Gericht aus dem so gewerteten Sinn der berufsgenossenschaftlichen Einteilung und den Gefahrklassen innerhalb der Branchen gefolgert, der in weiten Bereichen des Sozialversicherungsrechts geltende Grundsatz, das Versicherungsrisiko durch möglichst einheitliche, nach den gleichen Berechnungsmaßstäben bemessene Beiträge der Versicherten zu decken, komme nicht zum Zuge 232. Acht Jahre später spitzt das Bundessozialgericht 233 diese Ansicht zu auf die Formulierung: „Die beitragspflichtige ‚Zwangsgemeinschaft‘ der Unternehmer‘ ( . . . ) bildet demgemäß in der Unfallversicherung nicht eine einheitliche Solidargemeinschaft zur Milderung der wirtschaftlichen Folgen der Arbeitsunfälle für den einzelnen Unternehmer.“ In der Literatur wird dies überwiegend anders bewertet. Dazu Gitter 234: „Solidarität setzt nämlich voraus, daß eine echte soziale Gruppe Träger ihrer Sicherungseinrichtung ist und die Angehörigen dieser Gruppe sich zu dieser selbst und der Sicherungseinrichtung bekennen. Das ist bei den Berufsgenossenschaften als Zusammenschluß der Unternehmen, die jeweils von den gleichen Gefahren bedroht sind und sich hinsichtlich der Kostenstruktur in einer vergleichbaren Lage befinden, der Fall, nicht aber bei einer Zusammenfassung sämtlicher Wirtschaftszweige.“ Bei dieser Formulierung bleibt indes unklar, was genau unter einer „echten“ sozialen Gruppe zu verstehen ist, denn dies ist kein rechtstechnischer Begriff und in anderen Wissenschaften, der Sozialwissenschaft etwa, nicht so definiert, dass es auf eine wirtschaftliche Branche oder die gewerblichen Berufsgenossenschaften zutreffen könnte. Zudem ist das Bekenntnis zu dieser „sozialen Gruppe“ und der Sicherungseinrichtung Unfallversicherung schon allein wegen der Pflichtmitgliedschaft mindestens zweifelhaft. Ein solches (freiwilliges) Bekenntnis braucht es allerdings auch nicht. Die gesetzliche Unfallversicherung sei, so formuliert wiederum Platz 235, „für den Bereich der gewerblichen Wirtschaft von dem Grundgedanken beherrscht, 230 231 232 233 234 235

Muckel, Sozialrecht, § 10, Rn. 21. BSGE 43, 289, 292 f. BSGE 43, 289, 292 f. BSG SozR 2200 Nr. 2 zu § 731 RVO, S. 7. Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, S. 48 f. Platz, in: Schulin, HS-UV, § 58 Rn. 114.

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

dass die in der Berufsgenossenschaft zusammengeschlossenen Unternehmen solidarisch die entstandenen Lasten tragen“. Dieser „Solidargedanke“ habe sich auch über die einzelnen Berufsgenossenschaften hinaus durch den Lastenausgleich bewährt. Gemeinsame Lastentragung ist indes im Ergebnis nichts anderes als gegenseitige Bedarfsdeckung, so dass für die gewerbliche Unfallversicherung im Einzelnen zu prüfen ist, ob sie neben den Grundsätzen der Versicherungstechnik auch solche des Solidarausgleichs beinhaltet. Nach Ansicht von Isensee 236 ist für den Solidarausgleich nicht nur begrifflich eine „fundierte Solidarität (i. e. sachgerechte Umverteilungsgemeinschaft)“ notwendig, um den Bezug zum Prinzip der versicherungsmäßigen Selbsthilfe nicht zu verlieren. Ohne sozialen Ausgleich bestehen womöglich erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung. Weil ein wesentliches Element fehlte, gehörte sie dann nicht zum Typ Sozialversicherung. Der Gesetzgeber könnte sich zum einen nicht auf den Kompetenztitel aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG berufen. Wegen der Zwangsmitgliedschaft und der daraus resultierenden Beitragspflicht ergäben sich zum anderen Bedenken auch in materieller Hinsicht 237. Grundsätzlich ist ein sozialer Ausgleich schon denkbar durch die Finanzierung der Versicherung im Umlageverfahren, für das der Gedanke gilt, dass alle Mitglieder der Risikogemeinschaft gemeinsam die anfallenden Lasten tragen. So sehen es auch Hoyningen-Huene / Compensis 238: Der Beitragsberechnung liege ein kollektiver Maßstab zugrunde durch das System der Umlage, dadurch sei das Prinzip der Solidarhaftung aller Mitglieder verwirklich, von dem nur dadurch abgewichen werde, dass das Unfallrisiko – etwa durch das Beitragsausgleichverfahren – in die Berechnung einfließe. Diese Bewertung ist im Ergebnis jedoch zu global, denn die Tatsache der gemeinsamen Lastentragung allein lässt noch keinen Rückschluss auf einen Ausgleich, schon gar nicht auf einen sozialen Ausgleich zu. Der existiert dann nicht, wenn alle Mitglieder der Risikogemeinschaft die Lasten insgesamt zwar gemeinsam tragen, jedoch im Einzelnen durch Beiträge, die vom individuell eingebrachten Risiko abhängig sind. Ob die gesetzliche Unfallversicherung auf der Beitragsebene einen sozialen Ausgleich verwirklicht, hängt mithin davon ab, wie die Beitragsfestsetzung tatsächlich ausgestaltet ist. Sie gilt in erster Linie als unmittelbar risikobezogen 239. Allerdings wird die Individualäquivalenz an manchen Punkten durchbrochen. Diese Brüche könnten den sozialen Ausgleich auf der Beitragsebene verwirklichen.

236

Isensee, Umverteilung, S. 21. Ausführlich Papier / Möller, NZS 1998, 353, 356 ff. 238 Hoyningen-Huene / Compensis, SGB 1992, 145 f. 239 Bley / Kreikebohm / Marschner, Sozialrecht, Rn. 282; Waltermann, Sozialrecht, Rn. 100; Eichenhofer, Sozialrecht, Rn. 283. 237

II. Die gesetzliche Unfallversicherung als Zweig der Sozialversicherung

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Allerdings spricht dogmatisch und nicht zuletzt verfassungsrechtlich vieles dafür, dass ein sozialer Ausgleich sich an einer Notwendigkeit aus sozialer Schutzbedürftigkeit messen lassen muss. Diese Schutzbedürftigkeit besteht etwa in Fällen, in denen der Einzelne aus eigenem Einkommen nicht in der Lage, wohl aber einen existenziellen Bedarf hat, sich gegen bestimmte Risiken abzusichern. Unternehmer müssen ihre Beschäftigten bei den Berufsgenossenschaften versichern, unterlägen aber wegen eines hohen Risikopotenzial einer schwer zu kalkulierenden Belastung, wenn die Versicherung ohne Ausgleich funktionierte. Es wäre jedoch verfehlt, schon allein daraus auf soziale Schutzbedürftigkeit zu schließen. Die Grundentscheidung der gesetzlichen Unfallversicherung, die Unternehmer allein mit dem Beitrag zu belasten, resultiert gerade aus dem Zusammenhang aus wirtschaftlicher Stärke und wirtschaftlicher Nutzziehung auch aus einem besonders risikobehafteten Unternehmen. Anders als ein Arbeitnehmer ist ein Unternehmer nicht darauf angewiesen, seine Arbeitskraft in abhängiger Beschäftigung als Existenzgrundlage zu verwerten, sondern bedient sich zuvörderst freier unternehmerischer Entscheidung. Die Belastung mit einem auch risikospezifischen Beitrag stellt die Kehrseite aus dem Nutzen des unternehmerischen Gewinns dar. Damit kann von einer sozialen Schutzbedürftigkeit vergleichbar der des abhängig Beschäftigten im Hinblick auf die Beitragszahlung keine Rede sein. Insofern fragt sich, ob ausgleichende Elemente auf der Beitragsebene als sozialer oder lediglich als versicherungsmäßiger Risikoausgleich zu werten sind. Allerdings sind solche ausgleichenden Elemente zunächst zu finden, im Anschluss kann das Soziale in möglichen Ausgleichstatbeständen genauer hinterfragt werden. (1) Anknüpfung an das Arbeitsentgelt Elemente des sozialen Ausgleichs können im Beitragsrecht der gesetzlichen Unfallversicherung zunächst darin gesehen werden, dass Bemessungsgrundlage des Beitrags gemäß § 153 Abs. 1 SGB VII auch das Arbeitsentgelt der Versicherten ist. Zwar steckt hierin, wie gezeigt, auch eine Anknüpfung an das durch den einzelnen Unternehmer eingebrachte Risiko. Andererseits lässt aber die Höhe der gezahlten Entgelte einen Rückschluss auf die Leistungsfähigkeit des Unternehmers zu 240: Je höher die Löhne und Gehälter sind, die ein Unternehmer zu zahlen imstande ist, desto größer ist seine wirtschaftliche Leistungskraft einzuschätzen. Leistungsfähigere Versicherte mit höheren Beiträgen zu belasten, ist wiederum gerade ein Grundsatz des sozialen Ausgleichs. Die Arbeitsentgelte der Versicherten werden in der Beitragsberechnung jedoch gemäß § 153 Abs. 2 SGB VII nur bis zur Höhe des Höchstjahresarbeitsverdienstes (§ 85 SGB VII) zugrunde gelegt. Das führt dazu, dass überdurchschnittlich hohe Entgelte und somit auch eine demzufolge überdurchschnittlich hohe Leistungsfähigkeit sich nicht proportional auf die Höhe des Beitrages auswirken. 240

Gitter / Nunius in: Schulin, HS-UV, § 5 Rn. 26.

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

Es ist weiterhin auf die Praxis der Beitragsberechnung hinzuweisen, da die Berufsgenossenschaften gemäß § 162 SGB VII ein Beitragsausgleichsverfahren durchzuführen haben; je nach Satzung kann dies die Möglichkeit des an die Leistungsfähigkeit anknüpfenden Ausgleichs im Ergebnis wieder einschränken oder gar umkehren 241. Gerade das Beitragsausgleichsverfahren gilt als echte Ausprägung des „Versicherungsprinzips“, da dadurch das individuelle Risiko direkt einbezogen wird 242. Gleichwohl besteht der Vorwurf gegen das Beitragsausgleichsverfahren, nicht in letzter Präzision eine Bemessung des tatsächlich eingebrachten Risikos zu erreichen, sondern lediglich der Versuch einer individuellen Äquivalenz zu sein 243. Dies kann jedoch insofern dahinstehen, als jedenfalls auch wegen des Beitragsausgleichsverfahrens nicht allein dadurch ein sozialer Ausgleich erreicht wird, dass die Höhe der Beiträge zur Unfallversicherung an die im einzelnen Unternehmen gezahlten Arbeitsentgelte anknüpft. Durch die Gesetzesänderung aus dem Jahr 2005 244 wird es den Berufsgenossenschaften ermöglicht, bei der Beitragsfestsetzung stärker an die Arbeitsentgelte und weniger an die Unfallgefahr anzuknüpfen: Gemäß § 153 Abs. 4 SGB VII ist dies möglich für maximal 30 Prozent der Aufwendungen für Renten, Sterbegeld und Abfindungen aus Altfällen. Altfälle sind nach dieser Regelung solche aus vier Jahre zuvor eingestellten Unternehmen oder Versicherungsfälle, die im vierten der Umlage vorausgehenden Jahr erstmalig festgestellt wurden. In der Begründung zum Gesetzentwurf wird zum Zweck der Neuregelung ausgeführt: „Damit wird das innerberufsgenossenschaftliche Solidarprinzip gestärkt. Künftig dürfen bestimmte Rentenlasten ohne Berücksichtigung des Grades der Unfallgefahr allein entgeltbezogen auf die Unternehmen umgelegt werden, z. B. wenn diesen Lasten infolge der Einstellung von Unternehmen keine laufenden Beitragszahlungen mehr gegenüberstehen. ( . . . ) Der Umlageanteil ist auf 30 vom Hundert der Gesamtaufwendungen für Renten, Sterbegeld und Abfindungen begrenzt. Hierdurch wird sichergestellt, dass die besondere branchenbezogene Verantwortlichkeit der einzelnen Gewerbezweige für die von ihnen verursachten Unfalllasten sowie die mit der Gefahrtarifgestaltung verbundenen Präventionsanreize auch unter Berücksichtigung der gewerbezweigübergreifenden Solidarität innerhalb der Berufsgenossenschaft erhalten bleiben.“ 245 Hier wird unterstellt, dass durch Anknüpfung allein an die Arbeitsentgelte das – ebenfalls als grundsätzlich existent unterstellte – Solidarprinzip der Unternehmer einer Genossenschaft betont wird. Das ist im Sinne eines solidarischen Ausgleichs dann richtig, wenn man die Entgeltsumme 241

Papier / Möller, NZS 1998, S. 353, 358f. Es unterliegt der Satzungsautonomie der Berufsgenossenschaften und soll seinerseits durch den „Grundsatz der Solidarhaftung“ begrenzt sein; Hoyningen-Huene / Compensis, SGB 1992, S. 146 f.; aA Schulz, SGB 1992, S. 539 f. 243 Römer, Reform der gesetzlichen Unfallversicherung, S. 46 ff. 244 Vom 14. 8. 2005, BGBl. I S. 2410. 245 Begründung, BT-Drs. 15/5669, S. 5. 242

II. Die gesetzliche Unfallversicherung als Zweig der Sozialversicherung

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eines Unternehmens als Gradmesser für seine Leistungsfähigkeit ansieht. Gepaart mit der Zurückdrängung der Risikokopplung ist so ein Ausgleich möglich. Vor Augen bleiben muss indes die Begrenzung auf 30 Prozent der Aufwendungen für die als Altfälle definierten Lasten, für die die Beitragsfestsetzung in der Umlage vom Risiko entkoppelt werden kann. Zudem steht diese Möglichkeit im Ermessen der einzelnen Berufsgenossenschaft, die gemäß § 153 Abs. 4 SGB VII a. E. das Nähere und auch das Ob in ihrer Satzung regelt. (2) Anknüpfung an Tarifstellen und Gefahrklassen Es kommt indes auch ein Solidarausgleich in Betracht, der an die Einteilung von Tarifstellen und die Zuordnung von Gefahrklassen anknüpft. Diese stellen die Berufsgenossenschaften als autonomes Recht auf, dabei können sie innerhalb eines gewissen Regelungsspielraumes handeln. Dieser ist jedoch „durch die Wertentscheidungen des Gesetzes begrenzt und darf folglich nicht in Widerspruch zu den tragenden Grundsätzen des Unfallversicherungsrechts stehen“ 246. In einer Tarifstelle müssen gemäß § 157 Abs. 2 SGB VII gleiche Gefährdungsrisiken zusammengefasst werden, wobei ein versicherungsmäßiger Risikoausgleich zu berücksichtigen ist. Es werden also engere Gefahrgemeinschaften geschaffen, von denen jede das auf sie entfallende Risiko zu tragen hat 247. Nach Schulz 248 stellt dies gleichwohl die erste Stufe einer insgesamt dreistufigen Solidarität innerhalb der Beitragsberechnung dar. Innerhalb der Tarifstelle werde der individuelle Schadensaufwand untereinander ausgeglichen. Dagegen ist einzuwenden, dass nicht jeder „Ausgleich“ auch zugleich Elemente des Sozialen oder Solidarischen im sozialversicherungsrechtlichen Sinne enthält, denn eine Nivellierung individueller Risiken ist Ziel auch der Privatversicherung 249. Eine andere Begründung für diesen Ansatz liefert Platz 250, der ausführt, dass wegen des unterschiedlichen Entgeltniveaus in den Gewerbezweigen 251 die den 246

BSG SozR 2200 § 731 RVO Nr. 2, S. 6. Gitter, Die Festsetzung von Gefahrtarifen in der gesetzlichen Unfallversicherung im Hinblick auf den Fußballsport, NZS 1996, S. 247, 248. 248 Schulz, Die gewerblichen Berufsgenossenschaften zwischen Risikoausgleich und Solidarität, BG 1987, S. 252, 257 f. 249 Vgl. oben unter II.1.a) sowie 2.b). 250 Platz, in: Schulin, HS-UV, § 58 Rn. 45. 251 Am sogenannten Gewerbezweigprinzip orientieren sich herkömmlich die Versicherungsträger, wenn sie Tarifstellen bilden. Das Prinzip knüpft an den Zweck oder Gegenstand des Unternehmens an und ordnet so bestimmte Zweige innerhalb eines Gewerbes; somit gilt für ein Unternehmen grundsätzlich nur eine Gefahrklasse. Die Alternative zu diesem System stellt ein Anknüpfen an das Tätigkeitsprinzip an, nach dem Gefahrklassen je nach Art und Gefährlichkeit einzelner Tätigkeiten innerhalb eines Unternehmens gebildet werden. Dieses Prinzip wäre in Reinform wesentlich komplexer und daher verwaltungsaufwändiger; 247

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

Tarifstellen zugeordneten Gefahrklassen nur tendenziell die Unfallgefahr wiedergeben 252. Aus diesem Grund werde zum Teil auch stärker betont, es komme bei der Gefahrklassenermittlung weniger auf die exakte Unfallgefahr an, da die Gefahrklasse den Charakter eines Verteilungsfaktors im Rahmen des Umlagesystems habe. Dieser Umstand kann dann als Ausprägung eines Solidarausgleichs gelten, wenn in der Konsequenz aus der Festlegung von Gefahrklassen eine individuelle Beitragsgestaltung resultiert, die stärker vom Entgeltniveau und somit von der Leistungsfähigkeit des Beitragszahlers abhängt als vom individuellen Schadensrisiko. Die Gefahrklasse wird gemäß § 157 Abs. 3 SGB VII berechnet, indem die gezahlten Leistungen innerhalb einer Tarifstelle 253 in ein Verhältnis zu den gezahlten Arbeitsentgelten gebracht werden: Die sogenannte Belastungsziffer wird errechnet durch den Quotienten aus den mit 1000 multiplizierten Entschädigungsleistungen der Tarifstelle als Dividend und der in dieser Tarifstelle aufgebrachten Arbeitsentgelten als Divisor. Gerundet ergibt dies Belastungsziffer die Gefahrklasse 254. Verkürzt ließe sich als Regel aufstellen: Je höher das Entgeltniveau bei unterstellt gleich bleibendem Leistungsrisiko, desto niedriger die Gefahrklasse der Tarifstelle und mithin geringer die individuelle Belastung des Versicherten durch den Beitrag. In einer im Hinblick auf das Entgeltniveau heterogenen Tarifstelle profitiert daher ein weniger leistungsfähiges Unternehmen von einer aufgrund des hohen Divisors günstigen Gefahrklasse, die es in einem Zweig mit einheitlich niedrigem Entgeltniveau und daher vergleichbarer Leistungsfähigkeit nicht erreichen könnte. Umgekehrt kann bei sehr kleinen und homogenen Gruppen mit hohem Unfallrisiko ein Ausgleich völlig fehlen, da bei gleich hoher Unfallgefahr und einheitlichem Entgeltniveau jedes Unternehmen rechnerisch mit seinen eigenen Kosten belastet würde 255. In einer derart ausgestalteten Tarifstelle sind indes auch Grundsätze von Versicherung kaum umzusetzen, da nicht zuletzt aufgrund des Finanzierungssystems der (nachträglichen) Umlage die Kosten im Ergebnis von den Verursachern getragen werden. Der in § 157 Abs. 2 SGB VII geforderte Risikoausgleich findet dann nicht mehr statt.

es findet aber zumindest teilweise Eingang in die Gefahrtarife insofern, als die meisten Berufsgenossenschaften eine Tarifstelle für den kaufmännischen und verwaltenden (und deshalb weniger risikobelasteten Teil) der Unternehmen eingeführt haben. Zu allem kurz und übersichtlich Freischmidt, in: Hauck / Noftz, Sozialgesetzbuch, Gesamtkommentar. SGB VII, § 157 Rn. 8. 252 So auch BSG SozR 2200 § 731 RVO Nr. 2 S. 8 f. 253 Beitragsaufkommen und Entschädigungslast eines einzelnen Unternehmens ist unerheblich, ebenso des einzelnen Gewerbezweigs, wenn mehrere in einer Tarifstelle zusammengefasst werden; Ricke, in: Kasseler Kommentar, § 157 Rn. 3. 254 Vgl. Bigge, in: Wannagat, Sozialgesetzbuch, Kommentar, § 157 SGB VII, Rn. 25. 255 Platz, in: Schulin, HS-UV, § 58 Rn. 47.

II. Die gesetzliche Unfallversicherung als Zweig der Sozialversicherung

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Grundsätzlich liegt nach Ansicht von Gitter 256 in einer größtmöglichen Homogenität der eigentliche Sinn der Tarifstellenbildung: Ihm „wird dabei umso besser Rechnung getragen, je genauer im Rahmen des Versicherungsprinzips in den Risikogemeinschaften die Höhe der Beiträge eines Mitglieds von dem Grad der Unfallgefahr abhängt“. Auch das Bundessozialgericht erkennt in einer homogenen Tarifstellenbildung eine besondere Ausprägung des Versicherungsgedankens: „Darin liegt kein Widerspruch zu dem auch in der gesetzlichen Unfallversicherung beherrschenden Grundsatz der gemeinsamen Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit. Dieser Grundsatz – das sog. Versicherungsprinzip – erfordert einen Ausgleich der unterschiedlichen Belastungen, die sich aus einer Verwirklichung der Versicherungsgefahr ergeben; er setzt jedoch für jede Gefahrengemeinschaft eine Homogenität der Risiken voraus. Die Bildung von Gefahrklassen gilt der Herstellung einer solchen Homogenität; sie steht also im Einklang mit dem Versicherungsprinzip. Soweit der Gesetzgeber im Bereich der Sozialversicherung auf eine Homogenität der Risiken verzichtet, weicht er vom Versicherungsprinzip ab, indem er den versicherungsmäßigen Risikoausgleich mit einem sozialen Ausgleich verbindet“ 257. Zwar lässt sich folglich schließen, dass bei der Bildung von heterogenen Tarifstellen und der Einteilung der Gefahrklassen ein gewisser sozialer Ausgleich unter den einzelnen Unternehmen innerhalb eines Gewerbezweiges stattfinden kann, zumindest dann, wenn man das Entgeltniveau eines Unternehmens als Gradmesser für seine Leistungsfähigkeit ansieht. Hierbei handelt es sich jedoch um einen Effekt, der zum einen nicht zwingend regelmäßig auftritt, zum anderen aber insbesondere nicht Ziel der Tarifstellenbildung ist. Gesetzliche Vorgabe ist gemäß § 157 Abs. 3 SGB VII klar der versicherungsmäßige Risikoausgleich. Zweck des Gefahrtarifs ist nach verbreiteter Ansicht, die in einer Berufsgenossenschaft zusammengeschlossenen Unternehmen nach dem ihnen innewohnenden Risiko zu berücksichtigen und für eine gerechte Verteilung der Lasten nach der Unfallgefährlichkeit zu sorgen 258. Eine gerechte Verteilung wird in diesem Zusammenhang verstanden als an das Leistungsrisiko anknüpfend und meint gerade keinen Ausgleich nach sozialen Gesichtspunkten. Dafür spricht auch, dass nach einhelliger Meinung 259 bei erheblich bzw. signifikant abweichendem Risiko eines einzelnen Unternehmens eine Einstufung in eine andere Gefahrklasse notwendig werden kann. Werden zudem in einer Tarifstelle verschiedene Gewerbezweige 256 Gitter, Die Festsetzung von Gefahrtarifen in der gesetzlichen Unfallversicherung im Hinblick auf den Fußballsport, NZS 1996, S. 247, 250. 257 BSG Breithaupt 1974, 581, 583 f. 258 Gitter, Die Festsetzung von Gefahrtarifen in der gesetzlichen Unfallversicherung im Hinblick auf den Fußballsport, NZS 1996, S. 247, 248; Platz, in: Lauterbach, Unfallversicherung, SGB VII, Kommentar, § 157 Rn. 4; BVerfG SozR 2200 § 734 Nr. 2 S. 5 f. 259 BSGE 27, 237, 242; Kater / Leube, Unfallversicherung SGB VII, § 157 Rn. 19 mwN.

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

zusammengefasst, so darf die individuelle Belastungsziffer der Gewerbezweige nicht signifikant von der Belastungsziffer der Tarifstelle abweichen 260. Das Risiko ist also für den Bereich der Gefahrklassenbildung und für die Zuordnung einzelner Unternehmen das entscheidende Kriterium 261. (3) Festlegung des Beobachtungszeitraums Ein sozialer Ausgleich als Form des intertemporären Ausgleichs kann erreicht werden durch eine bestimmte Festlegung des Beobachtungszeitraums, der für die Beitragsfestsetzung maßgeblich sein soll. Um die Gefahrklassen zu ermitteln, muss die einzelne Berufsgenossenschaft festlegen, auf welchen Beobachtungszeitraum sie sich im Hinblick auf die innerhalb der Tarifstelle anfallenden Lasten und die Entgeltsumme bezieht. Eine gesetzliche Vorgabe existiert insoweit nicht. Außerdem ist sie frei in der Festlegung, nur sogenannte Neulasten in die Bewertung einzustellen, also ausschließlich Leistungen für Versicherungsfälle, die sich im Beobachtungszeitraum ereignet haben 262. Voraussetzung ist aber, dass das Verfahren für alle Tarifstellen einheitlich ist 263. Werden hingegen auch Entschädigungslasten aus Versicherungsfällen aus der Zeit vor dem Beobachtungszeitraum (sog. Altlasten, etwa Rentenzahlungen, deren Anspruchsgrund in einem Jahre zurückliegenden Versicherungsfall liegt), ergibt sich eine höhere Belastungsziffer, da sich innerhalb des Quotienten der Dividend Entschädigungslast erhöht. In der Praxis werden die Belastungsziffern überwiegend nur aus neueren Lasten und nicht aus den gesamten Entschädigungsleistungen im Beobachtungszeitraum ermittelt. Nicht beachtet werden zudem Lasten aus gelöschten Unternehmen, nicht übergangsfähige Unfalllasten, Entschädigungsleistungen aus erloschenen Gewerbezweigen und Entschädigungsausgaben für Berufskrankheiten mit extrem langen Latenzzeiten 264. Daraus ergibt sich folgendes: Tarifstellen mit einem im Vergleich zu anderen Tarifstellen innerhalb der Berufsgenossenschaf überproportional hohen Anteil an Altlasten werden durch die Entscheidung, nur Neulasten in die Berechnung einzustellen, begünstigt. Anderenfalls ergäbe sich für diese Tarifstellen eine höhere Gefahrklasse und mithin gemäß § 153 Abs. 1 SGB VII ein höherer Beitrag. Die Altlasten tragen aber gleichwohl zum Finanzbedarf der Berufsgenossenschaft 260

Freischmidt, in: Hauck / Noftz, Sozialgesetzbuch, Gesamtkommentar. SGB VII, § 157 Rn. 11. 261 Der Begriff „Gefahrenklassen“ findet daher bezeichnenderweise Eingang in die Erläuterung von Wannagat, auf welche Weise in der Versicherung die Prämien festgesetzt werden; Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 3. 262 Anders Leube, in: Kater / Leube, Gesetzliche Unfallversicherung SGB VII, § 157 Rn. 16 mit Verweis auf BSGE 43, 289, 291: Maßgebend sei das Gesamtlastverfahren; in dem genannten Urteil legt sich das BSG indes nicht fest, sondern spricht nur von der Möglichkeit der BG („könnte“), die gesamte Last zu berücksichtigen. 263 Ricke, in: Kasseler Kommentar, § 157 SGB VII, Rn. 16. 264 Bigge in: Wannagat, Sozialgesetzbuch, Kommentar, SGB VII § 157, Rn. 28 f.

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bei. Da dieser im Wege der Umlage von allen Versicherten getragen wird, sich tarifstellenspezifische Kosten durch Altlasten aber nicht in der Beitragsgestaltung widerspiegeln, finden sich hier Elemente des sozialen Ausgleichs. Dabei muss jedoch in Erinnerung bleiben, dass die Beschränkung auf die Neulast für die zur Veranlagung gebrachten Lasten nicht gesetzlich vorgegeben ist. Sie wird von den Berufsgenossenschaften innerhalb der ihnen eingeräumten Gestaltungsfreiheit beschlossen und bleibt disponibel. (4) Versicherung der Wie-Beschäftigten Gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII sind in der gesetzlichen Unfallversicherung Personen versichert, die wie Beschäftigte tätig sind. Diese Vorschrift ermöglicht einen lückenlosen Schutz für fremdnützig Tätige insofern, als es durch sie gerade nicht auf das Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses ankommt. Dieser Gesichtspunkt des umfänglichen Schutzes ist zwar zuvörderst in Zusammenhang mit der Leistungs- bzw. Versichertenebene zu sehen. Ein Element des Ausgleichs kommt jedoch auch für die Beitragsebene in Betracht, weil jeder Begünstigung eine Belastung gegenüber steht. Die arbeitnehmerähnlich Beschäftigten, die gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII kraft Gesetzes in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert sind, erhalten im Versicherungsfall Leistungen von der Berufsgenossenschaft, bei der sie versichert sind. Die Zuständigkeit der Berufsgenossenschaften richtet sich gemäß § 133 Abs. 1 SGB VII nach der Zuständigkeit für das Unternehmen, für das die Versicherten tätig sind. Wenn nun ein sogenannter Wie-Beschäftigter im Versicherungsfall Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung erhält, trägt diese Lasten die zuständige Berufsgenossenschaft, also im Wege der Umlage die Gesamtheit ihrer Mitgliedsunternehmen. Mitunter steht diesen Leistungen an den Wie-Beschäftigten jedoch kein eigener Beitrag des Unternehmers für diesen arbeitnehmerähnlich Beschäftigten gegenüber. Zwar bestätigt § 150 Abs. 1 SGB VII die schon früher geltende Rechtslage, dass grundsätzlich auch für Wie-Beschäftigte Beiträge zu entrichten sind 265. Weil aber regelmäßig einmalige, kurzdauernde und unentgeltliche Tätigkeit 266 sich nicht in der Lohnsumme des Unternehmens wieder findet, kann sie nicht in die Beitragsberechnung einfließen. Der Vorteil dieser Tätigkeit kommt also dem Unternehmen zu, das dafür jedoch keinen höheren Beitrag an die Berufsgenossenschaft zahlt, so dass das Versicherungsrisiko die Gesamtheit der beitragszahlenden Unternehmer trägt 267. Hierin liegt ein gewisser 265

Leube, in: Kater / Leube, Gesetzliche Unfallversicherung, § 150 Rn. 6. Muckel, Sozialrecht, § 10 Rn. 29. 267 Die Berufsgenossenschaften können dieses Problem beheben, indem sie gemäß § 153 Abs. 3 SGB VII kraft Satzung den Mindestjahresarbeitsverdienst gemäß § 85 Abs. 1 SGB VII als Berechnungsgrundlage bestimmen. 266

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

Ausgleich, wobei jedoch zweifelhaft ist, ob es sich um einen sozialen Ausgleich handelt. Der geschilderte Vorteil kommt Unternehmen zugute, für die Personen wie Beschäftigte tätig werden, ohne dass damit etwas über die Leistungsfähigkeit des Unternehmens ausgesagt wäre. Die Leistungsfähigkeit spielt für diesen Regelungsbereich überhaupt keine Rolle, so dass ohne weiteres auch besonders leistungsstarke Unternehmen davon profitieren. Ein soziales Regulativ existiert insofern nicht. Der ausufernde Versicherungsschutz 268 der Wie-Beschäftigten und in der Folge auch die Begünstigung nichtversicherter Unternehmer ist zumindest auf der Beitragsebene mithin nicht durch einen avisierten sozialen Ausgleich zu rechtfertigen. Gegen die Verlagerung dieses speziellen Risikos auf die Berufsgenossenschaften wird zudem der Vorwurf erhoben, sie sei versicherungsfremde Leistung und daher gerechter durch Steuermittel zu finanzieren 269. Der Begriff der versicherungsfremden Leistung wird synonym zum dem der Fremdlast gebraucht und begegnet schon insofern als juristischer Begriff erheblichen Bedenken 270. Ob sich jedoch hinter der Versicherung der Wie-Beschäftigten eine Leistung verbirgt, die – in Vermeidung des Begriffs versicherungsfremd: – nicht zum überkommenen, originären, gewissermaßen typischen Umfang der gesetzlichen Unfallversicherung gehört und daher unter Umständen einer besonderen Rechtfertigung bedarf, mag insofern dahinstehen, als die Rechtfertigung zumindest nicht in einem hier interessierenden sozialen Ausgleich auf der Beitragsebene zu finden sein wird. Diese Frage zu untersuchen, würde zudem den abgesteckten Rahmen dieser Untersuchung erheblich überschreiten. (5) Wegeunfälle Als „Reservat des Solidarprinzips“ 271 gilt die Versicherung des Wegeunfalls gemäß § 8 Abs. 2 SGB VII. Danach sind auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit versicherte Tätigkeiten, so dass Unfälle auf diesen Wegen ebenfalls versichert sind. Die Rechtsprechung hat zu den Voraussetzungen des versicherten Weges eine umfangreiche Kasuistik entwickelt 272. Eine Ausprägung 268

Gitter, Die gesetzliche Unfallversicherung nach der Einordnung ins Sozialgesetzbuch – ein Versicherungszweig ohne Reformbedarf?, BB-Beil. 6/1998, S. 1, 4; jedoch für Wie-Beschäftigte bei nicht gewerbsmäßigen Haltern von Fahrzeugen oder Reittieren mittlerweile gemäß § 128 Abs. 1 Nr. 9 SGB VII zulasten der Landesunfallkassen. 269 Römer, Reform der gesetzlichen Unfallversicherung, S. 32 ff. 270 Siehe statt vieler die Habilitationsschrift von Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, darin etwa S. 31 ff. und 78 ff. 271 Papier / Möller, Die Rolle des Solidarausgleichs in der gesetzlichen Unfallversicherung, NZS 1998, S. 353, 359. 272 Vgl. die vielfältigen Beispiele bei Bley / Kreikebohm / Marschner, Sozialrecht, Rn. 593 ff.

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des Solidarprinzips soll die Versicherung des Wegeunfalls deshalb darstellen, weil die Wegeunfälle nicht mit in die Beitragsberechnung einfließen, diese also insofern unabhängig vom konkreten Risiko Wegeunfall bleibt – die risikounabhängige Beitragsgestaltung nun ist gerade ein Indiz für den sozialen Ausgleich. Aus dem gleichen Ansatz ergibt sich anders gewendet der größte Vorwurf gegen die Einbeziehung des Wegeunfalls: Es bestehe kein innerer Zusammenhang des Wegeunfalls mit dem betrieblichen Unfallrisiko, daher komme es zu einem Schadensausgleich zu Lasten der Unternehmer, für den der einzelne zivilrechtlich nicht haftbar gemacht werden könnte, das führe insgesamt zu einem Widerspruch zum Prinzip der Gefährdungshaftung 273. Jedoch ist hier methodisch zu trennen: Der Vorwurf, der auf die Abkehr von der Gefährdungshaftung abstellt, spricht die grundsätzliche Legitimation der Versicherung des Wegeunfalls an. Die risikounabhängige Versicherung kann aber – ihre Legitimation unterstellt – Ausprägung des sozialen Ausgleichs sein, der seinerseits in seiner Funktion gerade das Versicherungsmäßige zurückdrängt. Die Einbeziehung des Wegeunfalls in die gesetzliche Unfallversicherung muss also in einem ersten Schritt legitimiert werden. Der zweite Schritt widmet sich dann der Untersuchung ihrer sozial ausgleichenden Funktion und der Frage, auf welcher Ebene dieser bejahendenfalls stattfindet. Für die Legitimation der gesetzlichen Unfallversicherung lassen sich schlagwortartig die Begriffe Haftungsersetzung (zugunsten der Unternehmer) und soziales Schutzprinzip (zugunsten der Arbeitnehmer) nennen, die auch in Betracht kommen, um die Versicherung des Wegeunfalls zu rechtfertigen. Das Prinzip der Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz kann jedoch als Argument nicht tragen, weil es an einem durch den Unternehmer beherrschbaren Risiko fehlt: Weil er zivilrechtlich weder nach den Grundsätzen der Gefährdungshaftung noch nach denen der Risikohaftung bei Tätigwerden im fremden Interesse haftbar gemacht werden könnte 274, besteht schon kein Bedürfnis, dieses Risiko im Wege einer Zwangsversicherung abzusichern. Nach Gitter ist die Versicherung des Wegeunfalls in der gesetzlichen Unfallversicherung auch nicht mit dem sozialen Schutzprinzip zu rechtfertigen, weil der soziale Schutz auch dadurch erreicht werde, dass nach einem Wegeunfall im Krankheitsfall die gesetzliche Krankenversicherung und im Berufsunfähigkeitsfall die gesetzliche Rentenversicherung eingreifen könnte 275. Nach dieser Argumentation wäre indes das gesamte System der gesetzlichen Unfallversicherung hinfällig: Krankheiten und Unfallfolgen könnten ohne Ansehung der Ursache immer durch 273

Römer, Reform der gesetzlichen Unfallversicherung, S. 30 ff. Gitter, Die Rolle des Solidarausgleichs in der gesetzlichen Unfallversicherung, BBBeil. 6/1998, S. 1, 6. 275 Gitter, Die Rolle des Solidarausgleichs in der gesetzlichen Unfallversicherung, BBBeil. 6/1998, S. 1, 6. 274

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

die gesetzliche Krankenkasse aufgefangen werden. Berufsunfähigkeit vor Erreichen der rentenrechtlichen Altersgrenze ergäbe dasselbe Problem unabhängig davon, ob der Unfall im Betrieb oder auf dem Weg dorthin eintritt. Als eigentlich innerer Zweck der gesetzlichen Unfallversicherung muss aber das soziale Schutzprinzip auch die Einbeziehung des Wegeunfalls dem Grunde nach rechtfertigen. Zu Recht hat wiederum Gitter andere Argumente als zu leicht und letztlich hinfällig befunden 276. Unzweifelhaft ist, dass eine Absicherung von Arbeitnehmern und ihren Angehörigen vor den Folgen eines Wegeunfalls geeignet ist, den sozialen Schutz auszuprägen: Das Risiko, im Straßenverkehr einen Unfall zu erleiden, der die Erwerbsfähigkeit einschränkt oder zerstört, ist zum einen ein relevantes und den „Wechselfällen des Lebens“ zuzurechnen, vor denen die Sozialversicherung insgesamt schützen will. Zum anderen sind Arbeitnehmer insofern spezifisch von diesem Risiko betroffen, als sie jedenfalls Teil des öffentlichen Straßenverkehrs werden müssen, um den Ort der Beschäftigung zu erreichen und ihn umgekehrt auch wieder zu verlassen. Hinter dieser Verknüpfung verbirgt sich auch der Grund für die Übernahme in die gesetzliche Unfallversicherung. Für die Risikoübernahme der Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten durch die in den Berufsgenossenschaften zusammengefassten Unternehmer ist der tragende Grundgedanke, dass derjenige, der den Vorteil eines Geschäfts hat, auch den dabei entstehenden zufälligen Schaden trägt 277. Der Weg des Versicherten zu und von dem Ort der Tätigkeit ist zwar nicht betrieblich veranlasst im Sinne eines Dienstweges 278. Er liegt jedoch gleichwohl ebenfalls im Interesse des Unternehmers, da er zwingende Voraussetzung für das Einbringen der Arbeitskraft des Versicherten ist, dessen unmittelbarer Nutzen dem Unternehmen zugute kommt. Der Weg zu und von dem Ort der Tätigkeit gehört also zur Risikosphäre des Unternehmers, weil er zu dessen privatwirtschaftlichem Vorteil gereicht. Dabei ist unschädlich, dass der Unternehmer selbst keinen Einfluss auf das Risiko hat, denn dies gilt ebenso bei Dienstfahrten im öffentlichen Straßenverkehr während der Tätigkeit, die zweifelsfrei vom Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung erfasst sind. Um den Nachteil auszugleichen, der sich aus dem fehlenden Einfluss auf das Wegeunfallrisiko ergibt, wird gemäß § 162 Abs. 1 Satz 2 SGB VII dieses Risiko nicht in den Beitrag eingerechnet. Darin liegt ein sozialer Ausgleich auf der Beitragsebene: Das Risiko des Wegeunfalls ist vom Unternehmer nicht beherrschbar 276 Etwa das Argument eines Ausgleichs zugunsten der Krankenversicherung oder dasjenige der (vermeintlich) besseren Abgrenzbarkeit; siehe Gitter, Die gesetzliche Unfallversicherung nach der Einordnung ins Sozialgesetzbuch – ein Versicherungszweig ohne Reformbedarf?, BB-Beil. 6/1998, S. 1, 6. 277 Vgl. ausführlich oben II.4.b)bb). 278 Gitter, Die gesetzliche Unfallversicherung nach der Einordnung ins Sozialgesetzbuch – ein Versicherungszweig ohne Reformbedarf?, BB-Beil. 6/1998, S. 1, 6, hält nur die Versicherung dieser speziellen Wegeunfälle für legitim.

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und auch im Wege guter innerbetrieblicher Präventionsarbeit nur sehr eingeschränkt beeinflussbar, so dass es zum einen sachgerecht ist, dieses Risiko nicht in den Beitrag einzustellen. Versicherungstechnisch wäre es jedoch wegen der Umlagefinanzierung möglich, Unternehmen unmittelbar an den Lasten zu beteiligen, die durch Wegeunfälle ihrer Versicherten entstehen, indem der individuelle Beitrag an die eingebrachte Last angepasst würde. Auch in einer kapitalgedeckten (privatrechtlichen) Versicherung könnten Unternehmer an den Lasten „ihrer“ Wegeunfälle zumindest mittelbar beteiligt werden, indem sie einer höheren Prämienstufe zugeordnet würden, nachdem sich das vorher nicht abschätzbare Risiko des Wegeunfalls verwirklicht hat. Darauf zu verzichten, bedeutet einen sozialen Ausgleich zugunsten der Unternehmer, bei denen sich das Risiko des Wegeunfalls überdurchschnittlich realisiert. (6) Zwischenergebnis Zusammenfassend sind auf der Beitragsebene der gewerblichen gesetzlichen Unfallversicherung nur wenige Elemente des sozialen Ausgleichs festzustellen: Ein sozialer Ausgleich findet sich zudem in der Versicherung der Wegeunfälle gemäß § 8 Abs. 2 SGB VII insofern, als die Lasten daraus nicht in die Beitragsberechnung für den einzelnen Unternehmer einfließen und folglich überdurchschnittlich von Wegeunfällen betroffene Unternehmer entlastet werden. Für die anderen soeben geprüften Aspekte der Beitragsgestaltung lässt sich festhalten, dass Elemente des sozialen Ausgleichs zwar vorliegen können. Dies liegt aber entweder – im Falle der Gefahrklassenberechnung nach Neulasten 279 und im neu eingeführten § 153 Abs. 4 SGB VII 280 – in der Gestaltungsfreiheit der Berufsgenossenschaften, ohne dass dies durch eine gesetzliche Pflicht garantiert ist. Oder es resultiert – im Falle der Tarifstellenbildung 281 – allenfalls als faktischer Nebeneffekt aus einer gesetzlich vorgeschriebenen Satzungsgebung, die ihrem eigentlichen Zweck nach gerade auf versicherungstechnischen Risikoausgleich angelegt ist. In beiden Fällen lässt sich schwerlich behaupten, ein Solidarausgleich sei strukturell und vor allem gesetzlich vorgegeben in der Gestaltung der Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung vorgesehen. In seinem Lehrbuch stellt daher Wannagat recht lapidar lediglich in einer Fußnote fest, in der Unfallversicherung liege eine Ausnahme von der ausgleichenden nivellierenden Tendenz genereller Beiträge vor, die Beitragshöhe sei „von dem Risiko – der Gefahrenklasse des Betriebes – abhängig“ 282.

279 280 281 282

Oben (3). Oben (1). Oben (2). Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 28 Fn. 65.

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

bb) Sozialer Ausgleich auf der Leistungsebene Ein sozialer Ausgleich kann dadurch erreicht werden, dass Leistungen aus der Sozialversicherung ohne strikte Abhängigkeit von der Beitragszahlung oder der Höhe des Beitrags gewährt werden 283. In der gesetzlichen Krankenversicherung erhalten alle Versicherten die zur Heilbehandlung und Gesundheitsvorsorge notwendigen Sachleistungen 284, der Beitrag hingegen orientiert sich am Einkommen und wirkt sich nicht auf die Leistungsebene aus. Über § 10 SGB V sind Familienangehörige des Beitragszahlers unter dort näher genannten Voraussetzungen beitragsfrei versichert und haben ebenfalls Ansprüche auf Leistungen aus der Krankenversicherung, die sich allein am Bedarf orientieren. In der gesetzlichen Rentenversicherung werden bestimmte beitragsfreie Zeiten (etwa § 56 SGB VI) für den Rentenanspruch angerechnet. In der gesetzlichen Unfallversicherung bestehen Leistungsansprüche immer unabhängig vom Beitrag. Das ist schon allein der Besonderheit geschuldet, dass Versicherungsverhältnis und Mitgliedschaft auseinander fallen, also Beitragspflicht und Anspruchsberechtigung grundsätzlich 285 nicht auf eine Person entfallen. In der gesetzlichen Unfallversicherung ist also die dem Versicherungsverhältnis eigene Zwei- oder sogar Gegenseitigkeit aufgehoben. Das Bundessozialgericht fasst zusammen, dass „für die Forderung nach Gegenseitigkeit von Leistungen und Beiträgen dort kein Raum (ist), wo der Leistungsempfänger nicht zugleich auch der Beitragsschuldner ist.“ 286 Leistungsansprüche der Versicherten entstehen und existieren in der gesetzlichen Unfallversicherung demnach per se unabhängig vom Beitrag. Ein sozialer Ausgleich zwischen den Versicherten muss also auf andere Weise erreicht werden, als über Entkopplung von Beitrag und Leistung bzw. Leistungsfähigkeit und Bedarf. Dazu ist es notwendig, den Begriff des sozialen Ausgleichs noch einmal vor Augen zu führen. Ziel und Hintergrund des sozialen Ausgleichs ist es, mit Blick auf die Versicherten unterschiedliche Risiken auszugleichen oder – insoweit gültig nicht nur für die Sozialversicherung, sondern das gesamte Sozialrecht – unterschiedliche Lebens- und Einkommenslagen innerhalb der Gesellschaft auszugleichen. Für diesen Ausgleich bedarf es nicht unbedingt einer Umverteilung. Innerhalb der Gruppe der Versicherten wird insofern nicht „um283

Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 17. §§ 11ff. SGB V, darunter etwa § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V: Versicherte haben Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. 285 Ausnahme sind die freiwillige Versicherung der Unternehmer gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII und die Einbeziehung der Unternehmer kraft Satzung gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII. 286 BSG SozR 2200 § 1385 Nr. 12. 284

II. Die gesetzliche Unfallversicherung als Zweig der Sozialversicherung

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verteilt“, als keinem Teil dieser Gruppe ein Beitrag abverlangt wird, um dessen wirtschaftlichen Wert einem anderen ausgleichend zur Verfügung zu stellen. Die Beschäftigten sind potenziell und im Versicherungsfall auch faktisch Empfänger von Leistungen, deren Lasten die Unternehmer tragen: Umverteilung verläuft also von den Unternehmern zu den Beschäftigten, ohne dass man beide Gruppen zu einer Solidargemeinschaft zusammenfassen könnte. Auch die Beschäftigten selbst bilden im Hinblick auf die gesetzliche Unfallversicherung eine Solidargemeinschaft im weiteren Sinne nur insoweit, als sie alle individuell auf ihre Erwerbsfähigkeit als Grundlage der materiellen Existenzsicherung angewiesen sind, dem Risiko des Arbeitsunfalls und der Berufskrankheit als Existenzbedrohung unterliegen und vor diesem durch Versicherung bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften geschützt werden. Ein sozialer Ausgleich ist also durch den Ausgleich sozialer Risiken allein bezogen auf die Leistungsebene zu realisieren. (1) Mindest- und Höchstrenten Ein sozialer Ausgleich verstanden als Ausgleich unterschiedlicher sozialer Risiken kann in der gesetzlichen Unfallversicherung dadurch erzielt werden, dass Geldleistungen im Rahmen von Mindest- und Höchstjahresarbeitsverdienstgrenzen gemäß § 85 SGB VII berechnet werden. Bei der Berechnung von Geldleistungen, insbesondere bei den Renten an Versicherte und Hinterbliebene, ist der Jahresarbeitsverdienst des Versicherten die Bezugsgröße. Für dessen Bestimmung gelten die Regelungen der §§ 81 ff. SGB VII. Durch § 85 SGB VII werden Mindestund Höchstbeträge für den Jahresarbeitsverdienst festgelegt, die an die sozialversicherungsrechtliche Bezugsgröße (§ 18 SGB IV) anknüpft 287. Gemäß § 85 Abs. 2 Satz 2 SGB VII kann die Satzung der Berufsgenossenschaft eine höhere Obergrenze festlegen 288. Mindest- und Höchstgrenze dienen dem Zweck, unangemessen niedrige und hohe Leistungen zu vermeiden 289. Dies ist für die Untergrenze besonders stark ausgestaltet, weil ein Abweichen durch Satzung nicht möglich ist. Die Vorschrift garantiert Versicherten mit niedrigem oder gar ohne Jahresarbeitsverdienst im Bezugszeitraum einen Durchschnittsjahresarbeitsverdienst als Minimum und damit einen Mindestlebensstandard, wenn der Versicherungsfall eintritt 290. Die Festlegung von Mindest- und Höchstjahresarbeitsverdiensten sei, so Rolfs 291, „zumindest in Grenzbereichen ein einkommensbezogener Solidarausgleich“. 287

Für das Jahr 2006 betrug die Bezugsgröße 29.400 € jährlich bzw. 2.450 € monatlich. Von den meisten Berufsgenossenschaften wird die Möglichkeit in Anspruch genommen, vgl. etwa § 35 Abs. 2 der Satzung der Holz-Berufsgenossenschaft vom 1. Januar 2006 (63.000 €) oder § 35 Abs. 2 der Satzung der Berufsgenossenschaft Metall-Süd (72.000 €). 289 Keller, in: Hauck, Sozialgesetzbuch VII, § 85 Rn. 1. 290 Mehrtens, in: Bereiter-Hahn, Gesetzliche Unfallversicherung, § 85 Rn. 2 f.; Benz, in: Wannagat, Sozialgesetzbuch, Kommentar, Gesetzliche Unfallversicherung, § 85, Rn. 3 f. 291 Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000, S. 208. 288

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

Auch das Bundessozialgericht hebt in seinem Urteil zur Europarechtskonformität des Unfallversicherungsmonopols vom 11. 11. 2003 292 auf diesen Umstand ab: „Die Proportionalität von Beitrag und Leistung wird dadurch eingeschränkt, dass für die Beitragserhebung das gesamte Arbeitsentgelt bis zur Grenze des Höchstjahresarbeitsverdienstes herangezogen wird (§ 153 Abs. 1 und 2 SGB VII), während für die Bemessung der Geldleistungen des Versicherungsträgers eine Entgeltuntergrenze in Gestalt des Mindestjahresarbeitsverdienstes festgelegt ist (§ 85 Abs. 1 SGB VII iVm § 18 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch – SGB IV -). Durch die Anknüpfung an eine ( . . . ) Mindestarbeitsentgeltgrenze kommt es im Ergebnis zu einer Umverteilung zwischen Beziehern hoher und niedriger Einkommen und so zu einem Solidarausgleich, der für Geringverdiener von erheblicher Bedeutung ist, weil sie einen vergleichbaren Versicherungsschutz von einem privaten Versicherungsunternehmen nur mit Unterstützung des Staates erlangen könnten.“ 293 Dass das Gericht, um „Elemente der Solidarität“ zu belegen, auf eine eingeschränkte Proportionalität von Beitrag und Leistung verweist, muss verwundern, da im System der gesetzlichen Unfallversicherung Beitrag und Leistung ohnehin allenfalls in einem sehr mittelbaren Verhältnis stehen, nämlich lediglich insofern, als zur Berechnung beider an die Entgelte der Versicherten angeknüpft wird. Der Umstand, dass nur für die Leistungshöhe ein Mindestjahresarbeitsverdienst zugrundegelegt wird, für die Beitragsberechnung jedoch nicht, kann deshalb kein Ausdruck für Solidarität sein, weil jeweils zwei klar voneinander abgegrenzte Gruppen betroffen sind und nicht einmal potenziell Begünstigung und Belastung wechseln können. Der zweite Gedanke des Bundessozialgerichts erweist sich jedoch im Ergebnis als tragfähig, was den sozialen Ausgleich betrifft. Die Herleitung ist jedoch problematisch: Durch Anknüpfung an eine Mindestarbeitsentgeltgrenze komme es zu einer Umverteilung zwischen Beziehern hoher und niedriger Einkommen 294. Der Begriff Umverteilung kann aus den eingangs dargestellten Erwägungen nicht tragen. Ein Mindestjahresarbeitsverdienst führt aber zu einem Ausgleich eines gewissermaßen doppelten Risikos bei Versichertem mit geringem oder ohne Einkommen im Bezugszeitraum: Sie unterliegen neben dem Risiko des Versicherungsfalls und des daraus resultierenden (teilweisen) Verlustes der Erwerbsfähigkeit zusätzlich dem, im Bezugszeitraum geringes oder kein Einkommen erzielt zu haben und folglich auch – ohne Mindestentgeltgrenze – eine geringe oder keine Rente zu erzielen. Hierin liegt der Unterschied zwischen Primärrisiko (dem eigentlichen Versicherungsfall) und dem Sekundärrisiko (das nicht, nicht allein oder nicht unmittelbar ein Versicherungsfall ist und dementsprechend nicht geeignet, Versicherungsleistungen auszulösen) 295: In der Unfallversicherung stellt demnach der 292 293 294 295

BSGE 91, 263. BSGE 91, 263, 267. BSGE 91, 263, 267. Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 208.

II. Die gesetzliche Unfallversicherung als Zweig der Sozialversicherung

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Arbeitsunfall bzw. die Berufskrankheit das Primärrisiko dar, das Sekundärrisiko ergibt sich aus einem geringen Einkommen im Bezugszeitraum, das sich auf den Jahresarbeitsverdienst auswirkt. In der Übernahme auch solcher Sekundärrisiken, so Rolfs 296, drücke sich der Solidarausgleich aus: „Solidarausgleich zeichnet sich in allen Zweigen dadurch aus, dass er innerhalb der Solidargemeinschaft der Versicherten stattfindet und entweder in der ( . . . ) Beitragsberechnung seinen Ausdruck findet oder die ihn kennzeichnenden Tatbestände so gestaltet sind, dass sie nach Struktur und Inhalt selbst einen Versicherungsfall darstellen können“. Wegen der Zuweisung der Beitragslast allein an die Arbeitgeber stellt also die Übernahme von sogenannten Sekundärrisiken ein Element des sozialen Ausgleichs auf der Leistungsebene dar. Das wird dadurch unterstrichen, dass durch die Festlegung eines Mindestjahresarbeitsverdienstes auch ein Wesenzug der Sozialversicherung verwirklicht wird, namentlich der Verzicht einer individuellen Risikoprüfung. Allerdings begegnet auch hier der Begriff der Solidargemeinschaft der Versicherten Bedenken, da mangels Lastentragung durch die Versicherten kein Einstehen der Beschäftigten untereinander zu erkennen ist. Aus demselben Grund ist die Formulierung des Bundessozialgerichts fragwürdig, es komme zu einer Umverteilung – schließlich wird keinem Versicherten eine eigene (Beitrags-) Leistung abverlangt, die einem anderen zugute käme. Wohl aber sind Elemente einer mittelbaren Umverteilung zu erkennen: Ebenfalls in § 85 SGB VII oder durch Satzung der Berufsgenossenschaft wird eine Höchstjahresarbeitsverdienstgrenze festgelegt, durch die die Leistungen an Bezieher überdurchschnittlich hoher Einkommen begrenzt werden. Sie erhalten also weniger, als ihnen nach der Grundsystematik einer Rentenzahlung, die exakt abhängig wäre vom individuellen Jahresarbeitsverdienst, zustehen könnte. Zweck der Regelung ist es, unangemessen hohe Leistungen zu vermeiden 297. Wenn auch der Begriff der Angemessenheit ausfüllungsbedürftig ist, so steht hinter der Regelung auch der pragmatische Zweck, die Berufsgenossenschaften vor „unangemessen“ hohen Lasten zu schützen, um ihre Funktionsfähigkeit zu bewahren. Von einem funktionsfähigen System gesetzliche Unfallversicherung profitieren in der Folge auch diejenigen Versicherten mit niedrigen Einkommen, weil dadurch eine Absicherung der Sekundärrisiken möglich ist. (2) Leistungen an Hinterbliebene Gemäß §§ 63 ff. SGB VII haben Hinterbliebene im Falle des Todes eines Versicherten Ansprüche auf Renten und Beihilfen. Diese sind Unterhaltsersatzleistungen für Witwen, Waisen und andere, in § 69 Abs. 1 SGB VII näher bezeichnete Verwandte und erwachsen aus Ansprüchen aus eigenem Recht 298, also nicht aus 296 297 298

Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 208. Keller, in: Hauck, Sozialgesetzbuch VII, § 85 Rn. 1. Ricke, in: Kasseler Kommentar Band 2, § 65 SGB VII, Rn. 2.

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vom Versicherten abgeleiteten Ansprüchen. Die Beihilfe gemäß § 71 SGB VII stellt wie Sterbegeld und Ersatz der Überführungskosten eine Einmalleistung dar. Sie wird dann gewährt, wenn der Tod des Versicherten kein Versicherungsfall war, der Versicherte seinerseits aber schon einen Rentenanspruch wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50 Prozent hatte. Ein soziales Schutzziel wird durch die Leistungen an Hinterbliebene insofern verfolgt, als Nicht-Versicherte bei Tod des Versicherten, gegen den sie Unterhaltsansprüche haben, nicht unversorgt bleiben. Dieses Konzept ist vergleichbar mit dem der gesetzlichen Rentenversicherung: Hier wird ein erheblicher Teil der Leistungen auf die Hinterbliebenenrente verwandt, die als „vorwiegend fürsorgerisch motiviert“ 299 gelten, weil diesen Leistungen keine eigenen Beiträge gegenüberstehen und auch hier der Unterhaltsausfall des Versicherten abgesichert wird. Insofern könnte auch in diesem Fall von einem mitversicherten Sekundärrisiko gesprochen werden, dem in diesem Fall jedoch nicht der Versicherte selbst, sondern die von ihm finanziell abhängigen Angehörigen unterliegen. In der gesetzlichen Rentenversicherung stellt jedoch auch der Tod des Versicherten gemäß § 33 Abs. 1 SGB VI einen Versicherungsfall dar. Das Risiko der Angehörigen, durch Tod des Versicherten den Unterhalt zu verlieren, ist also eines von mehreren primär abgesicherten Risiken in der gesetzlichen Rentenversicherung. Das ist in der gesetzlichen Unfallversicherung anders: Versicherungsfälle sind gemäß § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Versichertes Risiko ist der Verlust oder die Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Eintritt des Versicherungsfalls. Der Verlust des Unterhalts durch Tod des Versicherten hingegen ist nicht unmittelbar versichert, sondern kann wegen der Regelungen zur Hinterbliebenenversorgung als ebenfalls abgesichertes Sekundärrisiko bezeichnet werden, durch das sich ein sozialer Ausgleich verwirklicht. Teilweise wird die Sicherung der Familien als wesentliches, wenn nicht gar einziges Element des sozialen Ausgleichs in der Unfallversicherung gesehen 300. Zum Teil werden die Leistungen an Hinterbliebene als versicherungsfremde Leistungen bezeichnet, weil es zu keinem Ausgleich innerhalb der Versichertengemeinschaft komme 301. Gegen den Begriff der versicherungsfremden Leistungen werden jedoch Bedenken formuliert, die sich in aller Kürze dahingehend zusammen fassen, dass durch den Begriff auch Elemente erfasst würden, die den sozialen Ausgleich und damit das Wesen der Sozialversicherung ausmachen 302. Verstanden als Leistungen, denen keine entsprechenden Beiträge gegenüberstehen, müssten nahezu alle Leistungen des sozialen Ausgleichs als sogenannte Fremd299

Waltermann, Sozialrecht, Rn. 332. Rüfner, Sozialrecht, S. 138; auch Muckel, Sozialrecht, § 7 Rn. 7, sieht in den Leistungen an Hinterbliebene das Solidarprinzip verwirklicht. 301 Waltermann, Sozialrecht, Rn. 332. 302 Fuchs / Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 69 f. 300

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last zu qualifizieren sein. Dürften Leistungen nur einem entsprechenden Beitrag angemessen gewährt werden, verlöre die Versicherung das soziale Gepräge. Dem Begriff der versicherungsfremden Leistung wird daher an dieser Stelle nicht weiter nachgespürt 303. Für die gesetzliche Unfallversicherung ist ohnehin die Eigenart zu bedenken, dass Leistungsgewährung und Lastentragung unabhängig voneinander gestaltet sind und voneinander abgegrenzte Gruppen betreffen. Schon deshalb kann es, wie gezeigt 304, auf der Leistungsebene nicht unmittelbar zu einem Ausgleich „innerhalb einer Gemeinschaft“ kommen. Im Hinblick auf die Absicherung der Hinterbliebenen existieren zudem drei Gruppen: Die Unternehmer als Beitragszahler, die Beschäftigten als Versicherte und die Angehörigen der Versicherten, die lediglich im Todesfall des Versicherten als Anspruchsinhaber einen rechtlichen Bezug zur Unfallversicherung erhalten. Während für die Gruppe der Beitragszahler der Begriff der Gemeinschaft – zum Teil als Gefahren-, besser jedoch als Risikogemeinschaft bezeichnet – zutreffend ist und sich für die Definition der Beschäftigtengruppe als Gemeinschaft zumindest die bezeichneten Schwierigkeiten ergeben, ist die Zusammenfassung der Hinterbliebenen als „Gemeinschaft“ schlechterdings nicht möglich. Daher geht auch in diesem Fall die Forderung ins Leere, ein sozialer Ausgleich könne nur durch Umverteilung innerhalb einer Gemeinschaft erreicht werden. Verstanden als Ausgleich schlechterer Bedingungen für ein eigenverantwortliches, selbstbestimmtes Leben auf sicherer wirtschaftlicher Grundlage, wird ein sozialer Ausgleich durch die Hinterbliebenenrenten in der gesetzlichen Unfallversicherung sehr wohl erreicht: Im Falle des Todes eines Versicherten bleiben dessen Angehörigen nicht unversorgt. Zu beachten ist jedoch, dass die Leistungen an Hinterbliebene gemäß § 70 Abs. 1 SGB VII zusammengerechnet auf einen Höchstbetrag begrenzt sind, der maximal 80 Prozent des Jahresarbeitsverdienstes erreichen kann. Die Diskussion darum, ob diese Leistungen besser oder gar „richtiger“ gesamtgesellschaftlich zu tragen wären, etwa in einem steuerfinanzierten System oder durch Heranziehung von Beiträgen, die nicht allein lohnabhängig sind, ist eine politische. Bis dato ist diese politische Frage zugunsten – oder finanziell zulasten – der Sozialversicherungsträger entschieden worden. Dies ist auch juristisch vertretbar, da es sich aus der Nähe 305 der abgesicherten Sekundärrisiken zum eigentlichen Versicherungsfall begründen lässt. Diese Entscheidung unterliegt indes keiner Bestandsgarantie. In der Vergangenheit waren es zumeist Gründe der Finanzierung, die für oder gegen die Lastentragung durch die Sozialversicherungen sprachen. Veränderungen in der Finanzierungsbasis lösen folglich in der 303

Umfassend dazu Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 31 ff. Soeben (1). 305 Das Näheverhältnis zeigt sich auch darin, dass Leistungen bei eingetretenem Sekundärrisiko nicht höher sind als bei Eintritt des Primärrisikos (§ 70 Abs. 1 SGB VII). 304

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

Regel Debatten aus über ein „Umdenken“: Während in der Kranken- und Rentenversicherung nach Wegen gesucht wurde und wird, die Lasten zu minimieren und die Finanzierung auf eine breitere Basis zu stellen, gilt die gesetzliche Unfallversicherung als vergleichsweise finanzstark und fähig, eher mehr als weniger Lasten zu tragen. Eine Abkehr von der Hinterbliebenenversorgung aus Mitteln der gesetzlichen Unfallversicherung steht daher in nächster Zeit nicht zu erwarten. (3) Funktion der Rente Auch die Renten an Versicherte könnten eine sozial ausgleichende Funktion übernehmen. Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls um mindestens 20 Prozent gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Zwar ist hier in erster Linie der Anspruch auf Entgeltersatzleistung infolge eines Versicherungsfalls normiert und mithin die unmittelbare Absicherung des in der gesetzlichen Unfallversicherung versicherten Primärrisikos. Durch die abstrakte Berechnung der Renten und das mögliche Zusammentreffen mit Erwerbseinkommen ergibt sich häufig jedoch eine Diskrepanz zwischen Erwerbsschaden und Rente, die häufig höher liegt und so wie eine Entschädigung für immaterielle Schäden wirkt, etwa vergleichbar mit zivilrechtlichem Schmerzensgeld. Für sich genommen deutet die abstrakte Berechnung der Rente gemäß § 56 Abs. 2 und 3 SGB VII darauf hin, dass mit der Rente allein der Ersatz des wirtschaftlichen Schadens 306, namentlich der Lohneinbuße bezweckt wird. Der Blick in die Praxis vermittelt jedoch ein anderes Bild: Mittlerweile existieren gesetzliche und tarifvertragliche Regelung, die darauf abzielen, Arbeitnehmern auch nach einem Unfall den Arbeitsplatz zu erhalten, eine verbesserte Rehabilitation ermöglicht auch gesundheitlich öfter als früher eine Weiterbeschäftigung, auch eine bessere Arbeitsplatzvermittlung führt selbst im Falle kurzzeitigen Arbeitsplatzverlustes dazu, dass häufig auch nach einem Unfall die Beschäftigung nicht verloren geht. In der Folge trifft die Verletztenrente auf Erwerbseinkommen, das seinerseits zumindest bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von unter 50 Prozent keinen Einbußen unterliegt 307. Somit ist in diesen Fällen der Versicherte finanziell besser gestellt als vor dem Versicherungsfall und auch besser als bei Ersatz des allein materiellen Schadens. Das Mehr an finanziellen Mitteln kann daher als Ersatz eines immateriellen Schadens verstanden werden. Auch das Bundesverfassungsgericht erkennt in diesen Fällen einen Ausgleich von NichtVermögensschäden 308, so dass die Verletztenrente eine neue, zusätzliche Funktion 306

Gitter / Nunius, HS-UV, § 5 Rn. 163. Gitter, Die gesetzliche Unfallversicherung nach der Einordnung ins Sozialgesetzbuch – ein Versicherungszweig ohne Reformbedarf?, BB-Beil. 6 1998, S. 1, 11; das ergab auch eine Analyse des Hauptverbands der Berufsgenossenschaften aus dem Jahr 1970: In mindestens 90% der Fälle wurde Unfallrente zusätzlich zum gleichen oder höheren Einkommen gewährt. 308 BVerfGE 34, 118, 133. 307

II. Die gesetzliche Unfallversicherung als Zweig der Sozialversicherung

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erhält. Auch die Regelung zur Kumulierung von Renten in § 93 SGB VI drückt den Willen des Gesetzgebers aus, dass der Verletztenrente auch die Funktion des Ausgleichs des immateriellen Schadens zukommen soll 309. Aus diesem Funktionswandel ergibt sich jedoch ein Widerspruch zur Systematik der gesetzlichen Unfallversicherung. Gemäß §§ 104, 105 SGB VII sollen bei Versicherungsfällen andere Ansprüche als diejenigen aus der Unfallversicherung, also insbesondere zivilrechtliche gegen den Schädiger, gerade ausgeschlossen sein. Hintergrund für diesen Haftungsausschluss ist die haftungsersetzende Funktion der Unfallversicherung zugunsten der Unternehmer, deren Haftung sich ansonsten regelmäßig aus den Grundsätzen der Gefährdungshaftung ergeben würde. Ein Schmerzensgeldanspruch jedoch ist nach zivilrechtlicher Vorstellung nur bei einer Verschuldenshaftung vorgesehen. Der Funktionswandel der Verletztenrente lässt sich folglich nicht aus der haftungsersetzenden Funktion, sondern allenfalls aus dem sozialen Schutzzweck der Unfallversicherung erklären 310. Aus dem sozialen Schutzweck kann sich zwar eine Begründung für den Funktionswandel ermitteln lassen. Der Ersatz eines immateriellen Schadens muss aber deshalb noch nicht sozial ausgleichend wirken. Problematisch ist insbesondere, dass die Verletztenrente ihre (zusätzliche) Funktion des Ersatzes immaterieller Schäden in den Fällen erhält, in denen Rente und Erwerbseinkommen zusammentreffen, nicht jedoch in den Fällen einer hundertprozentigen Minderung der Erwerbsfähigkeit bzw. bei Schwerstverletzten, die nicht mehr im Erwerbsleben stehen können. Gerade da wäre ein Ersatz des immateriellen Schadens jedoch angebracht, so dass Gitter zu Recht eine „umgekehrte und deshalb sinnwidrige Proportion“ 311 kritisiert. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Ergebnis gleichwohl akzeptiert 312. Trotzdem ginge es zu weit, hierin Elemente des sozialen Ausgleichs zu sehen: Gerade weil die Schmerzensgeldfunktion nur in Fällen leichter oder mittelschwerer Verletzungen eintritt, gleicht die Verletztenrente gerade nicht eine Situation der Benachteiligung aus. (4) Versicherungsschutz unabhängig von der Beitragszahlung Der Versicherungsschutz in der Sozialversicherung allgemein und in der gesetzlichen Unfallversicherung im besonderen besteht unabhängig von der Beitragszahlung bzw. Beitragsabführung durch den Arbeitgeber. Der Leistungsanspruch 309 Gitter, Die gesetzliche Unfallversicherung nach der Einordnung ins Sozialgesetzbuch – ein Versicherungszweig ohne Reformbedarf?, BB-Beil. 6 1998, S. 1, 12. 310 Gitter, Die gesetzliche Unfallversicherung nach der Einordnung ins Sozialgesetzbuch – ein Versicherungszweig ohne Reformbedarf?, BB-Beil. 6 1998, S. 1, 11f. 311 Gitter, Die gesetzliche Unfallversicherung nach der Einordnung ins Sozialgesetzbuch – ein Versicherungszweig ohne Reformbedarf?, BB-Beil. 6 1998, S. 1, 12. 312 BVerfGE 34, 118; zur Kritik oben II.4.b)aa)(3).

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

ist allein abhängig vom Entstehen des Versicherungsverhältnisses, das seinerseits an die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung anknüpft 313. Die Unabhängigkeit des Versicherungsschutzes von der Beitragszahlung des Mitglieds stellt auch eine Ausprägung des sozialen Schutzzieles dar. Dieses Mittel ist in der gesetzlichen Unfallversicherung insofern besonders stark ausgeprägt, als schon das Erfüllen des gesetzlichen Tatbestands gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII, Beschäftigter zu sein, ausreicht, einen „Versicherungsautomatismus“ 314 auszulösen. Indem also der Versicherungsschutz von einem Tätigwerden und konstant ordnungsgemäßen Verhalten einer dritten Person (hier: dem Unternehmer) entkoppelt wird, kann ein besonderer Schutz verwirklicht werden. Ein sozialer Ausgleich ist in dieser Regelung aber weder im Sinne einer Umverteilung noch im Sinne eines Ausgleichs sozialer Risiken zu sehen. (5) Leistung unabhängig vom Verschulden Im Sozialrecht insgesamt spielen Verschulden und Mitverschulden grundsätzlich keine Rolle 315. Begründet wird dies durch das soziale Schutzprinzip: So wird vermieden, dass bei (Mit-)Verschulden des Versicherten die Leistungsansprüche für ihn oder seine Angehörigen reduziert werden. Für den Zweig der gesetzlichen Unfallversicherung trägt zudem das Argument des Betriebsfriedens 316, der durch einen ansonsten erforderlichen Verschuldensnachweis etwa über Augenzeugenberichte empfindlich gestört werden könnte. Das soziale Schutzprinzip zu betonen, bedeutet regelmäßig, den Versicherungsgedanken der Sozialversicherung abzuschwächen. Für eine „echte“ Versicherung müsste in der Tat gelten, dass zumindest die absichtliche Herbeiführung eines Versicherungsfalls vom Umfang des abgedeckten Risikos ausgeschlossen ist und somit ein Versicherungsfall nicht vorliegt 317. Das gilt auch für die gesetzliche Unfallversicherung 318, ohne dass dies im Widerspruch zu § 7 Abs. 2 SGB VII darstellt. Dort wird lediglich klargestellt, dass verbotswidriges Handeln einen Versicherungsfall nicht ausschließt, ohne jedoch eine Regelung zu etwaigem Verschulden zu treffen. Relevant für ein Verschulden ist § 101 SGB VII in Bezug auf Leistungen aus der Unfallversicherung. Das vorsätzliche Herbeiführen des Todes des Versicherten schließt gemäß § 101 Abs. 1 SGB VII Leistungsansprüche des Täters aus, während bei Versicherungsfällen infolge eines Verbrechens oder vorsätzlichen Vergehens 313

Eichenhofer, Sozialrecht, Rn. 286. Muckel, Sozialrecht, § 10, Rn. 26. 315 Rüfner, Einführung in das Sozialrecht, S. 62. 316 Gitter, Die gesetzliche Unfallversicherung nach der Einordnung ins Sozialgesetzbuch – ein Versicherungszweig ohne Reformbedarf?, BB-Beil. 6 1998, S. 1, 8. 317 Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, 1992, S. 161. 318 Gitter, Die gesetzliche Unfallversicherung nach der Einordnung ins Sozialgesetzbuch – ein Versicherungszweig ohne Reformbedarf?, BB-Beil. 6 1998, S. 1, 8. 314

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durch den Versicherten gemäß § 101 Abs. 2 Satz 1 SGB VII Leistungen versagt werden können. Nach dem Gesetz ist also nur in diesen eng umrissenen Fällen die Leistung ausgeschlossen, während die übrigen denkbaren Fälle eines (mit-)verschuldet herbeigeführten Versicherungsfalls keine Auswirkung auf die Leistungen haben. Nach Gitter ist damit die Relevanz des Verschuldens grundsätzlich eliminiert, jedoch ergibt sich im Ergebnis durch das in der Praxis entwickelte Instrument der selbstgeschaffenen Gefahr doch eine Steuerungsfunktion des Verschuldens 319, die sich sogar (und insoweit dem Versicherungsgedanken entsprechend) schon auf die tatbestandliche Ebene auswirkt: Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts liegt eine den Versicherungsfall ausschließende selbstgeschaffene Gefahr vor, wenn der Versicherte die Gefahr selbst herbeigeführt hat und dadurch ein Unfallrisiko schafft, das über das normalerweise mit der Tätigkeit verbundene hinausgeht und zudem der innere Zusammenhang zur versicherten Tätigkeit nicht mehr erkennbar ist 320. Bejaht wurde die selbstgeschaffene Gefahr in Fällen, in denen der Versicherte mit dem Unfall rechnen musste 321, er sich trotz Kenntnis in die Gefahr begeben hat 322 oder außergewöhnliche Sorglosigkeit hat walten lassen 323. In diesen Fallbeispielen sind in Prüfung wie Begrifflichkeit Parallelen zu Verschuldensmaßstäben klar erkennbar. Zwar soll auch nach Ansicht des Bundessozialgerichts das Instrument der selbstgeschaffenen Gefahr nur „mit größter Vorsicht“ 324 verwendet werden. Andererseits wiegt diese Praxis umso schwerer, als bei Bejahung der selbstgeschaffenen Gefahr es anders als beim zivilrechtlichen Mitverschulden nicht nur zu einer anteiligen Leistungskürzung kommt, sondern der Versicherungsfall insgesamt verneint wird. Es gilt also ein „Alles-oder-NichtsPrinzip “ 325. Darüber hinaus lässt sich dem grundsätzlichen Ausschluss des Verschuldensprinzips zwar trotz dieser Bedenken eine Ausprägung des sozialen Schutzprinzips, jedoch kein Element des sozialen Ausgleichs entnehmen: Ein Ausgleich findet weder im Sinne einer Umverteilung noch im Sinne eines Chancenausgleichs statt. (6) Versicherung der Wie-Beschäftigten Gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII sind kraft Gesetzes Personen in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert, die wie Beschäftigte im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII tätig sind. Zweck dieser Vorschrift ist es, Versicherungsschutz 319 320 321 322 323 324 325

Schulin, HS-UV, § 30 Rn. 64. Etwa BSGE 64, 159; Muckel, Sozialrecht, § 10 Rn. 48. BSGE 64, 159, 162. BSGE 41, 58, 61. BSG SozR 2200 § 548 RVO Nr. 26. BSGE 64, 159, 161. Schulin / Igl, Sozialrecht, Rn. 449.

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

auch in Fällen zu gewähren, in denen zwar keine Beschäftigung im sozialversicherungsrechtlichen Sinne, aber doch eine vergleichbare Tätigkeit mit ähnlichem Gefährdungspotenzial vorliegt 326. Die Regelung dient folglich als weit gefasster Ausnahmetatbestand, dessen Voraussetzungen durch die Rechtsprechung jedoch einigermaßen klar umrissen sind. Voraussetzung ist, dass „- selbst wenn es sich nur um eine vorübergehende Tätigkeit handelt – eine ernstliche, einem fremden Unternehmen dienende, dem Willen des Unternehmers entsprechende Tätigkeit vorliegt, die ungeachtet der Beweggründe des Tätigwerdens ihrer Art nach sonst von einer Person verrichtet werden könnte, welche in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis steht“ 327. Regelmäßig entsprechen dieser Voraussetzung Fälle, in denen eine persönliche und / oder wirtschaftliche Abhängigkeit des Tätigen vom Unternehmer nicht vorliegt 328. Tatsächlich ist die „wirtschaftlich-soziale Stellung“ der von § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII erfassten Personen gänzlich ohne Belang 329. Dies ist für die Frage nach dem sozial ausgleichenden Zweck der Vorschrift bedeutsam: Zwar muss es als sozialpolitisch motiviert gelten, altruistisches Verhalten zu fördern, indem daraus entstehende Körperschäden kompensiert werden 330. Denn Zweck des Auffangtatbestands ist gerade der soziale Schutz derjenigen Personen, die ähnlichen Gefahren wie Beschäftigte ausgesetzt sind, jedoch selbst keine sind und damit ohne die auffangende Regelung nicht abgesichert wären gegen diesen konkreten Wechselfall des Lebens. Sozialer Schutz ist jedoch nicht gleichbedeutend mit sozialem Ausgleich, der entweder als Umverteilung zwischen Leistungsstärkeren und -schwächeren oder als Ausgleich unterschiedlicher sozialer Risiken seine Wirkung entfaltet. Zu einer Umverteilung innerhalb der Gruppe der Beschäftigten oder von den Beschäftigten zu den sogenannten Wie-Beschäftigten kommt es schon mangels Beitragszahlung nicht. Darüber hinaus gleicht die Versicherung gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII höchstens im Einzelfall, gewissermaßen zufällig und nicht beabsichtigt, soziale Risiken aus: Da die wirtschaftlich-soziale Stellung der so Versicherten keine Rolle spielt, sind auch nicht wirtschaftlich-sozial benachteiligte Personen strukturell oder typischerweise geschützt. Vom Schutz erfasst sein kann nämlich auch ein Unternehmer (außer er wird für sein eigenes Unternehmen tätig) 331. Anders gefasst, liegt im fremdnützigen, zumeist unentgeltlichen Tätigwerden zwar eine sozial schutzwürdige und daher durch § 2 Abs. 2 Satz1 SGB VII auch geschützte 326

Muckel, Sozialrecht, § 10 Rn. 29. BSG SozR 3 – 2200 § 539 RVO Nr. 16. 328 Gitter / Schmitt, Sozialrecht, § 18 Rn. 24; BSGE 5, 165, 171. 329 Gitter / Schmitt, Sozialrecht, § 18 Rn. 25. 330 So fasst Wallerath den Zweck der Vorschrift zusammen; Wallerath, Fremdlasten und gesetzliche Unfallversicherung, FS Krasney, S. 697, 719. 331 Gitter / Schmitt, Sozialrecht, § 18 Rn. 25. 327

II. Die gesetzliche Unfallversicherung als Zweig der Sozialversicherung

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Handlung. Ein besonderes soziales Risiko im Sinne eines Sekundärrisikos, das über das eigentliche Risiko Unfall mit seinen (wirtschaftlichen) Folgen hinausgeht, wird jedoch nicht begründet. Die Versicherung der Wie-Beschäftigten ist mithin eine Ausprägung des sozialen Schutzprinzips, jedoch keine des sozialen Ausgleichs innerhalb der Gruppe der Versicherten. (7) Wegeunfälle Gemäß § 8 Abs. 2 SGB VII gilt als Versicherungsfall auch der Wegeunfall. Gründe und Rechtfertigung für diese Regelung wurden bereits dargelegt 332: Die Versicherung des Wegeunfalls dient in besonderer Weise dem sozialen Schutz der Beschäftigten. Ein sozialer Ausgleich innerhalb der Gruppe der Versicherten liegt hierin indes nicht. Insofern tragen ähnliche Argumente wie im Falle der Versicherung der Wie-Beschäftigten: Es kommt auch hier mangels einer Zahlungsverpflichtung nicht zu einer Umverteilung. Auch ein besonderes soziales Risiko im Sinne eines Sekundärrisikos, das über das eigentliche Risiko Unfall mit seinen (wirtschaftlichen) Folgen hinausgeht, wird durch die Versicherung des Wegeunfalls nicht aufgefangen. Vielmehr unterliegen diesem Risiko gerade alle Versicherten gleichermaßen, so dass es eines Ausgleiches schlechterer Chancen bzw. größerer Belastungen nicht bedarf. (8) Zwischenergebnis Der solidarische Ausgleich unter den Versicherten ist nicht Mittel der Wahl in der gesetzlichen Unfallversicherung. Weil die Versicherten selbst keinen eigenen Beitrag für die Versicherung aufbringen, kann es zu keiner Umverteilung von Einkommen kommen. Die gesetzliche Unfallversicherung verwirklicht aber auf der Leistungsebene einen sozialen Ausgleich: Indem für die Rentenberechnung ein Mindestjahresarbeitsverdienst zugrundegelegt wird, ist das sekundäre Risiko eine Versicherten abgesichert, im Zeitraum vor einem Versicherungsfall wenig oder kein Einkommen erzielt zu haben und so kaum oder gar nicht entschädigt zu werden. Auch die Renten für Hinterbliebene wirken sozial ausgleichend, weil sie Angehörige vor dem Risiko des Unterhaltsausfalls sichern, obwohl dieser nicht zum primär versicherten Risiko gehört. Die Versicherung der Wie-Beschäftigten gemäß § 2 Abs. 2 SGB VII und die Einbeziehung der Wegeunfälle in die Tatbestände des Versicherungsfalls entspringen dem Gedanken des sozialen Schutzprinzips, einen sozialer Ausgleich liegt darin jedoch nicht.

332

Oben II.4.c)aa)(5).

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

cc) Sozialer Ausgleich durch das Lastenausgleichsverfahren Auf einer letzten Ebene, die sich nicht eindeutig der Beitrags- oder Leistungsseite zuordnen lässt, können Elemente des sozialen Ausgleichs im Lastenausgleichsverfahren zwischen den einzelnen Berufsgenossenschaften liegen. Dieser interorganisatorische Ausgleich soll „im Einklang mit dem berufsgenossenschaftlichen Solidaritätsprinzip“ 333 stehen. Durch das Lastenausgleichsverfahren werden starke Unterschiede in der Finanzlast unter den gewerblichen Berufsgenossenschaften, indem besonders stark belastete Berufsgenossenschaften ausgleichsberechtigt gegenüber weniger stark belasteten Berufsgenossenschaften sind. Kriterien für Ausgleichsberechtigung und –verpflichtung sind gemäß § 176 Abs. 1 SGB VII der Rentenlastsatz, i. e. das Verhältnis der Aufwendungen für Renten, Sterbegeld und Abfindungen zu den Arbeitsentgelten und Versicherungssummen 334 (§ 177 Abs. 1 SGB VII), und der Entschädigungslastsatz, i. e. das Verhältnis der gesamten Entschädigungsaufwendungen zu den Arbeitsentgelten und Versicherungssummen (§ 177 Abs. 2 SGB VII). Ausgleichsberechtigt ist eine Berufsgenossenschaft, deren Renten- oder Entschädigungslast den durchschnittlichen Renten- oder Entschädigungslastsatz aller Berufsgenossenschaften übersteigt. Ausgleichspflichtig sind diejenigen Berufsgenossenschaften, die nicht ihrerseits ausgleichsberechtigt sind und deren eigene Belastung nicht die in § 178 Abs. 1 SGB VII genannten Grenzen bezogen auf den durchschnittlichen Lastsatz übersteigt. Darüber hinaus sind durch die Gesetzesreform vom 24. 7. 2003 335 gemäß § 178 Abs. 2 SGB VII solche Berufsgenossenschaften von der Ausgleichspflicht befreit, die eine überdurchschnittliche Altenrentenquote aufweisen, also besonders stark mit Rentenleistungen aus Altfällen belastet sind 336. Ferner bleibt bei der Ermittlung des Beitrags, den der einzelne Unternehmer für den Lastenausgleich seiner Berufsgenossenschaft leistet, ein Teil des der Berechnung zugrunde liegenden Arbeitsentgelts unberücksichtigt. Die Regelung des § 180 Satz 1 SGB VII schützt besonders kleine und mittlere Unternehmen 337, aus diesem Grund wurde der Freibetrag in der Reform von 2003 um 50 Prozent erhöht 338. Neu in der gesamten Systematik ist § 176 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII. Abweichend von Nr. 1 ist danach schon dann eine Berufsgenossenschaft ausgleichsberechtigt, wenn ihr Rentenlastsatz das Dreifache des durchschnittlichen Rentenlastsatzes übersteigt (sonst das 4,5fache), sofern die betreffende Berufsgenossenschaft von der Regelung des § 153 Abs. 4 SGB VII zu mindestens 20 Prozent Gebrauch macht. § 153 Abs. 4 SGB VII soll, wie gezeigt 339, für einen be333

Platz, in: Schulin, HS-UV, § 58 Rn. 115. Versicherungssumme der pflicht- und freiwillig versicherten Unternehmer und deren Ehegatten; Bigge, in: Wannagat, Sozialgesetzbuch, § 177 SGB VII, Rn. 2. 335 BGBl. I S. 1526. 336 Legaldefinition für Altenrentenquoten in § 177 Abs. 3 SGB VII. 337 Platz, in: Schulin, HS-UV § 58, Rn. 114. 338 Wollschläger / Kossens, NZS 2003, 514, 515. 334

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stimmten Teil der Altlasten die Beitragstragung vom Risiko entkoppeln und damit laut Gesetzgeber das Solidarprinzip innerhalb der einzelnen Berufsgenossenschaft stärken. Dies wird in § 176 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII sodann Tatbestandsvoraussetzung für eine erleichterte Ausgleichsberechtigung. Der Gesetzgeber schafft so Anreize für die Berufsgenossenschaften, von der Regelung des § 153 Abs. 4 SGB VII Gebrauch zu machen 340. Hintergrund des Lastenausgleichsverfahrens ist der Gedanke, der Gefahr hoher Belastungen bei homogenen Unternehmensstrukturen innerhalb einer Berufsgenossenschaft vorzubeugen. Bei sehr homogen gestalteten Branchen funktioniert der innergenossenschaftliche Ausgleich wie gezeigt nicht optimal. Darüber hinaus unterliegen diese Berufsgenossenschaften der Gefahr, erheblichen wirtschaftlichen Strukturveränderungen in besonderem Maße ausgesetzt zu sein. Realisiert hat sich dieses Risiko für die Branchen Bergbau und Binnenschifffahrt: Hohe Versicherungsrisiken einerseits und schrumpfende Beschäftigtenzahlen andererseits führten zu untragbaren bzw. unzumutbaren 341 Unfallversicherungsbeiträgen. Dieser Entwicklung trug der Gesetzgeber Rechnung: Durch Art. 3 § 1 des Unfallversicherungsneuregelungsgesetzes vom 30. 4. 1963 342 wurde das Beitragsausgleichsverfahren als Gemeinlast der Unfallversicherung eingeführt. Im die Verfassungsmäßigkeit der Regelung 343 bestätigenden Urteil aus dem Jahr 1967 sprach das Bundesverfassungsgericht von der „dem Unfallversicherungswesen eigenen Solidarität der Unternehmer“ 344. Zwischenzeitlich hatte sich der Gesetzgeber durch § 723 II RVO 345 für eine Subventionierung dieser Gemeinlast durch den Bund entschieden, gab dies jedoch durch Art. 2 § 4 Finanzänderungsgesetz v. 21. 12. 1967 (BGBl. I S. 1259) wieder auf 346. Stattdessen wurde die Solidarhaftung erneut verstärkt. Die damalige Bundesregierung hatte angeregt, das „System der Finanzierung der gesetzlichen Unfallversicherung ( . . . ) daraufhin 339

Oben aa)(1). Vgl. Gesetzesbegründung: „Die Regelung stellt damit eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Gedanken der branchenübergreifenden Solidarität aller Berufsgenossenschaften und dem internen Solidarausgleich der in einer Berufsgenossenschaft zusammengeschlossenen Gewerbezweige her. Nur bei einer finanziell stärkeren Heranziehung der niedrig belasteten Gewerbezweige der Berufsgenossenschaft selbst können diese Ausgleichsmittel von anderen Berufsgenossenschaften eingefordert werden. Zum Schutz vor Überforderung der niedrig belasteten Gewerbezweige ist das von der internen Solidarität erfasste Volumen auf 30 vom Hundert der Rentenaltlasten begrenzt“; BT-Drs. 15/5669, S. 5. 341 Bigge, in: Wannagat, Sozialgesetzbuch, § 176 SGB VII, Rn. 4; Ricke, in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, § 176 SGB VII, Rn. 2. 342 BGBl. I S. 241. 343 Ebenfalls bestätigend BVerfGE 36, 383. 344 BVerfGE 23, 12, 24. 345 Eingeführt durch Gesetz vom 15. 9. 1965, BGBl. I S. 1349. 346 Zum europarechtlichen Problem der Subventionierung BVerfGE 23, 12. 340

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zu prüfen, wie durch Strukturveränderungen bedingte unangemessene Beitragsbelastungen einzelner Wirtschaftszweige ausgeglichen werden können“ 347. Seither hat es keine inhaltlichen Änderungen am Verfahren, lediglich Ergänzungen und Anpassungen, gegeben, darunter die „kleine“ Reform aus dem Jahr 2003 348 sowie die nachsteuernde Neuregelung des Jahres 2005. Aktuell realisiert sich die in den 1960er Jahren erstmalig benannte „strukturelle Gefahr“ im Bereich der Bauwirtschaft, die seit einigen Jahren einer wirtschaftlichen Negativentwicklung mit schrumpfenden Lohnsummen unterliegt 349. Überwiegend wird das Lastenausgleichsverfahren mit dem Begriff der Solidarität in Verbindung gebracht. Etwa durch Freischmidt 350: „Die §§ 176 ff. konstituieren eine Solidarität innerhalb der gewerblichen Unfallversicherung, deren gegliedertes System gewahrt bleibt.“ Nach dieser Ansicht stellen die Vorschriften des Lastenausgleichsverfahrens eine Modifizierung dar, die eine stärkere Solidarität bei der Lastenverteilung verlange, ohne dabei durch eine Nivellierung den für das gegliederte System der gesetzlichen UV tragenden Gedanken der branchenspezifischen Verantwortlichkeit preiszugeben 351. Auch laut Platz 352 trägt der „Zweck des Ausgleichsverfahrens ( . . . ) dem berufsgenossenschaftlichen Solidargedanken über die Grenzen der einzelnen BG hinaus Rechnung“. Entscheidend für die Annahme eines solidarischen Ausgleichs ist die Gültigkeit der Regel, dass jeder Versicherte potenziell Begünstigter sein muss oder, allgemeiner ausgedrückt, dass die Begünstigungswirkung universell zu sein hat 353. Dies ist für den Lastenausgleich der Berufsgenossenschaften zu bejahen, denn dieser ist gerade so ausgestaltet, dass er jeder gewerblichen Berufsgenossenschaft zugute kommen kann 354. Auf den „Gesamtbereich ‚arbeitsteiliger Produktion‘“ 355 wird die Lastentragung nur theoretisch ausgeweitet, denn ausgleichsberechtigt sind nur überdurchschnittlich belastete Zweige, ebenso wie ausgleichsverpflichtet nur überdurchschnittlich begünstigte Zweige sind, so dass in der Praxis nicht alle 347 Entschließung des Deutschen Bundestages, Verhandlungen V. Wahlperiode 1966, S. 3589 mit Anlage 9 (Umdruck 113), S. 3625. 348 Dazu BVerfG vom 13. 8. 2002, HVBG-Info 30/2002, 2872; Wollschläger / Kossens, NZS 2003, 514 ff. 349 Neben der Reform der Lastenausgleichs 2003 zielt auch die Fusion der vormals sieben regionalen Bau-Berufsgenossenschaften und der Tiefbau-Berufsgenossenschaft auf Entlastung der Branche ab; auch die „Nachsteuerung“ im Jahr 2005 hebt in der Begründung ausdrücklich auf die Bau-Wirtschaft ab, BT-Drs. 15/5669, S. 1. 350 Freischmidt, in: Hauck, Sozialgesetzbuch, SGB VII, Kommentar, § 176 Rn. 2. 351 Freischmidt, in: Hauck, Sozialgesetzbuch, SGB VII, Kommentar, § 176 Rn. 3. 352 Platz, in: Lauterbach, Unfallversicherung, SGB VII, § 176 Rn. 2. 353 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 312, 314. 354 Freischmidt, in: Hauck, Sozialgesetzbuch, SGB VII, Kommentar, § 176 Rn. 4. 355 Wallerath, Fremdlasten und gesetzliche Unfallversicherung, FS Krasney, S. 697, 724.

II. Die gesetzliche Unfallversicherung als Zweig der Sozialversicherung

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Zweige beteiligt werden. Darüber hinaus entstehen bezogen auf die Gesamtheit der gewerblichen Wirtschaft dadurch keine zusätzlichen Aufwendungen 356. Durch § 176 As. 4 SGB VII eine Obergrenze für das Gesamtvolumen des Lastenausgleichs festgelegt. Diese stellt sicher, dass der Grundsatz der branchenbezogenen Lastenverteilung erhalten bleibt 357. Erkennbar ist also eine Begrenzung des Solidarausgleichs zum Schutz des „Versicherungsprinzips“, also der Risikobezogenheit. Dies scheint im gewissen Widerspruch zu den Reformen der §§ 153, 176 SGB VII aus dem Jahr 2005 zu stehen, die ihrerseits das Solidarische stärker betonen. In der Gesamtschau lässt sich der gesetzgeberische Wille aber wohl so lesen, dass es ihm in den aktuellen Reformen daran gelegen war, die Risikoabhängigkeit der Beitragsgestaltung beizubehalten, dabei aber durch Strukturveränderungen nationaler wie internationaler Art besonders belasteter Gewerbezweige und Berufsgenossenschaften durch eine Stärkung des Solidarischen zu entlasten. Die Verfassungsmäßigkeit des Lastenausgleichs in seiner ursprünglichen Ausgestaltung wurde vom Bundesverfassungsgericht schon frühzeitig festgestellt 358. Beiden Urteilen des Bundesverfassungsgerichts lässt sich zudem ein gewisser Spielraum in der gesetzgeberischen Entscheidung über die Lastentragung entnehmen: Das Lastenausgleichsverfahren, das sich auch durch die aktuellen Reformen nicht im Kern verändert hat, stellt bei einer Verhältnismäßigkeitsprüfung ein geeignetes und erforderliches Mittel zur Bewältigung von Finanzkrisen dar. Es ist insbesondere auch ein milderes Mittel als etwa ein alternativ zu denkendes Modell einer einheitlichen Unfallversicherung mit einem Gesamtträger ohne branchenmäßige Gliederung, durch die es zu einem zeitlich unbegrenzten, totalen Lastenausgleich käme 359. Sogar dieser indes wäre verfassungsgemäß 360. Die gesetzliche Regelung der Unfallversicherung sei zudem „niemals von einer unabänderlichen Autarkie der bestehenden Berufsgenossenschaften ausgegangen“ 361. Ein solidarischer Ausgleich ist also in der Grundidee des Lastenausgleichsverfahrens zwischen den einzelnen Berufsgenossenschaften gemäß §§ 176 ff. SGB VII angelegt. Der Grad des Ausgleichs ist dabei abhängig vom Bedarf der höher belasteten Berufsgenossenschaften. Die Aufteilung in ausgleichsberechtigte und ausgleichsverpflichtete Berufsgenossenschaften ist davon abhängig, in welcher Höhe die Belastungen ins negative oder positive von der Durchschnittsbelastung abweichen. Festzulegen, welche Abweichung relevant ist, ist dabei Sache 356

Platz, in: Schulin, HS-UV, § 58 Rn. 116. BT-Drucks. 15/812 S. 7. 358 BVerfGE 23, 12; E 36, 383. 359 Freischmidt, in: Hauck, Sozialgesetzbuch, SGB VII, Kommentar, § 176 Rn. 2; Nipperdey / Säcker, Zur verfassungsrechtlichen Problematik von Finanzausgleich und Gemeinlast in der Sozialversicherung, S. 22. 360 BVerfGE 36, 383, 393. 361 BVerfGE 23, 12. 357

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

des Gesetzgebers. Ob sich also die im SGB VII angelegte Möglichkeit eines Lastenausgleichs realisiert, hängt davon ab, ob die gesetzlich vorgegebenen Kriterien die reale wirtschaftliche Entwicklung in den Branchen angemessen abbilden. Bisher unerwähnt ist die Tatsache, dass das Lastenausgleichsverfahren zwar grundsätzlich als solidarischer Ausgleich verstanden werden muss. Die Solidarität besteht hier aber zwischen den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung und sichert letztlich die Funktionsfähigkeit des branchengegliederten Systems. Sozialer Ausgleich im sozialversicherungsrechtlichen Sinne findet jedoch statt auf Beitragsbzw. Leistungsebene. Anders ausgedrückt: Das Lastenausgleichsverfahren sichert das gewählte System der gewerblichen gesetzlichen Unfallversicherung, es zielt hingegen nicht darauf ab, unterschiedliche Risiken der Versicherten bzw. Beitragszahler nach sozialen Gesichtspunkten auszugleichen und so eine Umverteilung von wirtschaftlich leistungsfähigeren hin zu wirtschaftlich schwächeren Versicherten zu erreichen. Auf die Höhe der Beiträge hat es nur mittelbar Einfluss, indem die einzelne Berufsgenossenschaft vor untragbaren Lasten, die sie auf ihre Mitglieder umlegen müsste, geschützt wird. Ein deutlicherer sozialer Ausgleich unter den Beitragszahlern läge in einem System vor, das auf die branchenmäßige Gliederung in Berufsgenossenschaften verzichtete, da bei einem Gesamtträger die Risikobezogenheit im Hinblick auf die Branche entfiele 362. Der einzelne Beitragszahler wäre zwar (eine unveränderte Beitragsberechnung unterstellt) mit seinem individuellen Risiko belastet, nicht aber zusätzlich mit dem der Branche, das sich insbesondere in homogenen Branchen negativ auf die Beitragsbelastung auswirkt. Das Lastenausgleichsverfahren stellt mithin in erster Linie ein Mittel zum Schutz des Systems der gesetzlichen Unfallversicherung dar, das im Bereich der Beitragsgestaltung eindeutig eine versicherungstechnische, risikoabhängige Prägung aufweist. Für den Gedanken des Systemschutzes spricht auch die Gesetzeshistorie, da das Ausgleichsverfahren und seine Vorläufer erst in den 1960er Jahren nach entsprechendem Modifikationsbedarf eingeführt wurden und nicht zu den überkommenen Prinzipien der gesetzlichen Unfallversicherung gehörten. Den Zweck des Lastenausgleichs bestätigt auch die Begründung der bisher letzten Reform: „Zielsetzung des branchenübergreifenden Lastenausgleichsverfahrens ist es, hoch belastete Gewerbezweige finanziell zu stützen.“ 363 Für alle Zweige der Sozialversicherung gilt, dass ein finanzieller Ausgleich unter den Versicherungsträgern dann nötig wird, wenn der Gesetzgeber wirtschaftlich unzumutbare Beitragserhöhungen oder staatliche Beihilfe vermeiden und zugleich die orga362 Laut BVerfGE 36, 383, 393 wäre auch ein solches System verfassungsgemäß. Eine Abkehr von der branchenmäßigen Gliederung stellen die Reformvorschläge der BundLänder-Arbeitsgruppe vom 29. 6. 2006 dar (vgl. Fn. 36), wonach die Zahl der Träger auf sechs minimiert werden soll; kritische Stellungnahme dazu von Hinne / Wolff, Korrekturen notwendig, BG 2006, S. 336 f. 363 Begründung zur Gesetzesänderung 2005, BT-Drs. 15/5669, S. 5.

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nisatorische Selbstständigkeit und Selbstverwaltung der bestehenden Träge aufrechterhalten will 364. Nipperdey / Säcker 365 sehen gleichwohl in der solidarischen Einstandspflicht der verschiedenen Träger durch Gemeinlast und Lastenausgleich den Gedanken des sozialen Ausgleichs verwirklicht, da „oberstes und wichtigstes Ziel der gesetzlichen Sozialversicherung die Befriedigung der Ansprüche der Versicherten“ sei. Dies ist nach diesem Ansatz dadurch gesichert, dass einzelne Versicherungsträger ihrerseits vor unzumutbar hoher Belastung geschützt werden. Dem lässt sich indes entgegenhalten, dass Ziel der zum Teil gemeinsamen Lastentragung höchstens mittelbar die Sicherung von Versichertenansprüchen – die auch durch andere Mittel erreicht werden könnte –, sondern zuvörderst die Sicherung der branchenmäßigen Gliederung der gesetzlichen Unfallversicherung ist, wie es auch die Autoren an anderer Stelle zurecht dargestellt haben 366. dd) Ergebnis Auch in der gesetzlichen Unfallversicherung wird ein sozialer Ausgleich verwirklicht. Er realisiert sich jedoch im Detail durch andere Mittel als im übrigen Sozialversicherungsrecht. Insbesondere das Element der Umverteilung ist der Unfallversicherung fremd: Innerhalb der Gruppe der Versicherten kann schon deshalb nicht umverteilt werden, weil sie nicht aus ihrem Einkommen Beiträge zahlen. Unter den beitragspflichtigen Unternehmern wird ebenfalls kaum umverteilt: Die Berechnung der Beiträge ist in erster Linie und zuvörderst risikobezogen und ohne Rücksichtnahme auf die Leistungsfähigkeit. Ein Ausgleich einer stärkeren Belastung findet sich in der Versicherung der Wegeunfälle, die nicht in die Beitragsberechnung einfließen. Dadurch werden die Lasten besonders stark von Wegeunfällen betroffener Unternehmen durch die gesamte Berufsgenossenschaft getragen. Das häufig mit dem Etikett der Solidarität behängte Lastenausgleichsverfahren gemäß §§ 176 ff. SGB VII verwendet zwar durch die Lastenteilung gewisse Mittel der Umverteilung. Es wirkt jedoch nicht unmittelbar für die Unternehmer, deren Beitrag risikobezogen bleibt. Zudem sicher das Lastenausgleichsverfahren in erster Linie das branchengegliederte System der Unfallversicherung, ohne damit zugleich ein soziales Ziel zu verfolgen. Das soziale Schutzprinzip ist in der Unfallversicherung zugunsten der abhängig Beschäftigten stark ausgeprägt. Auf der Leistungsseite wird zudem ein sozialer Ausgleich verwirklicht: Die Rentenberechung auf Grundlage eines Mindestjahresarbeitsverdiensten und die Leistungen für Hinterbliebene sichern soziale Risiken ab, die nicht primär zum Unfall- und Berufskrankheitenrisiko zählen. 364 Nipperdey / Säcker, Zur verfassungsrechtlichen Problematik von Finanzausgleich und Gemeinlast in der Sozialversicherung, S. 10f. 365 Nipperdey / Säcker, Zur verfassungsrechtlichen Problematik von Finanzausgleich und Gemeinlast in der Sozialversicherung, S. 27. 366 Fn. 364.

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d) Versicherungsverhältnis und Mitgliedschaft Teile des kodifizierten Sozialversicherungsrechts enthalten Regelungen über die Mitgliedschaft in der Sozialversicherung, so die §§ 186 ff. SGB V, 49 SGB XI. Mitglieder in der gesetzlichen Krankenversicherung sind die Pflichtversicherten und die freiwillig Versicherten. Versichert sein kann jedoch auch, wer nicht Mitglied ist (in der gesetzlichen Krankenversicherung die Angehörigen im Rahmen der Familienversicherung). Deshalb ist die Mitgliedschaft von dem Versicherungsverhältnis zu unterscheiden. Im siebten Buch des Sozialgesetzbuchs, das das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung regelt, wird der Begriff der Mitgliedschaft in diesem Sinne nicht erwähnt, wohl aber das Versicherungsverhältnis. Grund für das Fehlen des Begriffs Mitgliedschaft ist die in der Unfallversicherung sehr schwach ausgeprägte mitgliedschaftliche Struktur 367. Vor Einordnung in das SGB hatte das Unfallversicherungsrecht die Mitgliedschaft der Unternehmer indes noch gesetzlich geregelt, gemäß § 658 Abs. 1 RVO war jeder Unternehmer Mitglied bei dem für ihn zuständigen Unfallversicherungsträger. Diese Vorschrift wurde durch § 136 Abs. 1 SGB VII ersetzt, in dem allein von Zuständigkeit die Rede ist. Diese, und nicht etwa die Mitgliedschaft wird durch Bescheid festgestellt. Mitgliedschaftlich strukturiert ist die Unfallversicherung auch nicht im Hinblick auf die Versicherten. Diese sind tatsächlich ausschließlich versichert und stehen nicht in einem sonstigen, vor allem keinem beitragspflichtigen Verhältnis zum Unfallversicherungsträger 368. Versichert kraft Gesetzes sind gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII in erster Linie (und im hier interessierenden Bereich der gewerblichen Berufsgenossenschaften) die Beschäftigten. Beitragszahler sind allein die Unternehmer, die sich wiederum gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII freiwillig in der gesetzlichen Unfallversicherung versichern lassen können. Nur dann ergibt sich in diesem Zweig eine Überlappung von Beitragspflicht und Versicherungsverhältnis. Schon zur Geltung der RVO fielen Mitgliedschaft und Versicherungsverhältnis in der Unfallversicherung regelmäßig auseinander 369. Gleichwohl kann jedoch auch in diesem Zweig nach der Begründung eines aufgezwungenen Rechtsverhältnisses in oder zu einem Versicherungsträger gefragt werden. Der genossenschaftliche Zusammenschluss der Unternehmer einschließlich der Beitragspflicht wurde bereits ausführlich besprochen 370. Inwieweit die Versicherung der Beschäftigten in der gesetzlichen Unfallversicherung als Zwang im Hinblick auf die Versicherten selbst zu sehen ist und woraus dessen Legitimation erklärt werden könnte, ist hingegen offen. Sie stellt sich, so viel muss 367

Muckel, Sozialrecht, § 7 Rn. 25. Gleichwohl partizipieren die Versicherten an der Selbstverwaltung, § 44 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV. 369 Muckel, Sozialrecht, § 10, Rn. 5. 370 Oben II.4.a) und b). 368

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betont sein, als bloß theoretische dar, denn ohne eine Belastung mit Pflichten zu enthalten, vermag diese Zwangsversicherung in der Praxis nicht zu Konfliktfällen zu führen. Verfassungsrechtlich gesprochen: Ein Eingriff in ein Grundrecht des Versicherten ließe sich schwerlich begründen. Hinter der Entscheidung, Beschäftigte gegen die wirtschaftlichen Folgen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit mittels einer Versicherung zu schützen, zu deren Wirksamkeit es der eigenen Entscheidung des Beschäftigten nicht bedarf, steht der Wunsch nach möglichst umfassendem Schutz insbesondere derjenigen Personen, die zu Schaffung und Erhalt ihrer Lebensgrundlage auf die eigene Arbeitskraft angewiesen sind. Dieser Gedanke ist Kern des gesamten Sozialversicherungsrechts. Er steht seinerseits in einem gewissen Wechselspiel mit dem Grundsatz der Subsidiarität, das ebenfalls als Prinzip der Sozialversicherung gilt. Als solches findet es Anklänge ebenso in der katholischen und evangelischen Soziallehre als auch in eher freiheitlich-sozialistischen Gedanken. Für beide Ansätze gilt, dass die Gemeinschaft dem Einzelnen eine Grundchance zu gewähren hat, die ihm die Entfaltung seiner Eigeninitiative und Eigenverantwortung ermöglicht. Dahinter steht das Bild der „Persönlichkeit in der Gemeinschaft“, die selbstbestimmt und in Freiheit ihrerseits eine bestimmte positive Beziehung zur Gesellschaft unterhält. Gefolgert wird aus dieser Vorstellung, dass der Sozialversicherung nur diejenigen Bevölkerungsschichten unterstellt werden dürfen, die sich erfahrungsgemäß nicht aus eigener Kraft gegenüber den Wechselfällen des Lebens ausreichend schützen können, i. e. die Sicherungsbedürftigen. Wannagat fasst es so zusammen: „Es würde dem Grundsatz der Subsidiarität widersprechen, in die Zwangsversicherung Risiken einzubeziehen, die der einzelne in Selbstverantwortung und Eigenhilfe bewältigen kann. Zugleich ist zu prüfen, ob der einzelne nur generell zur Vorsorge verpflichtet oder ob ihm auch ihre Art, Form und Ausgestaltung vom Staat vorgeschrieben werden soll. Nach dem Subsidiaritätsprinzip dürfte der letzte Weg nur dann beschritten werden, wenn der erste sich als ungangbar und unzureichend erwiesen hat.“ 371 Das Verhältnis der Prinzipien Subsidiarität und Solidarität beschreibt der Autor im Sinne zweier Waagschalen: Die Übertreibung der sozialen Solidarität könne zu unerwünschter Nivellierung und letztlich zum Versorgungsstaat führen, während die individualisierte Überspannung der Subsidiarität die Gemeinschaftshilfe so einschränke, dass Entfaltung der Persönlichkeit des einzelnen ernsthaft gefährdet würde. Anhaltspunkt für das rechte Maß müsse die Menschenwürde, das persönlich verantwortliche und gemeinschaftsgebundene Handeln des Einzelnen sein 372. Diese recht abstrakten Maßstäbe angewandt, lässt sich der Versicherung der Arbeitnehmer in der gesetzlichen Unfallversicherung keine unangemessene Nivellierung und auch keine Tendenz zum Versorgungsstaat vorwerfen. Die Ursprünge 371 372

Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 180 f. Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 181.

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und Fortentwicklungen der Sozialgesetzgebung verfolgen gerade das Ziel, das persönlich verantwortliche Handeln des Einzelnen zu sichern. Grundlage dafür ist die gesicherte wirtschaftliche Existenzgrundlage, die, wenn sie abhängig ist vom Einsatz der Arbeitskraft, vielfältigen Risiken ausgesetzt ist. Diese im Wege von öffentlich-rechtlichen Versicherungen zu minimieren bzw. abzufedern, lässt dem Einzelnen die Selbstbestimmtheit und Menschenwürde, da er eben nicht Objekt von Versorgung, sondern Subjekt eines Rechtsverhältnisses wird. Dies gilt insbesondere in den Zweigen der Sozialversicherung, in denen der Versicherte eigene Beiträge leistet. Es gilt jedoch auch in der gesetzlichen Unfallversicherung, denn die Beitragsfreiheit des Versicherten folgt der Grundentscheidung, dass derjenige Risiken und Lasten zu tragen hat, der in Genuss des wirtschaftlichen Vorteils eines Unternehmens kommt. Arbeitnehmer werden in die Produktions- und Arbeitsabläufe eingebunden, sie sind weisungsgebunden und haben selbst keinen Einfluss auf die Unfall- und Berufskrankheitenrisiken innerhalb dieser Abläufe. Der alleinigen Beitragspflicht der Unternehmer liegt demnach zwar eine Wertentscheidung zugrunde, sie orientiert sich indes nichtsdestoweniger an sachgerechten Erwägungen. Die Unternehmer ihrerseits werden – in den Worten Wannagats – zu gemeinschaftsgebundenem Verhalten zugunsten der von ihnen abhängigen, die Wirtschaftskraft des Unternehmens stärkenden Arbeitnehmer verpflichtet, indem sie Beitragszahler einer Versicherung zugunsten Dritter werden, deren Wesen der Schutz der Beschäftigten vor den Wechselfällen des Lebens ist. e) Präventionsauftrag § 1 SGB VII nennt die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung. Unter Punkt 1 ist ihre Aufgabe genannt, mit allen geeigneten Mittel Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten sowie arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu verhüten. Damit steht die Aufgabe der Prävention zumindest in der numerischen Aufzählung vor Rehabilitation und Entschädigung und damit vor den Ausprägungen des originär Versicherungsmäßigen, namentlich des Eintretens von Versicherungsschutz im Versicherungsfall. Rehabilitation und Entschädigung stellen die Leistungsseite der gesetzlichen Unfallversicherung dar, nachdem sich das versicherte Risiko realisiert hat. Die Prävention ihrerseits soll dafür sorgen, dass das Risiko so klein wie möglich gehalten wird. Betrachtet man die Kerngedanken der gesetzlichen Unfallversicherung, das soziale Schutzprinzip und das Prinzip der Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz, so findet sich ein Nutzen der Präventionsaufgabe für beide Bereiche: Gesundheitsgefahren gering zu halten, schützt Beschäftigte vor dem Risiko, bei Erwerbstätigkeit Schäden an Leib und Leben zu erleiden. Diese sind absolut schützenswerte Güter, denen darüber hinaus im Hinblick auf den besonderen Zusammenhang der Sozialversicherung als Arbeitnehmerversicherung eigene Bedeutung als Grundlage der Erwerbsfähigkeit und damit Lebensgrundla-

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ge für den Einzelnen und seine Angehörigen zukommt. Fuchs spricht in Bezug auf die Schutzrichtungen der Prävention von einem ethischen und einem ökonomischen Anliegen 373. Damit verwirklicht sich durch die Prävention der soziale Schutzgedanke, ohne dass mit dieser Feststellung schon begründet wäre, warum dies über das System der Unfallversicherung zu erreichen ist. Im Hinblick auf das Element der Haftungsersetzung stellt es sich anders dar: Durch Prävention verkleinert sich das Versicherungsrisiko und somit die Anzahl der Versicherungsfälle, die ihrerseits direkte Auswirkungen auf die Beitragsgestaltung hat. Eine erfolgreiche Prävention hält also die Beiträge für die Unternehmer niedriger, als sie ohne Prävention ausfallen würden. Insofern kann man die Prävention als Teil der Leistung 374 ansehen, den der beitragszahlende Unternehmer neben dem haftungsersetzenden Versicherungsschutz für seinen Beitrag erhält, denn im System der gesetzlichen Unfallversicherung ist der Präventionsauftrag nicht nur im Sinne einer Obliegenheit 375 des Unternehmers, sondern als Handlungsauftrag an die gewerblichen Berufsgenossenschaften konzipiert. Die eigentliche Bedeutung und auch die Schwierigkeiten des Präventionsauftrags ergeben sich indes aus der Zusammenschau beider Komponenten: Die Prävention ist zwar Leistung zum Nutzen der Unternehmer, die er jedoch nicht freiwillig in Anspruch nehmen kann, da sie zugleich den sozialen Schutzauftrag zugunsten der Beschäftigten ausführt und infolgedessen verpflichtend und mit Zwang 376 durchzusetzen ist. Der soziale Schutzauftrag ist jedoch keiner, der sich zuförderst an private Unternehmer richtet, sondern ist originäre Aufgabe des Staates. Dieser kann in den Grenzen seiner insbesondere durch die Grundrechte ausgestalteten Eingriffsbefugnisse und des Gebots der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung das Instrument wählen, dessen er sich zur Erfüllung dieser Aufgabe bedient. Im Bereich der Gefahren für Leib und Leben in der Arbeitswelt existiert seit Jahrzehnten ein Dualismus der Instrumente durch den Präventionsauftrag der gesetzlichen Unfallversicherung und den staatlichen Arbeitsschutz. Im Arbeitsschutzgesetz von 1996 377, das die Richtlinien 89/391/EWG 378 und 91/383/EWG 379 umsetzte, wurde dieses duale System anerkannt. Beide Träger 373 Fuchs, Prävention in der Unfallversicherung, FS Krasney, S. 131, 132. „Ökonomisch“ ist seiner Ansicht nach – insofern aus anderer Perspektive – das Anliegen der Prävention, weil sie „der Erhaltung von Humankapital dient“. 374 Klarstellend sei angemerkt, dass es sich dabei freilich nicht um eine der „Leistungen nach Eintritt des Versicherungsfalls“ im Dritten Kapitel des SGB VII handelt. 375 So der übliche Weg der Schadensverhütung in der Privatversicherung; Fuchs, Prävention in der Unfallversicherung, FS Krasney, S. 131. 376 Wie stark die zwangsweise Komponente ausgestaltet ist, ergibt sich aus den weitreichenden Eingriffsbefugnissen der Aufsichtsbeamten gemäß §§ 17 ff. SGB VII. 377 Gesetz zur Umsetzung der EG-Rahmenrichtlinie Arbeitsschutz und weiterer Arbeitsschutzrichtlinien vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1246. 378 Abl. Nr L 183, S. 1.

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(Arbeitsschutzbehörden der Länder und Berufsgenossenschaften) sind zu Zusammenarbeit und Erfahrungsaustausch verpflichtet. Relevante Normen sind § 14 Abs. 1 Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG), § 21 Abs. 2 bis 4 ArbSchG, § 20 Abs. 1 SGB VII, aus denen eine weitgehende Überschreitung der Arbeitsbereiche im Sinne korrespondierender Präventionspflichten 380 hervorgeht: Unfallverhütungsvorschriften können staatliche Arbeitsschutzvorschriften konkretisieren oder über sie hinausgreifende Anforderungen aufstellen 381. Das duale System hat sich historisch entwickelt 382. Für die gesetzliche Unfallversicherung ist zu betonen, dass die Prävention in der heutigen Gestalt nicht zum Grundkonstrukt von 1884 gehörte. aa) Historische Entwicklung Schon im Jahr 1839 wurde zwar der Arbeitsschutz als staatliche Aufgabe anerkannt, denn das preußische Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken schränkte das Prinzip der Gewerbefreiheit unter der für die liberale Wirtschaftsverfassung maßgeblichen Fiktion des freien Arbeitsvertrages zumindest theoretisch ein. Es fehlte jedoch über viele Jahre hinweg an einer praktischen und greifenden Umsetzung, die sich im Rückblick als schrittweise Entwicklung präsentiert. Im Jahre 1853 wurde das Institut der staatlichen Fabrikinspektoren eingerichtet, ohne dass es jedoch überprüfbare Mindeststandards oder überhaupt eine obligatorische Ermächtigung zur Überprüfung gegeben hätte. Versuche, eine Arbeitsschutzgesetzgebung zu etablieren (1876 –79) oder den Arbeitsschutz über eine Novelle der Gewerbeordnung (1878) zu verwirklichen, scheiterten an den Widerständen Bismarcks, dem deshalb vorgeworfen wird „manchesterlich Industrie-Interessen in den Vordergrund gestellt und eine wirksame Unfall- und Krankheitsprophylaxe langfristig und wirksam verhindert“ zu haben 383. Das Unfallversicherungsgesetz aus dem Jahr 1884 erwies sich mithin auch in Bezug auf den Arbeitsschutz als Kompromiss und konsensfähige Lösung der widerstreitenden Interessen: Statt durch polizeiliche Befugnisse sollte es Prävention durch umsichtige Mitwirkung aller Beteiligten verwirklichen, die Gesetzesbegründung betont die „richtige Mitte zwischen zu großer Milde und zu großer Strenge“ 384. Bis jedoch der gefundene Kompromiss praktische Wirkung zeigte, verging wiederum Zeit, denn zunächst erhielten die Berufsgenossenschaften nur 379

Abl. Nr L 206, S. 19. Coenen, BG 1997, S. 222, 230. 381 Waltermann, Sozialrecht, Rn. 270. 382 Busse, Die Bedeutung der Berufsgenossenschaften für die Unfallverhütung in der historischen Betrachtung, BG 1998, S. 516 ff. 383 Machtan, Risikoversicherung statt Gesundheitsschutz für Arbeiter, in: Leviathan 13 (1985), S. 420, 427; zitiert nach Busse, BG 1998, S. 516, 518. 384 Zitiert nach Busse, Die Bedeutung der Berufsgenossenschaften für die Unfallverhütung in der historischen Betrachtung, BG 1998, S. 516, 519. 380

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die Befugnis zum Erlass von Unfallverhütungsvorschriften sowie zur Überprüfung der Einhaltung, erst 1900 (Überwachung durch technische Aufsichtsbeamte) bzw. 1911 wurde daraus eine Verpflichtung. Zugleich wurde weiterhin der Gedanke verfolgt, Arbeitsschutz als Einschränkung der Gewerbefreiheit zu verstehen und folgerichtig als Teil der staatlichen Gewerbeaufsicht zu behandeln. Tatsächlich wurde 1891 – nach Bismarcks Rücktritt – ein Arbeiterschutzgesetz als Novelle zur Gewerbeordnung 385 mit erheblich erweiterten Befugnissen der staatlichen Aufsichtsbeamten erlassen. Das duale System des Arbeitsschutzes war damit ein Faktum geworden und wirkt bis heute fort. bb) Rechtsgrundlage und Verfassungsmäßigkeit Während § 1 Nr. 1 SGB VII die Prävention als Aufgabe der gesetzlichen Unfallversicherung grundsätzlich festlegt, finden sich im zweiten Kapitel des SGB VII die näheren Ausgestaltungen des Präventionsauftrags einschließlich der notwendigen Ermächtigungsgrundlagen zugunsten der Unfallversicherungsträger. Diese müssen gemäß § 14 Abs. 1 SGB VII mit allen geeigneten Mitteln für die Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren und für eine wirksame erste Hilfe sorgen. In der Zusammenschau mit § 1 SGB VII zeigt sich, dass das Gesetz die Unfallverhütung in den Vordergrund des Unfallversicherungsrechts rückt, um sie als vorrangige und wichtigste Aufgabe der gesetzlichen Unfallversicherung kenntlich zu machen 386. Im Vergleich zur Rechtslage vor Einordnung in das Sozialgesetzbuch im Jahr 1996 hat sich in dieser Hinsicht eine relevante Neuerung ergeben: Seither gehört die Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren zum Auftrag gemäß § 1 Nr. 1 und § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB VII. Eine Eingrenzung ist notwendig, damit diese Aufgabe nicht im Sinne eines Schutzes gegen allgemeine Gesundheitsgefahren (Volkskrankheiten) überinterpretiert wird 387. Die Grenzen dieses Präventionsauftrags ergeben sich aus dem Begriff arbeitsbedingt, der einen direkten Zusammenhang der Gefahr mit der verrichteten Arbeit im Sinne einer Bedingung fordert. Arbeitsbedingt können dann nur solche Gesundheitsgefahren sein, die sich aus der besonderen Gefahrensphäre der Betriebe, für die die jeweiligen Unfallversicherungsträger zuständig sind, erwachsen 388. Diese weitere Einschränkung ergibt sich aus der branchenmäßigen Gliederung der Unfallversicherungsträger, die unter 385

RGBl. 1891, S. 261. Waltermann, Sozialrecht, Rn. 267. 387 Gitter, Die gesetzliche Unfallversicherung nach der Einordnung ins Sozialgesetzbuch – ein Versicherungszweig ohne Reformbedarf?, BB-Beil. 6 1998, S. 1, 9. 388 Gitter, Die gesetzliche Unfallversicherung nach der Einordnung ins Sozialgesetzbuch – ein Versicherungszweig ohne Reformbedarf?, BB-Beil. 6 1998, S. 1, 9, mit Verweis 386

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anderem mit der besseren Zielgerichtetheit des Präventionsauftrages begründet wird. Es ist daher nur logisch, auch nur diejenigen Gefahren als arbeitsbedingt anzusehen, die sich aus der branchentypischen Tätigkeit ergeben. Als zu weitgehend muss aber die Forderung betrachtet werden, nur solche Gefahren als arbeitsbedingt anzusehen, die aus der Gefahrensphäre des einzelnen Betriebes erwachsen 389. Ob sich durch ein individuell gestaltetes Präventionsangebot Effizienzen steigern und Kosten senken ließen, ist äußerst zweifelhaft 390. Jedenfalls wäre ein solches Vorgehen systemwidrig, da das Wesen der Unfallversicherung durch die gewerblichen Berufsgenossenschaften gerade in der Aufteilung nach Branchen liegt. Es kann und muss also um die Gefahren gehen, die aus der Gefahrensphäre der Branche erwachsen. Eine Gefahr in diesem Sinne ergibt sich nach Coenen aus dem nicht akzeptablen Risiko einer Gefährdung 391: Dabei ist die Gefährdung ein qualitativer Begriff, der die Möglichkeit eines Schadens zum Inhalt hat, während Risiko das quantitative Maß der Gefährdung bezeichnet. Durch die Erweiterung auf arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren ergibt sich eine neue Qualität des Präventionsauftrags: Er soll früher ansetzen, um zuverlässiger und effektiver wirken zu können. Auf dieses Ziel war die Praxis der Berufsgenossenschaften schon vor der Kodifizierung im SGB VII ausgerichtet, indem sie schon zuvor „weit über eine enge Auslegung des Präventionsauftrags der RVO“ 392 hinausging. Dieser Umstand wurde auch vom Gesetzgeber gesehen und bei Gelegenheit der Einordnung ins SGB mit einer Rechtsgrundlage versehen, die Rechtsentwicklung zeichnete die Praxis insofern nach 393. Kritik richtet sich auch gegen die Ermächtigung der Berufsgenossenschaften, „mit allen geeigneten Mitteln“ Prävention betreiben zu dürfen. Dies sei ein zu großer Spielraum, Präventionsmaßnahmen müssten statt dessen im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit der Unternehmen und die tatsächliche Unfallgefahr verhältnismäßig sein, da ansonsten „erhebliche Folgekosten“ entstünden 394. Allerdings bleibt unklar, worauf sich die Leistungsfähigkeit des einzelnen Unternehmens bezieht und inwiefern sich daraus ein Zusammenhang zum Präventionsauftrag auf ein Positionspapier der Berufsgenossenschaften der chemischen Industrie, des Arbeitgeberverbands Chemie und der IG Chemie-Papier-Keramik, in dem auf einen „nachvollziehbaren Zusammenhang mit dem Arbeitsplatz oder der Tätigkeit über das allgemeine Lebensrisiko hinaus“ abgestellt wird. 389 So wohl Römer, Reform der gesetzlichen Unfallversicherung, S. 36 f. 111. 390 Selbst Römer hält das Einsparpotenzial für nicht genau quantifizierbar; Römer, Reform der gesetzlichen Unfallversicherung, S. 36 f. 111. 391 Coenen, Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren . . . eine neue Dimension des Arbeitsschutzes?, BG 1997, S. 222, 228. 392 Coenen, Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren . . . eine neue Dimension des Arbeitsschutzes?, BG 1997, S. 222, 224 f. 393 Vgl. Gesetzesbegründung BR-Drucks. 263/95, S, 225. 394 Römer, Reform der gesetzlichen Unfallversicherung, S. 36 f., 111.

II. Die gesetzliche Unfallversicherung als Zweig der Sozialversicherung

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ergibt, der sich in erster Linie an die Unfallversicherungsträger richtet. Die Unternehmen selbst sind zur Einhaltung der Unfallverhütungsvorschriften verpflichtet, ansonsten aber kaum aktiv im Sinne einer „Leistung“ an der Prävention beteiligt. Zwar müssen Unternehmen gemäß § 22 SGB VII bei mehr als 20 Beschäftigten Sicherheitsbeauftragte bestellen. Dabei müssen die Unfallgefahr und die Zahl der Beschäftigten berücksichtigt werden, so dass auch gewisse individuelle Belange berücksichtigt werden und unangemessene Belastungen vermieden. Generell gilt auch hier, dass die Gliederung nach Branchen gerade das Wesen der Unfallversicherung darstellt und daher eine ausschließlich individuell zugeschnittene Prävention systemwidrig wäre. Zudem besteht die Gefahr nicht, dass die Formel „mit allen geeigneten Mitteln“ eine Rechtfertigung für ausuferndes und unverhältnismäßiges Tätigwerden der Berufsgenossenschaften bietet. Deren Eingriffsbefugnisse sind in §§ 15 ff. SGB VII dem Grundsatz des Vorbehalt des Gesetzes entsprechend genau bestimmt. In der Praxis versuchen die Berufsgenossenschaften dergestalt mit allen geeigneten Mittel Prävention zu betreiben, indem sie etwa neue Messund Analyseverfahren entwickeln, betriebliche Expositionsmessungen vornehmen und aus den Ergebnissen zukünftige Maßnahmen ableiten 395. Der Präventionsauftrag wird nicht nur in der Praxis, sondern auch formal auf unterschiedliche Weise erfüllt, die sich mit Kutscher / Stoy 396 begrifflich in Prävention durch Eingriff und Prävention durch Angebot einteilen lässt. Als Angebot ausgestaltet ist die Unfallverhütung durch Beratung gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 SGB VII, durch arbeitsmedizinische und sicherheitstechnische Dienste gemäß § 24 SGB VII und durch die Aus- und Fortbildung derjenigen Personen, die in den Unternehmen mit der Unfallverhütung betraut sind (§ 23 SGB VII). Eingriffe in die Gestaltungsfreiheit und Privatautonomie der Unternehmer stellen die Ermächtigung der Berufsgenossenschaften zum Erlass von Unfallverhütungsvorschriften 397 gemäß § 15 SGB VII, die Überwachung durch Aufsichtsbeamte gemäß §§ 17, 18 SGB VII, die Anordnungs- und Eingriffsbefugnisse gemäß §§ 17 Abs. 1 Satz 2, 19 Abs. 1 und 2 SGB VII, die Bußgeldvorschriften gemäß § 209 SGB VII und die Pflicht zur Bestellung Sicherheitsbeauftragter gemäß § 22 SGB VII dar. Insbesondere die weitreichenden Eingriffsmöglichkeiten der Unfallversicherungsträger tragen ihnen die kritisch gemeinte Beschreibung eines „polizeiliches Regelmonopols“ 398 ein. Alternativen seien insofern denkbar, als die Aufgaben der Prävention auch durch allgemeinverbindliche Tarifverträge oder – ohne staatliche 395 Coenen, Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren . . . eine neue Dimension des Arbeitsschutzes?, BG 1997, S. 222, 225. 396 Kutscher / Stoy, HS-UV, § 40 Rn. 9 ff. 397 Ihrer Natur nach handelt es sich um autonome Rechtsnormen selbstverwalteter Körperschaften mit Bindungswirkung nur für Mitglieder. 398 Rieble / Jochums, Wettbewerbswidrigkeit berufsgenossenschaftlicher Monopole, in: Gerken (Hrsg.), Berufsgenossenschaften und Wettbewerb, S. 29, 31 f.

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Einwirkungsmöglichkeit – durch Marktgesetze erfüllt werden könnten 399. Die Urheber dieser Vorschläge lassen indes offen, ob sie diese Alternativen für mildere Mittel im Sinne einer grundrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung halten oder eher Erwägungen der Zweckmäßigkeit oder gar bloßer (wirtschaftspolitischer) Erwünschtheit anstellen. Letzteres kann und muss bei einer juristischen Prüfung außen vor bleiben. Im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit lässt sich festhalten, dass allenthalben gerade das genossenschaftliche System als besonders zweckmäßig gilt, weil es sich durch besondere Nähe zu den Branchen und daher zu den branchentypischen Gefahren auszeichnet. Die berufsgenossenschaftliche Organisation wirkt sich positiv aus, weil sich etwa bei der Erarbeitung der Unfallverhütungsvorschriften der Sachverstand bündeln lässt, zudem sind diese Vorschriften ohne aufwändiges Gesetzgebungsverfahren jederzeit dem Stand der Technik anpassbar 400. Die Zweckmäßigkeit der Prävention unterliegt außerdem ebenso wie deren Umfang der Aufsicht durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (§§ 87 Abs. 2, 90 Abs. 1 SGB IV). Hinter der Kritik am „polizeilichen Regelmonopol“ der Berufsgenossenschaften kann sich insofern ein Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit verbergen, als durch die Eingriffsbefugnisse der Berufsgenossenschaften und die Ausübung derselben die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit und Privatautonomie des Unternehmers beschränkt werden kann, weil er Zutritt und Kontrolle gewähren muss. Dann muss die Verhältnismäßigkeit eines darin liegenden Eingriffs in die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG geprüft werden. Es bedarfs also zunächst eines legitimen Zweckes: Die Unfallverhütung steht in unmittelbarer Nähe zum staatlichen Unfallschutz und als solche vor allem im öffentlichen Interesse, erst in zweiter Linie verfolgt sie auch die Interessen des Unfallversicherungsträgers (und seiner Mitglieder) auf Minderung der Lasten 401. Arbeits- und Unfallschutz sind legitime Ziele, die durch die den Berufsgenossenschaften übertragenen Präventionsaufgaben auf geeignete Weise erreicht werden 402. Eine Regelung über allgemeinverbindliche Tarifverträge oder die „Gesetze“ des Marktes könnte zwar das mildere Mittel darstellen. Es wäre jedoch nicht gleichermaßen geeignet, da es in beiden Alternativen an vergleichbar durchsetzungsstarken Instrumenten fehlte, wie sie den Berufsgenossenschaften durch die Eingriffsbefugnisse bis hin zur Anwendung der Vollstreckung gemäß Verwaltungsvollstreckungsgesetz an die Hand gegeben sind. Auch an der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne bestehen 399 Rieble / Jochums, Wettbewerbswidrigkeit berufsgenossenschaftlicher Monopole, in: Gerken (Hrsg.), Berufsgenossenschaften und Wettbewerb S. 29, 31 f. 400 Busse, Die Bedeutung der Berufsgenossenschaften für die Unfallverhütung in der historischen Betrachtung , BG 1998, S. 516, 519. 401 Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 15 f. 402 Das belegen die Zahlen: Seit 1970 ging die Zahl der meldepflichtigen Unfälle um 56 Prozent, die der tödlichen um 75 Prozent zurück; vgl. Datenmaterial auf http://www.hvbg.de.

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keine echten Zweifel, da schon der Eingriff in die Grundrechte der Unternehmen als nicht besonders intensiv zu werten ist. cc) Bedeutung innerhalb des Systems der gesetzlichen Unfallversicherung Eingebettet in das System der gesetzlichen Unfallversicherung, das sich durch die beiden Elemente Versicherung und soziales Schutzprinzip auszeichnet, gilt die Prävention deshalb als „außerordentlich wichtige Aufgabe der Unfallversicherung“ 403, weil sie die Aufgabe des staatlichen Unfallschutzes übernimmt, der seinerseits dem sozialen Schutzgedanken unterliegt. Sie sei nicht als Ausfluss der Versicherung, sondern aus Gründen der Zweckmäßigkeit den Trägern der Unfallversicherung übertragen worden 404. Dafür spricht, dass etwa die arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren nur im Bereich der Prävention, nicht jedoch im Leistungsbereich relevant sind 405. Der Präventionsauftrag geht also in Teilen über das hinaus, was an Risiko von der Versicherung abgedeckt ist. Auch Meydam betont, dass Prävention und Rehabilitation auf die primär soziale Funktion der Unfallversicherung hinweisen: Mangels „do ut des“ in diesem Bereich ergebe sich eine mittelbare Umverteilung 406. An dieser Stelle sei jedoch erneut auf die Schwierigkeit des Begriffs Umverteilung hingewiesen, jedenfalls sofern sie im Sinne eines Solidarausgleichs innerhalb einer mehr oder minder homogenen Gruppe stattfinden soll. Im weiteren Sinne kommt es insofern zu einer Umverteilung, als Unternehmer den Arbeitsschutz finanzieren, der seinerseits den sozialen Schutz der Beschäftigten konkretisiert, ohne dass die Unternehmer eine unmittelbare Gegenleistung erhalten. Es wäre jedoch falsch, Prävention und Versicherung komplett voneinander zu trennen. Faktisch wirkt sich eine erfolgreiche Präventionsarbeit auf die Lasten der Unfallversicherung und deshalb beitragsmindernd aus. Sie liegt also zumindest im Interesse des Unternehmers, auch wenn sie nicht der Zweck ist, der im Gegenseitigkeitsverhältnis der Versicherung steht. Zudem betont zurecht Busse 407: „Die ökonomische Effizienz eines Entschädigungssystems kann nur dann erreicht werden, wenn dieses Vorkehrungen trifft, um den Eintritt von Schäden zu verhindern, so daß die Unfallverhütung – über die ethische und menschliche Verpflichtung hinaus – zugleich dem Gebot wirtschaftlichen Handelns entspricht“. Darüber hinaus existiert ein unmittelbarer auch rechtlicher Zusammenhang zwischen Prävention 403

Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 15. Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 15 f. 405 Gitter, Die gesetzliche Unfallversicherung nach der Einordnung ins Sozialgesetzbuch – ein Versicherungszweig ohne Reformbedarf?, BB-Beil. 6 1998, S. 1, 10. 406 Meydam, Eigentumsschutz und sozialer Ausgleich in der Sozialversicherung, S. 77. 407 Busse, Die Bedeutung der Berufsgenossenschaften für die Unfallverhütung in der historischen Betrachtung, BG 1998, S. 516, 521. 404

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

und Beitragsgestaltung: Die Prävention stellt nach überzeugender Ansicht von Papier / Möller 408 die „dogmatisch befriedigende Rechtfertigung“ für die risikobezogene Beitragsgestaltung dar, denn je genauer die finanzielle Belastung eines Unternehmers dem Unfallrisiko entspreche, desto größer sei der ökonomische Anreiz zu effektiver Unfallverhütung. Wenn es deshalb nach dieser Meinung sachgerecht ist, in der Beitragsgestaltung das Solidarprinzip zugunsten des Versicherungsprinzips zurückzustellen 409, so muss man weitergehend argumentieren, dass die effektive Unfallverhütung ihrerseits den sozialen Schutzzweck verfolgt und deshalb legitim ist. Zusammengefasst muss die Unfallverhütung in erster Linie als Ausprägung des sozialen Schutzes in staatlichem Auftrag verstanden werden. Sie ist den Unfallversicherungsträgern jedoch nicht willkürlich übertragen worden, sondern aus Gründen der Zweckmäßigkeit. Darüber hinaus stellt die Prävention insofern einen Nutzen aus der Versicherung dar, als sie den Unternehmen beitragsmindernd zugute kommt. Dadurch ist die die risikobezogene und also versicherungsmäßige Beitragsgestaltung gerechtfertigt. Insgesamt ist also die „Einheit von Schadensverhütung und Gestaltung des Versicherungsverhältnisses keine quantitative Addition, sondern qualitativer Sprung“ 410. f) Grundsatz der Wirtschaftlichkeit In der gesetzlichen Unfallversicherung ist mehr als in anderen Zweigen der Sozialversicherung das Prinzip der Beitragsäquivalenz verwirklicht 411. Dieses Prinzip fordert ein äquivalentes Verhältnis von Beitrag und Risiko, wobei der Begriff der Einzeläquivalenz das angemessene Verhältnis zwischen individuell eingebrachtem Risiko und dem einzelnen Beitrag meint. Globaläquivalenz bezeichnet die äquivalente Beitragssumme für dasjenige Risiko, dem die in der Versicherung zusammengeschlossene Risikogemeinschaft insgesamt unterliegt, also anders gewendet müssen die Beiträge insgesamt die anfallenden Lasten tragen können. Sowohl Privat- als auch Sozialversicherung finanzieren sich nach den Grundsätzen der Globaläquivalenz, jedoch mit einem Unterschied im Hinblick auf den genauen Zweck. Ziel der Privatversicherung ist die Akkumulation wirtschaftlicher Werte insbesondere vor dem Hintergrund des freien Wettbewerbs, 408 Papier / Möller, Die Rolle des Solidarausgleichs in der gesetzlichen Unfallversicherung, NZS 1998, 353, 356. 409 Papier / Möller, Die Rolle des Solidarausgleichs in der gesetzlichen Unfallversicherung, NZS 1998, 353, 356. 410 Heinze, FS Gitter, S. 355, 366. 411 Oben II.4.a)bb) und c)aa). Aktuelle Reformvorschläge zielen allerdings darauf ab, die Beitragssatzspreizung zu reduzieren, vgl. Eckpunkte der Bund-Länder-Arbeitsgruppe vom 29. 6. 2006 (Fn. 36), S. 4; dadurch würden auch die Spielräume für risikoäquivalente Beiträge enger.

II. Die gesetzliche Unfallversicherung als Zweig der Sozialversicherung

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in dem die Versicherungsunternehmen stehen. Demgegenüber müssen die Sozialversicherungen im Wege der Umlagefinanzierung die genau und tatsächlich anfallenden Lasten tragen können. Wachsende Ausgaben ziehen das Erfordernis neuer Finanzierungsmöglichkeiten nach sich 412. Steigende Bedarfe können wegen der öffentlich-rechtlichen Form der Versicherung auf vermeintlich einfachem Wege befriedigt werden können, indem neue Finanzierungsquellen staatlicherseits erschlossen (etwa durch Zuschüsse, die aus Steuermitteln gedeckt sind) oder die bestehenden Quellen durch mittelbar staatliches Eingreifen der Versicherungsträger stärker belastet werden (durch Beitragserhöhungen). Beides begegnet für die gesamte Sozialversicherung häufig dem Vorwurf, Lasten könnten nahezu unkontrolliert expandieren, weil die Einnahmeseite mangels Wettbewerb unbegrenzt erweiterbar sei 413. Gleichwohl sei darauf hingewiesen, dass diese Optionen politischer Steuerung unterliegen, die auch begrenzend wirkt. Sowohl die politische Steuerung als auch diejenige durch Marktgesetze ist indes wegen ihrer Komplexität nur schwer messbar. Den Beweis dafür, dass Sozialversicherungen unter Marktbedingungen effizienter arbeiten würden, bleiben die kritischen Stimmen schuldig. In der Praxis der gesetzlichen Unfallversicherung lässt sich zudem gegen den Vorwurf einer unkontrollierten Lastenexpansion einwenden, dass der durchschnittliche Beitragssatz rückläufig ist. Ob dies als Erfolg der Präventionsarbeit zu werten ist, wird strittig gesehen, weil die Zahl der Arbeitsunfälle prozentual stärker abgenommen hat als der Beitragssatz. Der Rückgang der Arbeitsunfälle sei daher Folge eines Strukturwandels im Erwerbsleben und weniger Folge der Prävention 414. Dieser Vorwurf kann jedoch dahingestellt bleiben, weil er nicht einziges Kriterium für die Frage sein kann, ob die Unfallversicherung ungesteuert Mittel generieren kann, um eine womöglich ebenfalls unkontrollierte Lastensteigerung zu finanzieren. Aufgeworfen ist mithin die Frage nach der Wirtschaftlichkeit der Unfallversicherung. Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit sind gesetzlich vorgeschriebene Gebote aller Sozialversicherungszweige gemäß § 69 Abs. 2 SGB IV. Grundlage für die Wirtschaftlichkeitsprüfung sind die §§ 67 ff. SGB IV. Versicherungsträger stellen einen jährlichen Haushaltsplan auf, in dem die Mittel festgestellt werden, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben voraussichtlich erforderlich sind. Er ist Basis für die Haushalts- und Wirtschaftführung; bei seiner Aufstellung und Ausführung muss der Versicherungsträger die Grundsätze der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit berücksichtigen. Gemäß § 70 Abs. 2 SGB IV muss der Träger der Unfallversicherung den Haushaltsplan nach Verlangen der Aufsichtsbehörde vorlegen. Für andere Zweige der Sozialversicherung ist die Beteiligung der Aufsichtsbehörde strenger ausgestaltet: Der Haushaltsplan der Eisenbahn-Unfall412 413 414

Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 81, 84. Römer, Reform der gesetzlichen Unfallversicherung, S. 37 ff. Römer, Reform der gesetzlichen Unfallversicherung, S. 63 ff.

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

kasse etwa bedarf der Genehmigung (§ 70 Abs. 2 SGB IV) ebenso wie derjenige der Bundesagentur für Arbeit (§ 71a Abs. 2 SGB IV), die Haushaltspläne der Kranken- und Pflegeversicherungsträger unterliegen einem Beanstandungsrecht durch die Aufsichtsbehörde (§ 70 Abs. 5 SGB IV). Das bedeutet jedoch nicht, dass die Haushaltspläne und die Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsgebot deshalb einer schwachen Aufsicht unterlägen. Gemäß § 87 Abs. 1 Satz 2 SGB IV erstreckt sich vielmehr die Aufsicht über die Versicherungsträger insgesamt auf die Beachtung von Gesetz und Recht. Folglich hat die zuständige Behörde – gemäß § 90 Abs. 1 SGB IV das Bundesversicherungsamt – auch die Aufsicht über die Einhaltung von § 69 Abs. 2 SGB IV inne, durch den die Gebote der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit als Grundsätze der Haushaltsführung bestimmt werden. Es gilt zudem für die Sozialversicherung insgesamt, dass Wirtschaftlichkeit und Kostenmanagement als soziale Grundsätze aufzufassen sind, weil sie vom Kollektiv Aufwendungen fern halten 415. Problematisch ist, dass die Begriffe Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit Ermessensbegriffe oder unbestimmte Rechtsbegriffe darstellen 416. Insofern eröffnet sich den Aufsichtsbehörden ein breiter Spielraum und somit die Gefahr, dass die Behörde in das Selbstverwaltungsrecht des Versicherungsträgers gemäß § 29 Abs. 1 SGB IV eingreift 417. Andererseits ist es gerade Aufgabe der Aufsichtsbehörde, das Selbstverwaltungsrecht dort zu begrenzen, wo Befugnisse auf eine Weise ausgeübt werden, die den gesetzlichen Geboten nicht mehr entsprechen und unter Umständen zu unzulässigen Belastungen der Beitragszahler führen. In diese Richtung geht der Vorwurf, die Unfallversicherungsträger könnten Betriebsmittel und Rücklage „reichlich bemessen“ und dadurch den Betrieben mehr als notwendig finanzielle Mittel entziehen 418. Insofern steht die Aufsicht also im Spannungsfeld zwischen Erhalt der Selbstverwaltung und Schutz des Wirtschaftlichkeitsgebots. Um dies aufzulösen oder möglichst gering zu halten, ist zunächst erforderlich, die Begriffe näher zu bestimmen: Unter Wirtschaftlichkeit versteht man die Optimierung des Verhältnisses von Kosten und Nutzen. Sparsamkeit meint Herabsetzung oder Begrenzung von Kosten. Dies muss jedoch relativiert werden in Bezug auf die wirksame Aufgabenerfüllung, denn die größtmögliche absolute Sparsamkeit erzielt man, indem die Kosten auf Null gesenkt werden. Insbesondere für die Sozialversicherung ist dies widersinnig, weil dann das gesamte System obsolet wäre 419. Beide Begriffe beziehen sich auf das Verhältnis von Kosten und Nutzen. 415 Murer, Unfallversicherung im Spannungsfeld zwischen Kostenmanagement und sozialem Auftrag, BG 1999, S. 96, 99. 416 Fischer-Menshausen, v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG-Komm, Art. 114, Rn. 17 f. 417 Thieme, Berufsgenossenschaften auf internationalen Kongressen – Bemerkungen zur Wirtschaftlichkeit als Aufsichtsmaßstab, FS Krasney, S. 629. 418 Römer, Reform der gesetzlichen Unfallversicherung, S. 50 f. 419 Thieme, Berufsgenossenschaften auf internationalen Kongressen – Bemerkungen zur Wirtschaftlichkeit als Aufsichtsmaßstab, FS Krasney, S. 629, 630 f.

II. Die gesetzliche Unfallversicherung als Zweig der Sozialversicherung

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Um größtmögliche Wirtschaftlichkeit oder Sparsamkeit zu erreichen, kann man entweder Kosten und Nutzen maximal steigern oder beides so klein wie möglich halten – beide Ansätze, sowohl das Maximum- als auch das Minimumprinzip gelten jedoch nur theoretisch als Optimalmodelle. Für die Sozialversicherungen muss die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit beim Nutzen beginnen, denn, wie Thieme 420 für das Beispiel der Unfallversicherung zu recht betont, „Berufsgenossenschaften sind nicht dazu geschaffen, um Kosten zu sparen“. Nach seiner Auffassung dürfe, da die menschliche Gesundheit bzw. das menschliche Leben betroffen seien, erheblicher Aufwand betrieben werden: „Wirtschaftlichkeit heißt daher bei der Unfallversicherung, in erster Linie einen hohen Nutzen zu erzielen, der freilich nicht kostenlos zu haben ist. Nutzen ist das Primäre, die Kosten sind das Sekundäre. Es gilt für die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit daher hier das Maximumprinzip.“ 421 Obgleich der Ansatz, den Nutzen zum Gradmesser der Wirtschaftlichkeit zu erheben, für die Sozialversicherung und also auch für die Unfallversicherung logisch und richtig ist, bedarf die Schlussfolgerung der Überprüfung, sofern dadurch der unbegrenzten Verwirklichung des Maximumprinzips das Wort geredet wird. Es ist erforderlich, den Nutzen der Sozialversicherung für jeden Zweig zu bestimmen; davon hängt dann auch die optimale Relation von Kosten und Nutzen ab. Anders gewendet, wirtschaftlich arbeitet ein Versicherungsträger dann, wenn die Kosten für die dem Träger übertragenen Aufgaben, also dem konkreten Nutzen der Sozialversicherung, notwendig sind. Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung sind gemäß § 1 Nr. 1 SGB VII die Prävention und gemäß § 1 Nr. 2 SGB VII die Wiederherstellung und Entschädigung nach Eintritt eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit. Die Prävention ihrerseits unterliegt der Aufsicht des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit 422. Eingebettet in den verfassungsrechtlichen sozialen Schutzauftrag des Staates, zu dessen Erfüllung der Staat sich der Unfallversicherungsträger bedient, sind diese Aufgaben der Nutzen der gesetzlichen Unfallversicherung, an dem sich die Wirtschaftlichkeitsprüfung zu orientieren hat. Sie stellen zugleich die Grenze dar, wie weit das Prinzip des maximalen Nutzens ausweitbar ist. Diesen Grenzen unterliegen die Berufsgenossenschaften, die gemäß § 29 SGB IV Finanzverantwortung tragen. Im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens muss die einzelne Berufsgenossenschaft selbst die Maßstäbe setzen, nach denen sie den 420 Thieme, Berufsgenossenschaften auf internationalen Kongressen – Bemerkungen zur Wirtschaftlichkeit als Aufsichtsmaßstab, FS Krasney, S. 629, 630 f. 421 Thieme, Berufsgenossenschaften auf internationalen Kongressen – Bemerkungen zur Wirtschaftlichkeit als Aufsichtsmaßstab, FS Krasney, S. 629, 630 f. (am Beispiel der durch die Aufsichtsbehörde begrenzten Zahl von Delegationsteilnehmern einer BG an internationalen Kongressen). 422 Seit Ende 2005: Bundesministerium für Arbeit und Soziales.

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

Haushaltsplan aufstellen und vollziehen will 423. Zweifelhaft ist aber, ob dies ausschließt, dass das Bundesversicherungsamt seinerseits Maßstäbe für die Wirtschaftlichkeitsprüfung entwickelt 424. Jedoch muss das Bundesversicherungsamts zur angemessenen Beurteilung auch den Begriff der Wirtschaftlichkeit in den oben dargestellten Grenzen bestimmen, sonst liefe die Aufsicht leer. Nach den dargestellten Kriterien wären im einzelnen die Vorwürfe zu überprüfen, die sich insofern gegen das System der gesetzlichen Unfallversicherung richten, als durch eine Monopolstellung die Wirtschaftlichkeit des Systems gehemmt sei 425. Für die vorliegende Untersuchung kann dies jedoch unerheblich bleiben. Die gesetzlich vorgeschriebene Kontrolle der Wirtschaftlichkeit durch die Aufsichtsbehörde genügt insbesondere im Hinblick auf die hier dargestellten Kriterien für das angemessene Verhältnis von Kosten und Nutzen den Anforderungen, die an die Gebote der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu stellen sind.

III. Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung als Zwangsversicherung Die Verfassungsmäßigkeit der Sozialversicherung im allgemeinen sowie der gesetzlichen Unfallversicherung im besonderen wurde vor allem wegen ihres Zwangscharakters schon häufig in Frage gestellt. Sozialgerichtsbarkeit und Bundesverfassungsgericht haben zu dieser Frage, die zumeist als Reaktion auf Beitragsbescheide aufgeworfen wurde, verschiedentlich Stellung genommen 426. 1. Typisches und Abweichendes in der gesetzlichen Unfallversicherung In einem ersten Schritt ist zu klären, ob sich der Gesetzgeber für die nachkonstitutionelle Weiterentwicklung der gesetzlichen Unfallversicherung auf die Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG berufen konnte und kann. Diese Frage ist insbesondere auch im Hinblick auf die Finanzierung erheblich, weil sich der Beitrag zur Unfallversicherung anderenfalls als verfassungsrechtlich problematische Sonderabgabe darstellen würde 427. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss eine Pflichtversicherung, um Sozialversicherung im Sinne 423 Thieme, Berufsgenossenschaften auf internationalen Kongressen – Bemerkungen zur Wirtschaftlichkeit als Aufsichtsmaßstab, FS Krasney, S. 629, 636 f. 424 Thieme sieht darin einen Eingriff in das Selbsverwaltungsrecht; FS Krasney, S. 629, 636 f. 425 Römer, Reform der gesetzlichen Unfallversicherung, S. 37 ff. 426 Etwa BVerfGE 11, 105 ff.; BVerfGE 23, 12 ff.; BVerfGE 55, 139 ff.; 75, 108 ff.; BVerfG SozR 2200 § 543 Nr. 6; BSGE 6, 213 ff.; LSG Brandenburg 24. 9. 2001, Az.: L 7 U 88/00. 427 Papier / Möller, Die Rolle des Solidarausgleichs in der gesetzlichen Unfallversicherung, NZS 1998, 353, 356 ff.; Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 402.

III. Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung

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der Kompetenznorm zu sein, folgende Kriterien erfüllen: Sie muss nach dem Wesen einer Versicherung den möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarf durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit decken 428, diese Lasten auf eine Solidargemeinschaft 429 übertragen und eine bestimmte Art und Weise der organisatorischen Bewältigung wählen, namentlich durch selbstständige Körperschaften des öffentlichen Rechts, die ihre Mittel durch Beiträge aufbringen. Den Versicherungszwang als wesentliches Merkmal gerade auch zur Abgrenzung zur Privatversicherung zu sehen 430, ist indes von der falschen Seite aufgezäumt: Die Legitimität des Versicherungszwangs muss sich gerade durch die Wesensmerkmale der Sozialversicherung beweisen und kann zudem nur gewahrt sein, wenn Grundrechte nicht verletzt werden. a) Art und Weise der organisatorischen Bewältigung Träger der gesetzlichen Unfallversicherung sind – für den für diese Untersuchung einschlägigen Bereich – die gewerblichen Berufsgenossenschaften. Diese sind gemäß § 29 Abs. 1 SGB IV Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung und zwar Selbstverwaltung sowohl im Rechtssinne als unterstaatlicher Träger, der in eigenem Namen und auf eigene Kosten handelt, als auch im politischen Sinne mit von der Idee her genossenschaftlicher Organisation. Die idealtypische Ehrenamtlichkeit ist zumindest noch gemäß § 40 SGB IV bei der Mitgliedschaft in den Selbstverwaltungsorganen verwirklicht. Als Erklärung für die branchenmäßige Gliederung der Unfallversicherung auf die verschiedenen Berufsgenossenschaften sei an dieser Stelle nur auf die Schlagworte Branchennähe, Risikonähe und Versichertennähe verwiesen 431. Die branchenmäßige Gliederung ist verfolgt den Zweck, Unternehmen nach ihrer Art einer bestimmten, für diese Branche zuständigen Berufsgenossenschaft zuzuordnen. Damit geht ein völliger Ausschluss einer Wahlmöglichkeit einher, wie sie etwa mittlerweile das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung gemäß § 173 Abs. 1 SGB V auch für Pflichtversicherte kennt. Das überkommene System der gesetzlichen Unfallversicherung ist indes aus genannten Gründen anders angelegt. Es ist fraglich, ob der Ausschluss der Wahlmöglichkeit Zweifel an der Kompetenz für die Unfallversicherung nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG aus dem Grund erwecken kann, weil ein Wahlrecht womöglich zum Begriff Sozialversicherung zählt. Nach Rolfs 432 gehöre es nicht „zu den Strukturmerkmalen der Sozialversiche428

BVerfGE 11, 105, 111 f. Gitter / Nunius, HS-UV, § 4 Rn. 12. 430 Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 25. 431 Gitter, Grundlagen der gesetzlichen Unfallversicherung im Wandel der Zeit, SGB 1993, S. 297, 298. 432 Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 111. 429

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

rung im Sinne der bundesstaatlichen Kompetenzordnung, dass den Versicherten jede Dispositionsmöglichkeit hinsichtlich ihrer Mitgliedschaft genommen wird“. Diese Dispositionsmöglichkeit ist nicht auf das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung und die branchenmäßige Zuordnung übertragbar, denn dort haben die Versicherten gar keinen aktiven Anteil daran, dass sie – passiv – von den Unternehmern, für die sie beschäftigt sind, versichert werden. In den Zweigen, in denen die Versicherten an der Versicherung, i. e. vor allem der Finanzierung aktiv beteiligt sind, besteht Wahlmöglichkeit allenfalls für die Versicherten selbst und nicht etwa für die (mit-)finanzierenden Arbeitgeber. Ohnehin sieht Rolfs selbst diese Forderung als erfüllt an, wenn zumindest gewisse Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der freiwilligen Mitgliedschaft in der Sozialversicherung oder der Versicherungsbefreiung gewahrt sind, weil diese „zum tradierten Kernbestand des Sozialversicherungsrechts“ gehörten 433. Versicherungsbefreiung und freiwillige Versicherung kennt auch die gesetzliche Unfallversicherung (§§ 5, 6 SGB VII) und zwar in erster Linie für die Fälle, in denen Unternehmer selbst versichert sind oder versichert werden wollen. Die Gliederung nach Branchen im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung schließt also nicht aus, dass die Unfallversicherung zur Sozialversicherung im Sinne der Kompetenznorm in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gehört, zumal gerade auch diese Struktur zu den Grundzügen der ursprünglichen Unfallversicherung, also zur Systementscheidung aus vorkonstitutioneller Zeit gehört. Die fehlende Wahlmöglichkeit für die Unternehmer kann jedoch noch an anderer Stelle verfassungsrechtliche Bewandtnis haben. b) Versicherung und sozialer Ausgleich In Kapitel II wurden Begriff und Inhalt von Sozialversicherung insbesondere im Hinblick auf das Versicherungsmäßige und das Wesen des Sozialen geklärt und auch für die gesetzliche Unfallversicherung untersucht. Es ist deutlich geworden, dass sie versicherungstechnisch ausgestaltet ist und viele Elemente enthält, die typisch für die Privatversicherung sind. Weniger eindeutig, aber letztlich ebenfalls zu bejahen war die Frage, ob und inwieweit in der gesetzlichen Unfallversicherung ein Solidarausgleich, oder besser: sozialer Ausgleich verwirklicht wird. Vorhanden, wenn auch nur schwach ausgeprägt, ist er unter den Unternehmern durch die Beitragsgestaltung vor allem dadurch, dass das versicherte Rsiko des Wegeunfalls nicht mit in die Berechnung einfließt. Das Lastenausgleichsverfahren zwischen den Berufsgenossenschaften ist zwar auch ein Ausgleich, der gewissermaßen solidarisch von den einzelnen Trägern getragen wird. Es weist jedoch keinen Bezug zum Begriff des sozialen Ausgleichs im Sinne der Definition von Sozialversicherung gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auf, denn das Lastenausgleichsverfahren ist allein auf die Sicherung des System angelegt und nicht auf den Ausgleich 433

Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 111.

III. Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung

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unterschiedlicher sozialer Risiken. So verstanden, verwirklicht wie gezeigt die Leistungsseite der gesetzlichen Unfallversicherung in mehrerlei Hinsicht einen sozialen Ausgleich: Insbesondere die Rentenberechnung nach dem Mindestjahresarbeitsverdienst und die Absicherung der hinterbliebenen Angehörigen wirkt sozial ausgleichend. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind sowohl Versicherung als auch der soziale Ausgleich notwendig, damit es sich um Sozialversicherung im Sinne des Kompetenztitels handelt 434. Ohne Solidarausgleich handelte es sich nach Papier / Möller 435 um eine Zwangsversicherung, für die die Länder die Kompetenz hätten, oder um eine verfassungsrechtlich nur in engen Grenzen zulässige Sonderabgabe. Nach Hase 436 ist es gerade das Versicherungsverhältnis, in dem Beitragspflichten und Leistungsberechtigungen verknüpft werden, durch das der Beitrag zur Sozialversicherung nicht zur verfassungswidrigen Sonderabgabe wird. Im Hinblick auf die höchstrichterlich herausgearbeiteten Voraussetzungen der Sozialversicherung liegt in den Auffassungen jedoch kein Dissens, da beide Kriterien erfüllt sein müssen. Die gesetzliche Unfallversicherung in ihrer Grundstruktur im gewerblichen Bereich kann diesen Anforderungen genügen. c) Extensive Inanspruchnahme der Kompetenz Während für die gesetzliche Unfallversicherung als herkömmlichen Zweig der Sozialversicherung ohnehin, jedoch auch nach den durch das Bundesverfassungsgericht erarbeiteten Kriterien eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG grundsätzlich besteht, so ist fraglich, wo die Grenzen zu ziehen sind. Die Kompetenz wurde gerade im Bereich der Unfallversicherung extensiv in Anspruch genommen 437; zu denken ist etwa an den Bereich der sogenannten unechten Unfallversicherung 438. Unter denjenigen Regelungen, die für die hier untersuchten gewerblichen Berufsgenossenschaften relevant sind, ist insbesondere die Versicherung der Wegunfälle gemäß § 8 Abs. 2 SGB VII und zuvor in § 550 RVO als extensive Ausschöpfung der Kompetenz anzusehen. Sie ist jedoch wegen des engen Zusammenhangs zum sozialen Schutzprinzip zugunsten der Versicherten legitim 439. 434

BVerfGE 28, 324, 349. Papier / Möller, Die Rolle des Solidarausgleichs in der gesetzlichen Unfallversicherung, NZS 1998, 353, 356 ff. 436 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 402. 437 Allgemein BVerfGE 45, 376, 377. 438 Fuchs / Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 437; Schnapp, in: Achterberg / Püttner / Würtenberger (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht II, Sozialrecht, Rn. 12. 439 Bei der im Raum stehenden Reform der gesetzlichen Unfallversicherung steht die Versicherung- der Wegeunfälle offenbar nicht zur Disposition; vgl. Pressemitteilung 435

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

Um verfassungsgemäß zu sein, muss sich die Sozialgesetzgebung des Bundes in formeller Hinsicht auf einen Kompetenztitel berufen können. Die gesetzliche Unfallversicherung genügt, jedenfalls für den für die Untersuchung relevanten Bereich der gewerblichen Berufsgenossenschaften, den Anforderungen an den Begriff der Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und unterliegt mithin der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes. 2. Wahrung von Grundrechten Die materielle Verfassungsmäßigkeit muss sich insbesondere an der Wahrung der Grundrechte zeigen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen zum Zwangscharakter der Sozialversicherungen 440 die Grundrechte der Pflichtversicherten geprüft, die auch hier die Schranke der Gesetzgebung bildeten; insbesondere Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit müssten stets gewahrt werden 441. Als durch eine Pflichtversicherung betroffene Grundrechte kommen die Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 GG, die Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG, als Auffanggrundrecht die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG sowie der allgemeine Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG in Betracht. Ein Eingriff in die Freiheit des Eigentums gemäß Art. 14 Abs. 1 GG scheidet aus, da die Auferlegung von Geldleistungspflichten das Vermögen als solches betrifft, das nicht in den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG fällt 442. a) Negative Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 GG Problematischer ist gerade für die gesetzliche Unfallversicherung das Grundrecht auf Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 GG: In seiner negativen Ausprägung schützt Art. 9 Abs. 1 GG das Recht, einem Verein fernzubleiben oder aus ihm auszuscheiden. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts 443 und weiten Teilen der Lehre 444 schützt das Grundrecht jedoch nicht vor Zwangszusammenschlüssen in öffentlich-rechtlichen Vereinen und Verbänden. Begründet wird des HVBG vom 6. 7. 2006, abrufbar auf http://www.hvbg.de/d/pages/presse/preme/index.html. 440 BVerfGE 10, 354; 12, 319, 323 f. 441 BVerfGE 29, 221, 242. 442 Siehe statt vieler Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 14 Rn. 15 mwN; Für den Arbeitgeberbeitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung fordert Schnapp eine Legitimation über eine „grundrechtsdogmatische Konstruktion“, die sich an der Sozialbindung des Eigentums gemäß Art. 14 Abs. 2 GG zu orientieren hat, Schnapp, , Die rechtliche Legitimation des Arbeitgeberanteils in der gesetzlichen Krankenversicherung, SGB 2005, S. 1, 8. 443 BVerfGE 10, 89, 102; BVerfGE 38, 298; BVerwGE 107, 169, 172 f.

III. Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung

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dies damit, dass einer solchen negativen Freiheit keine positive gegenüberstünde, da der einzelne Bürger nicht imstande sei, eine öffentlich-rechtliche Vereinigung zu gründen, sondern dies durch staatlichen Hoheitsakt geschehe. Gegen diesen Umkehrschluss wird indes kritisch eingewandt, dass das Fernbleiben von einer öffentlich-rechtlichen Vereinigung gerade keine hoheitliche Handlungsform voraussetzt, sondern der klassischen Grundrechtsfunktion eines Abwehrrechts entspricht 445. Wenn Art. 9 Abs. 1 GG vor einem Zwang zur Vereinigung schütze, könne es keinen Unterschied machen, ob die Vereinigung privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich sei 446. Dem folgend, wäre durchaus zu prüfen, ob der einzelne Unternehmer sich auf Art. 9 Abs. 1 GG in seiner Funktion als Abwehrrecht gegen seine Zugehörigkeit zu eine gewerblichen Berufsgenossenschaft berufen kann. Das Wesen einer Genossenschaft ist die verbandsmäßig organisierte Selbsthilfe 447. Auch der gesetzlichen Unfallversicherung von 1884 lag der Gedanke zugrunde, dass sich Arbeitgeber ihren Branchen entsprechend zusammenschließen, um das Haftungsrisiko Arbeitsunfall auf die Gemeinschaft zu übertragen. Es kann zudem auch heute noch zumindest formal von Selbsthilfe in demokratischer Organisationsstruktur gesprochen werden, da die Berufsgenossenschaften ihre Angelegenheiten in Selbstverwaltung durch die gewählten und paritätisch mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern besetzten Organe Vertreterversammlung und Vorstand regeln, §§ 31 Abs. 1, 44 Abs. 1 SGB IV. Der historische Zusammenschluss selbst erfolgte jedoch zwangsweise. Die Berufsgenossenschaften teilen mit den privatrechtlichen Genossenschaften nach den Regelen des Genossenschaftsgesetzes nur den Namen, nicht jedoch die Rechtsform. Nach einfachgesetzlicher Festlegung gemäß § 29 SGB VII tragen die Berufsgenossenschaften wie die übrigen Sozialversicherungsträger die Rechtsform der Körperschaft des öffentlichen Rechts. Die Frage der Rechtsform der Sozialversicherungsträger ist trotz der eindeutigen gesetzlichen Bestimmung nicht unproblematisch. Körperschaften sind nach allgemeiner Verwaltungsrechtslehre mitgliedschaftlich strukturiert, während die Anstalt als andere typische Rechtsform des öffentlichen Rechts in der Nutzung ihren Wesenszug hat 448. In manchen Zweigen der Sozialversicherung ist die mitgliedschaftliche Struktur aber schwach oder gar nicht ausgeprägt. Das SGB VII verzichtet ganz auf den Begriff des Mitglieds 449, obwohl doch gerade die Verwendung des Begriffs der Genossenschaft 444

Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 9 Rn. 7; Merten, HdB des Staatsrechts VI, S. 798 ff.; Löwer, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 9 Rn. 20; Bergmann, in: Seifert / Hömig (Hrsg.), GG, Art. 9 Rn. 3. 445 Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 730; Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG-Komm, Art. 9 Rn. 22. 446 Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 730. 447 Tilch / Arloth, Deutsches Rechtslexikon, Band 2; Die Legaldefinition der privatrechtlichen Erwerbs- oder Wirtschaftsgenossenschaften findet sich in § 1 GenG. 448 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 23 Rn. 40 f., 46 f.

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

eine mitgliedschaftliche Organisation nahe legt. Noch in § 658 Abs. 1 RVO war deshalb auch von Mitgliedschaft die Rede, doch das SGB VII enthält keine Vorschrift, die die Mitgliedschaft des Unternehmers bestimmt. Bei Einführung des SGB VII wurde darauf verzichtet weil, die Aufnahme als Mitglied in die Berufsgenossenschaften schon bis dato als primär interne organisatorische Maßnahme des Versicherungsträgers galt 450. Deshalb kann man die Frage stellen, ob – ungeachtet des Streits um die Anwendbarkeit auf öffentlich-rechtliche und nicht nur privatrechtliche Vereinigungen – Art. 9 Abs. 1 GG überhaupt das einschlägige Grundrecht sein kann, wenn der Unternehmer formal nicht Mitglied in einer Vereinigung wird. Von der Eingriffseite her denkend, liegt die eigentliche Belastung für den Unternehmer ohnehin in der Auferlegung der Beitragspflicht durch den Beitragsbescheid und nicht darin, Mitglied in einer Vereinigung zu werden. Deshalb ist Gegenstand der verfassungsrechtlichen Prüfung der Zwangsversicherung nicht die – ohnehin bezweifelbare – Mitgliedschaft, sondern die Auferlegung der Geldleistungspflicht 451. So ist auch nach Höfling die „Zwangsvergemeinschaftung ( . . . ) das rechtliche Mittel, mit dessen Hilfe der Staat eine abgegrenzte Gruppe mit dem Ziel der eigenverantwortlichen Aufgabenwahrnehmung konturiert“ 452. Löwer 453 betont in diesem Gedanken, dass die „Aufgabenabbürdung“ den eigentlichen Grundrechtseingriff darstellt. Weil die Zwangsmitgliedschaft nur das Mittel dafür liefere, sei die Frage nach der Geltung von Art. 9 Abs. 1 GG als negatives Grundrecht im Falle öffentlich-rechtlicher Zwangsinkorporation im Ansatz falsch gestellt. Dieser Ansatz überzeugt auch für den hier untersuchten Bereich. Die Frage nach der materiellen Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung kann nicht abstrakt beantwortet werden. Maßstab müssen immer Grundrechte der Betroffenen sein und auch dies nicht abstrakt, sondern anhand der Frage, wodurch in den Schutzbereich welchen Grundrechts eingegriffen wird. Das bedeutet aber nichts anderes, als den betroffenen Schutzbereich von der Eingriffsseite her zu bestimmen. Die Belastungen, die die gesetzliche Unfallversicherung enthält, bedienen sich nur des Mittels einer – gleichwie ausgeprägten – Mitgliedschaft oder Zugehörigkeit, ohne dass diese für sich genommen belastend ist. Der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 1 GG ist deshalb ungeachtet des Streits um die Reichweite der negativen Freiheit nicht eröffnet. 449

Häufig werden trotzdem die beitragszahlenden Unternehmer als Mitglieder bezeichnet, vgl. Geis, Körperschaftliche Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, in: Schnapp (Hrsg.), Funktionale Selbstverwaltung und Demokratieprinzip, S. 65, 72. 450 BT-Drucks. 13/2204, S. 108. 451 Anders Papier / Möller, Verfassungsrechtliche Fragen der Festsetzung der Beiträge in der Unfallversicherung, SGB 1998, S. 337, 340, die jedoch dann einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG prüfen. 452 Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 9 Rn. 22. 453 Löwer, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar Bd. 1, Art. 9 Rn. 20.

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b) Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG Regelungen des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung können die Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG verletzten. Betroffen sein können zum einen die beitragspflichtigen Unternehmer (dazu unter aa) und zum anderen private Versicherungsunternehmen, die eine Unfallversicherung anbieten (dazu unter bb). aa) Berufsfreiheit der beitragspflichtigen Unternehmer (1) Schutzbereich: Beruf und berufsspezifische Handlungen Auch an einer Verletzung der Berufsfreiheit durch die gesetzliche Unfallversicherung ergeben sich schon an der Stelle Zweifel, die die Eröffnung des Schutzbereichs überprüft 454. Art. 12 Abs. 1 GG schützt die Freiheit der Berufswahl und der Berufsausübung. Schon seit den frühen Tagen der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung werden beide Ausprägungen als einheitlicher Schutzbereich verstanden, weil sie einander insofern bedingen, als mit der Berufswahl die Berufsausübung beginnt und in der Berufsausübung die Wahl immer wieder neu bestätigt wird 455. Während der Begriff des Berufs denkbar weit verstanden wird, sind durch Art. 12 Abs. 1 GG jedoch nur tatsächlich berufsspezifische Handlungen geschützt. Auch dieser Aspekt wird von der Eingriffsseite her erfasst, indem die zu überprüfende Regelung oder Maßnahme die Voraussetzung erfüllen muss, eine berufsregelnde Tendenz zu haben, also sich unmittelbar auf die berufliche Tätigkeit auszuwirken 456. Durch die gesetzliche Unfallversicherung wird Unternehmern eine Beitragspflicht auferlegt. Ferner müssen sie an der Unfallverhütung gemäß §§ 14 ff. SGB VII mitwirken, indem sie sich bestimmten Verhaltensvorschriften unterwerfen und den technischen Aufsichtsbeamten Zutritt und Kontrollmöglichkeit in ihren Unternehmen gewähren müssen. Zwar ist Unternehmersein an sich kein Beruf. Doch mit Ausnahme weniger Spezialfälle wie etwa nicht gewerbsmäßig durchgeführter Bauarbeiten besteht die Unternehmung im Sinne des SGB VII regelmäßig zugleich darin, dem Unternehmer eine Lebensgrundlage zu schaffen und zu erhalten, und ist zudem auf eine bestimmte Dauer angelegt. Mithin ist die Tätigkeit auch regelmäßig Beruf im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG. Geschützt sind zudem auch inländische juristische Personen und Personenvereinigungen des Privatrechts, also Unternehmen, die beispielsweise in der Rechtsform der GmbH oder der AG geführt werden.

454

Ausdrücklich offen lassend LSG Baden-Württemberg, HVBG-Info 2003, 1887,

1898. 455 456

BVerfGE 7, 377. Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 822.

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(2) Eingriff: Berufsregelnde Tendenz Es ist indes fraglich, ob den angeführten Regelungen des Unfallversicherungsrechts eine berufsregelnde Tendenz innewohnt. Sie beziehen sich jedenfalls nicht auf einen oder mehrere bestimmte Berufe im Sinne eines abgegrenzten Berufsbildes, sondern erfassen alle Unternehmer, für die Versicherte im Sinne des § 2 Abs. 1 SGB VII tätig werden. Eine berufsneutrale Zielsetzung kann jedoch berufsregelnde Tendenz haben, wenn sich die Regelung unmittelbar auf die berufliche Tätigkeit auswirkt oder wenn Tätigkeiten betroffen sind, die typischerweise beruflich ausgeübt werden 457. Für Geldleistungspflichten, die an das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses anknüpfen, hat das Bundesverfassungsgericht sogar neuerdings in Aufgabe der früheren Rechtsprechung eine besondere berufsregelnde Tendenz für nicht erforderlich gehalten, weil diese das Arbeitsverhältnis inhaltlich ausgestalteten und die zusätzlichen Kosten aus der Berufstätigkeit, nämlich der Beschäftigung von Arbeitnehmerinnen 458, folgten 459. Auch in der Literatur wird eine Abkehr vom restriktiven und dogmatisch wie praktisch problematischen Eingriffsverständnis mit dem Erfordernis der berufsregelnden Tendenz empfohlen 460. Entscheidend seien vielmehr die allgemeinen Regeln der Grundrechtsdogmatik und damit allein die Betroffenheit einer grundrechtlich geschützten Tätigkeit durch eine hoheitliche Maßnahme, ohne dass es auf Finalität, Tendenz oder eine typischerweise vorliegende Betroffenheit ankäme. Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ist jedenfalls die Beitragspflicht zu den Berufsgenossenschaften an Art. 12 Abs. 1 GG zu messen, da sie gerade daran anknüpft, dass ein Unternehmer Versicherte, mithin in der Regel Arbeitnehmer beschäftigt. Auch die durch die Berufsgenossenschaften erlassenen Unfallverhütungsvorschriften, deren Einhaltung durch die technischen Aufsichtsbeamten überwacht und die nötigenfalls im Wege der Verwaltungsvollstreckung durchgesetzt werden, treffen Unternehmer dadurch in ihrer beruflichen Tätigkeit, dass ihnen die freie Entscheidung darüber, wie Arbeits- und Betriebsabläufe organisiert werden, beschnitten wird. Die gesetzliche Unfallversicherung ist daher mit den genannten Regelungen an der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG zu messen 461. Die Regelungen greifen in den Schutzbereich der freien Berufsausübung ein und bedürfen der Rechtfertigung, um nicht verfassungswidrig zu sein.

457

BVerfGE 97, 228, 254. Dem Beschluss lag eine Verfassungsbeschwerde zugrunde, die sich gegen die Zahlung von Mutterschaftsgeld richtete. 459 BVerfGE 109, 64, 84 f. 460 Manssen, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 12 Rn. 76. 461 So auch Papier / Möller, Verfassungsrechtliche Fragen der Festsetzung der Beiträge in der Unfallversicherung, SGB 1998, S. 337, 338. 458

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(3) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG steht die Berufsausübung unter einem Regelungsvorbehalt, für den jedoch seinerseits Grenzen gelten: Sie bewegen sich im zulässigen Rahmen, wenn sie durch hinreichende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden können, die gewählten Mittel zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich sind und bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt wird 462. Die Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit sind dabei einzeln zu prüfen. (a) Unfallverhütungsvorschriften Die belastenden Regelungen im Bereich der Unfallverhütung verfolgen das Ziel, Beschäftigte wirksam vor der innerhalb der verschiedenen Branchen sehr unterschiedlich ausgeprägten Gefahr zu schützen, bei ihrer Tätigkeit einen Schaden an Leib oder Leben zu erleiden. Damit stellen sie eine Ausprägung des staatlichen Schutzauftrages dar, hier in der besonderen Ausprägung des Arbeitsschutzes im weiteren Sinne, und mithin verfolgen sie einen Gemeinwohlzweck. Den Unternehmer in diesen Schutz einzubeziehen, indem ihm Mitwirkungspflichten auferlegt werden, ist ein geeignetes Mittel, da dieser in seinem Unternehmen weisungsbefugt ist und die Hoheit über die Arbeitsabläufe innehat, also den größten Einfluss auf die Vorgänge in seinem Unternehmen trägt. Ob dies auch erforderlich ist, kann im Hinblick auf den Dualismus im staatlichen Arbeitsschutz Zweifel aufkommen lassen, da unter Umständen das Ziel des Arbeitsschutzes ebenso gut und, weil auf die berufsgenossenschaftlichen Vorschriften und Eingriffsbefugnisse verzichtet werden könnten, auch weniger belastend durch das Arbeitsschutzgesetz und dessen Überwachung erreicht werden könnte. Dem lässt sich aber entgegen halten, dass die Zweigleisigkeit des Arbeitsschutzes zwar ursprünglich allein in der eher ungeplanten historischen Entwicklung begründet liegt, der Arbeitsschutz durch die gesetzliche Unfallversicherung jedoch seit jeher und insbesondere auch in neuerer Zeit einen eigenen Stellenwert genießt. Die Aufgabe des Arbeits- und Unfallschutzes den Berufsgenossenschaften zu übertragen, ist insbesondere wegen der Gliederung der Branchen und der daraus folgenden besonderen Nähe und Erfahrungen im Hinblick auf die spezifischen Gefahren einer bestimmten Branche zweckmäßig und geht über das hinaus, was das zwangsläufig allgemeiner gehaltene Regelwerk des Arbeitsschutzgesetz zu leisten imstande ist. Auch eine Regulierung über Tarifverträge oder die „Gesetze“ des Marktes stellt sich nicht als gleich geeignetes milderes Mittel dar 463, so dass der Eingriff insgesamt erforderlich ist. In der Frage der Zumutbarkeit ist das besonders hohe Allgemeingut des 462 463

BVerfGE 109, 64, 85; 72, 26, 31; 71, 183, 196 f; 68, 155, 171. Dazu oben II.4.e)bb).

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

sozialen Schutzes der Beschäftigten gegen die Schwere des Eingriffs abzuwägen. Weil der Eingriff wegen der schwach ausgeprägten Störung des betrieblichen Ablaufs und somit der beruflichen Betätigung der Unternehmer als gering einzustufen ist, ist er insbesondere wegen der Bedeutung des verfolgten Ziels insgesamt zumutbar. (b) Beitragspflicht Auch der Eingriff durch die Beitragspflicht kann sich auf den Gesetzesvorbehalt gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG berufen. Vor der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs ist zu bedenken, ob die Regelungen zur Beitragserhebung dem verfassungsrechtlichen Gebot der Wesentlichkeit genügt, soweit sie davon abhängen, welcher Berufsgenossenschaft und welcher Gefahrklasse ein Unternehmer zugeordnet wird. Das verfassungsrechtliche Wesentlichkeitsprinzip umschreibt eine Anforderung an einen Gesetzesvorbehalt zum Eingriff in ein Grundrecht 464. Nach der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts 465 muss der Gesetzgeber „in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst ( . . . ) treffen“. Insbesondere muss durch Parlamentsgesetz die wesentliche Entscheidung über die Voraussetzungen, Umstände und Folgen von Eingriffen getroffen werden 466. Die Festlegung der Beitragspflicht folgt zwar gesetzlichen Vorschriften gemäß §§ 150 SGB VII. Die in § 153 Abs. 1 SGB VII niedergelegten Berechnungsgrundlagen bestimmen Umlagesoll der Berufsgenossenschaft und Gefahrklasse zu zweien der drei Parameter. Weder die Zugehörigkeit zu einer Berufsgenossenschaft noch die konkrete Gefahrklasse ergibt sich für den einzelnen Unternehmer jedoch unmittelbar aus Gesetz. Für die Zuordnung eines Unternehmens zu einer Berufsgenossenschaft gelten §§ 121, 122 SGB VII. Die gewerblichen Berufsgenossenschaften sind zuständig, wenn kein anderer Unfallversicherungsträger (also Unfallkasse oder landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft) zuständig ist. Die sachliche Zuständigkeit der einzelnen Berufsgenossenschaft kann gemäß § 122 SGB VII durch eine Rechtsverordnung des Bundesministeriums für Gesundheit und soziale Sicherung 467 geregelt werden. Von dieser Ermächtigung ist jedoch bislang nicht Gebrauch gemacht worden. Tatsächlich geht die Einteilung der Zuständigkeiten noch auf einen Beschluss des Bundesrates vom 22. 5. 1885 468 zurück. Diese Regelungen gelten 464 465 466 467 468

Vgl. zur Wesentlichkeitslehre etwa Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 261 ff. BVerfGE 61, 260, 275; 88, 103, 116. Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 266. Seit Ende 2005: Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Amtliche Nachrichten für Reichsversicherung1885, 143.

III. Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung

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fort, es handelt sich dabei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts um geltendes Recht 469. Fragen kann man auch, inwieweit die Beitragsfestlegung der Wesentlichkeitslehre genügt, soweit sie von der Bildung und Zuordnung der Gefahrklassen abhängig ist. Die Gefahrklasse, zu der die Unternehmen gemäß § 159 Abs. 1 SGB VII durch die Berufsgenossenschaft veranlagt wird, stellt einen Faktor in der Beitragsberechnung gemäß § 167 Abs. 1 SGB VII dar. Gemäß § 157 Abs. 1 Satz 1 SGB VII legen die Berufsgenossenschaften den Gefahrtarif und die darin enthaltenen abstufenden Gefahrklassen autonom fest. Der Beitragssatz zur Unfallversicherung wird also nicht unmittelbar durch den parlamentarischen Gesetzgeber, sondern durch die einzelne Berufsgenossenschaft festgelegt. Dies könnte ein Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes und die Wesentlichkeitstheorie sein. Mit dieser Frage haben sich umfassend Papier / Möller 470 auseinandergesetzt. Dem Vorbehalt des Gesetzes wird entsprochen, wenn staatliche Eingriffe eine gesetzliche Grundlage haben. Darunter können auch untergesetzliche Normen fallen, die dann ihrerseits auf Grundlage eines Parlamentsgesetzes ergangen sein müssen. In diesem Fall kommt die Wesentlichkeitstheorie zum Tragen. Für die Beitragsgestaltung in der gesetzlichen Unfallversicherung ist also erheblich, ob die Festsetzung des Gefahrtarifs und der darin enthaltenen Gefahrklassen so wesentlich sind, dass sie durch Parlamentsgesetz geregelt werden müssten 471. Papier / Möller stellen bei der Untersuchung dieser Frage insbesondere auf die Natur des untergesetzlichen Normgebers ab: Am ehesten könne der Gesetzgeber wichtige Entscheidungen auf kommunale Gebietskörperschaften übertragen, weil diese von Verfassungs wegen mit Selbstverwaltungsrecht ausgestattet und zudem durch die Adressaten der Normen demokratisch legitimiert sind; dies gilt grundsätzlich im übrigen für sämtliche Selbstverwaltungskörperschaften, also etwa auch für die Landesärztekammern 472. Anders ist dies, wenn die Exekutive mit der Rechtsetzung betraut wird. Das Bundesverfassungsgericht: „Denn es macht einen erheblichen Unterschied aus, ob der Gesetzgeber seine – der Materie nach prinzipiell unbeschränkte und allen Bürgern gegenüber wirksame – Normsetzungsbefugnis an eine Stelle der bürokratisch hierarchisch organisierten staatlichen Exekutive abgibt oder ob er innerhalb eines von vornherein durch Wesen und Aufgabenstellung der Körperschaft begrenzten Bereichs einen bestimmten Kreis von Bürgern ermächtigt, durch demokratisch gebildete Organe ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln.“ 473 469

BSGE 39, 112, 113; 71, 85, 86. Papier / Möller, Verfassungsrechtliche Fragen der Festsetzung der Beiträge in der Unfallversicherung, SGB 1998, S. 337 ff. Anlass war ein Rechtsgutachten im Auftrag des Deutschen Fußballbundes, der sich gegen die Zuordnung der Vereine mit einer Mannschaft in der ersten Fußball-Bundesliga in eine Tarifstelle „Besondere Sportvereine“ durch die Verwaltungsberufsgenossenschaft wandte. 471 Papier / Möller, Verfassungsrechtliche Fragen der Festsetzung der Beiträge in der Unfallversicherung, SGB 1998, S. 377, 341. 472 BVerfGE 33, 125, 157. 470

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

Für die Beitragsgestaltung in der gesetzlichen Unfallversicherung sind die Berufsgenossenschaften als Träger der Unfallversicherung zuständig. Sie sind per Legaldefinition Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung und für den begrenzten Bereich der Unfallversicherung autonom zuständig. Von den Regelungen, die ihrer Satzungsautonomie unterliegen, ist der abgrenzbare Kreis von Versicherten im Sinne des § 2 SGB VII und Unternehmern im Sinne der §§ 132 f., 136 Abs. 3 SGB VII betroffen. Dadurch wird zwar in der Praxis ein sehr großer Kreis von Bürgen, nämlich für den Bereich der gewerblichen Berufsgenossenschaften der gesamte Bereich der gewerblichen Arbeitswelt erfasst. Dies widerspricht jedoch nicht dem Gedanken des Bundesverfassungsgerichts, denn unbeeinflusst durch seine Größe legitimiert auch dieser Kreis die regelungssetzenden Organe seiner Körperschaft demokratisch, nämlich nach dem Verfahren gemäß §§ 43 ff. SGB IV. Danach ist aber nicht ersichtlich, warum für die Gefahrklassenbildung im Gefahrentarif „eine strikte Delegationssperre“ 474 gelten soll. Auch wenn die Grenze der Rechtsetzungsdelegation dort zu setzen ist, wo die beauftragte Körperschaft nicht besser oder richtiger eine bestimmte Entscheidungsbefugnis ausüben kann als der Gesetzgeber 475, so ist eine Übertretung dieser Grenze nicht ersichtlich. Bei der Festlegung der Gefahrklasse geht es in erster Linie darum, Gefahrgemeinschaften nach Gefährdungsrisiken zu bilden. Zwar kann sich in diesem Bereich auch ein gewisser sozialer Ausgleich verwirklichen, dieser ist jedoch nicht Zweck, sondern allenfalls Nebeneffekt der Gefahrklassenbildung 476. Die Satzungsgeber entscheiden also nicht über die Ausgestaltung des Solidarausgleichs innerhalb der Gruppe der beitragszahlenden Unternehmer, sondern vielmehr über den versicherungsmäßigen Risikoausgleich, also darüber, wie sich Unfallrisiken innerhalb einer Branche einteilen lassen. Ein Sachverstand zu dieser Frage kann den Berufsgenossenschaften nicht ernsthaft abgesprochen werden. Zudem gilt die Überlegung des Bundesverfassungsgerichts 477, es „würden die Prinzipien der Selbstverwaltung und der Autonomie, die ebenfalls im demokratischen Prinzip wurzeln und die dem freiheitlichen Charakter unserer sozialen Ordnung entsprechen, nicht ernst genug genommen, wenn der Selbstgesetzgebung autonomer Körperschaften so starke Fesseln angelegt würden, daß ihr Grundgedanke, die in den gesellschaftlichen Gruppen lebendigen Kräfte in eigener Verantwortung zur Ordnung der sie besonders berührenden Angelegenheiten heranzuziehen und ihren Sachverstand für die Findung „richtigen“ Rechts zu nutzen, nicht genügenden Spielraum fände.“ 473

BVerfGE 33, 125, 157. Papier / Möller, Verfassungsrechtliche Fragen der Festsetzung der Beiträge in der Unfallversicherung, SGB 1998, S. 377, 344. 475 Papier / Möller, Verfassungsrechtliche Fragen der Festsetzung der Beiträge in der Unfallversicherung, SGB 1998, S. 377, 344. 476 Dazu ausführlich oben II.4.c)aa)(2). 477 BVerfGE 33, 125, 159. 474

III. Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung

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Darüber hinaus sind in § 157 Abs. 2 bis 5 SGB VII Kriterien beschrieben, an denen sich der Gefahrtarif und schon die Bildung des Gefahrtarifs zu orientieren haben. Im Gefahrtarif müssen Gefahrengemeinschaften nach Gefährdungsrisiken gebildet werden, dabei ist ein versicherungsmäßiger Risikoausgleich zu berücksichtigen. Zwar verwendet der Gesetzgeber auch für diese Kriterien unbestimmte Rechtsbegriffe, diese sind jedoch – etwa im Falle des Begriffs versicherungsmäßig – trotz allen Literaturstreits um Einzelheiten durch höchstrichterliche Rechtsprechung hinreichend handhabbar gemacht. Die Berechnung einer Gefahrklasse ist in § 157 Abs. 3 SGB sogar genau durch die Angabe der anzusetzenden Relation aus Leistungen und Arbeitsentgelten vorgezeichnet. Der Gesetzgeber darf also diese Regelungsbefugnis auf die Berufsgenossenschaften übertragen, ohne dass der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes und die Wesentlichkeitstheorie verletzt sind, weil die Natur der Berufsgenossenschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts dies dem Grunde nach auch in diesem Regelungsbereich zulassen und zudem durch Parlamentsgesetz hinreichend klare Vorgaben gemacht sind. Der Eingriff in die Berufsfreiheit durch die Auferlegung der Beitragspflicht muss verhältnismäßig sein, um gerechtfertigt zu werden zu können. Die gesetzliche Unfallversicherung verfolgt das Ziel des umfassenden sozialen Schutzes von denjenigen Menschen, die zur Schaffung und Sicherung ihrer Existenzgrundlage auf die Nutzung ihrer Arbeitskraft angewiesen sind und als Beschäftigte dem Risiko von Arbeitsunfall und Berufskrankheit als speziellem „Wechselfall des Lebens“ ausgesetzt sind, der diese Existenzgrundlage mindern oder zerstören könnte. Die gesetzliche Unfallversicherung stellt das gewählte Mittel dar, um dieses Ziel im Wege der Sozialversicherung zu erreichen. Der Grund für die den Unternehmen allein auferlegte Beitragspflicht zu diesem Zweig der Sozialversicherung wiederum liegt in einer ihrerseits gerechtfertigten Zuordnung des Risikos in die Sphäre des Unternehmers begründet 478. Zusätzlich kann auch die konkreten Arbeitsbeziehung und damit ein „sachnaher Solidarzusammenhang“ zum abzusichernden Schicksal des Arbeitnehmers 479 als Begründung dienen. Auch in der Rechtsprechung wird die Beitragspflicht des Arbeitgebers grundsätzlich aus dem integrierten Arbeitszusammenhang und der Verantwortlichkeitsbeziehung zwischen Versicherten und Beitragszahlern hergeleitet 480. Die Belastung der Unternehmer durch die Beiträge zur Unfallversicherung darf aber nicht unverhältnismäßig sein. Das muss zum einen für die generelle Auferlegung mit der Beitragspflicht, zum anderen auch für die konkrete Höhe gelten. Dass die gesetzliche Unfallversicherung in ihrer besonderen Gestalt der zwangsweisen Heranziehung der Unternehmer geeignet ist, das eingangs dargelegte Ziel des so478 479

Dazu ausführlich oben II.4.b). Wallerath, Fremdlasten und gesetzliche Unfallversicherung, FS Krasney, S. 697,

714. 480

BVerfGE 75, 108, 155.

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

ziale Schutzes zu erreichen, ist unbestritten. Im Hinblick auf die Erforderlichkeit lässt sich sowohl die freiwillige Absicherung als auch eine verpflichtende Versicherung in einer Privatversicherung als milderes Mittel denken. Dies wäre jedoch nicht gleichermaßen geeignet. Für die Sozialversicherung insgesamt begründet Rolfs 481: „Der Verzicht auf eine privatautonome Regelung des Versicherungsverhältnisses bewirkt ( . . . ), dass die Pflichtversicherung unabhängig vom Willen des Versicherten kraft Gesetzes eintritt, der Arbeitgeber kraft öffentlichen Rechts die Beiträge abzuführen und der Versicherte diese Beitragsabführung zu dulden hat und der Versicherte sich mit den gesetzlich oder kraft Satzung festgelegten Versicherungsleistungen zufriedenzugeben hat. Nur der Versicherungszwang und die öffentlich-rechtliche Ausgestaltung des Versicherungsverhältnisses garantieren überdies ( . . . ), dass die Sozialversicherungsträger stets über hinreichende Beitragseinnahmen verfügen.“ Die Pflichtversicherung ist grundsätzlich eine Rücknahme privatautonomer Lebensgestaltung, für deren Legitimation das Prinzip der sozialen Schutzbedürftigkeit trägt. Schließlich kann insbesondere der soziale Ausgleich innerhalb der Versichertengemeinschaft nur in Form einer Zwangsversicherung durchgeführt werden, denn bei einem nur freiwilligen Zusammenschluss würden die günstigeren Risiken abwandern und es verblieben nur die schlechten 482. Zu dieser individualbezogenen Funktion gesellt sich in der Begründung zumeist noch eine zweite, namentlich die des Schutzes der Sozialhilfe und mithin des Kollektivinteresses vor zu großer Belastung 483. Der letzte Punkt lohnte indes der eigenen Untersuchung, denn dieses Argument bedeutet nichts anderes, als dass eine klar abgegrenzte Gruppe – namentlich Arbeitgeber und Arbeitnehmer, weil das Arbeitsentgelt die relevante Bezugsgröße für den Beitrag darstellt – gewissermaßen naturgemäß etwa für die Vorsorge und Absicherung im Gesundheitsbereich zuständig wäre, die Allgemeinheit jedoch nicht. Die Sozialversicherung im Grundsatz dem Arbeitsverhältnis zuzuordnen, ist zwar in den Ursprüngen der Sozialversicherung als Arbeiterversicherung angelegt, dies ist jedoch nicht zwingend und schon gar nicht naturgemäß. Dieser Grundsatz wurde schon häufig legitimerweise ausgeweitet, indem auch andere Personengruppe (Studenten, Künstler) in die Sozialversicherung einbezogen wurden. Und nicht zuletzt stellen auch die hohen Zuschüsse aus dem durch Steuern finanzierten Staatshaushalt eine Mitfinanzierung durch die Allgemeinheit dar, für das etwa die sogenannte ÖkoSteuer ein gutes Beispiel ist, weil ein bestimmter Anteil ihres Ertrags ausdrücklich und direkt in die Rentenversicherung fließt. Insofern ist das Argument, durch Sozialversicherung werde die Sozialhilfe und mithin die Allgemeinheit entlastet, keines, weil es ohne Begründung unterstellt, die Entlastung der Allgemeinheit zulasten einer bestimmten Gruppe sei überhaupt ein Ziel. 481 482 483

Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000, S. 110. Wannagat, Lehrbuch Bd. I, S. 18. Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, 1992, S. 113 f.

III. Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung

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Die übrigen Ansätze, durch die die Versicherungspflicht in der Abgrenzung zur privatautonomen Versicherung begründet werden soll, müssen auf ihre Übertragbarkeit auf die gesetzliche Unfallversicherung überprüft werden. Auch in der gesetzlichen Unfallversicherung wird der Beschäftigte unabhängig von seinem eigenen Entschluss kraft Gesetzes versichert und hat sich mit den gesetzlich oder kraft Satzung festgelegten Versicherungsleistungen zufrieden zu geben. In den übrigen Zweigen der Sozialversicherung resultiert dies aus Überlegungen des sozialen Schutzes, der zwangsweise für diejenigen Teile der Bevölkerung vorgesehen ist, die wirtschaftlich nicht zur Eigenvorsorge in der Lage sind. Die Situation in der gesetzlichen Unfallversicherung stellt sich indes so dar, dass die Versicherten nicht an der Finanzierung beteiligt sind. Deshalb kommt es auf eine Schutzbedürftigkeit der Versicherten, die aus geringerer Leistungsfähigkeit resultiert, gar nicht an. Der Vorteil in der öffentlich-rechtlichen Ausgestaltung der Zwangsversicherung liegt für die Versicherten vielmehr darin, dass sie im Versicherungsfall eigene, gesetzliche Ansprüche direkt gegen den Versicherungsträger erhalten, dessen Leistungsfähigkeit wiederum durch die öffentlich-rechtlich ausgestaltete Beitragspflicht der Unternehmer gesichert ist. Insofern trägt das Argument der sicheren Beitragseinnahmen für die Unfallversicherung uneingeschränkt. Der eigene Anspruch der Versicherten gegen den Versicherungsträger ist in der gesetzlichen Unfallversicherung noch um den Punkt verstärkt, dass er unabhängig von der tatsächlichen Beitragsentrichtung ist. Beides ist in einer privaten Haftpflichtversicherung nicht denkbar, so dass die gesetzliche Unfallversicherung in ihrem Charakter als öffentlich-rechtliche Zwangsversicherung den sozialen Schutz der Beschäftigten stärker gewährleisten kann, als die privatrechtlichen Varianten. Zudem darf auch hier auf das Argument des Betriebsfriedens hingewiesen werden, der durch den Direktanspruch der Beschäftigten gegen den Versicherer gewahrt bleibt. Was nun den sozialen Ausgleich anbelangt, so ist auch hier wie für die gesamte Untersuchung verbindlich zu trennen zwischen Beitrags- und Leistungsebene. Wenn im Versicherungswesen das Problem der guten und schlechten Risiken angesprochen ist, geht es im Kern um die Beitragsseite, die in der Privatversicherung zulasten der Beitragszahler mit schlechten Risiken gestaltet würde. Hiervon sind in der gesetzlichen Unfallversicherung aber nicht die Versicherten selbst, sondern die Unternehmer betroffen, die zum einen alleinige Beitragszahler sind, zum anderen auch diejenigen, an denen das Risiko Arbeitsunfall und Berufskrankheit allein festgemacht wird, weil das Unternehmen (und nicht etwa ein individuelles Risiko der Versicherten) durch Branchenzugehörigkeit einer bestimmten Berufsgenossenschaft zugewiesen und dann in eine oder mehrere von Arbeitsabläufen bestimmte Gefahrklassen eingeordnet wird. Ein sozialer Ausgleich wird auf dieser Ebene aber allenfalls mittelbar erreicht 484. Einen sozialen Ausgleich verstanden 484

Ausführlich oben II.4.c)aa).

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

im Sinne einer sozialen Umverteilung 485 und insoweit als Ausgleich eines sozialen Risikos schlechterer Chancen von Versicherten erreicht aber die Leistungsebene der gesetzlichen Unfallversicherung 486. Durch eine privatversicherungsrechtlich gestaltete Vorsorge gelänge dies nicht. Schließlich lässt sich auch das Grundprinzip der Haftungsersetzung nicht in einer privatrechtlichen Variante verwirklichen. Insgesamt ist also die durch die Pflichtversicherung garantierte Beitragsbeschaffung zulasten der Unternehmer erforderlich, um das soziale Schutzprinzip zu verwirklichen. Verhältnismäßig im engeren Sinne ist sie, wenn die Abwägung zwischen verfolgtem Ziel und Schwere des Eingriffs nicht ergibt, dass der Eingriff für den einzelnen Unternehmer unzumutbar ist. Hierfür ist nun die konkrete Belastung maßgeblich, nachdem die grundsätzliche Entscheidung zulasten der Unternehmer legitimiert ist. Insbesondere dann, wenn die nach den Grundsätzen der Einzeläquivalenz erfolgende Prämienfestsetzung der Privatversicherung als Referenz für Zumutbarkeit gelten soll, wird auch die Beitragsgestaltung der gesetzlichen Unfallversicherung diesem Anspruch gerecht: Die Beiträge an die Berufsgenossenschaften orientieren sich in erster Linie und auch hauptsächlich am eingebrachten Risiko des Unternehmens und mithin am Prinzip der Einzeläquivalenz. Die Beitragsbelastung der Unternehmer ist also verhältnismäßig im engeren Sinne, zumal für den Fall unangemessen hoher Belastung ein Wechsel in eine risikogerechtere Einstufung möglich ist, indem entweder die Gefahrklasse oder gar, bei Änderung des Haupttätigkeitsfeldes, die Berufsgenossenschaft gewechselt werden kann. (4) Zwischenergebnis Die gesetzliche Unfallversicherung verletzt insgesamt nicht die Freiheit der Berufsausübung der Unternehmer. bb) Berufsfreiheit privater Versicherungsunternehmer Verletzt sein könnte darüber hinaus die Berufsfreiheit der Privatversicherer. Ein Eingriff könnte darin liegen, dass es diesen wegen der öffentlich-rechtlichen Zwangsversicherung faktisch nicht möglich ist, Unfallversicherungen mit Unternehmen zum Schutz der Beschäftigten abzuschließen, weil ein Unternehmer aus betriebswirtschaftlichen Erwägungen keine zweite Versicherung mit aus seiner Sicht demselben Zweck benötigen wird. Grundsätzlich schützt das Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG nicht vor Konkurrenz, auch nicht vor staatlicher 487. Ein Eingriff wäre allenfalls als Berufsausübungsregelung zu qualifizieren, weil mehr 485 486 487

Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000, S. 111. Ausführlich oben II.4.c)bb). Etwa Manssen, in: von Mangoldt / Klein / Starck, Grundgesetz, Art. 12 Rn. 82.

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als zweifelhaft ist, ob ein Beruf „Unfallversicherer“ existiert, dem die komplette Aktionsfähigkeit genommen wäre (die ohnehin nie bestanden hat) 488. Realistischerweise ist vom Fall des Privatversicherers auszugehen, der neben anderen Versicherungsbereichen auch die Unfallversicherung zu seinem Portfolio zählt. Insoweit werden durch die Monopolstellung der öffentlich-rechtlichen Unfallversicherungsträger private Unternehmer faktisch am Abschluss von Verträgen mit demselben Inhalt gehindert. Es wird also die Ausübung des Berufs Versicherer geregelt. Gleichwohl kann diese Ausübungsregelungen ein derart schwerer Eingriff sein, dass er ähnlich intensiv wie eine Berufswahlregel wirkt und daher auch denselben Anforderungen an eine Rechtfertigung unterliegt. Diese richtet sich seit der in früher Rechtsprechung 489 entwickelten Theorie nach der Stufenlehre des Bundesverfassungsgerichts. Während Berufsausübungsregelungen aus Gründen der Zweckmäßigkeit, die am Gemeinwohl ausgerichtet sind, zulässig sind, muss eine – in diesem Fall objektive 490 – Berufswahlregelung der Abwehr einer nachweisbaren oder höchstwahrscheinlich schweren Gefahr für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut dienen. Zwischen Eingriff und Zweck ist eine strikte Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips geboten 491. Das Sozialgericht Würzburg 492 hat in seinem Urteil zur Rechtmäßigkeit eines Beitragsbescheids in der gesetzlichen Unfallversicherung eine mögliche Grundrechtsverletzung von privaten Versicherungsunternehmen geprüft und auch die Verhältnismäßigkeit in ihrer Ausprägung der Stufenlehre untersucht. Als Gemeinschaftsgut hat es die Gesundheit der Versicherten ausgemacht und insbesondere wegen der Präventionsaufgaben der Berufsgenossenschaften begründet, dass eine privatversicherungsrechtliche Unfallversicherung nicht gleichermaßen geeignet sei, dieses Gemeinschaftsgut zu schützen. Beide Ansätze greifen jedoch zu kurz. Zunächst ist nicht allein der Gesundheitsschutz Zweck der Unfallversicherung in ihrer besonderen Ausgestaltung. Als Zweig der Sozialversicherung verfolgt sie den sozialen Schutz abhängig Beschäftigter, die zu Schaffung und Erhalt ihrer Lebensgrundlage auf die Nutzung ihrer Arbeitskraft angewiesen und dem Risiko ausgesetzt sind, durch Wechselfälle des Lebens – i. e. in diesem Fall Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten – diese Existenzgrundlage zu verlieren oder zu schmälern. Der Zweck der Unfallversicherung geht also über den reinen Gesundheitsschutz hinaus. Das soziale Schutzprinzip ist Ausprägung des verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzips und daher überragend wichtig. In der Verhältnismäßigkeitsprüfung und darin zum Nachweis der Erforderlichkeit der Regelung ist also zu 488 Das SG Würzburg, BG 2000, 174, 175, prüft den Eingriff in die Berufsfreiheit privater Versicherungsunternehmen gleichwohl als Eingriff in die Berufswahl. 489 BVerfGE 7, 377 ff. (Apothekenurteil). 490 Zu Verwaltungsmonopolen Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 829. 491 BVerfGE 13, 97, 104. 492 SG Würzburg, BG 2000, 174, 175.

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

klären, ob eine private Unfallversicherung dieses Ziel gleichermaßen gut erreichen kann. Dafür liefert nicht allein der Präventionsauftrag der Berufsgenossenschaften die Antwort, der in der Tat in erster Linie den reinen Gesundheitsschutz verstanden als Schutz der körperlichen Unversehrtheit bezweckt. Es ist naheliegend, dass etwaig betroffene private Unternehmer sich nicht durch die öffentlichrechtlich ausgestaltete Prävention eingeschränkt fühlen, sondern durch das Hemmnis, Versicherungsleistungen anzubieten. Die öffentlich-rechtliche Ausgestaltung der Versicherung muss also erforderlich im Sinne der Lehre vom Grundsatz der Verhältnismäßig sein. Der Hinweis auf den Präventionsauftrag allein trägt nicht. Zwar mag die Einheit von Unfallverhütung und versicherungsmäßiger Entschädigung eine besondere Qualität des Konzepts der gesetzlichen Unfallversicherung begründen. Diese Einheit stellt ihrerseits aber kein wichtiges Gemeinschaftsgut dar, das für sich genommen schützenswert wäre. Vielmehr muss sich das gewählte Konzept in allen Teilen am Ziel des sozialen Schutzes messen lassen, also muss sowohl Prävention als auch entschädigende Versicherungsleistung verhältnismäßig sein. Sowohl die Prävention als auch die eigentliche Versicherung der Beschäftigten ist jedoch nicht auf gleich geeignete Weise durch einen privaten Unternehmer anzubieten. Während es für die Prävention an der Branchen- und Risikonähe fehlte, wäre insbesondere der umfassende soziale Schutz der Beschäftigten und Angehörigen etwa durch Unabhängigkeit der Versicherungsleistung von der Beitragszahlung privatrechtlich nicht in gleicher Form gewährleistet 493. Die Regelungen sind also verhältnismäßig und mithin gerechtfertigt. Daher ist die Berufsfreiheit privater Versicherungsunternehmen nicht verletzt. c) Allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG Es ist fraglich, ob neben dem spezielleren Freiheitsrechten der Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG zudem die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG betroffen ist. Das ist nur dann der Fall, wenn eine Handlung auf grundrechtlich relevante Weise beeinträchtigt wird und nicht bereits durch die Berufsfreiheit geschützt ist, denn Art. 2 Abs. 1 GG ist gegenüber anderen Freiheitsrechten subsidiär 494. Zu den Ausprägungen der allgemeinen Handlungsfreiheit gehört die Privatautonomie als Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben 495, geschützt ist also die Vertragsfreiheit. Daher wäre daran zu denken, einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit der Unternehmer darin zu sehen, dass sie eine Unfallversicherung nicht mit einer privatrechtlichen Versicherung ihrer Wahl abschließen können, jedenfalls nicht, ohne eine ökonomisch sinnwidrige Zweifachversicherung zu vermeiden. Das Hemmnis, eine solche Versicherung 493 494 495

Oben 2.b)aa). Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 2 Rn. 2. BVerfG NJW 2005, 2365.

III. Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung

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zu schließen, liegt jedoch gewissermaßen als Negativfolge an der Pflichtversicherung, die nach hier vertretener Ansicht in die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG eingreift. Für eine Prüfung innerhalb des Auffanggrundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit bleibt daher kein Raum. Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG ist jedoch eröffnet für Unternehmer im Sinne des SGB VII, die nicht zugleich Arbeitgeber sind: Wenn für sie arbeitnehmerähnliche Beschäftigte tätig sind, besteht Beitragspflicht zur Unfallversicherung. Eingegriffen wird dann nicht in die Berufsfreiheit sondern in die allgemeine Handlungsfreiheit. Für die Rechtfertigung gilt jedoch das zu Art. 12 Abs. 1 GG gesagte, so dass das Grundrecht nicht verletzt ist. d) Allgemeiner Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG Der allgemeine Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG 496 kann verletzt sein, weil durch das System der gesetzlichen Unfallversicherung das soziale Schutzprinzip im Bereich der Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten finanziell allein durch Beiträge des begrenzten Kreises der Arbeitnehmer statt durch gemeinsame Lastentragung gemeinsam mit den Versicherten oder gar aus allgemeine Mitteln des Staatshaushalts verwirklicht wird. So sagt etwa Isensee 497: „Die Überbürdung der Soziallast von einer Gruppe auf eine andere im Rahmen eines korporativen Umverteilungssystems ist nur dann mit der Gleichheit vereinbar, wenn eine ‚spezifische soziale Verantwortlichkeit gerade der in Anspruch zu nehmenden Gruppe im Hinblick auf die finanziell zu bewältigende Aufgabe‘ besteht.“ Nun ist aber zu fragen, ob in der gesetzlichen Unfallversicherung überhaupt von einer Überbürdung die Rede sein kann. Das wäre der Fall, wenn grundsätzlich nicht die Unternehmer für die Absicherung ihrer Beschäftigten vor den Risiken Arbeitsunfall und Berufskrankheit zuständig wären. In der Methodik, nach der eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes zu prüfen ist, meint dies die Frage, ob in der Beitragsbelastung überhaupt eine relevante Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem 498 vorliegt. Beitragspflichtig zur gesetzlichen Unfallversicherung ist gemäß § 150 Abs. 1 SGB VII derjenige Unternehmer, für dessen Unternehmen Versicherte tätig sind. Als Vergleichsgruppe kommen Unternehmer in Betracht, für die keine Versicherten tätig sind. Diese sind jedoch nicht wesentlich gleich im Sinne der Gleichheitsdogmatik, weil sie 496 In der sozialversicherungsrechtlichen Rechtsprechung war und ist der allgemeine Gleichheitssatz häufig von Belang, zumeist jedoch auf die hier nicht erhebliche Frage der gleichberechtigten Teilhabe an Leistungen bezogen; vgl. Beispiele bei Bley / Kreikebohm / Marschner, Sozialrecht, Rn. 43. 497 Isensee, Umverteilung, S. 68, der dort Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, S. 371, zitiert. 498 Jarass, in:Jarass / Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 5.

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

sich gerade durch das erhebliche Kriterium der Nichtbeschäftigung von Versicherten auszeichnen. Auch die Versicherten als Vergleichsgruppe heranzuziehen, erscheint schwierig. Es fehlt an einem vergleichbaren Merkmal oder Oberbegriff. Allein der rechtliche Zusammenhang mit der Unfallversicherung kommt in Betracht, obwohl der Status beider Gruppen entschieden unterschiedlich ist, so dass erhebliche Zweifel angebracht sind, ob beide noch als wesentlich gleich angesehen werden können. Dies unterstellt, ist jedoch der sachliche Grund für die Ungleichbehandlung in der Beitragsbelastung schnell gefunden: Das Risiko des Arbeitsunfalls und der Berufskrankheit gehört zur Sphäre des Unternehmers, der neben den Vorteilen der Unternehmung auch die ihr innewohnenden Risiken zu tragen hat 499. Dem Unternehmer kommt insofern in der Tat eine spezifische soziale Verantwortlichkeit zu, die eine – unterstellte – Überbürdung rechtfertigt. Ein Problem des allgemeinen Gleichheitssatzes kann es schließlich darstellen, die Lasten der Risikoabsicherung gegen Arbeitsunfall und Berufskrankheit nicht der Allgemeinheit zu übertragen. Zum einen jedoch existiert neben der Gruppe der Unternehmer mit Beschäftigten, der Gruppe der Unternehmer ohne Versicherte und der Gruppe der Versicherten keine bestimmbare Allgemeinheit mehr. Diese ist durch die drei Gruppen insgesamt erfasst. Die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung Prävention, Rehabilitation und Entschädigung insgesamt auf die Allgemeinheit zu verlagern und aus allgemeinen Haushalts-, also Steuermitteln zu finanzieren, bedeutete eine völlige Abkehr von diesem Zweig der Sozialversicherung. Dies ist jedoch im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes nicht die relevante Alternative, weil die grundsätzliche Befugnis zur Gestaltung der Sozialversicherung verfassungsrechtlich gesichert ist. Auch der allgemeine Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG ist mithin durch die Beitragspflicht der Unternehmer nicht verletzt. 3. Ergebnis Die Regelungen der gesetzlichen Unfallversicherung im SGB VII beruhen auf der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, weil die gesetzliche Unfallversicherung alle Merkmale einer Sozialversicherung enthält. Auch in materieller Hinsicht verstößt sie nicht gegen das Grundgesetz: Weder die den Unternehmen auferlegte Beitragspflicht noch die Vorschriften der Prävention verletzen ein Grundrecht der Unternehmer. Die Regelungen schließlich, die die Pflichtversicherung bei einer Berufsgenossenschaft begründen, verletzen auch nicht Grundrechte von privaten Anbietern einer Unfallversicherung. Die gesetzliche Unfallversicherung ist also insgesamt verfassungsgemäß. 499

Ausführlich oben II.4.b)bb).

IV. Zusammenfassung 1. Teil

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IV. Zusammenfassung 1. Teil Die gesetzliche Unfallversicherung ist nicht nur aus historischer Sicht ein klassischer Zweig der Sozialversicherung. Sie verwirklicht das soziale Schutzprinzip zugunsten abhängig Beschäftigter und erfüllt damit eine Ausprägung des Sozialstaatsgebots aus Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG. Dabei bedient sie sich des Mittels der Versicherung in einem öffentlich-rechtlichen System, deren Lasten allein durch die Unternehmer getragen werden. Die einseitige Belastung der Unternehmer ist durch das hypothetische Haftungsrisiko zu rechtfertigen: Ohne Unfallversicherung wäre die Bewältigung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten in Unternehmen zivilrechtlicher Haftungsregelung überlassen. Träger des Risikos wäre, so lautet die Grundentscheidung in dieser Frage, allein der Unternehmer als derjenige, dem auch allein der Vorteil des Unternehmens zukommt. Die Haftung ist durch das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung jedoch ausgeschlossen, das Risiko in eine Versicherung überführt. Öffentlich-rechtlich ausgestaltet, sichert sie auch den Frieden im Betrieb, vor allem und zuvörderst aber einen umfassenden Schutz abhängig Beschäftigter vor dem Wechselfall des Lebens, einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit zu erleiden. Die bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften Versicherten bedürfen deshalb des besonderen Schutzes, weil sie zur Schaffung und Sicherung einer wirtschaftlichen Lebensgrundlage darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft in abhängiger Erwerbsarbeit zu nutzen. Wechselfälle des Lebens bedrohen diese Existenzgrundlage. Die gesetzliche Unfallversicherung bedient sich der Versicherungstechnik. Die Gestaltung der Beiträge baut auf dem Grundsatz der Globaläquivalent, der einzelne Beitrag des Unternehmers ist zudem – in Abweichung von den übrigen Sozialversicherungszweigen – einzeläquivalent ausgestaltet, weil er sich in erster Linie am Betriebsrisiko orientiert. Ein sozialversicherungsrechtliches Solidarprinzip ist in der gesetzlichen Unfallversicherung kaum verwirklicht: Zwar tragen die Unternehmer gemeinsam die Lasten der Unfallversicherungen und gleichen die Berufsgenossenschaften untereinander besondere Lasten aus. Dieser Ausgleich geht jedoch nicht über einen versicherungsmäßigen Risikoausgleich hinaus. Das Etikett der berufsgenossenschaftlichen Solidargemeinschaft kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch das Lastenausgleichsverfahren einen systemerhaltenden Zweck hat und keinem sozialen Schutzprinzip folgt. Die Beiträge der Unternehmer bleiben trotz der Ausgleichsverfahren risikoorientiert und damit versicherungstechnisch ausgestaltet. Für die Versicherten wirkt die Unfallversicherung jedoch sozial ausgleichend. Der soziale Ausgleich ist deutlich von dem des solidarischen abzugrenzen, weil jener der weitere und Solidarität lediglich ein Mittel ist. Weil die Versicherten in der Unfallversicherung keine Lasten tragen, kommt es zu keiner Umverteilung. Der soziale Ausgleich wird jedoch dadurch erreicht, dass soziale Risiken abgesichert sind, die nicht identisch mit dem eigentlichen Versicherungsfall sind.

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1. Teil: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung

Sekundäre Risiken abzusichern, ohne dass sich dies auf Versicherung und Beiträge auswirkt, unterscheidet Sozialversicherung von reiner Versicherungstechnik. In der gesetzlichen Unfallversicherung ist abgesichertes Sekundärrisiko zum einen der Unterhaltsverlust der Angehörigen eines Versicherten durch einen tödlichen Versicherungsfall. Zum anderen wird das Risiko einer Versicherten aufgefangen, im für die Berechnung einer Geldleistung erheblichen Zeitraum kein oder wenig Einkommen erzielt zu haben und so auch nur mit geringer Rente auskommen zu müssen. Das soziale Schutzprinzip verwirklicht auch die Prävention. Sie ist den Berufsgenossenschaften als Ausfluss des staatlichen Schutzauftrages übertragen und erhält ihre besondere Qualität dadurch, dass Unfallverhütung und die Verhütung von Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren mit allen geeigneten Mitteln zu erfolgen hat. Auch wenn der Schutzgedanke prägend ist, dient die Prävention auch dem Nutzen der Unternehmer, weil sie sich auf die Lasten der Unfallversicherung und mithin beitragsmindernd auswirkt. Weil die gesetzliche Unfallversicherung formal nicht mitgliedschaftlich strukturiert ist, ist nicht eine Zwangsmitgliedschaft der Unternehmer, sondern die ihnen auferlegte Beitragspflicht am Grundgesetz zu messen. Weil diese Pflicht regelmäßig an das Bestehen von Beschäftigungsverhältnissen anknüpft, handelt es sich um einen Eingriff in die Berufsfreiheit der Unternehmer. Der besondere Zweck der Unfallversicherung rechtfertigt diesen Eingriff jedoch genauso wie den Eingriff durch die Präventionsaufgaben. Auch die Berufsfreiheit privater Versicherungsunternehmer ist nicht verletzt.

2. Teil

Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union 1 erklärt im ersten Spiegelstrich die Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts zum Ziel der Union. Gemäß Art. 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in der Fassung des Vertrags von Nizza 2 ist es Aufgabe der Gemeinschaft, durch die Errichtung eines gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens zu fördern. Hervorgegangen aus Montanunion und Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft, verfolgen Europäische Gemeinschaft und die von der EG getragene Europäische Union den gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum als gemeinsames Vorhaben der Mitgliedstaaten. Der gemeinsame Binnenmarkt als zentraler Zweck der Gemeinschaft wird verwirklicht durch die im EG-Vertrag verankerten sogenannten Grund- oder Marktfreiheiten 3 – namentlich die Warenverkehrsfreiheit (Art. 23 EG), die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 EG), die Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EG), die Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EG) und die („Hilfs-“)Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs (Art. 56 EG) – und durch die gemeinsame Währung sowie als flankierende Maßnahmen durch die Wettbewerbsregeln der Art. 81 ff. EG. Einen gemeinsamen freien Wirtschaftsraum zu schaffen, zu sichern und auszubauen, war und ist einigender Kerngedanke der Europäischen Union. Die unter dem Stichwort „spill-over-effect“ bekannte Überlegung ist gleichwohl noch immer gültig: Danach ist neben der wirtschaftlichen auch und zuvörderst die politische Integration in Europa gewollt. Sich auf jene in der Einigungsentwicklung zu konzentrieren, soll diese dann nach sich ziehen 4. Dieser Ansatz geht auf die historischen Überlegungen von Robert Schuman und Jean Monnet zurück, die kurz nach Ende des zweiten Weltkriegs den Vorschlag wagten, die französischen und deutschen Schlüsselindustrien Kohle und Stahl zusammenzulegen und einer supranationalen Organisation zu unterstellen – dies aber als „erste Etappe“ einer Föderation und als Grundlage einer „viel größeren und tieferen Gemeinschaft“ verstanden 5. Sieht man sich die Entwicklung der Eu1 In der Fassung des Vertrags von Nizza vom 26. 2. 2001, BGBl. II S. 1667, 1668; im Folgenden EU abgekürzt. 2 Fn. 1; im Folgenden EG abgekürzt. 3 Streinz, Europarecht, Rn. 779; Herdegen, Europarecht, § 15 Rn. 1 f. 4 Streinz, Europarecht, Rn. 20.

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

ropäischen Gemeinschaften einschließlich der Gründung des gemeinsamen Dachs der Europäischen Union insbesondere anhand der Schritte von Vertrag zu Vertrag an, lässt sich ein gewisser „spill-over-effect“ nicht leugnen, weil vermehrt über reine Binnenmarktregelungen hinaus auch andere Politiken in die Kompetenz der Gemeinschaftsorgane verlagert werden. Auch die politische Integration schreitet also voran und ist insbesondere räumlich nicht abgeschlossen; sie scheint aber seit dem vorläufigen Scheitern der gemeinsamen Verfassung für Europa 6 zumindest an Grenzen zu stoßen. Für die weitere Untersuchung ist von Bedeutung, dass die Verwirklichung des gemeinsamen freien Binnenmarktes das wesentliche Anliegen der Europäischen Gemeinschaft und auch der Union ist und somit auch Maßstab und Prinzip des europäischen Primär- und Sekundärrechts bildet. Es existieren zudem im weitesten Sinne sozialen Ziele gemäß Art. 2 EG und, wie gezeigt, auch ein Kontext der politischen Integration im Hinblick auf die Wirtschaftsunion. Die zentralen Ziele der Gemeinschaft vor Augen zu haben, ist umso wichtiger, als in der Anwendung von Gemeinschaftsrecht dem „effet utile“ besondere Bedeutung zukommt: Die Effektivität des Gemeinschaftsrechts ist Interpretationsprinzip und zugleich Struktur für das Verhältnis von Gemeinschaftsrechtsordnung und Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten 7. Das System der gesetzlichen Unfallversicherung ist deshalb auch am Gemeinschaftsrecht zu messen. Prüfungsmaßstab ist der EG-Vertrag in der Fassung des Vertrags von Nizza. Bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung sind Beschäftigte gegen das Risiko von Arbeitsunfall und Berufskrankheit versichert. Für die beitragszahlenden Unternehmer hat diese Versicherung die Wirkweise einer Haftpflichtversicherung. Die Berufsgenossenschaften bieten also Versicherungsleistungen an, wobei zunächst außer Betracht bleiben kann, dass diese Leistungen zwangsweise angenommen und bezahlt werden müssen. Zudem sind die Berufsgenossenschaften Träger des Präventionsauftrags, und sie treten, soweit sie nach dem Sachleistungsprinzip 8 Heilbehandlung und Rehabilitation gewähren (§ 26 Abs. 4 Satz 2 SGB VII) 9, als Nachfrager 10 auf dem Gesundheitsmarkt auf. Grundsätzlich bestehen also Bezüge zum Wirtschaftsleben 11, so dass die gesetzliche Unfallversicherung zumindest 5

Zitiert nach Streinz, Europarecht, Rn. 17; ausführlich Haltern, Europarecht, S. 30 ff. Dazu unten 3. Teil, II.3.; sowie beispielhaft aus dem Schrifttum Wuermeling, Die Tragische: Zum weiteren Schicksal der EU-Verfassung, ZRP 2005, S. 149 ff.; Trimbach / Beilke, Die Ratifizierung der Europäischen Verfassung, NJ 2005, S. 206 f. 7 Haltern, Europarecht, S. 260. 8 Gitter / Schmitt, Sozialrecht, § 20 Rn. 1ff. 9 Jung, in: Ebsen, Europarechtliche Gestaltungsvorgaben, S. 67, 80. 10 Eichenhofer, Europäisches Sozialrecht, Rn. 323, 341. 11 Dass der Gesundheitssektor nicht generell auszunehmen ist, betont der EuGH in der Rechtssache Kohll, Slg. 1998, I-1931, 1943 Rn. 20. 6

I. Wettbewerbsrecht

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nicht von vornherein aus dem Anwendungsbereich der wirtschaftsrechtlichen Regeln der EU fällt. Dagegen spricht auch nicht der insbesondere vom Europäischen Gerichtshof häufig betonte Grundsatz, dass die Freiheit der Mitgliedstaaten zur Gestaltung der Systeme der sozialen Sicherheit unangetastet bleibe 12. Dahinter verbirgt sich der Gedanke, dass insbesondere Art. 136 ff. EGV zwar den Weg ebnen, gewisse Sozialvorschriften der EU-Mitgliedstaaten zu harmonisieren, ohne jedoch den Mitgliedstaaten die grundlegende Befugnis zu nehmen, über die Systeme selbst zu entscheiden. Dieser Grundsatz wurde in Art. 137 Abs. 4 EG ausdrücklich festgeschrieben. Diese Grundentscheidung führt nicht per se dazu, dass die Systeme der sozialen Sicherheit als eine Art Bereichsausnahme für das gesamte europäische Recht zu gelten haben, sondern ist wiederum relevantes Kriterium bei der Anwendung europäischer Regelungen. Die gesetzliche Unfallversicherung kann daher zum einen dem europäischen Wettbewerbsrecht der Art. 81 ff. EG unterliegen. Zum anderen kann das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung die Dienstleistungsfreiheit aus Art. 49 EG beschränken.

I. Wettbewerbsrecht Das Wettbewerbsrecht der Art. 81 ff. EG trägt der Anforderung an die Tätigkeitsfelder der Gemeinschaft Rechnung: Gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. g EG umfasst die Tätigkeit der Gemeinschaft ein System, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen schützt. Die Wettbewerbsordnung stellt für dieses System die Regeln auf und normiert zwei wesentliche Verbote: Das Kartellverbot gemäß Art. 81 EG und das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung gemäß Art. 82 EG. 1. Die Bedeutung des Wettbewerbsrechts in der Europäischen Union Das Wettbewerbsrecht ist ein Pfeiler der grundlegenden Ausrichtung der Europäischen Gemeinschaft, namentlich der Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes. Verpflichtender Grundsatz ist dabei für die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 EG die offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb. Anders als etwa das Grundgesetz trifft also das europäische Primärrecht eine Entscheidung zugunsten einer bestimmten Wirtschaftsordnung 13. Allerdings werden teilweise die Industriepolitik gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. m, Art. 157 EG und die eher interventionistisch regulierten Bereiche des Marktes 14 als Einschränkung 12 EuGH Slg. 1998, I-1931, 1942 Rn. 17 (Kohll);. EuGH Slg. 2001, I-5473 (Smits / Peerboms). 13 Schröter, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zu EUV und EG, Bd. 2, Vorbem. zu Art. 81 bis 89, Rn. 9 mwN. 14 Durch Stahl- oder Milchquoten, Streinz, Europarecht, Rn. 972.

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

dieser Grundentscheidung gesehen 15. Dennoch bietet etwa die Formulierung in Art. 157 Abs. 3 aE EG einen Anhalt dafür, dass zumindest der freie Wettbewerb (neben den Rechten der Arbeitnehmer) im Zweifel den Mitteln und Zielen einer Industriepolitik vorgeht. Diese soll nach der genannten Vorschrift gerade keine Grundlage dafür bieten, dass die Gemeinschaft eine Maßnahme einführt, die zu Wettbewerbsverzerrungen führen könnte. Auch dies ist als Hinweis auf die tragenden Wertentscheidungen des Gemeinschaftsrechts zu verstehen. Die Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags als Teil des Systems, das den freien gemeinsamen Markt sichert, übernehmen also eine wesentliche Funktion zur Erreichung der gemeinsamen Ziele 16. 2. System der Wettbewerbsregeln in §§ 81 ff. EG Art. 81 und 82 EG stellen zwei Wettbewerbsverbote auf. Durch Art. 86 Abs. 1 EG unterliegen diesen Verboten auch grundsätzlich öffentliche Unternehmen. Adressaten der Wettbewerbsverbote der Art. 81 und 82 EG sind Unternehmen selbst, Art. 86 EG richtet sich in Abs. 1 an die Mitgliedstaaten und in Abs. 2 an Unternehmen, die von einem Mitgliedstaat mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind oder Finanzmonopole darstellen 17. Die Einhaltung der Wettbewerbsverbote an Unternehmen wird gemäß Art. 85 EG von der Europäischen Kommission überwacht, die auf Antrag eines Mitgliedstaates oder von Amts wegen Fälle von vermuteter Zuwiderhandlungen untersucht. Allerdings sieht die VO Nr. 1/2003 eine parallele Zuständigkeit der nationalen Kartellbehörden vor 18. Jedoch beendet nach wie vor die Einleitung eines förmlichen Verfahrens durch die Kommission die Zuständigkeit der nationalen Behörden 19. Auf die Einhaltung des an die Mitgliedstaaten gerichteten Art. 86 Abs. 1 EG achtet gemäß Abs. 3 die Kommission, die erforderlichenfalls Richtlinien und Entscheidungen an die Mitgliedstaaten richtet 20. Die Funktion einer versteckten Kollisionsnorm 21 übernimmt die Zwischenstaatlichkeitsklausel, die sowohl in Art. 81 Abs. 1 EG als auch in Art. 82 EG enthalten 15

Herdegen, Europarecht, § 23 Rn. 2. Ausführlich etwa Schröter, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zu EUV und EG, Bd. 2, Vorbem. zu Art. 81 bis 89, Rn. 9 ff. 17 Schröter, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zu EUV und EG, Bd. 2, Vorbem. zu Art. 81 bis 89, Rn. 5. 18 VO 1/2003, ABl. 2003 L 1/1; dazu Weitbrecht, EuZW 2003, S. 69 ff. 19 Schröter, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zu EUV und EG, Bd. 2, Vorbem. zu Art. 81 bis 89, Rn. 67. 20 Zur Befugnis des Europäischen Gerichtshofs, die Einhaltung zu überprüfen: EuGH Slg. 1993, I-2533 (Corbeau); EuGH Slg. 1999, I- 5751 (Albany). 21 Rehbinder, in: Immenga / Mestmäcker (Hrsg.), EG-Wettbewerbsrecht Bd. 1, Einl. E., Rn. 8. 16

I. Wettbewerbsrecht

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ist: Sowohl die wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen und Verhaltensweisen als auch der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung müssen geeignet sein, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Um das Ziel der Funktionsfähigkeit des gemeinsamen Marktes zu stärken, wird dieses Merkmal allerdings schon seit längerem denkbar weit verstanden 22, so dass die Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags unter gewissen Voraussetzungen auf rein nationale Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden sind. Nach der im Fall Maschinenbau Ulm 23 geprägten Formel genügt es zur Erfüllung der Zwischenstaatlichkeitsklausel, dass „sich anhand einer Gesamtheit objektiver, rechtlicher oder tatsächlicher Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit voraussehen läßt, daß die Vereinbarung unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder der Möglichkeit nach, den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinflussen kann“. Zudem ist auch der Begriff des Handels weit zu verstehen, darunter fällt auch der Handel mit Dienstleistungen oder Kapital 24. Die gesetzliche Unfallversicherung bietet – wenngleich in öffentlich-rechtlicher Ausgestaltung – Versicherungsleistungen an. Der Handel zwischen den Mitgliedsstaaten kann durch ihren öffentlich-rechtlichen Zwangscharakter insofern beeinflusst werden, als faktisch weder andere Unternehmen diese Leistung auf dem deutschen Markt anbieten können noch deutsche Unternehmen diese Leistung auf dem Markt eines anderen Mitgliedstaates nachfragen dürfen. Es spricht also nichts dafür, die europäischen Wettbewerbsregeln wegen etwa fehlender Zwischenstaatlichkeit nicht auf die deutsche gesetzliche Unfallversicherung anzuwenden. Es bestehen jedoch daneben andere Zweifel an der Anwendbarkeit. 3. Anwendbarkeit auf nationale Systeme der sozialen Sicherheit Zeitweilig unklar war, ob die europäische Wettbewerbsordnung in ihrem Anwendungsbereich die mitgliedstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit erfassen kann. Die ablehnende Haltung wurde damit begründet, dass die Gewährung sozialer Leistungen wegen ihrer altruistischen Tendenz von vorneherein nicht als Teil erwerbswirtschaftlichen Handelns anzusehen und die für diese geltenden Regeln für das Sozialrecht somit ohne jede rechtliche Bedeutung seien 25. Andererseits lässt sich jedoch schwerlich bestreiten, dass im Sozialrecht ein erheblicher wirtschaftlicher Transfer stattfindet 26: Überblickartig kann angeführt werden, dass Sozialleistungsempfänger durch Transferzahlungen zur Teilhabe am 22 Axer, Europäisches Kartellrecht und nationales Krankenversicherungsrecht, NZS 2002, S. 57, 61. 23 EuGH Slg. 1966, 281, 303. 24 Rehbinder, in: Immenga / Mestmäcker (Hrsg.), EG-Wettbewerbsrecht Bd. 1, Einl. E., Rn. 10. 25 Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, Rn. 323. 26 Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, Rn. 323.

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

Wirtschaftsleben befähigt werden, darüber hinaus erhalten sie Zugang zu Sachund Dienstleistungen und nicht zuletzt könnte (und ist es teilweise) die von Sozialleistungsträgern gewährte Vorsorge auch Gegenstand erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit sein. Dafür, das nationale Sozialrecht als eine Art Bereichsausnahme aus der Wettbewerbsordnung zu verstehen, spräche allein die unangetastete Primärzuständigkeit der Mitgliedstaaten für ihre Systeme der sozialen Sicherheit, wie sie in Art. 137 Abs. 4 EG ausdrücklich festgeschrieben ist. Diese Befugnis bleibt jedoch auch dann unberührt, wenn die nationalen Systeme grundsätzlich dem Wettbewerbsrecht unterliegen, so lange dadurch nicht die Festlegung der Grundprinzipien unmöglich oder erschwert wird. Dem entspricht die Haltung des Europäischen Gerichtshofs, der betont, dass die Mitgliedstaaten bei Ausübung ihrer Befugnisse ihrerseits das Gemeinschaftsrecht beachten müssen 27. Auch der dogmatische Aufbau des Wettbewerbsrechts selbst spricht dafür, die soziale Sicherung nicht als Bereichsausnahme zu verstehen. Durch Art. 86 Abs. 1 EG werden öffentliche Unternehmen in den Anwendungsbereich einbezogen, so dass Adressat der Verbote auch der Mitgliedstaat wird. Art. 86 Abs. 2 EG wiederum regelt den Ausnahmetatbestand von der grundsätzlichen Anwendbarkeit. Eine vertraglich festgelegte Bereichsausnahme, wie sie etwa Art. 39 Abs. 4 EG für die öffentliche Verwaltung im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit normiert, ist in den Art. 81 ff. EG nicht zu finden 28. In dogmatischer Hinsicht schlüssiger ist es daher, für den jeweils fraglichen Zweig eines nationalen Sozialrechtssystems zu prüfen, ob die Wettbewerbsregeln nach den Tatbestandsvoraussetzungen auf den konkreten Zweig anwendbar sind. Aber auch wenn dies der Fall ist, bleibt die Befugnis der Mitgliedstaaten zu beachten, über die Strukturen der sozialen Sicherung und insbesondere über das Verhältnis von öffentlicher und privater Vorsorge zumindest im Grundsatz frei zu bestimmen. Davon hängt dann auch ab, inwieweit öffentlich-rechtliche Sozialleistungsmonopole vor dem EU-Recht Bestand haben können 29. Anders gewendet: Ob die europäischen Wettbewerbsregeln auf einen Bereich der sozialen Sicherung anzuwenden ist, beantwortet sich nach den tatbestandlichen Voraussetzungen der in Frage kommenden Regel. Die aus der Primärzuständigkeit folgende Befugnis der Mitgliedstaaten, über Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit einer sozialpolitischen Gestaltung autonom zu bestimmen 30, kommt erst bei Anwendung der Wettbewerbsregeln zum Tragen, weil sie zum Gemeinschaftsrecht gehören, das die Mitgliedstaaten zu beachten haben. 27

EuGH Slg. 2001, I-5473 (Smits / Peerboms). Gegen die Annahme einer Bereichsausnahme explizit etwa Axer, Europäisches Kartellrecht und nationales Krankenversicherungsrecht, NZS 2002, S. 57, 60 f. sowie mit Verweis auf die implizite Stellungnahme des EuGH Hänlein / Kruse, Einflüsse des europäischen Wettbewerbsrechts auf die Leistungserbringung, NZS 2000, S. 165, 167. 29 Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, Rn. 338. 30 Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, Rn. 340. 28

I. Wettbewerbsrecht

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In den entscheidenden Verbotsnormen der Art. 81, 82 EG ist das Handeln eines Unternehmens der entscheidende Anknüpfungspunkt. Für die Anwendung der Wettbewerbsregeln ist also weder erheblich, ob in öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Form gehandelt wird, noch welches Rechtsgebiet betroffen ist, sondern in erster Linie, ob ein Unternehmen handelt. Diese sind Adressaten des Wettbewerbs- und des Beihilferechts; Schlüsselbegriff des EU-Wirtschaftsrechts ist mithin der des Unternehmens 31. 4. Der Begriff des Unternehmens a) Funktionaler und relativer Unternehmensbegriff Der europäische Gerichtshof hat sich verschiedentlich damit befasst, ob auf öffentlich-rechtliche Organisationen oder Institutionen das Wettbewerbsrecht des EG-Vertrags anzuwenden ist. Weil der Gerichtshof seine Prüfung aus ähnlichen wie den dargestellten Gründen zunächst an die Unternehmenseigenschaft der fraglichen Einrichtung anknüpft, hat er mittlerweile 32 sein abstraktes Verständnis vom Unternehmensbegriff zur gefestigten Rechtsprechung 33 werden lassen: Der Begriff des Unternehmens ist danach funktional zu verstehen, ohne dass es auf eine bestimmte Organisationsform oder eine Gewinnerzielungsabsicht ankommt. Unternehmen ist jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit unabhängig von ihrer Rechtsform und ihrer Finanzierung 34. Wirtschaftliche Tätigkeit wiederum ist jede Tätigkeit, die darin besteht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten 35. Von der Literatur wird dies allgemein akzeptiert 36, zum Teil wird auch vom wirtschaftlichen Unternehmensbegriff gesprochen 37. Eichenhofer 38 stellt heraus, dass das funktionale Verständnis, das nicht 31

Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, Rn. 326. Zu früheren Ausführungen zum Unternehmensbegriff vgl. Duisberg, Die Anwendung der Artikel 85 und 86 EG-Vertrag in den Fällen der staatlichen Einflussnahme auf Unternehmensverhalten, S. 8 ff. 33 EuGH Slg. 1991, I-1979, 2016 Rn. 21 (Höfner und Elser); Slg. 1994, I-43 Rn. 18 (Eurocontrol); Slg. 1995, I-4013 Rn. 14, 20 f. (CCMSA); Slg. 1998, I-3851 Rn. 36 (Kommission / Italien); Slg. 2002, I-691 (INAIL). 34 Dieses Merkmal wird jedoch – wie noch zu zeigen sein wird – nicht konsequent unbeachtet gelassen, sondern erlangt insbesondere im Bereich der Sozialersicherung nicht unerhebliche Bedeutung. 35 EuGH Slg. 1987, I-2599 Rn. 7 (Kommission / Italien); Slg. 2000, I-6451 Rn. 75 (Pavlov). 36 Oppermann, Europarecht, § 15 Rn. 31; Hochbaum / Klotz, in: von der Groben / Schwarze (Hrsg.), Kommentaur zu EUV und EGV Bd. 2, Art. 86 Rn. 6; Fuchs, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, Einführung Rn. 96. 37 Berg, Neue Entscheidungen des EuGH, EuZW 2000, S. 170, 172. 38 Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, Rn. 328 f. 32

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

auf den Rechtsstatus, sondern auf den Gehalt der vorgenommenen Handlungen abhebt, auch dem Gedanken des Art. 86 Abs. 2 EG entspricht: Diese Regelung ziele auf Einrichtungen der Daseinsvorsorge ab und orientiert sich daher auch am Inhalt der Tätigkeit. Der Begriff des Unternehmens wird zudem relativ verstanden, also auf bestimmte Tätigkeiten bezogen 39: Wenn es zuvörderst auf die Art der Tätigkeit und nicht auf deren Form ankommt, so kann eine bestimmte Tätigkeit einer Einrichtung Tätigkeit eines Unternehmens sein und eine andere womöglich nicht. Obgleich die abstrakte Definition des Unternehmensbegriffs damit feststeht und akzeptiert ist, sind die dazu ergangene Rechtsprechung und deren Rezension gleichsam als schillernd zu bezeichnen. Insbesondere für den Bereich der mitgliedstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit im weitesten Sinne hat der Gerichtshof bislang höchst unterschiedliche Einzelfallentscheidungen getroffen, die ihrerseits auf höchst unterschiedliche Resonanz in der juristischen Literatur gestoßen sind. In Anlehnung an eine Formulierung des Generalanwalts Jacobs in der Rechtssache „Ambulanz Glöckner“ 40 versuchen Teile der Literatur die Prüfung der Unternehmenseigenschaft auf die Formel zu bringen, dass eine Tätigkeit dann wirtschaftlich sei, wenn sie ohne wesentliche Änderung der Rahmenbedingungen, also im Grundsatz, auch von einem privaten Unternehmen ausgeübt werden könnte 41. Dies ist insofern nicht unproblematisch, als nicht der EuGH selbst diese Formel verwendet, sondern seinerseits insbesondere für den Bereich der sozialen Sicherungssysteme eine eigene, an die übrige Wettbewerbsrechtsprechung nur eingeschränkt anknüpfende Linie entwickelt hat. Zudem wäre bei dieser Herangehensweise noch zu klären, in welchem Verhältnis diese Formel zum Grundsatz der Primärzuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung ihrer sozialen Sicherungssysteme steht. Dieser Grundsatz könnte gegenstandslos werden, wenn allein die hypothetische Alternative einer privat(versicherungs-)rechtlichen Ausgestaltung ausreichte, um das gewählte öffentlich-rechtliche System in Konflikt mit dem EG-Wettbewerbsrecht zu bringen. Die Voraussetzung, dass die privatrechtlich Alternative ohne Änderung der wesentlichen Rahmenbedingungen zu denken ist, muss also ernst genommen werden.

39 Axer, Europäisches Kartellrecht und nationales Krankenversicherungsrecht, NZS 2002, S. 57, 61. 40 EuGH Slg. 2001, I-8089. 41 Lübbing, Anm. zu INAIL, EuZW 2002, S. 149; Hänlein / Kruse, NZS 2000, S. 165, 167 f.; Haverkate / Huster, Europäisches Sozialrecht, Rn. 465 f.

I. Wettbewerbsrecht

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b) Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH im Bereich der Sozialversicherung aa) Rechtssache Höfner und Elser Den funktionalen Unternehmensbegriff hat der EuGH im Jahr 1991 durch das Urteil in der Rechtssache „Höfner und Elser“ 42 eingeführt. Dem Urteil lag ein Verfahren vor dem OLG München zugrunde, in dem eine Personalberatungsagentur auf Zahlung eines Honorars für die Vermittlung einer Führungskraft klagte, die das beklagte Unternehmen mit Verweis auf § 134 BGB in Verbindung mit § 4 Arbeitsförderungsgesetz in der damals geltenden Fassung und Verweis auf das Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit verweigerte. Das OLG München legte dem Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung gemäß Art. 177 EWG aF bzw. Art. 234 EG nach geltender Fassung unter anderem die Frage vor, ob die damalige Bundesanstalt für Arbeit bei der Vermittlung von Führungskräften im Hinblick auf Art. 90 Abs. 2 EWG (jetzt: Art. 86 Abs. 2 EG) an die Vorschriften des EG-Vertrags gebunden sei und ob eine Monopolisierung der Führungskräftevermittlung eine missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung darstelle 43. Weil die Stellungnahmen der Beteiligten insbesondere auf die Frage der Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln auf die Arbeitsvermittlung und mithin um deren Unternehmenseigenschaft abhob, kann die klarstellende Antwort durch den Gerichtshof mit Recht als Leitentscheidung in dieser Frage angesehen werden 44. Der EuGH formulierte erstmals den funktionalen Unternehmensbegriff und betonte zudem, dass es nicht gegen die wirtschaftliche Natur einer Tätigkeit spricht, wenn diese normalerweise öffentlich-rechtlichen Anstalten übertragen ist. Für die Unternehmenseigenschaft der Bundesanstalt für Arbeit in ihrer Funktion als Arbeitsvermittlerin spreche zudem, dass diese Tätigkeit nicht immer von öffentlichen Einrichtungen betrieben worden sei und auch nicht notwendig von solchen Einrichtungen betrieben werden müsse 45. bb) Rechtssachen Poucet und Pistre Zwei Jahre später nahm der Europäische Gerichtshof zu der Frage Stellung, ob eine Einrichtung der sozialen Sicherung ein Unternehmen im Sinne der Wettbewerbsordnung darstellen kann. In den Rechtssachen „Poucet und Pistre“ wurde dem Gerichthofs diese Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt 46. Hintergrund 42

EuGH Slg. 1991, I-1979. EuGH Slg. 1991, I-1979, 2014 Rn. 12, Punkt 4). 44 Duisberg, Die Anwendung der Artikel 85 und 86 EG-Vertrag in den Fällen der staatlichen Einflussnahme auf Unternehmensverhalten, S. 13. 45 EuGH Slg. 1991, I-1979, 2016 Rn. 22. 46 EuGH Slg. 1993, I-637. 43

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war die Klage zweier Selbstständiger gegen die Zahlungspflicht zur französischen Sozialversicherung, wenngleich sich die Kläger ausdrücklich nicht gegen die grundsätzliche Versicherungspflicht wandten, sondern dagegen, dass sie nicht frei im gesamten Gebiet der Gemeinschaft eine private Versicherungsgesellschaft aussuchen dürften 47. Der Gerichtshof verneinte die Unternehmenseigenschaft der fraglichen Sozialversicherungen, die in diesem Fall ein Versicherungssystem für Krankheit und Mutterschaft einerseits sowie ein Alterssicherungssystem andererseits gewährleisteten. Zur Begründung betonte er den obligatorischen sozialen Schutz der Systeme, die einem sozialen Zweck dienen und auf dem Grundsatz der (nationalen) Solidarität beruhen 48. Dieser werde dadurch erreicht, dass die Beiträge nach Maßgabe der Einkünfte finanziert werden, die Leistungen aber für alle Empfänger gleich sind. Zudem behalten Versicherte für die Dauer eines Jahres nach Austreten aus dem System ihre Leistungsansprüche. Dies bringe eine Einkommensumverteilung zwischen den Wohlhabenderen und den Personen mit sich, denen angesichts ihrer Mittel und ihrer gesundheitlichen Lage ohne eine solche Regelung die notwendige soziale Absicherung fehlen würde. Weitere Indizien für Solidarität in den betreffenden Systemen waren für den EuGH die Umlagefinanzierung der Rentenversicherung – insofern wich er schon hier davon ab, dass die Art der Finanzierung unerheblich sei – und die Möglichkeit, dass Ansprüche ohne Gegenleistung bestehen. Zudem äußert sich nach Ansicht des Gerichtshofs die Solidarität durch den Finanzausgleich zwischen den Systemen. Für die Anwendung des Solidaritätsgrundsatzes sowie für das finanzielle Gleichgewicht sei die Versicherungspflicht unerlässlich 49. Aus der Zusammenschau dieser Punkte und zusätzlich der fehlenden Gewinnerzielungsabsicht und der Leistungserbringung kraft Gesetzes folgerte der Gerichtshof, dass die Tätigkeit dieser Systeme keine wirtschaftliche im Sinne des funktionalen Unternehmensbegriffs und mithin die Systeme keine Unternehmen im Sinne der Wirtschaftsordnung des EG-Vertrags sind 50. Diese Entscheidung wird zumeist als Versuch verstanden, den weiten Unternehmensbegriff aus dem Höfner-Urteil einzugrenzen 51. Zudem markieren die dort erarbeiteten Kriterien den Bereich, in dem Systeme der sozialen Sicherung keine Unternehmen im Sinne des Art. 86 EG darstellen.

47

EuGH Slg. 1993, I-637, 666 Rn. 3. EuGH Slg. 1993, I-637, 667 Rn. 7 f. 49 EuGH Slg. 1993, I-637, 669 Rn. 13. 50 EuGH Slg. 1993, I-637, 679 Rn. 18 f. 51 Duisberg, Die Anwendung der Artikel 85 und 86 EG-Vertrag in den Fällen der staatlichen Einflussnahme auf Unternehmensverhalten, S. 14. 48

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cc) Rechtssache Fédération française des sociétés d’assurance / CCMSA Im Urteil in der Rechtssache „Fédération française des sociétés d’assurance / CCMSA“ 52 benannte der Europäische Gerichtshof wiederum Kriterien, die dafür sprechen, dass die Grenze des Bereichs Unternehmen im wettbewerbsrechtlichen Sinne noch nicht überschritten ist. Die beiden Urteile „Poucet“ und „FFSA“ stellen insofern die beiden Pole der Rechtsprechung zum Kartellrecht auf dem Gebiet der sozialen Sicherung dar 53. Zugrunde lag die Klage mehrerer französischer Versicherungsunternehmen gegen ein Dekret, durch das ein Zusatzrentenversicherungssystem für Landwirte geregelt wird. In dieser Rentenversicherung konnten sich Landwirte freiwillig versichern, die Leistungen waren abhängig von der Höhe der gezahlten Beiträge, und die Beiträge zu dieser Versicherung wurden steuerlich begünstigt. Die Finanzierung des Systems erfolgte nach dem Kapitalisierungsprinzip. Die Kläger im französischen Ausgangsverfahren hatten gegen dieses System eingewandt, durch das Verwaltungsmonopol der CCMSA, auf das das Zusatzrentensystem zurückgreifen könne, und durch die steuerliche Abzugsfähigkeit der Beiträge seien konkurrierende Versicherungsunternehmen einer Verdrängung vom Markt ausgesetzt, das fragliche Dekret laufe daher den Art. 85 ff. aF EG-Vertrag zuwider 54. Der französische Conseil d’Etat legte dem Europäischen Gerichtshof daher die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob das fragliche System ein Unternehmen im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts darstellt. Der Gerichtshof bezog sich in seiner Entscheidung ausdrücklich auf den in der Rechtssache „Höfner und Elser“ entwickelten Unternehmensbegriff und die Kriterien der obligatorischen und dem Grundsatz der Solidarität folgenden sozialen Sicherung aus der Rechtssache „Poucet und Pistre“. Die Tätigkeit der französischen CCMSA stellte nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs deshalb eine wirtschaftliche dar, weil die Mitgliedschaft in der Versicherung freiwillig war, das System nach dem Kapitalisierungsprinzip funktionierte und Leistungen abhängig von der Höhe der Beiträge und den Erträgen möglicher Investitionen der CCMSA gewährt wurden. Diese wirtschaftliche Tätigkeit stehe im Wettbewerb mit den privaten Versicherungsunternehmen 55. Zwar erkannte der EuGH auch Elemente der Solidarität im französischen System: So waren die Beiträge unabhängig vom versicherten Risiko und konnten in bestimmten Fällen ausgesetzt werden, ohne dass Ansprüche verloren gingen. Insbesondere aber wegen der Freiwilligkeit der Versicherung ließen diese Elemente den wirtschaftlichen Charakter des Systems nicht entfallen, weil eine freiwillige Versicherung den Grundsatz der Solidarität „nur äußerst begrenzt“ 56 erfüllen könne. Schließlich sah der EuGH auch die Verfolgung eines 52

EuGH Slg. 1995 I-4013, im Folgenden Rechtssache FFSA. Berg, Neue Entscheidungen des EuGH zur Anwendung des EG-Kartellrechts, EuZW 2000, 170, 172. 54 EuGH Slg. 1995, I-4013, 4025 Rn. 5. 55 EuGH Slg. 1995, I-4013, 4028 Rn. 17. 53

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gewissen sozialen Zwecks und die fehlende Gewinnerzielungsabsicht als nicht schwerwiegend genug an, um die Annahme des wirtschaftlichen Charakters zu beseitigen. Pole zur Einordnung von System der sozialen Sicherheit stellen die Urteile „Poucet und Pistre“ und „FFSA“ insofern dar, als der Europäische Gerichtshof in einem ersten Schritt den Grundsatz der Solidarität zum entscheidenden Argument gegen eine wirtschaftliche Tätigkeit erhoben hat und in einem zweiten bestimmt hat, welche Ausgestaltungen gegen diesen Grundsatz sprechen, i. e. im Falle FFSA die Freiwilligkeit der Versicherung und das Kapitalisierungsverfahren der Finanzierung. Der Grundsatz der Solidarität ist indes bislang kein Rechtsbegriff, der auf dem europäischen Primärrecht fußt. Der Europäische Gerichtshof führt den Begriff der Solidarität als rechtlichen Grundsatz in seiner Rechtsprechung ein, ohne ihn jedoch herzuleiten, zu begründen oder genauer zu definieren. Darin besteht die eigentliche Schwierigkeit der auch in der Folge sehr einzelfallabhängigen Rechtsprechung: Ohne das „Prinzip“ zu erklären, hebt der Europäische Gerichtshof gleichwohl auf Ausprägungen dieses unterstellten Grundsatzes ab. Dabei fehlt es zuweilen an methodischer Trennschärfe. Im Urteil „Poucet und Pistre“ etwa herrscht (unbewusster?) Dissens zwischen dem Gerichtshof und Generalanwalt Tesauro darüber, ob Solidarität durch Verteilung entsteht 57 oder umgekehrt erst Solidarität eine Umverteilung bewirkt 58 – ein Beleg für die Ungenauigkeit, die die Verwendung des Begriffs der Solidarität auch im europarechtlichen Zusammenhang umgibt. dd) Rechtssache Brentjens’ Handelsonderneming BV u. a. Im Jahre 1999 lagen dem Europäischen Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vor, die sich mit der Unternehmenseigenschaft der Betriebsrentenfonds als zweitem Pfeiler im niederländischen Rentenversicherungssystem 59 beschäftigten 60. Der jeweilige Betriebsrentenfonds war innerhalb einer Branche auf Grundlage eines Tarifvertrags eingerichtet worden, wobei die Vereinbarung der Sozialpartner nach Ansicht des EuGH nicht in den Anwendungsbereich der Art. 81 ff. EG fiel. Er überprüfte sodann die Unternehmenseigenschaft des so geschaffenen und verselbstständigten Betriebsrentenfonds. Auch in diesen Urteilen hob der Gerichtshof explizit auf die in den Rechtssachen „Höfner und Elser“ und „Poucet und Pistre“ geschaffenen Grundlagen zum Unternehmensbegriff insbesondere im Hinblick 56

EuGH Slg. 1995, I-4013, 4029 Rn. 19. Schlussanträge, Slg. 1993, I-658, 662, Nr. 11. 58 EuGH Slg. 1993, I-637, 668 Rn. 10. 59 Zu den drei Pfeilern EuGH Slg. 1999, I-5866 Rn. 3 ff. 60 EuGH Slg. 1999, I-5863 (Albany); Slg. 1999, I-6029 (Brentjens’ Handelsonderneming BV); Slg. 1999, I-6125 (Bokken). 57

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auf Systeme der sozialen Sicherung ab. Entscheidend dafür, dass der Betriebsrentenfonds eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübte, war nach Ansicht des EuGH, dass die Höhe der Beiträge und Leistungen durch den jeweiligen Betriebsrentenfonds selbst bestimmt wurden und jeder Fonds nach dem Kapitalisierungsprinzip funktionierte. Die Höhe der Leistungen hingen zudem von den Erträgen der Anlagen des Fonds ab 61. Zudem sahen die Vorschriften über die Fonds’ vor, dass Unternehmen von der Versicherung freizustellen waren, wenn sie ihre Arbeitnehmer gleichwertig auf andere Weise versicherten 62. Zusammengefasst waren in diesen Urteilen erneut das Kapitalisierungsverfahren in der Finanzierung und ein gewisser Grad an Freiwilligkeit bzw. nicht konsequent durchgehaltene Pflichtigkeit ausschlaggebend für die Unternehmenseigenschaft des fraglichen Systems der sozialen Sicherung. Demgegenüber handelte der EuGH die vorgebrachten Argumente gegen den Unternehmenscharakter, namentlich die fehlende Gewinnerzielungsabsicht, gewisse Solidaritätsgesichtspunkte sowie Beschränkungen und Kontrollen, denen die Fonds unterlägen, in aller Kürze ab: Sie genügten nicht, um den Betriebsrentenfonds die Eigenschaft eines Unternehmens im Sinne der Wettbewerbsregeln des Vertrages zu nehmen 63. Auffällig daran ist, dass der Gerichtshof darauf verzichtet, die vorgetragenen Anhaltspunkte für das verwirklichte Solidaritätsprinzip genauer in Augenschein zu nehmen, obgleich gerade dieses Prinzip tragend für die grundlegende Entscheidung „Poucet und Pistre“ gewesen war. Die Betriebsrentenfonds und die beteiligten Regierungen hatten als Ausprägungen des Solidaritätsgrundsatzes genannt, dass alle Arbeitnehmer unabhängig von ihrem Gesundheitszustand zu versichern waren, dass Ansprüche erhalten blieben, wenn Beiträge (der Arbeitnehmer oder der Arbeitgeber) aus bestimmten Gründen fehlten, und dass „im Einzelfall keine Gleichwertigkeit“ zwischen Höhe des Beitrags und Höhe des Rentenanspruchs herrschte 64. In der EuGH-Antwort auf die vorgelegte Frage nach der Unternehmenseigenschaft erhielten diese Überlegungen jedoch keine Bedeutung. Der Gerichtshof : „Gewiß können die Verfolgung einer sozialen Zielsetzung, die genannten Solidaritätsgesichtspunkte und die Beschränkungen oder Kontrollen in bezug auf Investitionen des Betriebsrentenfonds die von diesem Fonds erbrachte Dienstleistung weniger wettbewerbsfähig als die vergleichbare von Versicherungsgesellschaften erbrachte Dienstleistung machen. Zwar hindern derzeitige Zwänge nicht daran, die vom Fonds ausgeübte Tätigkeit als wirtschaftliche Tätigkeit anzusehen, sie könnten aber das ausschließliche Recht einer solchen Einrichtung zur Verwaltung eines Zusatzrentensystems rechtfertigen.“ 65 In der Tat fanden die 61 62 63 64 65

Und folglich nicht von einer gesetzlichen Regelung bzw. dem Bedarf des Empfängers. EuGH Slg. 1999, I-6029, 6054 Rn. 81 ff. (Brentjens’). EuGH Slg. 1999, I-6029, 6055 Rn. 85 f. (Brentjens’). EuGH Slg. 1999, I-6029, 6052 Rn. 75. EuGH Slg. 1999, I-6029, 6055 Rn. 86.

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Gesichtspunkte eines sozialen Zwecks und der Solidarität an späterer Stelle Eingang in das Urteil „Brentjens’“, denn diese Begriffe bildeten die entscheidenden Argumente für die Anwendung des Art. 90 Abs. 2 aF EG-Vertrag (Art. 86 Abs. 2 EG), der zumeist als Regelung für die Rechtfertigung eines öffentlichen Monopols gesehen wird. Durch diese Urteile hat sich die Prüfungssystematik des EuGH im Bereich des Wettbewerbsrechts für Systeme der sozialen Sicherung verschoben. ee) Rechtssache Pavlov Auch in der Rechtssache „Pavlov“ beschäftigte sich der Europäische Gerichtshof mit einem niederländischen Rentenfonds, der als zweiter Pfeiler die Altersvorsorge der Fachärzte fungierte 66. In dem Urteil musste gleich zweimal die Unternehmenseigenschaft geklärt werden: In einem ersten Schritt war zu klären, ob die Standesvertretung der Fachärzte, die die Einrichtung des Rentenfonds und die Pflichtmitgliedschaft in ihm beschlossen hatte, Unternehmen im Sinne der Wettbewerbsregeln war und folglich die Vereinbarung an Art. 81 EG zu messen war. Während in der Rechtssache „Brentjens’“ und den Parallelentscheidungen noch eine vergleichbare Vereinbarung von Tarifpartnern aus dem Anwendungsbereich der Art. 81 ff. EG herausgenommen worden war, bejahte der EuGH hier die Unternehmenseigenschaft und die Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln. Zum einen fehle es an einer Kollektivvereinbarung zwischen Sozialpartnern, da keine den Regelungen in Art. 137 ff. EG zugunsten der Sozialpartner entsprechenden Bestimmungen für die Angehörigen freier Berufe existiert 67. Zum anderen wurden sowohl die Fachärzte selbst als auch ihr Zusammenschluss in der Standesvertretung als wirtschaftlich Tätige und mithin als Unternehmen im Hinblick auf die Einrichtung des Rentenfonds eingestuft 68. Insbesondere stand dem nicht entgegen, dass der Berufsverband eine öffentlich-rechtliche Einrichtung war. Im Ergebnis lag jedoch in der Vereinbarung kein Verstoß gegen Art. 81 EG vor, weil die Entscheidung, einen solchen Rentenfonds einzurichten, den Gemeinsamen Markt nicht spürbar einschränkte 69. Im zweiten Schritt prüfte der Gerichtshof die Unternehmenseigenschaft des Fachärztefonds selbst. Dieser Rentenfonds ist Teil des niederländischen Systems der sozialen Sicherung, so dass das Urteil eine weitere Wegmarke in der Rechtsprechung zur Unternehmenseigenschaft von Einrichtungen mit sozialem Zweck darstellt. Es schließt indes nahtlos und mit nahezu identischer Argumentation an die Urteile in den Rechtssachen „Brentjens’“ u. a. an. Auch dieser Renten66

EuGH Slg. 2000, I-6451 (Pavlov). EuGH Slg. 2000, I-6451, 6519 Rn. 68 f. 68 EuGH Slg. 2000, I-6451, 6520 Rn. 74 ff. 69 EuGH Slg. 2000, I-6451, 6525 Rn. 97; auch in der Entscheidung des Staates, die Pflichtmitgliedschaft vorzuschreiben, lag kein Verstoß, Rn. 100. 67

I. Wettbewerbsrecht

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fonds sei wegen des Kapitalisierungsprinzips, der nicht gesetzlich festgelegten Leistungshöhe und gewisser Freistellungs- und Wahlmöglichkeiten wirtschaftlich tätig und folglich Unternehmen im Sinne der Art. 81 ff EG, daran änderten auch die fehlende Gewinnerzielungsabsicht und Solidaritätsgesichtspunkte nichts 70. Wohl aber könnten diese dazu führen, dass es gerechtfertig ist, diesem Rentenfonds ausschließliche Rechte im Sinne des Art. 86 Abs. 1 EG einzuräumen. Auf die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Rechtfertigung kam der EuGH in diesem Urteil jedoch nicht wieder zu sprechen, weil er schon tatbestandlich keinen Verstoß gegen Art. 81, 82 in Verbindung mit 86 Abs. 1 EG erkennen konnte: Dem Fachärztefonds waren zwar für einen bestimmten Bereich – nämlich für den, in dem wegen der Pflichtmitgliedschaft für die Versicherten es nicht möglich war, sich anderweitig zu versichern – durch den Mitgliedstaat Niederlande ausschließliche Rechte im Sinne des Art. 86 Abs. 1 EG eingeräumt worden. Durch dieses Monopol kam dem Rentenfonds auch eine marktbeherrschende Stellung im Sinne des Art. 82 EG zu. Dies allein sei jedoch noch nicht mit Art. 82 EG unvereinbar. Ein Verstoß läge nur dann vor, wenn das betreffende Unternehmen durch die bloße Ausübung der ihm übertragenen ausschließlichen Rechte seine beherrschende Stellung missbräuchlich ausnutzt oder wenn durch diese Rechte eine Lage geschaffen werden könnte, in der dieses Unternehmen einen solchen Missbrauch begeht 71. Zusätzlich zu den primärrechtlich aufgelisteten Regelbeispielen für einen Missbrauch in Art. 82 EG hatte der Gerichtshof in der Rechtssache „Höfner und Elser“ einen Missbrauch darin gesehen, wenn durch die Monopolposition des Unternehmens eine Situation geschaffen wird, in der das Unternehmen offenkundig nicht in der Lage ist, die Nachfrage auf dem Markt nach entsprechenden Leistungen zu befriedigen 72. Dafür sei jedoch im Falle des Fachärztefonds nichts ersichtlich 73, so dass im Ergebnis kein Verstoß vorlag. ff) Rechtssache Cisal / INAIL Im Jahr 2002 lag dem Europäischen Gerichtshof ein mitgliedstaatliches System einer gesetzlichen Unfallversicherung zur Überprüfung am EG-Wettbewerbsrecht vor: Ebenfalls im Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 234 EG nahm der EuGH Stellung zur Unternehmenseigenschaft der italienischen Unfallversicherung durch das Istituto nazionale per l’assicurazione contro gli infortuni sul lavoro (INAIL) 74. Die italienische Unfallversicherung ist eine Pflichtversicherung, die für Rechnung des Staates und unter dessen Aufsicht Arbeitnehmer, Gesellschafter 70 71 72 73 74

EuGH Slg. 2000, I-6451, 6531 Rn. 116 f. EuGH Slg. 2000, I-6451, 6533 Rn. 127. EuGH Slg. 1991, I-1979, 2018 Rn. 31. EuGH Slg. 2000, I-6451, 6534 Rn. 128. EuGH Slg. 2002, I-691 (INAIL).

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und bestimmte Gruppen selbstständiger Handwerker gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten versichert. Kraft Gesetzes sind Arbeitgeber verpflichtet, ihre Arbeitnehmer zu versichern. Die Beiträge werden von den Arbeitgebern für die Arbeitnehmer bzw. von den erfassten Selbstständigen entrichtet. Ebenfalls durch Gesetz ist definiert, dass die Unfallversicherung zu den öffentlichen Einrichtungen gehört, die Leistungen der Daseinsvorsorge erbringen. Das INAIL muss seine Aufgaben nach Kriterien der Wirtschaftlichkeit und des unternehmerischen Handelns wahrnehmen und ist autonom organisiert, es ist dabei der Aufsicht des Ministeriums für Arbeit und soziale Sicherheit unterstellt. Die italienische Unfallversicherung wird im landwirtschaftlichen Bereich im Wege des Umlageverfahrens finanziert. Für den gewerblichen Bereich wird das System der sogenannten Aufteilung des Deckungskapitals verwendet, nach dem die Beiträge so festgesetzt werden, dass sie die voraussichtlichen Ausgaben für das jeweilige Jahr decken können; zudem wird eine technische Reserve zur Deckung künftiger Renten angelegt 75. Die Höhe der Beiträge bemisst sich nach dem nationalen Durchschnittsrisiko einer beruflichen Tätigkeit, das seinerseits durch Bildung von Klassen und Untergruppen genauer unterteilt wird. Die Leistungen aus der Unfallversicherung werden automatisch, also unabhängig von der tatsächlichen Beitragszahlung gewährt 76 und sind ebenfalls gesetzlich festgelegt. Im Ausgangsverfahren vor dem Tribunale Vicenza wehrte sich ein Unternehmen gegen den Mahnbescheid des INAIL, durch den es zur Zahlung ausstehender Beiträge für die Versicherung des geschäftsführenden Gesellschafters, der als Schreiner eine handwerkliche Tätigkeit (im eigenen Unternehmen) ausübte, aufgefordert worden war. Der Gesellschafter war schon vor dem Veranlagungszeitraum bei einer privaten Versicherung gegen das Risiko von Arbeitsunfall und Berufskrankheit abgesichert gewesen. Nach Ansicht des klagenden Unternehmens verstoßen die Rechtsvorschriften, durch die Unternehmen verpflichtet werden, sich gegen privat versicherbare Risiken beim INAIL zu versichern, gegen das EG-Wettbewerbsrecht, da diese Vorschriften das Monopol des INAIL aufrechterhalten und das INAIL so zum Missbrauch einer beherrschenden Stellung verleiten 77. Der Tribunale Vicenza legte dem Europäischen Gerichtshof daraufhin die (zulässigen 78) Fragen vor, ob erstens das INAIL als Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechts anzusehen ist und ob zweitens bejahendenfalls ein Verstoß gegen Art. 96 und 82 EG darin begründet liegt, dass das INAIL Prämien von jemandem verlangt, der die beim

75

Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge, Slg. 2000, I-693, 698 Rn. 21. Im Ausgangsverfahren stellte dies insofern ein Problem dar, als der genannte Automatismus für Selbstständige zum 1. 1. 1998 durch Gesetz aufgehoben worden war; EuGH Slg. 2002, I-691, 722 Rn. 11. 77 EuGH Slg. 2002, I-691, 723 Rn. 13. 78 Zur Zulässigkeit, insbesondere zur Befugnis des EuGH, neben der Kommission über die Einhaltung des Art. 86 EG zu wachen: EuGH Slg. 2002, I-691, 725 Rn. 16 bis 20. 76

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INAIL zu versichernden Risiken bereits durch Versicherung bei einem privaten Unternehmen versichert hat. Der EuGH lehnte die Unternehmenseigenschaft des INAIL unter Zugrundelegung der bisherigen Rechtsprechung ab und hebt in seiner Würdigung im Wesentlichen vier Gesichtspunkte hervor: Die Herkömmlichkeit des Systems, den sozialen Zweck, den Grundsatz der Solidarität sowie die staatliche Aufsicht, der das System unterworfen ist. Bevor diese Aspekte im einzelnen beleuchtet werden, sei darauf hingewiesen, dass aus dem Urteilstext nur undeutlich hervorgeht, in welchem Verhältnis zueinander der Gerichtshof diese Kriterien verstanden wissen will. Seine zum Ergebnis führenden Schlussfolgerungen leitete der EuGH recht global mit den Worten „aus alledem folgt“ ein. Zwar werden die Erläuterungen zur Herkömmlichkeit als Hinweis vorab eingeführt. Zudem betont der EuGH im Gleichklang zur bisherigen Rechtsprechung, dass der soziale Zweck allein nicht genüge, um eine wirtschaftliche Tätigkeit auszuschließen. Bei der Formulierung des Ergebnisses jedoch wird diese klare Linie verwischt: „Das INAIL nimmt folglich durch seine Mitwirkung an der Verwaltung eines der traditionellen Zweige der sozialen Sicherheit, der Versicherung der Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, eine Aufgabe rein sozialer Natur wahr. Seine Tätigkeit ist daher keine wirtschaftliche Tätigkeit i. S. des Wettbewerbsrechts, und diese Einrichtung ist somit kein Unternehmen i. S. der Art. 85 und 86 EGV [81 und 82 EG]“ 79. Der Hinweis auf die Herkömmlichkeit des Systems ist im Zusammenhang mit dem Grundsatz des Europarechts zu sehen, die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt zu lassen. Der Schutz gegen Arbeitsunfall und Berufskrankheit gehöre, so der EuGH, seit langer Zeit zum sozialen Schutz, den die Mitgliedstaaten ihrer Bevölkerung gewähren 80. Zudem sei das INAIL in den sekundärrechtlichen Koordinierungsvorschriften der Verordnung (EWG) 1408/71 81 ausdrücklich als zuständiger Träger benannt. Daraus ist zu schließen, dass der EuGH die Herkömmlichkeit, die sich durch Erwähnung in der Verordnung bestätigt, zumindest insofern für relevant hält, als sich Mitgliedstaaten für ein bestehendes Sicherungssystem jedenfalls grundsätzlich auf die Primärzuständigkeit für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit berufen können. Eine Bereichsausnahme für das europäische Wettbewerbsrecht folgt daraus jedoch nicht 82. Es kann sich aber die Frage ergeben, ob umgekehrt gänzlich neue Systeme (in Abgrenzung zu einzeln ausgestalteten 79

EuGH Slg. 2002, I-691, 732 Rn. 45. EuGH Slg. 2002, I-691, 729 Rn. 32. 81 VO (EWG) 1408/71 des Rates vom 14. 6. 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer Fassung vom 2. 12. 1996, ABl 1997 Nr. L 28, S. 1. 82 Oben I.3. 80

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

Bereichen innerhalb der bestehenden Systeme) sozialer Sicherung nicht auf dieser Befugnis fußen können. Diese – so weit ersichtlich – noch unbeantwortete Frage kann jedoch an dieser Stelle und für diese Untersuchung insgesamt dahinstehen. Im Hinblick auf den sozialen Zweck des INAIL bezog sich der EuGH ausdrücklich zwar nur auf die obligatorische Sicherung für die Selbstständigen, die vorgesehen ist für diejenigen, deren Tätigkeit als gefahrgeneigt qualifiziert ist, führt sodann aber Gründe an, die für die gesamte italienische Unfallversicherung gelten: Das System solle allen geschützten Personen eine Deckung gegen die Risiken des Arbeitsunfalls und der Berufskrankheit gewähren, unabhängig von jeder Pflichtverletzung des Geschädigten oder des Arbeitgebers und damit ohne dass derjenige zivilrechtlich haftbar gemacht werden müsste, der die Vorteile aus der gefahrgeneigten Tätigkeit zieht 83. Zudem bestätige sich der soziale Zweck dadurch, dass die Leistungen auch gewährt würden, wenn keine Beiträge entrichtet wurden; auch nachdem dieser Automatismus für Selbstständige aufgehoben worden ist, könne der Schutz durch nachträgliche Erfüllung der versäumten Pflicht gewahrt werden. Seine Würdigung des sozialen Zwecks, die insbesondere im ersten Aspekt eine deutliche Parallele zum deutschen Recht darstellt, stellte der EuGH sodann in die schon bekannte Relation, dass der soziale Zweck alleine nicht die wirtschaftliche Tätigkeit eines Versicherungssystems auszuschließen vermag 84. Etwas breiteren Raum nahm daher die Feststellung ein, das streitige System setze den Grundsatz der Solidarität um, für den die Pflichtmitgliedschaft unerlässlich sei 85. Für den EuGH war entscheidend, inwieweit die Parameter Beitrag, Risiko, Leistung und Einkünfte (also die Leistungsfähigkeit) voneinander abhängen. Im italienischen Unfallversicherungsrecht wird nach Ansicht des EuGH der Beitrag nicht streng proportional zum versicherten Risiko berechnet. Das ergebe sich daraus, dass der Beitragssatz mit einem Höchstbetrag ausgestattet sei, auch wenn die Tätigkeit mit einem sehr hohen Risiko verbunden ist. Eine eventuelle Finanzierungslücke werde von den anderen Unternehmen derselben Risikogruppe getragen. Zudem würden die Beiträge nicht nur nach dem Risiko, sondern auch nach Maßgabe der Einkünfte der Versicherten berechnet. Die italienische Unfallversicherung gestalte ferner auch die Höhe der (finanziellen) Leistungen nicht notwendig proportional zum Einkommen der Versicherten, weil bei der Berechnung sowohl Höchstbeträge als auch an das Durchschnittseinkommen gekoppelte Mindestbeträge angesetzt werden. Das Fehlen eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen den entrichteten Beiträgen und den gewährten Leistungen bewirke somit eine Solidarität zwischen den hoch bezahl83 84 85

EuGH Slg. 2002, I-691, 730 Rn. 35. EuGH Slg. 2002, I-691, 731 Rn. 37. EuGH Slg. 2002, I-691, 731 Rn. 38 ff.

I. Wettbewerbsrecht

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ten Arbeitnehmern und denjenigen, die in Anbetracht ihrer niedrigen Einkünfte keine angemessene soziale Absicherung hätten, wenn ein solche Zusammenhang bestünde 86. Diese Schlussfolgerung ist in mehrerlei Hinsicht mindestens verkürzt, womöglich gar nicht haltbar. Zum einen steht die Festsetzung von Höchst- oder Mindestrenten in keinem direkten Zusammenhang zu den Beiträgen, sondern setzt allein auf der Leistungsseite an. Zwar führt eine Begrenzung der Leistungshöhe zu einer Begrenzung der Finanzierungslast und somit zu niedrigeren Beiträgen. Über die Beitragshöhe für den einzelnen Unternehmer entscheidet jedoch der individuelle Risikograd, während die Lastenbegrenzung der gesamten Klasse bzw. Untergruppe zugute kommt. Zum anderen stehen Leistungen und Beiträge ohnehin regelmäßig schon in keinem Zusammenhang, weil Beitragszahler und Leistungsempfänger nicht dieselben Personen sind 87. Unklar ist zudem, was der EuGH meint, wenn er formuliert, Arbeitnehmer mit geringerem Einkommen hätten keine angemessene soziale Absicherung, wenn ein Zusammenhang zwischen Beitrag und Leistung bestünde 88. Im bestehenden italienischen System könnte sich ein geringes Einkommen nur dann negativ auf die stabile soziale Absicherung auswirken, wenn sich die gesetzlich festgelegte Leistung streng am tatsächlichen Einkommen im Bezugszeitraum orientierte und nicht an einen Mindestbetrag. Die Unklarheiten in diesem Teil der Urteilsbegründung können sich mit Blick auf die Ausführungen des Generalanwalts Jacobs in seinen Schlussanträgen erhellen 89: Nach seiner Auffassung ist es wesentliches Merkmal einer privaten Versicherung, dass Beiträge und Leistungen in ihrer Gesamtheit und im jeweiligen Einzelfall miteinander verknüpft sind. Er spricht also die privatversicherungsrechtlich typischen Prinzipien der Global- und Einzeläquivalenz an. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Beiträgen und den Leistungen bestehe aber rechtlich gesehen in der italienischen Unfallversicherung nicht. Dies wird an der Stelle nicht näher begründet, kann sich aber nach den Grundsätzen des italienischen Systems nur daraus ergeben, dass Leistungen und Beiträge unabhängig voneinander nach den Maßgaben des Gesetzes berechnet werden. Den Einwand, es bestehe insofern ein Zusammenhang zwischen Beitrag und Leistung, als beide an denselben Faktor Einkommen des Versicherten geknüpft seien, ließ der Generalanwalt nicht gelten 90: Während die Leistungen nach dem Einkommen innerhalb eines Mindestund Höchstbetrags berechnet würden, müssten für die Berechnung der Beiträge alle Einkünfte oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns herangezogen werden. Das habe zur Folge, dass ein Arbeitgeber mitunter für einen Arbeitnehmer mit hohem 86

EuGH Slg. 2002, I-691, 732 Rn. 42. Anders im Fall der versicherten Unternehmer bzw. Selbstständigen, um die es im Ausgangsfall zwar geht, die in der Argumentation des EuGH aber nicht weiter berücksichtigt werden. 88 EuGH Slg. 2002, I-691, 732 Rn. 42. 89 Slg. 2002, I-693, 708 Rn. 61 ff. 90 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge, Slg. 2002, I-693, 709 Rn. 66. 87

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

Gehalt hohe Beiträge entrichte, dieser jedoch keinen Anspruch auf entsprechend hohe Rentenleistungen habe. Das vom INAIL angebotene System bewege sich daher in der Mitte eines Spektrums, an dessen einem Ende Systeme mit vollständig proportionalem Verhältnis von Beiträgen und Leistung stehen und an dessen anderem Ende Systeme stehen, die Beiträge nach dem Einkommen bemessen und die Leistungen für alle gleich sind. An den Ausführungen des Generalanwalts sind insbesondere zwei Aspekte von Bedeutung, die sich in dieser Deutlichkeit nicht im Urteil wieder finden: Zum einen gelten die Beiträge der Arbeitgeber zur Unfallversicherung als für den Arbeitnehmer entrichtet. Nach Artikel 41 der Vorschriften für die Pflichtversicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten werden die Beiträge der Arbeitnehmer nach einem bestimmten Prozentsatz ihres Arbeitsentgeltes berechnet 91. Demnach ist der Arbeitgeber systematisch zur Zahlung der Arbeitnehmerbeiträge verpflichtet. Er zahlt Beiträge zur Unfallversicherung also nicht insgesamt, sondern jeweils „für einen Arbeitnehmer“ 92, wird also offenbar als beitragszahlender Dritter für die Versicherung eines anderen angesehen 93. Zum anderen findet die Argumentation des Generalanwalts nicht unter dem Stichwort der Solidarität statt 94. Er begründet allein, inwieweit das Verhältnis zwischen Beitrag und Leistung demjenigen einer privaten Versicherung gleicht. Dagegen bezieht sich der EuGH in seinem Urteil zwar ausdrücklich auf diese Ausführungen des Generalanwalts, folgert daraus jedoch, dass hierin der Grundsatz der Solidarität verwirklicht sei 95 mit der am Ende irreführenden zusammenfassenden Formulierung, dieser Grundsatz verlange, „dass die dem Versicherten gewährten Leistungen nicht proportional zu den von ihm entrichteten Beiträgen sind“ 96. Wenn nach der Systematik der italienischen Unfallversicherung die Beiträge zum INAIL als Beiträge der Versicherten gelten, so kann sich daraus die Frage ergeben, ob die vom Arbeitgeber abgeführten Beiträge zum INAIL Bestandteile des Lohnes sind. Ist das der Fall, lässt sich eine „Solidarität“ zwischen den Arbeitnhemern begründen, weil die Mittel der Versicherung aus dem Einkommen, also aus der Gruppe der Arbeitnehmer getragen werden. Ob im italienischen Rechtssystem dieser Beitrag Lohnbestandteil ist, kann hier nicht beantwortet werden. Für die deutsche Unfallversicherung brächte dies ohnehin keine Erkenntnisse 97.

91

Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge, Slg. 2002, I-693, 698 Rn. 22. Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge, Slg. 2002, I-693, 709 Rn. 66. 93 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge, Slg. 2002, I-693, 708 Rn. 62. 94 Unter dem Gesichtspunkt der Solidarität prüft er den Grundsatz der automatischen Leistungsgewährung, den der EuGH seinerseits als sozialen Zweck ansieht. 95 EuGH Slg. 2002, I-691, 731 Rn. 41 f. 96 EuGH Slg. 2002, I-691, 732 Rn. 44. 97 Dazu schon oben 1. Teil, II.4.b)aa)(1). 92

I. Wettbewerbsrecht

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Als ebenfalls wesentlich schließlich, um die Unternehmenseigenschaft des INAIL abzulehnen, hat der EuGH die staatliche Aufsicht angesehen und die Tatsache, dass die Höhe von Beiträgen und Leistungen „letztlich staatlich festgesetzt“ seien 98: Die Höhe der Leistungen wird durch Gesetz, die Höhe der Beiträge durch Beschluss des INAIL mit Genehmigung durch Ministerialdekret festgelegt. Mit diesem Urteil hat der Europäische Gerichtshof zwar den eingeschlagenen Weg in seiner Rechtsprechung zur Unternehmenseigenschaft sozialer Sicherungssysteme fortgesetzt und an zuvor entwickelte Kriterien im Wesentlichen angeknüpft. In der Ausfüllung und Gewichtung dieser Kriterien werden jedoch schon früher erkennbare Schwierigkeiten offenbar: Zum einen bleibt unklar, welche nun die wirklich ausschlaggebenden Kriterien sind 99. Zum anderen bleiben Begriffe wie der der Solidarität weiterhin ohne Definition, Herleitung und Begründung, so dass – nahezu notwendig – auch die Subsumtion im Falle des INAIL nicht überzeugend gelingt. Kritisch im Hinblick auf eine fehlende konsequente Linie sei auch angemerkt, dass etwa die Frage der Finanzierung vom Gerichtshof unerwähnt bleibt. War in den Rechtssachen „FFSA“, „Brentjens’ u. a.“ und „Pavlov“ noch das Kapitalisierungsverfahren ein wesentliches Argument für die Unternehmenseigenschaft der betreffenden Einrichtung, so findet das Finanzierungssystem des INAIL keinen Eingang in das Urteil, obwohl es keineswegs nach einem reinen Umlageverfahren funktioniert, sondern sich „die zugrunde liegende Finanzierungspolitik ( . . . ) sich ( . . . ) wohl nicht sehr von der eines Versicherers im privaten Bereich“ unterscheidet 100. gg) Rechtssachen AOK-Bundesverband und FENIN Im sogenannten Festbetragsurteil war eine andere Komponente der sozialen Sicherungssysteme Gegenstand der wettbewerbsrechtlichen Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof : Im Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 234 EG ging es um die Unternehmenseigenschaft der deutschen Krankenkassen insbesondere im Hinblick auf die Befugnis ihrer Spitzenverbände, Festbeträge für die von ihnen zu zahlenden Arzneimittel festzusetzen 101. Der Untersuchungsgegenstand wich in diesem Urteil insofern von den bisher vorgestellten ab, als er nicht die Eigenschaft des fraglichen Systems als Versicherer, sondern als Leistungserbringer 98

EuGH Slg. 2002, I-691, 732 Rn. 43. In einem späteren Urteil hat der EuGH indes beschränkend zusammengefasst, das INAIL sei deshalb kein Unternehmen, „weil die Höhe der Leistungen und der Beiträge letztlich vom Staat festgelegt wird“; EuGH Slg. 2004, I-2493, 2543 Rn. 48 (AOK-Bundesverband u. a.). 100 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge, Slg. 2002, I-693, 707 Rn. 58. 101 EuGH Slg. 2004, I-2493 (AOK-Bundesverband). 99

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

betraf oder anders gewendet: nicht das Verhältnis zu den Versicherten, sondern zu dritten Leistungserbringern behandelte. Gleichwohl stellte der Gerichtshof zunächst darauf ab, ob die Krankenkassen insgesamt Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechts sind. Erst danach stellte er die Frage, ob in der Festbetragsfestsetzung selbst eine wirtschaftliche Tätigkeit zu sehen ist. Die Unternehmenseigenschaft der deutschen Krankenkassen verneinte der Gerichtshof 102. Zur Begründung hob er insbesondere auf die Parallelen zum Versicherungssystem in der Rechtssache „Poucet und Pistre“ ab: Die Krankenkassen wirkten ebenso an der Verwaltung des Systems der sozialen Sicherheit mit, sie nähmen insoweit eine rein soziale Aufgabe wahr, die auf dem Grundsatz der Solidarität beruhe und ohne Gewinnerzielungsabsicht ausgeübt werde. Dabei sei besonders hervorzuheben, dass die Krankenkassen gesetzlich dazu verpflichtet seien, ihren Mitgliedern im Wesentlichen gleiche Pflichtleistungen anzubieten, die unabhängig von der Beitragshöhe sind; dadurch hätten die Krankenkassen keine Möglichkeit, auf diese Leistungen Einfluss zu nehmen. Ausschlaggebend war für den EuGH ferner, dass die Krankenkassen „zu einer Art Solidargemeinschaft“ zusammengeschlossen seien, um einen Kosten- und Risikoausgleich (§§ 265 ff. SGB VII) vorzunehmen, sie also in keiner Konkurrenz untereinander oder mit den privaten Einrichtungen hinsichtlich der Leistungserbringung, ihrer Hauptaufgabe, stünden. An der Einschätzung, dass somit die Krankenkassen keine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, ändere auch der Spielraum in der Beitragsfestsetzung und im gewissen Wettbewerb mit anderen Krankenkassen nichts, da dieser nur „im Interesse des ordnungsgemäßen Funktionierens des deutschen Systems der sozialen Sicherheit“ 103 ausgeübt werde. Im Sinne des relativen Unternehmensbegriffs wurde sodann eingeräumt, dass die Krankenkassen neben den rein sozialen Aufgaben unter Umständen auch solche Tätigkeiten ausüben, die keinen sozialen, sondern einen wirtschaftlichen Zweck haben. Nach Ansicht der im Ausgangsverfahren 104 klagenden Pharmaunternehmen sind die Festbetragsfestsetzungen Beschlüsse wirtschaftlicher Art. Dem folgte der EuGH nicht und begründete dies damit, dass die Krankenkassen in diesen Beschlüssen nur einer gesetzlichen Pflicht nachkommen, die ihrerseits das Fortbestehen des Systems sichere. Das ihnen eingeräumte Ermessen bei der Entscheidung sei auf einen Höchstbetrag bezogen. Mithin verfolgten die Krankenkassen keine eigenes Interesse, das sich vom sozialen Zweck der Krankenkassen trennen ließe 105.

102 EuGH Slg. 2004, I-2493, 2543 Rn. 51 ff.; er wich damit vom Ergebnis des Generalanwalts Jacobs (Slg. 2004, I-2495, 2523 Ziff. 1) ab. 103 EuGH Slg. 2004, I-2493, 2545 Rn. 56. 104 Vorlagebeschluss des BGH v. 3. 7. 2001, GRUR 2002, 554. 105 EuGH Slg. 2004, I-2493, 2546 Rn. 61 ff.

I. Wettbewerbsrecht

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Um das Verhältnis einer Einrichtung sozialer Sicherung zu Dritten und nicht zu den Versicherten ging es auch in der Rechtssache „FENIN“, die im Jahr 2003 vom Europäischen Gericht erster Instanz (EuG) entschieden worden war und zur Zeit dem Gerichtshof vorliegt 106: Mehrere im Verband FENIN zusammengeschlossene Unternehmen, die medizinische Erzeugnisse verkaufen, wandten sich gegen den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung durch die verwaltenden Einrichtungen des spanischen nationalen Gesundheitssystems (Sistema Nacional de Salud; SNS). Das SNS nutze beim Kauf der medizinischen Erzeugnisse zur Weitergabe an seine Versicherten seine beherrschende Stellung insofern aus, als es seine Schulden bei den Mitgliedern der FENIN nicht in angemessener Frist begleiche, wogegen die Vertragspartner keinen wirtschaftlichen Druck auszuüben vermochten 107. Das Gericht erster Instanz lehnte bereits die Unternehmenseigenschaft des SNS ab und verzichtete folglich auf die weitere Prüfung einer Verletzung des Art. 82 EG. Entscheidend dafür war der Ansatz des EuG, den Kauf der medizinischen Erzeugnisse nicht getrennt von der Weitergabe zu behandeln 108: Für die wirtschaftliche Tätigkeit einer Einrichtung sei nicht die Einkaufstätigkeit als solche, sondern nach der Definition des EuGH das Anbieten von Gütern oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt erheblich. Deshalb bestimme der wirtschaftliche oder nichtwirtschaftliche Charakter der späteren Verwendung der erworbenen Erzeugnisse zwangsläufig den Charakter der Einkaufstätigkeit. Das SNS sei im Hinblick auf ihre Tätigkeit als Versicherung kein Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechts 109 und erfülle auch dann einen rein sozialen Zweck, wenn es seinen Versicherten gesetzlich festgelegte kostenlose medizinische Leistungen erbringt 110. Auch dabei handele es demnach nicht als Unternehmen, so dass der gesamte Vorgang der Beschaffung und Weitergabe der medizinischen Erzeugnisse nicht als wirtschaftliche Tätigkeit einzustufen sei. Daran ändere auch nichts die mögliche Wirtschaftsmacht, die zu einem Nachfragemonopol führen könne. Gegen das Urteil hat die FENIN Rechtsmittel eingelegt. In seinen Schlussanträgen im Verfahren der zweiten Instanz würdigt Generalanwalt Poiares Maduro zum einen das Vorbringen der FENIN, das EuG habe zu unrecht die Einkaufstätigkeit des SNS nicht als wirtschaftliche erkannt, weil es sie vom Charakter der späteren Dienstleistung abhängig gemacht habe. Zudem bezog er (im ersten Schritt) Stellung zum hilfsweise vorgetragenen Vorwurf, das Gericht hätte die 106

EuG EuZW 2003, 283; Rechtsmittel beim EuGH eingelegt, Az. C-205/03. EuG EuZW 2003, 283. 108 EuG EuZW 2003, 283, 285 f. 109 Dies scheint nach den bekannten Fakten und nach den Kriterien der EuGH-Rechtsprechung auch unproblematisch der Fall zu sein. 110 Aus verfahrensrechtlichen Gründen ließ der EuG den Einwand außen vor, dass öffentliche Krankenhäuser des SNS in Einzelfällen Nichtversicherten Dienstleistungen gegen Entgelt erbringen. 107

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

Einkaufstätigkeit als wirtschaftliche einordnen müssen, weil auch die Erbringung der Dienstleistung eine wirtschaftliche Tätigkeit sei 111. Der Generalanwalt erkennt einen Rechtsfehler des EuG darin, dass es den SNS umfassend eingestuft und nicht die Tätigkeit der Leistungserbringung gesondert auf ihren wirtschaftlichen Charakter geprüft hat 112. In seiner eigenen Würdigung erkennt er zwar durchaus Hinweise, die für eine wirtschaftliche Tätigkeit sprechen, was insbesondere davon abhängen soll, „ob der Staat, als er [diese Tätigkeit] im Sinne einer angestrebten Verteilungspolitik ausschließlich staatlichen Einrichtungen übertrug, die allein Erwägungen der Solidarität verpflichtet wären, sie etwa jeglicher Marktlogik entziehen wollte“ oder ob etwa auch private Unternehmen an der Nachfrage des Marktes mitwirken 113. Dies ist jedoch in Bezug auf das SNS ungeklärt. Der Generalanwalt schlägt deshalb vor, diese Frage zurückzuverweisen, um diese tatsächlichen Feststellungen nachzuholen. Keine Schwierigkeiten erkennt indes auch der Generalanwalt darin, die Kauftätigkeiten als nichtwirtschaftliche einzuordnen, wenn die Leistungserbringung insgesamt keine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt: Kennzeichnend für Tätigkeit am Markt sei Handel, also Kauf und Verkauf, die sich wie zwei Kehrseiten voneinander verhalten. Damit bestätigt der Generalanwalt den Ansatz des EuG, von der Einstufung der einen Tätigkeit auf die andere zu schließen. Dass diese Tätigkeit wettbewerbswidrige Wirkungen auf der Nachfrageseite zur Folge haben und deshalb eine wirtschaftliche sein könne, lässt er als Kriterium nicht gelten, denn damit würde letztlich jeder Einkauf, sei es des Staates, einer staatlichen Einrichtung oder von Verbrauchern, dem Wettbewerbsrecht unterworfen 114. Es ist zu erwarten, dass auch der Europäische Gerichtshof die einzelnen in Rede stehenden Tätigkeiten des SNS untersucht. Dass das spanische Gesundheitssystem in seiner Funktion als Versicherung nicht als Unternehmen anzusehen ist, hat nach der konsequenten Rechtsprechung des EuGH keine automatische Wirkung für andere Tätigkeiten. Die Bewertung kann aber gewissermaßen als Indiz wirken, wenn diese andere Tätigkeit notwendigerweise mit der Versicherungstätigkeit verbunden ist. In einem Sachleistungssystem, wie es offenbar auch das SNS vorsieht, gehört es zu den Aufgaben der Versicherung, medizinische Güter und Leistungen im weitesten Sinne zu beschaffen und weiterzugeben. Beschaffung und Weitergabe können dabei systemlogisch nur in Zusammenhang gesehen werden, zumal auch eine wirtschaftliche Betrachtung dies nahe legt: Der Begriff Handel, der auch für die Art. 81, 82 EG entscheidend ist, meint immer Kauf und Verkauf.

111 112 113 114

Generalanwalt Poiares Maduro, Schlussanträge in der Rs. C-205/03, Rn. 8. Generalanwalt Poiares Maduro, Schlussanträge in der Rs. C-205/03, Rn. 44. Generalanwalt Poiares Maduro, Schlussanträge in der Rs. C-205/03, Rn. 52 f. Generalanwalt Poiares Maduro, Schlussanträge in der Rs. C-205/03, Rn. 65.

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5. Die gesetzliche Unfallversicherung als Unternehmen im Sinne der Art. 81 ff. EG Die deutsche gesetzliche Unfallversicherung wird im gewerblichen Bereich getragen von den gewerblichen Berufsgenossenschaften. Als Zweig des Sozialversicherungsrechts ist sie Teil des sozialen Sicherungssystems in Deutschland. Deshalb gilt auch für die gesetzliche Unfallversicherung, dass die Zuständigkeit des deutschen Gesetzgebers für die Ausgestaltung dieses Systems durch das Gemeinschaftsrecht unberührt bleibt. Dieser Grundsatz bedeutet jedoch keine Bereichsausnahme für das europäische Wettbewerbsrecht, dem auch soziale Sicherungssysteme unterliegen, sofern die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind. Für die gewerblichen Berufsgenossenschaften können also die Verbote der Art. 81 und 82 EG gelten sowie für die Bundesrepublik Deutschland die Vorschriften der Art. 10 und 86 in Verbindung mit Art. 81 und 82 EG, soweit sie Maßnahmen in bezug auf öffentliche Unternehmen trifft. Voraussetzung dafür ist, dass die gewerblichen Berufsgenossenschaften Unternehmen im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts sind. Nach dem dargestellten funktionalen Unternehmensbegriff des EuGH ist entscheidend, ob eine Einrichtung wirtschaftlich tätig ist, unerheblich hingegen ist ihre Rechtsform. Die Organisation der Berufsgenossenschaften als öffentlich-rechtliche Körperschaften schließt demnach ihre Unternehmenseigenschaft nicht aus. Die unternehmerische, also wirtschaftliche Tätigkeit ist allerdings nicht zusammenfassend und pauschal für die einzelne Berufsgenossenschaft festzustellen, sondern muss für jeden Tätigkeitsbereich gesondert überprüft werden. a) Einzelne Funktionen der gesetzlichen Unfallversicherung Als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung nimmt jede Berufsgenossenschaft für ihre Branche vier voneinander abgrenzbare Aufgaben wahr: Sie versichert erstens Beschäftigte gegen das Risiko des Arbeitsunfalls und der Berufskrankheit gemäß § 1 Nr. 2 SGB VII (dazu bb), sie ist zweitens verantwortlich für die Unfallverhütung gemäß § 1 Nr. 1 SGB VII (dazu dd), sie hat drittens den Versicherten gemäß § 26 Abs. 4 Satz 2 SGB VII in bestimmten Fällen Dienst- und Sachleistungen zu gewähren und tritt daher im Verhältnis zu Dritten als Nachfrager auf (dazu cc) und sie fungiert viertens als Haftpflichtversicherung der Unternehmer (dazu aa). Die letztgenannte Aufgabe ist diejenige, die am schwierigsten in die Dogmatik des Unternehmensbegriffs einzuordnen ist. Dies liegt indes weniger an den genannten Schwächen der rechtsprechungsgeprägten Begrifflichkeit als daran, dass die Funktion als Haftpflichtversicherung keine formale, positivrechtlich festgelegte, sondern allenfalls historisch-systematisch begründbare ist.

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aa) „Haftpflichtversicherung“ der Unternehmer Die gesetzliche Unfallversicherung übernimmt für Unternehmer eine haftungsersetzende Funktion 115. Das System der gesetzliche Unfallversicherung weggedacht, wären Unternehmer in Fällen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten grundsätzlich zivilvertraglichen und deliktischen Ansprüchen der Beschäftigten ausgesetzt. Dies umso breiter, falls für die Haftung auch ohne die Festlegungen im Recht der Unfallversicherung die Grundentscheidung gültig wäre, dass das Risiko des Arbeitsunfalls und der Berufskrankheiten grundsätzlich der Sphäre des Unternehmers als desjenigen, der die Vorteile des Unternehmens innehat, zuzurechnen wäre 116. Gegen dieses Haftungsrisiko könnte sich ein Unternehmer durch Vertrag mit einem privaten Versicherungsunternehmen absichern, vergleichbar etwa dem Konzept einer privaten Haftpflichtversicherung. Als stärker ausgestalteter Schutz der Beschäftigten ist auch denkbar, Unternehmer zum Abschluss einer solchen Versicherung zu verpflichten, um dem potenziell Geschädigten das Risiko fehlender Liquidität des Schädigers zu nehmen. Die Wirkung einer solchen Unternehmer-Haftpflichtversicherung hat die gesetzliche Unfallversicherung, durch die Beschäftigte in Fällen von Arbeitsunfall und Berufskrankheit Leistungen zur Wiederherstellung der Gesundheit und Entschädigung erhalten. Diese Wirkung der gesetzlichen Unfallversicherung könnte an den Regeln des europäischen Wettbewerbsrechts zu messen sein, denn sie könnte einen Dienst darstellen, der als von einem Unternehmen erbracht anzusehen ist 117. Wirtschaftlich im Sinne des Unternehmensbegriffs des EuGH ist eine anbietende Tätigkeit schon dann, wenn irgendwelche Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt angeboten werden 118. Die angebotene Dienstleistung in dieser Hinsicht wäre demnach die Versicherung gegen das Risiko der unternehmerischen Haftung gegenüber den Beschäftigten 119. Problematisch ist insofern, dass faktisch kein Markt im Sinne einer Wettbewerbssituation für diesen Bereich existiert, weil auf dem gewerblichen Sektor allein die Berufsgenossenschaften 120 als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung die Versicherung anbieten. Dies liegt indes im System der gesetzlichen Unfallversicherung selbst begründet, das eine Zwangsversicherung vorsieht und dadurch die Existenz eines Marktes ausschließt bzw. die Nachfrage nach einer solchen Versicherung abschließend bedient. 115

Ausführlich zur Haftungsersetzung 1. Teil, II.4.)b)aa). Dazu oben 1. Teil, II.4.b)bb). 117 Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, Rn. 337. 118 Penner, Monopolschutz für die Unfallversicherung, NZS 2003, S. 234, 235. 119 Als Dienstleistung, allerdings im Rahmen der Art. 49 ff. EG, wird diese Funktion auch von Seewald, Kein Monopol der gesetzlichen Unfallversicherung Teil I, SGB 2005, S. 387, 392 ff., eingestuft. 120 Die Berufsgenossenschaften stehen freilich in keinem Wettbewerb miteinander, weil weder Versicherte noch Unternehmen eine Wahlmöglichkeit haben. 116

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Da das sich aus dem Zwangscharakter ergebende Alleinstellungsmerkmal der gesetzlichen Unfallversicherung 121 aber gerade in Frage steht, steht die gesetzliche Unfallversicherung nicht allein durch die so geschaffenen Fakten außerhalb des Marktes. Schließlich besteht ein Zusammenhang zwischen Angebot und Nachfrage, für den sich ein Wettbewerbscharakter entwickeln würde, wäre der Zugang zu diesem Markt auch anderen Anbietern geöffnet. Die eigentliche Schwierigkeit dabei, die Haftpflichtfunktion der gesetzlichen Unfallversicherung als unternehmerische Tätigkeit zu qualifizieren, liegt nicht im fehlenden Markt, sondern in der vermeintlich angebotenen Dienstleistung. Tatsächlich besteht für den Unternehmer ein Haftungsrisiko nicht: Gemäß § 104 Abs. 1 SGB VII ist die Haftung der Unternehmer gegenüber den Beschäftigten und deren Angehörigen für Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten gesetzlich ausgeschlossen 122. § 105 Abs. 1 SGB VII erweitert diesen Haftungsausschluss zudem auf die Fälle der sogenannten Kameradenhaftung, für die Arbeitnehmer gegen ihren Arbeitgeber unter Umständen einen Freistellungsanspruch geltend machen können 123. Es existiert also kraft Gesetzes kein Risiko, gegen das sich der Unternehmer versichern müsste 124. Das Haftungsrisiko, gewissermaßen die potenziellen Versicherungsfälle, gegen die auch private Unternehmen eine Versicherung anbieten könnten, sind mithin kraft Gesetzes dem Markt entzogen. Dieses Ergebnis ist die Konsequenz daraus, dass die gesetzliche Unfallversicherung keine Haftpflichtversicherung ist, sondern aus Sicht der Unternehmer lediglich die Funktion einer solchen übernimmt. Klarstellend sei angemerkt, dass in diesem Fall der Begriff „Funktion“ nicht in gleicher Bedeutung wie innerhalb des funktionalen Unternehmensbegriffs des EuGH verwendet wird. Eindeutiger ist daher die Formulierung, dass die Unfallversicherung aus Unternehmersicht lediglich wie eine Haftpflichtversicherung wirkt. Von der „tatsächlichen Wirkung“ der Unfallversicherung als Haftpflichtversicherung von Unternehmern, die als unstreitig gelte, spricht auch Seewald 125. Tatsächlich besteht am Grundsatz der historischen und nach wie vor wirkenden Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz kein Zweifel. Seewald geht auch davon aus, dass „an die Stelle des Anspruchs eines verletzten Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber ein (sozial-)versicherungsrechtlicher Anspruch tritt“ 121

Bzw. der einzelnen gewerblichen Berufsgenossenschaft für ihre jeweilige Branche. Ausnahmen sind vorsätzlich herbeigeführte Versicherungsfälle und Wegeunfälle. Dies ist unproblematisch, weil bei Vorsatz auch keine private Versicherung Ersatz leistete und für Wegeunfälle andere Risikospähren und daher auch weitergehende Regelungs- und Versicherungssysteme (nämlich die des Straßenverkehrs) eine Rolle spielen. 123 Dazu oben 1. Teil, II.4.b)aa)(3). 124 Eichenhofer, Sozialrecht, Rn. 391: „die privatrechtliche Haftung der Arbeitgeber für Arbeitsunfälle wird aufgehoben.“ 125 Seewald, Kein Monopol der gesetzlichen Unfallversicherung Teil I, SGB 2005, S. 387, 392 ff. 122

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

und kein Übergang zivilrechtlicher Ansprüche erfolgt. Beides unterstreicht, dass haftungsrechtliche Ansprüche gerade nicht bestehen und aus diesem Grund auch kein Haftungsrisiko. Gleichwohl ist nach Ansicht Seewalds die Haftungsablösung „Kernpunkt“ der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung, den er in einer Reihe mit den Aufgaben der Prävention und Kompensation nennt. Als Haftungssystem sei es vergleichbar mit dem der Kfz-Haftpflichtversicherung und als daher Dienstleistung, die die Berufsgenossenschaft anbiete. Dem ist aus verschiedenen Gründen entgegen zu treten. Die Haftungsersetzung ist keine Funktion, sondern lediglich eine Wirkweise der gesetzlichen Unfallversicherung, die sich insbesondere aus der geschichtlichen Entwicklung der Unfallversicherung ergibt. Aus der haftungsersetzenden Wirkung kann die alleinige Beitragspflicht des Unternehmers gerechtfertigt werden. Dass die Haftungsablösung gerade nicht eigentliche Aufgabe der gesetzlichen Unfallversicherung ist, ergibt sich auch aus Gesetz: Gemäß § 1 SGB VII sind Aufgaben der Unfallversicherung Prävention, Rehabilitation und Kompensation von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten. „Kernpunkt“ der deutschen Unfallversicherung ist mithin das soziale Schutzprinzip zugunsten abhängig Beschäftigter, das durch eine Pflichtversicherung verwirklicht wird, deren Beiträge wegen der Risikozuschreibung allein die Unternehmer tragen, die ihrerseits dadurch entlastet werden, das eine zivilrechtliche Haftung nicht besteht. Auch wegen des sozialen Schutzprinzips als Kern der Unfallversicherung trägt der Vergleich mit der Kfz-Haftpflichtversicherung nicht: Zwar kann dem Regelungskomplex aus Kfz-Halter-Haftung und Versicherungspflicht ein soziales Ziel 126 nicht abgesprochen werden. Die Erwägungen insbesondere mit Blick auf eine soziale Schutzbedürftigkeit, die hinter beiden Systemen liegen, sind jedoch gänzlich unterschiedliche: Der Kfz-Halter muss aus dem Gefährdungstatbestand der Fahrzeughaltung dafür sorgen, dass andere Verkehrsteilnehmer gegen das Risiko der unter Umständen auch existenziellen Bedrohung für Leib und Leben durch Verkehrsunfall geschützt werden. In der gesetzlichen Unfallversicherung hingegen ist der aus dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20, 28 GG fließende Auftrag an den Staat verwirklicht, eine soziale Sicherung gegen die Wechselfälle des Lebens zu gewährleisten. Die Schutzbedürftigkeit der in der gesetzlichen Unfallversicherung Versicherten resultiert daraus, dass sie zur Schaffung und Sicherung einer Lebensgrundlage auf die Nutzung ihrer Arbeitskraft in abhängiger Beschäftigung angewiesen sind. Diese bestimmte soziale Situation ist eine qualitativ gänzlich andere als diejenige eines Teilnehmers im Straßenverkehr. Die Teilnahme am Straßenverkehr als Tatbestandsvoraussetzung erfordert eine weitergehende soziale Schutzbedürftigkeit nicht, sie ist insbesondere unabhängig von sozialer Stellung, Einkommenslage oder einer etwaigen Angewiesenheit auf Teilnahme im Straßen126

Seewald, Kein Monopol der gesetzlichen Unfallversicherung Teil I, SGB 2005, S. 387, 395.

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verkehr. Das Wesen des Sozialen in der Sozialversicherung liegt gerade nicht nur darin, dass Schadensausgleich auf finanziell tragbare Weise ausgeglichen wird. Wesen des Sozialen ist auch der soziale Ausgleich, den Seewald jedoch mit einem verengten Begriffsverständnis verwendet, namentlich nur auf die finanzielle Beteiligung der einzelnen Personengruppen bezogen 127. Dass in der gesetzlichen Unfallversicherung die Versicherten nicht zu Beiträgen herangezogen werden und innerhalb des Kreises der beitragszahlenden Unternehmer eher ein versicherungsmäßiger Risikoausgleich denn ein sozialer Ausgleich vorgenommen wird, ist unbestritten 128. Ein sozialer Ausgleich kann sich indes auch durch andere Elemente verwirklichen, die jedoch der privaten Kfz-Haftpflicht völlig fremd sind 129. Die strukturellen Unterschiede beider Versicherungssysteme sind insgesamt zu erheblich für einen Vergleich: In der Kfz-Versicherung kann der potenziell Geschädigte gerade nicht als versicherte Person „aufgefasst“ werden. Es wird zudem ein unterschiedliches Risiko versichert – in der Kfz-Haftpflicht das Risiko der Haftung aus § 7 StVG, in der gesetzlichen Unfallversicherung das Risiko des Arbeitsunfalls und der Berufskrankheit. Im Unfallversicherungsrecht ist also die Haftung nicht „eher indirekt geregelt“ 130 – sie ist gemäß §§ 104, 105 SGB VII gesetzlich ausgeschlossen. bb) Versicherung der Beschäftigten gegen das Risiko Arbeitsunfall und Berufskrankheit Aufgabe der Unfallversicherung ist es gemäß § 1 Nr. 2 und den weiteren Maßgaben des SGB VII, nach Eintritt von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit der Versicherten mit allen geeigneten Mitteln wiederherzustellen und sie oder ihre Hinterbliebenen zu entschädigen. Dies beschreibt die Aufgabe der gesetzlichen Unfallversicherung als Versicherung zum Schutz der Beschäftigten als Versicherte 131. In dieser Tätigkeit der gewerblichen Berufsgenossenschaften kann eine wirtschaftliche liegen, was dazu führen würde, die Berufsgenossenschaften als Unternehmen zu behandeln und sie den Wettbewerbsregeln der Art. 81 ff. EG zu unterwerfen. Die angebotene Dienstleistung stellt die Absicherung gegen ein bestimmtes Risiko dar: Das versicherte Risiko in diesem Fall ist der Eintritt des ungewissen Ereignisses Arbeitsunfall 127

Seewald, Kein Monopol der gesetzlichen Unfallversicherung Teil I, SGB 2005, S. 387, 395. 128 Oben 1. Teil, II.2.b). 129 Etwa die Absicherung von Sekundärrisiken, oben 1. Teil, II.2.b)cc). 130 Seewald, Kein Monopol der gesetzlichen Unfallversicherung Teil I, SGB 2005, S. 387, 394. 131 Als Regelfall innerhalb der hier untersuchten Unfallversicherung durch die gewerblichen Berufsgenossenschaften, die freilich auch die „Wie-Beschäftigten“ gemäß § 2 Abs. 2 SGB VII versichert.

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

oder Berufskrankheit. Abgesichert wird dabei nicht allein das Risiko, durch den benannten Versicherungsfall gesundheitliche Schäden zu erleiden, die geheilt und / oder entschädigt werden müssen. Versichertes Risiko ist zudem der Verlust oder die Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Eintritt des Versicherungsfalls. Diese Schutzrichtung ist auch in der grundlegenden Aufgabenzuweisung des § 1 Nr. 2 SGB VII niedergelegt, da in ihr ausdrücklich auf die Leistungsfähigkeit der Versicherten abgestellt wird, die mit allen geeigneten Mitteln wiederherzustellen sind. Zudem versichert die gesetzliche Unfallversicherung bestimmte Sekundärrisiken: Dazu gehört das Risiko der Angehörigen eines Versicherten, durch einen Versicherungsfall Unterhaltsleistungen zu verlieren, sowie das in der Berechnung einer Verletztenrente relevante Risiko eines Versicherten, im Bezugszeitraum ein sehr geringes oder gar kein Einkommen erzielt zu haben 132. Die Versicherung dieser Risiken ist die Dienstleistung, die die Berufsgenossenschaften anbieten. Zur Frage des Marktes gilt das bereits gesagte: Allein das tatsächliche Nicht-Existieren eines wettbewerbsgepägten Marktes ist unschädlich. Denn es ist jedenfalls nicht theoretisch ausgeschlossen, dass andere Einrichtungen neben den Berufsgenossenschaften diese Dienstleistung anböten: Denkbar ist eine private Unfallversicherung der Beschäftigten, die auch die grundlegende Risikozuweisung an den Unternehmer dadurch einbeziehen könnte, dass allein dieser die Prämien zu zahlen hätte. Es handelte sich in dem Fall um eine privatrechtliche Unfallversicherung auf fremde Rechnung. Diese Überlegung soll an der Stelle lediglich zeigen, dass die Versicherungstätigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung eine Dienstleistung ist, die nicht von vornherein dem Angebot durch Private entzogen ist. Es geht hier noch nicht um die (hypothetische) Vergleichbarkeit der konkreten Ausgestaltung in Bezug auf Zweck und Mittel der gesetzlichen Unfallversicherung mit einer privatwirtschaftlichen Lösung. Diese hypothetische Vergleichbarkeit wird insbesondere von Teilen der Literatur als alternativer Ansatz zur Klärung der Unternehmenseigenschaft einer Einrichtung angewendet 133. Dieser Ansatz und die Kriterien des EuGH werden auf die Versicherungstätigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung anzulegen sein, weil diese Tätigkeit eine wirtschaftliche sein kann. cc) Nachfragetätigkeit für die Leistungserbringung Die in der gesetzlichen Unfallversicherung Versicherten haben nach Eintritt eines Versicherungsfalls Leistungsansprüche nach Maßgabe der Vorschriften im dritten Kapitel des SGB VII. Dazu gehören im Wesentlichen die Heilbehandlung einschließlich der Leistungen zur Rehabilitation, die Leistungen zur Teilhabe, 132 133

Zum Begriff und den Fallgruppen des Sekundärrisikos oben 1. Teil, II.2.b)cc). Etwa Penner, Monopolschutz für die Unfallversicherung, NZS 2003, S. 234, 236 f.

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die Leistungen bei Pflegebedürftigkeit sowie Geldleistungen, insbesondere die Zahlung einer Rente. Gemäß § 26 Abs. 4 Satz 2 SGB VII werden die Leistungen zur Heilbehandlung und zur Teilhabe als Dienst- und Sachleistungen erbracht. Das bedeutet, dass die Berufsgenossenschaften den Versicherten die Leistungen in natura zur Verfügung stellen müssen und ihnen nicht etwa nachträglich die Kosten erstatten können 134. Leistungen der Heilbehandlung sind gemäß § 27 SGB VII beispielsweise die ärztliche oder zahnärztliche Behandlung oder die Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln. Dieser Bereich prägt insbesondere den Bereich der Selbstverwaltung aus: Im Bereich der persönlichen Dienstleistungen ist kein gesetzlicher Rahmen und keine strenge Normierung vorgegeben, so dass die Berufsgenossenschaften diese Leistungen durch eigene Einrichtungen erbringen oder auf dem Markt nachfragen können 135. Wenn den Versicherten diese Leistungen „in Natur“ zur Verfügung gestellt werden, heißt das, dass nicht die Versicherten, sondern die Träger der Unfallversicherung in einem Austauschverhältnis mit den Anbietern dieser Leistungen, also Ärzten, Zahnärzten, Apothekern etc. stehen. Zu vertraglichen Rechtsbeziehungen 136 einschließlich der Vereinbarungen über die Entgeltung kommt es also zwischen den Berufsgenossenschaften und den Leistungserbringern. Die Berufsgenossenschaften werden somit als Nachfrager auf einem Markt tätig und handeln dort „in völliger Vertragsfreiheit“ 137. Dass der Leistungsrahmen in der gesetzlichen Unfallversicherung ein im Vergleich zu anderen Zweigen der Sozialversicherung erheblich weiterer ist, ergibt sich auch aus dem Grundsatz in § 26 Abs. 2 SGB VII, nach dem die genannten Leistungsziele mit allen geeigneten Mitteln, also nicht auf Grundlage eines Kosten-NutzenVergleichs anzustreben sind 138. Lediglich für den Bereich der Arznei-, Verbandund Hilfsmittel ist auch der Leistungskatalog der Unfallversicherung gemäß § 29 Abs. 1 SGB VII an die Festbeträge der Krankenversicherung (§§ 35 ff. SGB V) gebunden, jedoch auch nur dann, wenn sich das Ziel der Heilbehandlung mit diesen Mitteln erreichen lässt. Diese Tätigkeit der Berufsgenossenschaften als Nachfrager auf dem Gesundheitsmarkt kann eine unternehmerische im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts sein. Das wäre dann der Fall, wenn die bloße Nachfrage als abgegrenzte Tätigkeit gesehen und diese als wirtschaftliche eingestuft werden könnte. Es bestehen jedoch trotz des funktionalen Unternehmensbegriffs erhebliche Zweifel daran, ob allein die Nachfrage für sich betrachtet wettbewerbsrechtlichen Charakter haben kann 139. Dies unterstellt, müssten alle nachfragenden Handlungen, 134

Schmitt, SGB VII, § 26 Rn. 14. Bieback, in: Schulin (Hrsg.), HS-UV, § 54 Rn. 12. 136 Vgl. § 34 Abs. 1 und 3 SGB VII; Ricke, in: Kasseler Kommentar, SGB VII, § 26 Rn. 5; Kater, in: Kater / Leube, Gesetzliche Unfallversicherung, Vor § 34 Rn. 1 ff. 137 Bieback, in: Schulin (Hrsg.), HS-UV, § 54 Rn. 12. 138 Schmitt, SGB VII, § 26 Rn. 7. 139 Oben 2. Teil, I.4.b)gg). 135

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

also auch solche staatlicher Hoheitsträger oder privater Endverbraucher dem Wettbewerbsrecht unterliegen. Die nachfragende Tätigkeit muss also wenigstens in der Zusammenschau mit der Verwendung der nachgefragten Leistung gesehen werden, um einen wirtschaftlichen Charakter bestimmen zu können 140. Nach der Rechtsprechung des EuGH kann für die Einordnung einer mit der Nachfrage in Zusammenhang stehenden Tätigkeit auch erheblich sein, ob diese durch eigene Interessen der Einrichtung begründet ist, die nicht dem eigentlichen sozialen Zweck dienen 141. Für beide Herangehensweisen, die sich im übrigen nicht grundsätzlich widersprechen, bedarf es jedenfalls einer Betrachtung, die auf mehr eingeht, als die rein nachfragende Tätigkeit. An dieser Stelle sei daher festgehalten, dass auch diese Tätigkeit eine wirtschaftliche sein kann, jedoch für sich genommen nicht abschließend zu beurteilen ist. dd) Unfallverhütung Die Unfallverhütung wird in der Aufgabenbeschreibung des § 1 SGB VII als erste Aufgabe der gesetzlichen Unfallversicherung genannt. Auf welche Weise und in welcher Form die Unfallversicherungsträger diese Aufgabe ausführen, ist im einzelnen im zweiten Kapitel des SGB VII geregelt; formal können die Handlungsformen der Unfallversicherungsträger unterschieden werden in Prävention durch Angebot und Prävention durch Eingriff 142. Diese Aufgabe als eigenständige Funktion der Berufsgenossenschaften zu betrachten, bereitet keine Schwierigkeiten, denn es handelt sich um einen rechtlich wie praktisch abgrenzbares Betätigungsfeld der Berufsgenossenschaften, auch in der internen Aufgabenverteilung der Berufsgenossenschaften existiert ein eigener Organisationsbereich für die Unfallverhütung 143. In dieser Funktion könnten die Berufsgenossenschaften Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechts sein, wenn diese Tätigkeit eine wirtschaftliche ist. Die Unfallverhütung müsste dann eine Dienstleistung sein, die auf einem bestimmten Markt angeboten wird. Allerdings fällt hoheitliches Handeln des Staates und seiner Untergliederungen nicht in den Anwendungsbereich des europäischen Wettbewerbsrechts 144. Die Berufsgenossenschaften sind in der Rechtsform der Körperschaft des öffentlichen Rechts organisiert und übernehmen einen Teil der 140

EuG EuZW 2003, 283, 285 f. (FENIN). EuGH Slg. 2004, I-2493, 2546 Rn. 61 ff. (AOK-Bundesverband). 142 Dazu oben 1. Teil, II.4.e). 143 Giesen, Wettbewerb und Berufsgenossenschaften, in: Gerken (Hrsg.), Berufsgenossenschaften und Wettbewerb, S. 57, 103. 144 Ganz herrschende Meinung, vgl. nur Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker (Hrsg.), Europäisches. Wettbewerbsrecht Bd. 1, Art. 85 Rn. 21 mit Fn. 28; Schwarze, Der Staat als Adressat des europäischen Wettbewerbsrechts, EuZW 2000, S. 613, 614 mwN in Fn. 11. 141

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Aufgabe des staatlichen Arbeitsschutzes. Zu diesem Zweck sind den Berufsgenossenschaften neben ihrer Satzungsautonomie auch Eingriffs- und Vollstreckungsbefugnisse zugestanden. Zwar schließen öffentlich-rechtliche Handlungsformen die Anwendbarkeit des Wettbewerbsrechts nicht grundsätzlich aus, denn entscheidend ist die materielle Einordnung als wirtschaftliches oder genuin hoheitliches Handeln 145. Allerdings kann es ein Indiz sein, wenn die Tätigkeit einen engen sachlichen Bezug zur Ausübung hoheitlicher Gewalt hat und nicht durch Austausch von Leistung und Gegenleistung bzw. als Angebot einer Leistung auf dem Markt gekennzeichnet ist. Die Berufsgenossenschaften übernehmen durch den Präventionsauftrag eine Aufgabe, die als Ausprägung des sozialen Schutzauftrags in erster Linie dem Staat zukommt 146. Der Staat selbst ist in den Grenzen seiner Eingriffsbefugnisse frei darin, diese Aufgabe einer anderen Einrichtung zu übertragen. Zwar ist es denkbar, diese Aufgabe Organisationen mit Rechtsformen des Privatrechts zu übertragen, die ihrerseits miteinander im Wettbewerb stehen 147. Diese Entscheidung liegt jedoch innerhalb des Entscheidungsspielraums des Staates, in welcher Handlungsform er seine Aufgaben wahrnehmen will. Insbesondere durch die Eingriffsbefugnisse der §§ 17, 19 SGB VII wird durch die Berufsgenossenschaften hoheitliche Gewalt ausgeübt. Auf dem Feld der Unfallverhütung besteht auch nicht etwa ein Wettbewerb zwischen den Berufsgenossenschaften und der Gewerbeaufsicht, die für die Einhaltung von Arbeitschutzund Arbeitssicherheitsgesetz zuständig ist: Die Tatsache, dass zwei staatliche Einrichtungen verschiedene Bereiche einer Aufgabe wahrnehmen, die sich zum Teil mitunter überschneiden, lässt ihre Tätigkeit noch nicht zu einer wirtschaftlichen werden. Die unfallverhütende Tätigkeit der Berufsgenossenschaften könnte nur dann auch von privaten Wirtschaftsteilnehmern in gleicher Form übernommen werden, wenn diesen Eingriffsbefugnisse als Beliehene übertragen würden. Dadurch wird offenbar, wie eng die Prävention mit der Ausübung hoheitlicher Gewalt verknüpft ist. Sie ist daher dem freien Markt entzogen und wurde ihm bislang auch nicht durch Entscheidung des Gesetzgebers übertragen. Die gewerblichen Berufsgenossenschaften handeln in dieser Funktion also nicht als Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechts.

145 Schwarze, Der Staat als Adressat des europäischen Wettbewerbsrechts, EuZW 2000, S. 613, 615. 146 Dass Umsetzung, Überwachung und Kontrolle auch der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben zum Arbeitsschutz den Mitgliedstaaten obliegt, ergibt sich aus Art. 4 der Richtlinie 89/391/EWG. 147 So wie etwa TÜV und Dekra als Beliehene für bestimmte Aufgaben der Verkehrsüberwachung, vgl. Raddatz, Gesetzliche Unfallversicherung: Markt statt Monopol, in: Gerken (Hrsg.) Berufsgenossenschaften und Wettbewerb, S. 9, 26 f.

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

b) Kriterien des EuGH für die Unternehmenseigenschaft einer gesetzlichen Unfallversicherung Zusammengefasst wird im Hinblick auf zwei Funktionen der gesetzlichen Unfallversicherung die Überprüfung der Unternehmenseigenschaft fruchtbar sein: Sowohl das Anbieten der Versicherungsleistung als auch – mit ersterem unter Umständen zu verknüpfen – die Nachfrage bei den Leistungserbringern könnte als wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts qualifiziert werden. Insbesondere die Versicherungstätigkeit der Berufsgenossenschaften wird an den Kriterien zu messen sein, die der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache „INAIL“ entwickelt hat. Jedoch sind zum einen, wie gezeigt, die Kriterien selbst teils problematisch. Zum anderen empfiehlt sich ein genauer Blick darauf, ob und inwieweit das italienische mit dem deutschen System der gesetzlichen Unfallversicherung vergleichbar ist. aa) Bezugnahme durch das Bundessozialgericht Im Mai 2006 hat das Bundessozialgericht die Revision eines Unternehmers, der sich gegen Beitragsbescheide zur Unfallversicherung unter anderem mit dem Hinweis auf deren Europarechtswidrigkeit in allen Instanzen gewehrt hatte, zurückgewiesen mit dem recht lapidaren Hinweis darauf, dass der EuGH die einschlägigen Rechtsfragen durch die Entscheidung zum italienischen Unfallversicherungssystem geklärt habe. Die deutsche und italienische Unfallversicherung wiesen vergleichbare Strukturen auf, so dass „ungeachtet der bei der Finanzierung, der Ausgestaltung des Solidarausgleichs und der staatlichen Aufsicht bestehenden Unterschiede“ sich die Erwägungen übertragen ließen 148. Vorausgegangen war diesem Urteil die Entscheidung des BSG im Jahr 2003 149, in der derselbe Senat explizit zur EuGH-Rechtsprechung in der Sache „INAIL“ Stellung nahm und auch hier zum Ergebnis kam, dass italienisches und deutsches System vergleichbar seien. Indes ist auch diese Begründung nicht eben ausführlich. Auch einige Reaktionen der Literatur auf „INAIL“ und das BSG-Urteil, die aus diesen Entscheidungen nahezu eine Garantie der Europarechtsfestigkeit des deutschen Systems schlossen 150, erscheinen auffällig schnell in der Argumentation. Dem Bundessozialgericht hatte im Jahr 2003 die Klage eines Transportunternehmers vorgelegen, der sich gegen Beitragsbescheide zur Unfallversicherung zur 148 BSG vom 9. 5. 2006, Az.: B 2 U 34/05 R; vgl. Terminbericht Nr. 25/06, abrufbar unter www.bundessozialgericht.de. 149 BSGE 91, 263. 150 Pabst, Europarechtsfestigkeit des BG-Monopols erneut bestätigt, Anm. zu LSG Baden-Württemberg, BG 2003, S. 393; Penner, Monopolschutz für die Unfallversicherung, NZS 2003, S. 234; Fuchs, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, Kap. 4 Rn. 13.

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Wehr setzte mit der Begründung, die zwangsweise Einbeziehung in die gesetzliche Unfallversicherung und die Erhebung von Pflichtbeiträgen seien unter anderem mit der europarechtlich gewährleisteten Dienstleistungs- und Wettbewerbsfreiheit unvereinbar. Wie stark aus Sicht des BSG die Ähnlichkeit der deutschen mit der italienischen Unfallversicherung ausgeprägt sein soll, zeigt sich daran, dass das Gericht auf die Vorlage zum EuGH gemäß Art. 234 Abs. 3 EG verzichtete: Die von der Revision aufgeworfene entscheidungserhebliche Frage, ob eine öffentlich-rechtlich organisierte Pflichtversicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten nach der Art der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung mit den gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen der Wettbewerbs- und Dienstleistungsfreiheit vereinbar ist, habe der EuGH bereits geklärt 151. Zur Begründung verweist das BSG zum einen auf die Kriterien, die der EuGH in den Rechtssachen „Poucet und Pistre“, „FFSA“ und „Albany“ 152 entwickelt hat, um dann des weiteren darauf abzustellen, dass insbesondere der Grundsatz der Solidarität als wesentliches Element des INAIL angenommen wurde, das seinerseits „in den vom EuGH hervorgehobenen Punkten [ . . . ] ähnliche und teilweise identische Merkmale“ 153 im Vergleich zum deutschen System aufweise. Die Argumentation des BSG bedarf also in zweierlei Hinsicht der Reflektion: Erstens zur Frage, ob sie tatsächlich auf die für den EuGH entscheidenden Merkmale abstellt, und zweitens ob diese Merkmale bei INAIL und den Berufsgenossenschaften identisch oder wenigstens ähnlich sind. Eine generelle Ähnlichkeit der beiden Unfallversicherungen ist insbesondere für ihre historische Entwicklung nicht zu bestreiten. So sind beide Systeme zur ungefähr gleichen Zeit, aus ähnlichen Erwägungen und mit vergleichbaren Grundstrukturen entstanden 154. Auch im italienischen System ist der Unfallversicherungsträger zugleich mit der Prävention betraut und sind beitragspflichtig allein die Arbeitgeber. Allerdings, und insoweit seien erste Unterschiede angesprochen, greift die Versicherung in Italien nur für Arbeitnehmer, die einer „gefahrgeneigten Tätigkeit“ 155 nachgehen, und auch in der Finanzierung sind Unterschiede ermittelbar. Das spricht indes nicht gegen eine grundsätzliche Vergleichbarkeit. Zwar ging es im Ausgangsfall der Rechtssache INAIL um die Frage, ob ein Handwerker, der als geschäftsführender Gesellschafter im eigenen Unternehmen tätig ist, zur Versicherung verpflichtet ist. Dadurch wird das INAIL aber nicht zu einem anderen Versicherungssystem 156, denn sowohl das INAIL als auch das Recht der 151

BSGE 91, 263, 264 f. Insoweit vergleichbar mit der Rechtssache „Brentjens’“, siehe Fn. 559. 153 BSGE 91, 263, 266. 154 Für die italienische Unfallversicherung vgl. Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge, Slg. 2002, I.691, 693 Rn. 3 ff.; für die deutsche oben 1. Teil, I.1. und 2. 155 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge, Slg. 2002, I.691, 693 Rn. 10. 156 So aber Seewald, Kein Monopol der gesetzlichen Unfallversicherung Teil II, SGB 2004, S. 453, 459. 152

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deutschen gesetzlichen Unfallversicherung kennen die Versicherungspflicht selbstständig Tätiger, die sich im deutschen System aus der Versicherung kraft Satzung gemäß § 3 SGB VII ergeben kann. Zudem hat der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil den Schwerpunkt der Argumentation gerade auf das INAIL als Arbeitnehmerversicherung gelegt. Das Bundessozialgericht fasst die INAIL-Entscheidung zurecht dahingehend zusammen, dass gegen die Unternehmenseigenschaft einer arbeitgeberfinanzierten Pflichtversicherung gegen Arbeitsunfall und Berufskrankheiten ihre Herkömmlichkeit als Teil des traditionellen Sozialversicherungssystems, der soziale Zweck, der verwirklichte Solidarausgleich 157 und die staatliche Aufsicht sprechen. Wie schon beim Europäischen Gerichtshof selbst geht auch aus dieser Zusammenfassung nicht hervor, inwieweit diese Kriterien in einem Rangverhältnis zueinander stehen. Allerdings bestätigt das BSG im konkreten Abgleich der Punkte sodann, dass das soziale Anliegen ebenso wie die fehlende Gewinnerzielungsabsicht und die öffentlich-rechtliche Organisationsform die Einordnung als Unternehmen nicht ausschließen. Gleichwohl werden die Mittel, durch den der soziale Zweck erfüllt wird, benannt: Die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, die Wiederherstellung der Gesundheit und Leistungsfähigkeit nach dem Eintritt entsprechender Versicherungsfälle sowie deren Entschädigung für einen breiten Kreis von zum Teil beitragsfrei Versicherten und deren Hinterbliebenen 158. Etwas unglücklich wirkt die Formulierung, der soziale Zweck der gesetzlichen Unfallversicherung ergebe sich schon aus ihrer Eingliederung ins Sozialgesetzbuch – diese formalrechtliche Betrachtung mag bei der Abgrenzung dessen, was Sozialrecht ist, helfen 159. Der Zweck eines Regelungswerkes lässt sich jedoch nur materiell ermitteln. Unter Umständen ist diese Bemerkung des BSG als Hinweis darauf zu verstehen, dass die gesetzliche Unfallversicherung deshalb im SGB und zuvor in der Reichsversicherungsordnung zu finden ist, weil sie zu den traditionellen Pfeilern der Sozialversicherung gehört und zudem Träger im Sinne des Art. 1 Buchst. n) VO (EWG) 1408/71 ist. Auch in Bezug auf das Merkmal der staatlichen Aufsicht bewegt sich das Revisionsgericht nah an den Ausführungen des EuGH, für den die Höhe von Beiträgen und Leistungen im INAIL „letztlich staatlich festgesetzt“ sind 160; das BSG spricht davon, dass diese in der deutschen Unfallversicherung „weitgehend unter der Kontrolle des Staates“ 161 blieben. In beiden Systemen wird die Höhe der Leistungen durch Gesetz und wird die Höhe der Beiträge durch Beschluss des Trägers mit 157 Der EuGH selbst spricht vom „Grundsatz der Solidarität“, teilweise auch von der „nationalen Solidarität“; zur Schwierigkeit der Begriffe oben 1. Teil, II. 2. 158 BSGE 91, 263, 266. 159 Sogenannter formeller Begriff, vgl. Fuchs / Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 36. 160 EuGH Slg. 2002, I-691, 732 Rn. 43. 161 BSGE 91, 263, 267.

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Genehmigung der Aufsichtsbehörde festgelegt. Für die deutsche Unfallversicherung ergänzt das Bundessozialgericht dieses Argument um den Punkt, dass der als autonomes Recht zu beschließende Gefahrtarif, der die Beitragshöhe maßgeblich beeinflusst, an den Grenzen von gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben zu messen sei. Das BSG weicht jedoch an entscheidender Stelle seiner Argumentation von der Linie des EuGH ab. Die Abweichung ist vor allem vor dem Hintergrund der abgelehnten Vorlage relevant, die damit begründet wurde, dass die entscheidende Frage durch den EuGH in der Rechtssache INAIL geklärt sei. Entscheidend für die Unternehmenseigenschaft ist aus Sicht des Bundessozialgerichts die Natur der angebotenen Versicherungsleistungen: „Sie müssen, soll eine wirtschaftliche Tätigkeit des Versicherungsträgers bejaht werden, so beschaffen sein, dass sie zumindest im Grundsatz auch von privaten Versicherungsunternehmen erbracht werden könnten.“ 162 Dies ist aber in der Rechtssache INAIL nicht die Argumentationslinie des Gerichtshofs, auch wenn der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen auf das Vergleichbarkeitskriterium zurückgreift 163. Eine „strukturelle Vergleichbarkeit“ mit privaten Versicherungsangeboten liegt nach der Argumentation des BSG schon wegen der Umlagefinanzierung der gesetzlichen Unfallversicherung nicht vor. Zwar begründet es schlüssig, warum ein solches Verfahren von privaten Versicherungsunternehmen wohl nicht angeboten werden könnte und weist zudem an anderer Stelle zurecht darauf hin, dass die Umlagefinanzierung im deutschen System wesentlich stärker ausgeprägt ist als im italienischen. Es verkennt jedoch offenbar, dass die Art der Finanzierung schon nach der anerkannten Definition des Unternehmensbegriffs unerheblich ist 164 und auch im konkreten Urteil, auf das sich das BSG beruft, keine Rolle spielt. Selbst in der Argumentation des Generalanwalts ist ein anderer Schwerpunkt gesetzt, denn dieser erklärt zwar, nach seiner Ansicht könne ein Umlageverfahren nicht durch einen privaten Versicherer angewandt werden, zieht daraus aber keinen Schluss für die Frage der Unternehmenseigenschaft des INAIL, weil dieses im gewerblichen Teil gerade nicht auf Basis einer reinen Umlageformel finanziert wird 165. Erst danach geht das BSG – kurz, über wenige Zeilen hinweg – auf die Elemente der Solidarität ein, durch die die gesetzliche Unfallversicherung „im Übrigen“ geprägt werde und die einer privaten Versicherung fremd seien 166, bewegt sich dabei also weiterhin im Argumentationsmuster der Vergleichbarkeit. Als Ausprägungen der Solidarität nennt das Gericht: Die Unabhängigkeit der Leistung 162

BSGE 91, 263, 266. Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge, Slg. 2002, I.691, 706 Rn. 50. 164 So auch Seewald, Kein Monopol der gesetzlichen Unfallversicherung Teil II, SGB 2005, S. 453, 459. 165 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge, Slg. 2002, I.691, 707 Rn. 55 ff. 166 BSGE 91, 263, 267. 163

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

von der Beitragsentrichtung, die eingeschränkte und deshalb umverteilend wirkende Proportionalität von Beitrag und Leistung aufgrund der unterschiedlichen Berechnung sowie das Lastenausgleichsverfahren zwischen den gewerblichen Berufsgenossenschaften. Alle drei Kriterien sind entweder im Hinblick auf das EuGH-Urteil oder in ihrer grundsätzlichen Wertung problematisch. Zudem fehlt es an einer ausdrücklichen Erklärung, welches Verständnis vom Begriff Solidarität das BSG zugrunde legt. (1) Automatische Leistungsgewährung Nach Ansicht des BSG zeigt sich ein Element der Solidarität in der gesetzlichen Unfallversicherung darin, dass die Entstehung von Leistungsansprüchen bei Eintritt des Versicherungsfalls nicht davon abhängt, dass der Arbeitgeber die fälligen Beiträge entrichtet hat 167. Für den EuGH erhielt dieser auch im italienischen System wirkende Aspekt zwar ebenfalls Bedeutung, jedoch als Ausprägung des sozialen Zwecks und mithin als nicht hinreichendes Argument für eine fehlende Unternehmenseigenschaft. Die Subsumtion der automatischen Leistungsgewährung unter den Begriff des solidarischen Ausgleichs begegnet Bedenken: Leistungen kraft Gesetzes und unabhängig von der tatsächlichen Beitragsentrichtung zu gewähren, stellt keine Form von Umverteilung dar. Es werden dadurch auch keine sekundären sozialen Risiken ausgeglichen, so dass auch ein sozialer Ausgleich nicht verwirklicht wird. Auch ohne umverteilende oder ausgleichende Wirkung zu haben, kann diese Regelung aber den sozialen Zweck des Versicherungssystems betonen. Wie auch der EuGH feststellt, trägt dies „offensichtlich zum Schutz aller Versicherten gegen die wirtschaftlichen Folgen von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten dar“ 168. Den Schutzzweck betont der EuGH zudem in Zusammenhang damit, dass durch die italienische Unfallversicherung Versicherte gegen das Risiko von Arbeitsunfall und Berufskrankheit geschützt werden, ohne dass es auf eine Pflichtverletzung und zivilrechtliche Haftungsfragen ankäme 169. Diesen Punkt, obgleich ein Wesenselement auch der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung, lässt das BSG hingegen unerwähnt. (2) Umverteilende Wirkung durch eingeschränkte Proportionalität von Beitrag und Leistung Das Verständnis des BSG vom Begriff der Solidarität erhellt sich bei seiner Betrachtung der Relation von Beitrag und Leistung: Weil die Berechnung der Geldleistungen an eine Entgeltuntergrenze in Gestalt des Mindestarbeitsentgelts anknüpfe, komme es „im Ergebnis zu einer Umverteilung zwischen 167 168 169

BSGE 91, 263, 267. EuGH Slg. 2002, I-691, 730 Rn. 36. EuGH Slg. 2002, I-691, 730 Rn. 35.

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Beziehern hoher und niedriger Einkommen und so zu einem Solidarausgleich, der für Geringverdiener von erheblicher Bedeutung ist, weil sie einen vergleichbaren Versicherungsschutz von einem privaten Versicherungsunternehmen nur mit Unterstützung des Staates erlangen könnten“ 170. In diesem Zusammenhang versteht das BSG Solidarität also im Sinne einer Umverteilung. Ähnlich wie der EuGH in der Rechtssache „INAIL“ stellt auch das BSG darauf ab, dass zu diesem Zweck die Proportionalität zwischen Beitrag und Leistung eingeschränkt werde, indem für die Beitragserhebung das gesamte Arbeitsentgelt bis zur Grenze des Höchstjahresarbeitsverdienstes herangezogen wird (§ 153 Abs 1 und 2 SGB VII), während für die Bemessung der Geldleistungen des Versicherungsträgers eine Entgeltuntergrenze in Gestalt des Mindestjahresarbeitsverdienstes festgelegt ist (§ 85 Abs 1 SGB VII iVm § 18 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch – SGB IV –). Doch selbst wenn im deutschen System Bezieher geringer Einkommen eine in absoluten Beträgen höhere Leistung und daher einen besseren Schutz genießen, spricht das nicht für eine deutlichere Umverteilung. Denn fragwürdig ist schon die abstrakte Gedankenführung, in diesem Vorgang eine umverteilende Wirkung zu sehen. Das Verhältnis von Beitrag und Leistung bzw. die Entkopplung der beiden stellt im Sozialversicherungsrecht einen der relevanten Parameter für den sozialen Ausgleich dar. Umverteilung wird dadurch erzielt, dass Beiträge nach der individuellen Leistungsfähigkeit und nicht nach dem versicherten Risiko bemessen werden, während Leistungen unabhängig davon bei Eintritt des Versicherungsfalls je nach Bedürfnis gewährt werden. Diese umverteilende Ausprägung des sozialen Ausgleichs existiert etwa in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der Pflegeversicherung. Sie erfährt erhebliche Einschränkungen in der Renten- und Arbeitslosenversicherung, in denen sich die Leistungen ebenso wie die Beiträge direkt nach dem Einkommen bemessen. Auch für die gesetzliche Unfallversicherung lässt sich dieses Prinzip nur schwerlich als Beleg des sozialen Ausgleichs anführen, weil in ihr Beiträge und Leistungen schon personell voneinander entkoppelt sind 171. Zwar knüpfen sowohl Beitrags- als auch Geldleistungsberechnung an das Einkommen an, es sind jedoch unterschiedliche Personengruppen betroffen 172. Im deutschen System gelten auch nicht die Beiträge zur Unfallversicherung als solche des Arbeitnehmers, die der Arbeitgeber lediglich aufzubringen verpflichtet ist 173: Der einzelne Arbeitnehmer ist für die Berufsgenossenschaften nur ein Rechnungsposten, die Nennung der Namen der Versicherten ist nicht konstitutiv für 170

BSGE 91, 263, 267. Seewald, Kein Monopol der gesetzlichen Unfallversicherung Teil II, SGB 2005, S. 453, 458. 172 Zur Frage, ob der Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung Teil der Entlohnung ist oben 1. Teil, II.4.b)aa)(1). 173 So aber wohl das Konzept der italienischen Unfallversicherung, oben 2. Teil, I.4.b)ff). 171

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das Versicherungsverhältnis, vielmehr ist die Führung eines konkreten, individualisierten Entgeltnachweises je Beschäftigten nur eine Nebenpflicht im Verhältnis Unternehmer-Berufsgenossenschaft mit der Folge, dass das Versicherungsverhältnis wesentlich anonymisiert ist 174. Auch auf diesem Weg lässt sich also keine Umverteilung zwischen Beziehern hoher und niedriger Einkommen gedanklich konstruieren. Eine solche Umverteilung ist höchstens sehr mittelbar darin zu sehen, dass wegen der Höchstgrenze bei der Rentenberechnung Bezieher hoher Einkommen eine geringere Geldleistung erhalten, als sie bei einer konsequenten Berechnung linear nach dem Einkommen erhielten. Durch diese Begrenzung wird die finanzielle Belastung der Unfallversicherungsträger gesteuert und so auch, weil eine gewisse finanzielle Solidität gesichert ist, eine Leistungsgewährung auf einem Mindestniveau ermöglicht. Dieses Konzept als mittelbare Umverteilung zwischen den Leistungsempfängern zu deuten, ist aber deshalb problematisch, weil von einer veränderten Ausgestaltung – etwa dem Wegfall der Höchstgrenze – direkt nur die Unternehmer betroffen wären, die aufgrund der größeren Lasten einen höheren Beitrag zur Umlage abführen müssten. Überdies ist die Vorstellung fragwürdig, durch die Höchstgrenze müsse der Bezieher eines hohen Einkommens auf etwas „verzichten“ – stellt doch die Rente gerade keine Gegenleistung zu (s)einem Beitrag dar, sondern wird allein kraft Gesetzes gewährt. Schließlich bleibt unklar, warum das BSG betont, einen vergleichbaren Versicherungsschutz könne ein Bezieher eines geringen Einkommens von einem privaten Versicherungsunternehmen nur mit Unterstützung des Staates erhalten 175. Die in der Unfallversicherung Versicherten erhalten einen Schutz, der insofern ohnehin unabhängig von der Höhe ihres Einkommens ist, als nicht sie selbst die Beiträge zahlen sondern die Unternehmer. Das Problem eines geringen Einkommens würde sich nur dann negativ auf die Möglichkeit der Privatversicherung auswirken, wenn der Beschäftigte selbst aus diesem Einkommen die Prämie erbringen müsste und sich zudem die Versicherungsleistung allein nach der Prämie richten würde. Über diese Alternative hat das BSG indes nicht ausdrücklich gesprochen. Sie würde auch nicht die Grundelemente der Unfallversicherung unberührt lassen, weil die Beitragspflicht der Unternehmer ein Wesensmerkmal darstellt. Insofern wäre nur eine private Versicherung der Beschäftigten durch die Unternehmer als vergleichbare Alternative denkbar. Diese hat das BSG jedoch nicht in Betracht gezogen. Seine Argumentation zur Begründung des Solidarausgleichs, durch die Begrenzung der Rentenhöhe werde den Beziehern kleiner Einkommen der Versicherungsschutz ermöglicht, trägt nicht. Den Versicherungsschutz erhalten die Beschäftigten und auch diejenigen mit niedrigen Einkommen im Ergebnis durch die Beitragsleistung der Unternehmer. Auch dies ist ein Element, ein wesentliches zudem, das den sozialen Schutzzweck des Unfallversicherungsrechts bewirkt. Der Grundsatz des sozialen Ausgleichs wird dadurch jedoch nicht verwirklicht. 174 175

Spellbrink, in: Schulin (Hrsg.), HS-UV, § 23 Rn. 6 f. BSGE 91, 263, 267.

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Die Vorinstanz hatte im übrigen andere Belege für die Solidarität in der gesetzlichen Unfallversicherung ausgewählt: Das Landessozialgericht führte mit Blick auf die Beitragsseite an, dass die Beiträge „nicht streng proportional“ zum versicherten Risiko und zudem in der Höhe begrenzt seien; auch im Beitragsausgleichsverfahren werde das Solidarprinzip zum Teil gestärkt. Auf der Leistungsseite war für das Berufungsgericht Beleg für das solidarische Element, dass alle Versicherten unabhängig von der Höhe ihres Einkommens Anspruch auf Heilbehandlung haben, die als Sachleistung gewährt wird, also eine finanzielle Vorleistung der Versicherten nicht erforderlich macht 176. (3) Lastenausgleichsverfahren Als letzten Anhaltspunkt für den Grundsatz der Solidarität beschreibt das BSG: „Dem Ziel einer solidarischen Tragung der Versicherungslasten dient ferner der in den §§ 176 ff SGB VII für Fälle der übermäßigen Belastung eines Versicherungsträgers mit Renten- oder Entschädigungsleistungen vorgeschriebene Lastenausgleich zwischen den gewerblichen BGen, der sich in einem marktwirtschaftlich organisierten System ersichtlich nicht verwirklichen ließe.“ 177 Auch hier ist auffällig, dass das Gericht seine Argumentation weiterhin vor dem Hintergrund der Vergleichbarkeit mit einem privatrechtlichen System verstanden wissen will 178. Zudem findet das Argument des Lastenausgleichs keine Entsprechung im INAILUrteil – dies zwangsläufig, weil das INAIL der einzige Träger der Unfallversicherung für den gewerblichen Bereich ist 179. In seinen Schlussanträgen macht der Generalanwalt gleichwohl Bemerkungen zu einer „Solidarität zwischen den Sektoren“ 180, weil einige spezifische Risiken der Unfallversicherung von anderen Sektoren der italienischen Sozialversicherung getragen werden. Diese teilweise Umverteilung der Risiken füge dem System zwar ein Element der Solidarität hinzu, die Finanzierungsseite zeige jedoch überwiegend eine risikogestützte Versicherungslogik. Schon für den Generalanwalt war diese Form der Solidarität demnach vor allem vor dem Hintergrund der sonstigen Finanzierungsmodalitäten nicht erheblich, in das Urteil selbst findet dieses Merkmal gar keinen Eingang mehr.

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LSG Baden-Württemberg, HVBG-Info 2003, 1887, 1897. BSGE 91, 263, 267. 178 Allerdings bleibt es die Begründung schuldig, warum nicht auch private Versicherungsunternehmen in ein Lastenausgleichsverfahren per Gesetz einbezogen werden könnten; ähnliche Überlegungen exisitieren für die gesetzliche und private Krankenversicherung. 179 Gleichwohl führt auch Fuchs den „Solidarausgleich zwischen verschiedenen Systemen“ als Argument dafür an, dass das INAIL-Urteil auf die deutsche Unfallversicherung übertragbar sei; Fuchs, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, Kap. 4 Rn. 13. 180 Generalanwalt Jacobs, EuGH Slg. 2002, I-691, 708 Rn. 60. 177

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Für das deutsche System stellt sich die Lage insofern anders dar, als es innerhalb der Träger des gewerblichen Teils der gesetzlichen Unfallversicherung zu einem Lastenausgleich kommt, der unter anderem vom BSG in früherer Rechtsprechung mit dem Argument der Solidarität gerechtfertigt wurde 181. Das Lastenausgleichsverfahren dient der Funktionsfähigkeit des branchengegliederten Systems der deutschen Unfallversicherung, weil es unangemessen hoch belastete Berufsgenossenschaften dadurch entlastet, dass weniger belastete Branchen die Aufwendungen mittragen 182. Dieses Verfahren kann man verkürzt mit einer „Solidarität“ unter den Berufsgenossenschaften begründen. Dahinter steht der Gedanke, dass der Gesetzgeber frei wäre, die gesetzliche Unfallversicherung auch einem einzigen Träger zu überlassen, so dass ohne Branchengliederung ohnehin alle Unternehmern und Branchen die Gesamtlasten zu tragen hätten. Das Lastenausgleichsverfahren dient als milderes Mittel dem Erhalt des überkommenen gegliederten Systems; der vom BSG in diesem Zusammenhang früher verwendete Begriff der Solidarität ist daher scharf zu trennen von dem des solidarischen oder sozialen Ausgleichs. Aus dem Gesagten lässt sich zudem schließen, dass das Lastenausgleichsverfahren auch keine Ausprägung des Solidaritätsgrundsatzes, wie ihn der EuGH zu verstehen scheint, darstellt. Eine umverteilende Wirkung erläutert das BSG nämlich nicht und unterlässt es insbesondere auch, das Lastenausgleichsverfahren in den Gesamtzusammenhang der Finanzierung einzubetten. Deren Ausgestaltung kann indes für die Frage der Solidarität oder des sozialen Ausgleichs entscheidend sein. Während in der Rechtssache „INAIL“ also ein Risikoausgleich zwischen verschiedenen Trägern keine Rolle spielte, führte auch der EuGH im Festbetragsurteil 183 den Risikostrukturausgleich zwischen den Krankenkassen in der Tat als Argument dafür an, dass zwischen diesen kein Wettbewerb existiert. Dieses Urteil erging allerdings zeitlich nach der hier besprochenen BSG-Entscheidung, sodass es die Ablehnung der Vorlage an den EuGH nicht zu begründen vermochte. Es ist auch fraglich, ob dieser Punkt im Festbetragsurteil den Ansatz des BSG nachträglich zum Teil bestätigt. Der EuGH nahm unter den Krankenkassen „eine Art Solidargemeinschaft“ an, deren Zweck im Kosten- und Risikoausgleich liegt. Daraus folgerte er wiederum, dass es keine Konkurrenz unter den Krankenkassen oder mit privaten Anbietern hinsichtlich der Leistungserbringung gebe 184. Auch hier wird die Problematik der Begrifflichkeit offenbar: Es ist unklar, ob die Formulierung „eine Art“ Solidargemeinschaft die auf den ersten Blick bestehende Vagheit indizieren soll, der Gerichtshof sich also bewusst nicht festlegt, oder ob er hier tatsächlich ein solidarisches Element für prägend hält. Ebenfalls im Unklaren bleibt, ob der EuGH in dieser Formulierung dasselbe Begriffsverständnis vom 181 182 183 184

Oben 1. Teil, II.4.c)cc). Ausführlich ebd. EuGH Slg. 2004, I-2493. EuGH Slg. 2004, I-2493, 2545 Rn. 56; dazu auch oben I.4.b)gg).

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„Solidarischen“ wie bei Verwendung der Formel vom Grundsatz der (nationalen) Solidarität anlegt und ob die „Art Solidargemeinschaft“ der Krankenkassen eine Ausprägung dieses Grundsatzes darstellen soll. Nur dann nämlich könnte der Risikostrukturausgleich nach der bisherigen Rechtsprechungslinie ein hinreichendes Argument gegen die wirtschaftliche Tätigkeit der Krankenkassen sein. Im Kontext innerhalb des Urteils selbst wird das Ausgleichsverfahren unter den Krankenkassen jedoch (nur) als Beleg dafür gesehen, dass die Krankenkassen nicht in einem Wettbewerbsverhältnis untereinander oder mit anderen stehen. Dies ist bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften schon strukturell nicht der Fall und bedarf nicht des Belegs über das Ausgleichsverfahren: Weder die Versicherten noch die Beitragszahler zur gesetzlichen Unfallversicherung haben ein Wahlrecht, bei welcher Berufsgenossenschaft die Versicherung stattfinden soll. Die Zuständigkeit der Berufsgenossenschaft für ein Unternehmen ergibt sich kraft Gesetzes gemäß §§ 121, 122 Abs. 2 SGB VII und richtet sich nach der Unternehmensart, also der Zuordnung zu einer Branche. Gemäß § 136 Abs. 1 Satz 1 SGB VII wird die Zuständigkeit durch den Unfallversicherungsträger festgestellt; ein Wechsel ist allein nach § 136 Abs. 1 Satz 4 SGB VII mittels Überweisung durch den Unfallversicherungsträger möglich. Ebensowenig wie ein Wahlrecht unter den Berufsgenossenschaften besteht ein Wettbewerb mit privaten Versicherungsträgern, weil Beschäftigte kraft Gesetzes in der für das Unternehmen zuständigen Berufsgenossenschaft versichert sind. Eine freiwillige Versicherung wie etwa in der gesetzlichen Krankenversicherung für Bezieher von Einkommen oberhalb einer Pflichtversicherungsgrenze, aus der sich die Möglichkeit eines Wettbewerbs mit Privaten ergibt, ist nicht vorgesehen 185. Somit ist es also nicht das Lastenausgleichsverfahren zwischen den Berufsgenossenschaften, durch das ein Wettbewerb im Bereich der Unfallversicherung ausgeschaltet wird. Während im Fall der Krankenversicherung auch trotz der EuGH-Entscheidung strittig 186 zu sehen ist, ob die Träger im Wettbewerb zueinander stehen, lässt sich aber für die gewerblichen Berufsgenossenschaften festhalten, dass es für sie an einer Wettbewerbssituation fehlt. Der fehlende Wettbewerb wird jedoch weder im INAIL-Urteil noch im fraglichen BSG-Entscheid als Argument herangezogen. Es bleibt auch fraglich, wie fruchtbar dieser Ansatz für die entscheidende Frage der Unternehmenseigenschaft sein kann: Allein das faktische Nichtbestehen eines Wettbewerbs unter verschiedenen Einrichtungen, das aus der Zwangsversicherung bei einer gesetzlich bestimmten öffentlich-rechtlichen Einrichtung resultiert, führt nicht zwangsläufig dazu, dass die Tätigkeit dieser Einrichtung als nicht185 Eine freiwillige Versicherung in der gesetzlichen Unfallversicherung ermöglicht § 6 SGB VII für die dort genannten Personengruppen, ohne dass sich dadurch etwas für den Regelfall der Beschäftigten-Versicherung ändert. 186 Vgl. Argumentation der Kläger im Ausgangsverfahren, EuGH Slg. 2004, I-2493, Rn. 38 ff.

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wirtschaftlich zu gelten hat 187. Dann könnte der Gesetzgeber schon, indem er ein wettbewerbsausschließendes Monopol schafft, die Anwendung der Art. 81 ff. EG verhindern. Die Wettbewerbsregeln liefen leer. Dass nicht aus dem Monopol selbst schon auf die fehlende Unternehmenseigenschaft geschlossen werden kann, zeigte der EuGH in der Rechtssache „Höfner und Elser“. Bis zu dieser Entscheidung übernahm in Deutschland ausschließlich die Bundesanstalt für Arbeit die Vermittlung von Arbeitskräften. Kraft Gesetzes waren Vermittlungstätigkeiten privater Anbieter verboten, so dass in diesem Bereich durch gesetzliches Verbot kein Wettbewerb existierte 188. Das hinderte den EuGH jedoch nicht daran, die Tätigkeit der Bundesanstalt als wirtschaftliche zu qualifizieren. Dabei stellte es nicht auf einen bestehenden oder nicht bestehenden Wettbewerb ab, sondern darauf, ob die Tätigkeit notwendigerweise durch eine öffentlich-rechtliche Einrichtung vorzunehmen sei 189. Die in Rede stehende Tätigkeit sei nicht immer und müsse auch nicht notwendig von öffentlichen Einrichtungen betrieben worden. Der EuGH verzichtete allerdings auf eine Bestimmung, wann eine Notwendigkeit bestehen soll. Interessant ist jedoch in diesem Zusammenhang auch die Überlegung, ob eine Tätigkeit schon „immer“ von öffentlich-rechtlichen Trägern betrieben worden ist. Mit Blick auf die Unfallversicherung in Deutschland lässt sich sagen, dass zwar seit Bestehen eines Sozialversicherungssystems dieses immer öffentlich-rechtlich organisiert war. Die historische Entwicklung zeigt aber, dass der Ausgleich der Folgen von Arbeitsunfällen zuvor zivilrechtlich, namentlich über das Reichshaftpflichtgesetz geregelt und noch früher als individuelle Schicksalsfrage verstanden und höchstens durch eine privat organisierte kollektive Absicherung in Knappschafts- und Hilfskassen aufgefangen wurde 190. Auch beim Einstieg in die Versicherung gegen diese Risiken war die privatrechtliche Lösung als gleichwertige Alternative diskutiert worden 191. Daher eröffnet auch dieser Ansatz zumindest nicht die eindeutige Antwort auf die Frage nach der wirtschaftlichen Tätigkeit. Wenn das Bundessozialgericht das Lastenausgleichsverfahren als Beleg für den Grundsatz der Solidarität heranzieht, kann es sich dabei also nicht auf Argumente des Europäischen Gerichtshofs stützen: In der Rechtssache INAIL kommt dieser Aspekt nicht vor. Im späteren Festbetragsurteil wird es im Hinblick auf 187 Ähnlich auch Möller, Die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben für Sozialeversicherungsmonopole und ihr Verhältnis zum Grundgesetz, VSSR 2001, S. 25, 43, der betont, dass „die Versicherungspflicht nicht zur Verneinung der Unternehmenseigenschaft führen kann. Sie macht gerade das faktische Monopol aus, dessen gemeinschaftsrechtliche Zulässigkeit in Frage steht.“ 188 Tätigkeiten von Personalberatern bei der Besetzung von Stellen für Führungskräfte wurden von der Bundesanstalt lediglich geduldet; EuGH Slg. 1991, I-1979, 2013 Rn. 10. 189 EuGH Slg. 1991, I-1979, 2016 Rn. 22. 190 Fuchs / Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 5 ff. 191 Vgl. oben 1. Teil, I. 1.

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eine fehlende Wettbewerbssituation verwendet, die indes in der Unfallversicherung ohnehin nicht existiert, ohne dass dies jedoch ausschließen müsste, dass Berufsgenossenschaften Unternehmen im Sinne der EuGH-Rechtsprechung sind. (4) Bewertung Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 11. November 2003 die Frage nach der Vereinbarkeit der zwangsweisen Einbeziehung in die deutsche gesetzliche Unfallversicherung beantwortet, ohne diese Frage dem EuGH vorzulegen. Als letztinstanzliches Gericht sowohl nach abstrakter als auch konkreter Betrachtung bestand aber unter Umständen eine Vorlagepflicht aus Art. 234 Abs. 3 EG. Zu recht hat das BSG darauf hingewiesen, dass eine solche Pflicht dann nicht besteht, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage in einem gleich gelagerten Verfahren bereits geklärt wurde oder wenn zu dieser Frage bereits eine gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofs vorliegt, auch wenn sie sich in einem anderen Verfahren herausgebildet hat und die strittigen Verfahren nicht vollkommen identisch sind 192. Ob zur Frage der Unternehmenseigenschaft von Einrichtungen der sozialen Sicherung eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH vorliegt, darf mit Fug bezweifelt werden. Zwar existiert mittlerweile eine Reihe von Entscheidungen zu diesem Thema, zudem hat sich zuletzt auch eine gewisse Schwerpunktsetzung auf die aus Sicht des EuGH wohl entscheidenden Kriterien, namentlich den Grundsatz der Solidarität, herauskristallisiert. Gleichwohl bleibt nach wie vor teilweise offen, was Möller schon nach dem Urteil „Poucet und Pistre“ feststellte, nämlich „ob die zahlreichen zusammengetragenen Kriterien alternativ oder kumulativ vorliegen müssten, oder ob der Begriff der ‚Systeme der sozialen Sicherheit‘ kurzerhand nach der typologischen Methode, also unter Verzicht auf eine tatbestandsmäßig formulierte Definition bestimmt werden sollte“ 193. Auch wenn der Solidarausgleich mittlerweile im Zentrum der Argumentation stehen sollte 194, darf doch zumindest das, was der Gerichtshof unter diesem Begriff versteht, nicht als gesichert angesehen werden. Wäre die Frage der Unternehmenseigenschaft von Trägern sozialer Sicherungssysteme so klar im Sinne einer gesicherten Rechtsprechung beantwortet, käme eine aktuell so abweichende Einschätzung von Generalanwalt und Gerichtshof wie im Festbetragsurteil kaum vor 195, zumal auch der Generalan-

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BSGE 91, 263, 264 mit Nachweis der einschlägigen EuGH-Rechtsprechung. Möller, Die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben für Sozialversicherungsmonopole und ihr Verhältnis zum Grundgesetz, VSSR 2001, S. 25, 32; von einer „gleichsam saldierenden Gesamtschau“ der Kriterien spricht eingängig Seewald, Kein Monopol der gesetzlichen Unfallversicherung Teil II, SGB 2005, S. 453, 456. 194 Möller, Die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben für Sozialversicherungsmonopole und ihr Verhältnis zum Grundgesetz, VSSR 2001, S. 25, 34. 195 EuGH Slg. 2004, I-2493; im übrigen ist auch im Urteil wieder eine Aufzählung aller Kriterien ohne Gewichtung etwa auf den Solidaritätsgrundsatz zu finden. 193

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walt selbst einräumte, es sei schwierig den Punkt, an dem Umverteilung erheblich werde, zu bestimmen. In Betracht kommt zugunsten des BSG jedoch die erste Alternative, die das Gericht von der Vorlagepflicht entbindet: Die entscheidungserhebliche Rechtsfrage kann schon in einem gleich gelagerten Verfahren geklärt worden sein. Ersichtlich geht davon das BSG mit Blick auf die INAIL-Entscheidung des EuGH aus: Darin sei die Frage der Unternehmenseigenschaft des italienischen Unfallversicherungsträgers negativ beantwortet worden, und dieser verwalte ein in weiten Teilen der gesetzlichen Unfallversicherung in Deutschland vergleichbares System. Tatsächlich darf man die beiden Unfallversicherungssysteme in weiten Teilen für vergleichbar halten, wobei einige Unterschiede an entscheidenden Systempunkten zu erkennen sind. Die Ähnlichkeiten sind aber wohl stark genug ausgeprägt, um das Verfahren als gleich gelagert einschätzen zu können 196. Das BSG hat in seinem Urteil auch die Kriterien des EuGH zusammengefasst, die zur Beantwortung der entscheidungserheblichen Frage maßgeblich sind. Hier sei indes noch einmal angemerkt, dass das Kriterium der Solidarität bereits in seiner Handhabung durch den EuGH in der Rechtssache INAIL erhebliche Zweifel hervorruft. Dies wirkt sich jedoch nicht auf Bestehen oder Nichtbestehen einer Vorlagepflicht aus. Das BSG ist zudem, wie gezeigt, in seinem Urteil in der Subsumtion der Regelungen des deutschen Unfallversicherungssystems unter diese Kriterien zum Teil erheblich von der Argumentationslinie des EuGH abgewichen. Gegen-stand einer Vorabentscheidung nach Art. 234 sind indes Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, nicht hingegen solche der Anwendung des vom EuGH ermittelten Inhalts der Vorschrift auf nationales Recht 197. Die Subsumtion für den konkreten Fall ist Aufgabe der nationalen Gerichte, so dass das BSG durch diese Abweichungen nicht gegen die Vorlagepflicht aus Art. 234 Abs. 3 EG verstoßen hat 198. Gleichwohl bleibt die Kritik an der kurzen Begründung des Bundessozialgerichts bestehen, das zur Ablehnung der Unternehmenseigenschaft der Berufsgenossenschaften die vom EuGH teils ebenfalls kritikwürdigen Kriterien vorschnell und teilweise in Nichtbeachtung maßgeblicher Elemente der Unfallversicherung anwendet. Insbesondere gelingt es ihm nicht darzulegen, inwiefern durch die gesetzliche Unfallversicherung der Grundsatz der Solidarität verwirklicht wird: Die angeführten Komponenten Lastenausgleichsverfahren und Leistungsautomatismus vermögen eine Umverteilung nicht zu belegen. Auch die Entkopplung von 196 AA Seewald, Kein Monopol der gesetzlichen Unfallversicherung Teil II, SGB 2005, S. 453. 197 Geiger, EUV / EGV, Art. 234 EGV Rn. 5. 198 AA Seewald, Kein Monopol der gesetzlichen Unfallversicherung Teil II, SGB 2005, S. 453, 464, der jedoch nicht auf den Unterschied von Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts eingeht.

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Beitrag und Leistung stellt keine Umverteilung zwischen den Einkommen dar, auch wenn sich das BSG insoweit zumindest abstrakt auf einer gedanklichen Linie mit dem EuGH befindet. Doch in der rein arbeitgeberfinanzierten deutschen Unfallversicherung existiert keine Verteilung von einem Einkommen zu einem anderen innerhalb einer Gruppe. Indizien für einen solidarischen oder sozialen Ausgleich im hier vertretenen Begriffsverständnis als Ausgleich sozialer Risiken erwähnt das BSG nicht. Zudem bleibt auch der vom Gericht andeutungsweise gewählte Ansatz unverfolgt, das deutsche System mit einer privatrechtlichen Lösung zu vergleichen, um so eine wirtschaftliche Tätigkeit zu bestätigen oder abzulehnen. Einen ausführlichen Vergleich mit einem hypothetischen privaten Unfallversicherungssystem nimmt der Senat an keiner Stelle vor: Auf das Vorbringen der Revision, in anderen europäischen Ländern werde die Aufgabe der Unfallversicherung von privaten Anbietern übernommen, beruft er sich zu recht auf die gemeinschaftsrechtlich geschützte Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung der Systeme der sozialen Sicherheit. Die Vereinbarkeit des deutschen Systems lasse sich deshalb nicht anhand einer allgemeinen Gegenüberstellung öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Versicherungssysteme beurteilen, sondern entscheide sich danach, „ob das konkret in Rede stehende System mit seinen jeweiligen Gegebenheiten im Hinblick auf das Verhältnis von Beitrags- und Leistungshöhe auch privatwirtschaftlich von anderen Versicherern betrieben werden könnte“ 199. Genau diesen konkreten Vergleich liefert das Gericht jedoch nicht. Nicht befassen musste sich das BSG damit, ob seine Einschätzung im Hinblick auf die Tätigkeit der Berufsgenossenschaften als Nachfrager medizinischer Dienstund Sachleistungen anders ausfallen würde, weil der Kläger als Unternehmer allein durch die Beitragsfestsetzung und also durch die berufsgenossenschaftliche Tätigkeit als Versicherer in eigenen Rechten betroffen war. Trotzdem hatte er den Vorlagebeschluss des Bundesgerichtshofs zur Frage der Festbetragsfestsetzung durch die Spitzenverbände der Krankenkassen als Beleg für die Vorlagepflicht des BSG in seiner Revision angeführt. Das BSG verwies zu recht auf den funktionalen Unternehmensbegriff, aus dem sich für einzelne Tätigkeiten unterschiedliche Bewertungen ergeben können. Unklar ist jedoch, warum aus Sicht des BSG „schon aus diesem Grund“ aus der BGH-Vorlage nicht geschlossen werden könne, dass für die Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln auf die gewerblichen Berufsgenossenschaften „noch Klärungsbedarf bestehen könnte“ 200. Zwar war für die Revision die Nachfragetätigkeit der Berufsgenossenschaften unerheblich. Ob diese eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt, ist jedoch auch noch an keiner anderen Stelle geklärt worden. Es bleibt also erforderlich, die vom Europäischen Gerichtshof in der Rechtssache „INAIL“ entwickelten Kriterien für die Ablehnung der Unternehmenseigen199 200

BSGE 91, 263, 268. BSGE 91, 263, 268.

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schaft auf das Recht der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung anzulegen, um dann zu entscheiden, ob die gewonnen Zwischenergebnisse imstande sind, eine wirtschaftliche Tätigkeit der Berufsgenossenschaften abzulehnen. Dabei muss der Schwerpunkt auf dem Grundsatz der Solidarität liegen, den auch der EuGH stets betont (dazu cc), der jedoch kritisch zu würdigen bleibt. Weitere Merkmale, die auch für das deutsche System relevant sein können, sind seine Herkömmlichkeit, sein sozialer Zweck und die staatliche Aufsicht (sogleich bb). bb) Herkömmlichkeit, Sozialer Zweck und staatliche Aufsicht In der Rechtssache „INAIL“ dient als chronologisch erster Beleg dafür, dass der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung kein Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechts ist, die Tatsache, dass der Schutz gegen Arbeitsunfall und Berufskrankheit seit langer Zeit zum sozialen Schutz gehört, den die Mitgliedstaaten ihrer Bevölkerung gewähren 201. Dies gilt für das INAIL ebenso wie für das deutsche System der gesetzlichen Unfallversicherung, ohne dass dies deshalb schon immer der Fall war. Die deutsche gesetzliche Unfallversicherung gehört seit den Anfängen des modernen Sozialversicherungsrechts im ausgehenden 19. Jahrhundert zu ihren Grundpfeilern. Da jedoch trotz der anerkannten Primärzuständigkeit die Mitgliedstaaten auch auf diesem Feld an gemeinschaftsrechtliche Vorgaben gebunden sind, gilt für die Systeme der sozialen Sicherheit keine Bereichsausnahme aus dem Europa- und genauer dem Wettbewerbsrecht 202. Der Verweis auf Herkömmlichkeit alleine kann also die Ablehnung der Unternehmenseigenschaft nicht begründen, es ist vielmehr eine genaue Betrachtung anhand weiterer Anhaltspunkte nötig, ob eine konkrete Einrichtung sozialer Sicherung dem Wettbewerb unterliegt. Deshalb hat auch das Bundessozialgericht in seiner Auseinandersetzung mit dem Unternehmensbegriff richtigerweise festgestellt, dass weder die Einordnung ins Sozialgesetzbuch noch die öffentlich-rechtliche Organisationsform der gesetzlichen Unfallversicherung als traditionelle Aufgabe der Sozialversicherung ausreicht, um ihre Einordnung als Unternehmen auszuschließen 203. Dieselbe Relativierung gilt nach der Rechtsprechung des EuGH für den sozialen Zweck eines Sicherungssystems, der ebenfalls allein nicht geeignet sei, eine wirtschaftliche Tätigkeit auszuschließen 204. Zwar wird auch beim Kriterium des sozialen Zwecks nicht immer klar, welches Begriffsverständnis der EuGH insbesondere in Abgrenzung zum sozialen Charakter, der fehlenden Gewinnerzielungsabsicht 205 oder auch zur formalgesetzlichen Aufgabenzuweisung anlegt. 201

EuGH Slg. 2002, I-691, 729 Rn. 32. Möller, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben für Sozialversicherungsmonopole und das Grundgesetz, VSSR 2001, S. 25, 27. 203 BSGE 91, 263, 266. 204 EuGH Slg. 2002, I-691, 731 Rn. 37. 202

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Insbesondere aus der jüngeren Rechtsprechung geht aber deutlich hervor, dass der soziale Zweck einer Einrichtung jedenfalls klar vom Grundsatz der Solidarität zu trennen ist. Auf Solidarität muss die Einrichtung offenbar immer beruhen, um kein Unternehmen zu sein. Der soziale Zweck im Sinne einer sozialen Zielsetzung oder Aufgabe ist aber erforderlich, damit die betreffende Einrichtung grundsätzlich auf der mitgliedstaatlichen Primärzuständigkeit zur Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme fußen kann. Penner qualifiziert daher prägnant den sozialen Zweck als „notwendig, aber nicht hinreichend“ 206. Diese Sichtweise und Gewichtung des sozialen Zwecks kann für die deutsche gesetzliche Unfallversicherung problematisch werden. In ihrer Ausgestaltung verfolgt sie auf vergleichbare Weise einen sozialen Zweck, wie es der EuGH für das INAIL herausgearbeitet hat: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung soll Beschäftigten 207 eine Deckung des Risikos des Arbeitsunfalls und der Berufskrankheit gewähren und zwar unabhängig von einer Pflichtverletzung des Geschädigten und des Schädigers, mithin ohne die Notwendigkeit einer zivilrechtlichen Durchsetzung. Zudem werden die Leistungen aus der Versicherung kraft Gesetzes und gemäß § 19 Satz 2 SGB IV sogar von Amts wegen gewährt. Beide Komponenten, ergänzt um die Leistungsgewährung unabhängig von einer Bedürftigkeitsprüfung, prägen das soziale Schutzprinzip aus, das neben der Haftungsersetzung durch Versicherung als zweites Prinzip die gesetzliche Unfallversicherung trägt 208. Vor dem Hintergrund der Erkenntnis etwa des Bundesverfassungsgerichts, dass diese beiden Prinzipien für die Ausgestaltung des Rechts der sozialen Unfallversicherung maßgebend waren und auch heute noch maßgebend für das Verständnis ihrer Besonderheiten sind 209, wiegt die Relativierung des sozialen Zwecks durch den Europäischen Gerichtshofs umso schwerer. Wenn dasjenige von zwei Wesenselementen, das dem Sicherungssystem sein soziales Gepräge verleiht, keine hinreichende Bedingung darstellt, wird die Frage nach der wirtschaftlichen Tätigkeit schwerlich zu verneinen sein. Dies umso schwieriger, als an einem im gesetzlichen Unfallversicherungsrecht verwirklichten Grundsatz der Solidarität verstanden im Sinne einer Umverteilung erhebliche Zweifel bestehen. Sowohl für den Europäischen Gerichtshof als auch das Bundessozialgericht liegt viel Gewicht auf dem Argument, dass die jeweiligen Unfallversicherungen staatlicher Aufsicht unterliegen und deshalb sowohl die Beiträge als auch die Leis205 Möller, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben für Sozialversicherungsmonopole und das Grundgesetz, VSSR 2001, S. 25, 31 f. 206 Penner, Monopolschutz für die gesetzliche Unfallversicherung, NZS 2003, S. 234, 236. 207 Im Grundfall, zudem natürlich auch die übrigen in § 2 SGB VII genannten Personengruppen. 208 Oben 1. Teil, II.4.b). 209 BVerfGE 34, 118.

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tungen auf Grundlage gesetzlicher Bestimmung festlegen. Die bloße Aufsicht kann indes nicht den wirtschaftlichen Charakter einer Tätigkeit ausschließen. Gemäß § 87 Abs. 1 Satz 2 SGB IV erstreckt sich die Aufsicht über die Versicherungsträger auf die Beachtung von Gesetz und Recht. Für die gesetzliche Unfallversicherung enthält § 87 Abs. 2 SGB IV eine Sonderregelung insofern, als die Aufsicht über die Prävention auch Umfang und Zweckmäßigkeit umfasst. Für die anderen Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung und somit für die wettbewerbsrechtlich relevanten Funktionen bleibt es also bei der reinen Rechtsaufsicht. Dies allein kann jedoch nicht ausreichen, um den Unternehmenscharakter einer Einrichtung auszuschließen: Wenn die Rechtsbeachtung öffentlich-rechtlicher Einrichtungen durch den Staat beaufsichtigt wird, muss das nicht heißen, dass das Handeln der Einrichtung selbst nichtwirtschaftlich ist. Immerhin unterliegen auch private Einrichtungen staatlicher Aufsicht. Für den Bereich des privaten Versicherungswesens existiert ein eigenes Versicherungsaufsichtsrecht, das im Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) geregelt ist. Hintergrund dieser breit angelegten Aufsicht durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen (BaFin) ist die Überlegung, dass das spezifische Vertragswesen im Versicherungsrecht nicht vollständig den freien Kräften des Marktes überlassen werden kann 210. Aufsicht kann und soll aus sozialpolitischen und volkswirtschaftlichen Erwägungen dazu führen, dass sich ein bestimmter Bereich nicht unkontrolliert entwickelt. Ein vollständig freier Wettbewerb findet also wegen der Regulierung nicht statt, doch dadurch verliert dieser Bereich nicht seinen Wettbewerbs- und Marktcharakter. Auch eine Aufsicht über öffentlich-rechtliche Einrichtungen kann, zumal sie nur Rechtsaufsicht ist, den Charakter einer Tätigkeit nicht verändern. EuGH und BSG haben die staatliche Aufsicht vor allem in Bezug auf die Gestaltung von Beitrag und Leistung in der gesetzlichen Unfallversicherung herangezogen. Der Europäische Gerichtshof folgert aus der „letztlich“ staatlich festgesetzten Höhe von Beiträgen und Leistungen ein Indiz dafür, dass das INAIL „eine Aufgabe rein sozialer Natur wahrnimmt“ 211. Im INAIL wie auch in der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung sind die Leistungen gesetzlich bestimmt. Die Beiträge werden vom Unfallversicherungsträger festgelegt, bedürfen aber der Genehmigung der Aufsichtsbehörde (für das deutsche Recht gilt § 158 Abs. 1 SGB VII). Es ist daher zumindest für die Beitragsgestaltung fraglich, ob sie tatsächlich staatlich festgelegt ist und ob dies weiterhin dazu führt, eine nur soziale und nicht wirtschaftliche Natur der Tätigkeit anzunehmen. Gemäß § 157 Abs. 1 Satz 1 SGB VII setzt der Unfallversicherungsträger einen Gefahrtarif als autonomes Recht fest. Dadurch kann die Berufsgenossenschaft die Beitragshöhe erheblich beeinflussen, weil der Gefahrtarif eines von drei Parametern der Beitragsberechnung darstellt. Eine Einflussmöglichkeit auf die beiden anderen 210 211

Weyers / Wandt, Versicherungsvertragsrecht, Rn. 55. EuGH Slg. 2002, I-691, 732 Rn. 45.

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Berechnungsgrundlagen besteht für keinen Beteiligten, da das Umlagesoll vom jährlichen Finanzbedarf und die Arbeitsentgelte vom individuellen Unternehmen bestimmt werden. Für das Bundessozialgericht ist diese Einflussnahme durch den autonom festzulegenden Gefahrtarif durch gesetzliche und verfassungsmäßige Vorgaben sowie die Genehmigungspflicht durch die Aufsichtsbehörde so weit eingeengt, „dass eine freie Tarifgestaltung, wie sie für ein marktwirtschaftlich handelndes Versicherungsunternehmen typisch wäre, nicht möglich ist“ 212. Die genannten Begrenzungen der Beitragsgestaltung sichern ihre Verfassungsmäßigkeit, weil sich anderenfalls eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsund Wesentlichkeitsgebotes beim Eingriff in die Grundrechte der Beitragszahler nicht ausschließen ließe 213. Sie schließen jedoch nicht zwangsläufig auch eine wirtschaftliche Tätigkeit aus. Vielmehr folgt die Notwendigkeit von Gesetz- und Verfassungsvorgaben sowie der Genehmigungspflicht für die Beitragsgestaltung aus dem Zwangscharakter der Versicherung. Der Zwangscharakter seinerseits zieht das Fehlen eines Marktes nach sich – über die verfassungsrechtlichen Bedingungen einer Zwangsversicherung wiederum das Fehlen einer (markt-)wirtschaftlichen Tätigkeit zu folgern, käme einem Zirkelschluss gleich. Darüber hinaus stand auch das private Versicherungswesen bis zur umfänglichen Harmonisierung und Koordinierung durch Gemeinschaftsrecht, die durch das Dritte Durchführungsgesetz / EWG zum VAG 214 im Jahr 1994 ihren vorläufigen Abschluss fanden, unter einer umfassenden auch materiellen Aufsicht. Dazu gehörten die Versicherungsbedingungen sowie in der Lebens-, Kranken-, Unfall- und KfzHaftpflichtversicherung gar die Prämientarife, die vor Verwendung genehmigt werden mussten. Auch jetzt bestehen innerhalb der rechtlichen Aufsicht gemäß § 81 Abs. 1 Satz 1 VAG zumindest noch Vorlagepflichten für gewisse Bereiche 215. Mit diesem Hinweis soll keineswegs eine Kongruenz von gesetzlicher Unfallversicherung und privater Versicherung angedeutet werden. Die Aufsichtsregelungen alter und auch neuer Fassung im privaten Versicherungswesen unterstreichen jedoch, dass selbst eine materielle Aufsicht über die Gestaltung der Prämien – die bis 1994 in der Logik des EuGH dann jedenfalls auch als „letztlich“ staatlich festgelegt zu gelten hätten – nicht den wirtschaftlichen Charakter der Versicherungstätigkeit ausschließt. Nicht von ungefähr haben die europäischen Institutionen gerade in diesem Bereich großen Handlungsbedarf zur Deregulierung gesehen, um das Vertragsziel des gemeinsamen Marktes zur Geltung zu bringen. Nur weil eine Tätigkeit staatlicher Aufsicht unterliegt, ist sie noch nicht allein deshalb nichtwirtschaftlich, auch wenn wegen gewisser staatlicher Regulierung Leistungen und 212 213 214 215

BSG 91, 263, 267. Oben 1. Teil, III.2.b)aa)(2). Vom 21. 7. 1994, BGBl. S. 1630. Weyers / Wandt, Versicherungsvertragsrecht, Rn. 60, 70.

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

Beiträge bzw. Prämien nicht gänzlich frei festgelegt werden können. Es ist indes auch nicht anzunehmen, dass der EuGH dieses Kriterium allein hätte ausreichen lassen, um die Unternehmenseigenschaft des INAIL abzulehnen. In seiner Hinführung zu Ergebnis nennt er die staatliche Aufsicht in nur in Zusammenschau mit dem Grundsatz der Solidarität 216. cc) Solidarausgleich Schwerpunkt in den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs, die sich mit der Unternehmenseigenschaft von sozialen Sicherungssystemen in den Mitgliedstaaten auseinandersetzen, ist – das bestätigten zuletzt die Entscheidungen zum INAIL und zu den deutschen Festbeträgen im Krankenversicherungsrecht – der Grundsatz der Solidarität. Auch wenn der Gerichtshof eine klare Begriffsbestimmung bis dato vermissen lässt, sprechen doch insbesondere Formulierungen in den Urteilen zu den Rechtssachen „INAIL“ 217 und „Poucet und Pistre“ 218 dafür, dass er den Begriff der Solidarität regelmäßig im Sinne einer Umverteilung anwendet. Dieser Ansatz geht mit dem hier vertretenen insoweit konform, als es für ein solidarisches Element eines abgrenzbaren Kollektivs bedarf, innerhalb dessen der Einzelne für den anderen und für das gesamte Kollektiv verpflichtet ist, das seinerseits für das einzelne Mitglied Verantwortung trägt. Umverteilung insbesondere im Bereich sozialer Sicherung gleicht unterschiedliche Lasten, Risiken und Leistungsniveaus dadurch aus, dass anfallende Lasten gemeinsam getragen werden und einige Mitglieder des Kollektivs entweder ein Mehr an Leistung erhalten oder ein Weniger an Lasten zu schultern haben. Im Ergebnis führt Umverteilung also zu einem wirtschaftlichen Plus eines Teils und zu einem wirtschaftlichen Minus eines anderen Teils der Gruppe. Das System der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung wirft Schwierigkeiten mit diesem Grundsatz der Solidarität auf, weil zwei voneinander abgegrenzte Gruppen in das System einbezogen sind. Die Gruppe der Unternehmer trägt als Beitragzahler allein die Lasten, während die Gruppe der Beschäftigten als Versicherte allein die Leistungen empfängt. „Verteilt“ wird also ausschließlich von einer Gruppe zur anderen 219, so dass es sich um eine Form einseitiger Zuwendung handelt. Diese kann und wird zwar auch aus einer Beziehung der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers mit dem Arbeitnehmer begründet, Solidarität im Wortsinne liegt darin aber nicht. 216

EuGH Slg. 2002, I-691, 732 Rn. 44. EuGH Slg. 2002, I-691, 731 Rn. 41 f. 218 EuGH Slg. 1993, I-637, 668 Rn. 10. 219 In wirtschaftlich betrachteter Wirkweise erzielen freilich auch die Unternehmer ein Plus, nämlich den Haftungssausschluss zu ihren Gunsten. Dieser liegt als gesetzliche Regelung im System selbst begründet und ist nicht Bestandteil einer „Umverteilung“. 217

I. Wettbewerbsrecht

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Ein solidarischer Ausgleich ist, wie gezeigt 220, nicht Mittel der Wahl in der gesetzlichen Unfallversicherung: Eine Umverteilung innerhalb der Versicherten wird allenfalls sehr mittelbar bewirkt, indem bei Berechnung der Geldleistungen gemäß § 85 SGB VII Mindest- und Höchstjahresarbeitsverdienste veranschlagt werden. Zu dieser Auffassung kann man gelangen, wenn man die Regelung der begrenzten Rentenhöhe als mittelbaren Beitrag von Beziehern hoher Einkommen dazu betrachtet, die Finanzlasten der Berufsgenossenschaften in angemessenem Rahmen zu halten, wodurch es umgekehrt möglich wird, Mindestrenten zu bezahlen. Diese Wertung würde aber voraussetzen, dass Bezieher hoher Einkommen per se auch eine Rente in Höhe dieses Einkommens zu erwarten hätten, sie gleichsam durch die bestehende Regelung auf etwas „verzichteten“. Die Regelung des § 85 SGB VII steht indes nicht in einem Ausnahmeverhältnis zu § 82 Abs. 1 SGB VII, der die Berechnung des Jahresarbeitsverdienst vorgibt, sondern legt eine Höchstgrenze definitorisch fest („der Jahresarbeitsverdienst beträgt . . . “). Auch ein Blick auf privatversicherungsrechtliche Regelungstechniken ergibt keinen Hinweis, dass sich Leistungen sozusagen normalerweise am realen Einkommen orientieren: Erheblich ist, was als Leistung vertraglich vereinbart ist. Bezieher hoher Einkommen „verzichten“ also nicht zugunsten der geringer Verdienenden. Zudem spricht gegen eine umverteilende Wirkung dieser Regelung, dass von einer anderen Ausgestaltung dieser Grenzen direkt nur die Unternehmer durch veränderte Lasten betroffen wären. Solidarität wird für die gesetzliche Unfallversicherung vor allem im Hinblick auf das Lastenausgleichsverfahren angenommen 221. Solidarität besteht danach jedenfalls zwischen den Berufsgenossenschaften, die gesetzlich darauf verpflichtet werden, nach den Vorschriften der §§ 176 ff. SGB VII die Gesamtlasten der gewerblichen Unfallversicherung solidarisch zu tragen. Ob darin der Grundsatz der Solidarität verwirklicht wird, wie ihn der EuGH in Bezug auf die soziale Sicherung versteht, darf aber mit Fug bezweifelt werden 222. Das Lastenausgleichsverfahren dient in erster Linie und vor allem dazu, das branchengegliederte System der gewerblichen Unfallversicherung zu sichern. Es verfolgt hingegen keinen sozialen Zweck. Wenn der Europäische Gerichtshof Überlegungen zum Grundsatz der Solidarität anstellt – etwa im Hinblick auf das Verhältnis von Beitrag und Leistung –, so geschieht dies nie losgelöst von der sozialen Zielrichtung, die sich durch die Begünstigungswirkung manifestiert. Zwar ist das soziale Ziel einer Einrichtung für sich genommen nicht geeignet, ihre Unternehmenseigenschaft auszuschließen. Eine soziale Zweckausrichtung ist jedoch schon deshalb vonnöten, weil sonst das 220

Ausführlich oben 1. Teil, II.4.c). BVerfGE 23, 12, 24; BSGE 91, 263, 267; für die Literatur statt vieler Fuchs, Die Konformität des Unfallversicherungsmonopols mit dem Gemeinschaftsrecht, SGB 2005, S. 65, 68. 222 In der Rechtssache INAIL fehlt dieser Ansatz, dazu und zu den Ausführungen des BSG in dieser Frage oben I.5.b)aa)(2) sowie cc). 221

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

Argumentationsschema über die mitgliedstaatliche Primärzuständigkeit für die Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme nicht griffe. Der soziale Zweck ist mithin als Bedingung nicht hinreichend, wohl aber notwendig. Dies muss auch für alle in Rede stehenden Elemente der Solidarität oder Umverteilung gelten, weil diese innerhalb der sozialen Sicherungssysteme nicht Selbstzweck sind. Das Lastenausgleichsverfahren zwischen den Berufsgenossenschaften ist darauf angelegt, besonders hoch belastete Branchen zu entlasten, indem weniger belastete Branchen zum Ausgleich verpflichtet werden. Das führt im Ergebnis dazu, dass wegen des veränderten Finanzbedarfs der einzelnen Berufsgenossenschaft auch der einzelne Beitrag der Unternehmer je nach Branchenzugehörigkeit höher oder niedriger ausfällt als ohne Lastenausgleich, so dass hier eine Umverteilung vorliegt. Einen sozialen Zweck verfolgt dieses Verfahren jedoch nicht. Ein soziales Sicherungssystem verfolgt diesen Zweck in erster Linie im Hinblick auf die Versicherten, während ein Lastenausgleichsverfahren im Ergebnis die Beitragszahler schützt. Ein Lastenausgleichsverfahren kann also in Fällen der Personenidentität von Versicherten und Beitragszahlern auch einem sozialen Zweck dienen, sofern die Beiträge ihrerseits nicht streng risikobezogen sind. In diesem Punkt unterscheidet sich das Lastenausgleichsverfahren der gesetzlichen Unfallversicherung entscheidend von denjenigen Systemen, bei denen auch für den EuGH ein Strukturausgleich zwischen Trägern erheblich war. Die Lasten eines Versicherungsträgers hängen ab von den eingebrachten Risiken, also vom Versicherungsrisiko und – in risikounabhängig finanzierten Systemen – vom Leistungsrisiko des Beitragszahlers. Eine einseitige Häufung „schlechter“ oder „guter“ Risiken auf unterschiedliche Versicherungsträger führt zu unterschiedlichen Lasten und damit zu unterschiedlichen Finanzbedarfen. Durch ein Ausgleichsverfahren wird eine unterschiedliche Risikoaufteilung, die zufällig oder durch Risikoauslese entstehen kann, weitgehend nivelliert. Davon profitieren Versicherte, die in einem System zugleich Beitragzahler sind, vor allem dann, wenn dadurch ihr Beitrag risikounabhängig bleiben kann. Das ist der Fall etwa in der gesetzlichen Krankenversicherung: Pflichtversicherte sind in der Regel Beitragszahler, deren Beitrag nach ihrem Einkommen bemessen wird. Durch den Risikostrukturausgleich zwischen den Krankenkassen gemäß §§ 266 ff. SGB V werden unterschiedliche Belastungen der einzelnen Krankenkassen aufgefangen. Wenn die Belastung einer Krankenkasse also nach oben begrenzt ist, können auch die Beiträge in Grenzen gehalten werden: Sie müssen dann nicht äquivalent ausgestaltet sein, sondern können an der individuellen Leistungsfähigkeit anknüpfen. Der Risikostrukturausgleich verfolgt im Ergebnis also auch einen sozialen Zweck durch einen solidarischen Ausgleich 223.

223

Ebsen / Knieps, in: v. Maydell / Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, Kap. 14 Rn. 70.

I. Wettbewerbsrecht

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In der gesetzlichen Unfallversicherung hingegen werden durch das Lastenausgleichverfahren nicht die Versicherten geschützt. Ohne dieses Verfahren wären das Umlagesoll einer mit hohem Risiko belasteten Berufsgenossenschaft und damit der einzelne Beitragssatz höher. Für die Versicherten hätte dies keine unmittelbaren Auswirkungen. Anders ist dies für die beitragszahlenden Unternehmen, für die es, wie gezeigt, im Ergebnis zu einer Umverteilung kommen kann. Es handelt sich dabei aber nicht um eine sozial motivierte oder sozial wirkende Umverteilung. Sie wirkt deshalb nicht sozial, weil für die Berechnung der Beiträge in erster Linie und stark dominant das Risiko des Unternehmens erheblich ist 224. Wenn aber schon die Beitragserhebung nicht anhand der Leistungsfähigkeit ausgestaltet ist, so kann auch die Wirkung des Lastenausgleichverfahrens keine soziale sein, weil von ihm nicht wirtschaftlich Schwächere profitieren. Dafür spricht auch die neue Regelung des § 176 Abs. 4 SGB VII, durch die Ausgleichsbeträge begrenzt werden: Damit wird das grundsätzlich branchenspezifische Risiko der Berufsgenossenschaften akzeptiert, so lange die Lasten nicht unangemessen werden 225. Im übrigen stünde auch bei risikounabhängiger Beitragsgestaltung die soziale Zielrichtung in Frage: Zwar gibt es Unternehmen innerhalb einer Branche und zudem ganze Branchen, die wirtschaftlich schwächer sind als andere. Dadurch wird der einzelne Unternehmer jedoch noch nicht sozial schutzbedürftig im Sinne des Sozialversicherungsrechts. Das soziale Schutzprinzip als Ausfüllung der Sozialstaatlichkeitsklausel des Grundgesetzes wird in der gesetzlichen Unfallversicherung zugunsten der Versicherten, also der abhängig Beschäftigten erfüllt. Die Unternehmer werden aus ihrer Verantwortungsbeziehung heraus und wegen der grundsätzlichen Risikozuschreibung zu den Beiträgen herangezogen, ohne selbst vergleichbar schutzbedürftig vor den Wechselfällen des Lebens zu sein. Mit dieser Argumentation ist auch dem Ansatz des LSG Baden-Württembergs 226 zu begegnen, das einen Aufsatz von Papier / Möller 227 heranziehend auf das Beitragsausgleichsverfahren gemäß § 162 Abs. 4 SGB VII hinweist, um ein Element der Solidarität zu belegen. Indem bestimmte Risiken von diesem ansonsten stark risikogeprägten Verfahren ausgenommen werden, erfährt die reine Versicherungstechnik zwar eine Ausnahme, und die anfallenden Lasten werden von der gesamten Berufsgenossenschaft getragen. Es fehlt jedoch auch hier an einer sozialen Schutzrichtung.

224

Dazu ausführlich oben 1. Teil, II.4.a)bb) und c)aa). Insoweit können auch hier die Reformvorschläge der Bund-Länder-Arbeitsgruppe vom 29. 06. 2006 relevant werden: Wenn die Zahl der Träger auf sechs minimiert und zugleich die Beitragssatzspreizung reduziert werden soll, wird sich ein branchenspezifisches Risiko sehr viel weniger wiederfinden; vgl. zu den Vorschlägen den Entwurf der Eckpunkte (1. Teil, Fn. 36), S. 4 f. 226 LSG Baden-Württemberg, HVBG-Info 2003, 1887, 1897. 227 Papier / Möller, SGB 1998, S. 337, 348. 225

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

Im ersten Teil der Untersuchung ist der begriffliche Unterschied zwischen solidarischem und sozialem Ausgleich herausgearbeitet worden 228. Ein sozialer Ausgleich kann auch ohne das Mittel der Umverteilung innerhalb einer solidarisch geprägten Gruppe erreicht werden. Er wird insbesondere erreicht, indem unterschiedliche soziale Risiken, sogenannte Sekundärrisiken abgesichert werden, ohne dass es für den Begünstigten zu größeren Belastungen kommt. Die Regelung des § 85 Abs. 1 SGB VII verwirklicht einen solchen sozialen Ausgleich, ohne zugleich solidarischer Ausgleich zu sein: Wenn für die Berechnung der Unfallrente ein Mindestverdienst angelegt wird, wirkt sich das sekundäre Risiko des Versicherten, im Veranlagungszeitraum weniger oder gar nichts verdient zu haben, nicht negativ aus. Auch die Hinterbliebenenversicherung verwirklicht auf der Leistungsseite der gesetzlichen Unfallversicherung diesen sozialen Ausgleich. Es ist jedoch begrifflich nicht möglich, diese Elemente als solidarische zu verstehen. Andersherum wäre es unzulässig, den vom Europäischen Gerichtshof stets wiederholten und betonten Grundsatz der Solidarität so weit zu dehnen, dass er auch durch die soeben dargestellten Topoi verwirklicht werden könnte. Ähnliches gilt für andere Charakteristika der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung. Die Grundentscheidung, den Unternehmer mit dem Primärrisiko des Arbeitsunfalls und der Berufskrankheit zu belasten, ist eine deutliche Entscheidung zugunsten des sozialen Schutzauftrags des Staates, der damit auf die Bereiche Einfluss nimmt, die ohne staatliches Regulativ der individuellen Ausgestaltung, dem unternehmerischen Wirken, letztlich dem freien Spiel der Kräfte unter dem Grundkonflikt zwischen Kapital und Arbeit – oder moderner: unter den Bedingungen des Arbeitsverhältnisses mit seinen Machtkonstellationen unterläge. Der Schutz der abhängig Beschäftigten wird in der Unfallversicherung um ein weiteres verstärkt, indem anstelle einer Haftungsregelung eine öffentlich-rechtliche Pflichtversicherung getreten ist. Versichert ist darin nicht der Unternehmer gegen einen möglichen Haftungsanspruch, sondern der Beschäftigte, und zwar gänzlich unabhängig vom Tun und Lassen des Unternehmers im Hinblick auf die Versicherung und den Versicherungsfall. Zugespitzt formuliert, ist der Unfallversicherungsschutz vom eigentlichen Arbeitsverhältnis entkoppelt. Durch diese Abkopplung schützt die gesetzliche Unfallversicherung den Versicherten auch vor dem Liquiditäts- und dem Prozessrisiko. Ohne privatrechtliches Haftungssystem ist auch das Beschreiten des Klagewegs im Streitfall obsolet. Liquiditätsschwächen des Unternehmers muss der Versicherte schließlich weder insofern noch im Hinblick auf den die Haftung ablösenden Versicherungsschutz fürchten, denn dieser greift kraft Gesetzes und unabhängig von der Beitragsentrichtung des Unternehmers. Auch auf die eigene Liquidität des Versicherten kommt es nicht an, weil die Heilbehandlung als Sachleistung gewährt wird und der Versicherte nicht in Vorleistung treten muss 229. 228

Oben 1. Teil, II.2.b).

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Ein Alleinstellungsmerkmal hat die gesetzliche Unfallversicherung schließlich insofern, als die Arbeitnehmer selbst finanziell gar nicht belastet werden: Weil die Arbeitnehmer keine Beiträge aus ihrem Einkommen zahlen, ist nicht einmal eine Umverteilung von Einkommen nötig, um gleichen sozialen Schutz zu erzielen. Doch obwohl das soziale Schutzprinzip zugunsten der abhängig Beschäftigten in der Unfallversicherung so stark ausgeprägt ist wie in keinem anderen Sozialversicherungszweig, lassen sich die Argumente nicht in das Muster des EuGH einpassen: Solidarität verwirklichen diese Charakteristika nicht. Sie erfüllen den sozialen Zweck, der nach eindeutiger Haltung des EuGH nicht ausreicht, um die Unternehmenseigenschaft einer Einrichtung auszuschließen. c) Kriterium der Finanzierung Die Kriterien des EuGH aus INAIL sind, insbesondere in der Gewichtung, wie der Gerichtshof sie vornimmt, für die deutsche gesetzliche Unfallversicherung nicht fruchtbar. Zweifel an der grundsätzlichen Tauglichkeit der typologisierenden Herangehensweise durch den EuGH, wie soziale Sicherungssysteme unter den Unternehmensbegriff zu subsumieren sind, wurden hier mehrfach auch mit Verweis auf einschlägige Stimmen in der Literatur benannt. Deren Kritik setzte schon früh an: „Keines der vom EuGH im Poucet-Urteil genannten Kriterien“, so etwa Koenig / Kühling 230 mit Blick auf die Merkmale soziale Zwecksetzung, fehlende Gewinnerzielungsabsicht, Solidaritätsgedanke und hoheitliche Verfahrensdeterminierung, könne „für sich genommen den unternehmerischen Charakter der Versicherungstätigkeit in Frage stellen. Auch ihre Kumulation bedingt keinen erkennbaren Mehrwert. Die Rechtsprechung des EuGH ist hier eher durch politisches Taktieren gekennzeichnet als durch eine überzeugende dogmatische Orientierung“. Gegen den Solidaritätsgrundsatz wenden die Autoren schon nach „Poucet“ ein, er könne nicht zum Ausschluss des Merkmals Unternehmen führen, weil auch Mitgliedstaaten allgemeinverbindliche Versicherungsbedingungen formulieren könnten, ohne dass dadurch eine unternehmerische Tätigkeit entfiele. Koenig / Kühling schlagen daher einen anderen Ansatz vor: „Im Bereich der Versicherungstätigkeit ist vielmehr lediglich ein Kriterium erheblich, nämlich das Prinzip der Umlagefinanzierung. Nur der Staat kann mit seiner Zwangsgewalt die Kontinuität dieses Finanzierungsmodells gewährleisten und kann danach entsprechende Versicherungen in staatlicher, nichtunternehmerischer Form erbringen“ 231. Für die deutsche gesetzliche Unfallversicherung hebt auch Fuchs im Anschluss 229 Für das LSG Baden-Württemberg, HVBG-Info 2003, 1887, 1897, ist dies ein Element des Solidaritätsgrundsatzes, der aber mangels solidarischer Komponenten nicht zum tragen kommen kann. 230 Koenig / Kühling, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 86 Rn. 12. 231 Koenig / Kühling, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 86 Rn. 12.

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

an die Rechtsprechung zu INAIL darauf ab, dass jene noch stärker von unternehmerischer Tätigkeit entfernt sei, weil sie anders als dieses vollständig nach dem Umlageverfahren finanziert werde 232. Diese Ansätze sind insofern schon grundsätzlich trügerisch, als für den ursprünglichen Unternehmensbegriff des Europäischen Gerichtshofs die Art und Weise der Finanzierung unerheblich ist. Der EuGH selbst war in dieser Hinsicht zuweilen inkonsequent, hat aber gerade im Urteil „INAIL“ Ausführungen zur Finanzierung unterlassen. Es ist nur logisch, die Frage nach der wirtschaftlichen Tätigkeit einer Einrichtung unabhängig davon zu beantworten, wie diese sich finanziert. Es ist umgekehrt nicht einsehbar, warum die Finanzierungsart ausschlaggebend sein soll, ohne dass die Frage gestellt und beantwortet wird, zu welchem Zweck diese Finanzierungsart gewählt wird und – damit unter Umständen verknüpft – wie die Finanzierung im Detail ausgestaltet ist. Dabei bleibt unwidersprochen, dass nur der Staat durch Zwang garantieren kann, dass ein System wirtschaftlich existenzfähig ist, in dem die Lasten rückwirkend getragen werden. Dieser Zusammenhang sagt indes nichts darüber aus, wie dieses System ansonsten beschaffen ist, mithin ob die ausgeübte Tätigkeit eine wirtschaftliche ist. Der staatliche Zwang allein – mag er nun Beitragszahler zu einer Umlage oder zur Bildung eines Kapitalstocks verpflichten – schließt die Unternehmenseigenschaft nicht aus. Auch private Versicherungsunternehmen können mittels eines Umlageverfahrens Kosten plus Gewinn decken lassen 233. Umgekehrt gehört das Umlageverfahren auch im deutschen Sozialversicherungsrecht keineswegs zu den Kernelementen: Die Geschichte des Umlageverfahrens ist durchaus belastet zu nennen, seine Entstehung eher aus der Not der Plünderung der Kapitalstöcke durch die NS-Diktatur geboren 234. Ein ausdrücklich sozialpolitisches Ziel wurde dabei nicht verfolgt. Das Umlageverfahren besagt lediglich, dass die in einem bestimmten Bezugszeitraum anfallenden Lasten durch die aktuellen Beiträge zu tragen sind. Haverkate / Huster widersprechen daher der umverteilenden Wirkung dieses Verfahrens 235. Das soziale – womöglich gar umverteilende, jedenfalls aber eben nicht wirtschaftliche – Wesen einer Sozialversicherung kann das Umlageverfahren aber ausprägen, wenn die Beiträge zur Umlage nach sozialen Kriterien ausgestaltet sind. In der gesetzlichen Unfallversicherung ist ausschlaggebend für die Beitragshöhe zwar auch das Umlagesoll. Wie hoch der einzelne Beitrag im Unterschied zu einem anderen ist, richtet sich jedoch nach dem durch das Unternehmen eingebrachte Risiko. Risiko- bzw. Einzeläquivalenz sind aber gerade kein Beleg für das soziale Gepräge einer Versicherung. Das Umlageverfahren kann 232

Fuchs, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, Kap. 4 Rn. 13. Es wird vereinzelt auch heute noch praktiziert, Weigel, in: Prölss (Hrsg.), VAG, § 24 Rn. 12. 234 Haverkate / Huster, Europäisches Sozialrecht, Rn. 489. 235 Haverkate / Huster, Europäisches Sozialrecht, Rn. 511. 233

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also weder für sich genommen im allgemeinen noch in der speziellen Form in der gesetzlichen Unfallversicherung die Unternehmenseigenschaft ausschließen. d) Kriterium der Substituierbarkeit Die Kernelemente der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung erfüllen, ohne auf solidarische Umverteilung angelegt zu sein, einen sozialen Zweck. Dieser ist indes für den Europäischen Gerichtshof kein hinreichendes Argument gegen die Unternehmenseigenschaft. Umgekehrt muss aber gelten, dass auch nach der EuGH-Rechtsprechung nur das Fehlen des Solidaritätsgrundsatzes nicht ausreichen wird, um eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts anzunehmen. Die akzeptierte Definition der wirtschaftlichen Tätigkeit lautet: Anbieten von Gütern oder Dienstleistungen auf einem Markt. Bei Pflichtversicherungsmonopolen stellt sich das Problem, das wegen des Zwangscharakters kein Markt existiert. Weil aber die gesetzliche Regelung, die zum so geschaffenen Faktum führt, gerade in Frage steht, muss die Frage aufgeworfen werden, ob ein Markt denkbar ist, wenn das Monopol nicht bestünde. In der Konsequenz geht es also um das Kriterium der Vergleichbarkeit oder Substituierbarkeit des in Rede stehenden öffentlich-rechtlichen Systems mit einem privatrechtlichen. Eine wirtschaftliche Betätigung liegt danach nur dann nicht vor, wenn die Tätigkeit ihrer Art nach nur von öffentlichen Einrichtungen ausgeübt werden kann 236. Dabei genügt es jedoch nicht, dass durch bestimmte Regulation der Privatwirtschaft die gleichen Zwecke, aber doch in völlig abweichender Ausgestaltung der Mittel erreicht werden könnten 237. Insoweit gilt auch hier die mitgliedstaatliche Kompetenz zur Ausgestaltung der Systeme der sozialen Sicherung, die schon begrifflich auch die Wahl der Mittel einschließt. Das Kriterium der Substituierbarkeit bzw. der hypothetische Vergleich mit einem (auch) privatrechtlich geregelten System auf einem fiktiven Markt wird vielfach herangezogen, um insbesondere die aufgezeigten Schwierigkeiten mit den Kriterien des EuGH zu vermeiden 238. Auch dem EuGH ging es in der Rechtssache „INAIL“ zuvörderst darum, dass das System „offensichtlich zum Schutz aller Versicherten gegen die wirtschaftlichen Folgen von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten“ 239 organisiert war, mithin um die Zielrichtung des Systems.

236

Weiß, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EGV und EUV, Art. 81 EG Rn. 37. Penner, Monopolschutz für die Unfallversicherung, NZS 2003, S. 234, 237. 238 Seewald, Kein Monopol der gesetzlichen Unfallversicherung Teil II, SGB 2004, S. 453, 457; Weiß, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EGV und EUV, Art. 81 EG Rn. 37; Penner, Monopolschutz für die Unfallversicherung, NZS 2003, S. 234, 236 f.; in dem Sinne wohl auch Haverkate / Huster, Europäisches Sozialrecht, Rn. 497; BSGE 91, 263, 266. 239 EuGH Slg. 2002, I-691, 730 Rn. 36. 237

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

Zu fragen ist dann, wie eine private Versicherung beschaffen sein muss, um die Ziele der gesetzlichen Unfallversicherung mit den gleichen oder zumindest vergleichbaren Mittel zu erreichen. Dass ein Nebeneinander von gesetzlicher und privater Versicherung grundsätzlich möglich ist, zeigt die Praxis in anderen Zweigen 240. Kern auch der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung ist der Schutz der abhängig Beschäftigten vor den speziellen Wechselfällen des Lebens Arbeitsunfall und Berufskrankheit. Der Auftrag dazu folgt unmittelbar aus dem Sozialstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG. Ein grundlegendes Merkmal stellt auch die Entscheidung dar, dass die Lasten ausschließlich durch die Arbeitgeber zu tragen sind. Dies folgt aus der Risikozuschreibung innerhalb des betrieblichen und arbeitsrechtlichen Verhältnisses zwischen Unternehmer und abhängig Beschäftigtem einerseits und aus einer – juristisch schwerer fassbaren – Verantwortlichkeitsbeziehung des einen für den anderen andererseits. aa) Pflicht zum Abschluss einer privaten Haftpflichtversicherung Eine gesetzliche Verpflichtung der Unternehmer, eine privatrechtliche Haftpflichtversicherung abzuschließen und so die Risiken Arbeitsunfall und Berufskrankheit abzusichern, vermag nur oberflächlich betrachtet eine gangbare Alternative für die gesetzliche Unfallversicherung zu sein. Versicherungsfall in der Haftpflichtversicherung ist die Haftung, also die Inanspruchnahme des Versicherungsnehmers aufgrund eines Haftungstatbestands. Die Leistungspflicht des Versicherers ist damit akzessorisch, also davon abhängig, ob der Versicherungsnehmer haftpflichtig geworden ist 241. Wesen der gesetzlichen Unfallversicherung ist jedoch der Ausschluss der Haftung. Ein privatrechtliches Haftungssystem soll gerade nicht bestehen 242. Hinzu kommt, dass durch die Haftungsersetzung auch der Betriebsfrieden in besonderer Weise gewahrt wird: Die Prüfung eines Haftungstatbestandes ist ebenso wenig nötig wie die Untersuchung, ob eigenes Verschulden des Verletzten die Haftung des Unternehmers einschränkt oder ausschließt. Es ist fraglich, ob eine Haftpflichtversicherung der Unternehmer diese Ziele auch erreichen könnte. In Betracht käme am ehesten eine Versicherungspflicht gegen die Gefährdungshaftung, der der Unternehmer unterliegen müsste, weil nur sie unabhängig vom Verschulden des Unternehmers wäre, sondern ihm aus dem Gefährdungstatbestand Führen eines Unternehmens das Risiko zuschriebe. In den bekannten Formen der Gefährdungshaftung spielt aber das Verschulden oder Mitverschulden des Geschädigten 240 Zur bipolaren Versicherungsordnung in Deutschland Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 164 ff. 241 Hofmann, Privatversicherungsrecht, § 19 Rn. 73. 242 Fuchs / Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 434; zu den Gründen ausführlich oben 1. Teil, II.4.b)aa).

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eine haftungsmindernde Rolle 243. Dies und die damit verbundene Notwendigkeit, ein Mitverschulden mitunter prozessual festzustellen, widerspricht aber Prinzipien der Unfallversicherung, namentlich dem Versichertenschutz und dem Betriebsfrieden. Zwar sind auch die sozialgerichtlichen Verfahren voll mit Untersuchungen über genaue Unfallhergänge zur Bestätigung oder Ablehnung des Versicherungsfalls gemäß § 8 SGB VII. Dabei ist jedoch der Unternehmer höchstens als Zeuge und damit auf qualitativ andere Weise beteiligt als in einem Haftpflichtprozess zwischen Geschädigtem und Versicherungsnehmer, in dem festgestellt werden muss, ob dieser haftpflichtig geworden ist 244. Auch in der Kfz-Haftpflichtversicherung ist dies nicht wesentlich anders, obwohl bei ihr anders als in den übrigen Haftpflichtversicherungen ein Direktanspruch gegen den Versicherer besteht. Der Versicherer ist jedoch nicht alleiniger Schuldner, sondern Gesamtschuldner mit dem Versicherungsnehmer 245, auch die Akzessorietät bleibt Voraussetzung. Eine Haftpflichtversicherung der Unternehmer kann also insbesondere im Hinblick auf die Mittel nicht als hypothetischer Vergleich mit der gesetzlichen Unfallversicherung dienen. Kernelemente der Unfallversicherung können durch sie nicht verwirklicht werden, denn eine Absage an den Haftungsausschluss wäre eine deutlich andere Ausgestaltung dieses speziellen Sicherungssystems. Auch daran, ob ein vergleichbarer Schutz zugunsten der Beschäftigten zu erreichen ist, ergeben sich erhebliche Zweifel. bb) Pflicht zum Abschluss einer privaten Unfall- und Krankenversicherung auf fremde Rechnung Der hypothetische Vergleich kann sich aber auf eine private Unfallversicherung auf fremde Rechnung beziehen. Auch hier ist zu fragen, ob diese Form der Versicherung die Ziele der Unfallversicherung erreichen könnte, ohne dabei auf eine völlig abweichende Ausgestaltung der Mittel zurückgreifen zu müssen. Ist das der Fall, kann die – zugegeben im Raum der Mutmaßung sich bewegende – Überlegung anschließen, ob eine solche Versicherung im Wettbewerb von privaten Versicherern tatsächlich angeboten würde. Gemäß § 74 Abs. 1 VVG kann eine Versicherung im eigenen Namen für einen anderen genommen werden. In §§ 179 ff. VVG ist die private Unfallversicherung geregelt, die ebenfalls gemäß § 179 Abs. 1 und 2 VVG gegen Unfälle, die einem anderen zustoßen, möglich ist. Diese Versicherung gilt im Zweifel als für die Rechnung des anderen genommen, so dass die §§ 75 ff. VVG entsprechend gelten. Denkbar ist auch ein sogenannter Gruppenversicherungsvertrag, durch den 243 244 245

Fuchs, Deliktsrecht, S. 229. Hofmann, Privatversicherungsrecht, § 19 Rn. 81. Hofmann, Privatversicherungsrecht, § 19 Rn. 91.

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

mehrere Personen Berechtigte im Sinne des § 179 Abs. 2 VVG werden 246. Ein Unternehmer könnte also eine Unfallversicherung auf fremde Rechnung abschließen, in der er die Prämien für die Versicherung zugunsten der bei ihm Beschäftigten zahlt. Versichert in einem derartigen System wären also nach wie vor die Beschäftigten, während die Unternehmer die Lasten zu tragen hätten. (1) Zu versichernde Risiken Es müssten dieselben Risiken durch vergleichbare Leistungen im Versicherungsfall abgesichert werden. Versichert in der Unfallversicherung ist primär das Risiko des Beschäftigten, einen Arbeitsunfall zu erleiden oder an einer Berufskrankheit zu erkranken, so dass die Erwerbsfähigkeit gemindert oder ganz ausgeschlossen ist. Im System der gesetzlichen Unfallversicherung stellt außerdem der Wegeunfall gemäß § 8 Abs. 2 SGB VII einen Fall des Arbeitsunfalls dar. Das private Versicherungsvertragsrecht greift neben den gesetzlichen Grundlagen etwa im VVG in erheblichem Umfang auf allgemeine Versicherungsbedingungen zurück, die vom Gesamtverband der Schadensversicherer als Empfehlung herausgegeben werden. Für die Unfallversicherung bestehen die Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB) 247, die regelmäßig in privatrechtliche Unfallversicherungsverträge einbezogen werden. Weil eine Begriffsbestimmung im VVG fehlt, definiert § 1 Abs. 3 AUB den Begriff des Unfalls als plötzlich von außen auf den Körper wirkendes Ereignis, durch das der Versicherte unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet. Diese Definition weicht ab von derjenigen in § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII, in der insbesondere die Voraussetzung der Unfreiwilligkeit fehlt. Will man jedoch einen vergleichbaren Versichertenschutz in einer privatrechtlichen Unfallversicherung erreichen, wird man die Definition dessen, was ein Unfall in einer Beschäftigten-Unfallversicherung ist, nicht der Gestaltung in Vertragsbedingungen überlassen. Erforderlich und in der Praxis auch denkbar ist eine gesetzliche Vorgabe dessen, was Versicherungsfall ist. So würde gewährleistet, dass die Beschäftigten effektiv gegen die genannten Risiken geschützt werden. Auch eine private Unfallversicherung müsste also auch Wegeunfälle und Berufskrankheiten versichern, so dass zumindest die aktuellen AUB zu kurz griffen. Dies schließt jedoch nicht aus, dass eine private Versicherung auch gegen diese Risiken versichern könnte, zu unterstreichen ist aber, dass sie es auch müsste, um die gesetzliche Unfallversicherung zu substituieren. (2) Zu gewährende Leistungen Neben den versicherten Risiken müssten auch die Leistungen nach Eintritt des Versicherungsfalls so gestaltet sein, dass sie die sozialen Ziele der gesetzlichen 246 247

Hofmann, Privatversicherungsrecht, § 21 Rn. 3. Abgedruckt etwa bei Prölss / Martin (Hrsg.), VVG, S. 2505 ff.

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Unfallversicherung zu erreichen im Stande sind. Dazu gehört, dass ein Verschulden des Geschädigten die Leistungsansprüche nicht ausschließen darf, weshalb das Kriterium der Unfreiwilligkeit oder die Vorschrift des § 178l VVG für die private Krankenversicherung keine Anwendung finden dürfte, wozu eine entsprechende vertragliche Ausgestaltung gesetzlich vorzugeben wäre. Das Prinzip der automatischen Leistungsgewährung, kraft Gesetzes und von Amts wegen ist jedoch eines, das denklogisch nur durch eine öffentlich-rechtlich organisierte Unfallversicherung verwirklicht werden kann. Der Grundsatz der privaten Versicherung hingegen lautet darauf, dass Versicherungsschutz abhängig ist von der Prämienzahlung. Für private Unfallversicherungsverträge formuliert dies § 4 Abs. 1 AUB ausdrücklich vor. Durch diese Bedingungen liefe der Schutz der Beschäftigten leer, weil er von der Liquidität und Zahlungsmoral des Unternehmers abhängig wäre. Dieses Risiko existiert indes auch in anderen Bereichen, die klassischerweise privat versichert werden, obwohl sie auch einen sozialen Gehalt haben: Die Versicherungspflicht der Kfz-Halter erfüllt ebenfalls eine gewisse soziale Schutzfunktion zugunsten potenzieller Opfer aus Unfällen im Straßenverkehr. Hier existiert ein anderes Sicherungssyszem: Gemäß §§ 18 Abs. 1, 23 Abs. 1 Nr. 5 StVZO werden Fahrzeuge nur für den Straßenverkehr zugelassen, wenn eine Haftpflichtversicherung nachgewiesen wird. Der Schutz wird dadurch umfassend, dass alle Beteiligten (Versicherungsnehmer, Versicherer, Zulassungsstellen) zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet sind, das eine Lücke im Schutzsystem ausschließt. Nicht entrichtete Prämien etwa, die den Versicherungsschutz beenden, haben im Ergebnis den Entzug der Zulassung zur Folge. Kommt es trotzdem zu einer Schädigung durch das nicht mehr versicherte Fahrzeug, wird das Liquiditätsrisiko zuletzt durch den „Entschädigungsfonds für Schäden aus Kraftfahrzeugunfällen“ (§§ 12 ff. PflVG) aufgefangen, gegen den die Geschädigten ihren Schadensersatzanspruch nötigenfalls geltend machen können 248. Ein vergleichbar lückenloser Schutz in der Unfallversicherung der abhängig Beschäftigten ist ohne öffentlich-rechtliche Ausgestaltung insofern schwer zu erreichen, als es kein Zulassungsverfahren für Unternehmen gibt. Der Begriff des Unternehmens im SGB VII ist deshalb als so weiter Tatbestand formuliert, damit möglichst alle Tätigkeiten erfasst werden können. Nicht alle Unternehmungen, in denen Beschäftigte Versicherungsschutz genießen sollen, werden aber durch staatliche Stellen erfasst. Kontrolle, Durchsetzbarkeit und lückenloser Schutz vor dem Liquiditätsrisiko bei einer privaten Pflichtversicherung sind also nicht durch eine bestimmte Verwaltungstechnik möglich. Zwar könnte etwa ein Eintrag ins Handelsregister, die Erteilung eines Gewerbescheins oder die Genehmigung einer gefährlichen Anlage an den Nachweis einer abgeschlossenen Unfallversicherung für die potenziell Beschäftigten geknüpft werden. Dieses System brächte aber Lücken bei Unternehmensformen mit sich, die nicht an Genehmigungen und 248

Kötz, Deliktsrecht, Rn. 405 ff.

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ähnliches gebunden und auch sonst nicht behördlich erfasst sind. Einzig ein Entschädigungsfonds könnte gewährleisten, dass privat gegen Unfall Versicherte nicht wegen Beitragssäumnis eines illiquiden Unternehmers entschädigungslos blieben. Eine private Unfallversicherung müsste also gewährleisten, dass insgesamt keine Lücken im Schutz entstehen. Sie müsste zudem bei den einzelnen Leistungsarten das soziale Schutzprinzip verwirklichen. Weniger problematisch ist dieser hypothetische Vergleich in Bezug auf die Entschädigungsleistungen in Geld durch die Unfallversicherung. Traditionell ist die private Unfallversicherung eine Summenversicherung, in der bei Eintritt des Versicherungsfalls eine vorher festgelegte Summe vom Versicherer an den Versicherungsnehmer bzw. an den Begünstigten ausgezahlt wird 249. In § 7 AUB sind die Leistungsarten der privaten Unfallversicherung auf die Bestandteile Tagegeld, Invaliditätssumme und Todesfallentschädigung festgelegt. Auch hier gilt, dass für einen angemessenen Beschäftigtenschutz die Ausgestaltung der Geldleistungen im Versicherungsfall nicht der Privatautonomie von Versicherer und Unternehmer unter Einbeziehung vorformulierter Vertragsbedingungen anheim gestellt werden kann. Auch hier sind gesetzliche Mindestregelungen denkbar, durch die etwa die Geldleistungen abhängig sein müssen nicht nur von dem Grad der Erwerbsminderung, sondern auch vom Einkommen des Beschäftigten. Durch einen Vertragsabschluss, der gesetzliche Mindestvorgaben einhalten muss, lassen sich auch weitere Ziele der gesetzlichen Unfallversicherung erreichen, ohne dass sich die Mittel wesentlich änderten: Die Hinterbliebenenversorgung – schon in der existierenden privaten Unfallversicherung durch die Todesfallentschädigung im Prinzip realisiert – sowie die Gewährung einer Mindestrente wurden im ersten Teil als Elemente des sozialen Ausgleichs qualifiziert, weil durch sie sekundäre Risiken abgesichert werden, ohne dass die Versicherten stärker belastet werden. Dieser soziale Ausgleich ließe sich auch durch eine privatrechtliche Lösung verwirklichen, wenn ein Gesetz entsprechende Vorgaben durch zwingende oder halb-zwingende Vorschriften 250 bestimmte. Das Leistungsrecht der gesetzlichen Unfallversicherung kennt neben diesen Geldleistungen die Leistungen zur Teilhabe und zur Rehabilitation. Das Gesetz selbst setzt diese Leistungsarten in ein Rangverhältnis, indem es in § 26 Abs. 3 SGB VII den Grundsatz normiert, dass Heilbehandlung und Rehabilitation Vorrang haben. Sie werden außerdem gemäß § 26 Abs. 4 Satz 2 SGB VII regelmäßig als Dienst- oder Sachleistung erbracht, bei der sozialen Rehabilitation gemäß §§ 39 ff. SGB VII sind auch Geldleistungen vorgesehen. Über die 249

Knappmann, in: Prölss / Martin (Hrsg.), VVG, § 179 Rn. 1. Zum Begriff Weyers / Wandt, Versicherungsvertragsrecht, Rn. 139 ff.; wobei die halbzwingenden freilich nur zum Vorteil der versicherten Beschäftigten abbedungen werden können. 250

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reine Leistungsgewährung hinausgehend müssen die Unfallversicherungsträger alle Maßnahmen treffen, um eine möglichst frühzeitig nach dem Versicherungsfall einsetzende, sachgemäße Heilbehandlung und erforderlichenfalls besondere unfallmedizinische oder Berufskrankheitenbehandlung zu gewährleisten 251. Für eine privatrechtliche Alternative der Unfallversicherung wirft das Schwierigkeiten auf. Zum einen kennt die bestehende private Unfallversicherung keine Rehabilitation. Als Summenversicherung ist sie darauf angelegt, eine bestimmte, vorher vereinbarte Versicherungssumme bei Eintritt des Versicherungsfalls an den Begünstigten auszuzahlen. Der Versicherungsfall wird als für sich wertneutrale Voraussetzung für die Leistung begriffen. In der gesetzlichen Unfallversicherung ist der Versicherungsfall zwar auch Voraussetzung für die Leistungspflicht der Unfallversicherungsträger. Durch seinen Eintritt realisiert sich in wertender Hinsicht ein Wechselfall des Lebens. Wesen der Sozialversicherung ist es, die Wechselfälle des Lebens so gut wie möglich abzusichern. Dazu gehört in der gesetzlichen Unfallversicherung, dafür zu sorgen, dass der Versicherungsfall so wenig Auswirkungen wie möglich auf die Erwerbsfähigkeit des Versicherten hat: § 1 Nr. 2 SGB VII gibt den Unfallversicherungsträgern auf, mit allen geeigneten Mitteln die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Versicherten wiederherzustellen. Die Aufgabe der Rehabilitation ist mithin Wesenselement der gewerblichen Unfallversicherung als Beschäftigtenversicherung. Eine private Unfallversicherung, die nur Summenversicherung bliebe, könnte also die Aufgaben des jetzt öffentlichrechtlich organisierten Systems nicht adäquat erfüllen. Im Hinblick auf Heilbehandlung existiert jedoch in Form der privaten Krankenversicherung auch ein privatrechtliches System, das eine Absicherung gegen diese Risiken ermöglicht. Die rechtlichen Grundlagen sind in §§ 178a ff. VVG geregelt. Die Grundsätze und Modalitäten ließen sich auf sämtliche Bereiche der Rehabilitation übertragen. Gemäß § 178a Abs. 1 VVG kann die Krankenversicherung ebenfalls auf fremde Rechnung genommen werden, so dass diese andere Person versichert im Sinne des VVG ist 252. Die private Krankenversicherung in der bestehenden Form ist Schadensversicherung 253: Sie gewährt gemäß § 178b Abs. 1 VVG Kostenersatz für entstandene Aufwendungen; ein Sach- und Dienstleistungsprinzip ist der Privatversicherung also im Grundsatz fremd. Darin liegt eine große Hürde im hypothetischen Vergleich der gesetzlichen Unfallversicherung mit einer privatrechtlichen Lösung begründet. Das Sachleistungsprinzip, das sowohl in der gesetzlichen Unfallversicherung als auch in der gesetzlichen Krankenversicherung verankert ist, verfolgt 251

Fuchs / Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 588. Und damit gemäß § 75 VVG Inhaberin der Rechte aus dem Vertrag, zur Abdingbarkeit des anderslautenden § 178a Abs. 2 VVG vgl. Prölss, in: Prölss / Martin, VVG, § 178a Rn. 4 ff. 253 Zum Begriff Schimikowski, Versicherungsvertragsrecht, Rn. 290. 252

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sozialstaatliche Ziele 254: Gesundheitspolitisch wird sichergestellt, dass der Versicherte die medizinischen Leistungen auch wirklich erhält. Sozialpolitisch ist das Prinzip darauf angelegt, die wirtschaftliche Existenzgrundlage des Versicherten zu erhalten und ihm nicht die auch nur vorläufige Tragung der Kosten aufzubürden. Sach- und Dienstleistungen sind typischerweise auf den Bedarf bezogen 255. Auf den Bedarf bezogen ist zwar auch die private Krankenversicherung, da sich die Leistungen aus den konkreten Krankheitskosten berechnen 256, fraglich ist jedoch, ob durch ein Kostenerstattungssystem ein der gesetzlichen Unfallversicherung vergleichbares Schutzziel erreicht werden könnte oder ob umgekehrt der privatrechtlichen Alternative eine Leistungsgewährung nach dem Sachleistungsprinzip vorgegeben werden müsste und könnte. Von einem Kostenerstattungsverfahren, bei dem die Beschäftigten in Vorleistung treten müssen, werden gerade die Bezieher mittlerer und geringer Einkommen benachteiligt, weil ihnen die Vorleistung, zumal bei kostenintensiven aufwendigen Behandlungsverfahren, mit sinkendem Einkommensniveau mangels finanzieller Spielräume umso schwerer fallen muss. In diesen Fällen steigt die Gefahr, dass Rehabilitationsmaßnahmen gar nicht erst ergriffen werden oder die Betroffenen wegen der Disposition in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten – beide Auswirkungen lassen sich nicht mit dem Schutzziel der Unfallversicherung vereinbaren. Zu denken wäre jedoch daran, die Vorleistungspflicht den Unternehmern aufzubürden. Als Versicherungsnehmer, der zur Prämienzahlung für die Versicherung seiner Beschäftigten verpflichtet ist, könnte ihn in der Konsequenz auch die vorläufige Kostentragung für die Behandlung des Beschäftigten treffen. In der Praxis hieße das, dass Rechnungen von Ärzten, Apotheken, Krankenhäusern und Rehabilitationseinrichtungen durch den Unternehmer beglichen würden, der sich diese Kosten seinerseits von der Versicherung erstatten ließe. Ob dieses Verfahren ein praktikables wäre, kann an dieser Stelle dahin stehen. Zweifel begegnet es dahingehend, ob auf diese Weise auch der Betriebsfrieden gewahrt bliebe. Dies wird davon abhängen, in welcher Weise das zivilrechtliche Verhältnis zwischen Leistungserbringer, Unternehmer und versichertem Beschäftigten ausgestaltet wäre. Nimmt ein Beschäftigter etwa nach einem Arbeitsunfall, der den hier hypothetisch dargestellten privaten Unfallund Krankenversicherungsschutz auslöst, die Dienste eines Arztes in Anspruch, so könnte nur dann der Unternehmer zur Zahlung des Entgelts verpflichtet sein, wenn er Vertragspartner – in der Konstruktion des Vertrags zugunsten Dritter gemäß § 328 ff. BGB – wird, der Beschäftigte ihn also bei Vertragschluss wirk254 Fuchs / Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 217; ausführlicher Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, S. 246 ff.; Behrends, Grenzen des Privatrechts in der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 17 ff. 255 von Maydell, in: v. Maydell / Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, Kap. 1 Rn. 19. 256 Weyers / Wandt, Versicherungsvertragsrecht, Rn. 855. Als Summenversicherungen sind hingegen die Krankenhaus- und Krankentagegeldversicherung in der privaten Krankenversicherung; Weyers / Wandt, Rn. 856 f.

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sam vertreten kann. In jedem Fall käme es zu einer Rechtsbeziehung zwischen Unternehmer und Beschäftigtem, die über das Arbeitsverhältnis hinausgeht und dieses im Konfliktfall belasten könnte. Das soziale Schutzprinzip der Unfallversicherung wäre also in einer privatrechtlichen Alternative dann am besten verwirklicht, wenn in dieser Alternative die Leistungen zur Heilbehandlung und Rehabilitation im weiteren Sinne auch als Dienst- und Sachleistungen zu erbringen wären. Schon die gesetzliche Regelung zur privaten Krankenversicherung schließt dies nicht absolut aus 257, auch wenn in § 178b VVG das Kostenerstattungsprinzip geregelt ist. Möglichkeiten, Sachleistungen auch in der privaten Krankenversicherung durch ein sogenanntes Managed-Care-System zwischen Versicherern und Leistungserbringern zu gewähren, werden seit längerem erwogen. Sie sind in anderen Ländern erprobt und teilweise in den privaten Krankenversicherungsschutz einbezogen 258. In diesem System schließen private Krankenversicherer Verträge mit Leistungserbringern ab, deren Leistungen wiederum die Versicherten in Anspruch nehmen. In den praktisch realisierten Formen dieses Systems werden häufig medizinische Zentren eingerichtet, in denen unterschiedliche, dann auch wählbare Leistungen angeboten werden; zum Teil werden die Versicherer selbst Teilhaber an juristischen Personen, die die Leistungen erbringen. Zwar ergeben sich im Hinblick auf die herkömmliche private Krankenversicherung rechtliche Zweifel etwa im Hinblick auf den Grundsatz der freien Arztwahl 259. Diese Fragestellung ist für den hier interessierenden Ansatz jedoch ohne Belang, da die in den Genuss des Versicherungsschutzes kommenden Beschäftigten gerade nicht zugleich in den Genuss privatautonomer Vertragsgestaltung kommen müssen – denn dies ist auch im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung nicht der Fall. Vielmehr erinnert die Idee der Teilhaberschaft von privaten Versicherern an Einrichtungen zur Leistungserbringung an die existierenden Unfallkliniken, die durch die gewerblichen Berufsgenossenschaften getragen werden 260. Im Ergebnis hier entscheidend ist, dass die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung zumindest theoretisch auch durch private Versicherungen angeboten werden könnten. (3) Sonstige Aufgaben Der hypothetische Vergleich wurde bisher auf die zu versichernden Risiken und die zu gewährenden Leistungen bezogen. Die Risiken Arbeitsunfall und Berufskrankheit abzusichern, indem bei ihrem Eintritt, also bei Eintritt des so definierten 257

Prölss, in: Prölss / Martin (Hrsg.), VVG, § 178b Rn. 3a. Weyers / Wandt, Versicherungsvertragsrecht, Rn. 875; Schoenfeldt / Kalis, VersR 2001, S. 1325, 1329 ff. 259 Prölss, in: Prölss / Martin (Hrsg.), VVG, § 178b Rn. 3a. 260 Informationen über die Berufsgenossenschaftlichen Kliniken abrufbar auf http:// www.hvbg.de/d/bg_kliniken/index.html. 258

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Versicherungsfalls Leistungen gewährt werden, ist die klassische Funktion einer Versicherung. Die gesetzliche Unfallversicherung hat gemäß § 1 Nr. 1 SGB VII zudem noch die Aufgabe, Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu verhüten. Die Prävention stellt einen eigenen Aufgabenbereich dar, der dem funktionalen Unternehmensbegriff entsprechend von der Funktion der Unfallversicherung als Versicherer zu trennen ist. Für die Frage der Unternehmenseigenschaft dieser Funktion ist also unerheblich, ob sonstige Aufgaben und Funktion – seien sie auch gesetzlich festgeschrieben – durch eine privatrechtliche Versicherung substituierbar sind. (4) Bewertung Der hypothetische Vergleich hat gezeigt, dass die Funktion der gesetzlichen Unfallversicherung als Versicherung der Beschäftigten gegen Arbeitsunfall und Berufskrankheit zumindest theoretisch durch eine private Versicherung ersetzt werden könnte. Dafür ist die weithin akzeptierte EuGH-Formel wichtig, dass das Gemeinschaftsrecht die Befugnis der Mitgliedstaaten, ihre sozialen Sicherungssysteme auszugestalten, unberührt lässt. Ausgestaltung meint schon begrifflich die Bestimmung des verfolgten sozialen Ziels und auch die Wahl der Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Um ein öffentlich-rechtliches System hypothetisch zu ersetzen oder zu ergänzen, muss ein privatrechtliches dieselben Ziele verwirklichen können, ohne die Mittel gänzlich umzugestalten. Das gilt insbesondere dann, wenn die gewählten Mittel nicht Selbstzweck sind, sondern gerade durch sie der soziale Zweck oder ein damit verbundenes Grundprinzip erreicht wird. Die Berufsgenossenschaften üben also eine wirtschaftliche Tätigkeit aus, wenn private Unternehmen die Funktion als Versicherung mit denselben Prinzipien und nicht ganz abweichenden Mitteln übernehmen können. Eine private (Gruppen-)Unfallversicherung des Unternehmers für fremde Rechnung, in der auch Berufskrankheiten und Wegeunfälle versichert sind und neben Renten auch Leistungen zur Rehabilitation gewährt werden, kann diese Funktion erfüllen. Gesetzliche Mindestregelungen müssten sicherstellen, dass weitere Elemente des sozialen Schutzprinzips, etwa die Unabhängigkeit der Leistung vom Verschulden, die Absicherung vor dem Liquiditätsrisiko des Unternehmers durch einen Entschädigungsfonds oder die Vermeidung einer Vorleistungspflicht des Beschäftigten idealerweise durch ein Sachleistungsprinzip Bestandteil des privaten Versicherungsvertrags würden. Zusammengefasst müsste ein privates Versicherungssystem den gleichen Schutz unter Zugrundelegung der gleichen Prinzipien gewährleisten. Das bedeutet aber auch, dass nicht die Schutzbedürftigen selbst mit möglicherweise höheren Kosten durch einen (hypothetischen) Systemwechsel belastet werden. Anderenfalls würde das soziale Schutzprinzip ad absurdum geführt. Für den Vergleich mit einer privatrechtlichen Alternative ist also auch deren mögliche wirtschaftliche Auswirkung von Belang. Dabei kann es zum einen darum gehen, ob private Unternehmen überhaupt ein wirtschaftliches Interesse daran hätten,

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eine notwendigerweise stark reglementierte Versicherung anzubieten, oder anders gewendet, ob eine solche Versicherung unter ökonomischen Gesichtpunkten im Wettbewerb anbietbar ist. Diese Frage muss in dieser Untersuchung jedoch offen bleiben. Erwägungen zur ökonomischen Sinnhaftigkeit für das einzelne Versicherungsunternehmen dürfen und müssen für die Frage der hypothetischen Substituierbarkeit ohne Belang sein. Ökonomische Erwägungen spielen aber insofern eine Rolle, und das ist der zweite Aspekt, als privatwirtschaftliche Unternehmen mit Gewinnerzielungsabsicht hohe Kosten auf die Vertragspartner abzuwälzen versuchen. Deshalb ist im Privatversicherungsrecht das Äquivalenzprinzip herrschend. Und das ist ferner der Grund dafür, dass Sozialversicherungssysteme, die das Äquivalenzprinzip ausschließen und statt seiner eine solidarische, risikounabhängige Finanzierung umsetzen, nicht substituierbar sind. Hier reichen sich der vom Europäischen Gerichtshof geprägte Grundsatz der Solidarität und das durch die Literatur geprägte Kriterium der Substituierbarkeit die Hand. Ein Blick auf das Recht der Krankenversicherung verdeutlicht dies: Eine Grundentscheidung der gesetzlichen Krankenversicherung legt fest, dass der Schutz für den Versicherten und etwaigen mitversicherten Familienangehörigen unabhängig von einer individuellen Risikoprüfung etwa auf Vorerkrankungen oder andere Gefährdungen zu gesetzlich bestimmten Konditionen für Beiträge und Leistungen entsteht. Dies wird ermöglicht dadurch, dass die aus den unkalkulierbaren und unkalkulierten Risiken entstehenden Lasten durch gemeinsame Tragung einer ebenfalls gesetzlich verpflichteten Solidargemeinschaft aufgefangen werden. Einem privaten Versicherungsunternehmen, das schon die Leistungen der Krankenversicherung nach gesetzlichen Vorgaben, namentlich dem Prinzip der Kostenerstattung erbringt, könnte nicht noch zusätzlich eine Ausgestaltung der Prämien unabhängig vom Risiko durch Gesetz vorgeschrieben werden. Zum einen bliebe dann kein Raum mehr für privatautonome Vertragsgestaltung. Zum anderen könnte eine private Versicherung auf diese Weise nicht wirtschaftlich arbeiten, weil ihr – mangels Versicherungspflicht und Strukturausgleich – eine angemessen große Solidargemeinschaft, die die Prämien aufbringt, nicht zwingend zur Verfügung steht. Ein privates Versicherungsunternehmen muss also, um wirtschaftlich und privatautonom Krankenversicherungsschutz anbieten zu können, ein Prämiensystem nach rein versicherungstechnischen Aspekten, also vor allem den Grundsätzen von Global- und Einzeläquivalenz zugrundelegen. Deshalb wäre es für das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung in der bestehenden Ausgestaltung höchst zweifelhaft, ob die gesetzliche Versicherung privatrechtlich substituierbar wäre: Von einer risikoäquivalenten Prämiengestaltung wären Versicherte mit hohem Risiko und geringer Leistungsfähigkeit am stärksten betroffen, also gerade diejenigen Personengruppen, die durch die gesetzliche Krankenversicherung als Zweig der Sozialversicherung besonders geschützt werden müssen. Eine privatrechtliche Ausgestaltung gäbe damit ein Prinzip auf 261.

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Diese Hürde stellt sich dem hypothetischen Vergleich innerhalb des Unfallversicherungsrechts jedoch nicht auf gleiche Weise: Die Beitragsfinanzierung ist schon in der gesetzlichen Unfallversicherung in erster Linie und ganz überwiegend risikoorientiert. Vor allem durch die Einteilung der Beitragspflichtigen in Gefahrklassen und das individuelle Beitragsausgleichsverfahren gemäß § 162 SGB VII wird die Höhe des Beitrags an das eingebrachte Risiko gekoppelt. Auch die Lohnsumme als Parameter der Beitragshöhe setzt den Beitrag in einen Bezug zum versicherten Risiko. Er ist insofern mit einem privaten Versicherungsvertrag vergleichbar, als in einer Summenversicherung die Höhe der Prämie auch von der vereinbarten Auszahlungssumme bei Eintritt des Versicherungsfalls abhängt. In der gesetzlichen Unfallversicherung knüpft die Höhe einer Geldleistung an den Jahresarbeitsverdienst, also den Lohn des Versicherten an. Demgegenüber vermag das Umlageverfahren allein diese Risikokopplung nicht aufzuheben. Es ist nicht ersichtlich, warum eine Finanzierung im Wege der Kapitaldeckung zu anderen Beiträgen führen sollte. Gleichwohl ist es möglich, dass eine hypothetische private Unfallversicherung auf Rechnung der Beschäftigten neben Gefahrklassen und Lohnsummen noch weitere Parameter – beispielsweise die mitversicherten Sekundärrisiken – anlegen würde, um eine betriebswirtschaftlich sinnvolle, einzeläquivalente Prämiengestaltung zu erreichen. Dadurch könnten bestimmte Versicherungsnehmer schlechter gestellt werden als in der gesetzlichen Unfallversicherung. Auswirkungen hätte dies jedoch nur auf die Unternehmer, die in der gesetzlichen Unfallversicherung allein den Beitrag, in der hypothetischen privaten allein die Prämie zahlen müssen. Unternehmer profitieren zwar wegen des Haftungssauschlusses von der Unfallversicherung, der Zweck ist jedoch nicht auf einen sozialen Schutz der Unternehmer ausgerichtet. Sie gehören nicht zu den sozial Schutzbedürftigen im Sinne des Sozialrechts und im Sinne des Sozialversicherungsrechts. Eine Mehrbelastung einzelner Unternehmer (-gruppen) durch eine privatrechtliche Ausgestaltung der Unfallversicherung ist mithin zwar denkbar. Sie stellte jedoch keinen Bruch mit einem Grundprinzip der sozialen Sicherung dar. Die Ziele der gesetzlichen Unfallversicherung könnten hypothetisch auch durch private Versicherungsunternehmen erreicht werden. Erforderlich dazu wäre, Mindestnormen für die privatvertragliche Ausgestaltung einer Unfall- und Berufskrankheitenversicherung auf fremde Rechnung gesetzlich festzulegen. Dies unterstellt, wären wesentliche Brüche mit den Prinzipen der Unfallversicherung nicht zu

261 Dabei lohnt sich sozialpolitisch freilich der Gedanke, ob dieser durch Umverteilung erzielte Schutz nicht auf andere Weise, etwa einen Zuschuss aus Steuermitteln erzielt werden könnte (vgl. Haverkate / Huster, Europäisches Sozialrecht, Rn. 499 ff.). Dieser Gedanke steht indes außerhalb der Frage um die Substituierbarkeit innerhalb der Art. 81 ff. EG, weil es sich um eine gänzlich andere Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme handelte.

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befürchten, somit käme es auch zu keiner gänzlich anderen Ausgestaltung der Mittel. e) Zwischenergebnis: Unternehmenseigenschaft der gesetzlichen Unfallversicherung Der durch die gemeinschaftsrechtliche Rechtsprechung geprägte Grundsatz der Solidarität ist, wenn man den Begriff seriös handhabt, in der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung kaum verwirklicht. An den wenigen Stellen, die auf Unternehmerseite solidarische Elemente verwirklichen, wird kein soziales Schutzprinzip verfolgt. Gleichwohl ist die gesetzliche Unfallversicherung im Hinblick auf die Versicherten stark vom sozialen Zweck, namentlich dem Schutz der abhängig Beschäftigten vor den Wechselfällen des Lebens als Risiko, mit der Erwerbsfähigkeit die wirtschaftliche Existenzgrundlage zu verlieren, dominiert. Dieses Schutzprinzip fließt unmittelbar aus der verfassungsrechtlichen Staatszielbestimmung der Sozialstaatlichkeit aus Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs reicht der soziale Zweck einer Einrichtung jedoch nicht aus, um ihre Unternehmenseigenschaft auszuschließen. Die Tätigkeit einer Einrichtung ist aber (nur) dann eine wirtschaftliche, wenn Güter oder Dienstleistungen auf einem Markt angeboten werden. Für die gesetzliche Unfallversicherung fehlt es wegen ihres Zwangscharakters an einem Markt. Seine Existenz ist jedoch nicht undenkbar: Entscheidend ist, ob bei einem hypothetischen Vergleich die Tätigkeit der Berufsgenossenschaften auch durch private Anbieter erbracht werden könnte. aa) Als Versicherer Nach dem funktionalen Verständnis des Unternehmens müssen für diesen Vergleich die einzelnen Tätigkeiten einer Einrichtung getrennt betrachtet werden. Bis hierher stand die Funktion der Berufsgenossenschaften als Versicherer gegen die Risiken Arbeitsunfall und Berufskrankheit im Fokus. Der Vergleich hat gezeigt, dass diese Funktion theoretisch durch eine privatrechtliche Versicherung substituierbar ist. Damit ist die Versicherungstätigkeit der Berufsgenossenschaften eine wirtschaftliche, in dieser Funktion sind sie folglich Unternehmen im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts. bb) Als Nachfrager Noch nicht näher beleuchtet wurde anhand des hypothetischen Vergleichs die Funktion der Berufsgenossenschaften, in der sie Leistungen auf dem Gesundheitsmarkt nachfragen, um sie ihrerseits im Rahmen des Sachleistungsprinzips ihren Versicherten als Versicherungsleistungen zu gewähren. Diese Funktion ist, wie

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gezeigt 262, die einzige, die ebenfalls Unternehmensqualität haben kann. Die reine Nachfragetätigkeit einer Einrichtung kann indes keine wirtschaftliche sein, weil zum einen deren Definition ein Anbieten von Gütern oder Dienstleistungen auf dem Markt voraussetzt. Zum anderen ließe dann auch das Nachfrageverhalten des Staates oder von Endverbrauchern diese zu Unternehmern werden. Erforderlich ist also eine Zusammenschau mindestens mit dem gesamten Vorgang aus Nachfrage und Verwendung. Im Festbetragsurteil untersuchte der Europäische Gerichtshof ebenso wie das Gericht erster Instanz in der Rechtssache FENIN zunächst die Unternehmenseigenschaft der gesamten Einrichtung als Versicherung. Vorliegend könnte man auf diesem Weg zu dem übereilten Schluss gelangen, wegen der Substituierbarkeit der Versicherungsfunktion der gesetzlichen Unfallversicherung durch private Anbieter auch die Nachfrage innerhalb der Leistungserbringung für eine wirtschaftliche Tätigkeit zu halten. Konsequent angewendet, kann der funktionale Unternehmensbegriff jedoch dazu führen, dass eine Tätigkeit einer Einrichtung einen wirtschaftlichen Charakter hat, eine andere hingegen nicht. Der EuGH hat bei Beurteilung der Festbetragsfestsetzung durch die Krankenkassenspitzenverbände daher ebenfalls untersucht, ob diese konkrete Tätigkeit eine wirtschaftliche ist. Dies abzulehnen, begründete es insbesondere damit, dass die Tätigkeit gesetzlich festgelegt und keinem eigenen Interesse der Einrichtung geschuldet sei. Auch das Gericht erster Instanz stellte auf die gesetzliche Festlegung des Vorgangs ab: Die Leistungen, die die Versicherung zu erbringen habe, werde durch Gesetz bestimmt, deshalb sei weder die Leistungserbringung noch die davon nicht lösbare Nachfrage nach Leistungen eine wirtschaftliche Tätigkeit. Für das Nachfrageverhalten der Berufsgenossenschaften müsste danach das gleiche gelten: Welche Leistungen im Versicherungsfall gewährt werden, regelt das SGB VII, so dass die Berufsgenossenschaften auch bei Vertragschluss mit Anbietern von Gesundheitsleistungen nicht wirtschaftlich handelten. Bezweifelt werden darf jedoch schon, ob eine gesetzliche Bestimmung der Leistungen den wirtschaftlichen Charakter ausschließt 263. Insoweit kann ein Blick auf das Privatversicherungsrecht helfen: Auch hier werden durch den gesamten Regelungskomplex des VVG Vorgaben für die Ausgestaltung der Vertragsverhältnisse kraft Gesetzes bestimmt. Im Bereich der Haftpflicht- oder auch der privaten Krankenversicherung wird auch die Leistung gesetzlich bestimmt: Der Versicherer muss die Ansprüche aus Haftungstatbeständen bzw. entstandene Kosten aus Krankheit decken. Das ändert jedoch weder den privatrechtlichen Charakter des Vertrags noch den wirtschaftlichen Charakter der unternehmerischen Tätigkeit. Unbestreitbar ist diese Form der gesetzlichen Bestimmung eine andere als dieje262 263

Oben unter I.5.a)cc). Dazu schon oben I.5.b)bb).

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nige, die ein Sachleistungssystem für die Leistungen bei Unfall oder Krankheit vorsieht. Durch dieses System steht der Versicherte dem Leistungserbringer gerade nicht als Vertragspartner und Anspruchsgegner direkt gegenüber. Für Eichenhofer formt sich durch das Sachleistungsprinzip in der Sozialversicherung gerade Solidarität aus; dadurch, dass sie Private zur Leistung lizenziere, konkretisiere dieses Handeln ihren Auftrag 264. Zweifellos prägt das Sachleistungssystem jedenfalls das soziale Schutzprinzip der gesetzlichen Unfallversicherung aus. Es ist für sich genommen darin, dass es Zugang zu Leistungen ermöglicht, aber noch kein hinreichendes Argument gegen die Unternehmenseigenschaft der Einrichtung. Den Zugang zu Dienst- und Sachleistungen können auch Unternehmen gewähren. In seinen Schlussanträgen im zweitinstanzlichen Verfahren der Rechtssache FENIN legt auch Generalanwalt Poiares Maduro weitere Parameter an für die Frage, ob ein Sektor – angesprochen sind ausdrücklich der Gesundheits-, der Telekommunikations- und der Energiesektor – „der Marktlogik“ unterliegt 265: Allgemeinheit des Zugangs und der damit verbundene Zwang sowie ein Einheitspreis reichen danach nicht aus, um einer Einrichtung, die einen Dienst erbringt, den wirtschaftlichen Charakter zu nehmen. Wenn aber die Leistung unentgeltlich und nur durch staatliche kontrollierte Einrichtungen erbracht würden, bleibe keine Marktlogik übrig. Sofern private und öffentliche Einrichtungen die gleichen Dienste erbringen, sei dies im Rahmen von Art. 86 Abs. 2 EG zu beurteilen. Die Unentgeltlichkeit als Parameter heranzuziehen, ist jedoch für die deutsche Sozialversicherung im allgemeinen und für die Unfallversicherung im besonderen problematisch. Ein Grundbestandteil der Sozialversicherung ist ihre Finanzierung durch Beiträge, so dass von Unentgeltlichkeit der Versicherungsleistung keine Rede sein kann. Auch die Leistungserbringer werden nicht ohne Entgelt tätig, sie erhalten es von den Versicherungen. Somit werden die Leistungen weder unentgeltlich erbracht, noch ohne Entgelt empfangen – es besteht im Sachleistungssystem nur keine direkte Anspruchsbeziehung zwischen Erbringern und Empfängern. Diese Entkopplung ist noch stärker ausgeprägt in der gesetzlichen Unfallversicherung, in der die Beitragszahler nicht identisch sind mit den Leistungsempfängern. Beitragsfinanziert ist die Unfallversicherung gleichwohl, so dass Unentgeltlichkeit für sich genommen hier wie im gesamten Sozialversicherungsrecht kein taugliches Kriterium ist 266.

264

Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, Rn. 341. Generalanwalt Poiares Maduro, Schlussanträge in der Rs. C-205/03; allerdings unter dem nach bisheriger EuGH-Praxis notwendigen Stichwort der Solidarität. 266 Anders wäre dies sicher für ein über allgemeine Finanzmittel, also aus dem Steueraufkommen finanziertes System, wie es zumindest für manche Leistungsarten überlegt wird. Hier stünde der Leistung kein Beitrag gegenüber. 265

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Auch die vorgestellte hypothetische Alternative einer privatrechtlichen Versicherung könnte und müsste ein Sachleistungssystem anbieten und bliebe trotzdem privatrechtlich und wirtschaftlich tätig. Das Sachleistungsprinzip ist in der öffentlichrechtlichen wie in der privatrechtlichen Versicherung Teil der Versicherungsleistung. Die Tätigkeit als Versicherung hat wirtschaftlichen Charakter. Die Nachfrage nach Dienst- und Sachleistungen ist zwar für sich betrachtet wettbewerbsneutral. Weil die öffentlich-rechtliche oder die fiktive privatrechtliche Unfallversicherung aber deshalb nachfragt, um die nachgefragten Leistungen ihrerseits als Leistung anzubieten, ist der gesamte Vorgang eine wirtschaftliche Tätigkeit. Dafür spricht, dass die bestehenden Ansätze der privaten Krankenversicherungen, Sachleistungen anzubieten, in Kostenerwägungen gründen 267. Versicherungsunternehmen nutzen die Möglichkeit, mit Leistungserbringern eigene Verträge auszuhandeln, um so Kosteneffekte zu erzielen, die sich mittelbar auch auf das Versicherungsvertragsverhältnis auswirken. Nachfrage und Angebot von medizinischen Sachund Dienstleistungen stellen also marktmäßiges Verhalten dar, sind somit nicht jeder Marktlogik entzogen. Die Berufsgenossenschaften, als Versicherer wirtschaftlich tätig, handeln folglich auch als Unternehmen, wenn sie in Befolgung des Sachleistungsprinzips medizinische Sach- und Dienstleistungen auf dem Markt nachfragen. Zusammengefasst ist festzuhalten, dass die gesetzliche Unfallversicherung dem hypothetischen Vergleich mit einem privatrechtlichen Versicherungssystem nicht verschlossen ist. Demnach sind die Berufsgenossenschaften wirtschaftlich tätig, sind also Unternehmen im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts. Es bleibt jedoch auch festzuhalten, dass der hypothetische Vergleich keine Schlussfolgerungen auf eine Umsetzung in der Realität zulässt. Diese Einschätzung gibt eine juristische Untersuchung nicht her, wenngleich es ihre Aufgabe ist, zu betonen, welche Grundlagen und Prinzipien eine privatrechtliche Ausgestaltung – sei sie ergänzend oder tatsächlich substituierend – zu beachten hätte. Darüber hinaus führt der hypothetische Vergleich zunächst nur zum notwendigen Zwischenergebnis, dass wegen ihrer so begründeten Unternehmenseigenschaft die Berufsgenossenschaften als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung den Wettbewerbsregeln grundsätzlich unterliegen. 6. Möglicher Verstoß gegen Art. 81, 82 EG Die Berufsgenossenschaften können als Unternehmen gegen die Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags verstoßen. In Betracht kommen insbesondere die Vorschriften der Art. 81, 82 EG, die Unternehmen wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen und Verhaltensweisen sowie den Missbrauch einer marktbeherrschenden 267

Schoenfeldt / Kalis, VersR 2001, S. 1325, 1329 ff.

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Stellung verbieten. Art. 81 EG bezieht das Verbot auf Vereinbarungen zwischen Unternehmen, abgestimmte Verhaltensweisen von Unternehmen und Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen, um möglichst alle Formen des Zusammenwirkens von Unternehmen zu erfassen. In Art. 81 Abs. 1 EG werden zudem Regelbeispiele aufgezählt, die verbotenem Zusammenwirken entsprechen. Für die gewerblichen Berufsgenossenschaften könnte zum einen der Buchstabe a von Bedeutung sein, sofern ihre vertraglichen Beziehungen zu den Leistungserbringern betroffen sind. Zum anderen kann ein Verstoß gegen Buchstabe c vorliegen, wenn die Aufteilung der gewerblichen Unfallversicherung und die Zuordnung der Unternehmen nach Branchen als Aufteilung der Märkte anzusehen ist. Voraussetzung für einen Verstoß ist zudem immer, dass durch das Verhalten der Handel zwischen Mitgliedstaaten und der Wettbewerb auf dem Gemeinsamen Markt beeinträchtigt werden. Gemäß Art. 82 EG ist die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Gemeinsamen Markt verboten, sofern dies dazu führen kann, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Regelbeispiel für einen Missbrauch ist gemäß Buchst. a die Erzwingung von unangemessenen Einkaufsoder Verkaufspreisen. Trotz des eindeutigen Wortlauts in Art. 82 EG ist umstritten, ob bereits die Erlangung der beherrschenden Stellung auf dem Markt verboten ist. Art. 82 EG setzt den Bestand einer beherrschenden Stellung voraus 268. Insbesondere mit Blick auf staatlich installierte Monopole wird darüber diskutiert, warum das Schaffen zulässig sein soll, die Erweiterung jedoch nicht 269. Zum Teil wird behauptet, das Innehaben der marktbeherrschenden Stellung indiziere bereits den Missbrauch 270. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs lehnt es jedoch ab, schon die Schaffung einer beherrschenden Stellung als mit dem EG-Vertrag unvereinbar anzusehen 271. Die Schwelle zur missbräuchlichen Ausnutzung ist jedoch niedrig 272. Tatsächlich ist die EuGH-Formulierung, nach der ein Verstoß gegen Art. 82 EG auch dann vorliegt, wenn durch staatlich gewährte Ausschließlichkeitsrechte eine Lage geschaffen werden könnte, in der Unternehmen einen Missbrauch begehen 273, sehr offen. Jedenfalls aber kann auch nach der 268 Schröter, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Vertrag über die EU und Vertrag zur Gründung der Gemeinschaft, Art. 82 EG, Rn. 20. 269 Möller, Die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben für Sozialversicherungsmonopole und ihr Verhältnis zum Grundgesetz, VSSR 2001, S. 25, 45; Giesen, Sozialversicherungsmonopol und EG-Vertrag, S. 72. 270 Seewald spricht von einer im Falle eines gesetzlichen Monopols notwendigerweise missbräuchlichen Ausnutzung der beherrschenden Stellung, Seewald, Kein Monopol der gesetzlichen Unfallversicherung Teil II, SGB 2004, S. 453.461. 271 EuGH Slg. 2000, I-6451, 6533 Rn. 127 (Pavlov). 272 Seewald, Kein Monopol der gesetzlichen Unfallversicherung Teil II, SGB 2004, S. 453.461. 273 EuGH Slg. 1991, I-5889, 5928 Rn. 17 (Porto di Genova); Jung, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, Art. 82 Rn. 115.

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Rechtsprechung des EuGH ein Unternehmen, das auf einem wesentlichen Teil des Gemeinsamen Marktes mit einem gesetzlichen Monopol ausgestattet ist, als ein Unternehmen angesehen werden, das eine beherrschende Stellung besitzt 274 Adressaten der Verbotsnormen aus Art. 81, 82 EG sind Unternehmen unabhängig davon, ob es sich um öffentliche oder private Unternehmen handelt. Für öffentliche Unternehmen weitet Art. 86 Abs. 1 EG den Adressatenkreise der Wettbewerbsregeln und auch der übrigen Vertragsvorschriften aus auf die Mitgliedstaaten. Diese dürfen in bezug auf öffentliche Unternehmen und auf solche, denen sie besondere oder ausschließliche Rechte gewähren, keine dem Vertrag widersprechende Maßnahmen treffen oder beibehalten. Art. 86 Abs. 1 EG stellt also nach seinem Wortlaut eine Verweisungsnorm dar, sie ist nur in Verbindung mit einer anderen Vorschrift des Vertrags unmittelbar anwendbar 275. Durch Art. 86 Abs. 1 EG werden zum einen die Mitgliedstaaten als selbst Handelnde ins Wettbewerbsrecht einbezogen, zum anderen wird die Gleichbehandlung von privaten und öffentlichen Unternehmen sichergestellt 276. Der Begriff des öffentlichen Unternehmens wird nicht durch den Vertrag definiert. Als anerkannt darf jedoch gelten, dass wenigstens solche Unternehmen darunter fallen, auf die die öffentliche Hand auf Grund Eigentums, finanzieller Beteiligung, Satzung oder sonstiger Bestimmungen, die die Tätigkeit des Unternehmens regeln, unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss ausüben kann 277. Zur Unterscheidung zu privaten Unternehmen wichtig ist das Merkmal der unmittelbar, also ohne Hoheitsakt möglichen Einflussnahme durch den Staat 278. Die Handhabung wird umso schwieriger, je weiter sich etwa die Rechtsform und übrige formale Ausgestaltung einer Einrichtung von öffentlich-rechtlicher Natur entfernt. Für die Träger der deutschen Sozialversicherung ergeben sich diese Abgrenzungsschwierigkeiten jedoch nicht: Trotz gewisser Unsauberkeiten im Hinblick auf die Verwendung der Begriffe Körperschaft und Anstalt 279 wird für die Träger der Sozialversicherung durchgängig die öffentlich-rechtliche Rechtsform gewählt. Auch die gewerblichen Berufsgenossenschaften sind gemäß § 29 Abs. 1 SGB IV Körperschaften des öffentlichen Rechts und somit als Unternehmen auch 274

EuGH Slg. 1999, I-6025, 6056 Rn. 91 (Brentjens’ u. a.). Jung, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EGV und EUV, Art. 86 EG Rn. 7. 276 Schwarze, Der Staat als Adressat des europäischen Wettbewerbsrechts, EuZW 2000, S. 613, 623. 277 Schwarze, Der Staat als Adressat des europäischen Wettbewerbsrechts, EuZW 2000, S. 613, 623, mit Verweis auf die Definition in der Richtlinie 80/723/EWG über die Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den öffentlichen Unternehmen vom 25. 6. 1980 (ABl. Nr. L 195, S. 35). 278 Jung, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EGV und EUV, Art. 86 EG Rn. 13; Hochbaum / Klotz, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Vertrag über die EU und Vertrag zur Gründung der EG, Art. 86 EG Rn. 8 ff. 279 Oben 1. Teil, II. 275

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öffentlich im Sinne des Art. 86 Abs. 1 EG. Die den Sozialversicherungsträgern zugestandene Selbstverwaltung ändert daran nichts. Sofern ein Verstoß gegen die Art. 81, 82 EG festzustellen ist, sind davon also zum einen die Berufsgenossenschaften selbst betroffen: Das gemeinschaftsrechtliche Verfahren in diesem Fall ist in Art. 85 EG geregelt, zudem sind die Verbotsnormen auch vor den mitgliedstaatlichen Gerichten als subjektive Rechte unmittelbar anwendbar 280. Über die Verweisungsnorm des Art. 86 Abs. 1 EG begründet der Verstoß durch die Berufsgenossenschaften auch eine Vertragsverletzung durch die Bundesrepublik Deutschland. In diesem Fall erhält die Kommission Befugnisse aus Art. 86 Abs. 3 EG. Wegen seines Charakters als Verweisungsnorm wird Art. 86 Abs. 1 EG dann unmittelbar angewendet, wenn auch die verwiesene Norm unmittelbar anwendbar ist 281. Dies ist für Art. 81, 82 EG der Fall, so dass gegen diese Verbote verstoßende staatliche Maßnahmen der Kontrolle der nationalen Gerichte unterliegen. Es ist insgesamt nicht von der Hand zu weisen, dass die Berufsgenossenschaften mit zumindest einem Teil ihrer Tätigkeiten verbotenen Verhaltensweisen im Sinne der Art. 81, 82 entsprechen können, weil das System so beschaffen ist, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen – etwa Aufteilung der Märkte oder die marktbeherrschende Stellung – teilweise erfüllt sind. Ein Verstoß gegen die Verbote der Art. 81, 82 EG mit der Folge von Sanktionen nach Art. 85, 86 Abs. 3 EG kann aber überhaupt nur dann vorliegen und lohnt der Prüfung im einzelnen, wenn die Wettbewerbsregeln für die Berufsgenossenschaften gelten. Zwar sind sie nicht schon gewissermaßen begrifflich wegen fehlender Unternehmenseigenschaft dem Anwendungsbereich entzogen. Eine Herausnahmemöglichket eröffnet sich aber durch Art. 86 Abs. 2 EG. 7. Ausnahme gemäß Art. 86 Abs. 2 EG Die Wettbewerbsregeln der Art. 81 ff. EG dienen als Instrument, um das in Art. 3 Abs. 1 Buchst. g) EG genannte Ziel zu erreichen, den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen zu schützen. Über die Bedeutung des Wettbewerbsrechts für die historische und nach wie vor prägende Aufgabe der Europäischen Gemeinschaft, einen Gemeinsamen Markt zu errichten, wurde im Eingang zum zweiten Teil der Untersuchung gesprochen 282. Obgleich jedoch durch die Ziele Gemeinsamer Markt und Wirtschaftsunion die Felder der Wirtschafts280 Weiß, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EGV und EUV, Art. 81 Rn. 30; als Schutzgesetze können sie einen Schadensersatz- und Unterlassungsanspruch gemäß §§ 823 Abs. 2, 1004 BGB auslösen; Axer, Europäisches Kartellrecht und nationales Krankenversicherungsrecht, NZS 2002, S. 57, 60. 281 Jung, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EGV und EUV, Art. 86 EG Rn. 7. 282 Oben I.1.

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und Wettbewerbspolitik umfassend auf die Europäische Gemeinschaft übertragen sind, verbleibt auch bei den Mitgliedstaaten ein starkes Interesse daran, bestimmte Bereiche, die auch die wirtschafts- und wettbewerbspolitischen Ziele der Gemeinschaft tangieren oder unmittelbar betreffen, nationalstaatlich zu regeln. Der grundlegende Konflikt zwischen Zuständigkeit der Gemeinschaft und Zuständigkeit der Mitgliedstaaten ist durch das in Art. 5 Abs. 1 EG verankerte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 283 und durch das als Rechtfertigungs- und Begründungslast wirkende Subsidiaritätsprinzip im engeren Sinne 284 in Art. 5 Abs. 2 und 3 EG formal gelöst. Im Bereich des Wettbewerbsrechts ist Art. 86 Abs. 2 EG Ausdruck eines Kompromisses zwischen dem Vertragsziel des unverfälschten Wettbewerbs und der wirtschaftspolitischen Gestaltungskompetenz der Mitgliedstaaten gerade im öffentlichen Sektor 285. Art. 86 Abs. 2 EG soll den Konflikt in diesem Spannungsverhältnis lösen 286 und ist für Unternehmen als Ausnahmetatbestand von den Vertragsvorschriften, insbesondere den Wettbewerbsvorschriften konzipiert: Als Regel gilt die Anwendbarkeit des Wettbewerbsrechts auf Unternehmen, gleichviel ob sie privater oder öffentlicher Natur sind, während die Ausnahme nur möglich ist unter den Voraussetzungen des Art. 86 Abs. 2 EG, der seinerseits als Regel-Ausnahme-Verhältnis 287 formuliert ist („ . . . gelten die Vorschriften dieses Vertrags, soweit die Anwendung dieser Vorschriften nicht . . . “). Nachdem der Art. 86 Abs. 2 EG lange Zeit kaum oder nur unter sehr strenger Anwendung eine Ausnahme begründen konnte, hat sich das Verhältnis zwischen Regel und Ausnahme auch durch den in den Vertrag von Amsterdam mit Wirkung zum 1. Mai 1999 eingeführten Art. 16 EG „zu Gunsten gemeinwohlorientierter Dienstleistungen verschoben“ 288. In Art. 16 EG wird zum einen anerkannt, dass Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse auch innerhalb der Union einen gewissen Stellenwert einnehmen, zum anderen, dass die Gestaltung dieser Dienste in der Befugnis der Mitgliedstaaten stehen kann. Trotz dieser im Vergleich zu Art. 86 Abs. 2 EG positiveren Formulierung und einem darin erkennbaren Grundsatz des Gemeinschaftsrechts mit Wirkung auch als Auslegungsdirektive 289 hält Art. 16 EG freilich an der Regelung auch des 283 Calliess, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EGV und EUV, Art. 5 EG Rn. 8 ff. 284 Herdegen, Europarecht, § 7 Rn. 26; Calliess, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EGV und EUV, Art. 5 EG Rn. 3. 285 Jung, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EGV und EUV, Art. 86 EG Rn. 34. 286 Hochbaum, in: Schröter / Jakob / Mederer (Hrsg.), Kommentar zum europäischen Wettbewerbsrecht, Art. 86 Rn. 46. 287 Schwarze, Daseinsvorsorge im Lichte des europäischen Wettbewerbsrechts, EuZW 2001, S. 334, 336. 288 Schwarze, Daseinsvorsorge im Lichte des europäischen Wettbewerbsrechts, EuZW 2001, S. 334, 336 f. 289 Axer, Europäisches Kartellrecht und nationales Krankenversicherungsrecht, NZS 2002, S. 57, 64.

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Art. 86 EG fest: Die Herausnahme eines Unternehmens aus dem Wettbewerbsrecht hat Ausnahmecharakter. Diese Ausnahme ist jedoch sowohl für öffentliche als auch private Unternehmen und überdies für die Pflichten der Mitgliedstaaten aus Art. 86 Abs. 1 EG 290 vertraglich vorgesehen und unterliegt als Legalausnahme 291 den Voraussetzungen des Art. 86 Abs. 2 EG. Danach gelten die Vorschriften der Art. 81 ff. EG nicht für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind, wenn diese Vorschriften die Erfüllung der ihnen übertragen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindern. Durch die Ausnahme vom Wettbewerbsrecht darf zudem gemäß Art. 86 Abs. 2 Satz 2 EG die Entwicklung des Handelsverkehrs in einem Ausmaß beeinträchtigt werden, das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft. Die Berufsgenossenschaften als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung im gewerblichen Bereich können unter Umständen eine Ausnahme nach Art. 86 Abs. 2 EG begründen. a) Die Haltung der Literatur im Hinblick auf Systeme der sozialen Sicherung Im allgemeinen wird Art. 86 Abs. 2 EG als Ausnahmetatbestand zur grundsätzlichen Anwendbarkeit des Wettbewerbsrecht auf öffentliche und private Unternehmen angesehen. Dies entspricht dem Wortlaut der Vorschrift und ist daher unstreitig. Schon gegen die Einschätzung, es handele sich wegen der besonderen Ausgestaltung als Kompromiss zwischen gemeinschaftsrechtlichem Ziel des Wettbewerbs und mitgliedstaatlicher Gestaltungskompetenz der Wirtschaftspolitik um eine eng begrenzte Bereichsausnahme für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben 292, regt sich jedoch Widerspruch 293. Der Begriff der Bereichsausnahme 294 ist insofern irreführend, als durch Art. 86 Abs. 2 EG nicht ein klar abgegrenzter Bereich von vornherein vom Anwendungsbereich ausgenommen werden soll. Seine Systematik ist vielmehr darauf angelegt, konkrete Unternehmen nach Prüfung des Einzelfalls aus dem Wettbewerbsrecht herauszunehmen. Die Unternehmen, bei denen die Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen, teilen zwar das Merkmal, eine öffentliche Aufgabe zu erfüllen. Gleichwohl ist nicht ein vorher bestimmbarer Bereich der öffentlichen Aufgabenerfüllung der Wettbewerbsordnung entzogen. Andere Ansätze ordnen Art. 86 Abs. 2 EG als Rechtfertigungstatbestand zugunsten von Unternehmen oder des die Unternehmen beeinflussenden Mitgliedstaates aus, um einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht zu legitimieren 295. Der Prü290

Jung, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EGV und EUV, Art. 86 EG Rn. 33. Hochbaum / Klotz, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Vertrag über die EU und Vertrag zur Gründung der EG, Art. 86 EG Rn. 53. 292 Jung, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EGV und EUV, Art. 86 EG Rn. 34. 293 Pernice, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), EU, Art. 90 Rn. 51. 294 Streinz, Europarecht, Rn. 825. 291

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fungsaufbau folge demnach der Struktur einer Verhältnismäßigkeitsprüfung 296, in der die Erforderlichkeit an die Erfüllung der besonderen Aufgabe anknüpft und die Frage der Beeinträchtigung des Handels in Art. 86 Abs. 2 Satz 2 EG eine Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne 297 begründen soll. Zur Begründung dieses Ansatzes wird zumeist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes herangezogen, der im Rahmen des Art. 86 Abs. 2 Satz 1 EG schon formuliert hat, der Tatbestand sei erfüllt, „wenn die Beibehaltung dieser Rechte erforderlich ist, um ihrem Inhaber die Erfüllung seiner im allgemeinen Interesse liegenden Aufgaben zu wirtschaftlich tragbaren Bedingungen zu ermöglichen“ 298. Den Schlussfolgerungen der Literatur ist entgegen zu halten, dass allein die Verwendung des Wortes „erforderlich“ die Prüfung noch nicht zu einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im Sinne der deutschen Verfassungsdogmatik macht. Denn auch der Europäische Gerichtshof fragt in seinen Ausführungen zum überdies in den letzten Jahren immer weniger streng angelegten 299 Verhinderungsmaßstab nicht danach, ob ein gleich geeignetes wettbewerbskonformes Mittel neben dem in Rede stehenden System existiert. Vielmehr überprüft er die Erforderlichkeit für die Bevorzugung des jeweiligen Unternehmens daran, ob nur auf diese Weise wirtschaftlich tragbare oder annehmbare Bedingungen zur Erfüllung der übertragenen Aufgabe vorliegen. In einer echten Erforderlichkeitsprüfung müsste sich die entscheidende Frage jedoch darum drehen, ob die übertragene Aufgabe überhaupt nur auf diese Weise und nicht auf andere Weise gleichermaßen erfüllt werden kann – eine sehr ausfüllungsbedürftige „wirtschaftliche Annehmbarkeit“ wäre gewiss nicht von Belang. Zudem verträgt sich auch die nachlassende Konsequenz in der – kritisch gesehenen 300 – Entwicklung des Verhinderungsmaßstabs zu einem Gefährdungsmaßstab nicht mit dem Konzept der Strenge einer Erforderlichkeitsprüfung. Selbst wenn man die Kritik an der Aufweichung des Ausnahmetatbestands durch die Rechtsprechung mitträgt, kann die Folgerung nicht sein, eine strengere Verhältnismäßigkeitsprüfung zu fordern. Für eine Rechtfertigung im Sinne der deutschen Rechtslehre ist innerhalb des Art. 86 Abs. 2 EG deshalb kein Raum, weil die Rechtfertigung 295 Axer, Europäisches Kartellrecht und nationales Krankenversicherungsrecht, NZS 2002, S. 57, 63; Hänlein / Kruse, Einflüsse des Europäischen Wettbewerbsrechts auf die Leistungserbringung, NZS 2000, S. 165, 171. 296 Hänlein / Kruse, Einflüsse des Europäischen Wettbewerbsrechts auf die Leistungserbringung, NZS 2000, S. 165, 171; Giesen, Sozialversicherungsmonopol und EG-Vertrag, S. 120 ff.; Möller, Die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben für Sozialversicherungsmonopole und ihr Verhältnis zum Grundgesetz, VSSR 2001, S. 25, 44 ff. 297 Koenig / Kühling, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 86 EGV Rn. 66. 298 EuGH Slg. 1997, I-5815, 5844 Rn. 96 (Kommission / Frankreich); ausführlicher in EuGH Slg. 1993, I-2533, 2568 Rn. 14 ff. (Corbeau). 299 Koenig / Kühling, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 86 EGV Rn. 60 f. 300 Koenig / Kühling, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 86 EGV Rn. 60 ff.

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eines Verstoßes, eines Eingriffs, einer potenziellen Regelverletzung bedarf. Durch einen Ausnahmetatbestand, wie ihn Art. 86 Abs. 2 EG darstellt, werden jedoch Fälle, die den Voraussetzungen entsprechen, schon dem Anwendungsbereich der bezeichneten Vorschriften entzogen. Eine Rechtfertigung ist also obsolet, weil kein Verbotstatbestand erfüllt sein kann. Für die gesetzliche Sozialversicherung haben Haverkate / Huster als „revolutionäre Neuerung“ auch mit Blick auf Art. 86 Abs. 2 EG vorgeschlagen, durch Rechtsfortbildung das soziale Ziel der Sozialversicherung, die Umverteilung, von der Versicherung zu trennen und so die Sozialversicherung dem Wettbewerb zu öffnen 301. Ansatzpunkt ist für die Autoren die Frage, ob solidarische Umverteilung eine gesetzliche Zwangsversicherung voraussetzt. Diese Frage könne sich entweder für den Unternehmenscharakter einer Einrichtung oder für eine Rechtfertigung nach Art. 86 Abs. 2 EG stellen 302. Gerechtfertigt sind nach dieser Ansicht nur solche Systeme, die für eine Umverteilung zwingend sind, wobei bei entsprechender Rechtsfortbildung die Umverteilung auf andere Weise, namentlich aus allgemeinen Haushaltsmitteln des Staates zu erreichen sei. Über die Möglichkeiten solcher Rechtsfortbildung referieren die Autoren ausführlich 303. Gerade im Bereich der sozialen Sicherung stellte jedoch eine derartige Rechtsfortbildung einen eklatanten Bruch mit Art. 137 Abs. 4 EG und der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dar: Die anerkannte Befugnis der Mitgliedstaaten, die Grundprinzipien ihres System des sozialen Sicherung festzulegen, kann nicht durch Rechtsfortbildung begrenzt werden. Umverteilung zumindest auch über die Sozialversicherung zu erreichen, gehört zu den Grundprinzipen, die im deutschen Recht der sozialen Sicherung festgelegt sind. Art. 86 EG auf diese Weise fortzuentwickeln oder vielmehr umzudeuten hieße, seine Bedeutung für die anerkannte Kompetenz der Mitgliedstaaten im Bereich der öffentlichen Wirtschaft zu verkennen. Aus ebenfalls kompetenziellen Erwägungen hält Möller 304 die Ausnahmevorschrift des Art. 86 Abs. 2 EG für im Prinzip ungeeignet, um die Sozialversicherung wettbewerbsrechtlich angemessen zu erfassen. Er erläutert den „ganz erheblichen Unterschied, ob sich Sozialversicherungsmonopole mangels Unternehmensqualität der Versicherungsträger den Art. 81 ff. EGV von vorneherein entziehen, oder ob sie unter der Bedingung zugelassen sind, dass sie in ihrer Wettbewerbsbeschränkung dem Interesse der Gemeinschaft nicht zuwiderlaufen“. Die auch von Möller als Rechtfertigung eingeordnete Regelung des Art. 86 Abs. 2 EG habe Maßstäbe und ein Verfahren zum Inhalt, die sich im Fluss befänden, so dass der Einfluss 301

Haverkate / Huster, Europäisches Sozialrecht, Rn. 499 ff., 554 ff. Haverkate / Huster, Europäisches Sozialrecht, Rn. 499. 303 Haverkate / Huster, Europäisches Sozialrecht, Rn. 527 ff. 304 Möller, Die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben für Sozialversicherungsmonopole und ihr Verhältnis zum Grundgesetz, VSSR 2001, S. 25, 40 ff. 302

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der Europäischen Gemeinschaft auf diesem Feld sehr groß sei und die Kompetenz der Mitgliedstaaten für die Sozialsysteme von der Gemeinschaftskompetenz für Wettbewerb unterspült würde. Eine sachgerechte und angemessene Kompetenzabgrenzung sei also durch den Unternehmensbegriff zu erreichen, durch den Aufgaben mit sozialem und umverteilendem Charakter aus der wirtschaftlichen Tätigkeit herausgenommen würden. Dem ist insoweit zuzustimmen, als die Unternehmensqualität einer Einrichtung sozialer Sicherung die tatbestandliche Voraussetzung darstellt, durch die die Anwendung der Wettbewerbsregeln eröffnet wird. Es wäre jedoch verkürzt, sämtliche Einrichtungen der sozialen Sicherung mit Hinweis auf die mitgliedstaatliche Kompetenz aus dem Anwendungsbereich der Wettbewerbsordnung herauszunehmen, nur weil keine Form der Absicherung betrieben wird, die den vom freien Markt angebotenen Versicherungen entspricht 305. Dann wäre zum einen der Grundsatz missachtet, nach dem die Mitgliedstaaten trotz ihrer Kompetenz im Bereich sozialer Sicherung bei deren Ausgestaltung dem Gemeinschaftsrecht unterliegen, und vertragswidrig eine Art Bereichsausnahme geschaffen. Zum anderen kann allein das Bestehen eines gesetzlichen Monopols, aufgrund dessen keine vergleichbaren Leistungen auf dem freien Markt angeboten werden, das Monopol nicht dem Wettbewerb per se entziehen. Entscheidend ist vielmehr die Antwort auf die Frage, ob die betreffende Leistung nur von einem staatlichen Monopol angeboten werden kann. Ist dies etwa wegen der nur durch Zwang durchführbaren Umverteilung oder nach EuGH-Duktus wegen des Grundsatzes der Solidarität der Fall, bleibt für das Wettbewerbsrecht – auch aus kompetenziellen Erwägungen – kein Raum. Wird die Unternehmenseigenschaft jedoch bejaht, kann sich gleichwohl noch eine Unanwendbarkeit des Wettbewerbsrechts ergeben: Diese Möglichkeit eröffnet Art. 86 Abs. 2 EG, der trotz der im Fluss befindlichen Anwendung der unbestimmten Tatbestandsvoraussetzungen eben mehr ist als bloße Rechtfertigungsmöglichkeit. Auch durch die Legalausnahme wird mitgliedstaatlicher Kompetenz Rechnung getragen. Damit die gewerblichen Berufsgenossenschaften nicht dem europäischen Wettbewerbsrecht, insbesondere den Art. 81, 82 EG, unterliegen, müssten sie mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sein. Die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe müsste bei Anwendung der Vertragsvorschriften rechtlich oder tatsächlich verhindert werden; umgekehrt dürfte durch die Ausnahme nicht die Entwicklung des Handelsverkehrs in einem Ausmaß beeinträchtigt werden, das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft.

305 Erst dann sei Gemeinschaftszuständigkeit tangiert und mithin das Wettbewerbsrecht eröffnet; Möller, Die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben für Sozialversicherungsmonopole und ihr Verhältnis zum Grundgesetz, VSSR 2001, S. 25, 41.

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b) Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse aa) Dienstleistung Der Begriff der Dienstleistungen in Art. 86 Abs. 2 Satz 1 EG wird weit gefasst 306. Er umfasst mehr als Dienste im Sinne des BGB und auch mehr als Dienstleistungen im Sinne des Art. 50 EG, weil auch Sachleistungen dazu zählend 307. In der Umschreibung als „Leistungen zugunsten sämtlicher Nutzer im gesamten Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats, ohne Rücksicht auf Sonderfälle und auf die Wirtschaftlichkeit jedes einzelnen Vorgangs“ 308 ist bereits neben der Dienstleistung ihr besonderer Charakter angesprochen: Sie muss im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse liegen. Für die Träger der Sozialversicherung wird zum Teil angenommen, es sei allgemein anerkannt, dass sie mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind 309. Auch wenn die Hürde vor diesem Tatbestandsmerkmal eine niedrige ist, ist eine Begründung angezeigt. Dabei können die Aufgaben der Berufsgenossenschaften, soweit ihre Tätigkeit als Versicherung betroffen ist, ohne weiteres als Dienstleistung qualifiziert werden, weil sie schon einer engen, etwa an Art. 50 EG orientierten Begriffsauffassung entsprechen. Gemäß § 1 Nr. 1 SGB VII ist den Unfallversicherungsträgern zudem die Aufgabe der Unfallverhütung übertragen. Die Unfallverhütung ist Teil des staatlichen Arbeitsschutzes und als solcher nur schwer dem herkömmlichen Verständnis des Begriffs Dienstleistung zuzuordnen. Gleichwohl handelt es sich aber um eine Aktivität, die zumindest bei ebenfalls weiter Betrachtung eine gewisse Infrastruktur 310 – namentlich eine soziale Infrastruktur – sichert. Diese Einschätzung entspricht einem weiten Begriffsverständnis, durch den sämtliche Leistungen zugunsten sämtlicher Nutzer in dem Bereich erfasst sein sollen 311. Die Unfallverhütung durch die Berufsgenossenschaften ist Leistung des Versicherungsträgers, 306 Koenig / Kühling, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 86 EGV Rn. 44; Kommission in der Daseinsvorsorgemitteilung v. 20. 9. 2000, Abl. 2001 C 17/4, Anhang II, zum weiten Verständnis insbesondere der Leistungen der Daseinsvorsorge. 307 Hochbaum, in: von der Groeben / Thiesing / Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EU- / EG-Vertrag, Band 2/II, Art. 90 Rn. 52. 308 Jung, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EUV und EGV, Art. 86 EGV Rn. 36 mit Nachweis der Rechtsprechung durch die europäischen Gerichte. 309 Möller, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben für Sozialversicherungsmonopole und das Grundgesetz, VSSR 2001, S. 25, 37 mit Verweis auf Giesen, Sozialversicherungsmonopol und EG-Vertrag, S. 126 sowie Breuer, in: Schulin (Hrsg.), HS-UV § 2 Rn. 29. 310 Jung, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EGV und EUV, Art. 86 EGV Rn. 36. 311 Jung, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EUV und EGV, Art. 86 EGV Rn. 36.

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die der Sicherheit und damit dem unmittelbaren Nutzen der Versicherten dient, auch wenn sie keine Versicherungsleistung bei Eintritt des Versicherungsfalls darstellt. Sie kommt zudem auch den Unternehmern zugute, was sich schon daran zeigt, dass ein großer Teil der Unfallverhütung als „Prävention durch Angebot“ 312 geleistet wird. Schließlich hat der Europäische Gerichtshof bereits für Tätigkeiten im Bereich der öffentlichen Sicherheit den Anwendungsbereich des Art. 86 Abs. 2 EG eröffnet 313. Hier eine wirtschaftliche Aktivität anzunehmen, wird indes mit Verweis auf den Wortlaut der Vorschrift kritisiert 314. Die Marktbezogenheit der Tätigkeit muss indes konsequenterweise erst im Hinblick auf das wirtschaftliche Interesse hinterfragt werden. bb) Allgemeines wirtschaftliches Interesse Bei weit verstandener Auffassung von der Dienstleistung sind sowohl Versicherung als auch Prävention und mithin beide Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung Dienstleistungen in diesem Sinne. Der entscheidende Akzent der tatbestandlichen Voraussetzung liegt auf der Allgemeinheit und der wirtschaftlichen Prägung des verfolgten Interesses 315. Von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse sind kurz gefasst wirtschaftliche Tätigkeiten zur Sicherung von Infrastruktur und Daseinsvorsorge 316. Ein allgemeines Interesse erfordert nicht, dass die gesamte Gemeinschaft oder ein ganzer Mitgliedstaat ein Interesse an der Aufgabe hat 317. Ausreichend ist, dass die Dienstleistung zumindest auch im öffentlichen Interesse oder im Interesse eines Teils der Bevölkerung liegt, der mehr vertritt als Individual- oder Gruppeninteressen 318. Die durch die Berufsgenossenschaften getragene gesetzliche Unfallversicherung im gewerblichen Bereich schützt Beschäftigte und liegt wegen des Haftungsausschlusses auch im Interesse der Unternehmer. Indem alle Unternehmer und abhängig Beschäftigten erfasst sind, wird dem Interesse eines erheblichen, wenn nicht gar des überwiegenden Teils der deutschen Bevölkerung direkt gedient. Nicht zuletzt fließt die Absicherung gegen das Risiko aus Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten aus dem Sozialstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG 312

Oben 1. Teil, II.4.e). EuGH Slg. 1998, I-3949, 3996 Rn. 45, 60 (Corsica Ferries). 314 Jung, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EGV und EUV, Art. 86 EGV Rn. 36. 315 Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, Rn. 330. 316 Geiger, EUV / EGV, Art. 86 EGV Rn. 9. 317 Hochbaum / Klotz, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.): Vertrag über die EU und Vertrag zur Gründung der EG, Art. 86 EG Rn. 60. 318 Jung, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EGV und EUV, Art. 86 EGV Rn. 38. 313

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und ist mithin Aufgabe im Interesse des Gemeinwohls. Auch auf die Aufgabe der Prävention lässt sich diese Wertung bedenkenlos übertragen. Die Frage, ob es sich bei den Dienstleistungen um solche im wirtschaftlichen Interesse handelt, ist nur auf den ersten Blick schwieriger zu beantworten. Gefordert wird zum Teil ein Marktbezug der Tätigkeit bzw. die Abgrenzung von öffentlichen Interessen nicht-wirtschaftlicher Art, die etwa auf die Wahrung rein kultureller, sozialer oder karitativer Belange nicht von Art. 86 Abs. 2 EG zielen 319. Diese Einrichtungen sind jedoch, sofern sie tatsächlich keiner wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen, schon keine Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechts und bedürfen der Ausnahmevorschrift nicht. Umgekehrt muss bei Tätigkeiten, die schon zur Bejahung der Unternehmenseigenschaft als wirtschaftliche eingeordnet wurden, auch ein wirtschaftliches Interesse vorliegen, zumal es nicht auf Wirtschaftlichkeit im Sinne eines ökonomischen Gewinns oder anders quantifizierbarem ökonomischen Effekt ankommt. Dies zu fordern, widerspräche auch dem hier angelegten weiten Verständnis 320. Zu recht weisen Pernice / Wernicke 321 also darauf hin, dass eine Abgrenzung marktbezogener von nicht-marktbezogenen Tätigkeiten kaum leistbar, es also angezeigt sei, lediglich von gemeinwirtschaftlichen Diensten zu sprechen. Überdies ist dem Erfordernis eines wirtschaftlichen Interesses schon begrifflich nicht zu entnehmen, dass Unternehmen die Tätigkeit auf dem freien Markt bzw. im Wettbewerb ausüben müssen. Vielmehr muss an der Dienstleistung an sich ein ökonomisches Interesse bestehen. Dabei verzichtet die Vorschrift darauf, über den Begriff der Allgemeinheit hinaus zusätzlich zu begrenzen, wer ein solches Interesse haben und wie es beschaffen sein muss. Für die gesetzliche Unfallversicherung lassen sich nach diesen Vorgaben unterschiedliche Interessen begründen: Ein betriebswirtschaftliches Interesse haben Unternehmen am Haftungsausschluss, ein volkswirtschaftliches Interesse besteht an einer breiten Absicherung der Bevölkerung und ein individuell-wirtschaftliches des einzelnen Beschäftigten, vor dem Risiko der Minderung der Erwerbsfähigkeit abgesichert zu sein. Das gilt im Wesentlichen auch für die Aufgabe der Prävention, die die Berufsgenossenschaften übernehmen. Zunächst trägt auch hier der Gedanke, dass durch die Unfallverhütung der Sicherheit der Beschäftigten Rechnung getragen wird, um damit die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass die Risiken Arbeitsunfall und Berufskrankheit eintreten. Die Gefahren, die Erwerbsfähigkeit oder Teile davon zu verlieren, werden minimiert und dadurch auch die wirtschaftlichen Risiken des Einzelnen sowie die der gesamten Volkswirtschaft, die zuletzt das realisierte Risi319 Jung, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EGV und EUV, Art. 86 EGV Rn. 38. 320 Koenig / Kühling, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EVG, Art. 86 EGV Rn. 45. 321 Pernice / Wernicke, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der EU, Bd. II, Art. 86 EGV Rn. 35.

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ko abzufedern hätte. Prävention war der gesetzlichen Unfallversicherung schon in der ersten Fassung des Gesetzes 1884 als Aufgabe übertragen. Sie hat sich seither stetig weiterentwickelt, gilt jedoch zum Teil immer noch vor allem aus Unternehmersicht mehr als altmodische Last denn als von wirtschaftlichem Interesse 322. Präventive Maßnahmen gehören indes mittlerweile zu denjenigen Tätigkeitsfeldern, die private und gesetzliche Versicherung insbesondere im Gesundheitswesen verstärkt ausbauen. Neben der Erkenntnis, dass effektiver Gesundheitsschutz nicht nur kurativ angelegt sein kann, sondern schon vor der Erkrankung ansetzt, sind die Krankenversicherungen auch von Kostenerwägungen geleitet. Den Erkenntnissen soll bundesweit und einheitlich durch ein Präventionsgesetz Rechnung getragen werden 323. Prävention hat also im Gesundheitsbereich durchaus eine wirtschaftliche Dimension. Nichts anderes gilt für die Unfallversicherung, in der die Unfallverhütung mit dafür verantwortlich ist, dass die Zahl der Versicherungsfälle und damit die Lasten durch Rehabilitation und Entschädigung konstant zurückgeht 324. Auch an der Prävention besteht also ein wirtschaftliches Interesse. Das bedeutet jedoch nicht zugleich, dass auch die Tätigkeit eine wirtschaftliche ist, denn vor allem mit Blick auf die weitreichenden Eingriffsbefugnisse wurde die Unternehmenseigenschaft der Berufsgenossenschaft im Hinblick auf die Funktion Unfallverhütung abgelehnt 325. Die Prävention ist gleichwohl von wirtschaftliche Interesse und den Berufsgenossenschaften, die im Hinblick auf zwei andere Funktion Unternehmen sind, als Leistung übertragen. Schließlich ist jedenfalls bei einem gemischten Interesse an der Dienstleistung der Schwerpunkt der Tätigkeit entscheidend ist 326. Beim Blick auf die historische Entwicklung steht die Versicherungstätigkeit der Unfallversicherung im Fokus. Durch § 1 SGB VII stehen zwar Versicherung und Prävention gleichberechtigt nebeneinander. Diese hängt von jener jedoch insofern ab, als auch die Aufgabe der Prävention in erster Linie auf den Versicherungsfall ausgerichtet ist – ihn zu verhindern, lautet die Aufgabe. Es ließe sich also auch ein wirtschaftliches Interesse an dem gesamten Spektrum Unfallversicherung über den Schwerpunkt der Versicherungstätigkeit begründen. Im Ergebnis übernehmen die Berufsgenossenschaften durch Versicherung und Prävention Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, auch 322

Buss, Berufsgenossenschaftliche Prävention. Rückschau und Perspektive, BG 1996, S. 88, 94. 323 Eckpunktepapier der Bund-Länder-Arbeitsgruppe abrufbar auf http://www.bmg. bund.de/nn_604242/DE/Themenschwerpunkte/Praevention-staerken-Gesundhe-6175.html. 324 Vgl. Zahlen des Hauptverbandes der Berufsgenossenschaften, abrufbar auf http://www.hvbg.de/d/pages/praev/index.html. 325 Oben 1. Teil, II.4.e)bb). 326 Hochbaum / Klotz, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Vertrag über die EU und Vertrag zur Gründung der EG, Art. 86 EG Rn. 62.

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wenn dazu die Tatbestandsmerkmale weit geöffnet verstanden werden. Dieses weite Verständnis entspricht bezogen auf Systeme der sozialen Sicherung der Haltung des Europäischen Gerichtshofs gerade vor dem Hintergrund mitgliedstaatlicher Kompetenz 327: Nach Auffassung des EuGH haben die Mitgliedstaaten ein berechtigtes Interesse daran, bestimmte Unternehmen insbesondere des öffentlichen Sektors als Instrument der Wirtschafts- oder Sozialpolitik einzusetzen. Unter Berücksichtigung dieses Interesses könne es den Mitgliedstaaten nicht verboten sein, bei der Umschreibung der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse die eigenen Ziele ihrer staatlichen Politik zu berücksichtigen. Die Mitgliedstaaten sind aus der Kompetenz zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit heraus also befugt, das allgemeine wirtschaftliche Interesse autonom zu bestimmen und die aus den nationalen verfassungsmäßigen Grundentscheidungen gewonnenen Politikvorstellungen in diese Interessenbestimmung einzubringen. Den Berufsgenossenschaften die gesetzliche Unfallversicherung der abhängig Beschäftigten einschließlich der Prävention zu übertragen, füllt das Sozialstaatsprinzip und damit auch die vom EuGH im Hinblick auf Art. 86 Abs. 2 EG zugestandene Kompetenz aus. cc) Betrauung Das Unternehmen muss, um von der Ausnahme profitieren zu können, mit der Dienstleistung betraut sein. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist eine in den letzten Jahren großzügigere Handhabung dieses Merkmals zu verzeichnen 328. Nachdem in frühen Urteilen noch der Hoheitsakt eines Mitgliedstaates gefordert wurde und ein bloßes Tätigwerden in öffentlichem Interesse nicht ausreichte, hat der EuGH in neuerer Zeit staatliche Konzessionen, öffentlich-rechtliche Verträge oder – im Bereich sozialer Sicherungssysteme – schon den Akt der Gründung und die Festschreibung der Pflichtmitgliedschaft 329 als Betrauung anerkannt. Jedenfalls aber ist eine Aufgabenzuweisung kraft Gesetzes Betrauung im Sinne des Art. 86 Abs. 2 EG und auch die Übertragung hoheitlicher Befugnisse 330. Den Berufsgenossenschaften werden als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 114 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII) die Aufgaben aus § 1 SGB VII übertragen. Sie sind Körperschaften des öffentlichen Rechts und mit hoheitlichen 327

EuGH Slg. 1999, I-6029, 6059 Rn. 103 f. Zur Entwicklung der Rechtsprechung einschließlich der Nachweise und der Kritik an der aufweichenden Tendenz Koenig / Kühling, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 86 EGV Rn. 52 ff. 329 Koenig / Kühling, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 86 EGV Rn. 53 mit Verweis auf EuGH Slg. 1999, I-5751, 5891 Rn. 98 ff. (Albany), das im Wortlaut dem Urteil EuGH Slg. 1999, I- 6029 (Brentjens’) entspricht. 330 Pernice / Wernicke, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der EU, Bd. II, Art. 86 EGV Rn. 41; Hochbaum / Klotz, in: von der Groeben / Schwarze, Vertrag über die EU und Vertrag zur Gründung der EG, Art. 86 EG Rn. 63 f. 328

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Befugnissen betraut. Der Anwendungsbereich des Art. 86 Abs. 2 EG ist folglich für die Berufsgenossenschaften in ihrer konkreten Ausgestaltung eröffnet. c) Verhinderungsmaßstab und verhältnismäßige Handelsbeeinträchtigung Um sich auf die Ausnahme von der Wettbewerbsordnung zu berufen, müssten die Berufsgenossenschaften durch die Wettbewerbsregeln an der Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich gehindert sein. In der insgesamt zweistufigen Prüfung darf zudem durch die Ausnahme zugunsten des Unternehmens nicht die Entwicklung des Handelsverkehrs in einem Ausmaß beeinträchtigt werden, das dem Interesse der Gemeinschaft zwiderläuft. aa) Verhinderung der besonderen Aufgabe (1) Beschreibung der besonderen Aufgabe der Berufsgenossenschaften Um festzustellen, ob die Wettbewerbsregeln die besondere Aufgabe der gewerblichen Berufsgenossenschaften rechtlich oder tatsächlich verhindern, muss zunächst die besondere Aufgabe beschrieben werden. Funktion, Wirkweisen und positivrechtliche Aufgabenzuweisung der gesetzlichen Unfallversicherung wurden im Ersten Teil der Arbeit ausführlich erläutert. Die Zusammenschau der einzelnen Bestandteile und Prinzipien erschwert es, den Auftrag der gesetzlichen Unfallversicherung als eine – singuläre – besondere Aufgabe zu erfassen. Auch der Verweis auf die kraft Gesetzes beschriebene Aufgabe ist nicht hilfreich, weil es sich in § 1 SGB VII um eine Aufgabentrias, zumindest aber mit Prävention und Versicherung um zwei abgrenzbare Aufgaben handelt. Es fragt sich also, ob die Formulierung des Art. 86 Abs. 2 EG es erfordert, für das in Rede stehende Unternehmen jeweils eine Aufgabe zu extrapolieren, um diese dann am Verhinderungsmaßstab zu überprüfen. Die Annahme einer besonderen Aufgabe besteht jedoch im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Ziel der Betrauung mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse 331. Besteht ein direkter Zusammenhang 332 zwischen den Dienstleistungen und der besonderen Aufgabe, so kann schon nach dem Wortlaut nicht die Singularität der Aufgabe erheblich sein, da nur die besondere Aufgabe im Singular, die Dienstleistungen jedoch im Plural verwendet werden. Jede übertragene Aufgabe einzeln und unabhängig von den übrigen zu prüfen, ergibt sich auch nicht als Erfordernis aus dem funktionalen Unternehmensbegriff. 331 Hochbaum / Klotz, in: von der Groeben / Schwarze, Vertrag über die EU und Vertrag zur Gründung der EG, Art. 86 EG Rn. 71. 332 Dienstleistungen und besondere Aufgabe müssen jedoch nicht identisch sein; aA Pernice / Wenicke, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 86 Rn. 36.

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Zwar kann sich für eine Einrichtung herausstellen, dass ein Teil ihrer Tätigkeit eine wirtschaftliche ist, eine andere jedoch nicht. Daraus ist jedoch noch nicht ersichtlich, welche besondere Aufgabe im Sinne des Art. 86 Abs. 2 EG die Einrichtung erfüllt. Die Aufgabe erhellt sich vielmehr aus dem Ziel, für dessen Erreichung sie mit den Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut ist. Unternehmen mit der Erfüllung bestimmter Aufgaben zu betrauen, stellt das mitgliedstaatliche Instrument der Wirtschafts- und Sozialpolitik dar, um die eigenen Ziele staatlicher Politik zu berücksichtigen und zu verwirklichen 333. Um die besondere Aufgabe zu bestimmen, muss also der Blick auf das verfolgte Ziel gerichtet werden, und nicht (nur) auf die einzelnen per Gesetz übertragenen Aufgaben, die nach diesem Verständnis das Mittel zum eigentlichen Zweck darstellen. Für den Europäischen Gerichtshof war deshalb folgerichtig die besondere Aufgabe eines Betriebsrentensystems, das es als Unternehmen eingestuft hatte, seine soziale Funktion 334. In den Diskussionen innerhalb des Schrifttums, das sich mit der Ausnahmemöglichkeit der gesetzlichen Unfallversicherung von den europäischen Wettbewerbsvorschriften auseinandersetzt, wird deren besondere Aufgabe kaum deutlich herausgearbeitet. Möller etwa nennt als Aufgaben, die für Art. 86 Abs. 2 EG Bedeutung haben könnten, den „geringfügigen Solidarausgleich“, das Bedürfnis einer Umlagefinanzierung und die Prävention als „Aufgabe außerhalb der eigentlichen Sozialversicherung“ 335. Die erste und dritte dieser Aufgaben seien jedoch nicht ausreichend. Für die Umlagefinanzierung legt der Autor eine Verhältnismäßigkeits-, vor allem eine Erforderlichkeitsprüfung an, hält das Ergebnis jedoch offen, unter anderem mit Verweis auf die unkalkulierbare Kontrolle durch den EuGH. Die Umlagefinanzierung kann allerdings eine Ausnahme nach Art. 86 Abs. 2 EG nicht begründen. Das Umlageverfahren ist keine Aufgabe der gesetzlichen Unfallversicherung, sondern bloßes Mittel zu ihrer Finanzierung. Die gesetzliche Unfallversicherung bliebe auch Sozialversicherung und in ihren charakteristischen Strukturen unverändert, wenn sie weiterhin beitragsfinanziert, jedoch nach dem Verfahren der Kapitaldeckung ihre Mittel aufbrächte 336. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Umlageverfahren zumindest im Zusammenhang mit der Pflichtmitgliedschaft ein Argument für eine Verhinderung der Aufgabe liefern kann. Es beschreibt jedoch nicht die besondere Aufgabe der Berufsgenossenschaften. Ähnliche Bedenken begegnen dem Ansatz, die Unfallverhütung als besondere Aufgabe im Sinne des Art. 86 Abs. 2 EG zu qualifizieren. Richtig ist, dass für sich genommen weder die Einheit des deutschen Rechtssystems im Unfallver333

EuGH Slg. 1999, I-6029, 6059 Rn. 103 f. (Brentjens’). EuGH Slg. 1999, I-6029, 6059 Rn. 105 (Brentjens’). 335 Möller, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben für Sozialversicherungsmonopole und das Grundgesetz, VSSR 2001, S. 25, 44 ff. 336 Siehe bereits oben I.5.c). 334

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sicherungsrecht 337 noch die Tradition der Aufgabenzuweisung an die Berufsgenossenschaften 338 die Ausnahme vom Wettbewerbsrecht für sich genommen zu begründen vermag. Unfallverhütung und die Versicherungstätigkeit sind zwar die Dienstleistungen, mit denen die Berufsgenossenschaften betraut sind, sie sind jedoch nicht zugleich das Ziel, das der Staat damit verfolgt und also auch nicht die besondere Aufgabe im Sinne des Art. 86 Abs. 2 EG 339. Die besondere Aufgabe der Berufsgenossenschaften als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung ist es, Versicherte vor dem Risiko abzusichern, durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit in der Erwerbsfähigkeit gemindert oder behindert zu sein und so die Erwerbsgrundlage (teilweise) zu verlieren. Die gesetzliche Unfallversicherung verwirklicht damit das soziale Schutzprinzip, das unmittelbar aus dem Sozialstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG fließt. Im Falle der Unfallversicherung durch die gewerblichen Berufsgenossenschaften handelt es sich um das soziale Schutzprinzip zugunsten der abhängig Beschäftigten, deren Schutzbedürftigkeit sich aus ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit von Erwerbsarbeit ergibt. Damit zielt die gesetzliche Unfallversicherung auf einen sozialen Zweck im Sinne der EuGH-Rechtsprechung ab. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Berufsgenossenschaften für den gewerblichen Sektor damit betraut worden, eine Versicherung gegen die genannten Risiken anzubieten und durch die Unfallverhütung die Risiken selbst zu minimieren. Durch diese Betrauung einschließlich der die Unfallversicherung charakterisierenden Strukturprinzipien hat die Bundesrepublik Deutschland ein konkretes System sozialer Sicherung ausgestaltet. In diesem wird jedoch nach hier vertretener Auffassung nicht der vom Europäischen Gerichtshof geforderte Grundsatz der Solidarität verwirklicht, so dass die Berufsgenossenschaften bei konsequenter Anwendung Unternehmen sind. Recht zu geben ist also Möller zumindest im Ergebnis insofern, als nicht „ein minimaler Solidarausgleich“ 340, wie er in der Tat allenfalls in der gesetzlichen Unfallversicherung zu erkennen ist, als besondere Aufgabe die Ausnahme begründen kann. Solidarität ist aber auch in den Sozialversicherungszweigen, in denen sie stärker ausgeprägt ist, nicht das Ziel der Sozialversicherung, sondern das Mittel, um gleichen sozialen Schutz zu verwirklichen.

337 Möller, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben für Sozialversicherungsmonopole und das Grundgesetz, VSSR 2001, S. 25, 46. 338 Seewald, Kein Monopol der gesetzlichen Unfallversicherung Teil II, SGB 2004, S. 453, 462 f. 339 So aber wohl Seewald, Kein Monopol der gesetzlichen Unfallversicherung Teil II, SGB 2004, S. 453, 462. 340 Möller, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben für Sozialversicherungsmonopole und das Grundgesetz, VSSR 2001, S. 25, 44.

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(2) Verhinderung der Aufgabenerfüllung Als Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechts können sich die Berufsgenossenschaften auf die Ausnahme nach Art. 86 Abs. 2 EG berufen, wenn die Anwendung der Wettbewerbsregeln die Erfüllung des so konkretisierten sozialen Schutzprinzips als besondere Aufgabe im Sinne des Art. 86 Abs. 2 EG verhindert. Dafür ist ein konkreter Konflikt zwischen der Aufgabenerfüllung und der Einhaltung der Vertragspflichten notwendig, wobei eine Gesamtrechnung aller betroffenen Tätigkeitsbereiche möglich ist 341. Die Einhaltung muss unmöglich im Sinne von unzumutbar sein 342. Auch die Maßstäbe daran, wann die Erfüllung der besonderen Aufgabe verhindert und nicht nur behindert wird, haben sich in der Entwicklung der Rechtsprechung verschoben 343. Der Europäische Gerichtshof wendet das Verhinderungskriterium mittlerweile häufig im Sinne eines Gefährdungsmaßstabs an. In den Rechtssachen „Brentjens’ u. a.“ betont er, dass der Ausnahmetatbestand nicht erst dann erfüllt sei, wenn das finanzielle Gleichgewicht oder das wirtschaftliche Überleben bedroht sei. Vielmehr genüge es, dass ohne die streitigen Rechte die Erfüllung der dem Unternehmen übertragenen besonderen Aufgaben gefährdet wäre oder die Beibehaltung der Rechte erforderlich sei, um die Aufgabenerfüllung zu wirtschaftlich tragbaren Bedingungen zu ermöglichen 344. Im konkreten Fall bejahte der EuGH für den mit einer Pflichtversicherung betrauten Betriebsrentenfonds eine Unmöglichkeit, die Aufgaben zu erfüllen, und erkannte zudem eine Gefährdung des wirtschaftlichen Gleichgewichts, wenn der Fonds den Wettbewerbsregeln unterläge: Private Versicherer im Wettbewerb könnten günstigere Versicherungsbedingungen für gute Risiken anbieten, so dass diese aus dem Betriebsrentenfonds ausscheiden würden. Der Aufwand für die im Betriebsrentenfonds verbleibenden schlechten Risiken würde immer höher und dies um so mehr, wenn das System durch einen erhöhten Grad an Solidarität gekennzeichnet sei. In der noch mit strengerem Maßstab entschiedenen Rechtssache „Corbeau“ stellte der EuGH ebenfalls darauf ab, ob nur die Verpflichtung auf eine flächendeckende Versorgung einen Ausgleich zwischen unterschiedlich rentablen Tätigkeitsbereichen erlaube oder ob sich anderenfalls private Unternehmen im Wettbewerb die rentableren Gebiete im Sinne des Rosinenpickens aussuchen könnten, so dass das wirtschaftliche Gleichgewicht verhindert wäre 345. Die strengen Stimmen in der 341

Pernice / Wenicke, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 86 Rn. 56. Jung, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EGV und EUV, Art. 86 EGV Rn. 45; kritisch im Hinblick auf subjektive Unzumutbarkeit Koenig / Kühling, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 86 EGV Rn. 62. 343 Zur Entwicklung und zur Kritik daran Koenig / Kühling, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 86 EGV Rn. 58 ff. 344 EuGH Slg. 1999, I-6029, 6060 Rn. 107 (Brentjens’). 345 EuGH Slg. 1993, I- 2533, Rn. 17 ff. 342

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Literatur fordern auch bezogen auf diese Kriterien, dass die Aufgabenerfüllung objektiv unmöglich ist. Als besondere Aufgabe der Berufsgenossenschaften wurde der soziale Schutz der abhängig Beschäftigten vor dem Risiko eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit beschrieben. Die Wettbewerbsregeln auf die Berufsgenossenschaften anzuwenden hieße, den Wettbewerb mit privaten Unternehmen grundsätzlich zu eröffnen und sie den Verbotsnormen der Art. 81 ff. EG zu unterwerfen 346. Auch hier steht also eine hypothetische Überlegung an: Würde sich ein Wettbewerb der Berufsgenossenschaften mit privaten Anbietern so auswirken, dass ihre Aufgabenerfüllung verhindert würde? Um einen ausreichenden Schutz der Beschäftigten zu garantieren, müsste die Versicherung bei einem privatrechtlichen Unternehmen, das eine Unfallversicherung auf fremde Rechnung anbietet, jedenfalls als Pflichtversicherung des Unternehmers ausgestaltet sein. Weniger klar ist, wie die Aufgabe der Prävention zu ordnen wäre. Als Ausprägung des staatlichen Schutzauftrags ist sie Aufgabe des Staates, der jedoch frei darin ist, wie er diese Aufgabe erfüllt, und der auch die Befugnis hat, diesen Auftrag Dritten zu übertragen. Im bestehenden System übernehmen diese Aufgabe die Berufsgenossenschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts neben der Tätigkeit als Versicherung. Dabei könnte es auch ein System belassen, das nur die Versicherungstätigkeit dem Wettbewerb öffnete. Die präventive Arbeit der Berufsgenossenschaften stellt jedoch einen erheblichen Teil ihrer Kosten dar, so dass Unternehmen, die diese Lasten nicht zu tragen hätten, in den Genuss eines deutlichen und quantifizierbaren Wettbewerbsvorteils kämen. Die Rentabilität der Berufsgenossenschaften wäre erheblich in Frage gestellt. Alternativ könnte die Prävention auch den privaten Versicherungen als Beliehene übertragen werden. Dazu bedürfte es eines Beleihungsaktes, der seinerseits unter Gesetzesvorbehalt steht 347. Es ist jedoch rechtlich wie praktisch nicht vorstellbar, dass durch Beleihungsakt alle auch potenziellen Anbieter einer Unfallversicherung mit der Präventionsaufgabe betraut werden. Die Ausübung hoheitlicher Befugnisse wäre uferlos und eine sachgerechte Aufgabenerfüllung 348 nicht gewährleistet. Umgekehrt wäre nicht auszuschließen, dass Unternehmen nicht beliehen würden und dann ebenfalls den Wettbewerbsvorteil geringerer Kosten genössen. Schließlich ist denkbar, die Aufgabe der Prävention vollständig von der Unfallversicherung zu lösen und sie anderen staatlichen Einrichtungen zu übertragen. Dies zu fordern, 346 Zur Frage, welche im einzelnen in Betracht kommen siehe oben I.2. und 6. Es ist an dieser Stelle nicht notwendig, eine konkrete Regelung zu benennen, die die Aufgabenerfüllung verhindert, denn das würde bedeuten, die Wettbewerbsregeln auf die Berufsgenossenschaften anzulegen. Art. 86 Abs. 2 EG ermöglicht jedoch gerade, die Anwendung von vornherein auszuschließen. 347 Wolff / Bachof / Stober, Verwaltungsrecht Band 3, § 90 Rn. 44. 348 Wolff / Bachof / Stober, Verwaltungsrecht Band 3, § 90 Rn. 39.

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bedeutete jedoch einen eklatanten Eingriff in die mitgliedstaatliche Befugnis, ihre Systeme der sozialen Sicherheit auszugestalten. Den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung neben der eigentlichen Versicherung auch die Unfallverhütung mitsamt den erforderlichen hoheitlichen Befugnissen zu übertragen, zählt zu den Grundentscheidungen in diesem Sicherungssystem. Zwar sind die Mitgliedstaaten auch bei Inanspruchnahme der Befugnis an Gemeinschaftsrecht gebunden. Daraus lässt sich jedoch kein Erfordernis begründen, ein System gänzlich anders umzugestalten. Forderungen nach dem sogenannten unbundling, der Trennung von hoheitlichen Aufgaben und wirtschaftlicher Tätigkeit 349, haben im Bereich der sozialen Sicherung keine Gültigkeit. Somit kann auch nicht die Frage nach der Zweckmäßigkeit des Systems im Vergleich zu anderen erheblich sein 350. Zweifel bestehen also schon im Hinblick darauf, ob sich die Unfallversicherung einschließlich der Prävention für einen Wettbewerb öffnen ließe. Diese Zweifel wachsen zudem mit Blick auf die besondere Aufgabe, das soziale Schutzprinzip. Zunächst sei aber der Fokus noch auf die Versicherung gerichtet. Eine Unfallversicherung im Wettbewerb zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Anbietern hätte Auswirkungen in mehrfacher Hinsicht. Zunächst wäre in einer Privatversicherung, für die der Unternehmer die Prämien zahlt, das Liquiditätsrisiko von Unternehmer und Versicherungsunternehmen nicht vergleichbar der gesetzlichen Versicherung ausgeschlossen. Es ließe sich allenfalls durch einen Entschädigungsfonds vergleichbar demjenigen für Opfer im Straßenverkehr auffangen. Auswirkungen wären auch in einem Teilbereich der Versicherungsleistungen zu erwarten. Zwar ließe sich durch eine entsprechende gesetzliche Vorgabe etwa die Höhe der Entschädigungsleistungen in Geld einheitlich bestimmen. Eine gesetzliche Vorgabe, die auch den derzeitigen Anforderungen an die Rehabilitation gerecht wird, ist jedoch nicht denkbar: Gemäß § 1 Nr. 2 SGB VII haben die Unfallversicherungsträger im Versicherungsfall mit allen geeigneten Mitteln die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Versicherten wiederherzustellen. Privatrechtlichen Versicherungen wäre zwar ein Sachleistungssystem, nicht jedoch die Anwendung aller geeigneten Mittel vorzuschreiben. Als Wirtschaftsbetriebe sind sie zwangsläufig an Kosten-Nutzen-Erwägungen orientiert. Eine gesetzliche Regelung, die sie auf Ausgaben ohne Ansehung der Kosten verpflichtete, griffe in ihre grundrechtlich geschützte Privatautonomie ungerechtfertigt ein. Weil nur die Berufsgenossenschaften alle geeigneten Mittel einzusetzen hätten, käme es zum einen zu einer Diskrepanz im Leistungsniveau und damit zu einem schlechteren Schutz derjenigen Versicherten, die privat abgesichert wären. Zum anderen ergäbe sich auch daraus ein Kostennachteil für die Berufsgenossenschaften und also ein Wettbe349 Dazu Emmerich, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Bd. 2, H.II Rn. 45 f. 350 So aber der Disput zwischen Seewald, Kein Monopol der gesetzlichen Unfallversicherung Teil II, SGB 2004, S. 453, 462 f. und Fuchs, Die Konformität des Unfallversicherungsmonopols mit dem Gemeinschaftsrecht, SGB 2005, S. 65, 74 f.

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werbsvorteil für die privaten Anbieter, die nach rein betriebswirtschaftlichen Kriterien kalkulieren könnten. Die Öffnung der Unfallversicherung würde ferner der Risikoauslese die Tür öffnen. In dieser Hinsicht tragen die Erwägungen des Europäischen Gerichtshofs im Urteil „Brentjens’“ auch für die gesetzliche Unfallversicherung 351: Private Versicherungen könnten Unternehmern aus weniger gefährlichen Branchen oder mit einem individuell geringeren Risiko einen Tarif anbieten, der noch stärker den Anforderungen der Einzeläquivalenz genügt und deshalb für den Unternehmer günstiger wäre. Zudem müssten sich private Versicherungen nicht mit schlechten Risiken belasten bzw. könnten ihre Tarife so gestalten, dass risikoreiche Unternehmer kein Interesse an einem Vertragschluss hätten. Die schlechten Risiken verblieben also bei den Berufsgenossenschaften, deren Last sich wegen der Abwanderung der guten Risiken kumulierte. Dadurch muss jedoch nicht die Aufgabe der Unfallversicherung verhindert sein, denn die höheren Lasten trügen allein die Unternehmer und nicht die Beschäftigten, denen das soziale Schutzprinzip zugute kommt. Die Kumulation schlechter Risiken und somit höherer Lasten auf die Berufsgenossenschaften brächte jedoch das Gleichgewicht des Systems erheblich ins Wanken, so dass als ungesichert gelten muss, ob die Aufgabenerfüllung noch möglich wäre. Vor allem würde ein Wettbewerb zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Anbietern dem branchengegliederten System ein Ende bereiten. Bei freier Wahl einer Versicherung könnten Unternehmen nicht länger nach Branchen geordnet werden. Die Branchengliederung gilt zwar auch als Grundentscheidung im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung. Sie ist jedoch zum einen nicht unabänderlich, zumal auch das SGB VII selbst in § 118 die Vereinigung von Berufsgenossenschaften zulässt, ohne Vorgaben hinsichtlich der Branchenzugehörigkeit aufzustellen. Zum anderen dient die Branchengliederung nicht unmittelbar dem sozialen Schutzprinzip der Unfallversicherung. Allerdings ist nicht zu bestreiten, dass zumindest derzeit noch die Prävention stark branchenspezifisch ausgestaltet ist und durch die besondere Nähe und den Zuschnitt auf die Branche als besonders effektiv gilt. Schließlich ließe sich durch ein Nebeneinander von privater und gesetzlicher Unfallversicherung das Konzept der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung nicht durchgängig verwirklichen. Die Selbstverwaltung ist den Körperschaften öffentlichen Rechts eigen. In der Sozialversicherung setzen sich die Organe der Selbstverwaltung gemäß § 44 SGB IV aus Vertretern der Versicherten und der Arbeitgeber zusammen. Eine vergleichbare Vorgabe für private Unternehmen, Versicherte und Versicherungsnehmer an der Unternehmensführung zu beteiligen, stellte eine Verletzung der über die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten unternehmerischen Freiheit dar. Allerdings fragt sich, 351

EuGH Slg. 1999, I-6029, 6060 Rn. 107.

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ob ein Bruch in der Selbstverwaltungsordnung die Erfüllung der besonderen Aufgabe verhinderte. Der Grundsatz der Selbstverwaltung ist zwar tragendes Organisationsprinzip der Sozialversicherung 352, er genießt jedoch nach überwiegender Auffassung keine verfassungsrechtliche Garantie 353. Es ist überdies unklar, wie stark der Zusammenhang zwischen Selbstverwaltungsrecht und sozialem Schutzprinzip ausgeprägt ist. Durch die paritätische Mitbestimmung in der Selbstverwaltung nehmen die an der Sozialversicherung Beteiligten teil an der mittelbaren Staatsverwaltung, was den „korporatistischen Zuschnitt der deutschen Wohlfahrtstaatlichkeit“ 354 zeigt. Somit ist eher ein Bezug zum Demokratieprinzip denn zum Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes hergestellt. Ohne deren Verhältnis zueinander anzusprechen, kann jedoch zumindest notiert werden, dass die Selbstverwaltung nicht zuvörderst das soziale Schutzprinzip erfüllt. In der Praxis hat sich die Funktion der Selbstverwaltung ohnehin wegen der detaillierten Sozialgesetzgebung gewandelt 355, so dass man nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts 356 überhaupt nur noch bedingt von Selbstverwaltung sprechen könne. Zusammengefasst lässt sich für die Selbstverwaltung zwar feststellen, dass bei einer Öffnung des Wettbewerbs ein Organisationsgrundsatz der Unfallversicherung aufgebrochen würde, dadurch würde jedoch die Erfüllung des sozialen Schutzprinzip allenfalls verändert oder erschwert, nicht jedoch verhindert im Sinne des Art. 86 Abs. 2 EG. Auch der Bruch in der branchengegliederten Struktur der gesetzlichen Unfallversicherung würde nicht die Verwirklichung des sozialen Schutzprinzips verhindern. Bei Anlegung des strengeren Maßstabes reicht eine bloße Erschwernis dadurch, dass unter Umständen ohne Branchennähe etwa die Prävention ineffektiver wäre, nicht aus, um die Ausnahme vom Wettbewerbsrecht zu begründen. Die Tätigkeitsbereiche Prävention, Rehabilitation und die Versicherung an sich würden indes so empfindlich gestört, dass das soziale Schutzprinzip kaum noch zu erfüllen wäre: Die Aufgabe der Prävention verbliebe bei den Berufsgenossenschaften, verlöre aber ein wichtiges Instrument dadurch, dass nicht mehr durch die gleiche Hand Einfluss auf die Beitragsgestaltung genommen werden könnte. Umgekehrt stellte die einseitige Belastung der Berufsgenossenschaften mit der Prävention einen erheblichen Kostennachteil dar. Kumuliert mit den Kostennachteilen einer negativen Risikohäufung und dem höheren Leistungsniveau in der Rehabilitation, wäre dies eine Abkehr vom wirtschaftlichen Gleichgewicht. Wirtschaftlich tragfähige Bedingungen lägen so nicht mehr vor, und auch die Unmöglichkeit der 352 353 354 355 356

BSGE 58, 247, 251. Steinbach, in: Hauck / Haines, Sozialgesetzbuch SGB IV, K § 29 Rn. 23 mwN. Eichenhofer, Sozialrecht, Rn. 287. Bley / Kreikebohm / Marschner, Sozialrecht, Rn. 407. BVerfGE 39, 302, 313 f.

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Aufgabenerfüllung wäre mehr als eine bloß subjektive Unzumutbarkeit, weil die Berufsgenossenschaften gerade im Vergleich zu ihren privaten Wettbewerbern mit eklatanten Nachteilen ausgestattet würden. Sie unterlägen im freien Wettbewerb objektiv schlechteren Bedingungen, von einem unverfälschtem Markt im Sinne des Gemeinschaftsrechts könnte nicht mehr gesprochen werden. Betroffen wären zwar zunächst die Unternehmer, deren Beiträge zu den Berufsgenossenschaften stiegen. Dass aber auch die sozial Schutzbedürftigen selbst ein funktionierendes Sicherungssystem verlören, zeigt sich im Leistungsbereich der Rehabilitation, die zur Zwei-Klassen-Leistung degenerierte. Dies ist umso bedeutsamer, als die Wiederherstellung nicht nur der Gesundheit, sondern auch der Leistungsfähigkeit mit allen geeigneten in besonderem Maße der sozialen Stellung abhängig Beschäftigter gerecht wird: Leistungsfähigkeit ist für sie Grundvoraussetzung, um sich durch Erwerbsarbeit die Lebensgrundlage zu sichern. Die gesetzliche Unfallversicherung erfüllt als System sozialer Sicherung das soziale Schutzprinzip des Staates. Wenn Mitgliedstaaten auch in der Gemeinschaft die Befugnis behalten, ihre sozialen Sicherungssysteme auszugestalten, muss darin die Befugnis enthalten sein, Sicherungssysteme der Marktlogik zu entziehen. Auf diese Kompetenz bezieht sich etwa auch Generalanwalt Poiares Maduro in seinen Schlussanträgen zur Rechtssache FENIN, um Hinweise für die Unternehmenseigenschaft einer Einrichtung zu gewinnen. Dafür sei bedeutsam, ob der Staat, als er eine Tätigkeit im Sinne einer angestrebten Verteilungspolitik ausschließlich staatlichen Einrichtungen übertrug, die allein Erwägungen der Solidarität verpflichtet wären, sie jeglicher Marktlogik entziehen wollte 357. Der Staat kann jedoch auch einem Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechts Tätigkeiten übertragen und damit eine bestimmte Politik verfolgen, die dann – trotz der für sich genommen unternehmerischen Tätigkeit – der Marktlogik entzogen werden soll. Gemeinschaftsrechtlicher Anknüpfungspunkt für diesen Widerstreit zwischen gemeinschaftlichem Ziel eines gerade einer Marktlogik unterliegenden Wirtschaftspolitik und der gemeinwohl- und sozialstaatlich orientierten Wirtschaftspolitik des Mitgliedstaates ist Art. 86 Abs. 2 EG. Wenn seine Voraussetzungen erfüllt sind, darf der Mitgliedstaat die besondere Aufgabe der Marktlogik entziehen. bb) Beeinträchtigung der Entwicklung des Handelsverkehrs Vorausgesetzt wird in Art. 86 Abs. 2 Satz 2 EG schließlich, dass die Entwicklung des Handelsverkehrs nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt wird, das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft. Die Entwicklung des Handelsverkehrs betrifft den freien Wirtschaftsverkehr innerhalb Gemeinschaft insgesamt. Es muss also der Gesamtprozess und nicht lediglich der Handelsverkehr bezogen auf ein357

Generalanwalt Poiares Maduro, Schlussanträge in der Rs. C-205/03, Rn. 52 f.

I. Wettbewerbsrecht

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zelne Produkte beeinflusst sein 358. Das Interesse der Gemeinschaft ist aus ihren Grundsätzen und Zielen aus den Art. 2, 3, 4, 12 EG sowie den Marktfreiheiten und der Wettbewerbsordnung zu bestimmen. Als vorrangig ist unbestritten der einheitliche Markt mit unverfälschten Wettbewerbsbedingungen zu sehen 359. Unklar ist, welche Bedeutung innerhalb des Ausnahmetatbestands dem Satz 2 zukommt. Während diejenigen Autoren, die in Art. 86 Abs. 2 EG insgesamt eine Rechtfertigungsmöglichkeit nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit erblicken, dem Satz 2 die Grundlage für eine Verhältnismäßigkeit in engerem Sinne entnehmen 360, prüft der Europäische Gerichtshof diese Voraussetzung zum Teil gar nicht 361. In seiner Funktion muss Art. 86 Abs. 2 Satz 2 jedoch als Grenze 362 für die Ausnahme angesehen werden. Weil er zudem auf ein bestimmtes Ausmaß der Handelsbeeinträchtigung abstellt, ist die Grenze über eine Abwägung zwischen der besonderen Aufgabe des Unternehmens und dem Interesse der Gemeinschaft zu bestimmen. Das Interesse der Gemeinschaft an einem unverfälschten Wettbewerb auf dem Binnenmarkt steht dabei in einem prinzipiellen Konflikt mit einer besonderen Aufgabe, wenn diese durch ein wettbewerbsfeindliches Monopol erfüllt wird. Allerdings bestehen schon Zweifel, ob das gesetzliche Unfallversicherungsmonopol den Handelsverkehr als Gesamtprozess der Gemeinschaft zu beeinträchtigen imstande ist, denn es wird nur eine konkrete Versicherungsform durch das Monopol angeboten und dadurch dem Markt entzogen. Darüber hinaus ist insbesondere die damit verfolgte Aufgabe so beschaffen, dass eine Abwägung mit Gemeinschaftsinteressen nicht zu ihren Ungunsten ausfallen muss. Zwar ist der freie Handelsverkehr vorrangiges Ziel der Gemeinschaft. In Art. 16 EG wird indes seit dem Vertrag von Amsterdam auch den Diensten von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse ein hoher Stellenwert zugeschrieben, so dass auch die Garantie dieser Dienste zu den Vertragsgrundsätzen zählt. In die Abwägung ist ferner einzustellen, dass Deutschland mit der gesetzlichen Unfallversicherung einen sozialen Zweck verfolgt und sein soziales Sicherungssystem gestaltet. Diese Befugnis ist anerkannt, zudem ist diese Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft weitgehend vorenthalten. Weil die soziale Sicherung vom Gemeinschaftsrecht im Grundsatz bewusst ausgenommen ist, kann ihre Ausgestaltung für sich genommen dem Gemeinschaftsinteresse nicht zuwiderlaufen. Den Berufsgenossenschaften als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung die Ausnahme nach Art. 86 Abs. 2 Satz 1 EG zu gewähren, beeinträchtigt schon nicht die Entwicklung des Handelsverkehrs. 358 Jung, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EGV und EUV, Art. 86 EGV Rn. 51. 359 Koenig / Kühling, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 86 EGV Rn. 51. 360 Koenig / Kühling, in Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 86 EGV Rn. 66. 361 EuGH Slg. 1999, I-6029 (Brentjens’). 362 Grill, in: Lenz / Borchardt (Hrsg.), EU- und EG-Vertrag, Art. 86 EGV Rn. 29.

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

Selbst wenn man dies anders einschätzte, so wäre in der Beeinträchtigung aber kein Ausmaß erreicht, das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft. d) Zwischenergebnis Die Berufsgenossenschaften können sich auf die Ausnahmevorschrift des Art. 86 Abs. 2 EG berufen. Sie sind durch § 1 SGB VII mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut und verwirklichen damit das soziale Schutzprinzip, das der deutsche Gesetzgeber innerhalb seiner Befugnis als besondere Aufgabe im Bereich der Unfallsicherung den Berufsgenossenschaften für den gewerblichen Sektor übertragen hat. Diese Aufgabe könnten die Berufsgenossenschaften nicht mehr erfüllen, wenn die Wettbewerbsregeln zu beachten wären, die Berufsgenossenschaften also im Wettbewerb mit privaten Versicherungen eine Unfallversicherung anbieten müssten. Insbesondere das finanzielle Gleichgewicht und der soziale Schutzauftrag in der Rehabilitation wären erheblich und objektiv gefährdet. Die gesetzliche Unfallversicherung aus den Wettbewerbsregeln herauszunehmen, würde die Entwicklung des Handelsverkehrs nicht oder zumindest nicht in einem relevanten Ausmaß beeinträchtigen. In der Abwägung mit dem Gemeinschaftsinteresse kommt dem sozialen Zweck, der mitgliedstaatlichen Befugnis zur Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme und dem Art. 16 EG eine ausreichende Bedeutung zu. 8. Ergebnis Die gewerblichen Berufsgenossenschaften als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung sind Unternehmen im Sinne von Art. 81 ff. EG. Dem anderslautenden Ergebnis des Bundessozialgerichts vom 11. 11. 2003 kann nicht gefolgt werden, weil es auf einer vorschnellen und nicht stringenten Übertragung der Argumentation des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache INAIL auf das deutsche Recht beruht. Sowohl EuGH als auch BSG stellen den Versuch an, den in bisheriger Rechtsprechung zur Unternehmenseigenschaft von Einrichtungen sozialer Sicherung elementaren Grundsatz der Solidarität zugunsten der Unfallversicherung nutzbar zu machen und ihr so die wirtschaftliche Tätigkeit abzusprechen. Die gesetzliche Unfallversicherung verwirklicht diesen Grundsatz jedoch nicht, weil nicht innerhalb einer solidarischen Gruppe umverteilt wird. Solidarität besteht allenfalls in der Gruppe der Unternehmer durch das Lastenausgleichsverfahren zwischen den Berufsgenossenschaften. Jedoch wird die Beitragshöhe für den einzelnen Unternehmer trotzdem in erster Linie nach dem versicherungstechnischen Äquivalenzprinzip berechnet. Ohnehin verfolgt diese Art Solidarität auch keinen sozialen Zweck, der jedoch auch nach EuGH-Rechtsprechung notwendig ist. Auch ohne das Mittel der Solidarität verwirklicht die Unfallversicherung aber Elemente des sozialen Ausgleichs, weil über sie auch Sekundärrisiken versichert

I. Wettbewerbsrecht

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sind. Zudem verwirklicht sie das Sozialstaatsgebot aus Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG, denn sie sichert einen umfassenden Schutz abhängig Beschäftigter vor den Wechselfällen des Lebens, namentlich dem Risiko, durch Arbeitsunfall oder Berufskrankheit die Erwerbsfähigkeit zu verlieren. Nach der auf das Element der Solidarität festgelegten Rechtsprechung des EuGH reicht dies jedoch nicht aus, um die Unternehmenseigenschaft der Berufsgenossenschaften abzulehnen. Ob ihre Tätigkeiten wirtschaftliche sind, muss also der hypothetische Vergleich mit einem privatrechtlichen System zeigen, das dieselben Ziele erreichen muss, ohne die Mittel gänzlich umzugestalten. Eine private Unfallversicherung auf fremde Rechnung, zu deren Abschluss Unternehmer verpflichtet würden, könnte die Alternative sein. Die Ziele der Unfallversicherung und die vergleichbaren Mittel etwa in der Leistungserbringung müssten dann durch gesetzliche Mindestregelungen auch für die privatrechtlichen Verträge verbindlich vorgeschrieben werden. Weil die gesetzliche Unfallversicherung hypothetisch durch ein privatrechtliches System substituierbar ist, müssen die Berufsgenossenschaften als Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechts gelten. Damit unterliegen sie und auch die Bundesrepublik Deutschland über die Verweisungsnorm des Art. 86 Abs. 1 EG im Grundsatz den Wettbewerbsregeln. Die Berufsgenossenschaften können jedoch aus der Anwendung herausgenommen werden, weil sie sich auf die Ausnahme gemäß Art. 86 Abs. 2 EG berufen können. Diese Norm löst den Konflikt zwischen dem gemeinschaftsrechtlichen Interesse am freien Markt mit unverfälschten Wettbewerbsbedingungen und dem mitgliedstaatlichen Interesse, bestimmte Gemeinwohlaufgaben mit Wirtschaftsbezug durch nationale Wirtschaftspolitik der Marktlogik zu entziehen. Die Dienstleistungen, mit denen die Berufsgenossenschaften betraut sind, erfüllen mit dem sozialen Schutzprinzip eine besondere Aufgabe, die im deutschen System der sozialen Sicherung durch öffentliche Einrichtungen getragen werden soll. Zwar könnte, wie der hypothetische Vergleich gezeigt hat, ein Teil der Dienstleistungen auch unter bestimmten Voraussetzungen von privaten Versicherungsunternehmen erbracht werden. Die Unfallversicherung dem Wettbewerb zu öffnen, würde jedoch dazu führen, dass die Berufsgenossenschaften an der Erfüllung der benannten besonderen Aufgabe gehindert wären. Das gewählte System sozialer Sicherung wäre in seinem wirtschaftlichen Gleichgewicht bedroht und könnte das soziale Schutzprinzip nicht länger für alle abhängig Beschäftigten garantieren. Die Herausnahme der Berufsgenossenschaften aus den Wettbewerbsvorschriften beeinträchtigt zuletzt auch nicht die Entwicklung des Handelsverkehrs. Sofern eine Abwägung als nötig erachtet wird, sprechen insbesondere die mitgliedstaatliche Kompetenz und die Bekenntnis in Art. 16 EG zu den Diensten im allgemeinen Interesse dafür, dass die Erfüllung der besonderen Aufgabe, also des sozialen Zwecks nicht den Gemeinschaftsinteressen zuwiderläuft. Die Wettbewerbsvorschriften werden mithin auf die Berufsgenossenschaften nicht angewendet. Weder die Berufsgenossenschaften noch die Bundesrepublik Deutschland verstoßen gegen das europäische Wettbewerbsrecht.

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

II. Dienstleistungsfreiheit Das im SGB VII geregelte System der gesetzlichen Unfallversicherung in Deutschland ist nicht nur aus wettbewerbsrechtlicher Sicht von gemeinschaftsrechtlichem Interesse. Das Recht der Unfallversicherung kann eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs aus Art. 49 EG darstellen. In der zu Systemen gesetzlicher Unfallversicherungen ergangenen Rechtsprechung blieb dieser Aspekt bis dato unerwähnt: Sowohl in der Rechtssache INAIL vor dem Europäischen Gerichtshof als auch im danach ergangenen grundlegenden Urteil des Bundessozialgerichts waren die Weigerungen von Unternehmern, zu den inländischen Pflichtversicherungen Beiträge zu zahlen, Anlass der Richtersprüche gewesen. Während in den Verfahren eine Bindung an die Vorlagefrage bzw. die subjektive Rechtsverletzung des Klägers einen Blick auf die Dienstleistungsfreiheit ausschloss, drängt sich ohne diese Bindungen jedoch die Frage auf, ob die Dienstleistungsfreiheit in der EU durch das Unfallversicherungsrecht ungerechtfertigt beschränkt ist. 1. Bedeutung der Art. 49 ff. EG im Kontext der Grundfreiheiten Für den gemeinschaftlichen Binnenmarkt sind die Grundfreiheiten konstituierend. Die Verwirklichung des Binnenmarktes als Weiterentwicklung des Gemeinsamen Marktes 363 ist gemäß Art. 14 Abs. 1 EG Aufgabe der Gemeinschaft. Art. 14 Abs. 2 EG definiert den Binnenmarkt als Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist. Der Abbau der technischen Schranken, also der Hindernisse dieser Grundfreiheiten war und ist Element der schrittweisen Verwirklichung des Binnenmarktes 364. Die Grund- oder Marktfreiheiten sind insgesamt Pfeiler des Binnenmarktes, im einzelnen aber durch den Vertrag mit gewissen Unterschieden ausgestaltet: Warenund Dienstleistungsverkehr unterliegen einem umfassenden Beschränkungsverbot, während beim freien Personenverkehr das Verbot einer diskriminierenden Behandlung eine größere Rolle spielt 365. Die Marktfreiheiten sind indes wie kaum ein zweites Gebiet des Gemeinschaftsrechts durch eine umfängliche Prägung durch die EuGH-Rechtsprechung gekennzeichnet. Herauskristallisiert hat sich insbesondere, dass an die Beschränkungsmöglichkeit aller Grundfreiheiten ein vergleichbarer Rechtfertigungsmaßstab angelegt wird 366. Beschränkungen der unterschiedlichen Grundfreiheiten im Wesentlichen gleich zu behandeln, trägt der Bedeutung auch ihrer Gesamtheit für den Binnenmarkt Rechnung. 363 Fischer, Europarecht, Rn. 377, mit weiterführenden Hinweisen zur Diskussion um das Verhältnis von Gemeinsamem Markt und Binnenmarkt. 364 Fischer, Europarecht, Rn. 371 ff. 365 Herdegen, Europarecht, § 15 Rn. 3. 366 Herdegen, Europarecht, § 15 Rn. 4.

II. Dienstleistungsfreiheit

235

Art. 49 EG verbietet Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Gemeinschaft nach Maßgabe der vertraglichen Regelungen. Innerhalb der Marktfreiheiten übernimmt die Dienstleistungsfreiheit eine subsidiäre 367 oder lückenfüllende 368 Funktion. Dabei fällt in der Praxis insbesondere die Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 43 EG schwer, die über den Zeitfaktor gelingen soll: Die Dienstleistungsfreiheit geht von vorübergehendem Aufenthalt des Erbringers aus, die Niederlassungsfreiheit setzt eine gewisse Dauer in der Anwesenheit voraus 369. Trotz ihres an sich ergänzenden Charakters ist die Dienstleistungsfreiheit vor dem Hintergrund eines sich ausdehnenden tertiären Sektors immer bedeutsamer geworden 370 und existiert als eigenständige Gewährleistung innerhalb der Grundfreiheiten. 2. Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch die Zwangsversicherung in der gesetzlichen Unfallversicherung Art. 49 EG verbietet Beschränkungen des Dienstleistungsverkehrs. Der Begriff der Dienstleistung wird im Vertrag selbst in Art. 50 EG definiert. Dienstleistungen sind danach Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden und nicht den Vorschriften über die übrigen Grundfreiheiten unterliegen. In Art. 50 Abs. 2 EG werden Beispiele für Dienstleistungen genannt, aus Abs. 3 ergibt sich unmittelbar auch die Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit über das Attribut „vorübergehend“. Das Gemeinschaftsrecht verzichtet indes darauf, auch die Beschränkungen zu definieren. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH fallen darunter alle Maßnahmen, die die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen 371. a) Beschränkende Maßnahme Das SGB VII regelt das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung. Weil der Begriff der Maßnahme mit Absicht als weit zu verstehende Beschränkungsform gewählt wurde, sind jedenfalls nationale Gesetze von ihm erfasst. Kraft Gesetzes wird bestimmt, dass Beschäftigte in der gesetzlichen Unfallversicherung gegen das Risiko von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten versichert sind und die Unter367 Kluth, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, Art. 49, 50 EGV Rn. 13 ff. 368 Herdegen, Europarecht, § 18 Rn. 1. 369 Kluth, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, Art. 49, 50 EGV Rn. 13. 370 Hobe, Europarecht, Rn. 310. 371 Vgl. EuGH EuZW 2000, 763 (Corsten).

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

nehmer den Beitrag zur Unfallversicherung bei der für sie ebenfalls kraft Gesetzes zuständigen Berufsgenossenschaft zu tragen haben. Das SGB VII begründet also eine Zwangsversicherung zulasten der Unternehmer und zugunsten der Beschäftigten. Die zwangsweise Ausgestaltung kraft Gesetzes ist Maßnahme im Sinne der EuGH-Rechtsprechung, die zur Folge hat, dass für Unternehmer wirtschaftlich kein Interesse bleibt, eine Unfallversicherung für Rechnung ihrer Arbeitnehmer bei einem anderen Anbieter als der Berufsgenossenschaft abzuschließen. Versicherung gegen Unfälle ist Dienstleistung im Sinne des Gemeinschaftsrechts, dafür spricht etwa, dass gemäß Art. 51 Abs. 2 EG der Bereich Versicherungen explizit erwähnt wird. Die Dienstleistung würde durch private Anbieter auch gegen Entgelt erbracht 372. Wegen der Zwangsversicherung ist es also weder für Versicherungsunternehmen attraktiv, eine Unfallversicherung anzubieten, noch für Unternehmer möglich, eine Unfallversicherung mit gleicher Wirkung wie die gesetzliche bei einem anderen Träger nachzufragen. Betroffen vom Recht der gesetzlichen Unfallversicherung sind also sowohl die aktive als auch die passive Dienstleistungsfreiheit 373. Damit Art. 49 EG überhaupt zur Anwendung kommen kann, ist ein grenzüberschreitender Bezug notwendig: Erbringer oder Empfänger der Dienstleistung müssten die Grenze eines Mitgliedstaates in einen anderen überqueren, möglich ist auch, dass allein die Dienstleistung selbst die Grenze überquert 374. Das Erfordernis der Grenzüberschreitung schließt eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch das Unfallversicherungsrecht nicht aus, denn es ist durchaus denkbar, dass ohne dieses System ein deutscher Unternehmer seine Mitarbeiter bei einem ausländischen Versicherungsunternehmen versicherte, so dass in dem Fall zumindest die Dienstleistung Versicherung die Grenze überschritte. Der Europäische Gerichtshof hat für Privatversicherung allerdings die Niederlassungsfreiheit vorrangig behandelt, wenn das Versicherungsunternehmen eine Agentur, eine Zweigniederlassung oder ein Büro in einem anderen Mitgliedstaat unterhält 375. Vorliegend sind jedoch die Überlegungen zu einer Beschränkung der Grundfreiheiten wegen der bestehenden Rechtslage fiktiv. Sie können sich auch deshalb auf die Dienstleistungsfreiheit beschränken, weil in den Vorschriften zur Dienstleistungsfreiheit zum Teil auf diejenigen der Niederlassungsfreiheit verwiesen wird und zudem durch die Rechtsprechung ein insgesamt vereinheitlichter Maßstab an die Beschränkungsmöglichkeit aller Grundfreiheiten angelegt wird. 372 Auch Versicherung in der gesetzlichen Unfallversicherung wird gegen einen Beitrag erbracht. Sie ist nicht staatliche Leistung, der die Entgeltlichkeit fehlt, dafür spricht auch die Einordnung der Berufsgenossenschaften als Unternehmen; vgl. zu den staatlichen Leistungen Kluth, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, Art. 50 EGV Rn. 12. 373 Zu den Begriffen etwa Fischer, Europarecht, Rn. 515. 374 Hobe, Europarecht, Rn. 314. 375 Möller, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben für Sozialversicherungsmonopole und das Grundgesetz, VSSR 2001, S. 25, 52.

II. Dienstleistungsfreiheit

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b) Bereichsausnahme für Sozialversicherungen? Allerdings ist fraglich, ob die Art. 49 ff. EG überhaupt auf Systeme der sozialen Sicherung anzuwenden sind. Eine Ausnahme aus der Dienstleistungsfreiheit für die Sozialversicherung gewissermaßen a priori nimmt insbesondere Fuchs 376 an und begründet dies aus der Kompetenz heraus: Die schon nach früherer Rechtslage bestehende Überzeugung, dass die Gemeinschaft keine Regelungsbefugnis im Bereich der sozialen Sicherheit habe, sei durch Art. 137 EG bestärkt worden. Der Bereich der sozialen Sicherung sei von den Harmonisierungs- und Liberalisierungsbemühungen ausgenommen, was sich auch daran zeige, dass die Sozialversicherung ausdrücklich aus den Schadensversicherungsrichtlinien der EU ausgeklammert worden sei. Diese Frage habe auch der EuGH in der Rechtssache „Garcia“ 377 eindeutig zugunsten der Sozialversicherung entschieden. Unbestreitbar ist für die Systeme der sozialen Sicherung bisher zwar koordinierendes, nicht jedoch harmonisierendes Sekundärrecht ergangen 378. Unbestritten ist auch die Befugnis der Mitgliedstaaten, ihre Systeme der sozialen Sicherung zu regeln, aus der sich umgekehrt eine Unzulässigkeit ergibt, dass gemeinschaftsrechtliche Vorgaben die genaue Gestaltung der Systeme regeln. Gleichwohl bleiben die Mitgliedstaaten bei Ausübung der Befugnisse an Gemeinschaftsrecht gebunden. Die grundsätzliche Bindung spricht dagegen, diesen Bereich a priori aus der Anwendung der Grundfreiheiten herauszunehmen. In dem als Referenz herangezogenen Urteil „Garcia“ hat der EuGH ausdrücklich lediglich zur Anwendbarkeit der Richtlinie 92/49/EWG 379 ablehnend Stellung bezogen 380. Die Regelungen zu den Grundfreiheiten selbst hat er nur insofern angesprochen, als auf sie die fragliche Richtlinie gestützt werden kann, daraus aber keine Kompetenz für den Bereich der sozialen Sicherheit hervorgeht 381. Dass jedoch die EU keine Befugnis hat, Regelungen zu erlassen, die die Grundprinzipien der mitgliedstaatlichen Systeme sozialer Sicherheit gestalten, bedeutet nicht zwangsläufig eine Bereichsausnahme aus den Grundfreiheiten. Ebenso wie durch den funktionalen Unternehmensbegriff die 376 Fuchs, Vereinbarkeit von Sozialversicherungsmonopolen mit dem EG-Recht, ZIAS 1996, S. 338, 347 ff; ders., Die Konformität des Unfallversicherungsmonopols mit dem Gemeinschaftsrecht, SGB 2005, S. 65, 72 f.; wohl auch in ders. (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, S. 396 Rn. 14. 377 EuGH Slg. 1996, I-1673. 378 Es bleibt unklar, aus welchem Grund Seewald, Kein Monopol der gesetzlichen Unfallversicherung Teil I, SGB 2004, S. 387, 454 bezogen auf die Dritte Schadensversicherungsrichtlinie zu einem anderen Ergebnis kommt, vgl. dazu aber überzeugend Fuchs, Die Konformität des Unfallversicherungsmonopols mit dem Gemeinschaftsrecht, SGB 2005, S. 65, 72 f. 379 Richtlinie vom 18. 6. 1992, ABl. Nr. L 228/1 (Dritte Schadensversicherungsrichtlinie). 380 EuGH Slg. 1996, I-1673, 1685 Rn. 8 ff. 381 EuGH Slg. 1996, I-1673, 1686 Rn. 13.

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

Anwendbarkeit des Wettbewerbsrechts auch für Sozialversicherungsträger überprüfbar ist, müssen einzelne Tätigkeiten an den Grundfreiheiten zu messen sein. Das bestätigt auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs etwa in der Rechtssache „Kohll“, in der es um eine Regelung innerhalb des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung ging: Dass die streitige Regelung zum Bereich der sozialen Sicherheit gehört, schloss die Anwendung der Vorschriften über die Dienstleistungsfreiheit nicht aus 382. Es wäre auch aus rechtssystematischen Erwägungen unpräzise und mit großer Rechtsunsicherheit verbunden, eine Maßnahme und deren Auswirkungen auf die Grundfreiheiten deshalb aus deren Anwendungsbereich vorab auszunehmen, weil sie innerhalb des sozialen Sicherungssystems angesiedelt ist. Damit wäre jede Kontrolle, ob Maßnahmen und Regelungen gemeinschaftskonform sind, allein dadurch unmöglich, dass ihnen durch den Mitgliedstaat ein Etikett „soziale Sicherung“ angehängt würde. Dies widerspräche den Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts, nicht zuletzt dem Gebot des „effet utile“. Umgekehrt liegt in der grundsätzlichen Anwendbarkeit auch der Vorschriften über die Grundfreiheiten nicht per se ein Eingriff in die mitgliedstaatliche Kompetenz, denn ebenso wie das Wettbewerbsrecht enthält auch die Systematik der Grundfreiheiten ausreichend Beschränkungsmöglichkeiten, die den Interessen und Befugnissen der Mitgliedstaaten gerecht werden. In Art. 49 ff. EG sind zunächst ausdrücklich Bereichsausnahmen vorgesehen. Das gilt gemäß Art. 55 EG in Verbindung mit Art. 45 EG für die Ausübung hoheitlicher Gewalt. Erfasst sind damit Tätigkeiten, die spezifisch hoheitlich ausgerichtet sind und nicht bereits solche, die nur herkömmlicherweise öffentlichrechtlichen Charakter haben 383. Im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung kann nur die Aufgabe der Prävention als Ausübung öffentlicher Gewalt bezeichnet werden (dazu unter 3.), nicht jedoch die Versicherungsleistung. Diese ist zwar im bestehenden System öffentlich-rechtlicher Art, muss dies aber nicht zwangsläufig sein. Ähnlich einer Bereichsausnahme wirkt sich der Ansatz aus, nach dem Sozialversicherungsträger, die keine Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechts sind, auch keine Dienstleistungen im Sinne der Art. 49 EG erbringen 384. Zum einen trägt dies für die gesetzliche Unfallversicherung nicht, weil nach hier vertretener Auffassung deren Träger Unternehmen sind. Zum anderen ist Giesen darin recht zu geben, dass es nicht auf die Dienstleistungsqualität der Tätigkeit der Sozialversicherung, sondern auf die des Privatversicherungsschutzes ankommen 382

EuGH Slg. 1998, I-1931, 1943 Rn. 21. Bröhmer, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, Art. 45 EGV Rn. 3 f. 384 Etwa Becker, Gesetzliche Krankenversicherung zwischen Markt und Regulierung, JZ 1997, S. 534, 540. 383

II. Dienstleistungsfreiheit

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muss 385. Für Möller besteht ein Unterschied ohnehin dahingehend, ob ein rechtlich fixiertes oder ein „nur“ faktisches Monopol die Dienstleistungsfreiheit Privater beschränkt 386: Bei einem faktischen Monopol, das die Versicherungstätigkeit anderer nicht ausdrücklich untersagt, bliebe die theoretische Möglichkeit, die Dienstleistung auch bei privaten Unternehmen nachzufragen. Diese Unterscheidung mutet indes akademisch an – für Nachfrager wie private Anbieter macht es bei einer Zwangsversicherung gerade keinen Unterschied aus, ob die privatrechtliche Versicherung verboten oder „nur“ ökonomisch unsinnig ist. Einen Unterschied bedeutet dies auch nicht für die Verwirklichung des Binnenmarktes, so dass die Differenzierung von Möller – zumindest für den Bereich der Zwangsversicherungen – dem Gebot des „effet utile“ zuwiderläuft. Als wirtschaftlich tätige Einrichtungen bieten die Berufsgenossenschaften im Hinblick auf die Versicherungsleistungen indes nach hier vertretener Auffassung 387 ohnehin Dienstleistungen an. c) Ausnahme gemäß Art. 86 Abs. 2 EG Für eine Ausnahme von Art. 49 ff. EG verbleibt jedoch die Regelung des Art. 86 Abs. 2 EG. Dass die im Wettbewerbsrecht angesiedelte Exemtionsmöglichkeit auf die Grundfreiheiten anwendbar ist 388, wird ebenso anerkannt wie ihre Anwendbarkeit zugunsten der Mitgliedstaaten und nicht nur zugunsten der Unternehmen selbst 389. Entgegen dem klaren Wortlaut wird Art. 86 Abs. 2 EG innerhalb der Dienstleistungsfreiheit als Rechtfertigungstatbestand gelesen. Art. 86 Abs. 2 EG regelt jedoch, unter welchen Voraussetzungen die Vorschriften des Vertrags gelten und in welchen Fällen nicht. Der Wortlaut spricht also eindeutig dafür, von einer Herausnahme auch aus anderen Vertragsvorschriften auszugehen, wenn die Voraussetzungen im Einzelnen vorliegen. Dagegen spricht auch nicht der Standort der Ausnahmemöglichkeit: Systematisch steht sie in Zusammenhang mit den öffentlichen Unternehmen gemäß Art. 86 Abs. 1 EG, die wiederum einen Bezug zum Binnenmarkt und somit zu den Grundfreiheiten haben. Das weite Verständnis vom Begriff der Dienstleistung in Art. 86 Abs. 2 EG sowie der Verweis auf die Vorschriften des Vertrages, zu denen insbesondere, aber nicht ausschließlich die Wettbewerbsregeln zählen, ermöglicht es, die Ausnahme auf alle Grundfreiheiten zu beziehen.

385

Giesen, Sozialversicherungsmonopol und EG-Vertrag, S. 141. Möller, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben für Sozialversicherungsmonopole und das Grundgesetz, VSSR 2001, S. 25, 54. 387 Wohl auch nach der von Möller, der die Dienstleistungsfreiheit ebenfalls bei den Systemen für anwendbar hält, in denen kein Solidarausgleich stattfindet, VSSR 2001, S. 25, 55. 388 Pernice / Wenicke, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 86 Rn. 53. 389 Möller, VSSR 2001, S. 25, 57. 386

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

d) Zwischenergebnis Im Ergebnis ist also die gesetzliche Unfallversicherung im Hinblick auf ihre Versicherungstätigkeit deshalb nicht an der Dienstleistungsfreiheit zu messen, weil sich die Unfallversicherungsträger auf die Ausnahme gemäß Art. 86 Abs. 2 EG berufen können: Die Erfüllung ihrer besonderen Aufgabe wird durch die Anwendung der Dienstleistungsfreiheit auf die Versicherungstätigkeit ebenso verhindert wie bei Anwendung des Wettbewerbsrechts 390. In beiden Fällen brächte eine Öffnung der Versicherung für private Anbieter das finanzielle Gleichgewicht ins Wanken und gefährdete das soziale Schutzprinzip. Vorsorglich sei jedoch erläutert, dass auch ohne diese Ausnahme die Zwangesversicherung bei den Berufsgenossenschaften nicht gegen die Dienstleistungsfreiheit verstieße. Als nicht-diskriminierende Regelung unterliegt sie zwar dem allgemeinen Beschränkungsverbot. Die Beschränkung wäre jedoch aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt. Für die Warenverkehrsfreiheit ist die Rechtfertigung aus zwingenden Gemeinwohlinteressen aus der sogenannten Cassis-Rechtsprechung bekannt 391. Die Grundsätze wendet der Europäische Gerichtshof schon seit langem auch für die Dienstleistungsfreiheit an 392, die ebenfalls aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses beschränkt werden kann, sofern die Beschränkung verhältnismäßig ist 393. Rein wirtschaftliche Gründe können zur Rechtfertigung nicht herangezogen werden, wohl aber kann eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts eines Systems der sozialen Sicherheit einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen 394. Die Pflichtmitgliedschaft in der gesetzlichen Unfallversicherung unter Ausschluss einer freien Wahl bei privaten Anbietern sichert die wirtschaftliche Stabilität dieses konkreten sozialen Sicherungssystems. Umgekehrt zöge eine Öffnung des Systems für den Wettbewerb und die Unterwerfung der Versicherung unter die Dienstleistungsfreiheit, wie gezeigt 395, eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts nach sich. Auch das soziale Schutzprinzip zugunsten der abhängig Beschäftigten, das auch zu den zwingenden Allgemeininteressen eines Mitgliedstaates gezählt werden muss, wäre gefährdet und rechtfertigte also eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit bezogen auf die Versicherung gegen das Risiko von Arbeitsunfall und Berufskrankheit.

390 391 392 393 394 395

Dazu ausführlich oben I.7.c).aa). EuGH Slg. 1979, 649, 660 ff. (Cassis de Dijon – Leitentscheidung). EuGH Slg. 1974, 1299, 1309 (van Binsbergen). Hobe, Europarecht, Rn. 322. EuGH Slg. 1998, I-1931, 1948 Rn. 41 (Kohll). Oben I.7.c)aa).

II. Dienstleistungsfreiheit

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3. Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch den Präventionsauftrag Eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit liegt auch nicht darin, dass die Aufgabe der Prävention den Unfallversicherungsträgern übertragen und privaten Anbietern verschlossen ist. Gemäß Art. 55 EG in Verbindung mit Art. 45 EG sind Tätigkeiten, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind, vom Anwendungsbereich der Grundfreiheiten ausgenommen. Die Berufsgenossenschaften übernehmen in der Unfallverhütung für den gewerblichen Bereich den staatlichen Schutzauftrag und sind mit weitreichenden Eingriffs- und Vollstreckungsbefugnissen ausgestattet, die klassisch hoheitliche Handlungsformen darstellen. In diesem Bereich sind sie nicht unternehmerisch tätig 396, so dass darin schon keine Dienstleistung im Sinne der Art. 49 ff. EG liegt. 4. Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch das Leistungserbringungsrecht Durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist viel Bewegung in das nationale Recht der sozialen Sicherung gekommen, soweit die Leistungserbringung durch Sozialversicherungsträger betroffen ist. In den maßgeblichen Entscheidungen hat der EuGH bisher mehrfach die passive Dienstleistungsfreiheit von EU-Bürgern beeinträchtigt gesehen, die in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat Gesundheitsleistungen (Waren und Dienstleistungen) empfingen bzw. empfangen wollten und dabei von ihrer Versicherung auf unterschiedliche Weise behindert wurden 397. Das grenzüberschreitende Recht sozialer Sicherheit regelt derzeit noch die Verordnung (EWG) 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern 398. Die Verordnung koordiniert das Sozialrecht der Mitgliedstaaten, um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer herzustellen. Sie fußt auf der Befugnis aus Art. 42 EG und regelt daher in ihren Ursprüngen das Freizügigkeitsrecht und nicht unmittelbar die Dienstleistungsfreiheit. Mit dem Charakter als freizügigkeitsspezifisches Sozialrecht lässt das Koordinierungsrecht die Existenz nationaler Sicherungssysteme unberührt 399. Gleichwohl hat der Europäische Gerichtshof in 396 Kluth, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, Art. 55 Rn. 12. 397 Vgl. die Darstellung bei Fuchs, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, S. 25 Rn. 88 ff. 398 Vom 14. Juni 1971, ABl. Nr. L 149 und Durchführungsverordnung VO (EWG) 574/72 vom 21. 3. 1972. 399 Fuchs, in; Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, S. 12 Rn. 35 f.

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

verschiedenen Urteilen das mitgliedstaatliche Sozialrecht in einen Zusammenhang auch mit der Dienstleistungsfreiheit gebracht und so zumindest mittelbar auf die Gestaltung der Sicherungssysteme Einfluss genommen 400. a) Die Rechtsprechung zur Dienstleistungsfreiheit in der Leistungserbringung Ausgehend von den Urteilen in den Rechtssachen „Kohll“ 401 und „Decker“ 402, die für die späteren Verfahren „Vanbraekel“ 403 und „Smits / Peerboms“ 404 leitend waren, lassen sich folgende Grundsätze für die Subsumtion sozialrechtlicher Leistungserbringung unter die Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 49 EG 405 zusammenfassen 406: Ausgangspunkt ist auch in diesem Zusammenhang die oft wiederholte Formel, das Gemeinschaftsrecht lasse die Befugnis der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung der Systeme der sozialen Sicherheit unberührt, bei der Ausübung der Befugnis müssten sie aber das Gemeinschaftsrecht beachten. Setzt eine Sozialversicherung für eine Auslandsbehandlung eine vorherige Genehmigung voraus, stellt dies eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit dar. Die Beschränkung kann jedoch gerechtfertigt werden aus den Grundsätzen der Art. 55, 46 EG oder aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses. Besondere Bedeutung hat in der Urteilsreihe die Rechtssache „Smits / Peerbooms“, in der der EuGH ausdrücklich auch Leistungen, die nach dem Sachleistungsprinzip gewährt werden, als Dienstleistungen im Sinne des Art. 50 EG anerkennt, weil auch sie gegen Entgelt erbracht werden 407. Die Urteile sind in der juristischen Literatur breit behandelt und mit durchaus unterschiedlicher Wertung für ihre Wirkung auf das deutsche Sozialversicherungsrecht bedacht worden 408. Für das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung hat der Gesetzgeber durch Einführung der Absätze 4 bis 6 in § 13 SGB V den Vorgaben des EuGH Rechnung getragen und eine Kostenerstattung bei Inanspruchnahme einer Leistung in einem anderen Mitgliedstaat geregelt. Für die gesetzliche Unfall400 Vgl. zur Änderung des Krankenversicherungsrechts durch § 13 Abs. 4 –6 SGB V Fuchs, Das neue Recht der Auslandskrankenbehandlung, NZS 2004, S. 225, 228 ff. 401 EuGH Slg. 1998, I-1931. 402 EuGH Slg. 1998, I-1871. 403 EuGH Slg. 2001, I-5363. 404 EuGH Slg. 2001, I-5473. 405 In der Rechtssache „Decker“ und auch in anderen möglichen Fallgestaltungen ist die Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 39 EG einschlägig, die vom EuGH erarbeiteten Grundsätze sind jedoch die gleichen. 406 Fuchs, Luxemburg locuta – causa finita – quaestio non soluta, NZS 2002, S. 337, 338 f. 407 EuGH Slg. 2001 I-5473, 5528 Rn. 54 ff. 408 Vgl. Darstellung und Nachweise bei Fuchs, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, S. 27 Rn. 92.

II. Dienstleistungsfreiheit

243

versicherung fehlt eine entsprechende Vorschrift im SGB VII bisher, statt dessen hat jedoch die Rechtsprechung die Entwicklung aufgegriffen: Das LSG BadenWürttemberg 409 hatte sich mit einem Fall zu befassen, in dem ein Versicherter nach erlittenem Arbeitsunfall und erteilter Kostenzusage an den behandelnden Zahnarzt sich im EG-Ausland zahnärztlich behandeln lassen wollte und Kostenübernahme durch die Berufsgenossenschaft verlangte. Diese verweigerte die Übernahme mit dem Hinweis darauf, dass in der gesetzlichen Unfallversicherung keine freie Wahl der medizinischen Leistungen vorgesehen sei. Die daraufhin erhobene Klage wies die Vorinstanz mit der Begründung ab, die Berufsgenossenschaft habe ermessensfehlerfrei entschieden, die Beschränkung des Zugangs zu einer Behandlung im EGAusland sei gerechtfertigt gewesen. Im Berufungsverfahren gab das LSG hingegen dem Versicherten insofern Recht, als sich sein Anspruch auf Kostenerstattung „auf Grund der im Europarecht verankerten Grundsätze des freien Wettbewerbs und der Dienstleistungsfreiheit“ ergebe. Zwar erkannte es (im Leitsatz) auch einen ungeschriebenen Genehmigungsvorbehalt bei Selbstbeschaffung von ambulanten medizinischen Auslandsleistungen an, sah jedoch im konkreten Fall nicht dargetan, dass sich die beklagte Berufsgenossenschaft auf die strengen Voraussetzungen für einen solchen Genehmigungsvorbehalt berufen hatte. Das Urteil, das – soweit ersichtlich – bislang unkommentiert geblieben ist, zeigt, wie weitgehend sich die Wirkung der mit dem „Kohll-Urteil“ angestoßenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs niederschlägt: Ein Leistungsanspruch des in der gesetzlichen Unfallversicherung Versicherten soll unmittelbar aus dem Vertragsrecht und zudem auf eine Leistungsart, namentlich die Kostenerstattung, erwachsen, die die Grundsätze des Unfallversicherungsrechts nicht vorsieht. Es fällt schwer, darin noch eine „Unberührtheit“ der mitgliedstaatlichen Befugnis zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherung zu sehen. b) Spannungsverhältnis zwischen mitgliedstaatlicher Primärzuständigkeit und Bindung an das Gemeinschaftsrecht Tatsächlich zeigt sich ein allgemeiner Widerspruch in der europäischen Rechtsprechung darin, wie die nationalen Sicherungssysteme im Hinblick auf die Dienstleistungsfreiheit einerseits und das Wettbewerbsrecht andererseits behandelt werden. Während der Ausgangspunkt stets derselbe zu sein scheint – die mitgliedstaatliche Kompetenz bezogen auf soziale Sicherungssysteme –, so wird die Bindung an das Gemeinschaftsrecht sehr unterschiedlich gewichtet, je nachdem ob die Versicherung als Einrichtung oder ihre Tätigkeit in der Leistungserbringung betroffen ist. Für die Einrichtung selbst prüft der EuGH sehr genau, ob die in Rede stehende Tätigkeit eine wirtschaftliche ist, um dann die Unternehmenseigenschaft im Sinne des Wettbewerbsrechts zu verneinen oder zu bejahen. Bei 409

LSG Baden-Württemberg, Breith. 2003, 500.

244

2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

der Leistungserbringung jedoch scheint die Beschaffenheit der durch die Sozialversicherungsträger erbrachten Dienstleistung – etwa ihr fehlender Marktbezug oder ihre staatliche und nicht unternehmerische Festlegung – für den Gerichtshof keine genaue Untersuchung wert zu sein 410. Das ist insofern konsequent, als es für die Anwendung der Art. 49 ff. EG nicht auf die Beschaffenheit der durch die Sozialversicherung angebotenen, sondern auf die der anderweitig nachgefragten Dienstleistung ankommen muss. Anders gewendet: In der Reihe der Urteile des EuGH stehen nicht die Leistungssysteme der Sozialversicherungen in Frage, sondern die Möglichkeit des Versicherten, seine passive Dienstleistungsfreiheit wahrzunehmen und medizinische Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat nachzufragen. Problematisch ist dies jedoch für solche Sicherungssysteme, die Leistungen nach dem Sachleistungsprinzip gewähren und keine Kostenerstattung vorsehen: Erkennt man trotzdem einen Anspruch auf Kostenerstattung unmittelbar aus Art. 49 EG an, weil dies die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof zu erfordern scheint, so berührt dies unmittelbar die Ausgestaltung des konkreten Systems sozialer Sicherung. Bedenken gegen diese Auswirkungen insbesondere im Hinblick auf die Kompetenzfrage formuliert deshalb zu recht Fuchs 411. Er fordert für die soziale Sicherheit eine Bereichsausnahme aus der Dienstleistungsfreiheit, der Bereich der Sozialversicherungsleistungen soll gemeinschaftsrechtlich allein Aufgabe des Koordinierungsrechts sein. Das Koordinierungsrecht ist unbestritten für die soziale Sicherung die zulässige Rechtsetzungsform der Gemeinschaft, weil sie sich auf unmittelbare primärrechtliche Befugnis in Art. 42 EG berufen kann. Die einschlägige Koordinierungsverordnung VO (EWG) 1408/71 regelt umfänglich das Recht grenzüberschreitender Gesundheitsleistungen mit freizügigkeitsspezifischem Bezug. Sie geht zum Teil sogar über den Anwendungsbereich des Art. 39 EG hinaus: In Art. 22 Abs. 1 Buchst c) und in Art. 55 Abs. 1 Buchst c) sind Fälle geregelt, die nicht die grenzüberschreitende Arbeitnehmertätigkeit, sondern die grenzüberschreitende Inanspruchnahme einer medizinischen Leistung betreffen. Berührt ist also schon in dieser Koordinierungsregel eher die Dienstleistungsfreiheit. Abweichend von der Einschätzung von Fuchs bestehen zudem grundlegende Bedenken gegen eine Bereichsausnahme zugunsten der sozialen Sicherung. Eine Regelung kann nicht allein deshalb nicht an den Vertragsvorschriften zu messen sein, weil sie dem – prinzipiell unbegrenzten und sehr dynamischen 412 – Bereich sozialer Siche410 411

EuGH Slg. 2001, I-5473, 5528 Rn. 53 ff. Fuchs, Luxemburg locuta – causa finita – quaestio non soluta, NZS 2002, S. 337,

340 ff. 412 Schnapp, Schranken der „Sozialverfassung“ des Grundgesetzes für den Ausbau des europäischen Sozialrechts?, in: Rainer Pitschas (Hrsg.), Internationalisierung von Staat und Verfassung im Spiegel des deutschen und japanischen Staats- und Verwaltungsrechts, Berlin 2002, S. 357, 359 f.

II. Dienstleistungsfreiheit

245

rung angehört. Das würde dem offenbar anerkannten Grundsatz, ein Mitgliedstaat habe bei Inanspruchnahme seiner Ausgestaltungsbefugnis Gemeinschaftsrecht zu beachten, und zuletzt dem Gebot des „effet utile“ widersprechen. Gleichwohl besteht ein Bedürfnis danach, das „Spannungsverhältnis“ 413 zwischen mitgliedstaatlicher Kompetenz und Bindung an das Gemeinschaftsrecht bei Ausübung der Kompetenz systematisch aufzulösen. Bieback schlägt daher vor, auf das Prinzip der praktischen Konkordanz zurückzugreifen, um europäischem Recht und dem Recht der Mitgliedstaaten zu optimaler Geltung zu verhelfen 414. Der Ansatz ist zwar vor allem wegen seiner Methodik zu begrüßen. Offen bleibt jedoch, welchen systematischen Anknüpfungspunkt das Prinzip praktischer Konkordanz im Gemeinschaftsrecht findet. Dieser kann sich nur innerhalb einer Prüfung ergeben, ob die Dienstleistungsfreiheit durch eine konkrete Maßnahme beschränkt wird. c) Beschränkende Maßnahme im Unfallversicherungsrecht Beschränkende Maßnahme kann ein Gesetz sein. Im deutschen Recht der gesetzlichen Unfallversicherung ist die Inanspruchnahme von Leistungen im Ausland nur an einer Stelle geregelt: Gemäß § 97 Nr. 2 SGB VII erhalten Berechtigte, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben, eine angemessene Kostenerstattung auch für die Leistungen, die nicht Geldleistungen sind. Diese Ausnahme vom Sachleistungsprinzip in der gesetzlichen Unfallversicherung knüpft an einen Aufenthalt im Ausland an und ist unabhängig davon, ob es sich um EG-Ausland handelt. Eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit ist darin nicht zu erblicken, weil eine Kostenerstattung ohne weitere Bedingungen gewährt wird. Nicht erfasst sind jedoch diejenigen Fälle, in denen Berechtigte ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, aber Leistungen im EG-Ausland in Anspruch nehmen möchten. Für bestimmte Fälle übernimmt Art. 55 VO (EWG) 1408/71 415 als unmittelbar anzuwendendes Sekundärrecht die Regelung: Abs. 1 Buchst. c) ermöglicht, dass ein Arbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat Anspruch auf Geld- und Sachleistungen hat, wenn er vom zuständigen Versicherungsträger eine Genehmigung erhalten hat, die gemäß Art. 55 Abs. 2 Satz 2 VO 1408/71 nicht verweigert werden darf, wenn der Arbeitnehmer in seinem Wohnortstaat die betreffende Behandlung nicht erhalten kann. Die Koordinierungsvorschrift regelt die sogenannte Sachleistungsaushilfe 416 und ist zum einen an eine Genehmigung des Trägers, zum anderen an die Voraussetzung gebunden, dass eine Behandlung 413

Fuchs, Luxemburg locuta – causa finita – quaestio non soluta, NZS 2002, S. 337,

342. 414

Bieback, Rechtliche und politische Dimensionen der EU-Gesundheitspolitik, in Igl (Hrsg.), Europäische Union und gesetzliche Krankenversicherung, S. 663 ff. 415 Vorgelegt ist mittlerweile als „Nachfolgerin“ VO (EG) 883/2004, ABl. Nr. L 200/1.

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

im Staat des Wohnorts nicht oder nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums erbracht werden kann. Ebenfalls an strenge Bedingungen geknüpft ist § 13 Abs. 3 SGB V, der eine Kostenerstattung abweichend vom Sachleistungsprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung vorsieht und für das Unfallversicherungsrecht analog angewendet wird 417: Eine Kostenerstattung ist dann zu gewähren, wenn eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbracht werden konnte oder zu unrecht abgelehnt wurde und die selbstbeschaffene Leistung notwendig war. Im Unfallversicherungsrecht fehlen Regelungen für die Fälle, in denen Versicherte Leistungen im EG-Ausland in Anspruch nehmen (wollen), ohne dass sie nach den genannten Voraussetzungen für die Behandlung indiziert sind. In Betracht kommt dafür eine ebenfalls analoge Anwendung des § 13 Abs. 4 bis 6 SGB V auch für die gesetzliche Unfallversicherung 418. Darin ist die Kostenerstattung für Krankenversicherte geregelt, die Sach- und Dienstleistungen im EGAusland in Anspruch nehmen, die tatbestandlichen Voraussetzungen richten sich insoweit nach den Grundsätzen, die durch die Rechtsprechung des EuGH entwickelt wurden 419. Für die deutsche gesetzliche Krankenversicherung ist der Kompetenzkonflikt zwischen Gemeinschaftsrecht und mitgliedstaatlicher Befugnis auf dem Gebiet sozialer Sicherung also durch die nationale Gesetzgebung gelöst: Der Mitgliedstaat selbst hat die Entwicklung der Rechtsprechung aufgegriffen und ihr nationale Gesetzeskraft verliehen. In der gesetzlichen Unfallversicherung ist dies bisher nicht geschehen. Eine analoge Anwendbarkeit des § 13 Abs. 4 bis 5 SGB V unterstellt, ist auch das Leistungserbringungsrecht der gesetzlichen Unfallversicherung dem Konflikt mit der Dienstleistungsfreiheit enthoben. Die analoge Anwendung begegnet jedoch Bedenken: Eine planwidrige Regelungslücke 420 ist im Unfallversicherungsrecht schwerlich zu begründen, weil wegen des strengen Sachleistungsprinzip keine Regelung zur Kostenerstattung existiert, die dem § 13 SGB V vergleichbar wäre. Die einzige Möglichkeit der Kostenerstattung ist an systematisch anderer Stelle unter der Abschnittsüberschrift „Mehrleistungen“ bei gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland als Sonderregelung vorgesehen. Die Hereinnahme der Kostenerstattung für Auslandsbehandlungen würde das Recht der Unfallversicherung wesentlich stärker aufbrechen, als es im Krankenversicherungsrecht der Fall ist, weil dieses die Kostenerstattung bereits grundsätzlich kennt. § 13 Abs. 4 bis 6 SGB V für die Unfallversicherung analog 416

Jung, Versicherungspflicht und Sachleistungsprinzip in der gesetzlichen Unfallversicherung als europarechtliche Probleme, in: Ebsen (Hrsg.), Europarechtliche Gestaltungsvorgaben für das deutsche Sozialrecht, S. 67, 69. 417 LSG Baden-Württemberg, Breith. 2003, 500; BSG 5. 10. 95, 2 RU 47/94. 418 Das LSG Baden-Württemberg konnte diese Möglichkeit nicht erwägen, weil der § 13 erst durch das Gesetz vom 14. 11. 2003, BGBl. I S. 2190, um die Absätze 4 bis 6 erweitert wurde. 419 Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 15/525, S. 80 ff. 420 Joerden, Logik im Recht, S. 328.

II. Dienstleistungsfreiheit

247

anzuwenden, müsste also als Rechtsfortbildung gewertet werden, die einseitig die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben zulasten der nationalen Gesetzgebungskompetenz überspannte. Aus ähnlichen Erwägungen verbietet sich eine analoge Anwendung des § 97 SGB VII 421: Es ist nicht begründbar, dass eine Norm, die tatbestandlich an den gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland anknüpft, auch für Tatbestände mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland anzuwenden sein soll. Von einer planwidrigen Regelungslücke kann bei diesem eindeutigen Wortlaut kaum die Rede sein. Ist die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen im EG-Ausland ohne eine Indikation im Sinne des § 13 Abs. 5 SGB V oder des Art. 55 Abs. 2 Satz 2 VO 1408/71 im Unfallversicherungsrecht nicht geregelt, bleibt es Sache der Berufsgenossenschaften zu entscheiden, ob sie die Kosten übernehmen. Die Weigerung im Einzelfall kann ebenso wie der vom LSG Baden-Württemberg entwickelte ungeschriebene Genehmigungsvorbehalt Maßnahme sein, die die Dienstleistungsfreiheit aus Art. 49 EG beschränkt und damit den Anforderungen an eine mögliche Rechtfertigung unterliegt. d) Keine Ausnahme gemäß Art. 86 Abs. 2 EG Zugunsten der Unfallversicherungsträger kann jedoch die Ausnahme gemäß Art. 86 Abs. 2 EG wirken: Nach ihrem klaren Wortlaut nimmt Art. 86 Abs. 2 EG die begünstigten Unternehmen aus der Anwendung sämtlicher Vorschriften des Vertrags heraus, sofern die Voraussetzungen vorliegen. Weil die Berufsgenossenschaften nach hier vertretener Auffassung Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechts sind, fragt sich also, ob es die Erfüllung ihrer besonderen Aufgabe verhindert, wenn die Art. 49 ff. EG gelten. Nach den Grundsätzen des EuGH und auch nach den Folgerungen des LSG Baden-Württemberg führt die Geltung der Art. 49 ff. EG im Ergebnis dazu, dass die Berufsgenossenschaften Kosten von Versicherten für Behandlungen im EG-Ausland zu übernehmen haben. Die Kostenerstattung bedeutet einen Bruch mit dem Sachleistungsprinzip. Die konkrete Gestalt des Sachleistungssystems sichern die Qualität der Versorgung und nicht zuletzt eine hohe Effizienz auch in wirtschaftlicher Hinsicht 422. Der finanzielle Aspekt kann indes nur dann für die Ausnahmemöglichkeit nach Art. 86 Abs. 2 EG relevant sein, wenn das Gleichgewicht des Systems nicht mehr gesichert ist. Die Qualität der Versorgung hängt eng mit der besonderen Aufgabe der Berufsgenossenschaften zusammen, das soziale Schutzprinzip zugunsten der ab421 Raschke, Kohll / Decker-Urteile des EuGH: Auswirkungen in der deutschen Unfallversicherung?, BG 1999, S. 152, 157, meint, die Vorschrift könne „so interpretiert“ werden. 422 Jung, Versicherungspflicht und Sachleistungsprinzip in der gesetzlichen Unfallversicherung als europarechtliche Probleme, in: Ebsen (Hrsg.), Europarechtliche Gestaltungsvorgaben für das deutsche Sozialrecht, S. 67, 80 ff.

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

hängig Beschäftigten zu verwirklichen. Das LSG Baden-Württemberg etwa nennt beispielhaft, dass die am Heilverfahren beteiligten Ärzte durch vertraglich übernommene Berichts- und Auskunftspflichten den Unfallversicherungsträger in die Lage versetzen, Unfallfolgen von den nicht unfallbedingten Gesundheitsstörungen abzugrenzen und somit die Heilbehandlung im gesetzlich geschuldeten Umfang erbringen zu können 423. Besondere Bedeutung für die Qualität von Heilbehandlung und Rehabilitation haben zudem das Durchgangsarzt- und das Verletzungsartenverfahren, die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auf vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls beruhen 424. Das Sachleistungsprinzip in der gesetzlichen Unfallversicherung prägt das soziale Schutzprinzip noch durch einen weiteren Aspekt aus: Versicherte müssen nicht in finanzielle Vorleistung treten, um Leistungen aus der Unfallversicherung zu erhalten. Die Kostenerstattung zu ermöglichen, würde zwar mit einem Grundprinzip der gesetzlichen Unfallversicherung brechen, das sowohl das finanzielle Gleichgewicht sichert, als auch das soziale Schutzprinzip ausprägt. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass dieser Bruch die Erfüllung der besonderen Aufgabe der Unfallversicherung mehr als nur modifiziert oder erschwert, nur weil Versicherte zusätzlich die Möglichkeit erhalten, Kostenerstattung zu verlangen 425. Dem Anspruch an den strengen Verhinderungsmaßstab des Art. 86 Abs. 2 EG genügt dies nicht. e) Anforderungen an eine beschränkende Maßnahme Mithin müssen sich Maßnahmen der Berufsgenossenschaften und auch ein ungeschriebener Genehmigungsvorbehalt an den Bedingungen messen lassen, denen die Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit unterliegt. Weil die Leistungserbringung keine Form der Ausübung öffentlicher Gewalt darstellt, scheidet auch Art. 55 EG in Verbindung mit Art. 45 EG als Ausnahme aus. Eine Rechtfertigung kommt aber nach Art. 55 EG in Verbindung mit Art. 46 EG aus Gründen der öffentlichen Gesundheit oder aus dem ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund, zwingende Gründe des Allgemeininteresses einzuwenden, in Betracht. Mithin greifen auch für das Leistungserbringungsrecht die vom EuGH entwickelten Grundsätze: Zwingende Gründe des Allgemeininteresses können sich nicht per se auf wirtschaftliche Argumente beziehen, wohl aber dann, wenn das finanzielle Gleichgewicht des Systems bedroht ist 426 oder eine Planbarkeit notwendig ist, 423

LSG Baden-Württemberg, Breith. 2003, 500, 503. BSG SGB 1993, 275 ff. 425 In der Praxis der Berufsgenossenschaften gibt es auch bisher schon Fälle grenzüberschreitenden Leistungsempfangs, der jedenfalls bis ins Jahr 1999 zu keinen finanziellen Verwerfungen führte, Raschke, Kohll / Decker-Urteile des EuGH: Auswirkungen in der deutschen Unfallversicherung?, BG 1999, S. 152, 157. 426 EuGH Slg. 1998, I-1935, 1948 Rn. 41. 424

II. Dienstleistungsfreiheit

249

um ein ausgewogenes, qualitativ hochwertiges Angebot zugänglich zu machen, das eine Kostenbeherrschung erfordert 427. Vor allem auf letzteres werden sich auch die Berufsgenossenschaften berufen können, wenngleich trotzdem bei jeder beschränkenden Maßnahme der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten bleibt. Eine generelle Weigerung, Kosten zu erstatten, genügte dem nicht 428, wohl aber ein Genehmigungserfordernis, das sich auf die genannten Argumente stützt. f) Zwischenergebnis Im Ergebnis unterliegen auch die Berufsgenossenschaften insoweit der Dienstleistungsfreiheit, als sie trotz fehlender ausdrücklicher Regelung eine Kostenerstattung bei einer Behandlung im EG-Ausland nicht generell verweigern, wohl aber unter einen Genehmigungsvorbehalt stellen dürfen. Es bleibt ein gewisses Unbehagen: Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags wirken sich auf die nationalen Sicherungssysteme dergestalt aus, das offenbar Brüche mit deren Grundprinzipen hinzunehmen sind. Abgemildert werden kann dieses Missbehagen auf dem Weg, der die auch durch den Europäischen Gerichtshof anerkannte Befugnis ausschöpft: Der nationale Gesetzgeber muss die Materien der Sozialversicherung im Hinblick auf die internationalen Bezüge regeln, will er die Gestaltung nicht aus der Hand geben. Ein Weg über Gemeinschaftsrecht, der die Interessen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten ausreichend berücksichtigt, verliefe über eine Koordinierung, die neben der Arbeitnehmerfreizügigkeit auch die anderen Grundfreiheiten erfasst 429. 5. Ergebnis Das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung unterliegt nur in Teilen der Dienstleistungsfreiheit aus Art. 49 EG. Soweit die Aufgabe der Prävention betroffen ist, handelt es sich schon nicht um Dienstleistungen im Sinne des EGVertrags, denn diese Aufgabe der Unfallversicherungsträger ist mit Ausübung hoheitlicher Gewalt verbunden und somit aus der Anwendung der Grundfreiheiten ausgenommen. Im Hinblick auf die Regelung, die den Zwangscharakter der Unfallversicherung bestimmen und so faktisch die aktive und passive Dienstleistungsfreiheit verhindern, können sich die Berufsgenossenschaften auf die Ausnahme aus Art. 86 Abs. 2 EG berufen: Weil die unbehinderte Inanspruchnahme der 427

EuGH Slg. 2001, I-5473, 5534 Rn. 76 ff. So auch Raschke, Kohll / Decker-Urteile des EuGH: Auswirkungen in der deutschen Unfallversicherung?, BG 1999, S. 152, 156. 429 Schnapp, Schranken der „Sozialverfassung“ des Grundgesetzes für den Ausbau des europäischen Sozialrechts?, in: Pitschas (Hrsg.), Internationalisierung von Staat und Verfassung im Spiegel des deutschen und japanischen Staats- und Verwaltungsrechts, S. 357, 374. 428

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2. Teil: Europarechtliche Zulässigkeit des deutschen Systems

Dienstleistungsfreiheit die Öffnung der Unfallversicherung für private Unternehmen bedeutete, könnte die besondere Aufgabe der Berufsgenossenschaften nicht mehr erfüllt werden. Das soziale Schutzprinzip wäre ebenso gefährdet wie das finanzielle Gleichgewicht des konkreten Systems der sozialen Sicherung. Auf eine Verhinderung der Aufgabenerfüllung können sich die Berufsgenossenschaften indes nicht berufen, soweit die Dienstleistungsfreiheit im Bereich der Leistungserbringung Geltung verlangt. Grenzüberschreitende Leistungserbringung ist im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung mit Ausnahme bestimmter Behandlungsindikationen bisher nicht geregelt. Eine generelle Weigerung der Berufsgenossenschaften, den Versicherten für Auslandsbehandlungen die Kosten zu erstatten, würde die Dienstleistungsfreiheit ungerechtfertigt beschränken. Umgekehrt bedeutete die Forderung, die Berufsgenossenschaft generell mit einer Pflicht zur Kostenerstattung zu belegen, einen Bruch mit dem Sachleistungsprinzip, das in der Unfallversicherung noch stärker als im Krankenversicherungsrecht ausgeprägt ist. Wenigstens ein Genehmigungsvorbehalt vor der Auslandsbehandlung ist den Unfallversicherungsträgern zuzugestehen, sie können sich dafür auf das Erfordernis der Planbarkeit in einem kostenintensiven und qualitativ hochwertigen Rehabilitationssystem berufen. Den offenbaren Konflikt der Marktfreiheiten mit den konkreten Systemen sozialer Sicherung muss der deutsche Gesetzgeber dadurch lösen, indem er durch eine detailliertere Gesetzgebung den Grundprinzipien wie etwa dem Sachleistungsprinzip auch für Fallgestaltungen mit Auslandsbezug, bei denen das freizügigkeitsspezifische Koordinierungsrecht nicht greift, zur Geltung verhilft.

III. Zusammenfassung 2. Teil Sowohl das Wettbewerbsrecht der Europäischen Union als auch die Vorschriften über die Grundfreiheiten sind auf die Berufsgenossenschaften anwendbar. Eine Bereichsausnahme existiert für sie als Träger der Sozialversicherung nicht. Die Berufsgenossenschaften sind Unternehmen im Sinne der Art. 81 ff. EG und unterliegen damit grundsätzlich den Wettbewerbsverboten. Insbesondere ein Grundsatz der Solidarität, der in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Schlüsselbegriff für die Unternehmenseigenschaft wird, ist in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht verwirklicht. Es war also angezeigt, die Tätigkeiten der Berufsgenossenschaften an anderen Kriterien zu messen, um sie als wirtschaftlich oder nicht wirtschaftlich einzustufen. Der hypothetische Vergleich mit einer privatrechtlichen Alternative erweist sich als Prüfung, die eine differenzierte Auseinandersetzung mit Zweck und Mitteln eines sozialen Sicherungssystems ermöglicht. Gesetzliche Mindestregelungen vorausgesetzt, muss man zu dem Ergebnis kommen, dass die Unfallversicherung auch durch ein privates Angebot zu substituieren wäre. Allerdings wäre dann die Erfüllung der besonderen Aufgabe der gesetzlichen Unfallversicherung, namentlich das soziale

III. Zusammenfassung 2. Teil

251

Schutzprinzip zu verwirklichen, verhindert. Deshalb können sich die Berufsgenossenschaften auf Art. 86 Abs. 2 EG berufen, so dass die Wettbewerbsvorschriften für sie nicht gelten. Art. 86 Abs. 2 EG ist die primärrechtliche Lösung eines grundlegenden Konflikts zwischen mitgliedstaatlicher Wirtschafts- und Sozialpolitik durch öffentliche Unternehmen und dem gemeinschaftsrechtliche Ziel von Markt und Wettbewerb: Dieser Konflikt manifestiert sich für die sozialen Sicherungssysteme an der Formel, dass zwar die Befugnis der Mitgliedstaaten, ihre Systeme sozialer Sicherung auszugestalten, unberührt bleibt, sie bei Inanspruchnahme der Kompetenz jedoch Gemeinschaftsrecht zu beachten haben. Eine Ausnahme gemäß Art. 86 Abs. 2 EG ist mit vergleichbarer Argumentation für die Berufsgenossenschaften aus den Vorschriften über die Dienstleistungsfreiheit möglich, soweit die Regelung im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung über die Pflichtversicherung betroffen ist: Diese kann die aktive und passive Dienstleistungsfreiheit zwischen den Mitgliedstaaten beschränken. Die Vorschriften über die Dienstleistungsfreiheit auf die Versicherungspflicht bei den Berufsgenossenschaften anzuwenden, bedeutete aber ebenfalls eine Verhinderung der Verhüllung ihrer besonderen Aufgabe. Weil Art. 86 Abs. 2 EG bei Vorliegen der Voraussetzungen eine Ausnahme allgemein aus den Vorschriften des EG-Vertrages erlaubt, erlangt auch die Dienstleistungsfreiheit keine Geltung. Ausgenommen ist auch die Präventionstätigkeit, weil für sie die Ausnahmevorschrift über die Ausübung öffentlicher Gewalt gilt. Demgegenüber unterliegt das Leistungsrecht der Sozialversicherung ohne Ausnahmemöglichkeit den Vorschriften über die Dienstleistungsfreiheit. Die Rechtsprechung des EuGH hat den Weg geebnet, aus Art. 49 EG sogar Ansprüche von Versicherten zu generieren, die nicht Wanderarbeitnehmer und daher nicht vom Koordinierungsrecht erfasste Personen sind. Ansprüche gehen nach dieser Rechtsprechung zudem auf eigentlich systemwidrige Leistungen, weil Kostenerstattung auch aus Versicherungsverhältnissen gewährt werden muss, die sich für ein Sachleistungsprinzip entschieden haben. In der gesetzlichen Unfallversicherung existieren derzeit keine Bestimmungen, die grenzüberschreitende Leistungserbringung außerhalb des europäischen Koordinierungsrechts regeln. Ein genereller Ausschluss jeder Kostenerstattung durch Gesetz oder Praxis der Berufsgenossenschaften würde die Dienstleistungsfreiheit unzulässig beschränken. Eine Beschränkung etwa durch einen differenzierten Genehmigungsvorbehalt ist jedoch möglich, weil eine Rechtfertigung über den Schutz der öffentlichen Gesundheit und aus Gründen zwingender Allgemeininteressen wegen der besonderen Gestalt der Rehabilitation gelingt.

3. Teil

Einfluss des Europäischen Sozialrechts Das Sozialrecht ist begrifflich wie systematisch weit weniger leicht zu fassen als es andere Rechtsmaterien sind. Gründe dafür liegen in der Vielschichtigkeit des Adjektivs „sozial“ ebenso wie in der relativen Neuheit des Rechtsgebiets und seiner erheblichen Dynamik. Was Sozialrecht ist, lässt sich nationalstaatlich formal bestimmen durch das, was im Sozialgesetzbuch geregelt ist 1. Es lässt sich zudem – in weitaus geringerer Einheitlichkeit – materiell über Gegenstand und Leitmotiv bestimmen: Durch den sozialen Gedanken, den Schwachen zu schützen 2. Durch eine Annäherung über Inhalt und Ziel sowie Form des öffentlichen Rechts, die den Bereich sozialer Leistungen prägt, hat sich ein vereinheitlichtes Verständnis von Sozialrecht und seiner Systematik 3 durchgesetzt. Verfassungsrechtlichen Ankerpunkt findet das Sozialrecht in seinem materiellen Gehalt insbesondere durch das Gebot der Sozialstaatlichkeit, das in Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG festgehalten und der Ewigkeitsgarantie gemäß Art. 79 Abs. 3 GG unterstellt ist. Die Sozialversicherung als vorkonstitutioneller Bestandteil des deutschen Sozialrechts wird in den Organisationsnormen Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2 und 120 Abs. 1 Satz 4 GG erwähnt. Doch dem Grundgesetz selbst lässt sich zu wenig entnehmen, um von einer klar konturierten Sozialverfassung sprechen zu können 4. Gleichwohl hat sich der offene Gestaltungsauftrag zur Sozialstaatlichkeit 5 durch vielfältige Gesetzgebungstätigkeit und Rechtsprechung konstant konkretisiert, wiewohl die wie kaum ein zweiter Bereich politisch dominierte Ausgestaltung der Staatszielbestimmung sich beständig im Fluss befindet.

1

Fuchs / Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 36. Eichenhofer, Sozialrecht, Rn. 4. 3 Fuchs / Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 36. 4 Schnapp, Schranken der „Sozialverfassung“ des Grundgesetzes für den Ausbau des europäischen Sozialstaats?, in: Pitschas (Hrsg.), Internationalisierung von Staat und Verfassung im Spiegel des deutschen und japanischen Staats- und Verwaltungsrechts, S. 357, 359 ff. 5 Schnapp, Schranken der „Sozialverfassung“ des Grundgesetzes für den Ausbau des europäischen Sozialstaats?, in: Pitschas (Hrsg.), Internationalisierung von Staat und Verfassung im Spiegel des deutschen und japanischen Staats- und Verwaltungsrechts, S. 357, 360. 2

I. Bisherige Entwicklung des Gemeinschaftsrechts

253

All das potenziert sich für und durch die Materie, die gemeinhin Europäisches Sozialrecht genannt wird. Den Begriff zu klären, ist schon wegen des in den Mitgliedstaaten uneinheitlich verwendeten Terminus Sozialrecht schwieriger als im nationalen Recht. Als praktikabel erweist sich eine Definition, nach der Europäisches Sozialrecht den Inbegriff aller von der EG geschaffenen Normen darstellt, die auf das Sozialrecht der Mitgliedstaaten gestaltend Einfluss nehmen 6. Dieses Verständnis ist für den Gegenstand dieser Untersuchung auch deshalb tauglich, weil es zum einen nur Gemeinschaftsrecht im Sinne des von der Europäischen Gemeinschaft erlassenen Primär- und Sekundärrechts erfasst. Zum anderen hebt er auf die entscheidende gestaltende Einflussnahme ab: Das Europäische Sozialrecht soll hier insofern von Interesse sein, als es mit der vertraglich wie richterlich streng repetierten Primärzuständigkeit der Mitgliedstaaten für ihre sozialen Sicherungssysteme bricht. Die These lautet folglich, dass gemeinschaftsrechtliche Einflussnahme zwangsläufig die anerkannte Befugnis der Mitgliedstaaten, die Grundprinzipien ihres Systems der sozialen Sicherheit festzulegen, berührt. Überprüfbar wird sie an den bisherigen Entwicklungen des Europäischen Sozialrechts, und auch der Ausblick – soweit er denn mehr als vage möglich ist – auf die Perspektiven der gemeinschaftsrechtlichen Sozialpolitik wird diese Annahme erhärten. Davon blieb und bleibt auch die Unfallversicherung als klassischer Zweig der deutschen Sozialrechtsordnung nicht unberührt.

I. Bisherige Entwicklung des Gemeinschaftsrechts 1. Der Ausgangspunkt der Europäischen Union als Wirtschaftsgemeinschaft Die Europäische Gemeinschaft gründet sich nicht in einer Sozial-, sondern in einer Wirtschaftsgemeinschaft. Die wirtschaftlichen Interessen der Mitgliedstaaten insbesondere am Gemeinsamen Markt waren und sind in der Geschichte der europäischen Einigung auch bei einer Vielzahl an Entwicklungsschritten offenkundig einfacher zu verhandeln und zu einem gemeinsamen Interesse zu bündeln gewesen als andere Politiken. Zu unterschiedlich waren (und sind) die Haltungen der Mitgliedstaaten dazu, was eine gemeinsame Sozialpolitik leisten kann und soll – dies auch und vor allem vor dem Hintergrund sehr unterschiedlicher Systeme in den Mitgliedstaaten selbst und nicht zuletzt durch die enorme Bedeutung in volkswirtschaftlicher Hinsicht begründet. Gleichwohl war schon der europäische Nucleus, der auch wirtschaftlich mutige Vorschlag von Schumann und Monnet zur Zusammenführung der Schlüsselindustrien in eine Montan-Union 7, von der Idee getragen, die Wirtschafts- zu einer Wertegemeinschaft zu entwickeln. Bei allen nationalstaatlichen Unterschieden vor allem der Systeme gehört der soziale 6 7

Eichenhofer, in: Oetker / Preis, EAS B 1200 Rn. 1. Oben I.

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3. Teil: Einfluss des Europäischen Sozialrechts

Fortschritt zweifelsfrei zu den gemeinsamen Werten, die indes eher als „Abfallprodukte“ 8 oder – optimistischer formuliert – im Wege des „spill over“-Effekts bei der Liberalisierung des Binnenmarktes verwirklicht werden sollten. Mittlerweile finden sich im EG-Vertrag in der derzeit gültigen Fassung des Vertrags von Nizza einige Vorschriften, die Ideen und Formen einer gemeinsamen Sozialpolitik explizit enthalten oder, ohne Sozialpolitik zu benennen, auf das mitgliedstaatliche Sozialrecht direkt oder indirekt Einfluss nehmen. Es sind dabei, soviel sei am Rande bemerkt, mehr Einzelnormen mit sozialrechtlichem Bezug im Vertragstext der nicht primär zuständigen EG zu zählen, als sie etwa das Grundgesetz beinhaltet. 2. Kompetenzen der Gemeinschaft a) Sozialpolitik gemäß Art. 136 ff. EG Gemäß Art. 2 EG gehört zu den Aufgaben der Gemeinschaft, ein hohes Maß an sozialem Schutz sowie den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern. Art. 3 Abs. 1 Buchst. j) EG bezeichnet eine Sozialpolitik mit einem Europäischen Sozialfonds, Buchst. k) die Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts als Tätigkeit der Gemeinschaft. Jedoch ergibt sich aus Aufgaben und Tätigkeiten noch keine Kompetenz der Gemeinschaft, denn gemäß Art. 5 Abs. 1 EG wird sie nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur innerhalb der Grenzen der ihr im Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig. Die EG bedarf also einer klaren Kompetenzzuweisung, um auf einem Gebiet rechtsverbindlich für die Mitgliedstaaten aktiv zu werden. Umso bedeutsamer ist daher die Hereinnahme des Titels über die Sozialpolitik in Art. 136 ff. EG durch den Amsterdamer Vertrag. Die Kompetenz der Gemeinschaft bleibt jedoch schmal: Art. 137 Abs. 1 Buchst. a) bis k) EG zählt die Gebiete der sozialen Fragen auf, in denen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten zusammenwirken. Zusammenwirken bedeutet nach dem Wortlaut des Vertrags jedoch lediglich, dass die Gemeinschaft die Tätigkeiten der Mitgliedstaaten unterstützt und ergänzt. Damit bleibt zum einen die Rangfolge zwischen Primärzuständigkeit der Mitgliedstaaten bestehen, zum anderen die Befugnis der Gemeinschaft auf den Erlass von Mindestregelungen – zum Teil sogar unter der Bedingung der Einstimmigkeit – begrenzt. Während also durch die Hereinnahme der Regelungen in Art. 137 ff. in den EGVertrag die Sozialpolitik auf Gemeinschaftsebene durchaus eine neue Qualität erhalten hat 9, ergeben sich auch deren Grenzen unmittelbar aus Vertrag: Gemäß 8 Schnapp, Schranken der „Sozialverfassung“ des Grundgesetzes für den Ausbau des europäischen Sozialstaats?, in: Pitschas (Hrsg.), Internationalisierung von Staat und Verfassung im Spiegel des deutschen und japanischen Staats- und Verwaltungsrechts, S. 357, 365. 9 Schulte, in: von Maydell / Ruland (Hrsg.), SRH, D 32, Rn. 12.

I. Bisherige Entwicklung des Gemeinschaftsrechts

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Art. 137 Abs. 2 Buchst. a) EG nimmt der Rat Maßnahmen auf den genannten Gebieten unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung an. Art. 137 Abs. 4 EG versucht durch Primärrecht den Grundsatz zu zementieren, dass die Bestimmungen der gemeinschaftsrechtlichen Sozialpolitik nicht die anerkannte Befugnis der Mitgliedstaaten berühren, die Grundprinzipien ihres Systems der sozialen Sicherheit festzulegen. Sie dürfen zudem das finanzielle Gleichgewicht dieser Systeme nicht beeinträchtigen. Zuweilen als bloße Programmsätze 10 deklariert, sind die Bestimmungen der Art. 136 ff. EG Grundlage von umfangreichem Gemeinschaftsrecht auf dem Gebiet zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer geworden 11. Von der Umsetzung der Richtlinien in nationales Recht war auch die Tätigkeit der Berufsgenossenschaften in der Unfallverhütung betroffen 12. Die Richtlinie über die Arbeitszeit hatte Auswirkungen auf die medizinische Versorgung, weil auf ihrer Grundlage das viel beachtete Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu den Bereitschaftsdiensten der Krankenhausärzte erging, die seither nicht länger als Ruhezeiten bei Berechnung der Höchstarbeitszeit gelten dürfen 13. Der EuGH erklärte in diesem und einem weiteren Fall 14 entsprechende Regelungen in Tarifverträgen für gemeinschaftsrechtswidrig, obwohl gemäß Art. 137 Abs. 5 EG das Koalitionsrecht aus der Geltung der sozialpolitischen Befugnisse genommen ist. b) Koordinierungskompetenz aus den Vorschriften über die Grundfreiheiten Sehr viel deutlicheren Einfluss auf die mitgliedstaatlichen Systeme sozialer Sicherung hatten und hat das Primärrecht durch Regelungen, die nach ihrem Wortlaut in keinem unmittelbaren Zusammenhang zur Sozialpolitik stehen: Die Grundfreiheiten, die Wettbewerbsordnung und die Unionsbürgerschaft. Die Anwendbarkeit einschließlich ihrer Auswirkung auf Sozialversicherungen der Mitgliedstaaten durch das Wettbewerbsrecht gemäß Art. 81 ff. EG und die Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 49 EG wurde im Zweiten Teil der Untersuchung ausführlich dargestellt. Gerade im Hinblick auf die Erbringung sozialer Leistungen erhärtete sich die These, dass die Grundprinzipien der Systeme entgegen anderslautender Beteuerungen vor allem durch die Durchsetzung der Grundfreiheiten sehr wohl berührt werden. Über jeden Kompetenzzweifel erhaben ist die Befugnis der EG, die notwendigen Maßnahmen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für die Herstellung der Frei10 Schnapp, Schranken der „Sozialverfassung“ des Grundgesetzes für den Ausbau des europäischen Sozialstaats?, in: Pitschas (Hrsg.), Internationalisierung von Staat und Verfassung im Spiegel des deutschen und japanischen Staats- und Verwaltungsrechts, S. 357, 368. 11 Fischer, Europarecht, Rn. 632. 12 Oben 1. Teil, II.4.e)aa). 13 EuGH Slg. 2003, I-8389 (Jaeger). 14 EuGH EuZW 2004, 691.

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3. Teil: Einfluss des Europäischen Sozialrechts

zügigkeit der Arbeitnehmer zu beschließen. Auf diese Ermächtigung aus Art. 42 EG konnte und kann die Gemeinschaft das Koordinierungsrecht als sogenanntes freizügigkeitsspezifisches Sozialrecht 15 gründen. Das Recht der Koordinierung zielt auf die wechselseitige Verflechtung der nationalen Sozialrechtsordnungen 16, setzt diese also voraus, ohne sie zu beeinflussen, und bezweckt vor allem, die aus unterschiedlichen Sozialrechtsordnungen sich aufbauenden Hindernisse für die Freizügigkeit zu beseitigen. Koordinierung als Regelungsauftrag an die Gemeinschaft wird häufig in Zusammenhang, zum Teil als Gegenbegriff zur Harmonisierung verwendet. Harmonisierendes Sozialrecht strebt die Vereinheitlichung der nationalen Sozialrechtsordnung an 17 und ist bisher kein zentrales Anliegen der wirtschaftlich dominierten Gemeinschaft 18, durch Art. 137 Abs. 2 Buchst. a) EG ist es sogar von den Maßnahmen der Sozialpolitik ausdrücklich ausgeschlossen. Leitend für die Koordinierung ist der Gedanke, das Recht der Freizügigkeit für Arbeitnehmer, Selbstständige und gleichgestellte Personen zu sichern 19. So regelt die aufgrund des Art. 42 EG ergangene VO (EWG) 1408/71 zusammen mit der Durchführungsverordnung VO (EWG) 574/72 jene sozialrechtlichen Sachverhalte, die wegen Inanspruchnahme des Freizügigkeitsrechts grenzüberschreitend sind. Durch die Koordinierung werden die Fragen nach dem Sozialrechtsstatut, der sozialrechtlichen Diskriminierung, der Zusammenrechnung von Versicherungszeiten und des Leistungsexports gelöst 20. In den Art. 52 ff. der VO (EWG) 1408/71 finden sich die Koordinierungsregeln auf dem Gebiet der Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, mithin jene, die für das deutsche Unfallversicherungsrecht einschlägig sind. Durch das koordinierende Sozialrecht wird das Territorialitätsprinzip der Sozialversicherung aufgebrochen: Die vom personellen Anwendungsbereich erfassten EU-Bürger werden nach den Voraussetzungen der Verordnung der Zuständigkeit eines sozialen Sicherungssystems zugeschlagen, ohne dass einzig das Versicherungsverhältnis oder der Ort, an dem der Versicherungsfall eintritt, relevant ist. Der Europäische Gerichtshof konkretisiert die mitgliedstaatliche Befugnis zur Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme dahingehend, dass der Mitgliedstaat bestimmen kann, wer dem Versicherungssystem angehören und wer Leistungen erhalten soll 21. Mit diesem Grundsatz bricht das Koordinierungsrecht, weil die Zuständigkeit und das Leistungsrecht bei grenzüberschreitenden Sachverhalten durch unmittelbar anwendbares Sekundärrecht geregelt werden. Darin liegt jedoch 15 16 17 18 19 20 21

Fuchs, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, S. 12 Rn. 35. Eichenhofer, Sozialrecht, Rn. 86. Eichenhofer, Sozialecht, Rn. 86. Fuchs, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, S. 8 Rn. 18. Fuchs, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, S. 12 Rn. 35. Fuchs, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, S. 19 ff. EuGH Slg. 1998, I-1931, 1943 Rn. 18 (Kohll).

I. Bisherige Entwicklung des Gemeinschaftsrechts

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insoweit kein Konflikt mit der mitgliedstaatlichen Primärzuständigkeit, als sich die Koordinierungsregeln auf die Kompetenz aus Art. 42 EG berufen. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und das Subsidiaritätsprinzip sind eingehalten, wenn die Gemeinschaft ein System einführt, durch das Ansprüche und Leistungen aus den sozialen Sicherungssystem gesichert und dadurch Hindernisse für die Freizügigkeit beseitigt werden. Teilweise gehen die Regelungen des koordinierenden Sozialrechts indes schon über die freizügigkeitsspezifische Kompetenz hinaus: Die Vorschriften über die Leistungsaushilfe in Art. 22 Abs. 1 Buchst. c), Art. 55 Abs. 1 Buchst. c) VO (EWG) 1408/71 regeln Sachverhalte, in denen es nicht auf die Grenzüberschreitung des Arbeitnehmers, sondern auf die grenzüberschreitende Inanspruchnahme einer Sozialleistung ankommt. Dies ist indes bisher wohl deshalb unkritisch gesehen worden, weil die erforderliche Genehmigung daran geknüpft wird, dass die betreffende Behandlung nicht im zuständigen Staat zu erhalten ist; damit scheinen die Interessen der mitgliedstaatlichen Systeme ausreichend berücksichtigt zu sein. Insgesamt galt die Koordinierungsverordnung inklusive der Bereich der Unfallversicherung trotz verschiedener Reformvorschläge 22 und -durchführungen 23 als „gut eingefahren“ 24. Das koordinierende Sozialrecht ist jedoch nach einem Zitat von Fuchs „nicht nur äußerst komplex, sondern auch äußerst kompliziert“ 25. Vorgelegt und in Kraft ist inzwischen die VO (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit 26, die insbesondere eine Vereinfachung des Koordinierungsrechts bezweckt und umsetzt. Gelten wird die Verordnung jedoch erst, wenn die Durchführungsverordnung in Kraft tritt 27. 3. Entwicklung des Europäischen Sozialrechts durch den Europäischen Gerichtshof Mehr noch als das kodifizierte Sozialrecht ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes eine ergiebige Quelle des Europäischen Sozialrechts. Dies wurde im Zweiten Teil für den Bereich der Sozialversicherung ausführlich dargestellt und gewürdigt. Nur oberflächlich sei hier zudem ein Bereich erwähnt, der 22

Fuchs, Arbeitsunfall und Berufskrankheiten, in: Eichenhofer (Hrsg.), Reform des Europäischen Sozialrechts, S. 93 ff. 23 Fuchs, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, S. 34 Rn. 101 f. 24 Igl, Probleme der Sozialrechtskoordinierung auf Grund von Veränderungen in den Sozialleistungssystemen der EU-Mitgliedstaaten, in: Gitter / Schulin / Zacher (Hrsg.), FS Krasney, S. 199. 25 Fuchs, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, S. 35 Rn. 103. 26 ABl. Nr. L 200/1. 27 Vgl. Art. 91 VO (EG) 883/2004; ein Kommissionsvorschlag für eine Durchführungsverordnung liegt seit Januar 2006 vor (KOM/2006/16 endg.).

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3. Teil: Einfluss des Europäischen Sozialrechts

wegen der Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes auf das Sozialversicherungsrechts ansonsten außen vor bleibt: Auch auf dem Gebiet der Sozialleistungen, die nach deutscher Sozialrechtssystematik dem Bereich sozialer Förderung angehören, hat der EuGH unmittelbar aus dem Primärrecht Ansprüche von EUBürgern begründet: Die Entscheidungen in den Rechtsachen „Martinez Sala“ 28 und „Grzelczyk“ 29 haben den Weg geebnet, aus der Unionsbürgerschaft gemäß Art. 18 EG soziale Rechte in Form von sozialen Vergünstigungen im gesamten Bereich der EU zu begründen, ohne dass es auf die Wahrnehmung einer Grundfreiheit ankommen soll. Eine Begrenzung ergibt sich allenfalls aus dem Aufenthaltsrecht 30, das jedoch gerade durch Art. 18 EG kaum noch beschränkt, zumindest nicht mehr durch Teilnahme am Wirtschaftsleben bedingt ist. Zuletzt zeichnete sich indes auch in der Rechtsprechung wieder eine gewisse Begrenzung der extensiven Auslegung ab 31.

II. Zukunft des Europäischen Sozialrechts Die Sozialpolitik der Mitgliedstaaten zu harmonisieren, war und ist kein Anliegen der Europäischen Gemeinschaft. Sozialpolitik spiegelt das Bild einer Gesellschaft, ist national gewachsen und Ausdruck der gesellschaftlichen Befindlichkeit und Anschauungen, deshalb wird seit jeher die Übertragung von Kompetenzen abgelehnt 32. In den Artikeln des EG-Vertrags zur Sozialpolitik ist ausdrücklich der Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Art. 137 Abs. 2 Buchst. a) EG verfügt. Dabei wird es formal nach zumindest jetzigem Kenntnisstand auch zukünftig bleiben. Gleichwohl ist erkennbar, dass sich Paradigmen in der Europäischen Sozialpolitik verschieben. Auch wenn deren Zukunft offen ist, seien die Ansätze nebst ihrer Wirkung auf die nationalen Sozialrechtsordnungen und – soweit erkennbar – die deutsche Unfallversicherung hier dargestellt. 1. Konvergenz als Kompromiss für gemeinsame Sozialpolitik Neben der freizügigkeitsspezifischen Koordinierung der nationalen Sozialrechtsordnungen besteht länger schon das Bedürfnis, der europäischen Integration auch ein deutlicheres sozialpolitisches Gepräge zu verleihen. Schon die Herein28

EuGH Slg. 1998, I-269. EuGH Slg. 2001, I-6193. 30 Martìnez Soria, Die Unionsbürgerschaft und der Zugang zu sozialen Vergünstigungen, JZ 2002, S. 643, 646 ff. 31 Niemann, Von der Unionsbürgerschaft zur Sozialunion?, EuR 2004, S. 946 ff. 32 Tiemann, EU-Verfassungsentwurf und Zukunft der europäischen Sozialpolitik, FS Heinze, S. 935, 941. 29

II. Zukunft des Europäischen Sozialrechts

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nahme der Art. 136 ff. EG, die sich auf die Europäische Sozialcharta und die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer berufen, zeugt von diesem Bedürfnis, wenngleich die praktischen Auswirkungen wegen der begrenzten Kompetenzen zumindest eher marginal zu nennen sind. Mittel der Wahl war deshalb lange Zeit die Politik der Konvergenz, die über das Instrument der unverbindlichen Empfehlung gemäß Art. 249 EG die Mitgliedstaaten zur freiwilligen Anpassung ihrer Ziele und Prinzipien der sozialen Sicherung und des sozialen Schutzes veranlassen sollte. Das Konzept dieser Politik spiegelt und akzeptiert das Spannungsverhältnis zwischen mitgliedstaatlicher Primärzuständigkeit und dem Bedürfnis nach einem größeren Maß an Einheitlichkeit. Die Akzeptanz des Ansatzes galt jedoch als neues Stadium der gemeinschaftsrechtlichen Sozialpolitik, in dem diese – zumindest – als Mehrebenenpolitik anerkannt wird 33. Bedürfnis und Bedarf an einer gemeinsamen Sozialpolitik lassen sich unmittelbar aus dem EG-Vertrag und unabhängig von der gängigen Zuteilung 34 der Sozialpolitik zu den sonstigen Politiken der Gemeinschaft begründen: Aus der Zusammenschau der Art. 98, 99 und 2 EG ergibt sich, dass die Koordinierung der Wirtschaftspolitik auch zur Verwirklichung der Ziele hohes Beschäftigungsniveau, hohes Maß an sozialem Schutz und sozialer Zusammenhalt und Solidarität der Mitglieder beitragen muss. Obwohl also Beschäftigungs- und Sozialpolitik seit den 1990er Jahren als Ziele der Gemeinschaft verankert und auch an ihre marktwirtschaftliche Ausrichtung geknüpft sind, musste konstatiert werden, „dass die Sozialpolitik trotz der erzielten großen Fortschritte nie mit der Wirtschaftpolitik Schritt halten konnte“ 35. 2. Lissabon-Strategie und Offene Methode der Koordinierung Im Jahr 2000 ist erneute Bewegung in die europäische Sozialpolitik gekommen. Zum einen hat die Europäische Kommission eine Sozialpolitische Agenda aufgelegt, deren Ziel es ist, die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum zu machen, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen 36. Dass die ehrgeizigen Ziele der Agenda nicht im ursprünglich vorgesehenen Zeitraum bis 2010 zu erreichen sind, wird mittlerweile vermehrt eingesehen 37. Ohne Übertreibung muss man gleichwohl zur 33 Schulte, Die „offene Methode der Koordinierung“ (OMK) in der Europäischen Sozialpolitik, Sozialer Fortschritt 2005, S. 105, 108. 34 Vgl. etwa Fischer, Europarecht, S. XII (§ 20). 35 Europäische Kommission (Generaldirektion Beschäftigung und Soziales), Bericht der Hochrangigen Gruppe über die Zukunft der Sozialpolitik in der erweiterten Europäischen Union, S. 35. 36 Abl. 2001, C 157/4. 37 Oppermann, Europarecht, § 13 Rn. 12.

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3. Teil: Einfluss des Europäischen Sozialrechts

Einschätzung kommen, dass die unter dem Begriff Lissabon-Strategie firmierenden Beschlüsse des Europäischen Rates von Lissabon 2000 38 auch die europäische Sozialpolitik maßgeblich zu verändern in der Lage sind. Der Hintergrund dieser Strategie setzt sich aus durchaus unterschiedlichen Aspekten zusammen, unter denen der Wunsch nach internationaler Wettbewerbsfähigkeit der EU in Zeiten der Globalisierung sicher der dominierende ist 39. Dazu gehört aber auch das gesellschaftswissenschaftlich analysierte und zu überwindende soziale Defizit des marktwirtschaftlich ausgerichteten Projekts EU 40, zudem und zugleich aber auch der Versuch, das Europäische Sozialmodell vor dem Hintergrund einer sich im Hinblick auf Demografie, Arbeitswelt und aufbrechende u. a. familiäre und soziale Strukturen verändernden Gesellschaft zu bewahren 41. Inhalt der Strategie ist es, die Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik aufeinander abzustimmen, indem sie auf die gemeinsam festgelegten Ziele der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, der Erreichung der Vollbeschäftigung und der Förderung der sozialen Integration ausgerichtet werden. „Dem liegt“, um noch einmal die Hochrangige Gruppe 42 zu zitieren, „die Überlegung zugrunde, dass diese Maßnahmen nicht im Gegensatz zueinander stehen, sondern sich gegenseitig ergänzen können.“ Im Kern also soll der Europäischen Gemeinschaft der scheinbare Widerspruch zwischen Markt und sozialem Gedanken genommen, der Wettbewerbsgemeinschaft die soziale Wertegemeinschaft 43 an die Seite gestellt werden. Das Instrument, dessen sich die Gemeinschaft dazu bedient, ist indes zum einen ein vergleichsweise unbekanntes, zum anderen eines, das nicht zur genuinen Handlungsform der EG als Recht(setzungs)gemeinschaft zählt: Die neu geschaffene Offene Methode der Koordinierung ist eher ein politischer Prozess, eine neue Art der Zusammenarbeit in der EU durch flexible, aber doch strukturierte Kooperation der Mitgliedstaaten 44. Sie ist, trotz des gleichen Namens, streng 38 Vgl. Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Lissabon), 23. und 24. März 2000 (abrufbar auf Data/de/ec/00100-r1.d0.htm. 39 Oppermann, Europarecht, § 13 Rn. 12. 40 Schulz-Niewandt / Maier-Rigaud, Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, die Offene Methode der Koordinierung und die EU-Verfassung, Sozialer Fortschritt 2005, S. 136. 41 Schulte, Die „offene Methode der Koordinierung“ (OMK) in der Europäischen Sozialpolitik, Sozialer Fortschritt 2005, S. 105. 42 Europäische Kommission (Generaldirektion Beschäftigung und Soziales), Bericht der Hochrangigen Gruppe über die Zukunft der Sozialpolitik in der erweiterten Europäischen Union, S. 35. 43 Schulte, Die „offene Methode der Koordinierung“ (OMK) in der Europäischen Sozialpolitik, Sozialer Fortschritt 2005, S. 105, 106. 44 Schulte, Die „offene Methode der Koordinierung“ (OMK) in der Europäischen Sozialpolitik, Sozialer Fortschritt 2005, S. 105.

II. Zukunft des Europäischen Sozialrechts

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von der rechtlichen Koordinierung der Sozialrechtsordnungen auf Grundlage des Art. 42 EG zu trennen. Die Offene Methode der Koordinierung baut auf von den Mitgliedstaaten vereinbarten gemeinsamen politischen Zielen und Leitsätzen auf. Die Mitgliedstaaten berichten sich auf europäischer Ebene systematisch über Maßnahmen (z. B. nationale Aktionspläne) und Fortschritte zur Erreichung der Ziele. Mithilfe von gemeinsam festgelegten Indikatoren und Benchmarks werden diese Berichte durch Kommission und Rat analysiert und bewertet. Dieser transnationale Steuerungsprozess soll durch den Vergleich und Abgleich der Systeme automatisch zum „Best-Practice-Verfahren“ werden 45, in dem im Sinne einer europäischen „Lerngemeinschaft“ 46 die freiwillig kooperierenden Mitgliedstaaten aus den Ergebnissen Erkenntnisse für ihre eigenen Systeme und deren möglicher Umgestaltung gewinnen. Sein Vorbild, obgleich neu für die Sozialpolitik, hat dieses Verfahren im sogenannten Luxemburg-Prozess auf dem Gebiet der Beschäftigungspolitik 47. Bisher wurde die Offene Methode der Koordinierung als Prozess für die Bereiche Alterssicherung, Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung sowie Gesundheitsschutz und Altenpflege (zusammengefasst als Sozialschutzpolitiken) begonnen und in einen Gesamtprozess zusammengeführt 48. Von den Mitgliedstaaten und den befragten sozialpolitischen Akteuren grundsätzlich begrüßt 49, ist das neue Instrument auf seine Auswirkungen auf die nationale Sozialpolitik noch nicht überprüfbar. Die gesetzliche Unfallversicherung etwa gehört zwar bisher offiziell nicht zu den Bereichen der Offenen Methode der Koordinierung. Die Vorschläge der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Reform des Systems lassen sich aber vor diesem Hintergrund auch in diesem Zusammenhang lesen – immerhin sind Wirtschaftlichkeit und Effizienz die ersten genannten Ziele der möglichen Reform 50. Einen ausdrücklichen Bezug gibt es indes bislang nicht. Im juristischen Schrifttum hat das die Offene Methode der Koordinierung bis dato ebenso spärlichen Widerhall gefunden wie in der öffentlichen Diskussion – und das vor dem Hintergrund, dass eine möglichst große öffentliche Rezeption als Gradmesser für seinen Erfolg und seine Bedeutung gelten soll 51. Eine dem Rahmen angemessene Bewertung sei jedoch zusammengetragen: Formalrechtlich betrach45

Schmitt, Gestaltung der europäischen Alterssicherungssysteme mit Hilfe von Benchmarkingprozessen und Indikatoren, Sozialer Fortschritt 2005, S. 121. 46 Schulte, Die „offene Methode der Koordinierung“ (OMK) in der Europäischen Sozialpolitik, Sozialer Fortschritt 2005, S. 105, 106. 47 Tiemann, EU-Verfassungsentwurf und Zukunft der europäischen Sozialpolitik, FS Heinze, S. 935, 942. 48 Vgl. Mitteilung der Kommission vom 22. 12. 2005, KOM (2005) 706 endg., S. 1 ff. 49 Mitteilung der Kommission vom 22. 12. 2005, KOM (2005) 706 endg., S. 4 f. 50 Entwurf der Eckpunkte vom 29. 6. 2006 (Fn. 36), Präambel. 51 Schmitt, Gestaltung der europäischen Alterssicherungssysteme mit Hilfe von Benchmarkingprozessen und Indikatoren, Sozialer Fortschritt 2005, S. 121.

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3. Teil: Einfluss des Europäischen Sozialrechts

tet bleibt auch durch die Lissabon-Strategie die mitgliedstaatliche Kompetenz zur Ausgestaltung der sozialen Sicherungssystem unberührt. Nicht nur politisch wird durch die Besonderheiten des bewertenden Verfahrens jedoch die Ausgestaltung selbst in einen europäischen Kontext geführt 52, so dass das Wort vom Paradigmenwechsel 53 – auch unter dem Vorbehalt der derzeit ungewissen praktischen Durchschlagkraft – sicher nicht zu hoch gegriffen ist. Ob in der Offenen Methode der Koordinierung ein sanfter Harmonisierungsdruck 54 oder Harmonisierung als eigentliches Anliegen 55 zu sehen ist, kann erst die Zeit zeigen. 3. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa Das Instrument der Offenen Methode der Koordinierng erreicht eine neue Ebene auch der rechtlichen Bedeutung durch die Verfassung für Europa: Im Vertrag über eine Verfassung für Europa 56, der am 29. Oktober 2004 von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet wurde, findet sich in Art. III-209 bis Art. III-219 der modifizierte Abschnitt über die Sozialpolitik. Obgleich das Schicksal der Verfassung, nachdem der Ratifikationsprozess durch die negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden ins Stocken geraten ist, zunächst ungewiss bleibt, sei ihre mögliche Bedeutung für die europäische Sozialpolitik kurz dargestellt. Die Verfassung für Europa insgesamt und auch im besonderen ihr sozialpolitischer Gehalt sind am besten vor dem verstetigten Spannungsfeld zwischen der gemeinsamen und der nationalstaatlichen sozialen Ordnung zu verstehen. An eine gemeinsame Verfassung wurden und werden „Sehnsüchte“ 57 nach Absicherung sozialer Leitbilder und Wertvorstellungen geknüpft, die einen direkten Einfluss auf die erwünschte stärkere Identifikation der EU-Bürger mit der Union nehmen sollen. Es blieb in den Verhandlungen um den Verfassungsvertrag gleichwohl beim Pochen der Mitgliedstaaten auf die primär mitgliedstaatliche Zuständigkeit in der Sozialpolitik 58. Von diesen schwer zu vereinbarenden Widersprüchlichkeiten zeugt die Verfassung: Während in den Werten und Zielen der Union (Art. I-2 und I-3 EVV) die sozialen Akzente verstärkt und betont werden, bleiben die

52 Schmitt, Gestaltung der europäischen Alterssicherungssysteme mit Hilfe von Benchmarkingprozessen und Indikatoren, Sozialer Fortschritt 2005, S. 121. 53 Schulte, in: SRH, D.32, Rn. 13, jedoch ohne weitere Bewertung. 54 Schuler, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, S. 332 Rn. 9. 55 Eichenhofer, Sozialrecht, Rn. 86. 56 ABl. 2004 Nr. C 310/1; abgedruckt in einer Synopse mit dem gültigen Vertragswerk bei Streinz / Ohler / Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 117 ff.; abgekürzt im folgenden mit EVV. 57 Herdegen, Europarecht, § 33 Rn. 1. 58 Oppermann, Europarecht, § 574 Rn. 45.

II. Zukunft des Europäischen Sozialrechts

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operativen Bestimmungen in Art. I-209 ff. EVV weitgehend unverändert 59 zu den recht zahnlosen Art. 136 ff. EG. Die einschneidende Modifikation findet sich in Art. III-213 EVV: Die derzeit auf Art. 140 EG beruhenden Befugnisse der Kommission zur Förderung der mitgliedstaatlichen Tätigkeiten werden um die Offene Methode der Koordinierung erweitert. Im Wortlaut heißt es: „Zu diesem Zwecke [i. e. die Koordinierung des Vorgehens der Mitgliedstaaten] wird die Kommission [ . . . ] tätig und zwar insbesondere im Wege von Initiativen, die darauf abzielen, Leitlinien und Indikatoren festzulegen, den Austausch bewährter Verfahren durchzuführen und die erforderlichen Elemente für eine regelmäßige Überwachung und Bewertung auszuarbeiten.“ Das neue sozialpolitische Instrument wird also zum einen auf eine, sehr technokratisch formulierte, rechtliche Grundlage gestellt. Zum anderen, und das ist für die deutsche Sozialversicherung umso bedeutsamer, werden in Art. III-213 Buchst. a) bis g) EVV die Handlungsfelder für die Offene Methode der Koordinierung benannt. Darunter fallen etwa die soziale Sicherheit und die Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten. Die Einschätzung, der Verfassungsentwurf für die Sozialpolitik sehe keine einschneidenden Kompetenzerweiterungen für die europäische Ebene vor, ist richtig im Hinblick auf die Rechtssetzungskompetenz. Die zwei kommunizierenden Röhren 60 der geteilten Gesetzgebungskompetenz gemäß Art. I-14 Abs. 2 Buchst. b) einerseits und der erweiterten Koordinierungsbefugnis andererseits werden jedoch dazu führen, dass Rechtsetzung und politische Koordinierung sich gegenseitig bedingen und eine starke Koordinierung bei schwacher Neigung zu Gesetzgebung umso wahrscheinlicher ist. Diese mögliche Tendenz ist kritisch zu sehen: Das Verfahren der Offenen Methode der Koordinierung ist in weiten Teilen intransparent und begegnet erheblichen Bedenken im Hinblick auf die demokratische Legitimation. Fraglos nämlich ist ein solches Verfahren eingebettet in einen bestimmten Zusammenhang und eine Zielvorgabe. Aus der Lissabon-Strategie ergeben sich etwa Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaftswachstum und sozialer Zusammenhalt als Wertungszusammenhang für die Koordinierung. Je nach Akzent verschieben sich denklogisch auch die Indikatoren und Maßstäbe für den Systemvergleich. Wenn also als Hintergedanke der Offenen Methode der Koordinierung für den Bereich der sozialen Sicherung formuliert wird, der demografische, technologische und wirtschaftliche Wandel verlangten eine Modernisierung der Systeme, um sie funktionsfähig zu machen 61, so ist das für sich schon eine These. Dem Verfahren wird zudem eine spezielle Richtung verliehen, wenn neutrale Begriffe 59

Oppermann, Europarecht, § 574 Rn. 44. Tiemann, EU-Verfassungsentwurf und Zukunft der europäischen Sozialpolitik, FS Heinze, S. 935, 941. 61 Schulte, Die „offene Methode der Koordinierung“ (OMK) in der Europäischen Sozialpolitik, Sozialer Fortschritt 2005, S. 105, 109. 60

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3. Teil: Einfluss des Europäischen Sozialrechts

wie Modernisierung und Funktionsfähigkeit auf eine bestimmte Weise – etwa durch Wettbewerbsfähigkeit oder gar Kostenschonung – verstanden werden. Gemäß Art. III-213 EVV ist das Europäische Parlament in dieses Verfahren lediglich durch ein Unterrichtungsrecht eingebunden, während die eigentlichen Herren des Verfahrens die Kommission und die Mitgliedstaaten sind. Zwar bedarf es, damit Ergebnisse des Verfahrens nationale Wirkung entfalten, einer Umsetzung in nationales Recht. Auf europäischer Ebene jedoch ist das Instrument vom parlamentarischen Raum weitgehend abgeschottet. Unabsehbar ist freilich auch noch, welche Wirkungen die Charta der Grundrechte der Union entfalten wird, die in Teil II der Verfassung Aufnahme in die Rechtsgrundlage der EU finden soll. Die Grundrechte werden verbindlich und erhalten mehr als eine bloße Symbolkraft für den Wertekonsens 62 der EU, der sich auch in Individualrechten ausdrücken soll. Die Präambel rekurriert zu Beginn auf die Trias Freiheit, Gleichheit, Solidarität, die sich in den einzelnen Titeln wiederfinden. Zur Solidarität in Titel IV gehören gemäß Art. II-94 EVV soziale Sicherheit und Unterstützung. Beides „anerkennt“ und „achtet“ die Union. Art. II-94 EVV ist also als Abwehrrecht zu lesen, das keine unmittelbaren Leistungsansprüche begründet 63. Dies und der Verweis auf die Maßgabe von Unionsrecht und einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verdeutlichen, dass es auch bei den Verhandlungen um die sozialen Grundrechte, aller anerkannten Bedeutung zum Trotz, um den Schutz der nationalen Kompetenzen ging 64. Art. II-112 Abs. 5 EVV bestärkt dies deklaratorisch dadurch, dass Bestimmungen der Charta nur in Ausübung der jeweiligen Befugnisse umgesetzt werden können. Ebenfalls deklaratorisch, aber in seiner Bedeutung nicht gering zu schätzen ist zudem Satz 2: Die Bestimmungen der Charta können vor Gericht bei der Auslegung herangezogen werden. „Verfassungsrechtlich“ abgesichert wird insoweit also die Praxis, der sich der Europäische Gerichtshof schon bediente. Es ist also an ihm, den sozialen Grundrechten Geltung zu verschaffen. Im Hinblick auf die soziale Integration Europas ist dem Verfassungsvertrag auf allen Ebenen mit der ganzen Bandbreite von möglichen Bewertungen begegnet worden. In der Verfassung wird das Potenzial gesehen, den Status des EU-Bürgers als Staats-, Wirtschafts- und Sozialbürger zu begründen und die EU als soziale Marktwirtschaft zu definieren, in der Markt nicht Selbstzweck ist 65. Harsch hinge62

Oppermann, Europarecht, § 6 Rn. 39. Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 34 Rn. 15, 21. 64 Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 34 Rn. 17. 65 Schulz-Nieswandt / Maier-Rigaud, Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, die Offene Methode der Koordinierung und die EU-Verfassung, Sozialer Fortschritt 2005, S. 136, 139 f. 63

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gen war die Kritik, die auch wegen der ausgebliebenen weiteren Demokratisierung die Bestimmungen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik als „Tragödie“ bezeichnete und damit das Europäische Sozialmodell diskreditiert, den Weg zu einer europäischen Identität verstellt sah 66 – und damit schon, ohne es wissen zu können, andeuteten, welchen Widerhall der Verfassungsvertrag in Teilen der Bevölkerung finden sollte. 4. Soziale Wertegemeinschaft EU? Politisch sind die Signale hin zu einer deutlicheren sozialen Ausrichtung der Europäischen Union nicht zu leugnen. Was dies für die Sozialrechtsordnungen bedeutet, bleibt jedoch ungewiss. Da, wo ein Paradigmenwechsel schon begonnen hat, stehen die Entwicklungen in Konflikt mit dem Gebot der Demokratisierung und auch mit Grundsätzen der Gewaltenteilung: Im Ergebnis liegen die sozialpolitischen und sozialrechtlichen Wegweisungen der Mehrebenenpolitik in Händen von Kommission und Gerichtshof. Die Methode der Offenen Koordinierung auf die deutschen Sozialversicherungen angewendet, führt zu einem Paradoxon: Die Entscheidung und Befugnis des Staates, die soziale Sicherung der Marktlogik zu entziehen, wird in gewisser Hinsicht konterkariert dadurch, dass ein Qualitätsranking unter den Mitgliedstaaten den Wettbewerb der Systeme eröffnet Zwar ist wertneutrales Ziel eines „Best-Practice-Verfahrens“, das Niveau der beteiligten Systeme zu verbessern. Je nachdem, wie Indikatoren festgelegt werden, kann jedoch – gewollt oder ungewollt – durch überwiegend wirtschaftliche Betrachtung Marktlogik entstehen. Sozialpolitik bleibt absehbar in vor allem rechtlicher Letztverantwortung des Staates. Ob der gesamteuropäische Weg jedoch in eine Sozialunion als Antwort auf das „social dumping“ 67 der erweiterten Union führen wird oder ob die „Soziodiversität“ 68 auch aus Gründen des volkswirtschaftlichen Wettbewerbs erhalten bleibt, ist nicht ausgemacht. Er wird im Wesentlichen davon abhängen, ob die Union als Wettbewerbs- oder als soziale Wertegemeinschaft die Richtung weist.

66 Huffschmid, Sackgasse EU-Verfassung, Blätter für deutsche und internationale Politik 2004, S. 775 ff. (Zitat); kritisch auch Fisahn, Die europäische Verfassung – ein zukunftsoffener Entwurf?, KJ 2004, S. 381 ff. 67 Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, Rn. 420 ff. 68 von Weizsäcker, Logik der Globalisierung, S. 78.

4. Teil

Gesamtergebnis Die Ergebnisse der Untersuchung seien in folgenden elf Kernaussagen zusammengefasst: I. Die gesetzliche Unfallversicherung ist ein klassischer Zweig der Sozialversicherung mit Besonderheiten. Die gesetzliche Unfallversicherung hat sich aus der Arbeiterversicherung von 1884 kontinuierlich weiterentwickelt. Sie wurde in personeller und sachlicher Hinsicht über die Jahre erheblich ausgeweitet, angesprochen seien nur die markantesten Bereiche, namentlich die sogenannte unechte Unfallversicherung sowie die Versicherung der Wegeunfälle und die Einbeziehung der arbeitnehmerähnlich Beschäftigten in den Versicherungsschutz. Die gewerblichen Berufsgenossenschaften sind zuständiger Unfallversicherungsträger für alle Versicherten, die nicht zur Zuständigkeit der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften und den Unfallversicherungsträgern der öffentlichen Hand gehören. Gerade die Unfallversicherung durch die gewerblichen Berufsgenossenschaften baut noch auf den Grundstrukturen auf, die im ersten Unfallversicherungsgesetz von 1884 angelegt waren. Nicht nur deshalb kann die Unfallversicherung als klassischer Zweig der Sozialversicherung gelten. Sie weist zudem auch diejenigen Merkmale auf, die das Bundesverfassungsgericht als wesentlich für Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zusammenstellt: Dazu gehören die Versicherung, die Art und Weise der organisatorischen Bewältigung, die Finanzierung durch Beiträge und der soziale Ausgleich besonderer Lasten. Die gewerblichen Berufsgenossenschaften sind Körperschaften des öffentlichen Rechts. Die gesetzliche Unfallversicherung ist Versicherung im Rechtssinne, denn die praktikablen Definitionen dessen, was Versicherung ist, lassen sich auch auf die Unfallversicherung anwenden. Sie folgt in der Versicherungstechnik einer Versicherung auf fremde Rechnung, denn die Beiträge werden von den Unternehmern getragen, versichert sind jedoch die Beschäftigten und die arbeitnehmerähnlich Tätigen. Der Leistungsbereich der Unfallversicherung ist so gestaltet, dass sie einen sozialen Ausgleich verwirklicht. Die gesetzliche Unfallversicherung baut auf dem sozialen Schutzprinzip auf, weil sie abhängig Beschäftigte vor der Beeinträchtigung ihrer Erwerbsfähigkeit und damit vor dem Verlust ihrer wirtschaftlichen Lebensgrundlage schützt. Augenfälligste Besonderheit dieses So-

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zialversicherungszweigs ist es, dass die daraus entstehenden Lasten allein durch die Arbeitgeber getragen und nicht paritätisch finanziert werden. Grund dafür ist, dass die Versicherung die Haftung der Unternehmer ersetzt: Ohne Unfallversicherung unterlägen die Tatbestände von Arbeitsunfall und Berufskrankheit der zivilrechtlichen Haftung, die im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung jedoch ausgeschlossen ist. Das hypothetische Haftungsrisiko trägt allein der Unternehmer, weil ihm allein auch die unmittelbaren Vorteile des Betriebs zufallen. Die Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz sichert den Betriebsfrieden und stellt die Beschäftigten in ein öffentlich-rechtliches Schutzsystem, in dem sie weder ein eigenes noch fremdes Liquiditätsrisiko zu tragen haben. Neben der reinen Versicherung, in der im Leistungsbereich das Prinzip „Rehabilitation vor Rente“ herrscht, ist den Berufsgenossenschaften gleichrangig die Aufgabe der Unfallverhütung übertragen. In Erfüllung des staatlichen Schutzauftrags genießen die Berufsgenossenschaften Eingriffsbefugnisse. II. Die gesetzliche Unfallversicherung verwirklicht nicht das Solidarprinzip. Wesen der Sozialversicherung ist der Ausgleich besonderer Lasten, die regelmäßig durch eine Solidargemeinschaft getragen werden. Damit unterscheidet sie sich wesentlich von der reinen Versicherung, die durch eine Äquivalenz von Lasten und Lastentragung bzw. Äquivalenz von Risiko und Prämie geprägt ist. Teile des sozialversicherungsrechtlichen Schrifttums sind durch eine gewisse Begriffsverwirrung gekennzeichnet, indem der soziale Ausgleich häufig synonym durch den Begriff des solidarischen Ausgleichs, der Solidarität oder des Solidarprinzips ersetzt wird. Sozialer Ausgleich ist jedoch streng vom Begriff des Solidarischen zu trennen: Dieser ist der engere und verlangt, dass Glieder einer abgrenzbaren Gruppe in wechselseitiger Verantwortlichkeit füreinander und für die Gruppe als Ganzes stehen. Solidarischer Ausgleich muss dann zwangsläufig ein Ausgleich sein, der innerhalb dieser Gruppe umverteilend wirkt. So verstanden, verwirklicht die gesetzliche Unfallversicherung einen solidarischen Ausgleich kaum: Es existieren zwei abgrenzbare Gruppen, die Versicherten und die beitragszahlenden Unternehmer. Weil die Versicherten keine Lasten tragen, kann innerhalb ihrer Gruppe nicht solidarisch umverteilt werden. Auch die Beitragsgestaltung in der Gruppe der Unternehmer folgt nicht dem Solidarprinzip: Der individuelle Beitrag richtet sich in erster Linie nach dem versicherten Risiko, weil maßgeblicher Berechnungsmaßstab neben dem Finanzbedarf die Lohnsumme und die Gefahrklasse des Unternehmens sind. Zwar wird die Versicherung der Wegeunfälle von der Risikobindung ausgenommen. Dies reicht jedoch nicht, um ihre Dominanz zu brechen. Das Lastenausgleichsverfahren unter den Berufsgenossenschaften wirkt insofern umverteilend, als stark belastete Berufsgenossenschaften einen Ausgleich durch weniger stark belastete erfahren. Das Verfahren dient jedoch dem Erhalt des branchengegliederten Systems der Unfallversicherung, ohne dass dadurch die Beiträge der einzelnen Unternehmer

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weniger einzeläquivalent berechnet würden oder sich ein soziales Schutzprinzip erfüllte. Von den Berufsgenossenschaften als Solidargemeinschaft zu sprechen, vermag also nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die Unfallversicherung nicht auf dem Prinzip eines solidarischen Ausgleichs beruht. III. Die gesetzliche Unfallversicherung verwirklicht einen sozialen Ausgleich. Der soziale Ausgleich als Wesenselement der Sozialversicherung muss nicht zwingend umverteilend innerhalb einer Gruppe verwirklicht werden. Umverteilung ist nur eines der denkbaren Mittel. Durch den sozialen Ausgleich werden aus Gründen des sozialen Schutzprinzips durch den Staat besondere Lasten ausgeglichen, die sich aus sozialen Ungleichheiten ergeben. Diese Aufgabe des Staates konkretisiert das Sozialstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG, ohne dass damit die Art und Weise der Erfüllung vorgegeben ist. In der Vorsorgeform der öffentlich-rechtlichen Versicherung wird die strenge Risikobindung durchbrochen, weil die Versicherten ohne Ansehung ihres individuellen Risikos versichert werden. In den Zweigen, in denen die Versicherten regelmäßig selbst Beitragszahler sind, werden die Beiträge nach ihrer Leistungsfähigkeit berechnet, zum Teil werden auch Leistungen unabhängig von der Beitragshöhe erbracht. Zudem wirkt es sozial ausgleichend, dass soziale Risiken versichert sind, die nicht unmittelbar dem Versicherungsfall entsprechen. Die Absicherung solcher Sekundärrisiken prägt den sozialen Ausgleich in der gesetzlichen Unfallversicherung auf der Leistungsebene: Bei einem Anspruch auf Entschädigung erhält ein Versicherter Geldleistungen, die sich als untere Grenze an einem Mindestjahresarbeitsverdienst orientieren, so dass das individuelle Risiko aufgefangen wird, im Berechnungszeitrum nichts oder wenig verdient zu haben. Außerdem verwirklichen die Ansprüche der Hinterbliebenen den sozialen Ausgleich, weil deren Risiko versichert ist, einen Unterhaltsverpflichteten durch den eigentlichen Versicherungsfall zu verlieren. Die sekundären Risiken werden vor Beginn des Versicherungsverhältnisses nicht geprüft und in Rechnung gestellt. IV. Die Prävention dient dem sozialen Schutzprinzip und dem Nutzen der Beitragszahler. Prävention und Rehabilitation verdeutlichen die primär soziale Funktion der gesetzlichen Unfallversicherung. Für beide gilt die Vorgabe, dass ihre Ziele mit allen geeigneten Mitteln zu erreichen sind. Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu verhüten, stellt ein Element des staatliche Schutzauftrags dar, der seinerseits aus dem sozialen Schutzprinzip resultiert. Den Berufsgenossenschaften ist diese Aufgabe für den gewerblichen Teil der Unfallversicherung aus Gründen den Zweckmäßigkeit übertragen. Auch wenn der Schutz der Beschäftigten vorrangig ist und die Unfallverhütung auch nicht im Gegenseitigkeitsverhältnis der Versicherung steht, kommt sie gleichwohl auch den Unternehmern zugute. Eine effektive Präventionsarbeit verringert die Lasten der Versicherung und wirkt sich also beitragsmindernd aus.

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V. Das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung ist verfassungsgemäß. Das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung ist verfassungsgemäß. In ihren Ursprüngen ist sie vorkonstitutioneller Zweig der Sozialversicherung. Auch bei späteren Legislativaktivitäten im Bereich der Unfallversicherung konnte sich der Gesetzgeber auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG berufen, weil sie dem klassischen Verständnis von Sozialversicherung entspricht. In materieller Hinsicht steht das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung im möglichen Konflikt mit Grundrechten. Sowohl die zwangsweise Erhebung der Versicherungsbeiträge als auch die Eingriffsbefugnisse im Rahmen der Unfallverhütung sind an der Berufsfreiheit der Unternehmer zu messen. Sie verletzen Art. 12 Abs. 1 GG jedoch nicht, weil die Eingriffe gerechtfertigt sind. Beitragserhebung und Präventionsauftrag bezwecken den Schutz der abhängig Beschäftigten und verwirklichen das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes, sie sind erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne. Auch die Berufsfreiheit anderer Versicherungsunternehmen, die eine Unfallversicherung faktisch nicht anbieten können, ist nicht verletzt. VI. Die Berufsgenossenschaften sind Unternehmen im Sinne der Art. 81 ff. EG. Die Berufsgenossenschaften als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung sind am Wettbewerbsrecht des EG-Vertrags zu messen. Eine Bereichsausnahme für die Sozialversicherung existiert nicht. Art. 81, 82 EG stellt Verbote für Unternehmen auf, denen gemäß Art. 86 Abs. 1 GG auch die Mitgliedstaaten mit öffentlichen Unternehmen unterliegen. Schlüsselbegriff des Wettbewerbsrechts ist also der des Unternehmens, den der Europäische Gerichtshof insbesondere für Systeme der sozialen Sicherung in umfangreicher Kasuistik geprägt hat. Die Rechtsprechung baut dabei auf wiederkehrenden Elementen und Merkmalen auf: Ausgehend vom funktionalen Unternehmensbegriff soll für jeden Tätigkeitsbereich einer Einrichtung gesondert festgestellt werden, ob es sich um eine wirtschaftliche handelt, also das Anbieten von Gütern und Dienstleistungen auf einem Markt beinhaltet. Für soziale Sicherungssysteme erhält in der Entwicklung der Rechtsprechung der Grundsatz der Solidarität entscheidende Bedeutung. Wird er in ausreichendem Maße verwirklicht, ist die Einrichtung nicht wirtschaftlich tätig. Der Grundsatz der Solidarität wird jedoch an keiner Stelle durch den Europäischen Gerichtshof definiert, noch gibt er einen Anhalt dafür, wie viel „Solidarität“ ausreichend ist. Gleichwohl hat das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2003 und mit ihm viele Stimmen der Literatur die Rechtsprechung für so eindeutig befunden, dass auf eine Vorlage im Hinblick auf die deutsche Unfallversicherung verzichtet wurde. Zwar hatte der EuGH sich zur Unternehmenseigenschaft des vergleichbaren italienischen Systems eindeutig ablehnend positioniert. Den Schluss daraus zu ziehen, auch die Berufsgenossenschaften seien keine Unternehmen, muss man jedoch übereilt nennen. Die schon grundlegend zweifelhafte Bedingung der Solidarität ist in der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung nicht verwirklicht.

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Weil aber ein sozialer Zweck allein nach EuGH-Rechtsprechung nicht hinreichend ist, müsste man nach diesen Kriterien die Berufsgenossenschaften für Unternehmen halten, ohne ihren besonderen sozialen Zweck in die Betrachtung einzubeziehen. Deshalb muss die Untersuchung an den Ausgangspunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit anknüpfen, dem Anbieten von Gütern und Dienstleistungen auf einem Markt. Dabei kann allein das aus dem Monopol resultierende faktische Nicht-Bestehen eines Marktes die wirtschaftliche Tätigkeit nicht ausschließen. Fiktiv ist es nämlich denkbar, dass auch private Versicherungsunternehmen eine Unfallversicherung auf fremde Rechnung anbieten. Zwar müssten gesetzliche Bestimmungen Mindestregelungen setzen, damit die private Versicherung den angemessenen sozialen Schutz der Versicherten erreicht. Ob eine solche Versicherung ökonomisch interessant ist, kann dabei offen bleiben, weil allein die hypothetische Substituierbarkeit von Belang ist. Diese zu bejahen, heißt, die Berufsgenossenschaft als Unternehmen im wettbewerbsrechtlichen Sinne anzuerkennen. VII. Für die Berufsgenossenschaften gelten die Vorschriften der Art. 81 ff. EG nicht. Die Europäische Gemeinschaft ist im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge geprägt durch ein Spannungsfeld der Kompetenzen. Für die Systeme der sozialen Sicherung kann dieses Spannungsfeld an einer wiederkehrenden Formel dargestellt werden: Die Befugnis der Mitgliedstaaten, ihre Systeme der sozialen Sicherung auszugestalten, bleibt durch die Gemeinschaft unberührt. Bei Ausübung dieser Befugnis haben die Mitgliedstaaten jedoch Gemeinschaftsrecht zu beachten. Für öffentliche Unternehmen oder solche, die von einem Mitgliedstaat mit besonderen Aufgaben betraut sind, versucht Art. 86 Abs. 2 EG den Konflikt aufzulösen. Liegen seine Voraussetzungen vor, gelten die Vorschriften des EGVertrags und insbesondere die Wettbewerbsregeln nicht für diese Unternehmen. Die gewerblichen Berufsgenossenschaften sind in ihren einzelnen Aufgaben mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut. Für die angebotene Unfallversicherung ergibt sich das notwendig daraus, dass diese Tätigkeit als wirtschaftliche eingestuft wurde und mehr als nur Individualinteressen dient. Weil der Begriff der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse weit zu verstehen ist, fällt auch die Aufgabe der Prävention darunter. Prävention und Versicherung sind aber nicht zugleich die besondere Aufgabe, die den Berufsgenossenschaften übertragen ist, sondern die Mittel dazu. Besondere Aufgabe im Sinne des Art. 86 Abs. 2 EG ist die Verwirklichung des sozialen Schutzprinzips, konkretisiert im Schutz abhängig Beschäftigter vor dem Wechselfall des Lebens Arbeitsunfall bzw. Berufskrankheit. Die Erfüllung dieser besonderen Aufgabe wäre verhindert, unterlägen die Berufsgenossenschaften den Wettbewerbsvorschriften, wären sie also dem Wettbewerb geöffnet: In Konkurrenz mit privaten Anbietern wäre das finanzielle Gleichgewicht des bestehen-

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den Systems erheblich bedroht, weil anders als die privaten Wettbewerber die Berufsgenossenschaften negative Risiken nicht fernhalten könnten und zudem weiterhin mit der kostenintensiven Prävention betraut wären. Beides kumulierte sich zu einem systemgefährdenden Wettbewerbsnachteil. Zudem wäre auch das soziale Schutzprinzip nicht gleichermaßen garantiert: Es ist ökonomisch schwer vorstellbar, dass private Versicherungen mit allen geeigneten Mittel, also ohne betriebswirtschaftliche Kalkulation die Rehabilitation betreiben. Eine entsprechende gesetzliche Vorgabe wäre ein Eingriff in die Privatautonomie und folglich unzulässig. Die Berufsgenossenschaften aus der Geltung des Wettbewerbsrechts herauszunehmen, beeinträchtigte schließlich auch nicht die Entwicklung des Handelsverkehrs. VIII. Zwangsversicherung und Präventionsauftrag sind nicht an Art. 49 EG zu messen. Ebensowenig wie im Wettbewerbsrecht existiert eine Bereichsausnahme für die Sozialversicherung aus den Vorschriften über die Grundfreiheiten. Sie stellen neben der Wettbewerbsordnung einen wichtigen Pfeiler für das Gemeinschaftsziel des Gemeinsamen Marktes mit unverfälschtem Wettbewerb dar. Obwohl Dienstleistung im Sinne des Art. 49 EG, ist jedoch die Unfallversicherung nicht an Art. 49 EG zu messen. Zwar könnte die Versicherungspflicht eine Maßnahme sein, die die passive Dienstleistungsfreiheit der deutschen Unternehmer und die aktive Dienstleistungsfreiheit von Versicherungsunternehmen aus anderen Mitgliedstaaten beschränkt, weil die grenzüberschreitende Versicherungstätigkeit ökonomisch sinnlos und deshalb faktisch ausgeschlossen ist. Aber auch für die Vorschriften der Art. 49 ff. EG können sich die Berufsgenossenschaften auf die Ausnahmemöglichkeit gemäß Art. 86 Abs. 2 EG berufen. Die Aufgabe der Prävention wiederum ist wegen der weitreichenden Eingriffsbefugnisse mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden und deshalb gemäß Art. 55 in Verbindung mit Art. 45 nicht von der Dienstleistungsfreiheit erfasst. IX. Das Recht der Leistungserbringung unterliegt den Vorgaben der Art. 49 ff. EG. Die Berufsgenossenschaften können sich auf keine Ausnahme von den Grundfreiheiten berufen, wenn es um die Erbringung von Versicherungsleistungen geht. Der Europäische Gerichtshof hat durch seine Rechtsprechung der Warenverkehrsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit zur Durchsetzung auf dem Gebiet der sozialen Sicherung verholfen, die über Koordinierungsrecht hinausgeht. Sozialrechtliche Sachverhalte mit grenzüberschreitendem Bezug sind sekundärrechtlich durch die Koordinierungsverordnung VO 1408/71 geregelt, die Fragen des Sozialrechtsstatuts klärt, um Hindernisse für die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu beseitigen. Grenzüberschreitender Waren- oder Dienstleistungsverkehr soll zulasten der Sozialversicherung jedoch auch möglich sein, ohne dass ein freizügigkeitsspe-

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zifischer Sachverhalt vorliegt: Beschränken Versicherungsträger die Möglichkeit, dass Versicherte medizinische Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat gegen Kostenerstattung nachfragen etwa durch einen Genehmigungsvorbehalt, so ist diese Maßnahme an Art. 49 oder Art. 28 EG zu messen. Das ist für das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung insofern systemwidrig, als es auf dem Sachleistungsprinzip fußt und eine Kostenerstattung nur in eng gefassten Ausnahmen gewährt. Bisher fehlt es an gesetzlichen Vorgaben, die diese Fälle regeln. Eine Kostenerstattung generell durch Gesetz oder berufsgenossenschaftliche Praxis auszuschließen, wäre mit der Dienstleistungsfreiheit unvereinbar. Beschränkende Maßnahmen wie etwa ein Genehmigungsvorbehalt sind jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen, wenn sich Gesetzgeber oder Unfallversicherungsträger etwa auf das Erfordernis der Planbarkeit in einem kostenintensiven und qualitativ hochwertigen Rehabilitationssystem berufen. Damit wäre den Anforderungen an eine Rechtfertigung aus Gründen der öffentlichen Gesundheit und aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses Genüge getan. X. Das Europäische Sozialrecht ist gekennzeichnet vom Spannungsfeld der Kompetenzen. Die Befugnis der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherung ist ein Grundsatz, der in Art. 137 Abs. 4 EG Eingang in das Primärrecht gefunden hat und auch vom Europäischen Gerichtshof als Ausgangspunkt seiner Urteilsfindung beständig wiederholt wird. Kompetenzen, die an die Gemeinschaft übertragen sind, verhelfen dem Feld der sozialen Sicherung jedoch zu einer gewissen Spannung. Zwar ist es weniger die vertraglich aufgenommene Sozialpolitik, die die Gemeinschaft nur mit schmalen Befugnissen ausstattet und die mitgliedstaatlichen Vorbehalte gegen eine Harmonisierung widerspiegelt, durch die das Sozialrecht zum Spannungsfeld wird. Es ist vielmehr der Tatsache geschuldet, dass der Bereich sozialer Sicherung mit seinen enormen wirtschaftlichen Einflüssen und Wirkungen auch den ursprünglichen Kern der Gemeinschaft berührt, das Ziel einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik und die Schaffung eines gemeinsamen Marktes. Gemeinschaftsrecht, das nicht genuin sozialrechtlich ist, kann gleichwohl auf die nationalen Sozialrechtsordnungen wirken. Das ist konfliktfrei, wenn es auf einer eindeutigen Befugnis wie im Falle des Koordinierungsrechts auf Art. 42 EG beruht. Ohne dies birgt es jedoch Spannungen: Grundfreiheiten und Wettbewerbsrecht als Pfeiler des Gemeinsamen Marktes lassen keine Bereichsausnahmen für die sozialen Sicherungssysteme zu und sind zugleich Haupttätigkeitsfelder der Gemeinschaftsinstitutionen. Die Spannung zwischen mitgliedstaatlicher Kompetenz im Bereich sozialer Sicherungssysteme und den Gemeinschaftskompetenzen, die aus deren genuinen Politiken erwachsen, entlädt sich regelmäßig zulasten der nationalen Befugnis. Indem die Mitgliedstaaten bei Ausübung ihrer Primärzuständigkeit dem Gemeinschaftsrecht unterstellt werden, werden die sozialen Sicherungssysteme

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den wirtschaftlich dominierten Politiken geöffnet. Soziale Sicherungssysteme am Wettbewerbsrecht und an den Marktfreiheiten zu messen, bedeutete schon häufig Veränderungen für die Systeme, die auch ihre Grundprinzipien berührten: Sinnfälliges Beispiel ist die Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 49 EG, durch die die Grundentscheidungen eines Mitgliedstaates für ein reines Sachleistungsprinzip in einem sozialen Sicherungssystem gebrochen wird. Nicht zu verkennen ist dabei die Tatsache, dass das bezeichnete Spannungsfeld zumeist der Lösung durch den Europäischen Gerichtshof unterliegt. XI. Die gesetzliche Unfallversicherung erwartet ein Wettbewerb der Systeme. In der Europäischen Sozialpolitik hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Ein hohes Beschäftigungsniveau, ein hohes Maß an sozialem Schutz und die Förderung des sozialen Zusammenhalts und der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten gehören nicht erst neuerdings zu den Aufgaben der Gemeinschaft, sondern sind im leitenden Art. 2 EG zur Grundlage erhoben. Die Absage an eine Harmonisierung der Sozialrechtsordnungen scheint jedoch formal unumstößlich. Bis Ende des vorigen Jahrhunderts waren Koordinierungsrecht und die Politik der Konvergenz Mittel der Wahl, um dem unleugbaren Wunsch nach einer gewissen maßvollen Vereinheitlichung zu folgen. Der Europäische Gerichtshof spielte und spielt im sensiblen Bereich der Sozialrechte eine ganz eigene entscheidende Rolle. Durch den Europäischen Rat von Lissabon im Jahr 2000 wurde die Sozialpolitik auf neue Füße gestellt: Ziel der Lissabon-Strategie ist, Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik der Mitgliedstaaten aufeinander abzustimmen, um die Europäische Union zum wettbewerbsfähigen, dynamischen wissensbasierten Wirtschaftsraum zu machen, der dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr Arbeitsplätzen und größerem sozialen Zusammenhalt erzielt. Neues Instrument dieser Politiken ist die aus der Beschäftigungspolitik bekannte Offene Methode der Koordinierung. In einem von der Europäischen Kommission gesteuerten „Best-Practice-Verfahren“ sollen Mitgliedstaaten voneinander lernen, mit welchen Mitteln vereinbarte Ziele am besten erreicht werden. Maßstäbe dafür sind gemeinsam festgelegte Indikatoren, Berichte und Qualitätsrankings, die sich an den Indikatoren orientieren. Unbestritten verbleibt den Mitgliedstaaten in diesem Prozess die Letztverantwortung, Erkenntnisse und Ergebnisse in ihre Rechtsordnungen umzusetzen. Mitgliedstaatliche Systeme, auf die die Offene Methode der Koordinierung angewendet wird, geraten durch sie in einen Wettbewerb der Systeme. Die Wettbewerbsfähigkeit eines sozialen Sicherungssystems wird dann davon abhängen, ob – beispielhaft – größtmöglicher sozialer Schutz oder optimale wirtschaftliche Effizienz das Maß sein werden. Herren über das Verfahren sind die Kommission und die Mitgliedstaaten, so dass es zumindest auf europäischer Ebene dem parlamentarischen Raum entzogen ist. Begonnen ist der Prozess in den sogenannten Sozialschutzpolitiken, zu denen etwa die Alterssicherung gehört.

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Durch den Vertrag über eine Verfassung von Europa wird die Befugnis der Kommission zur Offenen Methode der Koordinierung primärrechtlich abgesichert und auf die Bereiche soziale Sicherheit und die Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten erstreckt. Damit wird eine neue Ebene erreicht, deren Entwicklung ebenso wenig vorherzusagen ist, wie die Einflüsse der sozialen Grundrechte, die als Abwehrrechte und Auslegungsmaximen europäischen Verfassungsrang erhalten. Strukturell angelegt ist jedenfalls, dass Kommission und Gerichtshof Motoren der gemeinsamen Sozialpolitik sein werden. Der Weg der Europäischen Union in die soziale Wertegemeinschaft ist derzeit ebenso ungewiss wie das Schicksal der noch nicht ratifizierten Verfassung.

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Sachverzeichnis Abhängigkeit von der Beitragszahlung 80 Abstrakte Berechnung der Renten 86 Alles-oder-Nichts-Prinzip 89 Allgemeine Handlungsfreiheit 106, 130 – 131 Allgemeiner Gleichheitssatz 62, 131 Altfälle 54, 70 Altlasten 74, 93 Anstalt 29, 117 Äquivalenz von Beitrag und Leistung 36, 45, 108 Äquivalenzprinzip 44, 203 Arbeiterversicherung 37, 126 Arbeitgeberbeitrag 47 Arbeitnehmerähnlich Beschäftigte 75 Arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren 104 Arbeitslosenversicherung 14, 29, 173 Arbeitsschutz 101 – 103, 107, 121 Arbeitsschutzvorschriften 102 Arbeitsunfall 24, 52, 56, 194 Art und Weise der organisatorischen Bewältigung 33, 113 Aufsicht 109 – 112, 171, 184 Ausgestaltung der Mittel 195 Ausgleich, interorganisatorischer 92 Ausgleichsberechtigung 92 Ausgleichspflicht 92 Ausnahme vom Wettbewerbsrecht 212 – 213 Ausnahme von der Dienstleistungsfreiheit 239, 247 Austauschverhältnis 165 Ausübung öffentlicher Gewalt 241 Automatische Leistungsgewährung 172, 197

Bedarfsdeckung 30, 52, 68 Befugnis der Mitgliedstaaten 202, 215, 221, 227, 237, 242, 256 Begriff der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse 212, 218, 231 Begriff der Dienstleistung(en) 217, 235 Begriff der Versicherung 32 –33 Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit 141 Begriff des Europäischen Sozialrechts 253 Begriff des Handels 139 Begriff des Prinzips 35 Begriff des Unternehmens 27 Beitragsausgleichsverfahren 70, 93, 175, 189 Beitragsbemessung 48, 53 Beitragsberechnung 49, 66, 68 –71, 83, 123, 184 Beitragserhebung 66 Beitragspflicht 49, 57, 68, 100, 118 –120, 131 – 132, 162 Belastungsziffer 72, 74 Bemessungsgrundlage 69 Beobachtungszeitraum 74 Bereichsausnahme 140, 151, 159, 182, 213, 216, 237 –238, 244 Berichts- und Auskunftspflichten 248 Berufsfreiheit 119, 125, 128, 130 Berufskrankheiten 24, 56, 162 Berufskrankheitenverordnung 25 Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit 248 Betriebsfrieden 60, 88, 194, 200 Betriebsunfall 24 Binnenmarkt 136 Bismarck 20 –22, 50, 102

284

Sachverzeichnis

Branchen bzw. branchengegliedertes System 28, 67, 93, 96, 103, 105 – 106, 114, 117, 121, 176, 209, 228 Charta der Grundrechte 264 Daseinsvorsorge 65, 142, 150, 218 Dienst- und Sachleistungen 26, 165, 181 Duales System 102 Durchgangsarzt- und Verletzungsartenverfahren 248 Effet utile 136, 238 – 239, 245 Eingriffsbefugnisse der Unfallsversicherungsträger 105 Einrichtungen mit sozialem Zweck 148 Einzeläquivalenz 54, 108, 153, 192, 203 Entgeltersatzleistung 86 Entgeltsumme 70, 74 Entkopplung von Beitrag und Leistung 80, 181 Entschädigungsanspruch 23, 58 Ersatz des Nicht-Vermögensschadens 63 Europäische Sozialcharta 259 Europäische Sozialpolitik 259, 260 Europäisches Sozialmodell 260 Exemtionsmöglichkeit 239 Festbetragsfestsetzung 206 Festbetragsurteil 155 Finanzausgleich 49, 144 Finanzbedarf 56, 66, 74, 185 Freistellungsanspruch 63, 161 Freiwilligkeit der Versicherung 114, 145, 147, 177 Freizügigkeit 256 – 258 Fremdlast 76, 85 Funktionsfähigkeit des gemeinsamen Marktes 141 Fürsorge 35, 39, 41, 51, 58 Fürsorgepflicht des Arbeitgebers 59 Gefährdungshaftung 21, 65, 77, 87, 194

Gefahren 24 Gefahrengemeinschaft 30, 32 Gefahrensphäre 103 Gefahrklassen 49, 56, 66 –67, 71 –74, 123 Gefahrtarif 66, 123, 125, 171, 184 Geldleistungen 81, 198 Gemeinsame Sozialpolitik 253 Gemeinsamer freier Wirtschaftsraum 135 Gemeinsamer Markt 211, 234 Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer 259 Gesetzgebungskompetenz 33, 115, 247 Gesetzmäßigkeit der Verwaltung 52, 101 Gestaltungskompetenz der Mitgliedstaaten 212 Gewerbezweige 71 Gewinnerzielungsabsicht 144, 170 Globaläquivalenz 54, 108, 203 Grenzüberschreitung 236, 257 Grund- oder Marktfreiheiten 135, 234, 238, 255 Grundrechte 101, 107, 113, 116 Grundsatz der Solidarität 144 –146, 151 – 156, 175, 178 –180, 183, 186 –187, 190, 203, 224 Grundsatz der Subsidiarität 99 Gruppenversicherungsvertrag 195 Haftpflichtfunktion 161 Haftpflichtversicherung 55, 57, 160 Haftungsausschluss 61, 63, 87, 161, 195, 219 Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz 51, 60, 77, 100, 161, 183 Haftungsprivileg 61 Haftungsrisiko 55 – 57, 64, 117, 160 – 162 Handel 158 Handelsverkehr 230 Harmonisierung 255 –256, 258, 262 Herkömmlichkeit 151, 170, 182 Hinterbliebenenrente 84 Höchstjahresarbeitsverdienst 69, 82, 173

Sachverzeichnis Homogenität der Risiken 73, 93 Hypothetische Vergleichbarkeit 193, 195, 198, 199, 201 – 202, 204, 208 Immaterielle Schäden 86 Individualäquivalenz 68 Interesse der Gemeinschaft 230 Jahresarbeitsverdienst 81, 83, 187, 204 Kaiserliche Botschaft 37, 39 Kapitaldeckungsverfahren 53, 54, 204, 223 Kapitalisierungsprinzip 145, 147 Kartellrecht 145 Kartellverbot 145 Kfz-Versicherung 163 Konvergenz 259 Koordinierungsrecht 241, 256 Koordinierungsverordnung 244, 257 Koordinierungsvorschriften 151 Körperschaft des öffentlichen Rechts 29, 33, 50, 53, 113, 117, 124 –125, 166, 210, 221 Kostenerstattung 26, 203, 242 – 248 Kostenerstattungssystem 200 Krankenversicherung 40, 43, 47 –48, 50, 77, 80, 113, 165, 173, 177, 188, 197, 199, 201, 203, 206, 238, 242, 246 Kumulierung von Renten 87 Künstlersozialversicherung 34, 50 Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften 27 Lastenausgleich 92, 94 –95, 175 –176, 188 Lastenausgleichsverfahren 92, 94 –96, 172, 175 – 178, 180, 187 – 188 Lastentragung 33, 49, 59, 68 Lebensversicherung 56 Leistungen 47, 172, 198, 201, 207 Leistungen an Hinterbliebene 83 – 85 Leistungen von Amts wegen 25 Leistungsautomatismus 180

285

Leistungserbringer 26, 156, 165, 168, 208 – 209 Leistungserbringung 241 –243 Leistungsfähigkeit 21, 40, 47 –49, 52, 60, 66, 69 –71, 73, 76, 80, 104, 127, 188 – 189, 203 Leistungsrisiko 188 Lissabon-Strategie 260, 262 –263 Lohnsumme 49, 60, 66, 75 Markt, fiktiver 193 Marktfreiheiten 234 Marktlogik 207 –208, 230, 265 Mehrebenenpolitik 265 Minderung der Erwerbsfähigkeit 86 –87 Mindestentgeltgrenze 82 Mindestjahresarbeitsverdienst 82, 173, 187 Mitgliedschaft 80, 98, 113 –114, 118 Monopol 178, 193, 209 –210, 216, 231, 239 Nachfrage 165, 168, 208 Nachfragemonopol 157 Nachfragetätigkeit 181, 206 Neulasten 74 Niederlassungsfreiheit 235 –236 Offene Methode der Koordinierung 260 – 261, 263 Öffentliche Unternehmen 210 Öffentlich-rechtliche Form der Versicherung 21, 109, 170, 190 Paritätische Lastenverteilung 59 Pflegeversicherung 40, 173 Pflichtversicherung 55, 112, 116, 149 Prävention durch Angebot 105 Prävention durch Eingriff 105 Primärrisiko 46, 82, 190 Primärzuständigkeit der Mitgliedstaaten 140, 142, 182 –183, 253 –254, 262 Prinzip 34

286

Sachverzeichnis

Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 212, 254, 257 Privatautonomie 105 – 106, 130, 198, 227 Privatversicherung 36, 49, 53 –54, 56, 108, 174, 199, 227, 236 Privatversicherungsrecht 30, 33, 203, 206 Proportionalität von Beitrag und Leistung 154, 172, 175 Rehabilitation 86, 107, 162, 198 –199, 201 – 202, 220, 229 Reichshaftpflichtgesetz 15, 20, 178 Rente 86 – 87, 174 Rentenlastsatz 92 Rentenversicherung 40, 46, 50, 77, 80, 84, 86, 126, 144 – 145 Risikoabhängigkeit der Beitragsgestaltung 95 Risikoausgleich 36, 42 –44, 47, 49, 65, 69, 71 – 73, 124 – 125, 156, 163, 176 Risikoauslese 188, 228 Risikogemeinschaft 35, 53 –54, 58, 65, 68, 85, 108 Risikohaftung bei Tätigwerden im fremden Interesse 77 Risikomerkmale 54 Risikostrukturausgleich 176 – 177, 188 Rückgriff 57, 61 Sach- und Dienstleistungsprinzip 199 Sachleistung 80, 165, 175, 181, 190, 198, 201, 207, 245 Sachleistungsprinzip 199, 207, 244 – 247 Sachleistungssystem 158, 207 Satzungsautonomie 124, 167 Schadensersatzansprüche 61 Schadensversicherung 199 Schmerzensgeld 61, 86 – 87 Schutzauftrag 101, 111, 241 Schutzbedürftigkeit 39, 41, 48 –49, 60, 69, 126 – 127, 162, 224 Sekundärrisiko 46 –47, 82 –85, 91, 164, 190 Selbstgeschaffene Gefahr 89

Selbstverwaltung 23, 97 110, 113, 117, 124, 165, 211, 228 –229 Solidargemeinschaft 23, 29, 33, 35 –36, 40, 43, 47 –49, 53, 59, 67, 83, 156, 176, 203 Solidarischer Ausgleich 36, 42, 44 –45, 48, 95 – 96, 170, 187, 190 Solidarität 38, 43, 172 Solidar-, Solidaritätsprinzip 40, 93, 108, 147, 175 Sonderabgabe 112, 115 Soziale Entschädigung 24 Soziale Förderung 258 Soziale Frage 37 Soziale Risiken 90 Sozialer Ausgleich 48, 51, 65, 78, 80, 96, 114, 198 Sozialer Zweck 151 –152, 166, 172, 182, 188, 231 Sozialhilfe 40, 126 Sozialistengesetze 22 Sozialleistungsmonopole 140 Sozialpolitik 254, 259, 262 Sozialschutzpolitiken 261 Sozialstaatlichkeit 42 Sozialstaatsprinzip 38, 42, 44, 46, 60, 129, 162, 194, 218, 221, 224 Sozialunion 265 Sozialverfassung 252 Sparsamkeit 110 Spill-over-Effekt 135, 254 Staatliche Aufsicht 151, 155, 170, 184 Tarifstellen 71 –74 Teilhabe 65 Territorialitätsprinzip der Sozialversicherung 256 Träger 27, 97, 101, 113, 175, 182 Umlagefinanzierung 54, 66, 68, 70, 72, 75, 79, 109, 144, 171, 174, 191 –192 Umlagesoll 192

Sachverzeichnis Umlageverfahren 53, 68, 150, 155, 171, 192, 204, 223 Umverteilung 37 –38, 45, 47 –49, 66, 82 –83, 90 –91, 96, 146, 172 –175, 180, 183, 186 – 190, 193, 215 – 216 Umverteilung, mittelbare 83, 107, 174 Unabhängigkeit des Versicherungsschutzes von der Beitragszahlung 88 Unbundling 242 Unechte Unfallversicherung 24, 27 Unentgeltlichkeit 207 Unfallgefahr 72 – 73, 104 Unfallkassen 27 Unfallkliniken 201 Unfallrisiko 56, 68, 77, 108 Unfallverhütung 121, 166, 217 Unfallverhütungsvorschriften 102 – 103, 105 – 106, 120 Unfallversicherung zugunsten Dritter 57 Unfallversicherungsträger 27, 98 Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand 27 Unionsbürgerschaft 258 Unmöglichkeit der Aufgabenerfüllung 230 Unternehmensbegriff, funktionaler 141, 143, 159, 181, 202, 237 Unternehmensbegriff, relativer 142, 156 Unternehmenseigenschaft 141, 171, 178 – 179, 186 Unternehmerhaftung 23 Unverfälschter Wettbewerb 231 Verantwortungsbeziehung 60, 132, 189 Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung 137 Verbotswidriges Handeln 58, 88 Vereinigungsfreiheit 116 Verfassungsmäßigkeit des Lastenausgleichs 95 Vergleichbarkeitskriterium 171 Verhältnismäßigkeitsprüfung 95, 2214 Verhinderungsmaßstab 214, 222, 248

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Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren 103 Versachlichung der Haftung 64 Verschulden 21, 23, 88, 194, 197 Verschuldenshaftung 21, 87 Versicherung auf / für fremde Rechnung 199, 202 Versicherung kraft Gesetzes 56, 127, 177 Versicherung zugunsten Dritter 55 Versicherungsbegriff 30, 32 Versicherungsfall 25 –26, 56, 81, 84, 190, 194, 196, 198 –199, 202 Versicherungsfremde Leistung 76, 84 Versicherungslogik 175 Versicherungspflicht der Kfz-Halter 197 Versicherungsprinzip 35, 41 Versicherungstätigkeit 168 Versicherungsverhältnis 56, 60, 80, 98, 115, 174 Versicherungsvertrag 30, 204 Vertrag über eine Verfassung für Europa 262 Vertrag von Nizza 135 Vertragsverletzung 211 Verwirklichung des Binnenmarktes 234 Vorbehalt des Gesetzes 105, 123, 125 Vorlagepflicht 179 –181 Vorsorge 36, 39, 45 –46, 126 Wahlmöglichkeit 113, 177 Wechselfälle des Lebens 29, 39, 46, 48, 58, 78, 99 –100, 194 Wegeunfall 24, 65, 76 –77, 79, 91 Wertegemeinschaft 253, 260, 265 Wettbewerbsfähigkeit der EU 260 Wettbewerbsordnung 137 Wettbewerbsregeln 208, 211 Wie-Beschäftigte 24, 75 –76, 89 –91 Wirtschaftliche Betätigungsfreiheit 106 Wirtschaftliche Tätigkeit 141, 146 –147, 151, 157 –158, 202, 208

288

Sachverzeichnis

Wirtschaftliches Gleichgewicht 246 Wirtschaftlichkeit 109 – 110, 112 Wirtschaftsgemeinschaft 253 Zusammenschluss gleichartig Gefährdeter 52 Zuschüsse des Bundes 47

Zwangsgemeinschaft 50, 67 Zwangsmitgliedschaft 68, 118 Zwangsversicherung 37, 65, 77, 99, 112, 115, 118, 126 –128, 160, 177, 185, 215, 235 – 236, 239 Zweige der Sozialversicherung 40 Zwischenstaatlichkeitsklausel 138