Die Einheit der Vernunft als Überlebensbedingung der pluralistischen Welt: Problemskizzen politischen Denkens und Handelns. Mit einem Nachwort von Karl-Otto Apel [1 ed.] 9783428477777, 9783428077779

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Die Einheit der Vernunft als Überlebensbedingung der pluralistischen Welt: Problemskizzen politischen Denkens und Handelns. Mit einem Nachwort von Karl-Otto Apel [1 ed.]
 9783428477777, 9783428077779

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 72

Die Einheit der Vernunft als Überlebensbedingung der pluralistischen Welt Problemskizzen politischen Denkens und Handelns

Von Reinhard Hesse Mit einem Nachwort von Karl-Otto Apel

Duncker & Humblot · Berlin

REINHARD HESSE

Die Einheit der Vernunft als Überlebensbedingung der pluralistischen Welt

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 72

Die Einheit der Vernunft • ·

als Uberlebensbedingung der pluralistischen Welt Problemskizzen politischen Denkens und Handelns

Von Reinhard Hesse

mit einem Nachwort von Karl-Otto Apel

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hesse, Reinhard: Die Einheit der Vernunft als Überlebensbedingung der pluralistischen Welt : Problemskizzen politischen Denkens und Handelns / von Reinhard Hesse. Mit einem Nachw. von KarlOtto Apel. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft ; Bd. 72) Zugl.: Rostock, Univ., Habil.-Schr. ISBN 3-428-07777-6 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-07777-6

Vorwort Eingehende Gespräche sind es hauptsächlich gewesen, die mich angeregt haben, m i r den geistigen Zusammenhang dessen stärker zum Bewußtsein zu bringen, was i n der letzten Zeit, aus verschiedenen Anlässen, ins Zentrum meiner wissenschaftlichen und publizistischen Aktivitäten gerückt war. Konkreten Niederschlag hatten diese i n einigen Untersuchungen und Analysen gefunden (die wichtigsten s. Literaturverzeichnis), die auf den ersten B l i c k unterschiedliche Themen behandelten, deren innerer Zusammenhang jedoch nach Explizierung und Systematisierung drängte. Daraus erwuchs der Wunsch, ein Konzept zu erarbeiten, das es erlaubte, den Kern meiner Fragestellungen offenzulegen, daraus resultierende Probleme i m einzelnen zu entfalten, nach Antworten zu suchen und diese Antworten womöglich in konkreten Handlungsfeldern unserer Zeit zu erproben. Das Ergebnis dieser Bemühungen lege ich hier vor. Ich bin nicht der Meinung, daß sie als abgeschlossen betrachtet werden können. „ D i e Zeit i n Gedanken zu fassen", ist eine Daueraufgabe; und die jeweilige Fassung, m i t Sicherheit auch diese, bedarf der weiteren Systematisierung, der Integration und Aussonderung von Themen und der fortgesetzten Aktualisierung — von der immer nötigen kritischen Selbstprüfung ganz abgesehen. Für K r i t i k und konstruktive Anregungen, die ich während der Ausarbeitungsphase zum Gesamtkonzept oder zu Teilaspekten erhalten habe, danke ich insbesondere Herrn Prof. E. Bahr, Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Universität Hamburg, Herrn Prof. R. Bräu, Universität Greifswald, Herrn Prof. B. Claussen, Universität Hamburg, Herrn Prof. Y . Rapeport, Hebräische Universität Jerusalem, und meinem Freund Hans-Gerd Walter, K o n stanz. Das Abtippen des Manuskripts besorgte liebenswürdigerweise Frau Vera Molenda-Franzke, der ich an dieser Stelle ebenfalls danke. Ganz besonderen Dank schulde ich Karl-Otto A p e l für briefliche Kommentare und sein ausführliches Nachwort, in dem er die Generallinie der vorgelegten Analysen und Argumentationen unterstützt und zugleich die Diskussion eröffnet über die verbleibende Rolle der praktischen Philosophie i m politischen Kontext der universalen Existenzgefährdungen. Ich widme dieses Buch meinen Freunden Hannes Merkel ( t ) und François Jérôme de C., dem ich zugleich für manche wichtige Hilfe danke. Reinhard

Hesse

Inhaltsverzeichnis Einleitung

9

1. Teil Zur Verteidigung der Vernunft gegen Kanonisierung und relativistische Auflösung I. Vernunft und Geschichtlichkeit

13

Einige Überlegungen zur Geschichte des Verhältnisses von Geschichtlichkeit und Norm

15

1. Pragmatik

17

2. Genetik

23

3. Relativistischer Pluralismus

37

4. Transzendentalpragmatik — Hinweise zu einer nichtrelativistischen und nichtdogmatischen Versöhnung von Pragmatik und Genetik

75

5. Exkurs: Ein Fall von Geschichtslosigkeit? Anmerkungen zum Problem weiblicher Identität

81

II. Gegen die Usurpierung der Vernunft durch das Genie III. Gegen die Stillegung der Vernunft im Medium der Aisthesis

88 102

1. Problemstellung

105

2. Darstellung

106

3. Stellungnahme

118

4. Beispiele

125

IV. Gegen die Selbstaufgabe der Vernunft im Mythos Exkurs: Kritische Bemerkungen zum Sloterdijk'sehen Authentizitätsmythos V. Anmerkungen zum Verhältnis von Vernunft und Wahnsinn VI. Technische Vernunft und Tod — Zur Selbstobsoletisierung des Menschen in der Moderne

130 135 137

142

8

Inhaltsverzeichnis 2. Teil Problemfelder politischer Vernunft in unserer Zeit I. Ethik und Politik im Atomzeitalter — Zur normativen Kraft des antisuizidären Universalismus

155

II. Nicht-utopische Zukunftschancen — Zeitgeschichtliche Betrachtungen zur Rolle Europas

163

III. Kritischer Epilog zu Aspekten deutschen Selbstverständnisses

176

Nachwort von Karl-Otto Apel

184

Einige Anmerkungen zu Karl-Otto Apels Nachwort

190

Literaturverzeichnis

195

Einleitung Die vorliegende Arbeit erhebt weder historisch noch systematisch gesehen den Anspruch, ein vollständiges Panorama der Krise der Vernunft i n der pluralistischen W e l t zu geben. A u c h nicht den, fertige Lösungen als Auswege aus ihr anzubieten. Es geht zum einen darum, die Idee der Normbezogenheit menschlichen Handelns gegen moderne Denkbewegungen zu verteidigen, die sie aufzulösen, stillzulegen, zu ersetzen, zu erübrigen oder zu usurpieren drohen. Hier sollen einige besonders wesentlich erscheinende Aspekte hervorgehoben und beleuchtet werden, wobei das Politische — als potentielles Bewährungsfeld praktischer Vernunft — einen stets latent mitzureflektierenden Bezugsrahmen abgibt (1. Teil). Z u m anderen geht es um den Versuch, den Sitz praktischer Vernunft und politischer Verantwortung i m Kontext der Krise der Moderne, besonders i m B l i c k auf die gattungsbedrohenden Komponenten der Krise, neu zu bestimmen. Dies m i t dem Ziel, so einen Beitrag zu leisten nicht nur zu einer schärferen Sicht der Krise selbst, sondern auch zu einer Aufklärung der Frage, ob in dieser Situation kritisch fundierte Hoffnungen und Utopien möglich sind. I n der L o g i k dieses Gedankengangs steht dann die Suche nach geschichtsmächtigen politischen Faktoren, denen w i r m i t Gründen ein kritisches Bewußtsein sowohl von der Weltkrise wie von ihrer eigenen politischen Verantwortung für die Zukunft zutrauen können (2. Teil). Beide Teile gehören zusammen: Lösungsvorschläge für die Probleme der Gegenwart müßten orientierungslos bleiben, wenn sie nicht aus einer Analyse von Genese und Struktur der Moderne erwüchsen; die Analyse ihrerseits gewinnt politische Brisanz erst i m Versuch, einen Konnex zu Gegenwartsproblemen herzustellen. I n diesem Sinne erscheint eine gewisse Spannung zwischen beiden Teilen ebensowohl als unvermeidlich wie zugleich — insofern sie sich als fruchtbringend erweist — durchaus auch als erwünscht. Der Gegankengang w i r d dabei i m großen gesehen aus folgenden Einzelschritten bestehen: 1. Teil I. Praktische Vernunft ist selbst ein „ H i s t o r i k u m " ; ihre jeweilige Gestalt ist Ergebnis eines diachronischen Entwicklungs- und Diskussionsprozesses. W e l ches Vernunft-Verständnis w i r haben, hängt auch davon ab, welches Geschichtsverständnis w i r haben — und umgekehrt. Beides sind zwei Seiten einer Münze.

10

Einleitung

Zwar ist Vernunft nicht zu sehen ohne den Aspekt ihrer eigenen Geschichtlichkeit; zugleich aber ist sie — gestützt auf ihre je geschichtlich erarbeitete Kompetenz — zur Selbstdistanzierung befähigt und damit auch zur kritischen Analyse ihrer eigenen Geschichtlichkeit — soz. vom Standpunkt einer (selbst geschichtlich aufgebauten) höheren Warte aus. Die geschichtliche Vernunft w i l l über sich selbst, über ihre eigene Geschichtlichkeit hinaus, und sie kann es, weil ihr geschichtlich das Über-sich-selbst-hinausgehen, das Sich-selbst-überschießende, immer schon inhärent ist. (Ob über diese bloße Beschreibung hinaus auch sinnvoll von einer „Begründungsmöglichkeit" — für das Sich-selbst-überschießende, „ A historische", Systematische — geredet werden kann, ohne in einen Zirkel zu verfallen, bleibt eine gesondert zu erörternde Frage.) Das Vernunft- und damit auch das Geschichtsverständnis war vor-modern „ungeschichtlich", soll heißen: seine Produktionsbedingungen und diachronischen Veränderungen blieben außer Betracht. Geschichte und damit Vernunft wurden als fix gesehen, ihre Regeln und Modelle als keinem Wandel unterworfen. M i t der Heraufkunft der Moderne bei V i c o — angekündigt auch bei arabischen Denkern wie Ibn Kaldun — und dann vollends in der Geschichtsphilosophie brach dieses stabile Weltbild in sich zusammen, um dann i m Historismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts relativistisch zu verfließen. A n dieser Stelle setzt der erste Versuch ein, Vernunft zu verteidigen oder, besser gesagt, sie hindurchzusteuern zwischen der Skylla eines letztlich ewigkeitsfixierten, ungeschichtlichen Verständnisses und der Charybdis geschichtlicher Relativierung. Das Erste hieße, Vernunft aus dem Bereich des Menschlichen auszugrenzen; ihr eigentlicher Bereich wäre dann der einer kanonisierten, paradigmatisch verstandenen Heiligkeit. Das Zweite hieße, Vernunft in der Beliebigkeit jeweiliger Geltungssysteme untergehen zu lassen. I m ersten Kapitel der Arbeit geht es vor allem darum, dieses Spannungverhältnis in einigen seiner historischen Aspekte, bis hin zum Kritischen Rationalismus unserer Tage, zu analysieren. II. Das Zweite Kapitel befaßt sich mit einer Konsequenz, die sich aus der i m ersten beschriebenen Entwicklung ergibt: die historistische Auflösung der Werte schuf das Bedürfnis nach einem Orientierungsgeber, nach einer Figur, deren spezifische Funktion es ist, den Übergang von einem Geltungssystem in das andere zu gewährleisten. Die einfachen Menschen sind dazu nicht mehr in der Lage; die präfabrizierten, kanonisierten Modelle haben sich verflüchtigt. Geblieben aber ist der praktische Bedarf an Orientierung, der sich nun allerdings konkretisiert als ein Bedarf nach Leitung. Dies ist die Stunde des „Genies", der historisch „großen" Person, die „den Mantel Gottes durch die Geschichte rauschen hört" (Bismarck) bzw. die um „die Vorsehung" weiß (Hitler). A n dieser Stelle setzt ein zweiter Verteidigungsversuch der „normalen" Vernunft ein: der gegen ihre Usurpation durch das (vermeintlich geschichtsphilosophisch legitimierte) Genie.

Einleitung III. Das Genie zeichnet sich besonders durch zwei Eigenschaften aus: es hat eine nur ihm eigene Schau der geschichtlichen Dinge und es hat die Fähigkeit, die Normalen zu lehren, genauer: sie einzuüben und einzustimmen auf eine bestimmte Weise, ihn (das Genie) zu sehen und sich so seine Schau zu eigen zu machen. Anders gesagt: es hat die höhere Anschauung der Dinge und es hat die (künstlerische) Fähigkeit, den Geführten eine Anschauung seiner mitzuteilen. Es ist hervorgehoben durch das Faszinosum der charismatischen Ausstrahlung seiner Person; seine Reden und Handlungen „schlagen in Bann" und sie sind dafür gemacht, in Bann zu schlagen. Die Stillegung der Vernunft geschieht hier i m M e d i u m von Schau und A n schauung, i m Felde der Aisthesis. So instrumentalisierte Aisthesis soll mitreißen helfen, soll K r i t i k und Diskussion ersetzen. Dieser Funktion auf die Spur zu kommen, und zwar insbesondere i m B l i c k auf die Frage nach dem Verhältnis von Aisthesis und N o r m und den Chancen ihrer Versöhnung, ist Gegenstand des dritten Kapitels. I V . Dem Transfer der Zuständigkeit für die eigene Weltsicht an eine höhere Instanz i m M e d i u m der Wahrnehmung entsprechen i m gew. Sinn postmoderne Tendenzen zur Gleichschaltung von Vernunft und Mythos. Was man von sich selbst und seiner geschichtlichen Stellung zu halten habe, las man ab aus dem Bild, das das Genie einem malte. Die Gleichschaltung von Vernunft und Mythos geht einen Schritt weiter. War das Genie noch begreifbar als Verkörperung der Vernunft, die einem selbst nicht mehr erreichbar war, so geht es nun tendenziell um ihre Auflösung als solche. Wenn der Mythos dem rationalitätsmüden Postmodernen als gleichberechtigt oder gar als überlegen erscheint, so begibt er sich damit letztlich seiner eigenen Beurteilungskompetenz. Der romantisierende Rückgriff auf die (pseudo-)naturale Instanz des Mythos der Primitiven erlaubt ihm — scheinbar — Entlastung v o m komplexen Problemdruck der Moderne. Der Preis aber ist die Selbstaufgabe des Denkens. Diese Selbstaufgabe ruht i m übrigen auf einer Fehlinterpretation des Mythischen als etwas ganz Nicht-Rationalem. 1 Beide Aspekte — die Fehlinterpretation des Mythos und die daran sich anschließende Selbstaufgabe der Vernunft — sind Themen des vierten Kapitels. V . Der Verdacht, die Einheit der Vernunft erdrücke die Vielfalt kultureller Lebensäußerungen, hat i n seiner Extremform eine Rehabilitierung der Devianz und des Wahnsinns als soz. radikalste Alternativen hervorgebracht. I n einem kurzen fünften Kapitel sollen daher einige kritische Anmerkungen zum Verhältnis von N o r m und Devianz (am konkreten Beispiel der Psychiatriediskussion) gemacht werden.

ι Daß Mythen auch andere Funktionen haben können, hat etwa Tschingis Aitmatov in einigen seiner Werke („Der Weiße Dampfer", „Der erste Lehrer") anschaulich zu machen versucht. Volksmythen haben in dieser Sicht auch eine popular-aufklären sehe Komponente.

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Einleitung V I . I n dem Maße, in dem der moderne Mensch die Bedeutung praktischer

Vernunft unterminiert und sie in Relativismus, Weitfreiheit, Geniekult, Ästhetizismus oder Mythos so gut wie ganz aufzugeben bereit ist, gibt er zugleich sich selbst auf. Das allmähliche Verschwinden des eigentlichen Humanums der praktischen Vernunft ist letztlich gleichbedeutend m i t dem allmählichen Verschwinden des Humanen. Das seit ihrem Beginn für die Moderne charakteristische PathoPhänomen der Entfremdung (der wirklichen Existenzform des Menschen von seiner nun vermißten „eigentlichen") transformiert sich i n unseren Tagen radikal ins Extrem der Obsoletisierung des Menschen und in dieser L o g i k schließlich zur Möglichkeit des physischen Verschwindens des Menschen. Diese auf den Tiefpunkt gesunkene moralische Befindlichkeit der Menschheit i m Atomzeitalter soll i m sechsten Kapitel an symptomatischen Beispielen dargestellt und analysiert werden. 2. Teil I. Was bedeutet das nun zum ersten M a l als Möglichkeit vor uns stehende Ende der Gattung i m B l i c k auf die moderne Krise der praktischen Vernunft? Der universalistische Anspruch praktischer Vernunft zerbrach früher (faktisch) an der Partikularität real existierender Kulturen. Z u m ersten M a l in der Menschheitsgeschichte entspricht dem moralinhärenten Universalismus nun — in einigen Bereichen — ein real existierender Interessen-Universalismus quer durch alle Kulturen. Praktische Vernunft, so scheint es, ist heute, eben wegen der Menschheitskatastrophe, erstmals in der Lage, aus dem Reich der bela desiderata hinauszutreten und sich als Orientierungsinstanz konkreter Politik zu bewähren. Davon handelt das siebte Kapitel. II. Hier liegt dann die Frage nahe nach den geschichtsmächtigen Kräften, die ein hinreichend kritisches Bewußtsein v o m Ausmaß der Menschheitskrise und von Umfang und A r t ihrer eigenen Verantwortung für die zukünftigen Generationen haben. Dabei w i r d es vor allem um die Rolle Europas und u m die der Intellektuellen als soziale Funktionsträger gehen. I I I . V o r dieser Folie und eingedenk der Bedeutung speziell der deutschen politischen K u l t u r i m Kontext der Krise der Moderne, möchte ich i m letzten Kapitel als Epilog und Ausblick (polemisch zugespitzte) kritische Anmerkungen zu einigen problematischen Aspekten der Diskussion um die Frage des politischen Selbstverständnisses der Deutschen machen.

1. Teil

Zur Verteidigung der Vernunft gegen Kanonisierung und relativistische Auflösung I . Vernunft und Geschichtlichkeit Ein wissenschaftliches

Verhältnis zur Geschichte ist nur eines neben anderen

möglichen. U n d es ist sicher nicht das einzig legitime. , Jeder fängt einmal an, eine Geschichte zu erzählen, die er für sein Leben hält", meint Dürrenmatt. Dies macht zugleich deutlich, worauf H. Lübbe immer wieder m i t Recht verweist: Geschichte und Identität sind korrelierende Begriffe. Was w i r sind, sind w i r (nicht zuletzt) durch unsere Geschichte. U n d was unsere Geschichte sei, beschreiben w i r (nicht zuletzt) gemäß unseren Vorstellungen von dem, was w i r sind oder sein möchten. Wenn w i r wissen wollen, wer jemand ist, bitten w i r ihn, uns seine Lebensgeschichte zu erzählen; und er w i r d sie uns so erzählen, wie er sich vor sich selbst und vor uns am ehesten dargestellt sehen möchte. Lebensläufe für Bewerbungszwecke und Selbstbiographien von Politikern sind klassische Beispiele hierfür. A u f allgemeinerer Ebene gilt ein Gleiches für Völker und Gesellschaften. Hier nimmt die Geschichtswissenschaft Aufgaben kollektiver Selbstdarstellung wahr. Aber bei weitem nicht nur aus ihr speist sich das historisch bestimmte Selbstverständnis moderner Gesellschaften. Massenmedien und gemeinsame Erinnerung an kollektiv Erfahrenes haben eine wahrscheinlich noch prägendere Funktion. So gehörte es — u m ein aktuelles Beispiel für soz. naturwüchsige Geschichtsbildung und Identitätskonstitution zu geben — paradoxerweise zum gängigen Selbstverständnis gerade derjenigen Schichten der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft, die (zu Recht) die Geschichte „bewältigen" wollten, die eigentlich demokratische Tradition Deutschlands erst mit 1945 resp. 1949 beginnen zu lassen und Deutschland historisch überhaupt als einen (negativen) europäischen Ausnahmefall anzusehen. Kernsätze solcher Selbsteinschätzung sind, verkürzt gesagt: „ W i r sind eine junge, noch nicht ausgereifte Demokratie", „ D i e deutsche Geschichte bis 1945 ist gekennzeichnet von Subordination, Befehlsausführung und Mangel an demokratischen Institutionen und Erfahrungen" etc. Daß die deutsche (und die preußische) Geschichte aber zugleich eine Geschichte auch des Widerstandes, der Revolte und der Befehlsverweigerung ist, eine Geschichte m i t alten demokratischen und demokratievorbereitenden Institutionen und immer

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

wieder neuen Kämpfen um sie, w i r d dabei ausgeblendet. Es heißt dann fast schon ein Tabu verletzen, wenn man Deutschland als gerade das Land in den B l i c k rückt, i n dem m i t Luthertum und Marxismus die beiden womöglich bedeutsamsten Anstöße zur Emanzipation, die die Neuzeit kennt, sowohl formuliert wie praktisch organisiert wurden: der Protest gegen die alte ideologische und politische Beherrschung durch die katholische K i r c h e 1 und der Protest gegen die neue universale Herrschaftsform des Kapitals. Heinrich Heine hat schon sehr früh auf den Zusammenhang beider verwiesen. 2 Dies wäre nun nicht mehr als eine bloß theoretische Frage historischer Aufklärung, wenn solche Selbstverständnisse nicht auch bestimmend für den Rahmen politischen Handelns wären. Daß die berechtigte Abwehr gegen undemokratischen Radikalismus und gegen Terrorismus immer in Gefahr war, allzu ängstlich das K i n d zusammen mit dem Bade auszuschütten, war wohl (u. a.) nur deshalb möglich, weil es in der Tat auf breiter Ebene an einem gelassenen demokratischen Selbstbewußtsein, das sich auf alte Traditionen stützen kann, fehlt. N u n gibt es zwar in Deutschland solche Traditionen v ö l l i g ungebrochen nicht (wo gibt es das schon i m strengen Sinne?), aber es gibt sie immerhin. Deutschland ist hier kein Ausnahmefall (in dem dann auch Ausnahmemaßnahmen erlaubt wären). Und auch wo es Brüche gibt, gibt es doch zugleich eine respektable Geschichte des Widerstandes. Eben dies sollte immer i m Bewußtsein bleiben. A n dieser Stelle wäre ersichtlich ein Ansatzpunkt für eine eminent politische Funktion kritischen GeschichtsVerständnisses: Es käme darauf an, in historischgegenwartspolitischer K r i t i k und Aufklärung zum Abbau von Ängsten beizutragen und so eine Gelassenheit und einen Überblick zu ermöglichen, der überzogene Reaktionen erübrigt. N u n ist allgemein der R u f nach Einbindung der Geschichte in praktische Gegenwartsbezüge nicht neu. Daß er bislang keinen Ausweg aus der modernen Dauerkrise des Geschichts Verständnisses gewiesen hat, ist jedoch kein Zufall. Die Gründe dafür sind nicht zuletzt wissenschaftstheoretischer Art. Genauer: sie sind in der Geschichte der Theorie der Geschichte zu suchen. Diese kennt, vergröbernd gesagt, zwei Legitimationsstränge: den ,pragmatischen 4 und den ,genetischen 4 . Der »pragmatische 4 bleibt i m großen und ganzen unangefochten bestimmend von den griechischen Anfängen bis zum Beginn der Geschichtsphilosophie: es lohne sich, Geschichte aufzuschreiben, weil uns die Vegangenheit positive und negative Exempel für gegenwärtiges eigenes Handeln in ähnlichen Situationen liefere; das sei möglich, weil die Moral zeitinvariant sei. Demgegenüber lautet die (aus der Geschichtsphilosophie stammende), ,genetische 4 Auffas1 Vgl. W. Schuffenhauer / K. Steiner (Hrsg.), Martin Luther in der deutschen bürgerlichen Philosophie 1517-1845, Eine Textsammlung, Akademie Verlag Berlin (DDR) 1983. Dazu auch meine Besprechung in: Das Argument 151, Berlin 1985. 2 Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Leipzig 1970, vgl. bes. S. 80 f. u. S. 209.

I. Vernunft und Geschichtlichkeit

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sung: es gebe keine zeitinvariante Moral, folglich auch kein exempelgebundenes Lernen aus der Geschichte. Geschichte sei nichts als die in immer neuen Epocheschritten sich realisierende Genese unserer Gegenwart. Sich mit Geschichte zu beschäftigen sei unverzichtbar, da sie der Gang der Vernunft selbst sei und sie uns aus diesem Gang das Ziel der Wege der Menschheit abzulesen erlaube. Geschichtswissenschaft w i r d so auf einzigartige Weise emphatisiert. Sie ist die zentrale Wissenschaft, die Religion der Zeit. V o m Faszinosum dieser Emphatik hat sich das moderne GeschichtsVerständnis bis heute nicht zu lösen vermocht. — Hatte die Geschichtsphilosophie die pragmatische Legitimationsbasis zerstört, so erodierte das zunehmende Wissen u m den spekulativen Charakter der Geschichtsphilosophie nunmehr die genetische Legitimationsbasis. Damit sind der modernen, ,nachhistoristischen' Geschichtswissenschaft beide Wege, sich praktisch zu machen, theoretisch verbaut. U n d eben dies ist der Grund für die geringe Chance von Rettungsversuchen. Dem oft gehörten Aufruf zur Einbindung in Gegenwartsbezüge fehlt das Fundament einer anerkennbaren theoretischen Legitimationsbasis. Ich möchte i m folgenden meinen Beitrag zur K r i t i k des modernen Verhältnisses von Geschichtlichkeit und N o r m zunächst in der Weise explizieren, daß ich versuche, die historische Genese der gegenwärtigen Krise in ihren Grundzügen als Herausbildung der (falschen) Alternative von Pragmatik und Genetik zu beschreiben. Das wird in Beschränkung auf einige Schlüsselbegriffe geschehen: es geht mir nicht darum, einen Überblick über die Geschichte der Geschichtsverständnisse zu geben, nur darum, die Grundlinien derjenigen Entwicklungen zu skizzieren, die m. E. die gegenwärtige Problemsituation herbeigeführt habe. Sodann unternehme ich den Versuch, theoretische Voraussetzungen und Möglichkeiten einer jenseits dieser aporetischen Alternative lokalisierten Legitimationsbasis zu finden. Daß die Geschichte der systematische Entfaltungsvorgang tatsächlich ist, von dem die positivistische Geschichtsphilosophie sprach, behauptet heute wohl niemand mehr. U n d sicher ist es mehr als problematisch, zu meinen, der geschichtliche Prozeß ließe sich durch Überstülpen irgendeines systematischen Musters abschließend begreifen. Insofern ist eine Verbindung von systematischem und historischem Denken' nicht gleichzusetzen mit dem Versuch, die Geschichte auf das Procrustesbett einer wie auch immer gearteten Systematik zu spannen. Es geht jedoch nicht um eine Systematisierung der Geschichte, sondern um den Versuch einer systematisch-normativen Explikation unserer Beziehung zu ihr.

Einige Überlegungen zur Geschichte des Verhältnisses von Geschichtlichkeit und Norm Es w i r d i m folgenden nicht meine These sein, daß der Weg, den unser Geschichtsverständnis i m Laufe seiner Entwicklung bis heute zurückgelegt hat,

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

schlicht aus Mythen, Illusionen und Irrtümern besteht, w o h l aber, daß seine Krise eine Folge der Irrtümer ist, die seine Geschichte entscheidend beeinflußt haben und daß dies Hoffnungen hervorbringt, die sich (mindestens i n ihrer am meisten diskutierten — kritisch rationalistischen — Variante) als haltlos erweisen lassen. U m die gegenwärtige Krise verstehen und u m so schließlich auch den eigenen Platz bestimmen zu können, w i r d es nötig sein, die wichtigsten historischen Ursprünge der Aporie in ihren Hauptzügen zu umreißen. Hieraus wird sich eine Interpretation der gegenwärtigen Lage ergeben, die einerseits die Schwächen traditioneller Fundierungsbemühungen verdeutlicht und andererseits auf diese Weise auch das Desiderat eines Neuanfangs (der — natürlich — auch seinerseits nicht ohne historische Vorarbeit auskommen kann) einsichtig macht. Dabei ist es unerläßlich, niemals die systematischen Ausgangsfragen, die den Hintergrund der vorgängigen Fundierungsbemühungen gebildet haben, aus dem Auge zu verlieren. Nur wenn uns das Bewußtsein der elementaren Problematik, die sich hinter der historischen Vielfalt von Meinungen verbirgt, nicht abhanden kommt, kann uns die Geschichte etwas für unsere eigene Wissenschafts- und Lebenspraxis bedeuten. Nur wenn w i r die Fragen nicht verlieren, werden w i r Antworten bekommen können. Die Frage, anhand deren sich eine relevante Orientierung in unserem Problemund Diskussionsbereich gewinnen läßt, scheint m i r unvermeidbar die grundlegende Frage nach dem Sinn unserer Existenz zu sein (in anderen Worten: nach verläßlicher Orientierung, nach Wahrheit, nach Vernunft). Sie sei i m folgenden als Grundfrage bezeichnet (oder als Fundamental- oder Anfangs-Frage bzw. als die philosophische Frage). Ihr sprachliches Äußere mag sich i m Laufe der Zeiten gewandelt haben, geblieben aber ist der existentielle Kern des Gemeinten. 3 Ich möchte versuchen, einige der richtungsweisenden Antworten, die diese Frage nacheinander erhalten hat, auf ihre für das jeweilige Geschichtsverständnis entscheidende Bedeutung hin zu untersuchen und in ihrer Aufeinanderfolge als Geschichte wechselnder Aporien darzustellen. I n concreto geht es um die Antworten (oder, genauer gesagt, um bestimmte für unsere Frage bedeutsame Aspekte der Antworten) des Christentums, der empiristischen Aufklärung, der Geschichtsphilosophie und schließlich des kritischen Rationalismus als einer der in unserer Gegenwart einflußreichsten Geistesströmungen.

3 Die Kant'sche Frage „Was soll ich tun?" präjudiziell eine Antwort, deren handlungsorientierter Charakter den Beginn der spezifisch geschichtsphilosophischen Problemsicht markiert. (I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Leipzig 1979, S. 818.) Für Kant ist diese Frage zugleich eingebettet zu sehen in die umfassendere Formulierung „Was ist der Mensch?" — Aus der Sicht Engels' war die Grundfrage, was primär sei, der Geist oder die Materie. — Hinsichtlich des historischen Wandels der Grundfrage vgl. etwa: Oiserman, Die philosophischen Grundrichtungen, Berlin (DDR) 1976.

I. Vernunft und Geschichtlichkeit

17

1. Pragmatik Zunächst zum Christentum.

Ich möchte mich besonders seinen monotheisti-

schen, universalistischen und spekulativ-transzendenten Aspekten zuwenden. Es war das große Verdienst des Judentums, die monotheistische Überwindung des Polytheismus der Vorgänger und Zeitgenossen geleistet und, was für die Wirkungsgeschichte dieser Errungenschaft nicht uninteressant ist, durchgehalten zu haben. Dazu gehört die theoretische Ausarbeitung der religiösen Konzeption i m Detail ebenso wie die literarisch-ästhetische Veranschaulichung, die Tradierung und Kanonisierung der Schriften und auch die politische Sicherung der Gemeinschaft, die sich nicht zuletzt j a durch eben die gemeinsame Theorie als solche konstituierte. Problematisch wäre es allerdings, Ereignisse in der Politikgeschichte oder gar i n der Militärgeschichte Israels als Ursache für die Überwindung des Polytheismus anzusehen, so daß der Monotheismus dann deren Wirkung wäre, wie das etwa Günter Dux in seinem Buch „ D i e L o g i k der Weltbilder; Sinnstrukturen i m Wandel der Geschichte", F r a n k f u r t / M . 1982, tut, wenn er auf die Frage „Was hat den Übergang zum Monotheismus bewirkt?" (S. 238) antwortet: „Israel behauptete sich gegenüber seinen Feinden; es erwies sich ihnen überlegen. M i t ihm aber erwies sich auch sein Gott den Göttern der anderen überlegen. I n einer Welt, in der die Existenzsicherung nie w i r k l i c h zur Ruhe kommt, ist die Selbstbehauptung ein fortwährender Beleg für die Überlegenheit des eigenen Gottes. . . (Israel) behauptete sich, indem es seinen Gott als überlegen behauptete. Einmal geschehen, bedurfte es nur ein bißchen Logik, u m den Schritt zum Monotheismus zu tun. Der überlegene Gott ist der wahre Gott, der wahre Gott ist der einzige." (S. 238 / 9.) Hier bleiben allzu viele Fragen offen. Existenzkämpfe mußten nicht nur die Israeliten führen und über andere gesiegt wurde auch schon immer. Wenn die Entstehung des Einen Gottes eine Folge des sieghaften Kampfes seines Volkes sein soll, dann ist eigentlich nicht verständlich, warum er gerade bei den Israeliten und nicht bei anderen monolatrischen Religionen entstand; und wenn doch, bliebe die Frage: wie kam es überhaupt zur Entstehung einer monolatrischen Religion? A u c h ist nicht zu verstehen, nach welcher L o g i k aus dem Sieg der Waffen ein Sieg Gottes geschlußfolgert wird. Das gilt nur dann, wenn man es schon vorher glaubt. Noch ist einsichtig, inwiefern es m i t L o g i k zu tun hat, den überlegenen Gott als den wahren anzusehen. Noch, weiter, warum die L o g i k die Wahrheit des Gottes zum Anlaß nehmen könnte, seine Einzigartigkeit schlußzufolgern. Warum hat Israel seinen Gott als den überlegenen behauptet? Kann die Einzigartigkeit des Volkes Israel nicht auch aus den Leiden und Niederlagen gefolgert' werden, die Gott gerade ihm als Prüfung auferlegt? Wenn Dux mit der Wendung „ E i n m a l geschehen, (dann) . . . " seine Schlußfolgerungen einleitet, so ist das symptomatisch: es bleibt nur, zu beschreiben, was nun eben einmal geschehen ist. Weder wissen w i r wirklich, warum, noch folgt daraus logisch das, was daraus gefolgert wird.

2 Hesse

1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

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Wieso aber kann man von der Durchsetzung des Monotheismus als „Verdienst" und als „Errungenschaft" sprechen; in welchem Sinn kann dies gemeint sein? Zunächst einmal nicht in dem Sinn, daß hier überhaupt Veränderung geschah, daß sich überhaupt etwas entwickelte, etwas Neues formte. A u c h nicht so, daß damit die Durchsetzungskraft der späteren Wirkungsgeschichte gemeint ist. Nicht jede Veränderung und nicht jeder Erfolg bedeutet j a schon als solcher gleich auch eine Veränderung zum Besseren hin. Dynamik und Effizienz für sich sind noch keine „moralischen Kategorien". 4 Sie sind historische Kategorien, Begriffe heißt das, mit denen etwas beschrieben wird, was der Fall ist, genauer gesagt, was der Fall war. Eine Qualifizierung — und darauf ist j a mit „Verdienst" und „Errungenschaft" angespielt — kann nicht aus Ist-Analysen allein gewonnen werden. Sie bedarf einer normativ zu konstruierenden Begrifflichkeit. Ohne eine solche kann keine ums Beurteilen bemühte Geschichte geschrieben werden. Schon die Problematik der Gegenstandauswahl ist ohne Rückgriff auf sie unlösbar. Ein normatives Konzept gehört methodologisch zum Werkzeug, das vor Beginn der Arbeit parat liegen muß — auch wenn es i m Zuge der Arbeit dann möglicherweise den jeweiligen Bedürfnissen nach um- oder neugeformt werden mag. Diese Einsicht in die methodologische Vorgängigkeit des Normativen gilt unbeschadet des Wissens um den geschichtlichen Status, der — wie der Sprache allgemein — so auch den Urteilsbegriffen zukommt, unbeschadet des Umstandes also, daß auch die Urteilssprache ihre eigene Geschichte hat mit allen Irrwegen, Fehlern und Unzulänglichkeiten. Streng genommen wäre demnach zunächst eine praktisch-philosophische Terminologie in hinreichendem Umfang systematisch auszuarbeiten. Es muß jedoch einstweilen genügen, wenn w i r uns der Möglichkeit des Rekurses auf — wenn auch oft unsichere — gemeinsame Vorverständnisse anvertrauen. Dies mag um so weniger Mißtrauen erregen, als ein gewisser Vertrauensvorschuß zu den unumgehbaren Risikoinvestitionen des wissenschaftlichen Alltagsgeschäfts gehört. Weshalb, so war die Frage, kann man davon sprechen, daß die Durchsetzung des Monotheismus praktisch-philosophisch gesehen ein Fortschritt war?Eine — zunächst etwas hypothetisch-spekulative — Antwort darauf wäre diese: W e i l darin eine Annäherung an die Erkenntnis liegt, daß das Basisproblem menschlicher Existenz nur gelöst werden kann durch Hinweis auf ein Ziel {ein Prinzip, ein Verfahren, nach dem w i r unser Leben orientieren sollen). Ein Offenlassen mehrerer Optionen läuft logischerweise auf ein Offenlassen der Basisfrage hinaus. Solange es mehrere Optionsmöglichkeiten gibt, solange ist die gesuchte 4

Die Katastrophen der Gegenwart dürften auch dem Letzten klargemacht haben, daß die Frage des Fortschritts heute nicht mehr technisch verstanden werden kann. Die Technik bietet nur die Mittel zur Erreichung von Zielen, die ihrerseits nicht ein Produkt bloß technikimmanenter Entwicklung sein können. Vgl. auch Engels „Anti-Dühring", Kap. 9 und Kap. 10 „Moral und Recht".

I. Vernunft und Geschichtlichkeit

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Orientierung nicht ermittelt, bestehen immer noch Zweifel und ist also die Frage immer noch nicht beantwortet. Ließe man mehrere Optionen zu, so entstünde für den Fall von Kollisionen bei deren Befolgung ein prinzipiell unlösbares Problem, da nicht gesagt werden könnte, welche der Orientierungen den Vorrang hat. Da i m Monotheismus der eine Gott als die orientierungsgebende

Instanz

vorgestellt wird, können w i r diesen Sachverhalt auch fassen, indem w i r sagen, daß der nomothetische Monotheismus alle Menschen unter ein und denselben Gesetzgeber stellt und damit unter ein und dasselbe Gesetz. Formulieren w i r es auf solche Weise, so w i r d die moralphilosophische Qualität möglicherweise deutlicher: dem monistischen Anspruch der Gesetzesinstanz korrespondiert das Allgemeingültigkeitspostulat der von dort bezogenen Gesetze (Orientierungen). Es sind dies zwei Seiten derselben Münze. Diese theologische Auffassung findet ihre Parallele in der praktisch-philosophischen Argumentation zugunsten des Transsubjektivitätspostulats für gerechtfertigte Normen, wie sie in der Philosophiegeschichte vielfältigen Niederschlag gefunden hat und heute sprachphilosophisch als Verbot des Vorkommens von Nominatoren innerhalb moralisch verstandener praktischer Sätze formuliert wird. Eben dieser Schritt zur radikalen Transsubjektivität nun ist — in viel geschichtsmächtigerer Weise als durch die antike Philosophie — durch den Juden Jesus gemacht worden und in ihm liegt ein oder vielleicht sogar der wesentliche Unterschied zwischen Judentum und Christentum. Jesus hat gewissermaßen die Münze gewendet und durch sein vorbildhaftes Leben i m Angesicht der neuen Seite diese auch uns zu Angesicht gebracht. Indem er Jude war, war ihm die erste Seite vertraut, die der allein Orientierungsgebenden und damit sinnliefernden Instanz: des monistisch-nomothetischen Gottes. Er w i r d zum Christus, indem er die Münze wendet und sie uns von der Seite des universalistischen Geltungsanspruches her vor Augen führt. D e m jüdischen Auserwähltheitsgedanken steht der christliche Universalismus gegenüber. Daß alle Menschen einander lieben sollen, daß mithin Gott für alle Menschen da ist — durch dieses Postulat resp. diese theologische Theorie konstituiert sich eine moralphilosophisch zu Buch schlagende Differenz zwischen jüdischer und christlicher Religion. 5 Daß das Christentum seine Gesetzesinstanz nicht nur monistisch, sondern auch universalistisch verstand, bestimmte es räumlich gesehen zu weltweiter Mission (die dem Judentum gänzlich fern lag) und zeitlich gesehen zur Hoffnung auf das 5 So kann das Judentum seine Geschichte in ihren beglückenden wie — vor allem — in ihren leidvollen Teilen als Kette von Belegen und Erprobungen für seinen auserwählten Status interpretieren. Die Außergewöhnlichkeit jüdischen Kulturschaffens wie auch die Außergewöhnlichkeit jüdischen Leidenkönnens finden hier ihre theologisch fundierte Motivation. (Und insofern der moderne Zionismus die jüdische Passivität während des letzten großen Pogroms für schmachvoll empfindet, beweist er sein trotz allem gebrochenes Verhältnis zum Judentum als Religion und gibt sich — was noch zu erläutern wäre — als Kind des christlich-romantischen Nationalstaatsgedankens zu erkennen.) Dem Christentum aber muß das fremd bleiben. Ihm ist die Geschichte nicht ein Feld, auf dem es gilt, sich in diesem Sinne so oder so als auserwählt auszuzeichnen. 2*

1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

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dereinstige Erreichen eines mehr oder weniger präzise formulierten Endzustandes, in dem die Mission zu ihrem Abschluß und die so entstandene christliche Weltgesellschaft zur Erfüllung ihrer theologisch-moralischen Postulate gediehen sein würde. Das christliche Geschichtsverständnis war demzufolge monistisch-teleologischer Art. Dabei hätte es theoretisch offenbleiben können, ob der W e g einer so begriffenen Geschichte i m Sinne eines menschlicherseits vertrauensvoll immer neu einzubringenden moralischen Bemühens beschritten wurde oder in dem des Vertrauens auf das sichere Geleitetwerden durch einen hypostasierten Gott oder aber i m Sinne einer zwischen beiden Positionen vermittelnden Auffassung, die die Rede von „ G o t t " an eben dem zwischenmenschlich immer neu zu investierenden vertrauensvollen Bemühen festmacht. Daß sich faktisch die zweite Alternative durchgesetzt hat, führt zum dritten und letzten Punkt, der gleichzeitig entscheidend ist für die sich dann herausstellende aporetische Grundsituation des christlichen Sinn- und Geschichtsverständnisses: zu dem des metaphysisch-transzendenten Aspekts. Die Instanz, die die Sinnhaftigkeit des Lebens der Einzelnen wie die der Geschichte aller garantierte, wurde als über die Wechselhaftigkeiten des Lebens und der Zeitläufe hinausgehobene, als eine v o m historischen Wandel unabhängige, absolute gedacht. Das feste Fundament, auf dem man stehen wollte, mußte unabänderlich sein; die Wahrheit mußte ein für allemal wahr sein. Dieser verständliche, aber zu weit gesteckte Anspruch auf unabänderbare, transhistorische Geltung konnte nur durch eine dogmatisch abgesicherte metaphysische Spekulation aufrechterhalten und erfüllt werden. Sie war das stets Gleichbleibende, an dem sich die Menschengeschichte in ihrem raschen Wandel orientieren konnte. Der Sinn des Lebens und der Geschichte lagen hier ein für allemal sicher geborgen. V o n hierher ergab sich das stets gleichbleibende Grundmuster menschlichen Handelns. Die Leitlinien der Geschichte waren vorgegeben und stetig. V o r dem Hintergrund einer so gearteten Beantwortung unserer Fundamentalfrage mußte ein Umgang mit Geschichte seinen Platz behaupten können, der seit den Tagen des Thukydides der pragmatische heißt: die Theorie ahistorischer Stetigkeit der orientierungsliefernden Instanz eröffnet für den lebenspraktischen, d. h. auf die Ermittlung konkreter situationsgebundener Orientierungen angewiesenen, eben den „pragmatischen" Umgang m i t Geschichte die Möglichkeit des Rückgriffs auf historische Exempel. 6 Diese sind eine mehr oder minder vollendete applicatio immergültiger Ideale. Die zentrale Parole pragmatischen Geschichtsverständnisses, das von Cicero geprägte und i m Christentum wiederaufgenommene „historia vitae magistra", ist vor diesem Hintergrund zu begreifen. Da die 6 Man hätte übrigens womöglich diese Art des Befassens mit Geschichte besser „Exemplarismus" o. ä. genannt und den Ausdruck „Pragmatismus" aufgespart als generellen Terminus für alle Arten bewußt praxisbezogener Geschichtsverwendung — wozu als eine von mehreren möglichen dann auch der Exemplarismus gehören würde.

I. Vernunft und Geschichtlichkeit

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nomothetische Instanz als unveränderlich vorgestellt wird, steht der Verpflanzung vorbildhafter Teilelemente von einem Zeitkontext in einen anderen nichts i m Wege. Die pragmatisch verstandenen Exempel verlieren ihre Gültigkeit hierdurch nicht. Alexander und Christus als die beiden Paradigmen weltlich bzw. geistlich orientierter Exemplarität behalten diesen ihren Charakter trotz allen wie immer auch wachsenden zeitlichen Abstands zu ihnen. Ihr Handeln und Leiden bleibt wie eh und j e nachahmenswert. Gleiches gilt etwa v o m Leben der Heiligen, die gerade auch hierdurch sich ihren Ehrentitel verdienen. Dies macht uns den stark biographischen Zug pragmatischer Geschichtsschreibung verständlich und auch die Tendenz zur Kanonbildung: Das Biographische, da es i m wesentlichen die herausragenden Einzelmenschen sind, etwa die, denen man das Epitheton „groß" zusprechen kann, 7 aus denen sich das Repertoire an Vorbildhaftem zusammenstellen läßt. U n d die Kanonbildung, da es eben dieses Repertoire ist, das es zu erstellen und auf das es sich immer wieder in Theorie und Praxis zu beziehen gilt. I n dem Maße, i n dem das Repertoire wächst, i n dem mehr und mehr Lebensbereiche durch historische Vorbilder für immer abgedeckt sind, verliert selbstverständlich eine so begriffene Geschichte ihren Wert: Vorbildhaftes kann sich zwar immer wiederholen, neue Beispielhaftigkeit hingegen w i r d die Geschichte immer seltener anbieten. Eine solche Konsequenz tendenzieller Erübrigung von Geschichte werden w i r später an überraschender Stelle wiederfinden, nämlich beim Kritischen Rationalismus. 8 W i r verlassen die Erörterung dieser für unser Thema wichtigen Aspekte des Christentums und gehen über zum Empirismus als einer Theorie, deren Kontroverse mit dem metaphysischen Charakter der christlichen Sinn-Instanz den aporetischen Status solcher Fundierung des Geschichtsbildes offenbar gemacht hat. W i e schon bemerkt, unterscheiden sich Christentum und Empirismus in ihrer pragmatischen Geschichtsauffassung grundsätzlich nicht. Zwar hat der Empirismus in seiner Metaphysikkritik den Jenseitsmythos des Christentums bloßgestellt, i m positiven T e i l seiner Theorie (in dessen Namen auch die K r i t i k geführt wurde), hat er ihn jedoch durch einen neuen Mythos ersetzt, nämlich durch einen Naturmythos. Es ist nun nicht mehr ein metaphysisch verstandener Gott, der die Grundorientierungen unseres Lebens liefert, sondern die physikalisch begriffene, i m großen und ganzen gleichbleibende Natur des Menschen, der solche Ausrichtungen und Wegweisungen bereits inhärent sind. W i e Johannes Haller sagt: „ A n die Stelle des göttlichen Planes wurde seit den Tagen der Aufklärung ein natürlicher gesetzt, die Rolle der Vorsehung mußte das Gesetz übernehmen . . . " 9 Nicht umsonst spricht die empiristische Aufklärung auf praktisch-philosophischem Gebiet von einem „moral sense", der allen Menschen von Natur mitgegeben und auf den letzten Endes Verlaß sei. 7

Zur Geschichte und Kritik des Begriffs „historische Größe" vgl. weiter unten II. s Vgl. I. 3. 9 Johannes Haller, Über die Aufgaben des Historikers, Tübingen 1935, S. 24.

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft Nach dem oben Gesagten ist einsichtig, daß die Geschichtsauffassung des

Empirismus sich in ihrem pragmatischen Aspekt nicht von der des von ihm so stark kritisierten Christentums unterscheidet: wenn eine Stetigkeitstheorie durch eine andere ersetzt wird, so kann das i m wesentlichen ohne Einfluß auf die exemplarisch-pragmatischen Konsequenzen hinsichtlich der Verwendung von Geschichte vonstatten gehen. W i e die verläßlichen, sinnstiftenden Leitlinien des Lebens aussehen, kann aus einer Analyse der menschlichen Natur entnommen werden. Die Geschichte ihrerseits behält unter diesen Umständen ihren pragmatischen Verwendungswert. 1 0 W i e zuvor Gott der Garant einer sukzessiven Entwicklung des Menschengeschlechts auf das vorgestellte Endziel war, so nun die Natur, die dem Menschen innewohnt und deren Möglichkeiten sich allmählich entfalten und realisieren werden, sobald erst einmal die aus der metaphysikorientierten 10 So schreibt Voltaire: „Das Ergebnis dieses Gemäldes (der Geschichte; Verf.) ist: alles, was zuinnerst mit der menschlichen Natur zusammenhängt, ähnelt sich von einem Ende des Universums zum andern; alles was von Gebräuchen abhängig sein kann, ist verschieden . . . und verbreitet die Vielfalt über die Bühne des Universums; die Natur hingegen verbreitet die Einheit und richtet überall einige wenige unveränderliche Prinzipien ein: so ist der Grundstock überall derselbe, und die Kultur bringt verschiedene Früchte hervor". (Essai sur les moeurs . .., Bd. 13, S. 182.) Und: „ . . . man (muß) die großen Taten der Herrscher kennen, die ihre Völker besser und glücklicher gemacht haben; . . . In allen diesen ungeheueren Sammlungen (der Geschichte; Verf.), die man nicht übersehen kann, muß man sich beschränken und auswählen. Es ist ein großes Lager, aus dem ihr das nehmen sollt, was ihr braucht". (Ebd., Bd. 11, Vorwort.) Auch seine eigene Geschichtsschreibung begreift er so: „Seit langem arbeite ich an der Geschichte dieses Jahrhunderts (Le siècle de Louis X I V ; Verf.), welches das Vorbild für kommende Jahrhunderte sein soll". (Zitiert nach F. Stern, Geschichte und Geschichtsschreibung, München 1966, S. 40.) „Aber für jeden, der denkt.. . zählen in der Weltgeschichte nur vier Jahrhunderte. Es sind jene vier glücklichen Zeitalter, in denen die Künste vervollkommnet wurden und die, epochemachend für die Größe des menschlichen Geistes, das Beispiel für die Nachwelt sind. Das erste dieser Jahrhunderte ist das Zeitalter von Philipp und Alexander . . . Das zweite ist das Zeitalter von Caesar und Augustus . . . Das dritte folgt auf die Eroberung Konstantinopels . . . Das vierte Jahrhundert, das sich das Jahrhundert Ludwigs XIV. nennt, ist unter den vieren vielleicht der Vollendung am nächsten" (ebd., S. 44). Seine Beispiele für die Lehrhaftigkeit der Geschichte sind sehr handgreiflich: „Die großen Fehler der Vergangenheit sind in jeder Beziehung sehr lehrreich . . . die Katastrophe Karls VII. vor Poltawa mahnt einen General, nicht ohne Verpflegung in die Ukraine einzudringen. Weil er Einzelheiten über die Schlachten von Crécy, Poitiers, Azincourt, Saint-Quentin, Gravelottes usw. gelesen hatte, entschloß sich der berühmte Marschall von Sachsen, möglichst nur Stellungskriege zu führen. Beispiele wirken sehr stark auf den Geist eines Fürsten ein, der aufmerksam liest. Er wird sehen, daß Heinrich IV. seinen großen Krieg . . . erst unternahm, nachdem er den Nerv des Krieges gesichert wußte, so daß er mehrere Jahre ohne weitere finanzielle Hilfe durchhalten konnte . . . Wenn man die Jugend nicht mit diesen Kenntnissen vertraut machen würde, wenn es nicht eine kleine Zahl von Gelehrten gäbe, die über diese Tatsachen unterrichtet ist, dann wäre das Publikum immer noch so dumm wie zur Zeit Gregors VII. Die Schrecken jener Zeit der Unwissenheit würden unfehlbar wiederkehren, weil man keinerlei Vorsichtsmaßregeln ergreifen würde, um sie abzuwenden. Jeder in Marseille weiß, durch welche Unvorsichtigkeit die Pest aus Levante eingeschleppt wurde und man sieht sich vor. Man schaffe das Studium der Geschichte ab, und man wird vielleicht eine neue Bartholomäeusnacht in Frankreich und einen Cromwell in England erleben." (Ebd., S. 48.)

I. Vernunft und Geschichtlichkeit

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Vergangenheit überkommenen Hindernisse beseitigt sind. 1 1 A n der Geschichte jedenfalls besteht kein mit der Beantwortung der philosophischen Basisfrage primär zusammenhängendes Interesse: „None of the founding fathers o f the empirical tradition apparently thought that history was a subject worth thinking about, not even Hume who turned to history as a relief from p h i l o s o p h y " . 1 2 „Der konsequente Aufklärer (duldet) keine Anlehnung an die Vergangenheit". 1 3 2. Genetik W i r wenden uns nun von den verschieden gearteten Antworten i. S. einer historischen Stetigkeitstheorie und ihren pragmatischen Konsequenzen ab und dem grundsätzlich Neuen zu, der Geschichtsphilosophie nämlich, deren Antwort, pointiert gesagt, lautet: Vernunft (Wahrheit, Sinnhaftigkeit) ist identisch mit Geschichte. Ihr Name faßt ihr Selbstverständnis treffend zusammen. Was die Vernunft und die Weisheit sei, glaubt sie zu finden, indem sie sich der Geschichte zuwendet: Philosophie und Geschichte fallen ineins. Die philosophische Fundamentalfrage w i r d beantwortet durch Verweis auf die Geschichte, die in ihrem immer wechselnden Verlauf die großen Sinnlinien unserer Existenz zu erkennen gibt. W o h i n die Geschichte führen wird, das Ziel, von dem her alles seine Vernünftigkeit gewinnt, ist ersehbar aus ihrem auf den ersten B l i c k unsteten und von Zufälligkeit bestimmten Ablauf, i n dem ein teleologischer Hauptgedanke, der der sukzessiven Verwirklichung von Vernunft, zum Tragen kommt. Bei Hegel, der den Höhepunkt dieser geschichtsphilosophischen Auffassung darstellt, finden sich die zitierten Grundgedanken in mannigfachen Formulierungen: „ D i e Weltgeschichte ist nichts als die Verwirklichung des Geistes und damit die Entwicklung des Begriffs der Freiheit" 1 4 ; „das Objektive an sich ist vernünft i g " 1 5 ; „der Staat ist die göttliche Idee, wie sie auf Erden vorhanden i s t " , 6 ; „die Weltgeschicht ist ein Produkt der ewigen V e r n u n f t " 1 7 , oder auch: „Daß die Weltgeschichte dieser Entwicklungsgang (der sich verwirklichenden Idee der Freiheit; Verf.) und das wirkliche Werden des Geistes ist, unter dem wechselnde Schauspiele ihrer Geschichten — dies ist die wahrhafte Theodizee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte". 1 8 h Vgl. Diderot, Art. Encyclopédie, Lausanne und Bern 1781, Bd. 12, S. 340 ff. 12 Hans Meyerhoff in seiner Besprechung von P. Gardiners „Theories of History", 1959, in: History und Theory, Vol. I, 1961, S. 91. 13 Reinhart Koselleck, Historia Magistra Vitae, in: Natur und Geschichte, Karl Loewith zum 70. Geburtstag, Red.: Hermann Braun, 1967, S. 209. 14 Hegel, Philosophie der Weltgeschichte, hrsg. von G. Lasson, Lpz. 1944 4 , Bd. IV, S. 937 f. 15 Hegel, ebd. 16 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, hrsg. von Brunstädt, Lpz. (Reclam), o. J., S. 78. 17 Hegel, Philosophie der Weltgeschichte, hrsg. von G. Lasson, Lpz. 19444, Bd. I, S. 22 f.

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft Trotz aller Distanzierungsbemühungen ist es Droysen, der in enger Anlehnung

an die von Hegel formulierte Position die geschichtsphilosophische Kernbehauptung zum Fundament der bislang bedeutsamsten historiologischen Systematik macht, seiner von ihm sog. Historik. Christi Wort ,,δεοΐ έ σ τ ε " könne nicht vergebens sein, meint e r ; 1 9 der Mensch könne seine individuelle Verlorenheit überwinden, indem er sich als Gattungswesen begreift, das als solches ständig i m Begriff ist, an der Fortentwicklung historischer Kontinuitäten mitzuarbeiten 2 0 , an dem, was er an anderer Stelle dann m i t dem Schlüsselbegriff der ,έπί δοσις εις α υ τ ό ' bezeichnet. Eben hierin unterscheidet sich die gleichbleibende, langweilige Natur von der Geschichte des tätigen Menschen. Das M i t w i r k e n am fortwährenden Sich-selbst-steigern, an der ,έπ ί δοσις εί ς α υ τ ό 4 , bedeutet eine Zuwendung zur Gottheit, „die ,Rückleitung der Schöpfung zu Gott', wie ein altes mystisches Wort es nennt". I m Aufweis des durch die ,έπί δοσις εις α υ τ ό 4 der Geschichte zustandekommenden ,,δεοι έ σ τ ε " liegt die Theodizee, die „die höchste Aufgabe unserer Wissenschaft ( i s t ) " 2 1 und i m Zeichen dieser ,έπί δοσις είς α υ τ ό 4 w i r d „das Gesamtleben der Menschheit (zu einem) ununterbrochenen Strömen . . . , dessen Z i e l w i r ahnden mögen aus der R i c h t u n g . " 2 2 So liegt es nahe, daß eine Metapher Verwendung findet, die die Geschichte als Buch Gottes, als Bibel bezeichnet: „ . . . Sebastian Frank (sprach) als Historiker das tiefsinnige Wort, ,daß auch die Geschichte eine Bibel s e i . . . 4 4 4 . 2 3 V o n dorther schließlich ist es nicht mehr weit zu dem bei Koselleck i n seinem viel beachteten Aufsatz „ W o z u noch Historie?" erwähnten Satz „Geschichte ist die Religion unserer Zeit" (zitiert nach der Zeitschrift für bildende Kunst von 1876 2 4 ). „ D i e Geschichte erhält die göttlichen Epitheta", sagt Koselleck 2 5 und weist damit auf eine Kontamination, die er später in der Terminologie seiner begriffsgeschichtlichen Analyse etwas systematischer so faßt: „ A l s sie sprachlich artikuliert wurde, war die »Geschichte selber 4 identisch mit »Geschichtsphilosophie 444 . 2 6 Wenn Ranke davon spricht, daß jede Epoche unmittelbar zu Gott sei, so bedeutet das eben dies, daß es zwischen der Menschengeschichte und der waltenden und richtenden göttlichen Instanz kein Zwischenstück gibt, daß man also Gottes i n der Geschichte unmittelbar ansichtig werden kann. Dieses Ineinssetzen von göttlicher Richterinstanz und Geschichte hatte j a bereits Schiller (1784) in seinem berühmten D i k t u m von der Weltgeschichte, die das Weltgericht sei, vollzogen. 2 7 Der von uns unter18 s. o. Anm. 14. 19 Hierzu und zum folgenden s. Droysen, Theologie der Geschichte, im Anhang zur Historik, Darmstadt 1967, S. 375-377. 20 Vgl. hierzu auch etwa S. 301 / 302 der Historik. 21 Droysen, ebd., S. 371. 22 Droysen, ebd., S. 385. 23 Droysen, ebd., S. 306. 24 Koselleck, Wozu noch Historie? HZ 1971, Bd. 212, S. 8. 25 Koselleck, ebd., S. 9. 26 Koselleck, ebd., S. 14.

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stellte Zusammenhang m i t der philosophischen Fundamentalfrage w i r d deutlich, wenn Koselleck von einer der Geschichte zugeschriebenen Macht spricht, „die alles nach einem geheimen oder offenbaren Plan zusammenfügt und vorantreibt, (einer) Macht, der gegenüber man sich verantwortlich wissen konnte oder in deren Namen man handeln zu können glaubte". 2 8 Koselleck verweist auch auf ein sehr markantes Wort von Savigny, das dieser schon 1815 i n der Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft äußerte und i n dem er die Geschichte als den „einzigen Weg zur wahren Erkenntnis unseres eigenen Zustandes" qualifizierte.

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Damit sei die Liste von Zitaten und Belegen für diese seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis i n unsere Tage hinein sehr wirksame und für das Ende des 18. Jahrhunderts und vor allem das 19. Jahrhundert prägende Sinn- und Geschichtsauffassung beendet. Wolfgang J. Mommsen hat zutreffend auf die „Annahme der,Vernünftigkeit' des geschichtlichen Geschehens" als grundlegende „Voraussetzung für den Aufstieg der Geschichte zu einer dominierenden Denkform" hingewiesen. 3 0 I n seiner Arbeit „ D i e Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus" sieht er dies sehr richtig auch in den Konsequenzen, die es wie für nahezu alle anderen Lebensbereiche so auch für die Geschichtswissenschaft gehabt hat. Die Erhebung der Geschichte zu einer in allen Lebens- und Wissenschafsbereichen dominierenden Denkform kann in einer der möglichen Verwendungen des Wortes als „Historismus" bezeichnet werden. W . J. Mommsen: „das 19. Jahrhundert ist die eigentlich große Zeit der Geschichtswissenschaft" 31 und die heutige „deutsche Historiographie (lebt) i m allgemeinen" noch „ v o n der Substanz und (orientiert) sich . . . i n den Grundlagenfragen weiterhin an der historistischen Tradition."32 W i r wollen nun einige der Konsequenzen, die aus der geschichtsphilosophischen Beantwortung der Basisfrage resultieren, erörtern. Zunächst i m H i n b l i c k auf das moderne Geschichtsverständnis selbst. Dabei w i r d es i m wesentlichen um „Genetik", „Geisteswissenschaft — Naturwissenschaft", „Antipragmatismus" und „Positivismus" gehen. Dann auch, in einem kleinen ökonomietheoretischen Exkurs, i m B l i c k auf den Kapitalismus. Schließlich sei einiges zur mythologiekritischen Überwindung der Geschichtsphilosophie und damit auch des Historismus gesagt. 27 Vgl. Koselleck, Historia Magistra Vitae, in: Natur und Geschichte, Stuttgart 1967, S. 208. 2 « Koselleck, Historia Magistra . . S. 205. 29 Koselleck, ebd., S. 211. 30 Wolfgang J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 1972 2 , S. 31. 31 Mommsen, ebd., S. 6. 32 Mommsen, ebd., S. 26.

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft Die genetische

Betrachtensweise ist das grundsätzlich Neue, das die Ge-

schichtsphilosophie i m Vergleich zur vorangehenden

pragmatisch-exemplari-

schen für das moderne Geschichtsverständnis mit sich bringt. Die Beschäftigung m i t Geschichte zielt nun darauf ab, den Entwicklungsgang, den die Menschengeschicke genommen haben, bis zur Gegenwart chronologisch zu verfolgen, um so die Wahrheit über das gerade erreichte Niveau und über den zukünftigen Verlauf zu erfahren. Innerhalb solcher Entwicklung repräsentiert jede Epoche den ihr möglichen Stand an Vernunft und gewinnt so einen ihr eigenen Wert. Zutreffende Erkenntnis des gegenwärtigen Zustandes und Prognose des zukünftigen Ganges der Menschengeschicke sind die beiden Hauptziele der Beschäftigung mit Geschichte und beide können nur durch eine genetische Betrachtung erreicht werden. A l l e i n sie kann uns Aufschluß hierüber liefern. Für Hegel kommt es dabei bekanntermaßen vor allem auf die Ermittlung des gerade erreichten Standes in der Entwicklung der Freiheit

und der Voraussage

des zukünftigen Weges, den sie nehmen wird, an. Marx hat den genetischen Gedanken auf die Ökonomie angewendet und untersucht den Gang der Weltgeschichte als eine auf klassenkämpferischem W e g e 3 3 fortschreitende Entwicklung zur klassenlosen Gesellschaft; zu einer Gesellschaft soll das j a heißen, in der nicht mehr eine Klasse ihre (ökonomischen) Machtmittel zur Beherrschung einer anderen verwenden kann (da es nur noch eine und damit keine Klasse mehr gibt), wo also Herrschaft beseitigt und Freiheit errungen ist. Diese Einordnung Marxens in die auf der Geschichtsphilosophie fußende genetische Geschichtswissenschaft nimmt übrigens auch W . J. Mommsen in seiner bereits erwähnten Schrift v o r . 3 4 Eingeleitet w i r d der geschichtsphilosophische U m s c h w u n g 3 5 durch Kant, der in seiner K r i t i k des Empirismus die systematischen Grundlagen dazu legt. Den Bereich, in dem sich die sittliche Autonomie des Menschen konstituieren kann und in dem sie immer weiter fortschreitend wirkt, nennt er „Geschichte". Davon zu unterscheiden ist der Bereich der Natur. Geschichte ist das Reich der Freiheit, Natur das der Notwendigkeit; und insofern Geschichte noch von Notwendigkeiten gekennzeichnet und gehemmt ist, insofern hat sie sich noch nicht vollends als solche bewiesen. Die Möglichkeit zur Weiterentwicklung, zum ständigen Sichsteigern (zur Droysenschen έπίδοσις είς α υ τ ό also), ist das wesentliche Definiens von Geschichte.

33 Dies hat in nuce bereits Kant in seinem wirkungsreichen Aufsatz „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" behauptet; s. besonders den vierten Satz, wo er vom Antagonismus der Menschen als der letztendlichen Ursache der gesetzmäßigen Ordnung spricht. 3 4 Vgl. W. J. Mommsen, 19722, S. 8 f. 35 Vgl. hierzu ebf. Kants Aufsatz „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" von 1784.

I. Vernunft und Geschichtlichkeit

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A u f dieser geschichtsphilosophischen Wende basiert die i m 19. Jahrhundert erarbeitete Unterscheidung von (erklärender) Naturwissenschaft und (verstehender) Geisteswissenschaft, die gegen Buckle zu verteidigen Droysen sich mit Eifer, Recht und Erfolg bemühte. 3 6 Sie ist eine der wesentlichen Errungenschaften der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts (vgl. auch Rickert und Windelband). Dies gilt auch angesichts der unlösbaren Schwierigkeiten, in die die Verstehenstheorie seit Dilthey und Gadamer ganz offensichtlich hineingeraten ist, indem sie nämlich die Geschichtlichkeit des eigenen Verstehens als Voraussetzung des historischen Verständnisses begreift und so in einen hermeneutischen Zirkel gerät. Daß der Gedanke der Geschichtlichkeit des eigenen Verstehens hierfür entscheidend ist und daß eben dieser Gedanke auf einer i n Relativismus ausgleitenden Fehlentwicklung der geschichtsphilosophischen Grundaussage beruht, darf nicht zu dem falschen Schluß verleiten, nun die i n deren Zeichen vorgenommene Unterscheidung von Verstehen und Erklären über Bord zu werfen. Daß diese Unterscheidung gemacht wurde, ist und bleibt sicherlich eine Errungenschaft. Denn erst die philosophische Ausarbeitung des Gegensatzpaares von „Freiheit — Geschichte" und „Notwendigkeit (d. h. Abwesenheit von Freiheit) — Natur" machte es möglich, in systematisch abgesicherter Weise von der Autonomie der Geschichte und i m Zusammenhang damit v o m Gedanken fortschreitender Sittlichkeit zu reden. Statt zu voreiliger Resignation ist Anlaß zu analytischen Reflexionen darüber, wie die Unterscheidung i m einzelnen formuliert wurde, wie sich diese Formulierungen möglicherweise änderten und wie es so schließlich zu der erwähnten Aporie kam. Hierzu seien bei der Behandlung des Positivismus etwas weiter unten einige Bemerkungen gemacht. Immerhin erscheint es aber wichtig festzuhalten, daß die Unterscheidung von Natur und Geschichte, von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, nicht einfachhin als „methodologischer B a l l a s t " 3 7 und als später Notbehelf, durch den sich die schon schwer angeschlagene Geschichtswissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts noch über Wasser zu halten trachtete, bezeichnet werden kann, wie das W . J. Mommsen in seiner programmatischen Schrift — sicherlich für die heutige Geschichtswissenschaft insgesamt nicht unsymptomatisch — t u t . 3 8 Koselleck schreibt in „Historia Magistra Vitae": „Natur und Geschichte konnten seitdem (seit derZeit zwischen 1760 und 1780; Verf.) begrifflich auseinandertreten u n d . . . genau in diesen Jahrzehnten (wird) die alte Sparte der historia naturalis aus dem Gefüge der historischen Wissenschaften ausgeschieden — so in der Enzyklopädie von Voltaire, so bei uns von Adelung. Hinter dieser, von V i c o (1668-1744; Verf.) vorbereiteten, scheinbar nur wissenschaftsgeschichtlichen Abtrennung meldet sich ganz entschieden die Entdeckung einer spezifisch ge-

36 s. Droysen, Historik, Beilagen: Die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft, S. 386 ff. 37 Mommsen, 19722, S. 16. 38 Mommsen, ebd., S. 13 ff.

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

schichtlichen Z e i t " . 3 9 Die Unterscheidung datiert also gute hundert Jahre vor der Zeit, vor deren Hintergrund Mommsen sie behandelt. Ihre Geschichte ist demnach respektabler als Mommsen es darstellt, indem er sie als späten Notbehelf beschreibt. A u c h muß es als bedenklich erscheinen, wenn Mommsen eine systematisch gesehen immerhin mögliche und für die autonome Fortexistenz der Geschichtswissenschaft bedeutsame Disjunktion einfachhin als „methodologischen Ballast" bezeichnet. Welche Folgen das hinsichtlich der Verteidigung der geschichtswissenschaftlichen Autonomie haben kann, wird sich bei der Erörterung des Kritischen Rationalismus zeigen, dessen entschlossener A n g r i f f auf die methodologische Selbständigkeit der Geisteswissenschaften auf diese Weise jedenfalls kaum w i r d abgewehrt werden können. 4 0 W i r w i r sahen, ist für den geschichtsphilosophisch motivierten Historiker die Geschichte ein zielgerichteter Entwicklungsgang, dessen einzelne Epochen unterschiedlich gestufte Konkretisationen dessen darstellen, woraufhin alles letzten Endes gerichtet ist. Jeder Zeitabschnitt hat das ihm eigene Vernünftigkeitsniveau, die ihm eigene Wahrheit. Was für die eine Epoche gilt, gilt keineswegs auch für die andere. ( V o n hierher verstehen wir, woher das vieldiskutierte Problem der Epochalisierung seine Bedeutung gewinnt.) Damit aber hat sich die Geschichtswissenschaft die Möglichkeit verbaut, i m alten pragmatischen Sinn Vorbilder von einer Zeit in die andere verpflanzen zu können. Die Geschichte verliert ihrem exemplarischen Wert. Diese Ablehnung der Pragmatik läßt sich von Hegel über Droysen bis hin zur Gegenwart verfolgen. Hegel schreibt 4 1 : „ D i e moralischen Abstraktionen der Geschichtsschreiber dienen zu nichts. M a n redet wohl von dem besonderen Nutzen der Geschichte, daß man aus ihr Grundsätze des Lebens lerne. Kenntnis und Studium der Geschichte gehört demnach zur Bildung, insofern man aus ihr M a x i m e n lernen soll, nach denen sich die Völker zu richten hätten . . . Aber in den Verwicklungen der Weltgeschichte reichen die einfachen moralischen Gebote nicht aus. — M a n verweist Regenten, Staatsmänner, Völker vornehmlich an die Belehrung durch die Erfahrung der Geschichte. Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben." Also: weder kann man aus der Geschichte (im pragmatischen Sinn) lernen, noch hat man es folglich jemals w i r k l i c h getan. U n d ganz i m Hegeischen Sinn heißt es bei Droysen: „. . . gerade die großen und wichtigen Dinge . . . wiederholen sich n i c h t . . . (es) wäre töricht, sich . . . i m entscheidenden

39 Koselleck, Historia . .., S. 207. 40 Wie eine nicht in den hermeneutisehen Zirkel verfallende Verstehenstheorie erkenntniskritisch aufzubauen wäre, ist in der „Logischen Propädeutik" von W. Kamiah und P. Lorenzen (Mannheim 1973 2 , vgl. z. B. S. 52) m. E. überzeugend dargelegt worden. 41 s. Hegel, Philosophie der Weltgeschichte, hrsg. von Lasson, Lpz. 1944 4 , Bd. I, S. 174.

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Moment auf Beispiele früherer Zeit zu besinnen und sie auf diesen (gegenwärtigen; Verf.) Fall anwenden zu wollen. Oder man sagt, die Geschichte stellt große Muster menschlicher Natur, Charaktere, Taten auf; solchen Paradigmen gilt es nachzueifern. Aber w i l l man das, so hat wohl Alexander sich besser den A c h i l l Homers erwählt als irgendeinen Miltiades oder Agesilaos. Denn die Poesie, sagt sein Lehrer Aristoteles, ist philosophischer und idealischer als die Geschichte. U n d soll etwa jeder Schulknabe den Caesar oder Karl den Großen nachahmen wollen? Weder Muster zur Nachahmung noch Regeln zur Wiederanwendung zu geben, kann der Zweck der Geschichte sein . . . Nicht die einzelnen Vorbilder sind es, sondern der ganze hohe, ethische Zug der Geschichte soll uns durchwehen und erfüllen . . . " 4 2 Gerade dies wäre auch die Stelle, vor der Jacob Burckhardts Wort, die Geschichte könne uns nicht klüger für ein nächstes M a l , w o h l aber weise für immer machen, verständlich würde. So wie dann 1934 Joh. Haller in seinen Überlegungen „Über die Aufgaben des Historikers" sagt: „ . . . um klüger und besser zu werden, brauchten w i r uns um die Geschichte nicht zu bemühen. Ihre Lehren sind augenscheinlich nicht anwendbar, ihre Rezepte helfen nicht. Als Lehrmeisterin des Lebens in diesem Sinne scheint sie nicht zu taugen." 4 3 W i e sehr diese Überzeugung sich bis heute durchgesetzt hat, zeigt R. Koselleck, wenn er auf seine Frage „ W o z u noch Historie?" antwortet, nicht jedenfalls dazu, um „unmittelbare Handlungsanweisungen für morgen geliefert" zu bekommen, denn — das lehre nun einmal Hegel — : „Vergangene Erfahrung, die andere gemacht haben, läßt sich nicht unmittelbar übertragen." 4 4 M i t dem Untergang des exemplarischen Pragmatismus verschwindet auch sein Leitwort von der Historia Magistra Vitae. Die Behauptung, man könne aus der Geschichte lernen, steht auch heute noch wegen dieser Zuordnung der Lehrhaftigkeit zum Pragmatismus sogleich i m Gerüche, selbst pragmatisch gemeint und damit antiquiert und überholt zu sein. Die Redeweise vom „Lernen aus der Geschichte" sieht sich durch ihre enge historische Bindung zum überwundenen Pragmatismus ein für alle mal desavouiert. Pragmatik und Genetik sind die beiden bislang faktisch relevanten Arten wissenschaftlicher Geschichtsverwendung. Trotz aller Diskussionen der neueren Zeit hat sich eine dritte bisher weder hinreichend ausgebildet noch gar durchgesetzt. I m Lichte der philosophischen Grundfrage gesehen, basiert die Pragmatik auf einer Antwort, die von der Stetigkeit, der Unveränderlichkeit der sinnliefernden Instanz ausgeht. Die Genetik verläßt diese Position und macht die Sinnhaftigkeit unserer Existenz gerade am Wandel der Geschichte fest und überwindet so auch die exemplarisch- pragmatische Konsequenz.

42 Droysen, Historik, S. 300 f. 43 Joh. Haller, Über die Aufgaben des Historikers, Tübingen 1935, Vortrag, gehalten im Historischen Verein zu Münster i. W. am 15. Nov. 1934, S. 23. 44 R. Koselleck, Historia . . ., S. 11 f.

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft Dennoch steht die Geschichtsphilosophie in enger innerer Verbindung m i t den

vorangegangenen Theorien. Hatte das Christentum einen teleologischen Entwicklungsprozeß unterstellt, so verwandelte der Empirismus diesen Entwicklungsgang von einem jenseitig-metaphysisch bestimmten in einen diesseitig-naturhaft bestimmten. Eben diese Wendung ins Diesseitige nun weist aber schon auf die Menschengeschichte als alleinige Orientierungsinstanz (so dann die geschichtsphilosophische Position), denn die Natur des Menschen hat j a einzig und allein die Menschengeschichte, in der sie sich als M o t o r unter Beweis stellen kann. W i e die Geschichtsphilosophie anfangs dem Empirismus auch terminologisch deutlich verhaftet bleibt, läßt sich sehr klar bei Kant ablesen; vor allem etwa in seinem bereits zitierten Aufsatz über die „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht", dessen terminologisches Äußere sich noch keineswegs von der naturhaften Begrifflichkeit des Empirismus gelöst hat. 4 5 So ist die Geschichtsphilosophie durchaus (auch) als konsequente Fortsetzung der vorangegangen christlichen und empiristischen Theorien begreifbar, selbst wenn die aus ihr resultierende Genetik sich (ihrem Selbstverständnis nach zu Recht) als unvereinbar mit der aus den vorigen Positionen hervorgehenden Pragmatik begreift. Der Positivismus verhält sich zum Historismus und damit zur Geschichtsphilosophie nicht kontrovers, wie manche Diskussionen des vergangenen Jahrhunderts vermuten lassen könnten (etwa die zwischen Droysen und Ranke), sondern geradezu komplementär. U n d dieser komplementäre Status ist nicht paradox, wie Jürgen Habermas in „Erkenntnis und Interesse" 4 6 meint, indem er den ersten Eindruck widerzugeben versucht, den der kritische Betrachter zunächst gewinnen mag. Vielmehr ist der Positivismus eine logische Folge aus der geschichtsphilosophischen Grundbehauptung (und übrigens auch aus der des Empirismus). 4 7 Die erwähnten Diskussionen des vorigen Jahrhunderts gleichen eher der in der bekannten altrömischen Legende beschriebenen Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Organen desselben Körpers über ihre Wichtigkeit. Wenn die Wahrheit i n der Geschichte aufgesucht wird, wenn die Weltgeschichte i m Großen der Gang der Vernunft ist, dann bekommen alle ihre Teile von hierher einen nie gekannten Eigenwert. „Diese Überzeugung allein rechtfertigt es, der Fülle individueller Gestaltungen gleichsam an und für sich objektive Bedeutung zuzumessen, wie dies die Geschichtswissenschaft von Ranke bis Troeltsch, j a teilweise bis in unsere Gegenwart hinein, getan hat", sagt W . J. M o m m s e n . 4 8 Die historistischen Geschichtswissenschaftler waren der Auffassung, „daß die Geschichte ein 45 Vgl. z. B. im ersten Satz: „Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln"; im dritten: „Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles . . . aus sich selbst herausbringe . . . Die Natur thut nämlich nichts überflüssig . . .". Ähnliche Formulierungen finden sich auch in jedem anderen der insgesamt neun Sätze. 46 J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1968, S. 92. 47 s. etwas weiter unten. 48 Mommsen, 1972 2 , S. 8.

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in sich sinnvoller Prozeß sei . . . dem man sich deshalb mit besonderem Recht zuwenden müsse". 4 9 Oder wie Koselleck schreibt: „ D i e Geschichte w i r d emphatisch überhöht, sie wird h e i l i g " . 5 0 Jeder ihrer Bestandteile ist es wert, aufbewahrt und der Nachwelt erhalten zu bleiben, von jeder Handlung lohnt es sich zu berichten, denn in all dem ist letzten Endes das Walten Gottes greifbar, all dies sind Emanationen, verschieden ausgeformte Prägungen der Wahrheit und der Vernunft. V o n hierher verstehen w i r die theoretischen Schwierigkeiten, die die Geschichtswissenschaft mit dem Auswahlproblem hat: eine Auswahl darf es i m Grunde nicht geben, denn jedes Stäubchen ist kostbar; andererseits ist sie aber wegen der Endlichkeit des Lebens und der verfügbaren M i t t e l schlechterdings unvermeidbar. W i r können nun unter „Positivismus" zweierlei verstehen: einmal in ethischer Hinsicht die Beschränkung auf das Aufstellen theoretischer Sätze 5 1 , d. h. den Verzicht aufs Begründen praktischer Sätze 5 2 ; zum anderen in epistemologischer Hinsicht die Behauptung der unmittelbaren Gegebenheiten (des positiven Daseins) und damit der unmittelbaren erkenntnismäßigen Zugänglichkeit der O b j e k te'. Beide Verständnisse hängen über die Beantwortung der „philosophischen Grundfrage" eng miteinander zusammen. Die sich geschichtsphilosophisch verstehende Geschichtswissenschaft kann sich auf das Aufstellen theoretischer Sätze beschränken, da sie in diesen die praktischen Wahrheiten vorzufinden meint. W i e die Orientierung des Lebens aussehen könne und solle, zeigt sich ihrer Meinung nach j a in den Fakten der Geschichte. Eine eigenständie praktische Philosophie erübrigt sich auf diese Weise. Wenn man es überpointieren w i l l , kann man sagen: der Positivismus selbst ist die praktische Philosophie. Daß Marx eine (manche irritierende) ethische Schwebestellung einnimmt, wird nun begreiflich: einerseits wollte er Leitlinien für ein zukünftiges gesellschaftliches Zusammenleben aufstellen, andererseits sah er sich außerstande, dies mit Hilfe einer Philosophie zu tun, die sich vermöge ihres Positivismus ethisch selbst depotenziert hatte. Daß der frühe Marx eher einer eigenständig ethischen Einstellung zuneigte, der späte einer geschichtsphilosophisch-positivistischen, macht diese Ambivalenz noch einmal biographisch deutlich. Die Geschichtsphilosophie verpflanzt die Wahrheit in die Menschheitsgeschichte; die Menschheitsgeschichte aber kommt durch unser aller Zusammenwirken zustande (ob w i r uns dessen i m einzelnen A k t bewußt sind oder nicht) und ist uns demnach als unser eigenes Geschöpf auch wieder verstandesgemäß zu49 Mommsen, 19722, S. 10. so R. Koselleck, Wozu noch Historie?, S. 8. 51 i. e., Sätze, die einen Tatbestand feststellen. Ζ. B.: „1871 wurde in Versailles das Deutsche Reich gegründet". 52 d. h., Sätze, die eine Handlungsanweisung aussprechen. Ζ. B.: „Sage nie ohne Not die Unwahrheit!".

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

gänglich. Der hermeneutische Zugriff ist so gesehen problemlos, da er sich auf ein durch den Verstehenden selbst geschaffenes, aus i h m selbst stammendes ,Objekt 4 richtet. Dies ist mit eben den M i t t e l n zustandegebracht, m i t denen es nun i m Nachhinein begriffen werden soll. „. . . die Objekte der Geschichtswissenschaft (sind) dem Historiker unmittelbar empirisch vorgegeben und aus sich selbst heraus verständlich". 5 3 Der Gedanke, daß die Geschichtsgeschehnisse deshalb verstehbar sind, weil sie von denen gemacht wurden, die sie zu verstehen trachten, nämlich den Menschen, erscheint s i n n v o l l . 5 4 Jedoch ist dies vorderhand eine nur schwer brauchbare Formulierung. Insbesondere bedarf sie einer präzisierenden Interpretation, die auf die Möglichkeit hinweist, daß alle Menschen (die in der Vergangenheit Handelnden eingeschlossen) formaliter gleich behandelt werden können, und zwar i m Hinblick auf die ihnen zukommende Möglichkeit begründeten, zwischen Alternativen wählenden Handelns. Daß der Mensch als verstehendes Wesen auch Veränderungen i m Einzelnen unterworfen ist, soll nicht in Zweifel gezogen werden. Es muß aber auf die prima facie-Gültigkeit der These von der formalen Gleichheit aller Menschen (und eben auch der bereits „zur Geschichte gehörenden") als antirelativistische Stütze der hermeneutischen Theorie verwiesen werden. Solange diese Einsicht entweder nicht hinreichend klar war oder außer Acht gelassen wurde, konnte sich eine Relativierung des Verstehens und damit schließlich dessen diachronische Verunmöglichung theoretisch etablieren. (Natürlich nicht praktisch: Kriminalistik, Biographie und Geschichtswissenschaft sind durchaus faktisch zu diachronischem Verstehen fähig geblieben.) N u n ist der Positivismus nicht ein originär geschichtsphilosophischer Standpunkt. Bereits der Empirismus ist sowohl in ethischer als auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht positivistisch gewesen. Dies zu verstehen, bereitet jetzt keine Schwierigkeiten mehr, da für den Empirismus i m Grundsatz das Gleiche gilt wie für die Geschichtsphilosophie: das Aufzeigen der Sinn-Instanz ist durch einfache Faktenbehauptungen möglich. I m Falle des Empirismus ist diese die durch theoretische Sätze erfaßbare Natur; die Natur, die uns selbst auch innewohnt und uns wegen dieser Gleichheit von ,innen' und ,außen', Erkennendem und Objekt, darüber hinaus den Schlüssel zur Entproblematisierung der epistemologischen Frage bietet. Daher mußte andererseits das metaphysisch-transzendent ausgerichtete Christentum unpositivistisch bleiben. W i e w i r sahen, läßt sich die Geschichtsphilosophie in wesentlicher Hinsicht als Weiterentwicklung des Empirismus 53 Vgl. W. J. Mommsen, 1972 2 , S. 19. 54 Vgl. K. Acham, Subjektives Interesse und historische Objektivität, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 23, 1969, S. 47-72, hier S. 57: „Nach allem zeigt sich, wie in Diltheys Theorie des Verstehens der geschichtlichen Welt ein Grundgedanke der antiken Philosophie, namentlich jener des Empedokles, wieder aufgenommen wird: daß Gleiches nur durch Gleiches erkannt werden könne". Siehe auch die dort in der anschließenden Anmerkung enthaltenen Hinweise auf die neuere angelsächsische Diskussion zum Problem des Fremdpsychischen.

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begreifen. Hierauf wird vielleicht zu wenig hingewiesen, da in der Regel das Hauptaugenmerk auf die Diskrepanz von empiristisch-antimetaphysischer Philosophie einerseits und sogenannter idealistisch-spekulativer andererseits gerichtet ist. (So übrigens auch in der neueren angelsächsischen sozialwissenschaftlichen Theoriediskussion, die sich in ihrer empiristischen Ausgangsposition als kontrovers zur Geschichtsphilosophie begreift und keine Rechenschaft über den Gutteil innerer Zusammenhänge zwischen Geschichtsphilosophie und Empirismus ablegt.) Es w i r d nützlich sein, mindestens exkursweise deutlich zu machen, wie wenig ,akademisch-beschränkt' diese geschichtsphilosophische Diskussion ist und wie sehr sie mit der vergangenen und gegenwärtigen Alltagswirklichkeit zu tun hat. Das läßt sich paradigmatisch am Beispiel des Kapitalismus demonstrieren. Es ist bemerkenswert, daß die Entstehung der Geschichtsphilosophie und ihre Eroberung breiter Lebensbereiche zeitlich mit der Entfaltung des Kapitalismus zusammenfällt. Die Behauptung ist nun die, daß der Kapitalismus wesentlich von der Geschichtsphilosophie lebt. Damit sei keineswegs gesagt, daß er ein K i n d der Geschichtsphilosophie sei, w o m i t ζ. B. die augenfällige Tatsache nicht in Einklang stünde, daß England als das Mutterland des Kapitalismus von der Geschichtsphilosophie unbeeinflußt war. Seine Vorgeschichte reicht natürlich weiter i n die Vergangenheit zurück (wie j a auch die Geschichtsphilosophie ihre Vorgeschichte hat). So hat etwa M a x Weber mit Recht auf den Zusammenhang zwischen protestantischer Ethik und Kapitalismus verwiesen (was gerade für England von Bedeutung war). N u n liegt die große Zeit des Protestantismus nicht i m 19. Jahrhundert; wohl aber die des Kapitalismus. M i t der Weberschen Theorie ist also keine ausreichende Verstehensmöglichkeit dafür geliefert, daß der Kapitalismus sich gerade i m 19. Jahrhundert so stark entfaltete. Ich denke, daß die Herstellung eines Konnexes zwischen Kapitalismus und Geschichtsphilosophie hierzu in der Lage ist und möchte mich dafür insbesondere auf zwei Schlüsselbegriffe stützen: zum einen auf den der ,έπί δοσις εί ς α υ τ ό ' , die Wendung also, die Droysen zum zentralen Angelpunkt seiner geschichtsphilosophischen Terminologie gemacht hat; zum anderen auf den der Selbstwertung des Wertes, den Marx verwendet, um die Akkumulation des Kapitals zu beschreiben, die dem Zweck der Ermöglichung weiterer, noch höherer Akkumulation dient (die wieder auf den nämlichen Zweck gerichtet ist usf.). Es kommt hierin eine deutliche Parallele zwischen dem geschichtsphilosophischen Gedanken der sich fort und fort selbst steigernden geschichtlichen Arbeit des Menschen einerseits und der kapitalistischen Idee der sich ebenfalls fort und fort steigernden Selbstverwertung des Wertes andererseits zum Ausdruck. Für die Geschichtsphilosophie sind „ S i n n " (Vernunft, Wahrheit) und „Geschichte" eins; und „Geschichte" wieder begreift sie genetisch als „fortschreitende Entwicklung". M i t h i n fallen hier „Sinnhaftigkeit" und „fortschreitende Entwicklung" zusammen. Beachtenswert ist dabei das Fehlen einer normativ-teleologischen Diskussion, die sich erübrigte, da das Ziel einfachhin an der Geschichte ablesbar war. Das M i t w i r k e n an der 3 Hesse

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

,έπίδοσις εις α υ τ ό ' in jeder Hinsicht (d. h. auch in ökonomischer) w i r d so an sich selbst zu einer geweihten Handlung. Ja, man kann sagen, w i l l man es theologisch fassen, zu einer A r t Gottesdienst; denn „der Geschichte zu dienen" und damit Wahrheit und Vernunft zu fördern, bedeutet für die Geschichtsphilosophie auch, Gott zu dienen; und wenn sie etwa in ihrer Marxschen Prägung aus metaphysikkritischem Vorbehalt von derartigen Theologemen auch keinen Gebrauch macht, so bleibt dennoch selbst hier der Verweis auf die Geschichte als derjenigen Instanz, aus der unvordenklicherweise

die Motivation zum Handeln

und insbesondere zum guten, richtigen Handeln gespeist werden soll. Die fortschreitende Geschichte wird als Sinngarant des Lebens begriffen und als solche theologisch überhöht. Gerade der Gedanke der ständigen Fortentwicklung ist es, der auf ökonomischer Ebene dem Aufruf zu perpetuierlicher Mehrwerterwirtschaftung,

dem

Hauptprinzip des Kapitalismus, korrespondiert. Wegen der ausgeklammerten Teleologiedebatte kann das Wachsen-um-des-Wachsens-willen in praxi zur legitimierten Obermaxime gedeihen. Indem die Geschichtsphilosophie einer solchen Handlungsweise moralischen Rang verleiht, indem sie sie letzten Endes theologisch sanktioniert, verleiht sie dem Kapitalismus eine bisher nicht gekannte Motivationsbasis. Er bekommt die Legitimation, sich immer und überall durchzusetzen, er wird sozusagen zum Träger des geschichtsphilosophischen heiliggesprochenen Fortschritts. U n d als Promotor des Fortschritts sieht ihn j a durchaus auch Marx, etwa wenn er ihn als notwendiges Vehikel zur Erreichung der klassenlosen Gesellschaft behandelt, die ohnedem faktisch gar nicht herstellbar wäre. I n welcher Hinsicht Marx insgesamt als Geschichtphilosoph begriffen werden kann, habe ich oben bereits zu zeigen versucht. Marx so zu verstehen, heißt aber, implicite eine Antwort auf die Behauptung zu geben, die Geschichtsphilosophie sei nur der legitimierende theoretische Überbau für eine schon bestehende ökonomische Basispraxis. Denn wenn selbst Marx als schärfster Kritiker dieser ökonomischen Faktizität zugleich von der hier beschriebenen geschichtsphilosophischen Grundposition ausgeht, kann diese Behauptung — die innere Konsistenz der Marxschen Argumentation vorausgesetzt — so nicht haltbar sein. Ein anderes ist es, zu untersuchen, inwieweit die Geschichtsphilosophie faktisch als Legitimation herangezogen wurde. Daß sie tatsächlich eine solche Legitimationsrolle spielen kann und daß darin sogar eine ganz wesentliche lebenspraktische Bestärkung und Motivationsquelle liegt, eben dies sollte hier deutlich werden. I m übrigen erscheint gerade die Gegenüberstellung von ,έπί δοσις εις α υ τ ό ' und „ M e h r w e r t " als geeigneter Ausgangspunkt für eine Erörterung des BasisÜberbau-Problems allgemein. Für dieses von Marx in die Diskussion eingeführte Problem seien zwei Verstehensmöglichkeiten vorgeschlagen, eine apodiktische und eine fragende.

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Die erste stellt die Problematik in ihren historischen, geschichtsphilosophischen Kontext und faßt sie demnach als ökonomische Ausformulierung der Marxschen Kernaussage, wonach die Theorie die Widerspiegelung der ökonomischen Basis ist und immer nur den jeweiligen Basiszustand reproduziert und bestätigt. 5 5 Die Theorie erhebt das jeweils Faktische immer neu zum Status der Vernünftigkeit. Genau dies ist der gesschichtsphilosophische Kern. Er gilt auch für die dialektische Ausweitung des Denkmodells, denn das theoretisch artikulierte Ungenügen an der ökonomischen Faktizität ist nur der Überbau-Abklatsch eines in der Basis bereits vorgängig entstandenen Grund Widerspruchs. In diesem historistischen Verstand ist die erste Variante offen für die allgemein gegen die Geschichtsphilosophie vorgetragenen Angriffe und steht und fällt also mit dieser. Solcherlei Schwierigkeiten vermeidet das zweite Verständnis. Es bringt das Basis-Überbau-Problem in die Frage: „Ist der Überbau durch die Basis beeinflußbar bzw. ist die Basis durch den Überbau beeinflußbar?" U m den Anklang ans apodiktische Verständnis zu vermeiden, wäre es sinnvoll, die Termini „Überbau" und „Basis" durch solche wie „Theorie" oder „Geistesgeschichte" und „ W i r t schafts-" oder „Sozialgeschichte" zu ersetzen. M . E. ist diese Frage weder in der einen noch in der anderen Weise generell zu beantworten. Eine historisch zutreffende Antwort muß vielmehr schlicht lauten: mal so, mal so. Denn in der Tat bieten manchmal die im,Kulturleben 4 erarbeiteten Aussagen wesentliche Impulse für Weiterentwicklungen in anderen Lebensbereichen, ebenso wie auch die w i l d wüchsigen ökonomischen Entwicklungen ihrerseits nicht ohne Einfluß auf das ,Geistesleben' bleiben. I m ganzen ist diese Trennung von Theorie und Praxis aber (mindestens diskussionsstrategisch gesehen) eher unglücklich, da sie den B l i c k von den fundamentalen systematischen Zusammenhängen zwischen beiden ablenkt. So etwa davon, daß einerseits die „Theorie" immer nur als „Praxis", nämlich als Redepraxis, zugänglich ist und daß andererseits die „Praxis" immer nur auf dem Wege über „Theorie", d. h. über minimale, sprachlich zu artikulierende Antezipationen (ζ. B. in Handlungsplänen) vernünftig zu bewältigen ist. Soweit zur Geschichtsphilosophie und einigen ihrer bis zur Gegenwart geschichtsmächtigen Konsequenzen. Den noch keineswegs abgeschlossenen Niedergang dieser Philosophie und seine internen und externen Gründe ausführlich zu beschreiben, ist hier nicht Raum. Es sei nur auf drei Momente eingegangen, die zur K r i t i k des historistischen Geschichtsverständnisses beigetragen haben: 55

Daß eine pauschale Zuordnung der Widerspiegelungstheorie zu Marx mit Vorsicht zu genießen ist, hat u. a. die in Sachen Literaturtheorie geführte westdeutsch-ostdeutsche Debatte zwischen Jauss (Konstanz) und Neumann (Ost-Berlin) gezeigt. Anlaß zur Kritik dieser Zuordnung waren dabei insbesondere die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte" von 1844, weiter MEW 13,641 und MEW 13,624. (H. R. Jauss: Unveröffentlichte Vorlage zum Kolloqium „Literaturtheorie und Marxismus" im März 1978 am InterUniversity Centre of Postgraduate Studies in Dubrovnik, Jugoslawien. Die hier zitierte Debatte fand zuvor in München statt.) *

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

auf die Geschichtswissenschaft, auf die Sozialwissenschaft und auf die Geschichte selbst. Die Geschichtswissenschaft

spielt hierbei gewissermaßen eine tragische Rolle,

da sie sich selbst ihres theoretischen Fundaments beraubte: von Beginn an war — in Droysens Worten — die Theodizee Hauptaufgabe der modernen, genetischen Geschichtswissenschaft: es ging ihr darum, die Vernünftigkeit der Geschichte von Fall zu Fall unter Beweis zu stellen. Mochte es ihr dabei auch zunächst gelingen, die K l u f t zwischen dieser ihrer Absicht und den historischen Fakten durch langfristige Interpretationen, die mehr auf einen übergeordneten Zusammenhang hinwiesen oder gar durch Rekurs auf die Listigkeit der Vernunft zu verdecken, ein stetes Unbehagen an einer Theorie, die derartige Schwierigkeiten machte, blieb dennoch nicht aus und machte sich immer wieder Luft. Das führte auf Dauer zu einem gespannten ambivalenten Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie und läßt den Eindruck entstehen, als sei ζ. B. die sogenannte historische Schule, die sich damals bildete, in der Tat eine systematisch zu begreifende Gegenposition zur Geschichtsphilosophie. Durch ihren ständigen Umgang mit einem gar nicht einfachhin in die vorfabrizierte geschichtsphilosophische Theorie einzupassenden Gegenstand ergaben sich für die Geschichtswissenschaft erste Anhaltspunkte zu einer fundamentalen K r i t i k der Philosophie, unter deren Flagge sie euphorisch angetreten war. Als zentrales ausführendes Organ der Geschichtsphilosophie war die Geschichtswissenschaft geradezu prädestiniert, dieser und damit sich selbst den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Sie sah sich weder in der Lage, den Nachweis der Vernünftigkeit der Geschichte noch den einer an sich selbst gesetzmäßig fortschreitenden Entwicklung am Detail zu führen. Hinzu kam die Notwendigkeit, eine eigene Methodologie zu entwickeln, mithin also eine Vernunftinstanz auszuarbeiten, die der Geschichte systematisch gesehen vorgängig ist, da sie diese j a erst erschließen soll. I n dem immanenten theoretischen Widerspruch zur geschichtsphilosophischen Grundbehauptung, in den eine solche methodologische Vorabrefiexion zwangsläufig gerät, kann wohl m i t Recht ein Grund für den auch ggenwärtig noch problematischen Entwicklungsstand historiologischer Grundlagenreflexion gesehen werden. Die K r i t i k , die Nietzsche, Troeltsch, Heussi u. a. am relativistischen Historismus übten, tat ein übriges, die Geschichtswissenschaft zu verunsichern. Die genetisch verstandene Geschichte wurde ihr zunehmend suspekt und damit schwand ihr die eigene Grundlage. I n einer solchen Situation lag es nahe, sich nach Hilfskonstruktionen umzusehen. Die empiristisch geprägten Sozialwissenschaften waren i m wesentlichen unbeeinträchtigt geblieben. M a x Weber als derjenige, der ihnen schließlich i n Deutschland zum Durchbruch verhalf, unterzog den Historismus einer folgenschweren K r i t i k . Obwohl von den Sozialwissenschaften immer wieder angegriffen, suchte die Geschichtswissenschaft — ermuntert durch die große Ähnlichkeit des Gegenstandsbereichs — doch gerade auch

I. Vernunft und Geschichtlichkeit

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hier Anlehnung und Schutz vor ihren Schwierigkeiten (soweit sie sich nicht in sich selbst abkapselte und ihre Probleme zu verdrängen suchte). Bevor w i r uns mit dem Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Sozialwissenschaft und den Hoffnungen, die jene heute i n diese setzt, beschäftigen 5 6 , seien einige Anmerkungen über die Erosion der Geschichtsphilosophie durch „die Geschichte

selbst"

gemacht: Was für den Aufstieg der Geschichtsphilosophie

die französische Revolution war, waren für ihren Niedergang die großen Krisen unseres Jahrhunderts: die Weltkriege, die Weltwirtschaftskrise, das Entstehen totalitärer Systeme. Durch die französische Revolution kam zum ersten Male seit langem ein Element der Bewegung in die Geschichte. Sie erschütterte ganz Europa. Eine neue Zeit schien angebrochen — m i t der alten gar nicht mehr vergleichbar. Es wurde auf die Kirchturm- und Rathausuhren geschossen, u m dies sinnfällig zu machen. Die vergangenen Zeiten waren ein für alle M a l vergangen. Da sie m i t der neu angebrochenen Epoche nicht mehr vergleichbar waren, boten sie keine Vorbilder mehr. Das bereitete den Weg für das Ende der traditionellen pragmatischen Geschichtsauffassung — so wie die Augenfälligkeit der durch die revolutionären Ereignisse in die Geschichte gebrachten Bewegung einer breiten Rezeption der Geschichtsphilosophie den Weg bereitete. Ganz ähnlich auch umgekehrt in Bezug auf den Niedergang der Geschichtsphilosophie: nicht mehr nur kritischen Philosophen oder enttäuschten Historikern erschienen ihre Mängel einsichtig. Völkergemetzel, Auspowerung und Rassenhass, ausgetragen auf der Bühne der Weltpolitik, ließen die Vorbehalte auch andernorts wachsen 5 7 . U n d vollends desavouierte sich geschichtsphilosophisches Denken, wenn etwa Hitler sich i n gut historistischer Manier auf „die Vorsehung" oder „die Geschichte" berief, die i h m dieses oder jenes befehle bzw. ihn vor diesem oder jenem schützen werde 5 8 . 3. Relativistischer

Pluralismus

N u n zu einem weiteren T e i l unserer Überlegungen. Sie beschäftigen sich insbesondere mit einigen Aspekten des Kritischen Rationalismus als derjenigen Theorie, die als das Fundament des z. Zt. (im Westen) bestimmenden Wissenschaftsparadigmas angesehen werden kann. Nach allem Gesagten w i r d unsere Hauptfrage sein: was bleibt unserem Geschichtsverständnis als Fundament, nachdem sukzessive Jenseitsmythos, NaturI. 3. 57 Vgl. K. Loewiths Kritik: „Und wenn die Weltgeschichte der letzten beiden Weltkriege uns irgendetwas lehren konnte, dann vielleicht dies, daß sie nichts ist, woran man sein Leben orientieren könnte." Zitiert aus K. Loewith, Mensch und Geschichte, in: Gesammelte Abhandlungen, Stuttgart 1969 2 , S. 152 ff., insbes. S. 163 f. 58 Vgl. hierzu auch Popper, Das Elend des Historizismus, Tübingen 1971, Motto und Vorwort zur deutschen Ausgabe. 56 s.

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

mythos und Geschichtsmythos 5 9 als solche erkannt wurden und damit die durch sie gegebenen Antworten auf die Basisfrage ihren Wert als Ausgangspunkt historiologischer Orientierung verloren haben; w i r d sich nun der Kritische Rationalismus als tragfähiges Fundament für eine Theorie der Geschichte erweisen? Unsere Antwort wird sein, daß auch er keinen gangbaren Ausweg aus der Aporie des modernen Geschichtsverständnisses darstellt. Popper hat seine K r i t i k an der Geschichtsphilosophie i m „Elend des Historizismus" mit großer Resonanz thematisiert. Eine ähnliche Distanz ihrerseits auch zum Kritischen Rationalismus zu wahren, fällt der Geschichtswissenschaft allerdings schwer. Das mag vor allem damit zusammenhängen, daß es u. a. gerade der Kritische Rationalismus war, der das seit langem an der Geschichtsphilosophie gehegte Unbehagen artikulierte. Indem er das tat, formulierte er gleichzeitig als Alternative ein wissenschaftstheoretisches System, das von umso größerem Reiz war, als dem modernen Geschichtsverständnis wegen der Erosion der Geschichtsphilosophie methodologisch sozusagen der Boden entzogen war. Dabei spielt es keine wesentliche Rolle, daß diese Theorie zunächst eigentlich nur für die Naturwissenschaften gedacht war, dann erst auf die Sozialwissenschaften ausgedehnt wurde und somit schließlich auch cum grano salis auf die Geschichtswissenschaft applikabel erschien. Darüber schreibt Popper selbst: „ I c h habe allen Grund zu der Annahme, daß meine Interpretation der wissenschaftlichen Methoden ursprünglich durch keinerlei Kenntnis der Methoden der Sozialwissenschaften beeinflußt war, denn als ich diese Auffassung konzipierte, dachte ich nur an die Naturwissenschaften und wußte fast nichts von den Sozialwissenschaften". 6 0 Hauptwerk des Kritischen Rationalismus ist Poppers 1934 erschiene „ L o g i k der Forschung". Sein Buch „Das Elend des Historizismus" ist eine Verwertung der „ L o g i k " für eine K r i t i k an der Geschichtsphilosophie und ihren Folgen. Popper argumentiert dabei z. T., wie er selbst sagt 6 1 , in Anknüpfung an Bemerkungen von Max Weber. 59 Mitunter geraten auch neomarxistische Varianten (z. B. die Kritische Theorie) ins Kreuzfeuer einer polemischen Kritik, obwohl in ihren spezifischen Ausarbeitungen und Ausweitungen des Marxismus Ansätze enthalten sind (z. B. die Konsenstheorie, das Postulat unverzerrter Kommunikationssituation), die es auch in Hinsicht auf eine Lösung der geschichtstheoretischen Aporie auszuwerten gälte. Golo Mann erntete z. B. auf dem 29. Deutschen Historikertag Applaus, als er auf Habermas gemünzte Sätze ausrief wie: „Wir leben in einem Zeitalter der Kapitulation. Wir lassen uns aufschwatzen, was immer ein paar Gescheite oder doch ein gescheites Vokabular Handhabende uns aufschwatzen wollen . . . Soziologie ist Trumpf, und Soziologie, das ist heute zu neun Zehnteln Marxismus in gröberer oder verfeinerter Form. Philosophischen Eintagsfliegen wird der Wert grundstürzend neuewiger Entdeckungen beigemessen, nach denen alle Forschung, alles Studium sich ausrichten müsse: „Erkenntnis und Interesse", „Positivismusstreit", „Emanzipation", „Zusichselbstkommen der Menschheit", „herrschaftsfreie Gesellschaft", „systemüberwindende Strategien" und so weiter und so weiter. Rede zur Eröffnung des 29. Deutschen Historikertages, DIE ZEIT vom 13. Okt. 1972, S. 57. 60 Popper, Das Elend des Historizismus (im folgenden abgekürzt als „Elend . . ."), S. 108; vgl. auch den Untertitel zur „Logik der Forschung", Wien 1934: „Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaften".

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Da nicht nur Popper, sondern auch andere maßgebende Anhänger des logischen Empirismus wegen der nationalsozialistischen Terrorherrschaft vorwiegend ins angelsächsische Ausland emigrierten und dort, angeregt sowohl durch die augenscheinliche, handgreiflich-politische Bestätigung ihrer kritischen Thesen in den totalitären Staaten 62 und begünstigt durch die ungebrochen empiristische Tradit i o n 6 3 in jenen Ländern, weitreichende Aktivitäten entfalteten, gelang es ihnen bald, auf der Bühne der Wissenschaftstheorie erst eine und dann die Hauptrolle zu spielen. Natürlich sind die Gründe dafür auch tieferliegender, inhaltlicher Art. Jedenfalls spielte sich die kritisch-rationalistisch bestimmte Scientologie-Debatte zunächst fast ausschließlich in angelsächsischen Ländern ab. In besonderem Maße gilt das für die in engerem Sinne auf die Geschichtswissenschaft bezogene Diskussion. I m Anschluß an Poppers „Elend des Historizismus" hat hier Carl G. Hempel 1942 einen für die gesamte Nachfolgediskussion maßgebenden 64 Aufsatz mit dem Titel „The Function o f General Laws in History" geschrieben, der 1949 durch einen weiteren, zusammen mit Paul Oppenheim verfaßten Aufsatz „Studies in the Logic of Explanation" ergänzt w u r d e 6 5 . Was ist der Kerngedanke der Popperschen Theorie; welche A n t w o r t gibt sie auf unsere philosophische Ausgangsfrage? Popper selbst sagt: „. . . der Wahrheit näher zu kommen ist nicht leicht. Es gibt nur einen Weg, den Weg durch unsere Irrtümer. Nur aus unseren Irrtümern können w i r lernen; und nur der wird lernen, der bereit ist, die Irrtümer anderer als Schritte zur Wahrheit zu schätzen; und der nach seinen eigenen Irrtümern sucht, um sich von ihnen zu befreien" 6 6 . Der einzige Weg fürs Auffinden zuverlässiger (theoretischer) Orientierungen geht nach Popper über das hypothetische Aufstellen deduktiver Kausalerklärungen und deren falsifikatorische Überprüfung mit Hilfe von Prognosen 6 7 . Popper 61 s. Popper, Elend . . ., S. 113, Anm. 105. 62 Vgl. hierzu das Motto im „Elend des Historizismus". 63 Vgl. Anm. 91. In der dort zitierten Rezension weist H. Meyerhoff darauf hin, wie weitgehend unberührt von geschichtsphilosophischem Einfluß sich die empiristische Tradition in England und den USA im wesentlichen bis auf unsere Tage habe halten können. 64 Vgl. Anm. 91, H. Meyerhoff: „The candidate for an acceptable analysis of historical explanation, and for explanation in general, has been advanced, in its classical form, by Professor C. G. Hempel" und: „It is fair to say that almost everything since published on the topic has been structured by Hempel's original formulation, whether writers agree with him or not". 65 Hempels „The Function of General Laws in History" erschien 1942 im Journal of Philosophy. Wieder abgedruckt in P. Gardiners Anthologie „Theories of History", Ν. Y. 19656. „Studies in the Logic of Explanation" erschien in der Aprilnummer von Philosophy of Science, Nr. 2, Vol. X V , 1948. 66 K. R. Popper, Selbstbefreiung durch das Wissen, in: Der Sinn der Geschichte, München 1970* S. 115. 67 Dadurch fallen ζ. B. die sogenannten universellen Es-gibt-Sätze als metaphysisch aus dem Wissenschaftsbereich heraus. Vgl. Popper, „Logik der Forschung", Abschnitt 15, S. 39-41, insbesondere S. 40: „Universelle Es-gibt-Sätze . . . sind nicht falsifizierbar: Kein besonderer Satz (kein Basissatz) kann mit dem universellen Es-gibt-Satz: „Es gibt

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

schreibt: „(Ich) w i l l eine Doktrin entwickeln, nach der eine Einheit der Methode besteht, das heißt die Auffassung, daß sich alle theoretischen und verallgemeinernden Wissenschaften der gleichen Methoden bedienen, gleichgültig, ob sie Natur- oder Sozialwissenschaften sind. . . . Diese Methoden bestehen immer in der Aufstellung deduktiver Kausalerklärungen und ihrer Überprüfung (mit Hilfe von Prognosen). M a n nennt dieses Vorgehen manchmal die hypothetisch-deduktive Methode oder häufiger die Methode der Hypothesen, denn sie erreicht keine absolute Sicherheit für die wissenschaftlichen Aussagen, die sie prüft, sondern diese Sätze behalten stets den Charakter vorläufiger Vorläufigkeit

Hypothesen, wenn auch ihre

unter Umständen nicht mehr auffällig i s t . " 6 8

N u n behandelt er die historischen Wissenschaften zwar gesondert, 69 aber dies nur, um so seinem Nachweis ihrer Subsumierbarkeit unter die Einheitsmethode mehr Nachdruck verleihen zu können: „ I c h w i l l die von den Historizisten oft als altmodisch angefeindete Auffassung verteidigen, daß die Geschichtswissenschaft durch ihr Interesse für tatsächliche, singuläre spezifische Ereignisse i m Gegensatz zu Gesetzen oder Verallgemeinerungen charakterisiert ist. Diese A u f fassung verträgt sich vollkommen mit der Analyse der wissenschaftlichen Methode und insbesondere der Kausalerklärung, die in den vorangehenden Abschnitten durchgeführt wurde. Der Sachverhalt ist einfach folgender: Während den theoretischen Wissenschaften hauptsächlich an der Entdeckung und Prüfung universeller Gesetze liegt, nehmen die historischen Wissenschaften alle möglichen allgemeinen Gesetze als gültig an und beschäftigen sich hauptsächlich mit der Entdeckung und Prüfung singulärer Sätze". 7 0 Wahrheit — und damit auch historische Wahrheit — w i r d also in Vorläufigkeit aufgelöst; ein positiver Nachweis ist nicht möglich. Immer nur können zunächst versuchsweise Vermutungen angestellt werden; wenn dazu noch jeweils ein Verfahren angegeben wird, wie man die Ausgangsvermutung falsifizieren kann, so ist solange auf sie Verlaß, bis dies tatsächlich geschehen ist. Die Methode von Versuch und Irrtum (trial and error) verschafft uns die Möglichkeit vorläufiweiße Raben" in logischem Widerspruch stehen. . . Wir werden deshalb... die universellen Es-gibt-Sätze als nichtempirisch („metaphysisch") bezeichnen müssen." Zur Gleichsetzung von ,,nichtempirisch" bzw. „metaphysisch" und „unwissenschaftlich" in diesem Zusammenhang s. auch Elend . . . S. 91, Anm. 73: „Siehe meine Logik der Forschung, Abschnitt 15, wo die Annahme, daß Es-gibt-Sätze metaphysisch (d. h. unwissenschaftlich) sind, begründet wird" und S. 100 f., Anm. 87: „Einige logische Gründe sprechen dafür, daß man den Glauben an einen absoluten Trend als unwissenschaftlich oder metaphysisch zu bezeichnen h a t . . . Ein solcher Trend läßt sich durch einen nichtspezifischen (verallgemeinerten) „Es-gibt-Satz" ausdrücken („Es gibt den und den Trend"), den man nicht prüfen kann, da keine Beobachtung einer Abweichung von dem Trend diesen Satz widerlegen kann, denn man kann stets hoffen, daß „auf die Dauer" Abweichungen in die entgegengesetzte Richtung einen Ausgleich schaffen werden." 68 s. Popper, Elend . . ., S. 102 ff.; vgl. auch dort S. 46. Hervorhebungen im obigen Zitat von mir. 69 Vgl. Popper, Elend . . ., S. 102 und Abschnitt 30 und 31. 70 Popper, Elend . .., S. 112; Hervorhebungen von mir.

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ger Orientierung. M a n stellt eine beliebige Hypothese auf (sie muß allerdings logisch korrekt formuliert sein), gibt an, wie eine Versuchssituation aussehen müßte, in der sie geprüft werden kann, und solange die Hypothese nicht tatsächlich falsifiziert ist, aber dennoch falsifizierbar wäre, gilt sie. In dieser letzten Formulierung des trial-and-error-Verfahrens w i r d die Anlehnung an die naturwissenschaftliche Methodik deutlich. Termini wie „kausale Erklärung", „Prognose", „Gesetz" oder „Versuch" haben schon darauf verwiesen. A u c h die bereits erwähnte Genese der Theorie macht diese Verwandtschaft deutlich. I n der Tat ist die festgestellte Parallele keineswegs kontingenter Natur. Sie führt zu der positiven Basis, auf der sich die bisher geschilderte Poppersche Argumentation bewegt, die j a i m wesentlichen eine Argumentation ex negativo oder, wie man vielleicht auch sagen könnte, da sie den Irrtum als einziges M i t t e l der Wahrheitsfindung hinstellt, eine „erroristische Argumentation" ist. Diese Basis sind die Naturwissenschaften und da vor allem die Physik. Die These von der Einheit wissenschaftlicher Methodik ist letzten Endes ein Versuch, die Geisteswissenschaften methodologisch den Naturwissenschaften

einzuverleiben.

Maurice Mandelbaum, selbst Anhänger dieser Theorie, stellt sie in den richtigen historischen Kontext, wenn er in seinem Aufsatz „Historical Explanation: The Problem of »Covering L a w s ' " schreibt: „ V i e w i n g the matter in historical perspective, one should recall the covering-law theorists (z. B. Popper, Hempel, Gardiner; Verf.) were in rebellion against a very widespread and influential movement in German thought which attempted to show that the methods employed in the historical sciences were necessarily different from the methods employed in the natural sciences. The contrast between „Naturwissenschaft" und „Geisteswissenschaft", between „erklären" and „verstehen", between „the repeatable" and „the unique", between „nomothetic" and „ideographic" disciplines, were the stockin-trade o f those against w h o m the covering-law theorists rebelled." 7 1 Jürgen Mittelstraß betont in diesem Zusammenhang vor allem den hegemonialen Charakter der Naturwissenschaften: „Unter dem Eindruck der methodischen Sicherheit naturwissenschaftlicher Disziplinen hat sich i m Rahmen einer wiederum an den Naturwissenschaften orientierten Wissenschaftstheorie die Meinung herausgebildet, daß eine wissenschaftliche Disziplin selbst zur Erfahrungswissenschaft (empirischen Wissenschaft) werden müsse, wenn sie dem V o r w u r f mangelnder Exaktheit entgehen wolle. Das beinahe schon traditionelle schlechte methodische Gewissen der sogenannten Geisteswissenschaften einschließlich der Sozialwissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften rührt eben daher, daß dieser Schritt wegen der Besonderheit des geisteswissenschaftlichen' Gegenstandes, nämlich der geschichtlichen W e l t ' , nicht vollziehbar schien . . . " 7 2 71 Aus „History and Theory", Vol. I, 1961, S. 229-242, hier S. 231. 72 J. Mittelstraß, Die historisch-hermeneutischen Wissenschaften (1), als Teil V I I I der Reihe „Wissenschaftstheorie als Wissenschaftskritik", in: Aspekte, Nürnberg, April 73, S. 24. Auch abgedruckt in: Wissenschaftstheorie als Wissenschaftskritik. Frankfurt/ M. 1974.

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

W i e eine „ L o g i k der Weltbilder" aussieht, die dem von Mittelstraß zitierten Postulat der „Empirisierung", d. h. der Einverleibung der Geisteswissenschaften durch die Naturwissenschaften, folgt, hat, um ein Beispiel zu nennen, G. Dux in seinem gleichnamigen B u c h 7 3 vorgeführt. Zur Veranschaulichung möchte ich die Grundgedanken kurz vorstellen. Nach Dux „(läßt sich) die sinnhafte Daseinsweise des Menschen, sein Leben in sozialkulturellen Formen, als Resultat der Evolution aus einer vollständig sinnfreien Natur erklären" (S. 294). Er möche „nichts Geringeres . . ., als zum erstenmal das, was in der abendländischen Tradition als Geistesgeschichte bezeichnet wird, auf streng empirischer Basis darlegen" (Klappentext). Es gibt, so Dux, einen logisch erklärbaren Anfang der kulturellen Existenz (S. 15, S. 25) und es gibt einen „anthropologisch-biologischen Organisationsplan" (S. 22), der die „Richtung" (S. 25) i. S. einer stringenten Entwicklungslogik angibt. Die daraus folgende Angebbarkeit des Endes (des Sinns) der Geschichte macht die Rede von der „Einheit des modernen Weltbildes" (S. 21) wieder möglich. Dux behauptet also, zeigen zu können, um es schlicht zu sagen, was die Welt i m Innersten zusammenhält. Die Kernfrage, wie aus Nichtsinn Sinn, aus Natur Kultur geschaffen wird, beantwortet Dux dann so: „ A m Anfang steht ein Organismus, der kraft seiner organischen Ausstattung die Chance hat, in einem: Handlungskompetenz und kognitive Schemata auszubilden" (S. 99). Der Mensch ist von seiner „biologischen Organisationsform darauf (festgelegt), geistig-kulturelle Lebensformen auszubilden" (S. 51). Denn die beim Menschen festzustellende „weitestgehende Instinktreduktion" (S. 52) zwingt ihn dazu, das „Prinzip der Selbstregulation oder Autonomie zu erhöhen . . . Das probate M i t t e l dazu ist Lernen" (S. 51). Folglich ist „die alles entscheidende Frage": „ W i e stellt der Mensch es aufgrund seines anthropologischen Organisationsplanes an", zu lernen, „Verhaltensformen zu entwickeln, die er von Natur aus nicht schon mitbekommen hat?" (S. 52.) Die Antwort hierauf verblüfft: Die Ausbildung der „kognitiven Schemata erfolgt, weil anders mit der vorfindlichen Wirklichkeit nicht umzugehen ist" (S. 96). „Sie sind ein Produkt der Verarbeitung von Erfahrungen, die jeder beim Zusammenstoß m i t der vorfindlichen Wirklichkeit macht" (S. 101). N u n wird man sicher zugeben müssen, daß ein instinktreduziertes Wesen wie der Mensch sicher schon lange nicht mehr existieren würde, wenn es nicht andere Möglichkeiten ausgebildet hätte, in der „vorfindlichen W e l t " zurechtzukommen. Es würde dann eben tatsächlich nicht mehr existieren, ebenso wie viele andere Spezies, die entstanden und untergegangen sind. Der drohende Untergang der Spezies kann folglich nicht als Schlüssel zu einem adäquaten Verständnis der Menschwerdung des Menschen herangezogen werden. W i e „findet man eine Wirklichkeit vor", wie „macht man Erfahrungen", wie ist eine „Verarbeitung" von Erfahrungen möglich ohne Benutzung eben der „kognitiven Schemata", die 73

G. Dux, Die Logik der Weltbilder, Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Frankfurt/M. 1982.

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es doch in diesem „Zusammenstoß" mit der „ W e l t " allerest auszubilden gilt? Es nimmt nicht Wunder, daß Dux späterhin zu dem von i h m als richtig anerkannten Satz, es gebe „keine theoriefreien Tatsachen" (S. 288), nur ausweichend Stellung nimmt. Dies sei zwar „nach einem Jahrhundert Positivismusstreit" durchaus als Ergebnis festzuhalten. Aber er „prätendiere nicht, die Lösung des vertrackten Verhältnisses von Tatsache und Satz und seine methodologische Nutzanwendung" zu offerieren" (S. 288). Gleichwohl bleibt es bei seiner Kernthese, daß „die Erklärungen für das Entstehen der geistig-kulturellen Lebensformen keinen Schritt über den Rand des Naturverständnisses hinauszugehen (brauchen)" (S. 294). Diese Kernthese aber löst Dux an keiner Stelle ein und er ist dankenswerterweise konsequent genug, dies auch offen einzugestehen. Zunächst schreibt er, „daß es schwerfällt, anzugeben, wie der Gesamtprozeß aus der kulturellen Nullage heraus hat anlaufen können" (S. 74). U n d etwas weiter dann unzweideutig: „ W i r können den Übergang aus der subhumanen Phase in die humane, soweit es der Prozeß der Ausbildung der geistig-kulturellen Lebensform betrifft, konkret nicht rekonstruieren" (S. 74). Eben dies aber müßte er leisten; es wäre der Nachweis, der erbracht werden müßte, um die Kernaussage des Buches zu begründen. Solange er nicht erbracht ist, hat Dux die angekündigte „Geistesgeschichte auf streng empirischer Basis" eben nicht geschrieben, solange ist nichts dargelegt, was über die banale Erkenntnis hinausging: W i r haben ein Gehirn, das uns hilft, i m Leben mehr oder wenig zurechtzukommen. So wundert es dann nicht mehr, daß D u x ' Erklärung für den Durchbruch der naturwissenschaftlichen, d. h. auf Gesetze ausgehenden Weltsicht ebf. unzureichend bleibt. Er schreibt: „Das Bemühen, die menschliche Arbeitskraft durch Naturkräfte zu ersetzen, führte zunächst dazu, Naturkräfte auf einfache Weise maschinell auszunutzen, um dann die Natur insgesamt nach dem Muster der Maschine zu begreifen" (S. 282f.). „Das Erkenntnisinteresse, die Natur in Konstanzsätzen (Gesetzen; Verf.) faßbar zu machen, war . . . konstitutionell mit dem Übergang aus der Naturgeschichte in die Kulturgeschichte . . . angelegt; . . . Wenn bessere Erkenntnis über die Natur gewonnen werde sollte, dann nur auf dem Weg, auf dem sie tatsächlich gewonnen wurde: Durch Eliminierung der subjektivischen zugunsten der funktional-relationalen (Wirkung-Ursache; Verf.) Bedeutung" (S. 284). Es gibt ein „anthropologisch verankertes Interesse, die Natur in Konstanzsätzen faßbar zu machen" (S. 284). „ D e r Mensch braucht Wissen um ihre regelhaften Ereignisabläufe; und er bekommt es. Diesen Prozeß setzt er fort. Das ist fast schon alles" (S. 285). A u c h hier bleibt letztlich unerfindlich, welche spezifischen, „geistesgeschichtlichen" Momente es denn gewesen sind, die „das anthropologische Interesse am besseren Wissen" haben auf das naturwissenschaftliche Interpretationsmuster kommen lassen. Die bloße Natur der Dinge erklärt gar nichts. Sie kann man nur beschreiben. I n Wirklichkeit ist die von Dux vorgeführte „Entwicklungslogik"

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

der Sinnstrukturen keine „ L o g i k " i m gewünschten Sinne (dem einer Erklärung). Hätten w i r die „ L o g i k " , die Dux zu haben behauptet, so wären w i r auch in der Lage, sie i n die Zukunft zu extrapolieren, ohne dabei auch nur „einen Schritt über den Rand des Naturverständnisses hinauszugehen", wie Dux selbst postuliert; w i r wären also in der Lage, Prognosen zu erstellen. Dies ist der letzte Prüfstein aller Theorien, die die Geschichte der Menschheit in das Korsett einer „ L o g i k " hineininterpretieren wollen. Wenn man die innere Entwicklungsstruktur kennt, müßte man sie über die Gegenwart verlängern können. Dies ist eigentlich ein wesentliches M o t i v dafür, überhaupt in der Geschichte nach ihr zu suchen. Es ist aber typisch für diese Theorien, daß Wendungen wie „dieses oder jenes historische Ereignis lag in der L o g i k der Entwicklung" u. ä. sich dann tatsächlich nur i n den Beschreibungen des Geschichtsablaufs bis heute finden. Wenn sie sich auch auf die Zukunft beziehen, können sie richtig oder falsch sein. Aber nicht „richtig" oder „falsch" i m Sinne von „ w a h r " oder „unwahr", sondern nur i m Sinne von „eintreffend" oder „nicht eintreffend". (Wie sagte noch G. B. Shaw: „ M i t Prognosen sollte man sparsam umgehen, vor allem mit solchen über die Zukunft".) Aber auch die der ersten A r t können nicht als Belege für das Auffinden dessen genommen werden, was die Welt i m Innersten zusammenhält. Es besteht eine Parallelität von Prognose und Ereignis. Aber die Prognose kann das zukünftige Ereignis niemals (naturwissenschaftlich) „ableiten". Genau das aber ist das Ansinnen, das man hat, wenn man die Menschheitsgeschichte auf eine „stringente" (S. 15) L o g i k bringen w i l l , gar noch auf eine, die durch naturale „Organisationspläne" vorgezeichnet ist. Bei Popper findet sich eine kritisch-rationalistische Variante des oben beschriebenen Vereinnahmungsanspruchs. Ich zitiere aus der Einleitung zum „Elend des Historizismus": „. . . mit Galilei und Newton errang die Physik ganz unerwartete Erfolge und übertraf alle anderen Wissenschaften . . . Die Sozialwissenschaften aber haben, wie es scheint, ihren Galilei immer noch nicht gefunden. Dieser Sachlage entsprechend sind die Wissenschaftler, die in den einzelnen Sozialwissenschaften arbeiten, stark m i t Methodenfragen beschäftigt und orientieren sich bei der Diskussion dieser Probleme oft an den Methoden der erfolgreicheren Wissenschaften, insbesondere der Physik. . . . bei diesen Versuchen (ist) überhaupt wenig mehr herausgekommen als Enttäuschung. Wenn man diese Mißerfolge diskutierte, erhob sich bald die Frage, ob die Methoden der Physik denn überhaupt auf die Sozialwissenschaft anwendbar seien. . . . ich bin der Meinung, daß die entscheidenden Fehler in den meisten methodologischen Diskussionen aus einigen sehr weit verbreiteten Mißverständnissen bezüglich der Methoden der Physik entstehen. Insbesondere entstehen sie meiner Ansicht nach aus einer Fehlinterpretation der logischen Form physikalischer Theorien, der auf diese anzuwendenden Prüfungsmethoden, sowie der logischen Funktion der Beobachtung und des Experiments i n der Physik." Mißverständnisse i m Bezug auf die Methoden der Physik waren also Schuld an der nach Popper irrigen Meinung, die naturwissenschaftliche Methodik sei

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auf die Sozial Wissenschaften nicht anwendbar. Diese Mißverständnisse zu beseitigen (nämlich durch Hinweis auf die erroristische Methode) sieht Popper als seine Aufgabe an, denn so werde der Weg frei, auf dem die Sozialwissenschaften Schutz vor ihrer Grundlagenkrise und Befriedigung ihres schlechten Gewissens finden können. Die gescheiterte Basisantwort der Geschichtsphilosophie einerseits und der Triumph der Naturwissenschaften andererseits führen so zu einer Erkenntnistheorie, die ihr Heil — i m Anschluß an empiristische Positionen — bei den Naturwissenschaften sucht. Hier zeigt sich eine enge Beziehung zwischen Genese und Inhalt dieser Philosophie. Der Bewunderung für den Erfolg der Naturwissenschaften korrespondiert die inhaltliche Argumentation zugunsten eines PrüfungsVerfahrens, das die jeweils faktisch schwächere Theorie auf der Strecke läßt und die jeweils faktisch erfolgreiche

ins Recht setzt. Das erroristische Wahrheitskonzept hat trotz seiner

lauten Betonung der Bescheidenheit, zu der es u. a. wegen seiner Beschränkung aufs immer nur Vorläufige auffordere 7 4 , eine Kehrseite, die ihr unabtrennbar zugehörig ist und die m i t der Formel: „Richtig ist, was Erfolg hat", durchaus nicht überspitzt charakterisiert ist. Der zur zentralen bildungspolitischen und wissenschaftstheoretischen Parole avancierte unbeschränkte Hypothesenpluralismus (Jeder darf grundsätzlich zunächst treiben, was er w i l l , solange er sich an gewisse logische Spielregeln hält), findet seine zugehörige Entsprechung in einem ebenso unbeschränkten Wissenschaftsdarwinismus, der auf das Recht des Stärkeren setzt: „ W e n n w i r wollen, daß die Methode der Auswahl durch Eliminierung funktioniert und daß nur die lebenstüchtigsten Theorien am Leben bleiben, dann müssen w i r dafür sorgen, daß ihr K a m p f ums Dasein hart i s t . " 7 5 Die in Poppers emphatischem Motto zum „Elend des Historizismus" zitierten „unzähligen Männer, Frauen und Kinder aller Länder, aller Abstammungen, aller Überzeugungen", sind jedoch nicht nur „Opfer . . . des Irrglaubens an unerbittliche Gesetze eines weltgeschichtlichen Ablaufs" gewesen, sondern ebenso auch Opfer des Irrglaubens an das Recht des Stärkeren. W i e berechtigt diese darwinistische Interpretation Poppers ist, haben auch K u h n und T o u l m i n gezeigt, die sich auf Popper stützen und einem darwinistischen Wissenschaftsverständnis das Wort reden. 7 6 74

Vgl. etwa die mannigfachen Beteuerungen und Appelle in Popper „Elend . . z. B. S. V i l i , IX, 35 oder in dem zitierten Aufsatz „Selbstbefreiung durch das Wissen", S. 113; ebenso auch in Poppers Rede vor dem 10. internationalen Philosophie-Kongress in Amsterdam 1948 mit dem Titel „Prediction and Prophecy in the Social Sciences", abgedruckt in P. Gardiner (Hrsg.), Theories of History, New York 1965, S. 267 ff., bes. S. 283 und S. 285. 75 s. Popper, Elend . . S. 105. 76 Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago / London 1962, S. 170 ff.; „. . . the conceptual transposition here recommended is very close to one that the West undertook just a century ago . . . in both cases the main obstacle to transposition is the same. When Darwin first published his theory of evolution by natural selection in 1859, what most bothered many professionals was neither the notion of species change

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft Nach Popper ist der Kritische Rationalismus eine aufklärerische Philosophie 7 7 ,

da sein Pluralismuspostulat der aufklärerischen Toleranzidee entspreche. Das ist jedoch unzutreffend, da diese zu Zeiten der Aufklärung vernünftigerweise nur auf die metaphysischen Sätze der Religionen bezogen war, wie J. Mittelstraß in seinem Aufsatz „Über T o l e r a n z " 7 8 dargelegt hat. Keinesfalls aber ist das aufklärerische Toleranzpostulat eine epistemologische laissez-faire-Maxime

erroristi-

schen Zuschnitts. Sie galt i m Gegenteil nur i m Bereich des nicht epistemologisch Abdeckbaren, i n einem Bereich also, in dem letzten Endes nicht begründet für oder gegen eine bestimmte Orientierung Stellung genommen werden kann. Mittelstraß formuliert dieses systematische Argument so: „ D i e Toleranzbewegung . . . i s t . . . durch die Einsicht bestimmt, daß sich . . . keine Gründe für die Unterdrükkung einzelner Religionsgemeinschaften angeben lassen." 7 9 Poppers Theorie läuft letztlich auf eine Absegnung des faktischen Geschehens, dessen was sich qua eigener Stärke faktisch durchgesetzt hat, hinaus. Die immer wieder auch contrafaktische Normativität praktischer

Vernunft bleibt ganz außer

Betracht oder kommt nur insofern ins Spiel, als sie i m Falle relativ kurzfristiger Realisierbarkeit dem errori stisehen Prüfungsverfahren zugänglich ist. Darin liegt das — von Habermas mit Recht kritisierte 8 0 — Element eines methodologischen nor the possible descent of man from apes. . . . The Origin of Species recognized no goal set by God or nature . . . The belief that natural selection resulting from mere competition between organisms for survival, could have produced man together with the higher animals and plants was the most difficult and disturbing aspect of Darwin's theory . . . The analogy that relates the evolution of organisms to the evolution of scientific ideas can easily be pushed too far. But with respect to the issues of this closing section it is very nearly perfect. The process described in Section X I I as the resolution of revolutions is the selection by conflict within the scientific community of the fittest way to practice future science. The net result of a sequence of such revolutionary selections . . . is the wonderfully adapted set of instruments we call modern scientific knowledge . . . And the entire process may have occured, as we now suppose biological evolution did, without benefit of a set goal, a permanent fixed scientific truth, of which each stage in the development of scientific knowledge is a better exemplar". Stephen Toulmin, Foresight and Understanding, London 1961, S. 110 f.: „ The common task which accordingly faces historians and philosophers of science has paralles elsewhere — in Darwinian biology. In the evolution of scientific ideas, as in the evolution of species, change results from the selective perpetuation of variants. . . . So the question ,What gives scientific ideas merit, and how do they score over their rivals?' can be stated briefly in the Darwinian formula: ,What gives them survival-value?'" 77 Vgl. Popper, Selbstbefreiung, S. 100 ff. 78 Unveröffentl. Manuskript, Konstanz 1971. 79 Mittelstraß, ebd., S. 11. 80 Habermas, Gegen einen positivistisch halbierten Rationalismus, in: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt / Neuwied 19722. Vgl. dort z. B. seine Argumentation auf S. 235 f.: „Ich bestreite nicht, daß die analytische Wissenschaftstheorie die Forschungspraxis gefördert und zur Klärung methodologischer Entscheidungen beigetragen hat. Daneben wirkt sich aber das positivistische Selbstverständnis restriktiv aus; es stellt die verbindliche Reflexion an den Grenzen empirisch-analytischer (und formaler) Wissenschaften still. Gegen diese verschleiert normative Funktion eines falschen Bewußtseins wende ich mich. Den positivistischen Verbotsnormen zufolge müßten

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Positivismus, den der Kritische Rationalismus demnach, in großer Eintracht, wenn auch in verschiedenem philosophiegeschichtlichen Kontext, mit Empirismus und Geschichtsphilosophie teilt. In gewisser Hinsicht ist der kritisch-rationalistische Positivismus eine Mischform aus empiristischem und geschichtsphilosophischem Positivismus. Er ist empiristisch, insofern er auf die Natur resp. die ihr zugeordneten Wissenschaften als positive Berufungsinstanz rekurriert, und er ist geschichtsphilosophisch beeinflußbar, insofern er auch die historisch sich entwickelnden Wandlungen einbeschließt. Denn was sich jeweils durchsetzt, ist Wandlungen unterworfen. Die Ergebnisse des historischen Prozesses sind nicht voraussagbar. Es können sich i m Laufe der Zeit neue Konstellationen ergeben, die andere Ereignisse zeitigen. Hierdurch kommt eine historische Dimension hinein, die dem auf die unveränderliche Natur des Menschen abstellenden klassischen Empirismus fremd war. (Nicht nur in dieser Hinsicht unterscheidet sich der Kritische Rationalismus v o m klassischen Empirismus: dieser ist empistemologisch gesehen induktiv, jener hypothetisch-deduktiv 8 1 ; dieser behauptet die Existenz eines asoluten historischen Trends, der auf die Gesetze der menschlichen Natur reduzierbar sei, jener streitet dies nachdrücklich ab 8 2 .) Andererseits bringt ihn diese Distanz zum Empirismus keineswegs der Geschichtsphilosophie näher, da er deren Endzieltheorie als nicht erroristisch prüfbar ablehnt und der Geschichte so ihren teleologischen Charakter ganze Problembereiche aus der Diskussion ausgeschlossen und irrationalen Einstellungen überlassen werden, obwohl sie einer kritischen Klärung, wie ich meine, sehr wohl fähig sind. Ja, wenn jene Probleme, die mit der Wahl von Standards und dem Einfluß von Argumenten auf Einstellungen zusammenhängen, kritischer Erörterung unzugänglich wären und bloßen Dezisionen überlassen bleiben müßten, dann wäre die Methodologie der ErfahrungsWissenschaften selber um nichts weniger irrational. Weil unsere Chancen, über strittige Probleme eine Einigung auf rationalem Wege zu erzielen, faktisch recht begrenzt sind, halte ich prinzipielle Vorbehalte, die uns an der Ausschöpfung dieser Chancen hindern, für gefährlich. Um mich der Dimension umfassender Rationalität zu vergewissern und den Schein der positivistischen Schranken zu durchschauen, schlage ich freilich einen altmodischen Weg ein. Ich vertraue auf die Kraft der Selbstreflexion: Wenn wir das, was in Forschungsprozessen geschieht, reflektieren, gelangen wir zu der Einsicht, daß wir uns immer schon in einem Horizont vernünftiger Diskussionen bewegen, der weiter gezogen ist, als es der Positivismus für erlaubt hält." 81 Vgl. Popper, Elend . . ., S. 103, Anm. 90: „. . . alle englischen Empiristen von Bacon an (hatten) von den Wissenschaften die Vorstellung, daß sie Beobachtungen sammeln, aus denen durch Induktion Verallgemeinerungen gewonnen werden." Er selbst hingegen meint: „Diese (wissenschaftlichen; Verf.) Methoden bestehen immer in der Aufstellung deduktiver Kausalerklärungen und ihrer Überprüfung (mit Hilfe von Prognosen). Man nennt dieses Verfahren manchmal die hypothetisch-deduktive Methode . . ." (ebd., S. 103). 82 Vgl. Popper, Elend . . ., S. 119 ff.: „Wie man sich erinnern wird, hielten Comte und M i l l den Fortschritt für einen unbedingten, absoluten Trend, der auf die Gesetze der menschlichen Natur reduzierbar ist." Zu Poppers Kritik daran vgl. etwa S. 120: „(Wir) können dort, wo wir das genaue Gegenteil des von M i l l beschriebenen Fortschritts beobachten, diese Beobachtungen mit dem gleichen Recht auf die „menschliche Natur" zurückführen.. . . Eine Methode, die alles erklärt, was überhaupt geschehen kann, erklärt jedoch gar nichts."

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

abspricht, von dem her auch Aussagen über sich zukünftig faktisch Durchsetzendes möglich wären. Weiter unten, nämlich bei der Erörterung der Hempelschen Erklärungstheorie, w i r d auf diesen Aspekt, der eng mit dem Gesetzesbegriff zusammenhängt, eingegangen werden. Wegen des Fehlens übergreifender Ziele kann es immer nur darum gehen, sich Stück für Stück fortzuwursteln (wie Popper sagt), soweit jeweils wie erroristische Prüfungen möglich sind. Was an darüber hinausgehenden Zielsetzungen ins Spiel kommt, hängt allein von den — unkontrollierbaren und daher unwissenschaftlichen — Dezisionen des Einzelnen oder der Gesellschaft ab. Es erübrigt sich eigentlich, darauf hinzuweisen, wie sehr dieser ateologische und damit tendenziell technologische A s p e k t 8 3 der Theorie zusammen m i t ihrer darwinistischen Komponente zu den ebenfalls technologischen und, qua „freier M a r k t " , auch darwinistischen Aspekten der ökonomisch-sozialen Lebenswelt des Westens paßt — w o m i t sie übrigens die gleiche soziale Stromlinienförmigkeit gewinnt, die auch die von ihr so heftig bekämpfte Geschichtsphilosophie auszeichnete. Versucht man, dieses von Popper auch „Stückwerk-Technologie" genannte Konzept etwa auf heutige makroökonomische Fragen (Beispiele: Kerntechnik, Gentechnik) oder gesellschaftspolitische Probleme größerer Tragweite (Beispiele: europäische Einigung, multikulturelle Gesellschaft) anzuwenden, so könnte man zu zwei verschiedenen Schlüssen kommen: man könnte (1) die Meinung vertreten, daß Poppers Theorie unanwendbar sei, da heute in vielen Bereichen die langfristigen und sich oft auch noch überschneidenden Konsequenzen ökonomisch-politischer Entscheidungen nicht mehr übersehbar sind, ein trial-and-errorVerfahren daher wegen der mangelnden Möglichkeit, Fehler zu ermitteln, bevor es zu spät ist, ausgeschlossen sei. M a n könnte aber auch i m Gegenteil sagen (2), daß sich makroökonomisch-politische Entscheidungen dieser A r t fast verbieten (oder mindestens einer sehr starken demokratischen Abstützung bedürfen), da mit den M i t t e l n menschlicher Vernunft — Popper'sch verstanden — keine Beurteilungskriterien mehr angebbar sind, oder genauer: daß sie sich in dem Maße verbieten, in dem solche Kriterien nicht mehr angebbar sind. Ich wäre mit dem Ergebnis der zweiten Argumentation einverstanden, meine aber, daß man zu diesem Ergebnis auch kommen kann, ohne auf das trial-anderror-Verfahren rekurrieren zu müssen. Daß man Handlungen, die schlimme Folgen haben können, besser unterlassen sollte, wenn man nicht weiß, ob diese Folgen tatsächlich eintreten werden, ist einsichtig, auch ohne auf Poppers trialand-error-Theorie zurückzugreifen. (Aus welchen Gründen ich diese für wissenschaftstheoretisch problematisch halte, werde ich weiter unten ausführen.) Was die Geschichtswissenschaft betrifft, so w i r d einsichtig, welche Attraktivität eine sich sowohl auf die (vermeintliche) gesicherte Methodik der Naturwissen-

83 Vgl. Popper, Elend . .

S. 52, 53, 60, 72, 124 u. a.

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schaften berufende, wie auch Raum für die Wandlungen der Geschichte offen lassende Philosophie auf sie ausüben mußte. Der Umstand, daß Popper bisher keine i m Detail ausgearbeitete, systematisch aufgebaute Theorie der Geschichtswissenschaft vorgelegt hat, tut dieser Anziehungskraft keinen Abbruch. Eher w i r d sie sogar wegen der nach allen geschichtswissenschaftlichen Erfahrungen verständlichen Skepsis gegenüber Systembildungen noch größer. Einigermaßen zusammenhängend dargestellte Ansätze zu einer Anwendung der kritisch-rationalistischen Grundlagenreflexionen finden sich vor allem in den Abschnitten 30 und 31 des „Elends des Historizismus". Diese seien i m folgenden diskutiert. Dabei unterscheide ich zwischen dem Aspekt des Zieles (der Teleologie) und dem der M i t t e l (der Methodologie). Die teleologische Frage ist: Warum beschäftigen w i r uns überhaupt mit Geschichte, was ist das Ziel dieser Beschäftigung, wie sieht das Interesse aus, das w i r an ihr nehmen? Popper kommt i m Zusammenhang des Auswahlproblems darauf zu sprechen: „ W i e die Naturwissenschaften muß auch die Geschichtswissenschaft selektiv sein, wenn sie nicht unter einem Wust von wertlosem und unzusammenhängendem Material ersticken w i l l . . . Der einzige Ausweg aus dieser Schwierigkeit ist meiner Auffassung nach die bewußte Einführung eines vorgefaßten selektiven Standpunktes in die historische Forschung, d. h., w i r schreiben die Geschichte, die uns interessiert. . . . in der Regel lassen sich solche historischen „Standpunkte" oder „Einstellungen" nicht prüfen . . . " 8 4 . Gemäß des technologischen Charakters des Kritischen Rationalismus bleiben also die Ziele, um die es letzten Endes geht, in der Regel außerhalb des Bereichs des Prüfbaren und damit außerhalb der Wissenschaft und überhaupt des Verläßlichen; denn die erroristische Prüfbarkeit bildet nicht nur die Hauptvoraussetzung wissenschaftlicher, sondern auch die alltäglicher Verläßlichkeit. 8 5 Über die Ziele kann man nicht zuverlässig reden. Sie werden so oder so gesetzt, je nach gerade eingenommenem Standpunkt, nach Einstellung oder Weltanschauung. W i e man auf etwas kommt, bleibt ganz und gar Privatsache 8 6 , allein interessant ist, ob es einer erroristischen Prüfung zugänglich ist und da das für die (zielbestimmenden) Einstellungen nicht zutrifft, bleibt hier der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet. Was aber nun tut eine solche, ohne systematisch ausgearbeitete Z i e l Vorstellungen operierende Wissenschaft, welche Arbeiten führt sie aus? Wenn sie schon von der Teleologie her unter keinerlei Verbindlichkeit und Verantwortung gestellt wird, hat sie dann wenigstens methodologische Postulate zu erfüllen? Unter 84

Popper, Elend . . ., S. 117 ff.; Hervorhebungen von mir. Vgl. Popper, Elend . . ., S. 69: „Sowohl vorwissenschaftliche als auch wissenschaftliche Experimente bedienen sich im Grunde der gleichen Methode: sie gehen mit Hilfe von Versuch und Irrtum vor." S6 Vgl. Popper, Elend . . ., S. 106: „Die Frage ,Wie haben Sie Ihre Theorie gefunden?' berührt nämlich eine völlig private Angelegenheit, im Gegensatz zu der Frage ,Wie haben Sie Ihre Theorie geprüft?', die allen wissenschaftlich relevant ist." 85

4 Hesse

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präfabrizierten

Zielen zu arbeiten ist das Charakteristikum der Technologie; und

wie w i r aus der technologisch ausgerichteten Arbeitswelt wissen und in der Popperschen Wissenschaftslogik theoretisch bestätigt bekommen, liegt die Stärke der Technologie eben in der Bereitstellung methodologischer Postulate. Methodologisch läßt uns der Kritische Rationalismus auch in geschichtswissenschaftlicher Hinsicht nicht i m Stich. Ich wende mich in diesem Zusammenhang einer Stelle i m Abschnitt 30 des „Elend des Historizismus" zu, die ich für zentral halte und von der lt. Danto (Analytical Philosophy of History, S. 210) auch Hempel in seinem bereits zitierten Aufsatz über die Funktion allgemeiner Gesetze in der Geschichte (der von Dray sog. covering l a w s ) 8 7 ausgegangen ist. Die Arbeit der Geschichtswissenschaft besteht danach zunächst einmal „hauptsächlich in der Entdeckung und Prüfung singulärer Sätze." 8 8 Das „hauptsächlich" soll an dieser Stelle heißen, daß sie dieser Tätigkeit ihr Hauptaugenmerk zuwendet, nebenbei aber auch — meist unbewußt — Gebrauch von allgemeinen Gesetzen macht. Eine solche doppelte Tätigkeit erstreckt sich auf zweierlei Bereiche: aufs Erklären und aufs prognostische Prüfen singulärer Ereignisse resp. singulärer Hypothesen: „ W e n n beispielsweise ein bestimmtes singuläres ,Explikandum' — ein singuläres Ereignis — gegeben ist, suchen diese Wissenschaften (gemeint: die historischen Wissenschaften; Verf.) vielleicht singulare Randbedingungen, die (in Verbindung mit allen möglichen allgemeinen Gesetzen von geringem Interesse) das betreffende Explikandum erklären. Oder es w i r d eine gegebene singuläre Hypothese geprüft,

indem sie in Verbindung mit anderen singulären

Sätzen als Randbedingung verwendet und aus diesen Randbedingungen (wieder mit Hilfe aller möglichen allgemeinen Gesetze von geringem Interesse) irgendeine neue,Prognose' deduziert wird, die vielleicht ein längst vergangenes Ereignis beschreibt und mit empirischen Daten verglichen werden kann — etwa mit Dokumenten, Inschriften, usw." Erklären und Prognostizieren sind demzufolge nur unter Rückgriff auf allgemeine Gesetze möglich. W i e Popper sagt 8 9 : „ . . . ein singuläres Ereignis (ist) die Ursache eines anderen singulären Ereignisses — seiner Wirkung — nur i m Hinblick auf allgemeine Gesetze." 9 0 87 Vgl. Dray, Laws and Explanation in History, Oxford 1966, S. 1: „. . . what the theory maintains is that explanation is achieved and only achieved, by subsuming what is to be explained under a general law.. . . because it makes use of the notion of bringing a case under a law, i. e., ,covering' it with a law, I shall often speak of it hereafter as ,the covering law model'." 88 s. Popper, Elend . . ., S. 112. 89 s. Popper, Elend . . ., S. 113. 90 Auch hierin unterscheiden sich Poppers Meinung nach die historischen Wissenschaften nicht von den Naturwissenschaften: „Übrigens stehen die historischen Wissenschaften mit ihrer Haltung zu den allgemeinen Gesetzen nicht allein. Dort, wo wir es mit der praktischen Anwendung der Wissenschaft (gemeint auch: der Naturwissenschaften; Verf.) auf ein singuläres, spezifisches Problem zu tun haben, finden wir stets eine ähnliche Situation." Popper, Elend . . . , S. 114. Zur Exemplifizierung dieser Behauptung wird anschließend ein Beispiel aus der Chemie angeführt.

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Nachdem w i r zunächst die Basisantwort des Kritischen Rationalismus untersucht haben und dann in logischer Folge unseren Weg über die Einheitsthese mit ihrer naturwissenschaftlichen Paradigmatik, den damit verbundenen Pluralismus, den hieraus sich ergebenden Darwinismus und den schließlich damit wieder zusammenhängenden historischen Aspekt bis zur Geschichtswissenschaft genommen haben, wollen w i r nun des genaueren die i m engeren Bereich geschichtswissenschaftlicher Grundlagenreflexion gemachten Vorschläge untersuchen und kritisieren. Hierzu sollen als Textgrundlage i m wesentlichen die erwähnten Stellen aus dem „Elend des Historizismus" und aus Hempels Aufsatz „The Function of General Laws in History" als „locus classicus" 9 1 der einschlägigen angelsächsischen Diskussion dienen. Was die Popperschen Überlegungen zu „erklären" und „prognostisch prüfen" angeht, so sollen zunächst einige kritische Anmerkungen dazu gemacht werden, die auf die Schwierigkeiten hinweisen, die selbst innerhalb seines Systems damit entstehen. Anhand der bei Hempel weiter ausformulierten Gesetzestheorie soll dann die Grundlage dieses Systems vorgestellt und kritisiert werden. I m Falle von „erklären" und „prognostisch prüfen" ergeben sich die Einwände aus dem Vergangenenheitsstatus, i m Falle der Gesetzestheorie aus der Tatsache, daß es menschliche Handlungen sind, auf die die Gesetze angewendet werden sollen. Zunächst zum ersten Fall. Gleichzeitig m i t Popper können w i r hier auch Hempel kritisieren, der mit Popper v o l l übereinstimmt, wenn er schreibt: „ . . . the logical structure of a scientific prediction is the same as that o f a scientific explanation . . . In particular prediction no less then exlanation throughout empirical science involves reference to universal empirical hypotheses (= universal laws; Verf.). The customary distinction between exlanation and prediction rests mainly on a pragmatical difference between the two: While in the case of an explanation, the final event is known to have happened, and its determining conditions have to be sought, the situation is reversed in the case of a prediction: here, the initial conditions are given, and their ,effect 4 — which in the typical case, has not yet taken place — is to be determined." 9 2 Der Einwand ist nun der folgende: Das, was es in der Geschichtswissenschaft zu erklären resp. prognostisch zu prüfen gilt, ist j a bereits geschehen: w i r betrachten etwas, auf das w i r selbst keinen Einfluß mehr haben. Es ist uns beispielsweise unmöglich, hier allererst eine Versuchssituation herzustellen, wie das in den Naturwissenschaften und vielleicht auch in den Sozialwissenschaften möglich ist. I m Verein mit der So Maurice Mandelbaum in „Historical Explanation, The Problem of ,Covering Laws" 4 , in: History and Theory, Vol. I, 1961, S. 232. In seiner Rezension zu P. Gardiners „Theories of History" zitiert Η. Meyerhoff eine Bemerkung Gardiners über Hempels Aufsatz „The Function of General Laws in History": „His essay has attained the status of a kind of classic in the field." History and Theory, Vol. I, 1961, S. 91. Die Bemerkung Gardiners findet sich in Gardiner, P. (Ed.), Theories of History, New York, 1965, S. 269 f. 92 Hempel, The function . . ., S. 347 f. *

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These, daß die Prognose die einzige Möglichkeit der Prüfung einmal aufgestellter singulärer oder allgemeiner Sätze ist, ergibt sich hieraus fürs Erklären, so wie es bei Popper verstanden ist, eine zunächst unübersteigbare Schwierigkeit. Nehmen w i r an, ein bestimmtes historisches Ereignis E sei als „Explikandum" gegeben. W i l l der Historiker für E eine Erklärung finden, so kann er sich prinzipiell mit zwei verschiedenen Situationen konfrontiert sehen. Einmal ist es möglich, daß in den Quellen, aus denen er seine Kenntnisse über das Gegebensein von E entnommen hat, gleichzeitig auch eine Erklärung von E enthalten ist. Falls Ε ζ. Β . der Beginn eines Krieges zwischen zwei Staaten ist, so würde die Erklärung etwa lauten können: Der Krieg wurde eröffnet, um damit einem befürchteten A n g r i f f zuvorzukommen; oder: weil man sich eine Ausdehnung des Staatsgebietes erhoffte. A u c h Zielsetzungen können als Erklärungen angeführt werden. Aber auch für solche teleologisch bestimmten Erklärungen historischer Ereignisse gilt das, worauf es hier ankommt: in jedem Fall bezieht sich eine Erklärung auf etwas dem „ E x p l i k a n d u m " chronologisch Vorgängiges. I m Fall der teleologischen Erklärung wäre dies die explizit oder implizit erkennbare Zielsetzung. Die andere Situation, mit der der Historiker zu tun haben kann, ist, daß eine Erklärung von E in den Quellen, die über E berichten, nicht gegeben ist. I n diesem Fall ist er gehalten, unter den E vorgängigen Ereignissen (Verträge, Reden, diplomatische Korrespondenzen usw.) solche ausfindig zu machen, aus denen sich eine historisch zutreffende Erklärung ableiten läßt. Dies ist sicherlich die schwierigere der Alternativen, da hier mit Unterstellungen gearbeitet werden muß. Unterstellungen sind aber auch i m ersten Fall, nämlich bei der Auswahl zwischen wahrscheinlichen und weniger wahrscheinlichen resp. ganz unwahrscheinlichen unter den in den Quellen gegebenen Erklärungen nötig. Bei dieser Möglichkeit kann es geschehen, daß sich Erklärungen bzw. Erklärungsunterstellungen nur aus den — späteren — Situationen ableiten lassen (die man damals erst noch anstrebte). Aber selbst dann läuft die Erklärung immer darauf hinaus, anzunehmen, daß man bereits vor dem Beginn von E eine derartige Motivation hatte; sonst könnte das spätere Ereignis nicht zur Ableitung einer Erklärung verwendet werden und wäre kontingenter Natur. Ich weise deshalb auf die Notwendigkeit des Zurückgehens in die Vorgeschichte hin, weil nicht einsichtig ist, wie hier die Poppersche Prüfungsmethode der Prognose greifen soll. Es erscheint ganz unmöglich, auf prognostischem Wege eine Kontrolle der Erklärungen herbeizuführen. W o h l ist das möglich, um an ein Beispiel von Popper anzuschließen 93 , wenn w i r eine Hypothese haben, die eine Aussage über ein zukünftig erwartetes Ereignis macht, wie etwa: Dieser Faden w i r d reißen, wenn er mehr als ein K i l o g r a m m zu tragen hat. Dann können w i r sagen, daß der Hinweis auf das ein Kilogramm überschreitende Gewicht wegen seines Vorkommens in einer voraufgegangenen Prognose (einstweilen) 93 Vgl. Popper, Elend . .., S. 96.

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als verläßliche Erklärung für das nachher tatsächlich eingetretene Ereignis des Fadenreißens angesehen werden kann. Zurückliegende Ereignisse hingegen sind, eben weil es zurückliegende Ereignisse sind, nicht (mehr) voraussagbar. U n d da sie nicht voraussagbar sind, erscheinen historische Erklärungen i m Popperschen Sinn als wissenschaftlich unmöglich. Natürlich sind hier nur — um das präzisierend hinzuzufügen — historische Erklärungen i m engeren Sinn gemeint; historische Erklärungen soll das heißen, die in der von Menschen gemachten Geschichte ihren Platz haben. Nicht gemeint sind Erklärungen vergangener Naturereignisse. Vergangene Naturereignisse stehen selbstverständlich prinzipiell dem Zugriff des prognostischen Erklärungsverfahrens offen, und zwar deshalb, weil sie, sozusagen per definitionem, jederzeit in gegenwärtigen Versuchssituationen wiederholt werden können und sich dann, aber auch erst dann, anhand von wirklichen, in eine offene Zukunft gerichteten Prognosen i m Popperschen Sinn „erklären" lassen. W i e aber wollte man eine Situation wie die wiederholen, i n der Bismarck die Emser Depesche umformulierte und welchen Stellenwert sollten in einer solchen wiederholten Experimentalsituation dann wohl Prognosen haben? „ W e n n w i r den relativen Erfolg der Soziologie dem Erfolg der Physik gegenüberstellen, dann nehmen w i r an, daß der Erfolg der Soziologie grundsätzlich auch i n der Bewährung von Prognosen bestehen würde. Daraus folgt, daß bestimmte Methoden — Vorhersage mit Hilfen von Gesetzen und Überprüfungen der Gesetze durch Beobachtung — der Physik und der Soziologie gemeinsam sein müssen." 9 4 Ob dieser Poppersche Satz für die Soziologie zutreffend ist, soll dahingestellt bleiben. Wendet man ihn auf die historischen Wissenschaften an — und Popper macht j a keinen Unterschied zwischen historischen Wissenschaften und Sozialwissenschaften, der das verböte — , kann seine Geltung schon aus dem eben dargelegten Grunde bestritten werden. W i r sagten oben, daß diese Schwierigkeit als zunächst unübersteigbar erscheine, d. h., daß bei einiger Anstrengung des Begriffs die Poppersche Stellung an diesem Punkt systemimmanent weiter gehalten werden könne. Die Stützungsargumentation, die dazu jetzt vorgebracht werden soll, w i r d m. W . von Popper selbst nicht angestrengt, würde aber seinen Prämissen entsprechen, d. h. innerhalb seines Systems bleiben. Es ließe sich nämlich die Einführung eines typologischen Schemas denken, das die fiktive temporale Rücktransplantation der Prognose gestattet. Hierzu wäre es nötig, die menschlichen Handlungsweisen (aus deren Abfolge sich ja, was immer man auch sonst noch hinzunehmen und hinzudenken w i l l , i m wesentlichen die Menschengeschichte ergibt) bestimmten Typen zuzuordnen. Solche typologisierten Verlaufsmuster sollten eine mehr oder minder umfassende Beschreibung menschlichen Verhaltens resp. Handelns ermöglichen. Sie könnten zustandekom94 Vgl. Popper, Elend . . . , S. 29.

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

men durch immer wieder herzustellende Versuchssituationen, für die Prognosen erstellt werden, die schließlich am Ergebnis des Versuchs kontrolliert werden — also durch ein Verfahren, das den Popperschen Vorstellungen v o l l entspräche. Wenn nun in einem Versuchstypus der A r t Τ χ auf eine Ausgangssituation S χ immer eine bestimmte (zu erklärende) Handlungsweise Ε χ folgt, so kann man sagen, daß Si die Ursache von Εχ sei und Εχ entsprechend die W i r k u n g oder Folge von Sx. Finden w i r nun in der Geschichte eine Handlungsweise der A r t Εχ wieder, die w i r erklären möchten, so können w i r auf unsere Versuchstypen rekurrieren und dort ggf. den T y p Τ χ ausfindig machen, in dem es ebenfalls zu Εχ gekommen war. W i r sehen dort, daß Sx immer die Ursache von Ε χ gewesen war und transponieren diesen Ursache-Wirkung-Zusammenhang nun unter Zugrundelegung eines allgemeinen Gesetzes in die Geschichte zurück, womit w i r eine Erklärung für das historische Ε χ gefunden hätten. Es versteht sich, daß solche Versuchssituationen auch ad hoc, d. h. zum Zweck einer ganz bestimmten Erklärung, hergestellt werden können. W i r vernachlässigen bei diesem Vorschlag verschiedene Schwächen — wie ζ. B. die geringe Praktikabilität, die Schwierigkeit zu ermitteln, wieso Ε χ immer die Folge von Sx sein soll und nicht auch anderer Situationen S 2 , S 3 . . . oder beim ad hoc-Versuch die geringe Möglichkeit, eine Auswahl aus der unendlichen Anzahl der in Frage kommenden Anfangssituationen zu treffen. Diese Schwächen seien auch auf die Gefahr hin vernachlässigt, in ihnen gegebenenfalls Hinweise zu Argumentationen zu finden, durch die sich die prinzipielle Unmöglichkeit oder Widersprüchlichkeit des Vorschlags aufdecken ließe. Dennoch wird sich zeigen lassen, daß der Vorschlag (aus einem anderen Grunde) nicht haltbar ist, und zwar wegen des Gesetzesbegriffs, ohne den er nicht auskommen kann. Bevor ich dies zu zeigen versuche, lohnt es sich, noch zu einem anderen Punkt Stellung zu nehmen. Es ist offensichtlich, daß auch die von Popper vorgeschlagene „reguläre Prognose", wie ich es einmal nennen möchte, d. h. die Prognose in die Zukunft hinein, i m Falle der Geschichte nicht w i r k l i c h zureichend gewährleistet ist, und zwar wegen eben des Vergangenheitsstatus: das, was sie voraussagen soll, ist j a bereits geschehen. So braucht sie denn nur auf die chronologisch nachfolgenden Ereignisse zu verweisen. Sie setzt sich nicht dem Risiko aus, das Prognosen haben, die von der Gegenwart aus in eine offene und nicht bereits festgelegte Zukunft gerichtet sind. Die „historische Prognose", wie w i r sie nennen wollen, hat keinen w i r k l i c h freien Hypothesencharakter. Letzten Endes w i r d ein so geartetes Prognostizieren darauf hinauslaufen, daß man unter den gegebenen Fakten solche aussucht, die als „voraussagbar" in Frage kommen. Wenn Popper in seiner Besprechung der von uns so genannten „historischen Prognose" das Wort „Prognose" in Anführungsstriche setzt 9 5 , so läßt sich dem, wie w i r sehen, durchaus 95 Popper, Elend . . ., S. 112: „Oder es wird eine gegebene singuläre Hypothese geprüft, indem sie in Verbindung mit anderen singulären Sätzen als Randbedingung

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ein guter Sinn beilegen; eben der nämlich, daß es sich hier nicht u m eine Prognose i m sonst von ihm verwendeten Sinn des Wortes handelt. Hinsichtlich der typologisierenden Methode lohnt sich ein Hinweis auf Berührungspunkte zwischen kritisch-rationalistisch orientiertem Geschichtsverständnis einerseits und pragmatisch orientiertem andererseits. Bereits bei der Erörterung der pragmatisch begriffenen Geschichte zeigte sich j a der typologisierende Zug des klassischen Pragmatismus. Es gibt für ihn ein gewisses Repertoire an kanonisierten Exempeltypen, die für alle Zeiten Gültigkeit behalten. Der Mächtige, der Arme, der Kranke, der Zornige, die Ungetreue, sie alle sind i m Repertoire enthalten und alle unter eine abschreckende oder verlockende Beispielhaftigkeit gestellt. Eben dieses Interesse am typologisch begriffenen Einzelnen hatte den Pragmatismus ausgezeichnet und eben dies w i r d durch die kritisch-rationalistische Tendenz zur typenhaften Wiederholung gleichartiger Situationen zu Erklärungszwecken nahegelegt. Popper ergreift denn auch sehr deutlich Partei gegen das genetische Geschichtsverständnis und für die „altmodische" 9 6 Geschichtsauffassung. Weiter ist nach Popper Jede kausale Erklärung eines singulären Ereignisses als historisch" zu bezeichnen, „insofern, als die ,Ursache' stets durch singuläre Randbedingungen beschrieben w i r d . " 9 7 Hieraus ergibt sich wiederum eine Parallele zum Pragmatismus. Popper fährt nämlich fort: „ U n d dies stimmt vollkommen mit der populären Vorstellung überein, nach der etwas kausal erklären heißt: erklären, wie und warum etwas geschah, also seine ,Geschichte 4 erzählen." A u c h der empiristische Pragmatismus kannte j a den Unterschied zwischen „erklären" und „verstehen" noch nicht und war ebenso wie der Kritische Rationalismus an „den Geschichten" interessiert und nicht an „der Geschichte". Die Überwindung „der Geschichten" zugunsten „der Geschichte" ist die Leistung der Geschichtsphilosophie, mit der sowohl Pragmatismus wie auch Kritischer Rationalismus grundsätzliche Differenzen haben. Z u dieser begriffsgeschichtlichen Wende hat sich in letzter Zeit Koselleck in „Historia Magistra Vitae" geäußert. 98 Wenn nun der geschichtsphilosophische Kollektivsingular wieder zugunsten des Plurals aufgelöst wird, so liegt darin zwar eine Annäherung des Kritischen Rationalismus verwendet und aus diesen Randbedingungen (wieder mit Hilfe aller möglichen allgemeinen Gesetze von geringerem Interesse) irgendeine neue ,Prognose' deduziert wird, die vielleicht ein längst vergangenes Ereignis beschreibt und mit empirischen Daten verglichen werden kann — etwa mit Dokumenten, Inschriften, usw." 96 s. Popper, Elend . . ., S. 112: „Diese Leute (gemeint sind die Historizisten; Verf.) verachten die altmodische Geschichte und wollen sie in eine theoretische Wissenschaft verwandeln." Und: „Ich will die von den Historizisten so oft als altmodisch angefeindete Auffassung verteidigen . . .", ebd. 97 Dazu und zum Folgenden s. Popper, Elend . . ., S. 113. 98 Vgl. hierzu auch Keuck, K., Historia, Geschichte des Wortes und seiner Bedeutung in der Antike und in den romanischen Sprachen, Emsdetten 1934, Diss. Münster 1931. Ebenso Johannes Hennig, Die Geschichte des Wortes „Geschichte", in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 16, 1938, S. 511 ff.

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an den klassischen Empirismus, aber doch nicht eine gänzliche Rückkehr zu dessen Vorstellungen. (Diese Bewegung würde i m übrigen von der Schulgeschichtswissenschaft wegen ihres tief sitzenden historistischen Erbteils kaum mitgemacht werden.) Der Unterschied zum klassischen Empirismus besteht darin, daß der Kritische Rationalismus „Geschichten" nicht als pragmatische Beispiele für alle Zeiten versteht, sondern als Vehikel historischen Erklärens. Wegen des darwinistischen Aspekts dieser Philosophie sind ihr pragmatische Verbindungen von der Vergangenheit bis zur Gegenwart verbaut: diese müßten immer auf die zeitlose Gültigkeit von Handlungsidealen rekurrieren können. Handlungsideale haben aber für den Kritischen Rationalismus keine intersubjektiv nachkontrollierbare Gültigkeit, sie sind subjektiver Beliebigkeit überlassen. U n d dort, wo sich (vorläufige) intersubjektive Gültigkeit finden läßt, ist sie einem darwinistischen historischen Wandel unterworfen, der sich mit der stetigen Gültigkeit der pragmatischen Exempel nicht vereinbaren läßt. Daß Popper für seine Prognosen keinerlei Praxisbezug thematisiert, hat Indizcharakter. Ausgehend von der Popperschen Theorie wäre es doch möglich, die Geschichte als ein Reservoir von trial-and-error-Fällen aufzufassen und daraus Nutzen zu ziehen, indem man die in diesen Fällen auf kontrollierte Weise gewonnene und so abgesicherte Erfahrung mittels der zitierten allgemeinen Gesetze auf die Gegenwart anwendet, um hier Prognosen zu stellen. Diese Möglichkeit w i r d jedoch m. W . nirgends erwähnt; übrigens auch nicht in Hempels Aufsatz „The Function of General Laws in History". Das muß wie das Ausweichen vor einer Probe aufs Exempel erscheinen. Denn gerade in der Vorhersage zukünftiger Handlungen — und i m Grunde nur hier — müßte sich diese Theorie, die soviel von der Gültigkeit allgemeiner Gesetz und der (einzigen) Möglichkeit der Kontrolle durch Prognose redet, selbst unter Beweis stellen. W i e sieht der der Erklärens- und Prognosetheorie zugrundeliegende kritischrationalistische Gesetzesbegriff aus? Die klassische Stelle für eine auf die Geschichte angewandte kritisch-rationalistische Gesetzestheorie ist, wie w i r sahen, C. G. Hempels Aufsatz „The Function of General Laws in History". Dort heißt es: „By a general law, we shall here understand a statement of universal conditional form which is capable of being confirmed or disconfirmed by suitable empirical findings. The term ,law' suggests the idea that the statement in question is actually well confirmed by the relevant evidence available; as this qualification is, in many cases, irrelevant for our purpose, we shall frequently use the term ,hypothesis of universal form' or briefly »universal hypothesis' instead of »general law', and state the condition of satisfactory confirmation separately, if necessary. In the context of this paper, a universal hypothesis may be assumed to assert a regularity of the following type: In every case where an event of a specified kind C occurs at a certain place and time, an event of a specified kind E will occur at a place and time which is related in a specified manner to the place and time of the occurence of the first event. (The symbols ,C' and ,E' have been chosen to suggest the terms ,cause' and ,effect', which are often, though by no means always, applied to events related by a law of the above kind.)

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The main function of general laws in the natural sciences is to connect events in patterns which are usually referred to as explanation and prediction. The explanation of the occurence of an event of some specified kind E at a certain place and time consists, as it is usually expressed, in indicating the causes or determining factors of E. Now the assertion that a set of events — say, of the kinds Q , C 2 , . . C n — have caused the event to be explained, amounts to the statement that, according to certain general laws, a set of events of the kind mentioned is regularly accompanied by an event of kind E. Thus, the scientific explanation of the event in question consists of (1) a set of statements asserting the occurence of certain events Q , . . . C n at certain times und places, (2) a set of universal hypotheses, such that a) the statements of both groups are reasonable well confirmed by empirical evidence, b) from the two groups of statements the sentence asserting the occurence of event E can be logically deduced. In a physical explanation, group (1) would describe the initial and boundary conditions for the occurence of the final event; generally, we shall say that group (1) states the determining conditions for the event to be explained, while group (2) contains the general laws on which the explanation is based; they imply the statement that whenever events of the kind described in the first group occur, an event of the kind to be explained will take place." 99 Es kann nicht unsere Aufgabe sein, zu untersuchen, ob und inwieweit dieser Gesetzesbegriff adäquat auf naturwissenschaftliches Erklären und Vorhersagen angewendet werden kann. Seine Gültigkeit für die Geisteswissenschaften und insbesondere für die historischen Wissenschaften sei jedoch bestritten. Der Einwand gegen die Gesetzestheorie hat, wie oben bereits angedeutet, m i t dem Faktum zu tun, daß es i m Fall der geschichtswissenschaftlichen Erklärungen resp. Prognosen um menschliche Handlungen und deren Zusammenwirken geht. Menschliche Handlungen zeichnen sich nämlich dadurch aus, daß sie unter dem Vorzeichen potentieller Alternativität geschehen. Für Ereignisse i m sogenannten Naturbereich gilt das keineswegs. Dort kann man nicht begründeterweise von potentieller Alternativität sprechen (und eben dies ist das entscheidende Merkmal für ihre Zuordnung in den Naturbereich). Der Begriff „potentielle Alternativität" sei etwas eingehender dargestellt: I m Interesse gelingender Lebenspraxis, genauer: gelingender Bedürfnisbefriedigung, sind w i r darauf angewiesen, uns auf zukünftige Geschehnisse bzw. auf die dadurch zustandegekommenen Situationen einstellen zu können. Z u den Bedingungen der Möglichkeit des angestrebten Sicheinstellens gehört also die Vorhersage solcher zukünftiger Geschehnisse. Diese versetzt uns in die Lage, für den Zeitpunkt des Eintretens der erwarteten Ereignisse bestimmte Vorbeugeoder Nutzanwendungsmaßnahmen zu ergreifen. Z. B. können w i r (vorbeugend) einen D a m m gegen eine erwartete Springflut bauen oder (nutzanwendend) Riesel99 Hempel, The function . . ., S. 345 f.

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felder für erwartete Flußüberschwemmungen konstruieren. (Dieser elementare Praxisbezug an der Basis auch der Naturwissenschaften bleibt übrigens bei Hempel unerwähnt.) Unter den Geschehnissen, mit denen wir zu tun haben, gibt es zwei unterschiedliche Gruppen. Einmal die, von denen w i r feststellen, daß sie immer dann eintreten, wenn bestimmte Bedingungen gegeben sind. Ζ. B. fangen trockene Holzspäne immer dann an zu brennen, wenn w i r sie mit einer Flamme ausreichend lange in Berührung gebracht haben; immer dann, wenn w i r dazu noch durch Blasen oder Fächern Luft zuführen, beschleunigen w i r den Prozeß. Es sind das Veränderungen, von denen w i r nicht sagen können, daß und warum sie einmal bei gleichen gegebenen Bedingungen ausbleiben könnten. W i r können uns in diesem Rahmen auf ihre stete Wiederkehr verlassen und uns darauf einrichten. Bei der anderen A r t von Geschehnissen gibt es sehr wohl die Möglichkeit, zu ermitteln, daß und warum sie einmal bei gleichartig sich wiederholenden Bedingungen nicht eintreten könnten. Es sind das diejenigen Veränderungen, die von „Handelnden" vorgenommen werden, und zwar von Handelnden, mit denen w i r in Kommunikation (meist sprachlicher Art) treten können und von denen w i r auf Grund solcher Kommunikation sagen können, daß w i r mit ihnen insofern eine formal gleiche Voraussetzung teilen, als auf sie ebenso wie auf uns zutrifft, daß sie eine Entscheidung darüber fällen können, ob sie diese Veränderung vornehmen wollen oder jene und ob sie das so oder so machen wollen. Sie haben die Möglichkeit, zwischen mindestens zwei Alternativen zu wählen. In diesem Sinn haben sie Freiheit. Das Wort „Mensch" ist in den obigen Formulierungen deshalb vermieden, weil systematisch gesehen das Gesagte natürlich allgemein für alle Geschehnisse der genannten A r t gilt. Faktisch ist es allerdings so, daß es in der Regel Menschen sind, auf deren Handlungen diese Bedingungen zutreffen. Natürlich können etwa auch Tierhandlungen hierunter fallen. W i r sollten deshalb von „potentieller Alternativität" sprechen, weil es j a auch den häufig vorkommenden Fall gibt, daß Menschen sich der Alternativen, die sie haben, gar nicht bewußt sind (ζ. B. manchmal bei gewohnheitsmäßigen Handlungen), oder daß sie über Alternativen weiter nicht reflektieren, weil von vornherein feststeht, daß sie nur sehr unangenehmer Natur sein können. Trotzdem gilt selbstverständlich auch hier, daß, wenn man sich nur daran gäbe, Alternativen aufgezeigt werden könnten. Eine A r t pragmatisch-politischer Begründung für die Notwendigkeit, die alternativische Grundstruktur menschlichen Handelns anzuerkennen, versucht der bekannte amerikanische Philosoph D. C. Dennett in seinem Buch „Ellenbogenfreiheit. Die erstrebenswerten Formen des freien Willens" (Frankfurt / M a i n 1986). Ich halte jede Begründung von Freiheit für eine petitio principii. Da Dennetts Buch, mindestens in der angelsächsischen Welt, große Resonanz gefun-

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den hat, möchte ich näher darauf eingehen. Warum es keinen Sinn macht, Freiheit begründen zu wollen, läßt sich an N. Pothasts Buch „ D i e Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise. Z u einigen Lehrstücken aus der neueren Geschichte von Philosophie und Recht" (Frankfurt / M a i n 1980) zeigen. Das möchte ich in einem zweiten Schritt tun und dann zum Kritischen Rationalismus und dessen Gesetzesbegriff zurückkehren. Zunächst zu Dennett. I n den sieben Kapiteln seines Buches behandelt er, grob gesagt, folgende Fragen: 1. W o r i n besteht das Problem der Willensfreiheit? 2. Welchen „biologischen Status" hat der Mensch und warum haben w i r Angst davor, keinen freien W i l l e n zu haben? 3. Welche Funktion haben hier Kontrolle und Selbstkontrolle bzw. deren Verlust; was kann überhaupt und wenn ja, wie kontrolliert werden? 4. W i e können w i r uns als Handelnde verstehen und zugleich als Wesen, die naturalistisch

beschreibbar sind? 5. Was heißt „unter der Idee

der Freiheit handeln"; gibt es unsere „Ellenbogenfreiheit" wirklich? 6. Was bedeutet: „ I c h hätte es auch anders gekonnt"?

7. Warum wollen w i r überhaupt

einen freien W i l l e n haben? Täuschen w i r uns, wenn w i r uns für verantwortlich halten? Die Antworten Dennetts werden auf der Grundlinie dessen gegeben, was er für eine „Bestätigung unserer gewöhnlichen Ansichten" hält, nämlich, daß w i r unseren Platz in der Welt i m großen und ganzen richtig einschätzen, daß w i r Willensfreiheit haben und gleichwohl ein Stück Natur sind (S. 33). (Die philosophische Überhöhung des ohnehin schon Gedachten mag dann den Leser mit einem Gefühl der Bestätigung und Verstärkung entlassen.) Seine „naturalistische Theorie des Selbst" (S. 131) sieht den Menschen als „organischen Roboter" (S. 217), als ein Stück des „physikalischen Universums" (S. 131), das sich durch bestimmte, anderswo nicht gegebene Fähigkeiten auszeichne, ζ. B. die, seiner Auflösung Widerstand zu leisten, Zukunftserwartungen zu hegen, sich selbst und andere Dinge zu kontrollieren, zu lernen und sich zu verbessern (S. 131). Willensfreiheit sei i. d. S. naturalistisch begreifbar. Sie sei insofern ein Problem, als es Menschen gebe, die fälschlich meinten, sie nicht zu haben und sich deswegen ängstigten (S. 32). Konkret zu bestimmen, welche unserer Aktionen bedingt war, und welche frei, werde allerdings niemals ganz klar möglich sein (S. 174). Der in der westlichen Moral verankerte Begriff der „Verantwortlichkeit" sei die eigentliche raison d'être unseres Glaubens an die Willensfreiheit. A u f „Verantwortlichkeit" zu setzen sei „das beste Spiel" (S. 206), denn der Glaube an Verantwortlichkeit (und damit an den freien Willen) sei „sozial nützlich" (S. 211): Wenn w i r die anderen nicht zu verantwortlichem Handeln aufriefen, müßten w i r sie durch Zwangsmaßnahmen zu sozialadäquatem Verhalten bringen. Dieses Zwangssystem würde ggf. so aufwendig sein müssen, daß die Gesellschaft daran zugrundeginge (S. 207 ff.). M a n müsse die Menschen merken lassen, daß man sie einfach für verantwortlich halte, um sie dazu zu bewegen, ihren Handlungsspielraum (die „Ellenbogenfreiheit") in tolerierbarer

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Weise zu definieren (S. 209). Wer aber sehe, daß es gute Gründe dafür gebe, den freien W i l l e n zu wollen, der habe auch einen guten Grund dafür, sich dazu zu bringen, daran zu glauben, daß er tatsächlich einen freien W i l l e n hat (S. 213). Wer nicht daran glaube, habe auch keinen (ebd.). Wenigstens aber sollte man — aus den genannten pragmatischen Gründen — die „Illusion von Willensfreiheit" haben (ebd.). Dennetts Beweisziel ist es, zu zeigen, „daß es rational für uns ist, Willensfreiheit zu schätzen und Verantwortlichkeit anzustreben" (S. 197) — auch wenn diese Zielformulierung eine offensichtliche „petitio principii" sei (S. 197 f.). I n jedem Falle könne unsere Verantwortung nur eine bescheidene und partielle sein (S. 200), ein Sichdurchwursteln zwischen pathologisch bestimmter Unverantwortlichkeit einerseits und absoluter Freiheit / Verantwortlichkeit andererseits. Zwar sei in der bisherigen Philosophiegeschichte durch Denker wie Sokrates, Kant, Sartre oder Chisholm einer einseitigen Theorie absoluter Freiheit mit manipulativen M i t t e l n (nämlich mit Hilfe der von Dennett sog. „Intuitionenpumpen") weithin zur Anerkennung verholfen worden (S. 211). Sein, Dennetts, Durchgang durch „alle traditionellen Themen und Argumente" (S. 30) zeige jedoch, daß jenseits dieser Absolutheitspositionen eine „klare Sicht . . . von . . . Rationalität, Selbstschaffung, . . . moralischer Verantwortlichkeit und Selbstverbesserung" möglich sei (S. 216). Die „absolute Freiheit" Kants sei ohnehin eine „physikalische Unmöglichkeit", da der Mensch j a nun einmal nur ein endliches Wesen sei (und daher nicht unendlich viele Optionen habe; Verf.) (S. 69). Seine (Dennetts) Theorie von Verantwortlichkeit sei „anpassungsfähiger und stärker als die widersinnigen idealisierten Theorien, die die ganzen traditionellen Paradoxa erzeugen" (S. 217) und sie stünde nicht in Widerspruch zur „Wissenschaft oder ihrem A b k ö m m l i n g , dem Common Sense" (ebd.). Ich möchte Dennett nicht Unrecht tun — es gibt j a immer auch die Möglichkeit des Mißverstehens; und wenn man selbst ab und an kritisiert wird, weiß man, wie ärgerlich die unter Kritikern weitverbreitete Mischung aus Oberflächlichkeit und Besserwisserei sein kann. Dies vorsorglich in Rechnung gestellt, muß man sich i m vorliegenden Fall vielleicht aber doch zu einigen wenig angenehmen Einschätzungen aufraffen: handwerklich schlechtes Arbeiten, oberflächliches A r gumentieren und eine — trotz eingestreuter Bescheidenheitsinvokationen — überzogene Ansprüchlichkeit scheinen tatsächlich das B i l d des Buches weithin zu bestimmen. Handwerklich schlechtes Arbeiten: die ganze Stoßrichtung der Gedankenführung geht gegen „Absolutheitstheorien" — Sokrates, Kant, Sartre, Chisholm werden genannt. Wenn man nachschaut, wie ausführlich Dennett sich mit ihnen auseinandersetzt, so stellt man fest: mit Chisholm und Sokrates so gut wie gar nicht, mit Sartre durch die eingestreute Behauptung, dieser habe gemeint, man könne sich vollständig ex nihilo erschaffen (S. 109) — Dennetts kurzer, abkanzelnder Kommentar dazu: „ W i r wissen es besser" — und schließlich mit Kant, indem er i h m schlicht unterstellt, er sei „natürlich der Philosoph", der „die Vorstellung, daß die echte Willensfreiheit in einer vollständigen Unterordnung

I. Vernunft und Geschichtlichkeit des Willens unter das Diktat

der Vernunft

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bestehe . . . zum Kernstück seiner

Theorie machte" (S. 34). Keine Begründung dazu, kein Bezug auf Textstellen, kein Bezug auf die Diskussionsgeschichte. Hatte nicht Kant schon unterschieden zwischen der systematischen Reflexion über die Bedingungen der Möglichkeit freien, vernunftbestimmten Handelns einerseits und andererseits anthropologischen Überlegungen zur Lebensgestaltung angesichts des Menschen, wie er empirisch vorfindbar nun eben ist? Aus so krummem Holz als wie der Mensch gemacht sei, könne man keinen geraden Stock schnitzen, meinte er, wie sich Dennett hätte erinnern sollen. Dennett widmet den gesamten Teil V seines Buches dem Thema „Handeln unter der Idee der Freiheit", ohne Kant darin auch nur einmal zu erwähnen. Oberflächliches Argumentieren: man hätte gern gewußt, mit welchen argumentativen M i t t e l n Dennett verhindern möchte, daß irgendwann bei seinen Lesern der Hume'sehe Wecker klingelt. Ist der Umstand, daß der Nachbar von nebenan sich davor ängstigt, seinen freien W i l l e n zu verlieren, identisch mit dem (philosophischen) Problem der Willensfreiheit? Ist das nicht vielmehr nur etwas Empirisch-Psychologisches? Wieso ist, nebenbei gefragt, der Begriff der Verantwortung „ i n der westlichen Kultur verankert?" Welches wären die nicht-westlichen Kulturen? Hinduismus, Konfuzianismus, Kommunismus? Kennen die nur den unverantwortlichen Menschen? Weiter: Folgt aus den unterstellten sozialen Nützlichkeit des theoretischen Konstrukts „Verantwortlichkeit", daß es sie tatsächlich gibt, folgt daraus irgendetwas Philosophisches hinsichtlich der Bedingung der Möglichkeit ihrer Existenz? Und: Wieso garantiert der Glaube an freien W i l l e n und Verantwortung die Subsistenz von gesellschaftlichem Leben? A u c h pflanzlich-tierische Biotope oder Ameisenhaufen existieren, ohne daß man davon sprechen könnte, dies sei so, da sie einem subsistenzsichernden Verantwortungsbegriff folgten. Wieso ergibt sich daraus, daß man die „soziale Nützlichkeit" des freien Willens einsieht, daß man ihn selbst hat? Aus welchen Gründen hätte — i m Umkehrschluß — jemand de facto keinen freien Willen, nur weil er nicht daran glaubt, daß er einen hat? Könnte er nicht sich selbst mißverstehen? Die Vernunft zu wollen, weil das vernünftig ist, ist in der Tat eine petitio prineipii. Warum aber kommt Dennett nicht auf den naheliegenden Gedanken, diesen Zirkelcharakter zum Anlaß zu nehmen, bei Kant, A p e l oder anderen nachzulesen, was diese zur Transzendentalproblematik geschrieben haben; kann man es mit der bloßen Feststellung der Zirkelhaftigkeit sein Bewenden haben lassen? Schön wäre es, wenn die Menschenwelt so einfach strukturiert wäre, wie Dennett zu meinen scheint. Aber, um ihn selbst ironisch zu zitieren: w i r wissen es besser. Kant u. a. bieten sicher keine durchgängige Lösung für die Problematik menschlicher Existenz, sie haben sie aber immerhin auf einem höheren Differentiationsniveau analysiert und uns zu Bewußtsein gebracht als dies bei Dennett geschieht. Z u m letzten Punkt: überzogene Ansprüchlichkeit. M i r scheint es sehr mutig, zu behaupten, man wolle „alle (!) traditionellen Themen und Argumente der

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

Literatur über Willensfreiheit abdecken" (was ohnehin kaum machbar ist) und weiter, dieser Rückblick auf die Geschichte der Philosophie beweise, daß „überall" (!) mit „Intutionenpumpen" (d. h. mit Überredung statt mit Überzeugung; Verf.) gearbeitet wurde (S. 30 f.); nun aber werde mit solchen Irrungen und Wirrungen aufgeräumt, es werde endlich für Klarheit gesorgt (S. 216), und zwar ein für allemal: auch für allfällige zukünftige Einwände gegen die eigene Theorie wird dem Leser vorsorglich eine Verteidigungsstrategie mitgegeben (s. letzte Seite des Buches). Dieser große Auftritt — leider kein Einzelfall in der philosophischen Literatur, ganz besonders auch nicht in der deutschen — steht übrigens in ziemlich unvermitteltem Gegensatz zu der am Anfang und auch gegen Schluß des Buches (S. 33, S. 68, Common Sense S. 217) beteuerten Grundintention, eigentlich nur bestätigen zu wollen, was alle — dank Common Sense — ohnehin schon dächten. Aber das mag gerade die Pointe des Buches sein, der es seinen Erfolg zu verdanken hat: das von uns Alltagsmenschen immer schon Gedachte erweist sich gegenüber dem „Widersinnigen" (S. 217) der Meisterdenker am Ende als der Weisheit letzter Schluß! Freilich: Der Glaube an die Wahrheitsgarantierende Kraft des Common Sense ist der Rezeptionshorizont, der dies überhaupt zur Pointe werden lassen kann. Uns Deutschen ist solcher Glaube allein schon aus Gründen neuerer historischer Erfahrungen abhanden gekommen. Ob, darüber hinaus, G. B. Shaw recht hatte, der da schlicht meinte: „The German dive down deeper", soll einmal dahingestellt bleiben; sympathischer w i r d einem diese Sentenz jedenfalls, wenn man sie durch den Nachsatz: „. . . and come up muddier" ins Ironische gewendet findet. So gesehen gilt: There is no mud on Dennetts head. Pothast nun möchte in seiner Arbeit die „Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise" demonstrieren. Die von ihm hierfür herangezogenen Autoren werden auf das hin ,abgeklopft 4 , was sie unter zwei Fragestellungen leisten: „1. Ist es (ihnen) gelungen, Freiheit in dem Sinn, der von (ihnen) in Anspruch genommen wird, aufzuweisen?" und „2. Ist die Freiheit, die man aufgewiesen zu haben glaubt, eine Freiheit, die es erlaubt, Personen für ihre Handlungen verantwortlich zu machen und die positiven wie negativen sozialen Reaktionen zu rechtfertigen, die faktisch verhängt werden?" (S. 20). M i t diesen zwei Fragen ist zugleich der moralische nervus rerum angesprochen, der den Autor mit dem Thema verbindet. Einerseits erscheint es ihm „auffällig, daß Philosophen, die sich als große Ethiker hervortun, in der Regel zu den Befürwortern irgendeiner stärkeren Freiheit zählen und zu den Befürwortern des Typs sozialer Folgen (z. B. Strafen, Verf.), die sich an unseren Gebrauch von verantwortlich' binden" (S. 364). Genausowenig kann er sich auf der anderen Seite mit einer „deterministischen Handlungslehre" abfinden, „wenn sie jemand entwirft, um sich selbst oder einen anderen vor jederlei Konsequenzen seines Handelns zu schützen" (S. 365). Daher ist es folgerichtig, daß das Buch auch einen längeren Exkurs über „Freiheit in einer Grundlegung des Strafrechts" enthält (S. 315-359).

I. Vernunft und Geschichtlichkeit

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Pothast faßt die von i h m behandelten Autoren in sieben Gruppen zusammen. Zunächst die von W i l l i a m James so genannten „harten Deterministen". Pothast nennt insbesondere J. Hospers (S. 47), Carl Ginet (S. 52 ff.) sowie Ted Honderich (S. 63). Ihre gemeinsame Grundthese lautet: „Menschliche Handlungen sind determiniert. Verantwortlichkeit für Handlungen setzt Freiheit i m Sinne nicht determinierten Handelns voraus. Also sind Personen für ihre Handlungen nicht verantwortlich" (S. 10). Das Kapitel über den „harten Determinismus" fällt insofern aus dem Rahmen der Gedankenführung des Buches, als hier kein „Freiheitsbeweis" zur Debatte steht, sondern i m Gegenteil eine wie auch immer verstandene „Freiheit" j a gerade geleugnet wird. Z u m eigentlichen Thema hinzu gehören jedoch die folgenden sechs Gruppen: 1. Die Vertreter der „These der Vereinbarkeit" (S. 125-175), welche eine der Spielformen des sog. weichen Determinismus ist: menschliches Handeln mag determiniert sein, aber i m Falle der Abwesenheit äußeren und inneren Zwanges sind Handlungen in einem Sinne frei, der ausreicht, um Verantwortlichkeit zu begründen. Die hier diskutierten Autoren sind vor allem Moore (seine Variante des „Freiheitsbeweises" w i r d auf S. 128 dargestellt) und i m Gegenzug dazu Austin, weiterhin Schlick (sein „Freiheitsbeweis" s. S. 147) und P. Strawson (S. 157). 2. Diejenigen Philosophen, denen es nicht genügt, i m obigen Sinn Freiheit als bloße gelegentliche Abwesenheit von Zwang zu interpretieren. Sie setzen in dieses Vakuum eine positive „Theorie des freien Selbst" (S. 65-125). Dies ist eine zweite Spielform des „weichen Determinismus". Pothast behandelt hier drei Varianten: die von ihm als neukantianisch angesehene N. Hartmanns („Freiheitsbeweis" s. S. 77), die existentialistisch-phänomenologische J.-P. Sartres (S. 88 f., 93, 95 f.) und die analytische R. Chisholms (S. 107). 3. Die Vertreter des „epistemischen Indeterminismus" (S. 177-201), wonach Handlungen frei sind, da mindestens der Handelnde vor dem Zeitpunkt des Handelns eine Determination nicht erkennen kann. Dies ist auch an der Unvorhersagbarkeit von Handlungen ablesbar. Die von Pothast insbesondere untersuchten Autoren sind Bergson (sein „Freiheitsbeweis" S. 177), Stuart Hampshire (S. 179), K . R. Popper (S. 184) und als Weiterführung Poppers: D. M . MacKay (S. 185 f.). 4. Die modernen Vertreter der auf Kant zurückgehenden „Zweiweitenlehre", die zwischen Sinnenwelt und intelligibler Welt, Naturgeschehen und (sittlichen) Handlungen, Ursachen und Gründen unterscheidet. Pothast handelt diese Position unter dem Titel „Gründe versus Ursachen" ab (S. 203-250). Der Kern der Freiheitsthese ist: Handlungen können als Handlungen nur verstanden werden, wenn man sieht, daß bloße Ursachenforschung i m naturwissenschaftlichen Sinn deren eigentliches Wesen verfehlen muß. Als moderne Repräsentanten dieser Richtung behandelt Pothast Α . I. Melden (S. 207 ff., 224 ff.) und A . Kenny (S. 234 ff.).

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

5. Eine Gruppe von Autoren, die die Kantische Auffassung in dem Nachweis zu verteidigen sucht, daß der für den Determinismus Argumentierende sich selbst widerlegt, denn eben dadurch, daß er argumentiert, beweist er, daß er mindestens in diesem Punkt frei handelt. Pothast nennt diese Position die der „Selbstwiderlegung des Determinismus" (S. 251-274). Er stellt sie dar an Rickert für den Neukantianismus (S. 253) und an der Autorengemeinschaft Boyle, Grisez, Tollefsen für die analytische Philosophie (S. 260). 6. Bei der letzten Gruppe, der der „dialektischen Vermittlung" (S. 275-313), handelt es sich nicht eigentlich um einen „Freiheitsfrewe/s", sondern eher um „Explikationen": Freiheit sei Einsicht in die (historische) Notwendigkeit und als solche von einer historischen Stufe zur nächsten zunehmend gegenwärtig, so Engels i m Anschluß an Hegel (S. 287 ff.), oder aber, so Adorno (S. 300 ff.), erst in einem künftigen Punkt der Geschichte begreifbar und verwirklichbar (,Freiheit 4 vorher also eigentlich nicht existent). Die hier wiedergegebene Einteilung in verschiedene Schulen erscheint zwar einerseits i. S. einer klaren Gliederung begrüßenswert; andererseits ist jedoch auch nicht von der Hand zu weisen, daß sie zugleich etwas Schematisches an sich hat: Die Schulen stehen j a nicht isoliert nebeneinander, sondern gehören in einen eng miteinander verflochtenen Argumentationszusammenhang. So ist ζ. B. Position 2 klar Position 1 zuzuordnen (das sieht auch Pothast so), und die Positionen 3 und 5 können als Explikationen zu Position 4 verstanden werden. Dieser Aspekt der inhaltlichen Dependenzen kommt bei der schematischen Darstellung (vielleicht nowendigerweise) etwas zu kurz. Pothast zieht aus seiner Analyse der Freiheitsbeweise folgendes Resümee: Es „ergibt sich für die herkömmliche Verantwortlichkeit, daß ihr eine Fundierung in einer plausiblen Theorie des freien Handelns bis auf weiteres fehlt" (S. 386). „ I c h vermute darüber hinaus: Es gibt . . . auch sonstwo keinen Beweis, der . . . die naturwüchsige, zurechnende Reaktion moralisch legitimieren könnte" (S. 382). Wenn man nicht bei dem bloß „pragmatischen" Argument stehenbleiben w i l l , daß es eben bislang noch „keinem Gemeinwesen gelungen (ist), seine Lebensweise gegen die Zerstörungstendenzen einzelner zu verteidigen", ohne die betreffenden Individuen durch Verhängung von Sanktionen zur „Verantwortung" zu ziehen (S. 386), so braucht man eben i m Grunde doch eine greifende Theorie der Freiheit bzw. eine „Theorie des Moralischen überhaupt" (S. 408). Die aber hat auch der Autor „nicht heimlich i m Ä r m e l " (S. 408). Er stellt deshalb einige Überlegungen an, die „nicht beweisenden, sondern eher intuitiven Charakter 44 haben (S. 365): Wenn man von einer „Freiheit als Wählenkönnen 44 ausgeht, so kann dieser „unter den Bedingungen eines hypothetisch angenommenen Determinismus . . . eine Verantwortlichkeit entsprechen, die weniger starke und also weniger dubiose Voraussetzungen hat als die herkömmliche" (S. 393). Dieses Verständnis erlaubt, nicht nur der individuellen Täterschaft, sondern auch den sozialen Randbedingungen Rechnung zu tragen (S. 396); die ,Strafe 4 bzw. Sank-

I. Vernunft und Geschichtlichkeit

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tion ist dann eine „Veränderungsarbeit" und kein „ Ü b e l " mehr (S. 397). — Dieses Konzept ist vielleicht eine „lächerliche Utopie" (S. 402), aber mindestens ist es doch „fair, von dem System zu erwarten, daß es ständig versucht, das Maß seiner Sanktionen zu verringern". Der Zweck von Sanktionen soll j a (u. a.) „ein erzieherischer" sein (S. 421). Hier macht sich nun der zuvor von Pothast selbst konstatierte Mangel bemerkbar: der einer fehlenden „Theorie der Moral". Natürlich hat Pothast „Moralvorstellungen" i. S. v. „Vorstellungen von dem was der Fall sein sollte". So sollte ζ. B. „fairerweise" das Maß der Sanktionen verringert werden und es sollte ihr Ziel i m wesentlichen ein erzieherisches sein. Diese Vorstellungen jedoch sind nicht aus einer „Theorie der M o r a l " abgeleitet, sondern eher, wie Pothast sagt, „ i n t u i t i v " gesetzt. Ich denke, daß dies der Niederschlag eines Problems ist, das sich womöglich sogar generell gegen die große Intention des Buches wenden und in der Frage formulieren läßt, ob es denn überhaupt sinnvoll ist, nach „Freiheitsbeweisen" zu fragen. Kann man Freiheit „beweisen"? Popper hat es als einen der größten Skandale der Philosophiegeschichte bezeichnet, daß bis heute die Wirklichkeit nicht bewiesen sei. Kant hat bewiesen, daß die Gottesbeweise Gott nicht beweisen. — Ist es aber nicht so, daß Gott unbeweisbar ist, weil er das Unbeweisbare ist bzw. sein soll; daß auch die Realität unbeweisbar ist, da sonst auch die Realität der Beweise zu beweisen wäre, diese aber postuliert werden muß, d. h. sein soll? Ist ebenso Freiheit nicht deshalb unbeweisbar, weil auch Freiheit ,nur' ein Postulat, eine Denknorm, eine regulative Idee ist und als solche gar nicht bewiesen (i. S. v. abgeleitet oder empirisch-analytisch aufgefunden) werden kann, sondern als sein sollend unterstellt werden muß? Wenn das so ist, dann ist es nicht verwunderlich, daß Pothast keinen tragfähigen Freiheits beweis findet — und dann ist es auch nicht verwunderlich, sondern symptomatisch, daß seine eigenen moraltheoretischen Lösungsvorstellungen „nicht beweisen, sondern eher intuitiven Charakter" haben (S. 365) — wobei allerdings zwischen bloßer Intuition und dem Postulat einer regulativen Idee unterschieden werden muß. Was die Strafrechtstheoriedebatte angeht, so scheint das Pathos, mit dem Pothast den Verdacht Nietzsches, „die Menschheit habe die Idee des freien Willens erfunden, weil sich mit ihr großartigere Straf- und Leidensfeste inszenieren ließen" (S. 412, A n m . 127), auch auf die gegenwärtige Situation wendet, zwar verständlich, aber doch zu undifferenziert. M . E. hätte Pothast hier die in Theorie und Praxis der modernen Strafrechtsreformen immerhin doch vollbrachten (wenn auch sicherlich oft unzureichenden) Fortschritte erwähnen sollen. Kehren w i r also zu unserem Begriff der potentiellen Alternativität menschlichen Handelns und zum Gesetzesbegriff des Kritischen Rationalismus zurück. V o r dem Hintergrund des Gedankens der potentiellen Alternativität menschlichen Handelns werden die entscheidenden Sätze der Hempelschen Darstellung uneinsichtig: „ I n every case where an event of a specified kind C occurs . . . an 5 Hesse

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

event of a specified kind E w i l l o c c u r " 1 0 0 und weitere Schlüsselsätze dieses Inhalts an anderen Stellen des Aufsatzes. Dabei ist es ganz symptomatisch, daß als Beispiel eines aus dem technisch-naturwissenschaftlichen Bereich gewählt ist, nämlich die Erklärung des Platzens eines Autokühlers in einer Frostnacht. Dort wo Hempel sich Beispielen aus der Geschichte zuwendet und etwa die Auswanderung der Farmer des sogenannten amerikanischen Staubgürtels nach Kalifornien durch Rückführung auf allgemeine Gesetze zu erklären sucht, geschieht das gleich mit dem einschränkenden Zusatz: „ B u t it w o u l d obviously be difficult accurately to state this hypothesis in the form of a general law which is reasonably well confirmed by all the relevant evidence available", oder i m Fall der Erklärung einer Revolution: „. . . we are hardly in a position to state just what extent and what specific form the discontent has to assume, and what the environmental conditions have to be, to bring about a revolution". 1 0 1 Hempel spricht dann auch lieber von einer Erklärungsskizze („explanation sketch") als von einer vollgültigen Erklärung („fullfledged explanation"). Erklärungsskizzen müssen noch weiter ausgefüllt werden, meint er, um zu vollgültigen Erklärungen zu werden 1 0 2 . W i e dies aber angesichts der erwähnten Interpretationsschwierigkeiten geschehen könne, beschreibt er nicht. Als Vertreter der naturwissenschaftlich bestimmten Einheitsthese — er spricht von der „methodological unity of empirical science" 1 0 3 — wendet auch Hempel sich gegen die Möglichkeit methodischen Verstehens: „This thesis is clearly in contrast w i t h . . . a method which characteristically distinguishes the social from the natural sciences, namely, the method of empathetic understanding . . . by imaginary self-identification w i t h his heroes (the historian) arrives at an understanding and thus at an adequate explanation of the events . . . " 1 0 4 . Ob der Historiker fähig sei, sich in die Lage seiner Helden zu versetzen, sei jedoch irrelevant; was in Hinsicht auf die Richtigkeit der Erklärung zähle, sei allen die Richtigkeit des verwendeten allgemeinen Gesetzes 105 . Hier unterläuft Hempel offensichtlich eine Verengung des allgemeinen Verstehensbegriffs auf das auf Schleiermacher zurückgehende sympathetische Verstehen (das in der Tat als Psychologismus methodologisch nicht haltbar ist). Die i. S. des Kritischen Rationalismus verstandenen Gesetze sind — das hatte auch Popper schon betont — deutlich von der geschichtsphilosophisch begriffenen Gesetzmäßigkeit zu unterscheiden. Sprachlich schlägt sich das i n der Verwendung der Singular- bzw. der Pluralform nieder: die Kritischen Rationalisten 100 Hervorhebung von mir. Dieser Satz verkennt nicht seine Anlehnung an Humes Kausalitätsprinzip. ιοί Hempel, The function . . ., S. 350. 102 Vgl. Hempel, ebd., S. 351. 103 Hempel, ebd., S. 356. 104 Hempel, ebd., S. 352. los Hempel, ebd., S. 353.

I. Vernunft und Geschichtlichkeit

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sprechen von den „general laws in history", die Geschichtsphilosophen hingegen von „dem historischen Entwicklungsgesetz". Bei den Geschichtsphilosophen gibt es nur ein Gesetz, da sich dieses von dem einen Endziel her bestimmt, auf das hin die Geschichte sich e n t w i c k e l t . 1 0 6 Dieses Endziel aber ist erroristischer Prüfung nicht zugänglich; davon zu reden w i r d deshalb von den Kritischen Rationalisten abgelehnt. Außerdem ist es unmöglich, aus einem Verlaufsgeschehen eine Prognose sicher abzuleiten. Dazu bedürfe es immer der experimentellen Wiederh o l u n g 1 0 7 . Schließlich polemisiert der Kritische Rationalismus auch gegen die „historizistische" Auffassung, nach der die Menschen geändert werden müßten, damit sie in den schließlichen Endzustand hineinpaßten. A u f solche Weise entziehe sich die geschichtsphilosophische Voraussage erst recht jeder Prüfbarkeit. „Denn die Menschen, denen das Leben in ihr (der neuen Gesellschaft; Verf.) nicht behagt, geben damit nur zu, daß sie noch nicht geeignet sind, in ihr zu leben . . . " . 1 0 8 I m Lichte dieser Theorie kritisiert Hempel die geschichtsphilosophisch geprägte marxistische Annahme einer ökonomischen Gesetzlichkeit: „ . . . the sweeping assertion that economic . . . conditions ,determine' the development and change of all other aspects of human society, has explanatory value only in so far as it can be substantiated by explicit laws which state just what k i n d of change in human culture w i l l regularely follow upon specific changes in the economic conditions. Only the establishment of concrete laws can f i l l the general thesis w i t h scientific content, make it amenable to empirical tests, and confer upon it an explanatory f u n c t i o n . " 1 0 9 Die Frage, ob es spezifisch historische

Gesetze (i. S. von „general laws") gibt,

w i l l Hempel offenlassen. Das möge die Empirie i m einzelnen ausarbeiten und bestätigen oder nicht bestätigen. 1 1 0 Dray hat den Hempelschen Gesetzesbegriff in seinem Buch „ L a w s and Explanation in History" kritisiert. Er redet von „general laws" nur i m außerhistorischen Bereich und behält für den historischen Bereich seinen Begriff der „causal explanation" vor, der sich auf das M o d e l l einer „continuous series" stützt. 1 1 1 A u c h hier ist das Beispiel allerdings technisch-naturwissenschaftlicher Art. Ein Kolbenfresser bei einem Auto sei nicht „erklärt", wenn gesagt wird, das sei wegen eines Lecks i m Öltank geschehen. Für denjenigen, der v o m Funktionieren eines Motors keine Ahnung habe, genüge diese Antwort durchaus nicht. Sie bekomme vielmehr 106 Freilich ist diesem gesetzmäßigen Ablauf eine Vielzahl von „Untertendenzen" zugeordnet, aus denen insgesamt dann das Geschichtsgesetz ablesbar ist. ιόν Vgl. Popper, Elend . . ., S. 86. los Vgl. Popper, Elend . . ., S. 56; vgl. auch ebd. S. 71. 109 Hempel, The function . . ., S. 355. no Vgl. Hempel, ebd., S. 355. m Dray, Laws an Explanation in History, Oxford 1966, Kap. III, 3, The Model of Continuous Series. 5*

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

erst dann den Charakter einer Erklärung, wenn man hinreichend viele Informationen über die Funktionsweise von Automotoren gesammelt habe, die es einem gestatten, eine „continuous series" v o m L o c h i m Öltank bis zum Festfressen des Kolbens i m Zylinder herzustellen. Die einzelnen Glieder der Serie könnten etwa sein: L o c h i m Öltank — Ausfließen des Öls — kein Ö l in der Leitung zum Zylinder — kein Ö l i m Zylinder — rauhe Zylinderwände — Hitzeentwicklung — Kolbenfresser. A u f diese Ansicht Drays hat Maurice Mandelbaum zu Recht geantwortet, daß auch sie Gebrauch von „general laws" mache, indem sie solche nämlich in jedem Schritt voraussetze. „For example, a knowledge of general laws concerning friction, and concerning the relation between the abscense of lubricants and the presence of f r i c t i o n . " 1 1 2 A u f Mandelbaums Einwand gegen Hempels Gesetzesauffassung, der sich vor allem dagegen richtet, daß Hempel ein „covering l a w " sucht „ w h i c h states a regularity of connection between some particular complex type of event and a particular complex

set of conditions" 1 1 3 , braucht nicht näher eingegangen zu

werden, da er den Begriff der „general laws" i m Kern unbeeinträchtigt l ä ß t 1 1 4 und nur Modifikationen in seiner Ausformulierung anstrebt, die seine Position stärken sollen. Diese Position aber ist i m Kern nicht haltbar, da sie ein spezifisches Merkmal menschlichen Handelns, das der potentiellen Alternativität, außer Acht läßt. Sie macht die Menschengeschichte damit methodologisch zu Naturgeschichte. Für den Kritischen Rationalismus besteht das wissenschaftliche Verfahren in Erklärung und Prognose. „. . . ein wissenschaftliches Problem (entsteht) in der Regel aus dem Bedürfnis nach Erklärung" 115 sagt Popper, und „. . . zwischen der Erklärung, der Voraussage und der Prüfung (besteht) kein großer Unterschied." 1 1 6 Daß das für die wissenschaftliche Problemkonstituierung entscheidende Bedürfnis nach Erklärung ein weiteres nach gelingender Prognose nach sich zieht und jenes erst durch dieses ernst zu nehmenden Rang erhält, meint auch Hempel, wenn er schreibt: „ I n view of the structural equality of explanation and prediction, it may be said that an explanation . . . is not complete unless it might as well have functioned as a prediction: I f the final event can be derived from the initial conditions and universal hypotheses stated in the explanation, then it might as well have been predicted, before it actually happened, on the basis of a knowledge of the initial conditions and the general l a w s . " 1 1 7 ι 1 2 M. Mandelbaum, Historical Explanation, The Problem of ,Covering Laws', in: History and Theory, Vol. I, 1961, S. 239. 113 Mandelbaum, ebd., S. 236; Hervorhebungen von mir. 114 Mandelbaum, ebd., S. 231: „. . . I wish . . . to support the general position reached by the covering-law theorists . . ." us Popper, Elend . . ., S. 96. 116 Popper, Elend . . . , S. 104.

I. Vernunft und Geschichtlichkeit

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Das außerordentliche Gewicht, das der Kritische Rationalismus der Prognose beilegt, hängt, wie w i r gesehen haben, m i t seiner erroristischen Erkenntnistheorie zusammen. Wenn man diesen Ansatz nicht teilt, erhält auch die Prognose nicht den systematischen Stellenwert, den sie dort hat. Der kritisch-rationalistisch verstandenen Prognose liegt ein nach naturwissenschaftlichem V o r b i l d konzipiertes Gesetzesmodell zugrunde. Dieses V o r b i l d ist jedoch für die historischen Wissenschaften ohne Wert. Daß w i r dennoch — auch von einer nicht auf naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten rekurrierenden Position aus — i n der Lage sind, Prognosen zu erstellen, soll i m Folgenden gezeigt werden. Es sei i m voraus bemerkt, daß diese Prognosen allerdings durchaus nicht den Zuverlässigkeitsgrad haben werden, der naturwissenschaftlichen Prognosen zukommt. Sie sind dennoch aber von erheblich größerem Wert als die naturwissenschaftlich gewonnenen Sozial- und Geschichtsprognosen des kritischen Rationalismus, denn diese haben, wie w i r sahen, i n Wirklichkeit überhaupt keinen Wert. Die vier Prognosemöglichkeiten, die hier behandelt werden sollen, stehen alle auch der Geschichtswissenschaft offen, denn sie kann sie innerhalb des ihr eigenen Arbeitsbereichs der Vergangenheit (als Forschungsmethoden) angewendet oder (materialiter) als bereits von in der Vergangenheit Handelnden angewendet vorfinden. Insbesondere die vierte stellt eine Möglichkeit dar, die die Geschichtwissenschaft wahrnehmen kann, um an Prognosen in die Zukunft hinein mitzuarbeiten. Darüber hinaus können die vorgeschlagenen Prognoseverfahren auch i m außerwissenschaftlichen Bereich angewendet werden und stellen ζ. T. auch in der Tat eine uns allen vertraute alltägliche Denkmethode dar. W i r beginnen m i t der vielleicht unkompliziertesten, der Prognose des „Handelns nach Ankündigung". Beispiel: Paul sagt zu Erich: „ I c h werde D i c h heute abend besuchen kommen." Darauf sagt Erich, als er nach Hause kommt, zu seiner Frau: „Richte bitte ein zusätzliches Abendessen! Paul w i r d heute abend zu Besuch kommen." Der letzte Satz enthält die Prognose. Sie stützt sich auf die explizite Ankündigung Pauls. Ihre Verläßlichkeit gewinnt sie aus einer Überlegung über die allgemein als vernünftig zu akzeptierende M a x i m e „Halte Versprechen!" Erich unterstellt, daß auch Paul diese M a x i m e theoretisch als vernünftig anerkennt und ihr praktisch folgt. Die Ankündigung Pauls und die Erfahrung der Verläßlichkeit solcher Ankündigungen sind für Erich demnach Grund genug, eine entsprechende Prognose aufzustellen und sich in seinem Handeln danach zu richten. Erich kann also m i t Gründen dafür argumentieren, daß seine Prognose eine verläßliche ist. Indem er sie (so) begründet, bemüht er sich um ein Verständnis Pauls, und wenn dieses Verständnis gelingt, kann seine Prognose verläßlich werden. Eine regelmäßig per trial-error- Verfahren abzusichernde Behauptung ist unnötig. Natürlich könnten auch unvorhergesehene Ereignisse eintreten, die Paul am K o m m e n hindern oder er könnte eine andere, bessere Idee bekommen. Deshalb ist Erichs Begründungsargumentation für die Verläßlichkeit seiner Prognose i n Hempel, The function . .., S. 348.

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

immer unter der Kautele potentieller Alternativität zu sehen. Dies läßt sich — außer bei pathologischem Verhalten (ζ. B. bei Suchtverhalten) — aber generell nicht ausschalten. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, daß Erich in aller Regel faktisch

eine

solche Begründungsargumentation nicht vorbringen wird. A u f das, was faktisch geschieht, kam es uns hier aber nicht an, sondern nur auf den logischen Status des von ihm geäußerten Satzes. Der in unserem Beispiel vorangestellte Satz „Richte bitte ein zusätzliches Abendessen!" weist auf die praktische Relevanz, die Handlungsprognosen ebenso wie Naturprognosen für uns haben können. Eben deshalb werden beide für uns i m Ernstfall überhaupt erst interessant. Die zweite Prognosemethode sei „die Extrapolationsmethode" genannt und durch folgendes Beispiel illustriert: W i r nehmen an, Paul und Erich sind seit vielen Jahren befreundet und Paul w i r d am nächsten Tag zum ersten M a l zu einem mehrjährigen Aufenhalt ins Ausland abreisen, hat aber noch keine Gelegenheit gehabt, sich von Erich zu verabschieden. Erich weiß, daß Paul seine Sachen bereits gepackt hat und an diesem seinem letzten Abend eigentlich ansonsten nichts Dringendes zu erledigen hat. N u n sagt er am Nachmittag zu seiner Frau die gleichen Sätze wie i m vorigen Beispiel, vielleicht noch m i t dem Zusatz „wahrscheinlich" innerhalb der Prognose. Aus unserer Alltagserfahrung ist uns eine Situation dieser A r t durchaus vertraut und w i r würden Erichs Frau sicher nicht der Unvernunft zeihen, wenn sie in der Tat dem Wunsch ihres Mannes nachkommt. A u c h nach unserem Ermessen wäre es durchaus wahrscheinlich, daß Paul Erich an diesem Abend besuchen kommt. Über die Verläßlichkeit der Voraussage kann auch hier wieder mit Gründen gestritten werden. I m Unterschied zum vorigen Fall liegt diesmal jedoch keine Absichtsbekundung vor, so daß mithin auch diese erschlossen werden muß. Die Verwendung eines durch Regelmäßigkeitsuntersuchungen gewonnenen Gesetzes ist jedenfalls auch hier unnötig und sogar unmöglich. Die beschriebene Situation kommt zum ersten M a l vor, Paul ist bisher noch nie für längere Zeit verreist. Trotzdem ist Erich auf Grund einer extrapolierten Begründungsargumentation in der Lage, ein Verständnis der Situation Pauls zu gewinnen und so die wahrscheinlich dementsprechende Handlung vorauszusagen. Das dritte Verfahren können w i r eine Prognose „institutionalisierten Handelns" nennen. W i r nehmen wieder Erich und Paul als Beispielpersonen. Zwischen ihnen gibt es seit Jahren die Gepflogenheit, sich einmal pro Woche wechselseitig zu besuchen. A l l e 14 Tage freitags, so nehmen w i r an, erscheint also Paul bei Erich. A n eben einem solchen Freitag sagt Erich nachmittags zu seiner Frau die bewußten zwei Sätze. Seine Prognose stützt sich in diesem Fall auf den institutionellen Charakter des gegenseitigen Besuchens. Irgendwann einmal haben sich Erich und Paul verabredet, eine solche Institution einzurichten, sei es, weil sie ihre Freundschaft pflegen wollten, sei es, um sich dabei auch über berufliche

I. Vernunft und Geschichtlichkeit

71

Dinge unterhalten zu können, oder sei es, weil sie sonst in der Stadt niemanden näher kannten und sich auf diese Weise ein gewisses Mindestmaß an sozialem Umgang sicherten. Die Gründe dafür können sehr verschiedener A r t sein. Wenn Erich nun seine Prognose stellt, so geht er davon aus, daß die damaligen Gründe für Paul so oder ähnlich immer noch gelten und er aus diesen Gründen nach wie vor an der Einhaltung der Institution interessiert ist und demzufolge auch in der Tat an diesem Abend kommen wird. O b w o h l Institutionen in der Festlegung und Befolgung regelmäßigen Handelns bestehen, stützt sich auch in diesem Fall die Prognose letzten Endes nicht auf das äußere Beobachten solcher Regelmäßigkeiten, sondern auf die dem äußerlich beobachtbaren Handeln unterstellte Kontinuität der anfänglichen Gründelage. Wenn Institutionen sich dieser ihrer anfänglichen Fundierung nicht mehr bewußt sind und beginnen, um ihrer selbst willen zu existieren, verlieren sie ihre ursprünglich möglicherweise vernünftige Lebensfunktion und schlagen um in konservative Erstarrung. Selbst solcherart erstarrte Institutionen aber verdanken ihre Existenz einer spezifischen Gründe läge, die es zu verstehen gilt. Denn sie werden, wie gesagt, um ihrer selbst willen fortgesetzt. M a n macht weiter, weil es schon immer so w a r . 1 1 8 Diese Gründelage hat sich zwar vom seinerzeit vielleicht gegebenen vernünftigen lebensweltlichen Kontext entfernt, sie ist aber nichtsdestoweniger eine dem Verständnis (nicht der erroristischen Erklärung) zugängliche Begründung. Das Gleiche gilt auch von den Sanktionen, die in manchen Fällen, vor allem bei staatlichen Institutionen, mit der Nichteinhaltung der institutionell vorgeschriebenen Handlungsweise verknüpft sind. A u c h sie haben begründeten Status, und zwar sowohl von der Seite der Institutionsschöpfer her wie auch von der Seite derjenigen, die in der Institution stehen und die Sanktionen mit in ihr K a l k ü l einzubeziehen haben — welches Faktum antezipatorisch eben auch zum K a l k ü l der Institutionsschöpfer gehört hat. Für die Prognose institutionalisierten Handelns gilt wie für alle anderen prognostischen Verfahren die Kautele potentieller Alternativität. Paul könnte sich j a noch entschuldigen lassen und statt des Besuchs aus was für Gründen auch immer an diesem Abend etwas anderes unternehmen. Ich w i l l nun noch zu einem Spezialfall Stellung nehmen, bei dem sich der Verdacht aufdrängt, er sei m i t Hilfe des Popperschen Verfahrens der Beobachtung von Regelmäßigkeiten in den G r i f f zu bekommen. Dazu wollen w i r zunächst einen Übergangs-Fall konstruieren, durch den deutlich werden soll, daß das ein Irrtum wäre. Nehmen w i r an, es gibt noch eine dritte, außerhalb der zwischen Erich und Paul vereinbarten Institution stehende Person. W i r nennen sie Heinz. Heinz weiß v o m W i e und Warum der Institution und wäre deshalb auch seinerseits 118 Daneben gilt es auch den Fall, daß man an Institutionen festhält, um überhaupt Orientierung zu haben.

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

in der Lage, eine Prognose der A r t aufzustellen „Heute abend wird Paul Erich besuchen". W i r nehmen weiter an, Heinz wohnt gegenüber von Erich und kann das Kommen Pauls sehen und seine Voraussage so kontrollieren. Dennoch w i r d sich seine Voraussage auf die gleiche Argumentation stützen wie die Erichs. Wesentlich dafür ist, daß Heinz j a von der Gründelage weiß, die am Beginn der Institution stand. Durch einen B l i c k aus dem Fenster ist er in der Lage, darüber hinaus zu kontrollieren, ob die pognostizierte Handlung faktisch eingetroffen ist oder ob sich etwa der Alternativitätsvorbehalt bestätigt. N u n stellen w i r uns vor, i m gleichen Haus wie Heinz wohne eine weitere Person, Paula, die mit den drei bereits Genannten nicht persönlich bekannt ist und demgemäß nicht über die zitierte Ausgangslage informiert ist. Durch ihr Fenster kann sie jedoch beobachten, daß regelmäßig alle 14 Tage derselbe M a n n in das Haus von Erich geht und es nach einigen Stunden wieder verläßt. U n d obgleich es in ihrem Fall zunächst anders scheinen mag — nämlich so, als stütze sich ihre Prognose nur auf eine äußerlich beobachtete Regelmäßigkeit — geht auch ihre Voraussage auf eine unterstellbare Gründeerwägung zurück, die sie etwa in der Form äußern würde: „Derjenige, der dort immer kommt, w i r d schon seine Gründe haben, warum er es immer tut". U n d ihre Neugier wird sich womöglich darauf richten, eben diese Gründe herauszufinden. Falls er einmal nicht kommt, w i r d denn auch ihre Frage sein: „ A u s welchem Grund ist er denn w o h l heute nicht gekommen?" Daß sie — weil sie nur äußerliche Regelmäßigkeiten beobachen kann — die Gründelage faktisch nicht kennt, ist kein Grund dafür, die Prognose auf die äußere Regelmäßigkeit zu stützen. Es geht auch hier vielmehr um die — anhand der Beobachtung der äußeren Regelmäßigkeiten — unterstellt e r e Gründelage. W i r leisten uns über diesen Sachverhalt in den meisten Fällen nur keine Rechenschaft. Hier gilt genau das, was Hempel von den vermeintlichen unbewußten Gesetzesunterstellungen der Historiker sagt: „they are tacitly taken for granted." 1 1 9 W e i l bei der vierten Prognosemöglichkeit vor allem auch die Geschichtswissenschaft mitwirken kann, sei sie „die geschichtswissenschaftliche Zukunftprognose" genannt. A u c h sie hat es m i t Regelmäßigkeiten zu tun, jedoch nicht mit institutionalisierten Regelmäßigkeiten. U m sie zustandezubringen, sind drei Schritte zurückzulegen. Der erste besteht i m Aufstellen eines „historisch-hermeneutischen Satzes", der zweite in dem eines „Wiederholungssatzes" und der dritte schließlich in dem eines „Vorbehaltssatzes". Es wird zu den Aufgaben der Geschichtswissenschaft gehören, zunächst den historisch-hermeneutischen Satz aufzustellen. E i n solcher Satz ist eine interpretierende Feststellung. Er lautet: „ I n einer historischen Situation der A r t Si folgte man einer Handlungsregel der A r t H j " . Das Interpretationsmoment liegt dabei in der Zuordnung einer Handlungsregel (u. U. per Extrapolation) zu der fraglichen 119 Hempel, The function . . ., S. 349.

I. Vernunft und Geschichtlichkeit

73

historischen Situation. Wenn als Si die Einführung des Diätenwesens in der radikalen Demokratie Athens zum Zwecke der Befreiung der Abgeordneten von materiellen Abhängigkeiten fungiert, so könnte H i darin liegen, daß viele Menschen die Möglichkeit, Diäten zu erhalten, allererst zum Grund dafür nahmen, sich um ein Mandat zu bemühen. Der Wiederholungssatz

könnte dann i m Aufweis gleichen oder ähnlichen Han-

delns in gleichen oder ähnlichen historischen Situationen bestehen, also etwa bei Einführung des Diätenwesens in mittelalterlichen oder neuzeitlichen Beratungsgremien in verschiedenen Ländern oder Völkern. Ein günstiger Fall wäre hier das Aufzeigen eines Kontinuitätsstranges v o m ersten Auftreten an bis zur Gegenwart. Natürlich liefern Institutionen für diese Methode ein besonders reiches Beispielfeld. Es geht dann jedoch nicht um die Institutionen selbst, sondern u m die durch sie mitkonstituierten Situationen und darum, nach welchen Handlungsregeln Menschen in solchen Situationen gehandelt haben. Daß es nicht auf das Institutionelle ankommt, w i r d auch dadurch klar, daß Situationen, die — ohne daß von Institutionalisierung geredet werden könnte — sich quasi per Zufall in der Geschichte noch ein oder mehrmals wiederholen, ebenso zur Grundlage von Wiederholungssätzen gemacht werden können. I m Vorbehaltssatz nun werden die Vorbehalte angeführt, die möglicherweise den Verläßlichkeitsstatus der dann zu erstellenden Prognose beeinträchtigen könnten. ( W i r symbolisieren sie mit „ V i . . . V n " . ) Ζ. B. könnte es sein, daß seit den Zeitpunkten, für die der historisch-hermeneutische Satz oder der Wiederholungssatz gelten, neue Erkenntnisse erarbeitet worden sind, die Gründe für die Veränderung der damals befolgten Handlungsregel abgeben; es kann eine gründerelevante Veränderung durch Widerfarnisse wie Angriffskriege, Naturkatastrophen u. a. gegeben haben usw. Dies i m einzelnen zu untersuchen, ist Aufgabe einer faktenfeststellenden Wissenschaft, gegebenenfalls ζ. B. auch der Geschichtswissenschaft. Nachdem die drei Schritte gemacht sind, kann nun die Prognose erreicht werden. Dieser Vorgang ließe sich etwa so formulieren: Wenn in einer historischen Situation der A r t Si nach der Handlungsregel H i gehandelt wurde und sich dies in weiteren historischen Situationen S i . . . S n so oder ähnlich wiederholte, dann liegt es — unter Berücksichtigung der präzisierten Vorbehalte V ] . . . V n — näher, anzunehmen, daß auch in der gegenwärtig gegebenen oder erwarteten Situation St wiederum nach H { o. ä. gehandelt w i r d als gänzlich anders. Es gehört also zur Ausgangssituation der Prognoseermittlung, daß die historische Situation S t gegenwärtig ebenfalls gegeben ist bzw. daß sie in absehbarer Zeit eintreten wird und man sich darauf vorbereiten möchte. Häufig w i r d das gerade dann der Fall sein, wenn man darüber berät, ob man selbst Si herstellen w i l l und zur Entscheidungserleichterung einiges über in Betracht zu ziehende Konsequenzen (hier H O in Erfahrung bringen möchte.

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft Diese Methode w i r d ihre Verwendung vor allem auch dort finden können, wo

bereits extrapolierende Reflexionen (i. S. des zweiten Prognose Verfahrens) angestellt werden. I m Falle der Extrapolation kann von hierher durch Verweis auf historisches Vorkommen möglicherweise zur Stützung bestimmter Annahmen und zur Schwächung anderer beigetragen werden. Eine Stützung etwa w i r d dann um so mehr Gewicht haben, wenn sie auf eine möglichst lange Kette von Wiederholungen verweisen kann. Die Grundlage dieses Verfahrens ist hi stori sch-hermeneuti scher Natur. Da sie historisch

ist und von historisch festliegender Faktizität auszugehen hat, entzieht

sie sich der Wildwüchsigkeit des kritisch-rationalistischen Modellpluralismus. U n d da sie hermeneutisch

ist, verwehrt sie sich der Vereinnahmung durch die

naturwissenschaftliche Methodik i. S. der kritisch-rationalistischen Einheitsthese und behauptet ihren eigenen autonomen Platz. Natürlich macht die Geschichtswissenschaft, auch wenn sie sich ums Verstehen von Gründen bemüht, ganz unvermeidbarerweise Gebrauch von Kenntnissen über die Naturgesetze, und zwar sowohl methodisch-technisch gesehen wie auch inhaltlich. Methodisch-technisch etwa beim Lesbarmachen alter Schriftzüge mittels chemischer Verfahren und inhaltlich z. B. wenn gesagt wird, ein Krieg sei von Partei A gewonnen worden, da diese über Eisenwaffen verfügt habe, Β hingegen nur über Bronzewaffen, denn Eisen sei härter als Bronze usf. Es geht der Geschichtswissenschaft jedoch nicht um diese Naturgesetze. Sie macht nur Gebrauch von ihnen, denn sie geben sozusagen den Rahmen ab, in dem sich das geschichtsbildende Handeln abspielt — welches nicht nach Naturgesetzen verläuft, wohl aber seine Grenzen an ihnen findet. U m auf ein Beispiel Poppers zurückzukommen: 1 2 0 Die Frage, die die Geschichtswissenschaft zum Tode G. Brunos stellt, ist eben nicht: „Weshalb verbrannte G. Bruno?", sondern: „ W a r u m wurde G. Bruno verbrannt?" Es w i r d nach den spezifischen Gründen gefragt und nicht nach bei den bei Feuer regelmäßig wiederkehrenden Ursache-Folge Zusammenhängen. Er wurde verbrannt, weil das bestimmte Leute aus bestimmten Gründen so wollten. Das ist es, was uns unter historischem Aspekt interessiert. M i t der Gesetzesproblematik hängt auch die vieldiskutierte Frage nach Allgemeinheit und Individualität zusammen. Der i m Gefolge der Geschichtsphilosophie entstandene Relativismus hat das uralte, bereits bei Aristoteles 1 2 1 zu findende Mißtrauen i n die Wissenschaftlichkeit der Historie auf die Spitze getrieben. Das Allgemeine löste sich auf und trieb schließlich zur Flucht in die naturwissenschaftliche Methodologie, in der eben dies sicher vorfindbar schien. Die Geschichte habe es nur mit dem Individuellen zu tun, so lautet der Einwand, und sei deshalb unwissenschaftlich. Die Geschichtsphilosophie antwortet darauf, 120 Vgl. Popper, Elend . . ., S. 114. 121 Vgl. Friedrich Kambartel, Erfahrung und Struktur, Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und Formalismus, Frankfurt / Main 1968, Kap. 2 II, bes. S. 63 f.

I. Vernunft und Geschichtlichkeit

75

daß (gerade und nur) i m historischen Einzelnen sich das (göttliche) Allgemeine manifestiere und daß die Geschichte eben deshalb die eigentlich relevante Wissenschaft sei. Dabei geht sie — richtig verstanden — von einem letzten Endes zutreffenden Sachverhalt aus. Indem nämlich die Menschen in ihrer individuellen historischen Situation nach den spezifischen Gründen handeln, die ihnen gerade einsichtig oder undurchschautermaßen auf Grund tradierter Kulturleistung sozusagen zur zweiten Natur geworden sind, indem sie das tun, stellen sie sich unter ein allgemeines Prinzip, unter dem alle Menschen formaliter gleich behandelt werden können. Denn alle Menschen können als potentiell nach Gründen handelnde Wesen betrachtet und verstanden werden. So konstituiert sich i m historischen Individuellen sowohl das Allgemeine, wie das Allgemeine sich jeweils nur i m Individuellen konkretisieren kann. Weder besteht also das Allgemeine in den allgemeingültigen Naturgesetzen — denn dabei verliert das Individuelle seinen Wert und ist nur noch Bestätigung des stets Gleichen, das sich keiner Innovation öffnen kann; noch besteht es i m Individuellen, denn dann geht das Allgemeine selbst verloren und bringt sich um seinen Wert, da eine solche Ineinssetzung nur spekulativ-mythisch gelingt. 4. Transzendentalpragmatik und nichtdogmatischen

— Hinweise zu einer nichtrelativistischen Versöhnung von Pragmatik und Genetik

Nachdem Gott, Natur, Geschichte und Irrtum als Sinninstanzen relativiert resp. widerlegt sind — woher sollen w i r nun noch hoffen, zuverlässige Orientierungen für unser Leben beziehen zu können? Ich sympathisiere hier mit einem Antwortansatz, der i n den vergangenen Jahren u. a. von den sog. Konstruktivisten der „Erlanger S c h u l e " 1 2 2 und zuletzt in der systematisch besonders ausgearbeiteten Form der Transzendentalpragmatik K . O. A p e l s 1 2 3 in die Diskussion gebracht wurde. V o n älteren Traditionen einmal abgesehen, erhielt dieser Ansatz wichtige Impulse von der Frankfurter Schule, da u. a. von J. Habermas, dessen Begriff der „unverzerrten Kommunikationssituation" i m konstruktivistischen resp. transzendentalpragmatischen System eine zentrale Stelle einnimmt: wenn die unmanipulierte, dialogisch-kritische (nicht bloß faktische) Einigung aller Beteiligten das Kriterium für Verläßlichkeit ist, dann liegt es nahe, daß eine Theorie nötig wird, die sich, wie die Habermas'sehe, mit den Möglichkeiten und Grenzen des Herstellens (möglichst gesamtgesellschaftlicher) unverzerrter Redesituationen befaßt. Habermas scheint in diesem Zusammenhang i m übrigen den marxistischen Standpunkt, insofern er geschichtsphilosophisch bestimmt ist, zu verlassen und sich einem autonom-ethischen zuzuwenden. A u c h das Marx'sehe Z i e l war j a die klassenlose und damit von Herrschaft und Zwängen freie Gesellschaft, in der 122

Vgl. z. B. Kamiah/Lorenzen, Logische Propädeutik, Mannheim 1967; Lorenzen/ Schwemmer, Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie, Mannheim 1967. ι 2 3 Vgl. ζ. Β. K. O. Apel, Diskurs und Verantwortung, Frankfurt / Main 1988.

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

dann alle Beteiligten idealiter unmanipulierterweise miteinander hätten kommunizieren können. Nur sah Marx dies als Ergebnis einer historischen Entwicklung und diese Entwicklung war es, die der Träger der Wahrheit war; sie würde die zukünftige Gesellschaft aus sich heraus gebären. Indem Habermas die Dialogtheorie auch epistemologisch wendet, setzt er sie an die Stelle der Geschichte. Nicht mehr die Geschichte bietet die verläßlichen Orientierungen (ζ. B. hin auf einen unverzerrten allgemeinen Dialog in klassenloser Gesellschaft), sondern der systematische Dialog. Es ist hier nicht der Ort, die inneren Zusammenhänge zwischen Konstruktivismus resp. Transzendentalpragmatik und den übrigen oben kurz geschilderten Antworten auf die Fundamentalfrage zu erörtern oder die Folgen und Probleme, die die konstruktivistische Theorie m i t sich bringt. (Eines der schwerwiegendsten davon ist übigens das sogenannte Antezipationsproblem: da die zwanglose Zustimmung aller Betroffenen oft faktisch nicht erreicht werden kann, muß sie als rational einholbar unterstellt werden. Hierfür werden Vorschläge zur Vorhersagemöglichkeiten, wie w i r sie gemacht haben, nicht ohne Belang sein.) Nur auf zwei Aspekte der konstruktivistischen Philosophie und der Transzendentalpragmatik sei hingewiesen, die für die traditionelle Theorie der Geschichte besonderes relevant sind. Der konstruktivistisch-transzendentalpragmatische Ansatz ist in dem Sinne antipositivistisch, als für ihn praktische Sätze genauso zum Gegenstand konstruktiver Dialoge gehören, wie theoretische; beide stehen für ihn sogar in einem unlösbaren Zusammenhang. 1 2 4 I m folgenden möchte ich zur Erläuterung exkursartig einige der Probleme thematisieren, die in Bezug auf das Verhältnis von theoretischen und praktischen Sätzen i m Kontext konstruktivistischer Philosophie relevant werden. H. J. Schneider hat sich in seiner Arbeit „Der theoretische und der praktische Begründungsbegriff' 1 2 5 kritisch m i t ihrer Funktion i m Rahmen der konstruktivistischen „Letztbegründungsbemühungen" auseinandergesetzt. Ich möchte diese K r i t i k hier darstellen und meinerseits selbst kritisieren. A m Begründungsbegriff läßt sich in der Tat die Kernauseinandersetzung u m Möglichkeit und Methodik einer das bisher vorherrschende szientistische (kritisch-rationalistische) Wissenschaftsverständnis überwindenden praktischen Philosophie festmachen. Sollte es dem Konstruktivismus gelingen (oder gelungen sein), einen praktischen Begründungsbegriff methodisch gesichert einzuführen, so beträfe dies das Zentrum der gesamten Wissenschaftstheoriedebatte der letzten Jahrzehnte. Der von der Kritischen Theorie erhobene V o r w u r f der „Halbierung

1 24 Vgl. auch die diesbezügl. Überlegungen unter I. 3. 125 In: F. Kambartel (Hrsg.), Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt / Main 1974.

I. Vernunft und Geschichtlichkeit

77

der Vernunft" könne von der Basis eines ausgearbeiteten Alternativentwurfs zum überkommenen „halbierten" Verständnis aus nun allererst eine kritische Kraft entfalten, die zugleich auch aporieüberwindende Orientierungen methodisch aufzuzeigen vermöchte. Ich beziehe mich in meiner K r i t i k des Schneiderschen Aufsatzes vor allem auf eine von Schneider m. E. nicht bedachte Gemeinsamkeit von theoretischem und praktischem Satz i m Elementarfall: die des handlungsanweisenden Charakters beider. V o n hierher stellt sich das Begründungsproblem, wie deutlich wird, in einem anderen als dem Schneiderschen Licht: Die Anerkennung der Begründbarkeit theoretischer Sätze impliziert dann die Anerkennung der Begründbarkeit praktischer Sätze. — Vorangestellt sind zwei Kurzüberlegungen wortstrategischer Art, die i m Zusammenhang einer Sprachphilosophie legitim sein mögen, der j a nicht zuletzt auch an der Vermeidung von Mißverstehensmöglichkeiten und am adäquaten Anschluß an überkommene Wortgebräuche gelegen ist. Statt von „konstruktiver Wissenschaftstheorie" zu reden, wie das in der „Erlanger Schule" des „Konstruktivismus" üblich geworden ist (vgl. auch den Titel der Aufsatzsammlung, der die hier behandelte Arbeit entstammt), sollte man, meiner Ansicht nach, besser von „,konstruktivistischer Wissenschaftstheorie" sprechen. Dies außer aus Gründen der Sprachsymmetrie (Konstruktivismus — konstruktivistisch, konstruieren — konstruktiv) besonders, u m der durch den umgangssprachlichen Gebrauch (konstruktiv — destruktiv) nahegelegten wertenden Assoziationen vorzubeugen, die beim Laien oder Andersdenkenden allzu leicht die Meinung hervorrufen mag, es sollte eine Wissenschaftstheorie als konstruktiv ausgezeichnet werden, während die anderen, wenn schon nicht destruktiv, so doch immerhin eben nicht konstruktiv seien. Eine solche hier leicht unterstellte Vorabbewertung fände sich dann womöglich oft auch bei anschließender Lektüre der unter diesem Titel dargestellten Inhalte i m Nachhinein bestätigt und würde darüber hinaus für eine solche Bestätigung von vornherein besonders aufgeschlossen machen — w o m i t insgesamt ein eher destruktiver Beitrag zur intendierten Vermittlung

der „konstruktiven" Wissen-

schaftstheorie geleistet wäre. Dem Umstand, daß die konstruktivistische Wissenschaftstheorie bewußt oder unbewußt die Dichotomie von theoretischer und praktischer Begründung entweder nicht ausschließt oder oft sogar als unzutreffend unterstellt, entspricht nach Schneider die Zweideutigkeit des alltagssprachlichen Begründungsbegriffs, der sowohl das Begründen von Aussagen wie das Rechtfertigen von Handlungsweisen meint. Die konstruktivistische Wissenschaftstheorie mache sich diese Zweideutigkeit zunutze, um so quasi hinter dem Rücken eine Vereinheitlichung beider, nach Schneider strikt zu trennender Begründungsarten in den Verkehr zu bringen. Anders als Schneider bin ich der Meinung, daß, falls die konstruktivistische Wissenschaftstheorie das W o r t „begründen" in einem doppelten Sinn verwendet, sie dies jedenfalls nicht in völliger Übereinstimmung mit der Alltagssprache tut.

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

Bei Schneider steht der Satz: „ W e n n (seitens der konstruktivistischen Wissenschaftstheorie; Verf.) von einer begründeten Wissenschaft gesprochen wird, ist einerseits gemeint, daß sie nur begründete Behauptungen enthalten soll, zugleich ist aber gemeint, daß die Wissenschaft als Handlungsweise gerechtfertigt sein soll" (S. 212). Eben dieser Unterschied scheint mir umgangssprachlich durchaus andeutbar zu sein, und zwar durch die Verwendung des Wortpaares „begründend" — „begründet". Wenn gesagt wird, wissenschaftliches Tun sei immer auch begründendes Tun, dann ist damit nach meinem Verständnis des Umgangssprachgebrauchs der Weg offen zu weiteren Erläuterungen wie „Wissenschaft stellt nicht einfach bloß beliebige Behauptungen auf, sondern solche, die sie — in begründeter Weise — absichern kann", „Wissenschaft treiben, heißt zugleich behauptend und begründend vorgehen" o. ä. m. „Begründend" meint herkömmlich (auch) das Verfahren,

die Vorgehensweise. Das schließt dann keineswegs

notwendig das Verständnis ein, daß eine gegebene spezifische Wissenschaft darüber hinaus begründet ist. M a n mag ζ. B. sehr wohl wissen, daß man sich in begründender Rede über die Rückseite des Mondes äußern kann, behält sich aber dennoch vor, zu sagen, ein solches Unterfangen (nämlich eine Wissenschaft von der Rückseite des Mondes) sie nicht hinreichend begründet. „Begründet" meint herkömmlich (auch) den (moralischen) Status. Eine „begründete Wissenschaft" ist umgangssprachlich keineswegs notwendig gleichbedeutend mit einer „begründenden Wissenschaft". Daß auch „theoretische Sätze" (qua Redepraxis) dem Bereich der Praxis zuzuordnen sind, ist inzwischen zum Gemeinplatz geworden. Ich möchte, diesen Gedanken weiterentwickelnd, darauf hinweisen, daß auch „theoretische Sätze" (in einem gewissen elementaren Sinn) praktische Sätze sind; anders gesagt, daß auch „theoretische Sätze" Handlungsaufforderungen sind. Nehmen w i r als Beispiele die Sätze „Dies ist eine Rose" und „Dies ist Peter", durch die die Wörter „Rose" bzw. „Peter" eingeführt werden sollen. „Einführen" heißt dann nichts anderes, als daß vorgeschlagen w i r d (aufgefordert wird), diese Wörter fürderhin in entsprechendem Kontext so zu verwenden. Da Wortverwendungen allgemein zugestandenermaßen Redepraxis sind, geschieht hier mithin eine Aufforderung zu einer demnächst (bzw. i m Verlauf der Einführungsphase an Hand der Beispiele und Gegenbeispiele unmittelbar anschließend) stattzuhabenden Praxis. W i r können also sagen: Worteinführungen geschehen als Handlungsaufforderungen, oder: die „theoretischen Sätze" „Dies ist eine Rose" bzw. „Dies ist Peter" sind in Worteinführungssituationen als — nicht explizite — praktische Sätze zu verstehen. A u f eben diese Einführungssituation w i r d j a dann (so auch Schneider, S. 216) beim Bemühen um Verteidigung rekurriert und die komplexeren Formen „theoretischer Sätze" sind ihrerseits durch bestimmte, festgelegte Ableitungsregeln auf einfache „theoretische Sätze" und damit auf die betreffenden Einführungssituationen zurückzuführen. M e i n Vorschlag soll übrigens nicht darauf hinauslaufen, die Unterscheidng von theoretischen und praktischen Sätzen überhaupt aufzuheben: insofern die

I. Vernunft und Geschichtlichkeit

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Hauptbestimmung der Handlungsaufforderung, die mit dem „theoretischen Satz" „Dies ist eine Rose" gegeben wird, eine solche ist, die sich auf nicht aktuell praktisch relevante Situationen bezieht, sondern eben gerade auf solche, die in noch nicht absehbarer, nur theoretisch vorstellbarer Fortsetzung der BeispielGegenbeispiel-Reihe zukünftig praktisch relevant werden können, kann auch hier vom „theoretischen Charakter" dieser praktischen Sätze gesprochen werden. Andere Verständnisse des Wortes „theoretisch" seien ebenfalls unbenommen. Wollte man die „theoretischen Sätze" in die Form einer Maxime bringen, so könnte dies lauten: „ W e n n D u über den Gegenstand, auf den ich eben mit dem Wort,dies 4 ( X ) verwiesen habe, noch einmal mit m i r reden möchtest, so verwende dafür das W o r t . . . (P) (und ich werde D i c h verstehen)". Ebenso wie bei anderen, nicht auf die Normierung von Redepraxis bezogenen praktischen Sätzen ist auch das Aufstellen solcher

praktischer Sätze an der

Interesseneingebundenheit

menschlicher Existenz festzumachen. Schneider hingegen läßt die Orientierung an Interessen („Zwecken") nur für praktische Sätze i. e. S. gelten (S. 221 oben). Praktische Sätze der A r t „Nenne dies Rose!" bzw. „Nennen Sie mich ,Peter'!" sind allgemein festzumachen am Interesse an Verständigung überhaupt und insbesondere an einem i m jeweiligen konkreten Fall vorliegenden spezifischen Interesse an Verständigung über den betreffenden Gegenstandsbereich. Wenn der Herr in einem nicht näher beschriebenen Kontext zum Knecht sagt „Platte!", so kann dies sowohl ein praktischer Satz der A r t sein „Nenne dies ,Platte'!", wie auch, falls eine solche akzeptierte Aufforderung bereits vorausgegangen ist, eine Aufforderung der A r t „ B r i n g mir die Platte!" A u c h die Einführung von Worten kann (anders als Schneider meint; S. 218 oben) durchgesetzt werden und kann, ebenso wie die Durchsetzung sonstiger Handlungsanweisungen gute oder schlimme Konsequenzen haben (ζ. B. Sprachverwirrung). Richtig ist der Schneidersche Hinweis, daß i m Fall der „praktischen Sätze" (i. S. des Schneider-Aufsatzes) von den durch die Sprachhandlungsanweisungen (die „theoretischen Sätze") erstellten faktischen Kommunikationsmöglichkeiten Gebrauch gemacht wird, daß diese also jenen vorhergehen, daß man mithin auf die dort bereits zustandegebrachten Leistungen, die unser späteres Sprechhandeln regeln soll, rekurrieren kann und muß. Daraus läßt sich jedoch nicht eine Verschiedenartigkeit der Begründungen ableiten. Es handelt sich hier vielmehr um ein Primär-Sekundär-Verhältnis, das methodisch irrelevant ist, da auch i m Primärfall (dem Fall der „theoretischen Sätze") die Begründungsabsicht auf die Begründung einer Maxime (die zur Sprachnormierung dient) bzw. auf deren „Rechtfertigung" an Hand bestimmter Interessen verwiesen ist. Wenn es nun, um zum Schluß zu kommen, richtig ist, daß „theoretische Sätze" in diesem Sinn praktische Sätze sind und ebenso wie diese aus Interessenzusammenhängen heraus verstehbar sind, dann ist der m. E. richtige Hinweis darauf, daß „zunächst ein für Handlungsanweisungen und Zwecksetzungen" geltender „Verteidigungsbegriff' eingeführt werden muß (S. 217), ein Argument dafür,

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

daß die betreffende Problematik für beide von Schneider unterschiedenen Bereiche („theoretische" und „praktische Sätze") gleichermaßen gilt. Und wenn ein entsprechender Verteidigungsbegriff für den „praktischen Bereich" nicht bereitstehen sollte, wie Schneider meint (S. 217 unten) — ob zu Recht oder zu Unrecht, soll hier nicht Thema sein — , so steht er auch und erst recht nicht für den „theoretischen" bereit. Rudolf Haller schreibt über Wittgenstein's Bedeutungslehre: „Es ist eine Bedeutungslehre, die deutlich macht, daß Sprechen eine Grundform Handelns

menschlichen

ist und demzufolge die Formen des Lebens nicht weniger wichtig für

das Verständnis des Sinnes sprachlicher Ausdrücke sind als die grammatischen Regeln". (Wittgensteins Bedeutung für die Philosophie unserer Zeit, in: Information Philosophie, Reinach, Schweiz, Dezember 1989.) Sprechen als Grundform menschlichen Handelns zu begreifen, könnte, konstruktivistisch gewendet, bedeuten, theoretische Sätze auch in ihrer Eigenart als praktische Sätze wahrzunehmen, inklusive ihrer methodischen Konstruktions- und Verteidigungsmöglichkeiten. Für unser Thema ebenso interessant ist womöglich ein anderer Aspekt, nämlich der, daß Konstruktivismus und Transzendentalpragmatik die leidige Kontroverse zwischen Pragmatismus und Genetik obsolet machen. Ausgehend von der M ö g lichkeit formaler Gleichbehandlung aller Menschen qua potentiell begründet handelnder Wesen, kann von dieser Warte aus in einer den traditionellen Pragmatismus partiell rekonstruierender Absicht gefragt werden, warum die Menschen in der Vergangenheit nicht auch Argumentationen zustandegebracht haben sollen, deren Ergebnisse nicht nur damals, sondern noch heute Verläßlichkeit beanspruchen können; warum w i r also heute nicht auch auf so zustandegekommene historische Vernunft rekurrieren können. Ist dies möglich, so w i r d die Geschichte zu einem Repertoire an bereits geleisteter Arbeit, deren Produkte w i r uns zunutze machen können. Eine so begriffene Geschichte ist nur äußerlich identisch mit der des traditionellen Pragmatismus, da dieser von der Immergültigkeit seiner Exempel ausging, was Konstruktivismus und Transzendentalpragmatik nicht tun: sie sind offen für die Einsicht in die Wandelbarkeit des Vernünftigkeitsgrades einmal getroffener Entscheidungen (ζ. B. können durch Erkenntnisfortschritte neue Gründe relevant werden, Irrtümer werden entdeckt, die Situationen ändern sich usw.). Das so begriffene pragmatische Verfahren bedarf also der Prüfung i m Einzelfall und kann nicht typologisch-pauschal angewendet werden. Ich würde deshalb vorschlagen, zugleich präzisierend und abhebend, von „post-exemplarischem Pragmatismus" zu reden. Warum, so kann weiter i m Hinblick auf die Genetik gefragt werden, sollen w i r nicht eine Analyse der historischen Entwicklung zur Grundlage unserer Situationsbestimmung machen, damit wir praktische Vorschläge so formulieren können, daß sie sich diese Entwicklung womöglich zunutze machen und jedenfalls nicht aussichtslos ,gegen den Strom 4 gerichtet sind? I n der Tat besteht j a die

I. Vernunft und Geschichtlichkeit

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Geschichte nicht aus einer langen Kette geplanter Handlungen. Oft sind nicht einmal Einzelhandlungen geplant. So kommen durch ungeplantes und deshalb zunächst unorganisiertes Zusammenwirken Situationen zustande, die niemand gewollt hat, auf die sich aber nun tunlichst alle in ihrem (ggf. wieder nur individuellen) Handeln einstellen usf. A u f diese Weise entsteht eine Kette von zusammenhängenden Situationen, die als „ E n t w i c k l u n g " oder „Tendenz" bezeichnet werden kann. Wichtig ist, daß w i r diese historischen Tendenzen nicht als autonom ansehen, sie nicht als selbständige Träger orientierungsliefernder Wahrheit begreifen. Wiederum präzisierend und abhebend können w i r deshalb in diesem Fall von „post-geschichtsphilosophischer Genetik" reden. Soweit zu zwei Möglichkeiten des Umgangs m i t Geschichte, die mit der Überwindung der falschen Alternative von Genetik und Pragmatismus offenstehen. 5. Exkurs: Ein Fall von Geschichtslosigkeit? Anmerkungen zum Problem weiblicher Identität I m folgenden möchte ich, i. S. einer konkretisierenden Abrundung des ersten Kapitels der Arbeit, versuchen, Verbindungslinien aufzuzeigen zwischen den vorangegangenen Überlegungen zum Verhältnis von praktischer Vernunft und Geschichte und dem Gegenwartsproblem weiblicher Identitätsfindung. I m Mittelpunkt soll dabei die Frage nach der Möglichkeit weiblicher Identitätskonstitution in einem geschichtsfreien Raum stehen — so wie von feministischer Seite unter Verweis auf die bislang lediglich männlich geprägte Geschichte postuliert wird. Die Rolle der Frau in der traditionellen Gesellschaft wird von Feministinnen oft kritisch als die einer A r t „Sisyphus ohne Pathos" beschrieben: sie tue stets das Gleiche, sich alltäglich Wiederholende, nicht über sich selbst Hinausgehende, Sinnlose. I n ihrer Sisyphusarbeit sei sie nicht Held, sondern Opfer, daher: ohne Pathos. Aus Mangel an eigener Geschichte und aus Mangel an Distanzierungsmöglichkeit v o m Alltag könne ihr keine identitätsstiftende Reflexionsanstrengung gelingen. So etwa auch nachzulesen bei der Baseler Philosophin Weißhaupt, 1 2 6 deren Argumentation ich hier als Bezugspunkt nehmen möchte. Der Ausweg aus dieser Situation liege in einer „anteilmäßig gerechten, demokratischen Mitbeteiligung der condition féminine am gesamtgesellschaftlichen Leben", wodurch die „condition humaine insgesamt von Grund auf verändert" würde und damit allererst die aus der Sicht der Frau „unumgängliche Voraussetzung für die Erreichung des aufklärerischen Ziels der Selbstbestimmung" geschaffen würde (S. 193). Geschlechtervariierende Job-Rotation und Zulassung der Frau zu „allen Möglichkeiten des Lebens" seien geeignete Mittel, einen weibli12 6 In: Studia Philosophica 40, Bern; Symposium der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft, 1981.

6 Hesse

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

chen Bewußtwerdungs-, Reflexions- und Anerkennungsprozeß einzuleiten, der schließlich in der Ausbildung einer nicht männlich domestizierten weiblichen Identität enden könne (s. ibid.). Ich möchte zu diesen hier ansatzweise skizzierten Gedanken von Fau Weißhaupt einige Anmerkungen machen, aus denen ersichtlich werden soll, in welche Richtung weitergedacht werden müßte, um die mehr oder weniger stillschweigend mitgeführten begrifflich-systematischen Voraussetzungen etwas deutlicher abzuklären bzw. diese zu problematisieren. Der Angelpunkt ihrer Argumentation ist sicherlich der Begriff der weiblichen Identität. Er impliziert den Begriff der Identität resp. der menschlichen Identität überhaupt, wovon die weibliche wiederum ein Sonderfall wäre. Ich denke, niemand w i r d der Behauptung widersprechen, daß schon die Frage, was denn die eigentliche Identität des Menschen allgemein

sei, bisher alles andere als philo-

sophisch konsensfähig beantwortet ist. Dies gilt, historisch gesehen, auch für die Zeit vor der durch Rousseau markierten spezifischen Identitätskrise der Moderne m i t dem ihr eigenen Entfremdungsbewußtsein. Hier wird deutlich, um wieviel schwieriger eine abschließende Antwort auf die Teilfrage nach der besonderen weiblichen Identität sein muß. Auch wenn die Unterstellung stimmte, die Vernunft sei „die letzte Bastion, die die Männer werden halten wollen" (S. 189), so würde es gleichwohl selbst denen, die dies vielleicht doch nicht wollen, schwerfallen, eine bündige Antwort auf die gestellte Frage bereitzuhalten. Ich möchte nun in Anlehnung an Frau Weißhaupt einige der Schwierigkeiten, die sich hier ergeben, beschreiben. „Geschichtlichkeit", „ S i n n " und „ A r b e i t " sind die Stichworte, um die es dabei geht. 1. Geschichtlichkeit: Die bisherige Geschichte wurde nach feministischer Auffassung von den Männern gemacht. Auch Frau Weißhaupt teilt offensichtlich diese Meinung: Die Frauen hätten keine „Bildungsgeschichte" (S. 184), die Vernunft sei eine männliche Hervorbringung, sie werde von den Männern als Instrument zur Domestizierung der Frauen eingesetzt. A u c h der europäische Liebesbegriff und die Sprache seien von Männern geschaffen und würden für männliche Zwecke instrumentalisiert. Liebesbegriff und Sprachkultur seien „männlich": Frauen hätten hieran historisch nicht mitgewirkt. Die Frau wird demnach als bloßes Objekt der von Männern gemachten Geschichte verstanden. Sie selbst ist in diesem Sinne geschichtslos. Die Summe der in der Lebensgeschichte des Menschen enthaltenen Handlungen ergibt ein Gesamtbild von dessen Persönlichkeit, erlaubt seine Identifikation. Bewirbt man sich um eine Stelle, so sendet man gewöhnlich auch einen Lebenslauf ein. M a n beschreibt darin, was man i m Laufe seines Lebens gemacht hat. A u c h Widerfahrnisse mögen darin vorkommen, sind aber für den Adressaten kaum als solche interessant, sondern primär unter der Frage: W i e hat der sich vorstellende Bewerber darauf (handelnd) reagiert? Nun „bewerben sich", um i m B i l d zu bleiben, die Frauen um demokratische Teilnahme am gesellschaftlichen,

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kulturellen und politischen Gemeinschaftsleben. Hätten sie als Geschlechtsgruppe insgesamt in der Tat eine A r t schriftliche Bewerbung einzusenden, so müßte ihr Lebenslauf nach Frau Weißhaupt leer bleiben. Die Frage wäre also: W i e können die Frauen jemals herausfinden, was ihre eigentliche Identität ist, da doch ihre ganze bisherige Persönlichkeitsbildung von Männern bestimmt wurde? Frau Weißhaupt selbst verzichtet auf den bequemen Ausweg zur „weiblichen Natur": A u c h was die vermeintliche weibliche „Natur" der Frau sei, sei historisch (durch Männer) festgelegt und in einen historisch gewachsenen Rollenkodex eingeschrieben. Dem Reiz des zweiten, in Fortschritts- und Emanzipationsdebatten häufigen Auswegs kann sie sich allerdings nicht entziehen, nämlich dem der Hoffnung auf „die Verhältnisse". Die allgemeinen Verhältnisse, die „condition humaine" werde sich von Grund auf ändern, wenn die „condition féminine" ins gesamtgesellschaftliche Leben aufgenommen sei; und danach sei dann auf dialektische Weise die eigentliche, freie, weibliche Identitätsbildung möglich. — Hier bleibt aber die Frage unbeantwortet, wer denn zunächst die „condition féminine" definiert, und zwar ahistorisch und anatural, und, wenn das möglich wäre, wer sie wie in die „condition humaine" aufnimmt bzw. von außen in sie hineinträgt. Dazu bedürfte es jedenfalls entsprechender Menschen. Woher aber sollen die kommen, wenn die Verhältnisse nun einmal nicht dazu geeignet sind, sie hervorzubringen und ihnen die nötige Durchsetzungschance zu geben? M i t anderen Worten: es stellt sich die alte Frage: Müssen erst die Verhältnisse geändert werden, um einen neuen T y p Mensch entstehen zu lassen oder ist nicht die Entstehung des neuen Typs Mensch Voraussetzung für die Veränderung der Verhältnisse? Die Hegeische Dialektik, die Frau Weißhaupt hier ins Spiel bringt, ist bei ihr nur auf den inneren Dialog der Frau bezogen. Das hilft so nicht weiter, da dann just die (sozialen, ökonomischen, politischen) „Verhältnisse" außer Betracht bleiben. Hier überhaupt Hoffnung in eine Dialektik der Entwicklung investieren zu können, hieße, sich einzugestehen, daß a) die äußeren, objektiven Verhältnisse ganz so schlimm nicht sind und daß b) es um die innere, subjektive Situation der Frau, d. h. um ihre Fähigkeit, als handelndes Subjekt aufzutreten, ebenfalls ganz so betrüblich nicht bestellt ist. M i t anderen Worten: daß in beiden Feldern immerhin doch wenigstens Chancen und Ansätze zur Identitätsbildung historisch vorgegeben sind. V o n nichts kommt nichts; auch nicht dialektisch. Es muß immer schon irgendetwas Positives vorausgesetzt werden, aus dem heraus sich durch Widerspruch etc. weiteres entwickeln kann. M a n müßte den puristischen Standpunkt aufgeben, die bisherige Geschichte sei männliche Geschichte und sich zu einem etwas durchwachseneren, widersprüchlicheren, komplizierteren B i l d bereitfinden. Dazu möchte ich weiter unten einige Anmerkungen machen, die m. E. dem Gedanken weiblicher Emanzipation mehr Realisierungschancen einräumen als es Frau Weißhaupts Konzept tun kann. *

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft 2. Sinn: Die weibliche Alltagswirklichkeit ist für Frau Weißhaupt sinnentleert,

weil sie sich stets gleichförmig wiederholt. Sinn liege allein i m dauerhaften Beitrag zu der sich (auf ein vernünftiges Z i e l hin) entwickelnden geschichtlichen Wirklichkeit. Dies aber sei nur in der Arbeit des Mannes gegeben. Hier wird ein geschichtsphilosophisch, d. h. hegelianisch bestimmtes Sinnverständnis deutlich. Dem „Über sich selbst Hinausgehen" entspricht fast wörtlich die „epidosis eis auto", die der Hegelschüler Droysen in seiner „ H i s t o r i k " immer wieder zentral thematisiert. Ich möchte hierzu zwei kritische Anmerkungen machen. Die Hegeische Interpretation der Wirklichkeit als vernünftig und der Geschichte als eines Wirklichwerdens der Vernunft ist das vernunftzentrierte philosophische System par excellence. Hier w i r d die gemäß Frau Weißhaupt traditionell männliche Vernunft von dem Manne Hegel zum theodizeehaften Geschichtsprinzip überhaupt erhoben. Meine erste Frage ist: Sind nicht die Chancen gering, männliche Vernunft durch männliche (Hegeische) Vernunft zu überwinden; hieße das nicht, den Teufel, wenn er denn einer ist, mit dem Beelzebub, wenn er denn einer ist, auszutreiben? W i e läßt sich dies mit dem Konzept vereinbaren, wonach die Frau ihre eigene A r t von Identität möglicherweise jenseits jeder traditionellen „männlichen Vernunft" zu suchen habe? — U n d als zweite Anmerkung bzw. Frage: wie steht es denn überhaupt inhaltlich mit der Hegeischen Geschichtsmetaphysik? Können w i r tatsächlich noch daran glauben, daß die Geschichte einen vernünftigen Gang auf ein vernünftiges Ziel hin darstellt? Nicht erst die politische Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts läßt daran zweifeln. Bereits den geschichtswissenschaftlichen Adepten des Hegeischen Systems i m 19. Jahrhundert fiel es schwer, diesen Optimismus angesichts der Quellenlagen durchzuhalten. Die totale Selbstauflösung des geschichtsphilosophischen Systems i m relativistischen H i storismus war eine der Folgen solcher Schwierigkeiten. Wer kennt schon „Das Z i e l der Geschichte", wer weiß schon, ob es vernünftig, d. h. sinnstiftend, ist und wer ahnt schon, ob seine eigenen „dauernden" (Weißhaupt) Beiträge a) w i r k l i c h dauern und b) zur Erreichung des unterstellten Ziels tatsächlich beitragen? Diese kaum mehr geschichtsphilosophisch, sondern in ihren Konsequenzen eher w o h l nur ethisch angehbaren Schwierigkeiten bleiben bei Frau Weißhaupt zu sehr i m Hintergrund. Ihre Klage, daß die Frauen an diesem Geschichtsbild nicht mitmalen dürften, klingt deshalb etwas zu undifferenziert. — Damit zum dritten Stichwort: 3. Arbeit: M a n muß nicht Marxist sein, um zu bemerken, daß mindestens seit der Industrialisierung „arbeiten" keineswegs gleichbedeutend ist mit „dauerhafter, über sich selbst hinausgehender Teilhabe an einem sinnvollen Gesamtzusammenhang". I m Gegenteil: Partikularisierung, Serienhaftigkeit, mangelnde Transparenz, Entfremdung sind einige der Begriffe, unter denen mindestens die moderne Arbeitswelt diskutiert wird. Nach Marx ist gerade diese moderne Arbeitswelt der Ort, an dem sich Entfremdung vollzieht: Das Produkt der Arbeit, in dem sich der Arbeitende selbst realisieren könnte / sollte, habe sich mit der kapitalistischen Industrialisierung vergegenständlicht, sei dem Arbeitenden zum Objekt

I. Vernunft und Geschichtlichkeit

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geworden, habe sich i h m entfremdet. Damit habe der Arbeiter zugleich sich selbst entfremdet, indem nämlich das Produkt ein Stück seiner selbst sei, das ihm nun aber als Objekt entgegentrete und sich seiner Verfügung entziehe. Das sich stets Wiederholende

ist ebenso Charakteristikum der alltäglichen

Arbeitswelt des Mannes wie es Charakteristikum der alltäglichen Lebenswelt der Frau in Haushalt und Familie ist. Dem Vorteil der Einbindung des Mannes in größere soziale Zusammenhänge steht dabei die Austrocknung kommunikativer Kompetenzen in seiner in der Regel bereits vorprogrammierten, automatisierten alltäglichen Arbeitswelt neutralisierend gegenüber. Die Frau hat die Chance, dem Mangel an Einbindung in größere soziale Zusammenhänge durch Aufbau und Inganghalten kommunikativer Strukturen innerhalb ihres engeren Lebensbereiches tendenziell ein gewisses Gegengewicht entgegenzusetzen. Wenn Sinn nur i m Über-sich-selbst-Hinausgehen liegt, so findet die Frau hier einen Bereich, in dem sie, wenn sie w i l l , eben dies auf sehr naheliegende Weise tun kann. Es scheint m i r keineswegs vorderhand ausgemacht, daß ein Gespräch der Mutter mit einem trostsuchenden K n d weniger davon an sich habe als der Zusammenbau eines Automotors in der Fabrik des Mannes. Davon, daß in der heutigen sozialen Wirklichkeit sich die Tätigkeitsbereiche von M a n n und Frau ohnehin zunehmend vermischen, einmal ganz abgesehen. Und ob die millionenfache Autoproduktion „dauernder" ist als die millionenfache mühselige Persönlichkeitsbildung in der Erziehung jeder neuen Generation, ist eine weitere Frage, über die es sich sicher gesondert nachzudenken lohnt. Hinzu kommt: Die wachsende Unüberschaubarkeit und Unkontrollierbarkeit der immer komplexer und differenzierter werdenden sozialen Wirklichkeit der modernen Industriegesellschaften lassen die Institution Familie, so korrumpiert sie auch immer sein mag, als ein Residuum der vergleichsweisen Überschaubarkeit, der immerhin nicht v ö l l i g chancenlosen Kommunikation erscheinen. Die Frau, die hier ihren Halt hat, ist sicherlich weniger „haltlos" (S. 184) als mancher Mann, der vielleicht noch den Herrn und Meister spielen w i l l , wie es die Tradition zu erfordern scheint, der aber i m Grunde weder in der sozialen Wirklichkeit noch folglich i m privaten Bereich mehr tun kann, als an die zu Posen gewordenen überkommenen Attitüden einfach zu glauben, ohne ihnen noch einen substanziellen Sinn geben zu können. In der Arbeits weit des Mannes, auf die Frau Weißhaupt einige Hoffnungen setzt, aktualisiert sich also letztlich das Problematischwerden des Dauer-, Entfaltungs- und Fortschrittsbegriffs. Der Frage, ob es überhaupt einen philosophisch auszumachenden „ S i n n " gebe, schließt sich hier die weitere Frage an, ob es denn ausgerechnet die industrialisierte Arbeitswelt ist, die Zugang zu i h m verschafft. M a n kann w o h l Zweifel haben, daß sich die emanzipierte Identität der Frau aus ihrer Eingliederung in die Arbeitswelt ergeben wird. Daraus ergibt sich ihre Gleichstellung mit dem Mann. Angesichts der gegebenen Arbeits weit ist dies keineswegs gleichbedeutend mit Emanzipation.

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft Ich komme nun zu meiner Schlußbemerkung: Wenn die Identität der Frau

nicht ahistorisch und anatural definiert werden kann — wie dann? Meine Antwort ist: Historisch und natural. Zunächst zu „natural": Dies muß, wie weiter oben schon angedeutet, sehr vorsichtig verstanden werden, und das heißt vor allem: anti-naturalistisch. A l s naturalistisch möchte ich alle Definitionen weiblicher Identitätsaspekte bezeichnen, die a) vergessen, daß der Naturbegriff selbst ein Historikum ist und die b) aus klaren, natürlichen Gegebenheiten „zwingende" soziokulturelle Schlüsse ziehen. Beispiel: Daß nur die Frau Mutter sein kann, ist eine triviale naturale Gegebenheit. Naturalistische Fehlschlüsse hieraus wären etwa: Daß jede Frau Mutter werden soll / müsse, um sich verwirklichen zu können. Oder: Daß ihre Funktion als Mutter zugleich ihre Bestimmung als Dienerin, Dienstleistungen Erbringende deutlich mache. — Das Vermeiden der naturalistischen Auffassung impliziert, wie man sieht, keineswegs die Ausklammerung naturaler Beschreibungen. Dies ist eine Banalität, die vielleicht manchmal vergessen wird. Die Frau ist ebenso auch ein natürliches Wesen wie der Mann. Die naturalen Identitätsbeschreibungen können nicht vollständig sein und sicher nicht den Kern der Identität treffen; gleichwohl sind sie ein legitimer Beitrag zu einer freilich über sie hinausgehenden Identitätsfindung. Deren eigentliche Schwierigkeiten liegen sicherlich auf historischem Gebiet, das soll heißen auf dem Gebiet des „Lebenslaufs". Hätten die Frauen w i r k l i c h keinen eigenen Lebenslauf oder Ansätze dazu, so wäre hier alles Bemühen ohnehin chancenlos. Geschichtlichkeit ist eine systematische conditio sine qua non der Identitätsfindung. Wenn die Frauen eine eigene Identität suchen und hätten doch keine Geschichte, so müßten sie sich eine erfinden; sie müßten an eine Geschichte glauben, die sie für die ihre halten. Meine These ist, daß sie jedoch — entgegen Frau Weißhaupt — in der angenehmen Lage sind, auf Fiktionen nicht angewiesen zu sein. Ich w i l l das an einigen Beispielen skizzenhaft erläutern. Vorab eine kurze Nebenbemerkung zum Mythos, der j a in seiner quasi-historiographischen Funktion auch de facto identitätsstiftend sein kann. Zwar stellt ζ. B. der jüdisch-christliche Mythos den Mann in Gestalt Gottvaters bzw. Adams an den Anfang der Welt bzw. der Geschichte. Aber es gibt auch andere kulturelle Traditionen, die an den Anfang eine Ur-Mutter, etwa die Mutter Erde, oder eine Fruchtbarkeitsgöttin stellen. Diesseits des Mythos, i m bereits historisch faßbaren Bereich, verweisen uns die Anthropologen auf die matriarchalische Verfassung vieler Frühgesellschaften. Matriarchat als offiziell etablierte Lebensform gibt es noch heute in mancherlei außereuropäischen Kulturkreisen. — Matriarchat als Frauenherrschaft wäre nun allerdings wohl gerade etwas, was den emanzipatorischen, auf Selbstbestimmung und nicht auf Subordination zielenden Ambitionen des Feminismus nicht entge-

I. Vernunft und Geschichtlichkeit

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genkäme. Mischformen i m Sinne wechselseitiger Teilhabe an der Prägung des gesellschaftlichen Lebens lägen dem schon näher. Ich möchte auch hierfür einige Stichworte nennen. Unsere heutige, provenzalisch-romantisch bestimmte Liebesvorstellung, die sich i m hohen Mittelalter unter Einfluß weiblicher „Liebeshöfe" gebildet hat, überläßt zwar dem Mann die aktive Rolle i. S. der Liebeswerbung, stellt jedoch der Frau die freie Entscheidung über Annahme oder Ablehnung der Werbung und damit, das kann kaum überbetont werden, über das Lebensglück des Werbenden anheim. Die Gewährung oder Verweigerung ihrer Liebe verschafft der Frau eine ebenso subtile wie kaum zu erschütternde Machtposition innerhalb der Beziehung der Geschlechter. Männliche Machtpositionen werden dadurch nicht aufgehoben, aber relativiert. Ein anderer Bereich ist der der Erziehung. Es ist i m wesentlichen zunächst die Mutter, die dem K i n d Zuwendung, Vertrauen, Hilfe, Liebe, Beachtung, Anerkennung zuteil werden läßt. Das so von der Mutter Erfahrene und Gelernte bildet den Grundstock jeder weiteren Persönlichkeitsentwicklung des Kindes. V o n der Mutter her kommen die ersten, grundlegenden Einweisungen in das Wert- und Normensystem. U n d es ist vorwiegend die Mutter, von der das K i n d die Sprache erlernt und sich damit zugleich den Bereich der Vernunft erschließt. Sicher ist es richtig, daraufhinzuweisen, daß die Mütter ihre Kinder j a geschlechtsspezifisch differenziert erziehen. Aber 1. ist das so unvernünftig nicht (Jungen werden ζ. B. mit Sicherheit später nicht Mütter werden und brauchen deshalb dafür nicht erzogen zu werden) und 2. ist das hinter diesem Hinweis auf die ungleiche Erziehung stehende Argument, es sei j a letztlich die gesellschaftliche Wirklichkeit und damit eigentlich der Mann, der die Kindererziehung bestimme, so schlicht nicht haltbar. Es erinnert vielmehr an die Frage, ob die Existenz der Henne für die Existenz des Eis Voraussetzung sei oder umgekehrt. Ebenso kann man nämlich fragen, ob die Erziehung durch die Mutter den Mann prägt oder ob der Mann die A r t der Erziehung durch die Mutter prägt. Ich glaube nicht, daß diese A r t der Fragestellung sehr weit führt. W i c h t i g scheint mir, festzuhalten, daß beides untrennbar miteinander verbunden ist und daß jedenfalls die Frau (als Mutter) hier eine erhebliche Rolle mitspielt. Auch die politische und sozioökonomische Rolle, die die Frau i m Laufe der Geschichte gespielt hat, darf hier nicht unerwähnt bleiben. Die Frau war größtenteils erbberechtigt wie der Mann. Sie konnte ihr Vermögen mit in die Ehe einbringen und es i m Fall der Trennung auch wieder mit herausnehmen. Viele Staaten kannten die weibliche Thronfolge. U n d wenn es um die Außenverhältnisse der Staaten zueinander ging, so war die Heiratspolitik ein legitimes, friedliches Mittel. In ihr waren die Anrechte der Frau auf bestimmte Herrschafts- und Besitztümer gleichberechtigtes Element. Sicher ist es nicht ganz unadäquat, darauf zu verweisen, daß auch unter den sog. Großen der Geschichte eine Reihe Frauen zu finden

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

sind: von Kleopatra über Elisabeth I von England, Zarin Katharina der Großen und Kaiserin Maria Theresia bis zu Indira Ghandi in unserer Zeit. A l l dies macht deutlich, daß die Frauen nicht geschichtslos sind und daß sie folglich ihre Identitätssuche keinswegs als hoffnungslos betrachten müssen. Sie können vielmehr durchaus versuchen, sie in Fortsetzung historischer Entwicklungen und in kritischer oder auch revolutionärer Abhebung von ihnen näher zu definieren und dieses so gewonnene Selbstverständnis in die gegenwärtige Diskussion, in der sie zu Recht um weitere Emanzipation kämpfen, mit einzubringen. N o r m und Geschichtlichkeit stehen also auch in der „Frauenfrage" nicht disparat zueinander. Die Geschichtlichkeit des Normativen und das Normative der Geschichtlichkeit sind vielmehr die beiden Pole, deren dialektische Spannung es produktiv — i. S. von Fortsetzung oder K r i t i k — in konkrete Praxis umzusetzen gilt.

I I . Gegen die Usurpierung der Vernunft durch das Genie Das Verhältnis von Geschichtlichkeit und N o r m war in vorgeschichtsphilosophischer Zeit zugunsten der N o r m entschieden, besser: es war als solches gar nicht existent. Nur von der Norm, nicht aber von deren Geschichtlichkeit gab es überhaupt einen Begriff. M i t Kant und der Geschichtsphilosophie entstand allererst der zweite Pol und das moderne Spannungsverhältnis zwischen beiden. Die Dynamisierung des Geschichtsbegriffs ist Folge und Ursache des Auseinandertretens von Sollen und Sein, von Norm und historischer Faktizität. Erst der autonome Mensch der kantischen Philosophie kann sich w i r k l i c h die Frage stellen: Was soll ich tun? Die Kehrseite seiner Freiheit ist seine Einsamkeit, existenzialphilosophisch geredet, sein Geworfensein. Die Einsamkeit aber kann letztlich nur überwunden, oder, vorsichtiger formuliert: beantwortet werden durch den Dialog. Dies systematisch darzutun, bemühen sich heute Transzendentalpragmatik und Konstruktivismus. I n gewissem Sinn bedeutet das eine Rückkehr zu Piaton und seinen Dialogen, allerdings zu einem soz. spekulativ entschlackten Piaton. U n d sie war nicht möglich, historisch gesehen, ohne einen ebenso lehrreichen (uns mit Erfahrungen anreichernden) wie kostspieligen Umweg: den über den geschichtsphilosophisch motivierten Geniekult. Die Dynamisierung der Geschichte in der Geschichtsphilosophie bedeutet zugleich eine Entstabilisierung des Normativen, das sich tendenziell ins Relativistische hinein verflüchtigte. Wenn es keine festen Normen mehr gibt, wer weist dann den Weg von einem Entwicklungsschritt zum andern, wer vermag zu sagen, was genau das Endziel der Geschichte ist und welche Elemente der Gegenwartssituation Zukunft haben? M i t anderen Worten: wer hört den Mantel Gottes durch die Geschichte rauschen?

II. Gegen die Usurpierung der Vernunft durch das Genie

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I m Spannungsfeld von Geschichtlichkeit und N o r m öffnete sich eine Leerstelle. Benötigt wurde eine Instanz der Überleitung, der Führung ins Neue. Das geistige und das gesellschaftliche Bedürfnis nach Anleitung der Einsamen, nach Aufhebung des Geworfenseins in Geborgenheit wollte befriedigt sein. Dies war die Geburtsstunde des modernen Geniekults, der Verehrung und Inkraftsetzung „ h i storischer Größe": historische

Größe weil sie um die Einordnung des geschichtli-

chen Moments in den Gesamtzusammenhang weiß und historische Größe, weil w i r Anderen, Normalen, Kleinen dies eben nicht wissen. Das moderne Genie steht genau auf der Nahtstelle, vielleicht sollte man sagen: auf der Bruchstelle von N o r m und Geschichtlichkeit. Die geniale Persönlichkeit verbindet — ästhetisch-anschaulich — beides, denn sie weiß, zu welchem Heil die Reise geht und welche Schritte nun an der Reihe sind. Dieses ihr Wissen ersetzt den pragmatischen Normenkatalog, der unbrauchbar geworden ist. Zugleich enthebt es uns der Not des dialogischen Suchens. Erst in A d o l f Hitler ist uns dieses Wissen u m die Vorsehung vollends auf den Hund gekommen. 1 I m folgenden möchte ich den Versuch machen, die Geschichte der Begründungen des so konsequenzenreichen Begriffs historischer Größe auf ihren Problemgehalt zu befragen, um so womöglich zu einem besseren Verständnis auch der geistesgeschichtlichen Ursprünge der Gefahren beizutragen, die mit diesem Konzept verbunden sind. Ineins w i r d hierbei die Problematik des Zustandekommens historischer Fakten 4 deutlich werden. Der Ausdruck „historische Größe 44 wird, sprachphilosophisch gesehen, üblicherweise i m Sinne einer, wie w i r sagen wollen, hermeneutisch-normativen, zweistelligen Prädikation verwendet. In schematischer Schreibweise lautet eine zweistellige Prädikation: x, y & Ρ; χ verhält sich zu y i m Sinne von P. Wenn zum Beispiel Ρ für „Bruder von 44 oder „jünger als 44 steht, lauten die betreffenden Elementarsätze: „ x ist Bruder von y 4 4 bzw. „ x ist jünger als y 4 4 . 2 Die Zweistelligkeit des Prädikators „historische Größe 44 konstituiert sich durch seinen hermeneutisch-normativen

Charakter: χ versteht y als historisch groß.

Umgangssprachlich könnte χ zum Beispiel sagen: „ I n meinen Augen ist y eine historisch große Person 44 . Wenn es etwa i m deutschen V o l k nach 1871 üblich war, Bismarck als großen Deutschen anzusehen, so steht χ hier für „das deutsche V o l k nach 1871 44 und y für „Bismarck 4 4 : für das deutsche V o l k nach 1871 ist Bismarck eine historisch große Persönlichkeit: x, y & P. Sowohl i m umgangssprachlichen wie auch i m wissenschaftssprachlichen Gebrauch w i r d allerdings die Zweistelligkeit des Prädikators (ebenso wie etwa die Zweistelligkeit sogenannter ästhetischer Prädikationen: schön, angenehm, nett ι Zur Bedeutung der nationalsozialistischen Lebenserfahrung als Motivation für die Entwicklung seiner transzendental-pragmatischen Dialogphilosophie vgl. Karl-Otto Apel, Diskurs und Verantwortung, Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt / Main 1988, S. 370 ff. 2 Vgl. W. Kamiah/P. Lorenzen, Logische Propädeutik, Mannheim 1967, I. Kapitel.

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

u. ä.) in der Regel unbeachtet gelassen. Ebenso wie fälschlich einstellig

von der

„Schönheit der M o n a Lisa" gesprochen wird, wird gleichermaßen fälschlich einstellig von „ K a r l dem Großen" oder „Friedrich dem Großen" gesprochen. I m Selbstverständnis der Epitheton-Geber mag seinerzeit jeweils noch klar gewesen sein, wer an der zweiten Stelle dieser Prädikation steht (in der Regel sie selber), und es ist auch einsichtig, daß aus sprachökonomischen Gründen einer Abbreviationsform der Vorzug vor der ausformulierten zweistelligen Ausdrucksweise gegeben wird — in dem Maße, in dem diese Gründe jedoch in Vergessenheit geraten, gewinnt das Mißverständnis die Oberhand, es sei „historische Größe" eine einstellige Prädikation, und eine Reflexion auf die hermeneutischen

Kriterien

des Zu- und Absprechens erübrige sich, man könne vielmehr (in positivistischer Naivität) „an der Sache selbst ablesen, was historische Größe sei". A u c h für den Fall, daß χ sein Verhältnis zu y historisch

nicht i m Sinne von

Ρ verstanden hat und dieses Verhältnis nun erst i m Nachhinein zum Beispiel durch Historiker konstruiert wird, gilt, daß auch diese ex-post-Prädikation nicht ohne hermeneutische Komponente auskommt, etwa i m Sinne der seinerzeit nicht zustandegekommenen und nun nachgeschobenen Einsicht: χ hätte sich zu y aus diesem oder jenem Grund als i m Verhältnis von normal zu groß befindlich verstehen sollen. Wenn J. Burckhardt sagt: „Unsern Ausgang nehmen w i r von unserm Knirpstum . . . Größe ist, was w i r nicht s i n d " 3 , so hebt er gerade auf die beschriebene Zweistelligkeit des Prädikators ab: Für uns ist jemand groß; man kann groß sein nur im Verhältnis zu . . . Das entspricht auch dem nichthermeneutisch-deskriptiven Alltagssprachgebrauch von „groß", nach dem etwa ein Gegenstand von wenigen Zentimetern Länge als „groß", ein anderer von mehreren Metern Länge jedoch als „nicht groß" bezeichnet wird, ein scheinbarer Widerspruch, der nur deshalb keiner ist, weil der Vergleich, an dem sich ein Verhältnis ablesen läßt, jeweils ein anderer ist; wie Burckhardt i m Anschluß an die eben zitierte Stelle dann fortfährt: „ D e m Käfer i m Grase kann schon eine Haselnusstaude (falls er davon Notiz nimmt) sehr groß erscheinen, weil er eben nur ein Käfer ist". Der Hinweis auf den sprachphilosophischen Status hermeneutisch bedingter Zweistelligkeit erhellt, warum, logisch gesehen, „historische Größe" immer auch wieder abgesprochen werden kann. Bei nichthermeneutischer Zweistelligkeit der Prädikation (ζ. B. bei „jünger als" oder „Bruder von") ist — regelgerechte Verwendung vorausgesetzt — eine solche Fluktuation des Zu- und Absprechens ausgeschlossen. Der logische Gegenstand

y kann sowohl eine Person (Otto der Große) wie

auch eine Institution (La Grande Armée, L a Grande Nation) oder ein Ereignis

3 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Fünftes Kapitel: Das Individuum und das Allgemeine, Die historische Größe, Stuttgart 1969, S. 209.

II. Gegen die Usurpierung der Vernunft durch das Genie

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sein (der Große Vaterländische Krieg der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland, die Große Französische Revolution). Der hermeneutische Charakter der Zweistelligkeit konstituiert sich nun seinerseits zugleich als ein normativ

bestimmter: indem x y als „historisch groß"

versteht, versteht x y als für ihn (x) normativ bedeutsam: y wird, in welcher Weise auch immer, von χ Einfluß auf die Normen zugestanden, nach denen χ lebt. W i e die hermeneutische Seite des Prädikators ihn potentiell rezeptionshistorisch relevant macht, so gewinnt er durch seine normative Seite zugleich auch praktisch-philosophisches Interesse. Der Inhalt dieser Normativität hat i m Laufe der Begriffsgeschichte eine signifikante Umdeutung erfahren. Angekündigt durch V i c o findet sie i m wesentlichen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts statt und erreicht in der deutschen idealistischen Philosophie ihre systematisch ausgearbeitete Zuspitzung. Die voridealistische Ausprägung des normativen Verständnisses historischer Größe ist das der Exemplarität. Wenn, i m weltlichen Bereich, Alexander als „groß" bezeichnet wird, so deshalb, weil man ihn als ein „großes" V o r b i l d bewundert, dem es zum Beispiel i m eigenen ritterlichen Leben oder in der Fürstenerziehung nachzueifern gilt. Die i m Zusammenhang der Ritter- und Fürstenerziehung übliche SpiegelMetapher („Ritterspiegel", „Fürstenspiegel"; vgl. auch das juristische Pendant in „Sachsenspiegel" usw.) gilt ebenso zutreffend den ästhetisch-anschaulichen Aspekt des Exemplaritätsverständnisses wieder (auch etymologisch: „Spiegel" aus lat. „speculum" zu „specio" „sehe"), wie es zugleich, praktisch-postulativ gesehen, dessen mimetisches Prinzip deutlich macht: schließlich so sein, daß, wenn man in den Spiegel hineinblickt, einem das V o r b i l d entgegenschaut. Das Hermeneutikum der admiratio schlägt sich so auf der normativen Seite als imitatio 4 nieder. M i t dem Verstehen ist ineins das (mimetische) Anwenden verbunden: „. . . applicatio (ist) von intellectio und explicatio gar nicht zu trennen", wie H.-G. Gadamer sagt 5 . Die mittelalterliche Spiegel-Metapher macht dies in Sonderheit auch wegen ihres juristisch fixierten Beigehalts („Spiegel" = „Normenkatalog" allg. und „Rechtsbuch" insbes.) sinnfällig. U n d wenn Gadamer das reflektorische Bemühen um die „Applikationsstruktur, die in der juristischen

4

Kant unterscheidet dann zwischen bloßer Nachahmung, die sich ein „Muster" der Handlung sucht und nur einen „Mechanismus der Sinnesart" bewirkt (Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg. 6, 479) und einer vom Menschen im „Bewußtsein seiner Freiheit" (Kritik der praktischen Vernunft 5, 160) reflektierten Nachfolge (Kritik der Urteilskraft 5, 283). Vgl. auch G. Buck, Art. Beispiel, Exempel, exemplarisch, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von J. Ritter, Bd. 1, Darmstadt 1971, S. 818. Und ausführlicher: ders., Kants Lehre vom Exempel, Archiv für Begriffsgeschichte 11, 1967, S. 148-183. 5 H.-G. Gadamer, Art. Hermeneutik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von J. Ritter, Bd. 3, Basel 1974, Spalte 1069.

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

Hermeneutik ihr angestammtes Heimatrecht h a t " 6 als „Zentralmotiv einer Hermeneutik" bezeichnet, „die die Geschichtlichkeit des Menschen w i r k l i c h ernst n i m m t " 7 , so können w i r die mittelalterlichen Spiegel durchaus als weitgehend den Erwartungen eines solchen wissenschaftstheoretischen Hermeneutik-Paradigmas entgegenkommend betrachten. Freilich unterliegen auch wissenschaftstheoretische Paradigmen, wie w i r seit K u h n belehrt sind, dem Wechsel, dem, wie w i r allerdings schon seit alters wissen, alles auf Erden unterworfen ist. I n der voridealistischen Variante des normativen Verständnisses von „historischer Größe" fungieren als Vehikel des imitierenden Lernens die „historiae" 8 , die Geschichten, die in Erzählform überliefert werden. Was von Alexander auf dem Felde weltlicher Exemplarität gilt, gilt auf dem Felde geistlicher Exemplarität von Jesus. Angewendet und ausformuliert bis in die Heiligenviten erhebt hier die Exemplarität Anspruch auf Gültigkeit für jeden. Das exemplarische Verständnis von historischer Größe richtet sich auf ein besonders anschaulich und wirkungsmächtig vorgelebtes

Leben, über das sich

von einem Anfang bis zu einem Ende in narrativer Form berichten läßt. Die Anfang-Ende-Struktur der Narratio wie auch deren inhaltliche Füllung mit einer als „ g u t " oder „schlecht" (im moralischen Sinn) unterstellten anschaulichen Beispielhaftigkeit verweisen auf eine zugrundeliegende praktisch-philosophische Systematik, die vorgegeben und in sich abgeschlossen ist 9 : W o das Leben des Menschen seinen Beginn und sein Ziel hat, ist entweder durch Gott geoffenbart oder aber einfachhin durch die „lumières" eines „siècle" aufklärbar. Die Lichtmetaphorik der Aufklärung (vgl. auch engl, „enlightenment") findet ihren Grund gerade darin, daß man meinte, die naturhaft vorgegebene Lebensorientierung nur aufhellen, nur ans Licht bringen zu müssen 1 0 . Die Konstruktion der Normativität selbst geschieht in jedem Fall nicht autonom, nicht durch den Menschen selbst, sondern w i r d einer transzendenten oder naturalen Heteronomität

überantwortet.

Dieses (vermeintlich)

vorgegebene,

6 H.-G. Gadamer, ebd., Spalte 1069. 7 H.-G. Gadamer, ebd., Spalte 1068. 8 Auf den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Verwendung des Plurals und der schließlichen Ersetzung der Plural- durch die Singularform hat R. Koselleck hingewiesen: Historia Magistra Vitae, in: Natur und Geschichte, Stuttgart 1967, und Wozu noch Historie?, HZ 1971, Bd. 212. 9 B. Croce spricht hier von einem „materialisierten und unbeweglichen Dogma", das „als Universalmaßstab (gilt)". „ . . . die Menschen aller Zeiten wurden danach beurteilt, ob sie von der göttlichen Gnade berührt waren oder nicht, ob sie fromm oder unfromm gewesen, und die Lebensbeschreibungen der hl. Väter und der Glaubenshelden wurden zu einem Plutarch, der jeden anderen und profanen Plutarch ausschloß oder in seinem Wert herabsetzte". Dies alles geschieht nach Croce im Zeichen eines „Dogmatismus der Transzendenz". B. Croce, Zur Theorie und Geschichte der Historiographie, Tübingen 1915, S. 168. 10 Vgl. Voltaire, Essai sur des moeurs . . ., Bd. 13, S. 182. Hier zitiert unter I. 1., Anm. 10.

II. Gegen die Usurpierung der Vernunft durch das Genie

93

transzendent oder natural begründete, normative Orientierungsmuster erlaubt die Formulierung feststehender Werte, die dann in historisch großen Personen anschauliches Leben gewinnen können 1 1 . Die aus den antiken Anfängen der Geschichtsschreibung stammende 1 2 und in Renaissance und Aufklärung wiederaufgenommene 1 3 Parallelisierung von Historiographie und (empirischer) Medizin vor dem Hintergrund unterstellter naturaler Konstanzen findet zugleich mit der nachaufklärerischen Abwendung von der Exemplarität ihr Ende. Wenn sich neuerdings Psychotherapie und historisch ausgerichtete Gesellschaftskritik Frankfurter Provenienz i m Postulat unverzerrter Kommunikation treffen, so ist damit die aus den Anfängen der Wissenschaftsgeschichte stammende Konjunktion von Medizin und Geschichtsforschung wiederhergestellt; freilich nun nicht mehr unter den Prämissen naturaler Hypothesen, sondern unter denen einer normativ bestimmten Hermeneutik: der rational-rekonstruktiven Abklärung des individualen

Selbstverständnisses in biographischer

Retrospektive einerseits und der insbesondere die Konfliktgenese mit einbeziehenden, in ihrem Konsenserfolg immer nur fiktiven Abklärung des sozialen Selbstverständnisses andererseits. Normativ

ist dies hermeneutische Bemühen

insofern, als es sich selbst einbettet in die praktische Zielsetzung der Arbeit an defizienten individualen resp. sozialen Situation. 11 Für die Berechtigung des Groß-Sprechens Ottos wird ζ. B. angeführt, er habe über virtus militiae, virtus animae, benivolentia und magnanimitas verfügt. Vgl. MGH SS Bd. 14, S. 125-127. 12 Vgl. etwa Thukydides, Einleitung zum Peloponnesischen Krieg 1, 22: „Und weil bei den Tatsachen auf jedes Element des Fabelhaften verzichtet ist, so wird mein Werk zum Vorlesen und Anhören ein geringerer Genuß erscheinen. So viele aber den Wunsch hegen werden, das deutliche Wesen des Geschehenen betrachtend zu erfassen und das, was entsprechend der (gleichbleibenden) Menschenart einmal wieder so oder annähernd so geschehen wird — wenn solche Leser mein Werk für nützlich erachten werden, so wird das genügen". Und Buch 2, 48: „Es mag nun ein jeder über das Übel (gemeint ist die während des Peloponnesischen Krieges ausgebrochene Pest; Verf.) reden wie er es versteht, Arzt wie Laie, aus welchem Ursprung es wahrscheinlich hervorgegangen sei, und über die Ursachen, von denen er meint, sie seien hinlänglich gewesen, zu einer so tiefgreifenden Veränderung Gewalt zu erlangen. Ich will darstellen, wie die Erscheinung des Übels war und auf Grund von welchen Merkmalen einer es betrachten muß, um, wenn es wieder einmal auftreten sollte, infolge seines Vorwissens es nicht zu verkennen: das will ich klarstellen als einer, der selbst von der Krankheit ergriffen wurde und mit eigenen Augen andere von dem Leiden befallen gesehen hat". — Im gleichen Sinne dann auch Polybios, Historiai, Buch III, Kap. 7: „Ich ging . . . auf diese Unterschiede näher ein . . . um dem lernbegierigen Leser zu nützen. Denn was nützt dem Kranken ein Arzt, der die Ursachen der körperlichen Zustände nicht kennt?!". 13 Vgl. d'Alembert, Essai sur les éléments de la philosophie, übers, ν. E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, S. 299 ff.: „. . . für den Philosophen ist (die Geschichte) eine Sammlung geistig-sittlicher Erfahrungen (expériences morales), die man am menschlichen Geschlecht machen kann; eine Sammlung, die kürzer und vollständiger wäre, wenn sie nur von Weisen herrührte, die aber, so unvollkommen sie ist, noch immer die größten Lehren in sich schließt: ebenso wie die Sammlung der medizinischen Beobachtungen aller Zeiten, die ständig vermehrt wird und immer unvollkommen bleibt, nichtsdestoweniger den wesentlichen Teil der Heilkunde ausmacht".

1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

94

So schreibt Habermas 1 4 : „ D i e Welt des tradierten Sinnes erschließt sich dem Interpreten nur in dem Maße, als sich dabei zugleich seine eigene Welt aufklärt. Der Verstehende stellt eine Kommunikation zwischen beiden Welten her. Er erfaßt den sachlichen Gehalt des Tradierten, indem er die Tradition auf sich und seine Situation anwendet". U n d dann vor allem: „ W e n n aber die methodischen Regeln in dieser Weise Auslegung mit Applikation vereinigen, dann liegt die Deutung nahe, daß die hermeneutische Forschung die Wirklichkeit unter dem leitenden Interesse an der Erhaltung und der Erweiterung der Intersubjektivität möglicher handlungsorientierender Verständigung erschließt". M a g man die beschriebene hermeneutische Verbindung von Psychotherapie und Geschichtskritik als naheliegend ansehen, so trägt die Annäherung von analytischer

Philosophie

und Hermeneutik

deutliche Zeichen einer mesalliance

a priori. Gadamer schreibt 1 5 : „. . . die Problematik der Hermeneutik (hat sich) grundsätzlich von der subjektiv-psychologischen Basis weg und in die Richtung des objektiven, wirkungsgeschichtlich ermittelten Sinns hin verschoben. Die grundlegende Gegebenheit für die Vermittlung der Abstände ist die der Sprache, in der der Interpret (oder Übersetzer!) das Verstandene neu zur Sprache bringt. . . . In gewissem Sinne nähert sich die Hermeneutik damit auf ihrem eigenen Wege der von der neopositivistischen Metaphysikkritik ausgehenden analytischen Philosophie.

Seit diese nicht mehr daran festhält, durch Analyse der Rede-

weisen und Eindeutigmachen aller Aussagen m i t Hilfe künstlicher Symbolsprachen die „Verhexung durch die Sprache" ein für allemal aufzulösen, kann auch sie über das Funktionieren der Sprache i m Sprachspiel

am Ende nicht zurück,

wie gerade L . Wittgensteins philosophische Untersuchungen 4 gezeigt haben". Der in den Augen Gadamers sowohl Analytik wie Hermeneutik eigenen These von der Unhintergehbarkeit der Sprache ist m. E. zu Recht das Argument einer fehlenden Unterscheidung und damit Verwechslung von (unhintergehbarem) Sprachvermögen und (hintergehbarem) Sprechen entgegengehalten worden. 1 6 Sucht die Hermeneutik ihre Wissenschaftlichkeit jenseits des psychologischen Subjektivismus in der ,Objektivität' wirkungsgeschichtlicher Beziehungen zu erlangen und beschränkt sie sich dabei auf das analytische Beschreiben des Unhinterfragten, weil vermeintlich unhinterfragbaren „Funktionierens der Sprache" (Gadamer), so begibt sie sich der Möglichkeit einer Antwort auf die Frage nach den ihr selbst immer schon immanenten Wertungskriterien, die sich unvermeidlich bereits bei der Gegenstandsauswahl und bei der Formulierung der Arbeitsziele stellt. Solcherart normativen Ansprüchen Genüge zu tun, ist aber v o m Standpunkt analytischer Philosophie aus — erklärtermaßen — unmöglich.

14

J. Habermas, Technik und Wissenschaft als „Ideologie", Frankfurt 1968, S. 158. !5 Gadamer, Hermeneutik . . ., Sp. 1070. 16 Kuno Lorenz / Jürgen Mittelstraß, Die Hintergehbarkeit der Sprache, in: KantStudien 58, 1967, S. 187-208.

II. Gegen die Usurpierung der Vernunft durch das Genie

95

Die Unterscheidung von unhintergehbarem Sprachvermögen und kritisch-normativ konstruierbarem Sprechen scheint hingegen den Weg zur Überwindung der beschriebenen Aporie zu weisen. Das Analytik und Hermeneutik gleichermaßen zu Recht eigene Ungenügen am (später näher zu beschreibenden) historizistischen Relativismus, der zugleich auch die epochenungebundene Exemplarität historischer Größe aufgelöst hatte, veranlaßte erstere zum Rekurs auf den (in einem naturwissenschftlichen Sinn verstandenen) repeatable-Begriff

17

,

der den Kern des Selbstverständnisses der

exemplarischen Historie ausmachte und letztere zu einer von der juristischen Hermeneutik inspirierten Wiederaufnahme der Reflexion auf die auch und insbesondere dem Exempel-Begriff innewohnende applicano- Struktur

des Verstehens.

Hier jedoch ist die Hermeneutik zu warnen: Nicht vor der Wiederentdeckung des Exempels überhaupt, sondern zunächst davor, die heteronome Bestimmtheit der traditionellen Exemplarität unproblematisiert zu lassen und schließlich davor, der modischen Verlockung einer Alliance mit der analytischen Philosophie zu erliegen, die als naturwissenschaftlich konzipierte Einheitstheorie dem spezifisch hermeneutischen

a priori weder

Bemühen Platz bieten kann, noch als bloß analy-

tische Theorie den normativen Aspekt jeglicher Hermeneutik zu genügen vermag. Die Auflösung des exemplarischen Verständnisses historischer Größe bleibt unbegreiflich, sieht man sie nicht vor dem Hintergrund einer folgenreichen geistesgeschichtlichen Umorientierung: hatten die Empiristen den Transzendenzmythos des christlichen Mittelalters bloßgestellt, so kritisiert Kant nun den Naturmythos, den der Empirismus an dessen Stelle setzte und weist zugleich nachdrücklich auf die Autonomität

der Genese theoretischer und praktischer Lebensorientierung

hin.

17

Vgl. K. R. Popper, Logik der Forschung, Tübingen 1971, S. 19: „Nur dort, wo gewisse Vorgänge (Experimente) auf Grund von Gesetzmäßigkeiten sich wiederholen bzw. reproduziert werden können, nur dort können Beobachtungen, die wir gemacht haben, grundsätzlich von jedermann nachgeprüft werden. Sogar unsere eigenen Beobachtungen pflegen wir wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen, bevor wir sie nicht selbst durch wiederholte Beobachtungen oder Versuche nachgeprüft und uns davon überzeugt haben, daß es sich nicht nur um ein einmaliges „zufälliges Zusammentreffen" handelt, sondern um Zusammenhänge, die durch ihr gesetzmäßiges Eintreffen, durch ihre Reproduzierbarkeit grundsätzlich intersubjektiv nachprüfbar sind". (Hervorhebungen vom Verf.) Entsprechend verwundert es dann nicht, daß Popper in seinem antihistorizistischen Buch „Das Elend des Historizismus" seine Analyse der Geschichtswissenschaft in Parallele zur alten Geschichte voridealistischer Prägung setzt: „Ich will die von den Historizisten so oft als altmodisch angefeindete Auffassung verteidigen, daß die Geschichtswissenschaft durch ihr Interesse für tatsächliche, singuläre, spezifische Ereignisse.. . charakterisiert ist". A. a. O., Tübingen 1971, S. 112. — Oder: „Diese Leute (die Historizisten; Verf.) verachten die altmodische Geschichte und wollen sie in eine theoretische Wissenschaft verwandeln". A. a. O., S. 113. Ich verweise darauf in ähnlichem Zusammenhang weiter oben. Vgl. I. 3., Anm. 96.

96

1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft Damit ist unfreiwillig Platz geschaffen für den nach Transzendenz- und Natur-

mythos nächsten geistesgeschichtlich relevanten Irrtum: den, als sei die Genese menschlicher Lebensorientierung nicht Ausdruck, ständige Probe, immer neues Inswerksetzen autonomer Lebensorientierung, sondern als sei sie selbst die Instanz, an der sich das Leben zu orientieren habe. Die Orientierungsgenese als Ausdruck autonomer Normativität w i r d verwechselt mit der Orientierungsgenese als Quelle normativer Lebensorientierung. Anders gesagt: Die Orientierungsgenese w i r d zur Orientierungsinstanz. Damit ist die durch die kantische Philosophie vielleicht zum ersten M a l gebotene Chance verspielt, den Autonomiebegriff ins Zentrum konstruktiver Lebensorientierung zu rücken. Die Frage nach dem Sinn wird beantwortet durch den Verweis auf die Geschichte. Aus „Transzendenzphilosophie' 4 und „Naturphilosophie" ist so „Geschichtsphilosophie" geworden. Die positivistische Deskription der faits bruts der Historie wird zum K u l t , die Geschichte insgesamt zu einer kerygmatischen Erzählung. Die Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus bot das systematische Gebäude, in dem sich das seit langem virulente Unbehagen am Exemplarismus und seinem invariablen Wertverständnis häuslich einrichten konnte. Hervorragenden Ausdruck hatte solche latente K r i t i k in der französischen Geistesgeschichte bereits bei Montaigne und dann vor allem in der „Querelle des Anciens et des Modernes" gewonnen 1 8 . Die Spannung zwischen ahistorisch-invariabler Exemplarität und historischer Funktionalität (für das Fortschreiten des Geschichtsverlaufs), die ineins als Problemkern des christlichen und zugleich des empiristischen Geschichtsverständnisses angesehen werden kann, w i r d in der „Querelle" explizit gemacht und am Ende i m Sinn der Distanzierung vom historischen V o r b i l d und des Eigenwertes der Gegenwart beantwortet. Die welthistorische Größe der Großen Französischen Revolution liegt dann nicht eigentlich in den gesellschaftlichen Veränderungen, die sie unmittelbar bewirkt hat, sondern eben darin, daß sie in wirkungsmächtiger Anschaulichkeit das solcherart gewandelte Geschichts- und Selbst Verständnis dokumentiert. Stand bisher Veränderung in Verstände der Zeitgenossen immer unter den legitimationsnotwendigen Bedingungen mimetischen Rückgriffs auf vorgängige (ggf. „große") Exempel und konnte sich dementsprechend nur als Re-novatio 1 9 , Re-formatio, Re-stauratio, Ri-nascimento begreifen, so bedeutet „révolution" nun radikale Absage ans Prinzip der Wiederholung, an dessen Stelle das der innovatorischen Umwälzung tritt. 18 Vgl. auch Descartes: „II n'y a pas lieu de s'incliner devant les anciens à cause de leur antiquité: C'est nous plutôt qui devons être appelés anciens. Le monde est plus vieux maintenant que d'autrefois et nous avons une plus grande expérience des choses". Zitiert nach Theisen, Geschichte der französischen Literatur, Stutgart 1964, S. 122. Auch eine so tiefgreifende politisch-strukturale Veränderung wie die Auflösung der römischen Adelsrepublik und die Einführung des Prinzipats durch Augustus wurde nicht als innovatorischer Prozeß gesehen, sondern gewann seine Legitimation durch Rekurs auf (vermeintliche) Vorbilder bei den Alten.

II. Gegen die Usurpierung der Vernunft durch das Genie

97

Für die Geschichtsphilosophie heißt Normativität in der Geschichte aufsuchen, Geschichte als innovatorische Abfolge von jeweils situatiosadäquaten Realisationen von Vernunft zu begreifen. Die Sukzession der einzelnen Schritte ist eine Sukzession von Einzelsituationen, die in sich adäquate Vernunftrealisate darstellen. Und die Legitimation für Veränderung

kann abgeleitet werden aus dem Ziel,

auf das hin diese sich selbst sukzessiv vervollkommnende Realisation von Vernunft zustrebt. Jeder historische Schritt auf dieses Z i e l hin muß in sich als situationsspezifisch vernünftig deklariert sein, weil sonst Geschichte insgesamt in ihrer Bestimmung als Abfolge solcher Schritte keine befriedigende Antwort auf die normative Grundfrage geben könnte und zugleich auch, weil das Ziel des Gesamtablaufs sich als von der Beschreibung des Weges abhängig erweist. Wäre es nicht davon abhängig, wäre es unabhängig v o m faktischen Geschichtsverlauf beschreibbar, so entstünde notwendig die Frage nach der Konstruktion von Kriterien für diese letzte Legitimationsinstanz, die dann ahistorisch, mithin also nicht geschichtsphilosophisch beantwortet werden müßte. M a n vergleiche hierzu auch die in „Das Elend des Historizismus" von Popper am Zielverständnis der Geschichtsphilosophie geübte K r i t i k . Er lehnt die Geschichtsphilosophie gerade wegen ihres auf falsifikatorisch-repetive Weise unkontrollierbaren Ziel-Begriffs ab. Jeder Einzelschritt ist von dem darauffolgenden durch einen Veränderungsakt getrennt, der seine Legitimation i m Verweis auf das historische Ziel findet, welches wiederum sich selbst jeweils aus der spezifischen Beschaffenheit der vorgängigen Situation und insgesamt aus der Entwicklungsabfolge der Einzelzustände ergibt. Die Redeweise von der Trennung i n Einzelzustände, von der epoché, hat ihren Platz ebenso i m Zentrum der Geschichtsphilosophie wie die vom Ziel, das alle epochéen verbindet und die Übergänge von einer Zeit zur anderen legitimiert. U n d eben dies — „epoché" und „ t e l o s " 2 0 — sind auch die Schlüsselbegriffe für das neue Verständnis historischer Größe — die nun allererst zu einer eigentlich historischen

Größe werden kann, nachdem sie zuvor als eine an letztlich ahistori-

schen Wertfixierungen festgemachte begriffen wurde. Zunächst einmal bedeutet die situationsspezifische Bedingtheit von Vernunft die Abkehr vom Leitwort der „historia vitae magistra". Jede Epoche ist jetzt „unmittelbar zu Gott", wie Ranke sich ausdrückte, jede hat ihre eigene Vernünftigkeit. Die Vernunft vorangegangener Epochen ist nicht mehr die der gegenwärtigen: Vernunft ist nur Vernunft relativ zur jeweiligen historischen Epoche. Dies ist die Geburt des historischen Relativismus 4 . Das alte „historia docet" erleidet 20 Die teleologische Ausrichtung des Geschichts- und Selbstverständnisses mag mit dazu beigetragen haben, daß der geschichtliche Wandel immer mehr auch unter der Kategorie der accelerano begriffen wurde. Marxens Einschätzung der Kommunistischen Partei als einer Gruppe, deren Hauptfunktion die eines Katalysators sei, ist hierfür einschlägig. 7 Hesse

98

1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

einen so gründlichen Tod, daß auch die in unseren Tagen (von den angesichts der Wissenschaftsauflösenden Konsequenzen des historischen Relativismus ratlos gewordenen

Geisteswissenschaften)

unternommenen

Wiederbelebungsversu-

che 2 1 bislang ohne durchschlagenden Erfolg blieben. Ob die historia magistra vitae wie Dornröschen doch noch ihren Prinzen findet, bleibt mithin einstweilen eine offene Frage. 2 2 Was aber tritt nun an die Stelle des alten Exemplarismus, wie kommen trennende epoché und übergreifendes telos zusammen; wie kommen sie insbesondere i m Begriff historischer Größe zusammen? Das ist unsere letzte und entscheidende Frage, deren Beantwortung zugleich die fatalen Konsequenzen deutlich machen wird, die die philosophische Desorientierung an den Grundlagen schließlich sowohl auf geistesgeschichtlichem wie auch auf politischem Felde provoziert. In der gestellten Frage ist ihre Antwort bereits enthalten: sie kommen zusammen eben i m Begriff der historischen Größe. Wenn Vernunft jeweils situationsspezifisch auftritt, so entsteht die Frage nach der Instanz, die den Übergang zum nächsten Vernunftrealisat bewerkstelligt. W i e kommt die Menschheit von der einen Epoche in die nächste? Dieses Geschäft übernehmen die historischen Persönlichkeiten, die Großen der Geschichte; das eben macht sie zu Großen, daß sie in diesem Sinne die „Geschäftsführer des Weltgeistes" sind, wie Hegel sagt. U n d sie sind dadurch befähigt, die Menschen von einer Epoche in die nächste 2 3 zu führen 2 4 , daß sie um die Ziele des Geschichtsablaufs wissen. „Erfüllt von dem großen Zusammenhang der geschichtlichen Dinge werden sie das Vergangene in seiner Richtung erkennen und das Künftige mit schöpferischer Ahndung erfassen und gestalten", wie Droysen schreibt 2 5 . Was man aber tun muß, damit man — um ein bekanntes Bismarcksches D i k t u m zu zitieren — den Mantel Gottes durch die Geschichte rauschen hört, bleibt ungewiß. Es gibt kein methodologisch zu Buche schlagendes Verfahres, die epochenbeendenden und eochenschaffenden Entscheidungen der ,Großen 4 in intersubjektiv nachkontrollierbarer Weise zugänglich zu machen. So bleibt denn 21

Vgl. hierzu u. a. die Hinweise zur Hermeneutik-Diskussion unter 1.3. Im Kritischen Rationalismus deutet sich eine Renaissance der pragmatischen Geschichtsauffassung an, gebunden an den Gedanken der Wiederholung (vgl. oben I. 3.). Dagegen aber steht der kritisch-rationalistische Grundgedanke des darwinistischen Wandels (vgl. ebd.). 23 Vgl. den ersten Satz von Droysens „Geschichte Alexanders des Großen": „Der Name Alexander bezeichnet das Ende einer Weltepoche, den Anfang einer neuen". 24 Der Gedanke der Führung gewinnt hier seine ganze politische Brisanz. Lukâcs bezeichnet den Begriff der historischen Größe in kritischer Abhebung von dieser Tradition geradezu als „die historisch-methodologische Kehrseite der preußisch-bürokratischen Auffassung vom ,beschränkten Untertanenverstand'". G. Lukâcs, Die Zerstörung der Vernunft, Neuwied 1962, S. 57. 2 5 Günter Birtsch/Jörn Rüsen (Hrsg.), Texte zur Geschichtstheorie, Ungedruckte Materialien zur „Historik", VII. Die Persönlichkeit und die geschichtliche Größe, Göttingen 1972, S. 36. 22

II. Gegen die Usurpierung der Vernunft durch das Genie

99

i n der Tat nichts, als „ i n ahnendem Glauben hinter die Staatsleitung zu treten", wie schließlich Hitler treffend formulierte 2 6 . Daß aber ein solches Verfahren nicht angegeben werden kann, ist nicht nur einfachhin „die historisch-methodologische Kehrseite der preußisch-bürokratischen Auffassung v o m beschränkten Untertanenverstand 4 ", wie Lukâcs m e i n t 2 7 , es ist vielmehr notwendige Konsequenz einer praktischen Philosophie, die das Ziel des Lebensweges der Menschen aus dem faktisch eingeschlagenen Weg definiert und den Weg wiederum an Hand des Ziel beurteilen zu können meint. Hier w i r d deskriptive Rede als präskriptive Rede angesehen. Deskriptive Rede findet ihre Begründung i m Verweis auf das, was der Fall ist, präskriptive Rede i m Verweis auf das, was der Fall sein sollte. W i r d präskriptive Rede fälschlich als deskriptive angesehen, so ist sie notwendig hilflos, richtet man das Ansinnen legitimierender Norm-Begründung an sie. Eben dies ist — sprachphilosophisch gewendet — das Kernprobem des idealistischen Geschichtsverständnisses und Ursache des unaufhebbaren methodologischen Dilemmas des modernen Begriffs historischer Größe. Zugleich bietet sich uns hier die systematische Verstehensmöglichkeit für die Mythifizierung, Dämonisierung und Genialisierung des Persönlichkeitsbegriffs: die fehlende transsubjektive Legitimationsbasis der Epochen-Vermittlungsleistung der „Männer, die die Geschichte machen 44 (Treitschke) findet ihr Surrogat i m Vertrauen der vielen Geführten auf die genialischen Fähigkeiten des Führers. Die Hegeische „ L i s t der Vernunft 4 4 , deren Geschäftsführer die Großen sind, ist Ausdruck dieses methodologischen Versagens. Die Epochen-Mittler sind Ausnahmemenschen 28 ; „Größe ist, was w i r nicht sind 44 , sagt Burckhardt 2 9 . Historische Größe, und das heißt in Sonderheit auch die List, deren sich die Vernunft gerade bedient, bleibt ein „ M y s t e r i u m 3 0 . Insofern die Großen sowohl große Einzelne sind, wie sie als personale Repräsentanten des unterstellten Willens aller und der Geschichtskraft allgemein angesehen werden können, sind sie die „Koinzidenz des Allgemeinen und des Besonderen 44 (J. Burckhardt) 3 1 . Sowohl der Koinzidenzaspekt wie auch der der Unkon-

26 G. Weinberg (Hrsg.), Hitlers Zweites Buch, Stuttgart 1961. 27 Lukâcs, Die Zerstörung . . . , S. 57. 28 Hier findet sich die moralische Freistellung des staatslenkenden Ausnahmemenschen, die ja schon etwa Macchiavell propagiert hatte, wieder. 29 Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 209. 30 Burckhardt, ebd., S. 210. — Ganz im gleichen Sinne heißt es noch in unseren Tagen in einem „In Quest of Leadership" betitelten Essay der Zeitung TIME über historisch große Persönlichkeiten: „Such exceptional figures remain one of the enigmas of civilization". TIME, 15. 7. 74, S. 26. — Wie sehr im übrigen auch neuere SchulGeschichtsbücher von einer unter dem Einfluß der historischen Größen stehenden Geschichte ausgehen, zeigt die Untersuchung von Ernst Tienken, Die Persönlichkeit im Geschichtsbuch, in: Helmut Hoffacker / Klaus Hildebrandt (Hrsg.), Bestandsaufnahme Geschichtsunterricht, Stuttgart 1973, S. 177 ff. 7*

100

1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

trollierbarkeit w i r d ersichtlich, wenn Hegel schreibt: „Dies sind die großen Menschen in der Geschichte, deren eigene partikulare Zwecke das Substantielle enthalten, welches W i l l e des Weltgeistes ist. Sie sind insofern Heroen zu nennen, als sie ihre Zwecke und ihren Beruf nicht bloß aus dem ruhigen, angeordneten, durch das bestehende System geheiligten L a u f der Dinge geschöpft haben, sondern aus einer Quelle, deren Inhalt verborgen und nicht zu einem gegenwärtigen Dasein gediehen ist, aus dem Innern Geiste, der noch unterirdisch ist, der an die Außenwelt wie an die Schale pocht und sie sprengt, weil er ein anderer Kern als der Kern dieser Schale ist — die also aus sich zu schöpfen scheinen und deren Taten einen Zustand und Weltverhältnisse hervorgebracht haben, welche nur ihre Sache und nur ihr Werk zu sein scheinen" 3 2 . Diese Koinzidenz des Allgemeinen und des Besonderen ist nach Hegel und vor Burckhardt i m Marxismus präzisiert worden. Ich möchte dazu zwei EngelsTexte zitieren, in denen auch der kritische Zusammenhang, in den der Marxismus den Begriff historischer Größe stellt, deutlich wird: „ W i r machen unsere Geschichte selbst, aber erstens unter sehr bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen . . . zweitens . . . so, daß das Endresultat stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen hervorgeht, wovon jeder wieder durch eine Menge besonderer Lebensbedingungen zu dem gemacht wird, was er ist; es sind also unzählige, einander durchkreuzende Kräfte, eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante — das geschichtliche Ergebnis — hervorgeht, die selbst wieder als das Produkt einer als Ganzes bewußtlos und willenlos wirkenden Macht angesehen werden kann. . . . Denn was jeder einzelne w i l l , w i r d von jedem anderen verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat. So verläuft die bisherige Geschichte nach A r t eines Naturprozesses und ist auch wesentlich denselben Bewegungsgesetzen unterworfen. Aber daraus, daß die einzelnen W i l l e n — von denen jeder das w i l l , wozu ihn Körperkonstitution und äußere, in letzter Instanz ökonomische Umstände (entweder seine eigenen persönlichen oder allgemeingesellschaftliche) treiben — nicht das erreichen, was sie wollen, sondern zu einem Gesamtdurchschnitt, einer gemeinsamen Resultante verschmelzen, daraus darf jedoch nicht geschlossen werden, daß sie = Ο zu setzen sind. I m Gegenteil, jeder trägt zur Resultante bei und ist insofern in ihr Inbegriffen" 3 3 . U n d ähnlich dann später in explizitem Bezug auf historische Größe: „ D i e Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber bis jetzt nicht m i t Gesamtwillen nach einem Gesamtplan, selbst nicht in einer bestimmt abgegrenzten gegebenen Gesellschaft. Ihre Bestrebungen durchkreuzen sich, und in allen 31 Burckhardt, ebd., S. 229. Ähnlich schreibt Droysen: der Große „meint in dem Besonderen das Allgemeine, in dem Einzelnen das Ganze . . ." Birtsch / Rüsen (Hrsg.), Texte . . ., vgl. Anm. 28. 32 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, hrsg. von Brunstädt, Leipzig o. J. (Reclam), S. 66. 33 F. Engels, Brief an Bloch vom 21. 9. 1890, in M.-E., Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 503. Auch in: Fetscher, M.-E. Studienausgabe, Bd. I, S. 226 f.

II. Gegen die Usurpierung der Vernunft durch das Genie

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solchen Gesellschaften herrscht eben deswegen die Notwendigkeit, deren Ergänzung und Erscheinungsform die Zufälligkeit ist. . . . Hier kommen dann die sogenannten großen Männer zur Behandlung. Daß ein solcher und gerade dieser, zu dieser bestimmten Zeit und in diesem gegebenen Lande aufsteht, ist natürlich reiner Zufall. Aber streichen w i r ihn weg, so ist Nachfrage da für Ersatz, und dieser Ersatz findet sich, tant bien que mal, aber er findet sich auf die Dauer . . . daß . . . i n Ermangelung eines Napoleon ein anderer die Stelle ausgefüllt hätte, das ist bewiesen dadurch, daß der M a n n sich jedesmal gefunden, sobald er nötig war: Cäsar, Augustus, Cromwell etc. Wenn Marx die materialistische Geschichtsauffassung entdeckte, so beweisen Thierry, Mignet, Guizot, die sämtlichen englischen Geschichtsscheiber bis 1850, daß darauf angestrebt wurde, und die Entdekkung derselben Auffassung durch Morgan beweist, daß die Zeit für sie reif war und sie eben entdeckt werden m u ß t e " 3 4 . Wenn w i r Menschen in klassenloser, d. h. herrschaftsfreier Gesellschaft unsere Geschichte „ m i t Gesamtwillen nach einem Gesamtplan" machen würden, dann wären historisch große Personen überflüssig. Historische Größe findet ihren Platz nur in einer Gesellschaft, in der divergierende und antagonistische Interessen nicht nur existieren, sondern darüber hinaus auch i m Modus des Kampfes (der Klassen) ausgetragen, nicht also auf dem Wege der dialogisch-kommunikativen Erstellung eines Gesamtplans herrschaftsfrei organisiert werden. Letzteres sich zum Z i e l zu setzen, heißt aber historische Größe i m alten (geschichtsphilosophischen) Sinn obsolet zu machen. Die gesellschaftlich relevanten Veränderungsentscheidungen werden dann nicht mehr von einem genialisch enthobenen Ausnahmemenschen gefällt, sondern i m Dialog aller Betroffener. Historische Größe, wenn man schon den Terminus weiterbenutzten w i l l , verlagert sich vom Individuum zur Gesellschaft, v o m Dämonisch-Anomalen zum Dialogisch-Sozialen. Insofern „bürgerliche Gesellschaft" eben nicht herrschaftsfreie Gesellschaft ist, sondern „Klassengesellschaft", Gesellschaft unter der Bedingung des Kampfes divergierender und antagonistischer Willensrichtungen, ist sie zur Systemerhaltung notwendig angewiesen auf die Vermittlung solcher D i vergenz und Antagonistik i m M e d i u m der schöpferischen Schaffenskraft historisch großer Persönlichkeiten. I n dem bezeichneten Sinne ist „historische Größe" i n der Tat ein „bürgerlicher B e g r i f f 4 . Er w i r d sich auflösen, sobald das Z i e l der sozialistischen (sprich dialogischen, sprich demokratischen) Gesellschaft erreicht ist. Das zweite Engels-Zitat aber bietet zugleich Anlaß zu einer Skepsis, die sich angesichts neuerer politischer Entwicklungen bestätigt sehen mag: wenn nach Cäsar, Augustus und Cromwell mit Marx gleich schon der „Entdecker der materialistischen Geschichtsauffassung" 35 i n die Liste der historischen Größen aufge34 Brief von Engels an H. Starkenburg aus London, 25. 1. 1894, in: I. Fetscher, M.-E. Studienausgabe, Bd. I, S. 237. 3 5 Ebd.

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

nommen wird, die es doch nach dem Programm eben dieser materialistischen Geschichtsauffassung ein für allemal abzuschließen gilt, so fragt man sich, ob und inwieweit der realsozialistische Personenkult vergangener Tage nur verzeihliches Versehen bzw. taktische Notmaßnahme war oder ob und inwieweit dies nicht interpretierbar war als Oberflächenanzeichen dafür, daß letztlich die so folgenreiche theoretische Desorientierung an der Basis der Geschichtsphilosophie nicht kritisch aufgearbeitet wurde. So ist denn die marxistische Verwendung des Rollen-Begriffs (vgl. Plechanow, Die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte) interpretierbar eigentlich nicht als Lösung der aporetischen Spannung zwischen „Notwendigkeit" und „Persönlichkeit in der Geschichte", sondern gerade als Ausdruck eines Dilemmas, das seinen Ursprung dem geschichtsphilosophischen Grundparadox einer nunmehr durch die Menschengeschichte selbst bestimmten Heteronomität menschlicher Lebensorientierung verdankt. Die geschichtsphilosophisch fundierte Zuwendung des Marxismus zur klassenlosen Gesellschaft und der damit verbundene Hinweis auf die kommunistische Urgesellschft als den Ausgangspunkt menschheitlicher Entwicklung läßt i m übrigen die irritierende Interpretation des angestrebten Kommunismus als Mimesis des Exemplums der Urgesellschaft zu — w o m i t der Kreis der Problemgeschichte von „historischer Größe" wieder geschlossen wäre.

I I I . Gegen die Stillegung der Vernunft im M e d i u m der Aisthesis Die moderne Welt entfremdet den Menschen von seinem wirklichen Wesen, hindert ihn, der zu sein, der er eigentlich ist. Sein eigentliches Sein hatte er in einem vor-geschichtlichen Zustand realisiert, i m Zustand der urkommunistischen Gesellschaft, später nicht mehr und am allerwenigsten in der modernen arbeitsteiligen Industriegesellschaft. Das Wiedererreichen des verlorenen Paradieses i m eschatologisch verstandenen kommunistischen Endziel der Geschichte ist Marxens Antwort auf die existentielle Entfremdung in der Moderne. Das Endziel heißt: Die Zustände sollen nicht mehr über den Menschen herrschen, sondern der Mensch über die Zustände, der Mensch soll seine Geschichte selber machen, er soll i m M e d i u m der Freiheit v o m Objekt zum Subjekt werden. Die Norm, der Idealzustand, ist demnach eigentlich vor- bzw. außergeschichtlich. Die Geschichte ist verstanden als Aberration von ihr, aber als eine Aberration, die aus sich selbst heraus die N o r m wiederherstellen w i r d (und sich so selbst abschafft). Ich rufe dies in Erinnerung als Gegenfolie zu einer ganz anderen Antwortvariante auf die Probleme der Moderne: die des Nationalsozialismus. Während der Marxismus eine emanzipatorische, wenn man es denn so nennen w i l l , Eschatologie am Ende einer allererst noch mühsam zu überwindenden

III. Gegen die Stilllegung der Vernunft im Medium der Aisthesis

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Geschichte anvisiert, verspricht der Nationalsozialismus das Heil jetzt. „ H e i l Hitler" heißt die Parole, die sowohl das Instantané wie die Notwendigkeit der Unterordnung unter das führende Genie in schlagender Kurzform deutlich macht. Der Marxismus möchte die alte Geschichte transformieren zu einer, in der der Große Mann, das Genie, die Führungsperson keinen Platz mehr hat, da sie von allen als Freien und Gleichen gemacht wird. Der Nationalsozialismus verlangt die Unterwerfung unter das um die Vorsehung wissende Genie. Wahrscheinlich w i r d zuwenig gesehen, daß der Nationalsozialismus eben auch ein Versuch ist, auf das Grundproblem der Moderne zu antworten. Über Deutschland hinaus, über das entwurzelte deutsche Kleinbürgertum hinaus, das (zu Recht) als seine soziologische Basis und Manövriermasse beschrieben wird, auch über das Großkapital hinaus, das (ebf. zu Recht) als Mitgestalter und Nutznießer nationalsozialistischer Politik beschrieben wird, über solche Gruppen- und nationsspezifische Interessenlagen hinaus war der Nationalsozialismus wohl hauptsächlich deswegen, auch für weite Kreise der europäischen Intelligenz, attraktiv, weil er eine reale und unmittelbar geschichtsmächtige Antwort auf Entfremdung und Geworfensein als Grundprobleme der Moderne anzubieten schien. Und zwar eine Antwort, die die Moderne zugleich in sich aufnahm und überwand. Daß der Nationalsozialismus einen Modernisierungsschub nicht dagewesenen Ausmaßes mit sich brachte, ist spätestens seit Sebastian Haffners Hitler-Buch ins öffentliche Bewußtsein eingedrungen: Die Durchsetzung des Leistungsprinzips, die Überwindung der traditionellen A r t von Klassengesellschaft in der Volksgemeinschaft, die hypertrophe Verehrung der Technik, das aggressiv-expansionistische Wirtschaftskonzept, die Säkularisierung des Staates (i. S. der Unterwerfung bzw. Gleichschaltung der Kirchen), die Einführung von Massenmedien und ihre manipulative Verwendung, die, spätestens seit Kriegsbeginn unvermeidliche, faktische Gleichstellung der Frau — all das sind ohne Zweifel (ungeachtet des politischen Kontexts ihrer Genese) Elemente auch normaler moderner Gesellschaften. Durchaus in Widerspruch dazu stand das weltanschaulich begründete Selbstverständnis des Nationalsozialismus, für das biologistisch-unhistorische Begriffe wie Blut und Boden, Rasse, etc. konstitutiv waren. Ja, die faktische Modernisierung war verstanden als Instrument für die politische Durchsetzung der Ideologie. 1 1 Vgl. auch Robert Spaemann, Das Wort sollen sie lassen stahn, Versuch über den Fundamentalismus, ZEIT, 22. 12. 1989, S. 52: „Eine mit ihrer Herkunft . . . radikal brechende Zivilisation treibt einen ebenso radikalen, hinter alle geschichtlichen Traditionen Europas zurückgehenden Fundamentalismus hervor, nämlich den biologistischen. Das beginnt bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert. Das Christentum hatte den Völkern Europas zugemutet, sich als ,Heiden' in eine neue Genealogie adoptieren zu lassen, Abraham ,unseren Vater' zu nennen und auf ihren Königskronen David und Salomon abzubilden. Das Reich der Deutschen war nicht ein deutsches, sondern das Römische Reich. Vom Abschütteln dieser „überfremdenden", „kolonialistischen" Geschichte erwartete der biologische Naturalismus die Entfaltung des genuinen Potentials der kelti-

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1. Teil: Zur Verteidigung der Vernunft

Aufrüstung und technisch-organisatorische Kräftemobilisierung sollten den Sieg der Herrenrasse herbeiführen helfen. Volksgemeinschaft, Herrenrasse, gemeinsames Blut, gemeinsamer Boden waren die Elemente, die den Zerfall der Gesellschaft in moderne Parzellierung, die nur noch technische Effizienz- und Systemerhaltungszwängen (eben unseren sog. Sachzwängen) zu gehorchen gehabt hätte, verhindern sollten — und in den Augen vieler Zeitgenossen verhindert haben. Eben dies, dieser Erfolg, scheint mir einen Kern des intellektuellen Problems „Nationalsozialismus" auszumachen, das w i r noch weitgehend unerledigt vor uns haben. W i e konnte der kulturelle Grundwiderspruch unserer Zeit gelöst werden: die Vermittlung von moderner Entfremdung und vormoderner Geborgenheit? Nicht nur diese Ausgangslage ist widersprüchlich, der Nationalsozialismus war es auch, ich wies eben darauf hin. Die unglaubliche Beschleunigung des Geschichtsprozesses geschah i m Namen a-historischer Parameter; der K a m p f gegen den internationalen Kapitalismus wurde m i t kapitalistischen M i t t e l n geführt; der K a m p f gegen den Sozialismus i m Namen einer „(national-sozialistischen" Volksgemeinschaft. W i e brachte der Nationalsozialismus das zusammen? Natürlich verlangt diese Frage nach komplexen, facettenreichen Antworten. Ich möchte mich hier auf einen für den Gesamtzusammenhang dieser Arbeit wesentlich erscheinenden Aspekt beschränken: den des ästhetischen Faszinosums, oder wahrscheinlich besser gesagt, den des Rausches. Der beschriebene Grundwiderspruch ist nicht wegdiskutierbar. Er muß überspielt werden. Er ist mit aller Spannung, die er verursacht, eine Existenzbedingung der nach-kantischen autonomen Menschheit, eine ständige Zerreißprobe. Marx hat eine emanzipationsutopische Antwort darauf gegeben. Hitler nicht; er bietet keine utopische Lösung; er selbst ist die Lösung. Das mag lächerlich erscheinen, aber nur den Nüchternen, denen, die sich nicht faszinieren lassen. Hitler hat gewußt: er ist die Lösung, wenn er als Lösung anerkannt ist, wenn er den Glauben an ihn durchgesetzt hat. Der Nationalsozialismus ist ein, wie man zugeben muß, aufs Mitreißen hin angelegtes, genial ins Werk gesetztes Fest, ist die Anbahnung einer Orgie. Sie findet ihren Höhepunkt in der Hingabe des Lebens i m Krieg, der ein guerre à outrance , ein Mordrausch werden wird. Die politischen Aktionslinien der kriegsvorbereitenden Jahre sind komponiert — soweit das i m Spiel der internationalen Kräfte und Kontingenzen möglich war — als psychisches Vorspiel eben dieser

sehen bzw. germanischen Rasse. Der Nationalsozialismus war die erstmalige Machtergreifung des naturalistischen Fundamentalismus, der, obgleich selbst Kind der szientistischen Aufklärung, deren Vernunfts- und Menschenrechtsuniversalismus noch als Teil des zu überwindenden jüdisch-römischen Erbes betrachtete.44

III. Gegen die Stillegung der Vernunft im Medium der Aisthesis

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Apotheose. S. Haffner hat das, wie m i r scheint, überzeugend beschrieben. Hitler selbst hat sich immer als Künstler verstanden. Die M i t t e l Hitlerscher Durchsetzung sind Gestapo, SS, usw., das ist richtig, aber nur zum Teil. Seine eigentlich geschichtsphilosophisch relevante Leistung besteht in der Herstellung eines Rauschzustandes mit künstlerischen Mitteln. Hitlers eigene Demagogie, die Goebbels, die Aufmärsche, die Filme L. Riefenstahls, die Skulpturen Brekers, das Raunen Heideggers, die kultischen Reichsparteitage, die architektonischen Megalomanien A . Speers — das alles gehört zusammen, es sind Inszenierungen, Weisen des Realitätsverlusts, Wege zum Glauben, zum Abheben, zum Rausch. „ W i r haben alle Brücken hinter uns abgebrochen", sagte Hitler nach der Wannsee-Konferenz. Ich sagte, der Grundwiderspruch der Moderne kann nicht wegdiskutiert werden. Das ist auch Hitler nicht gelungen. Aber der Künstler Hitler hat eine Aisthesis, eine Anschauung, eine Realitätswahrnehmung geschaffen, durch die der Widerspruch in ihm selbst aufgehoben

war.

Dies verweist auf einen Aspekt des Verhältnisses von Geschichtlichkeit und Norm, der jenseits des Rationalitätsrahmens zu liegen scheint, in dem w i r uns bisher bewegt haben:auf den der Ästhetik. A m Extremfall Hitler sollte deutlich werden, in welchem Ausmaß (und mit welchen Konsequenzen) kritisch-normative Rationalität durch Aisthesis stillgelegt, ausgehebelt, überspielt, ersetzt werden kann. U m so dringlicher stellt sich, wie es scheint, die Frage nach der Möglichkeit rational-bewertender Durchdringung und sozio-kultureller Integration des Ästhetischen. Dieser Frage soll i m folgenden nachgegangen werden. Ausgangspunkt ist dabei die Ästhetiktheorie der Rezeptionsästhetik der sog. Konstanzer Schule, in deren Kontext die Frage nach dem Verhältnis von N o r m und Geschichtlichkeit i m M e d i u m der ästhetischen Ausdrucksformen besonders klar und argumentativ subtil behandelt wird.

1. Problemstellung Luther, Schiller, Humboldt, Schleiermacher, Gervinus, Droysen, Dilthey, Gadamer sind Namen, die für Stationen in der Entstehungsgeschichte der modernen Geschichtlichkeitsdiskussion stehen. Zugleich markieren sie Schritte auf dem Weg zu einem Welt- und Selbstverständnis des modernen Menschen, das zwischen „Verstehen" und „Erklären" und damit zwischen „Geschichte" und „ N a t u r " unterscheidet. Eine Unterscheidung, deren lebenspraktische Relevanz sich bei weitem nicht in ihrer institutionellen Berücksichtigung innerhalb der Wissenschaftsarchitektonik erschöpft. Wenn der Kritische Rationalismus einen Versuch zur Revision dieser Trennung i m Namen einer naturwissenschaftlich orientierten vermeintlich wertfreien „Einheitswissenschaft" unternimmt, so beruht die weit-

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weite Resonanz, die er damit findet, keineswegs allein auf der Bewunderung für den unbezweifelbaren Erfolg naturwissenschaftlicher Methoden und ihrer technischen Anwendungen, sondern nicht zuletzt auch auf dem Bewußtsein, daß sich zugleich das geisteswissenschaftlich-normative Geschichtlichkeitskonzept in bislang ungelösten Aporien verfangen hat. Die Ausarbeitung einer rezeptionsästhetischen Methode der Literaturgeschichtsschreibung in der „Konstanzer Schule", dort insbesondere durch H. R. Jauss, läßt sich vor dem Hintergrund dieses Diskussionsstandes als Ansatz zu einer Überwindung solcher Aporien begreifen und bewerten. Insofern das Verstehen und Begreifen „ästhetischer" Texte (wie ζ. B. das Verstehen und Bewerten „schöner" Literatur) ein besonders schwieriger Fall der Zuordnung von N o r m und Geschichtlichkeit ist, wäre m i t dem Gelingen dieses Ansatzes ein nicht unerheblicher Beitrag zur Lösung der Aporien geleistet. Einer Theorie des historischen Verstehens nicht ästhetischer Texte (ζ. B. des Verstehens philosophischer Texte oder politisch-diplomatischer Texte der Allgemeinhistorie) wäre dann möglicherweise der W e g geebnet. Welches aber sind die Aporien und wie sieht der rezeptionsästhetische L ö sungsvorschlag i m Detail aus? In seiner programmatischen Arbeit „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft" 2 beschreibt Jauss sie zunächst anhand einer Darstellung ihrer Genese und definiert dann durch eine Sequenz von Thesen seine Position. Meine K r i t i k w i r d sich vor allem auf einige von mir für wesentlich gehaltene Punkte i m Jauss'sehen Lösungsvorschlag richten. Es sind dies, wie ich meine argumentative Fehlstellen, die eine partielle Funktionsuntüchtigkeit des Konzepts und damit zugleich ein wider W i l l e n stilles Verharren in traditionellen Aporien nach sich ziehen. Ihre Ausfüllung würde der rezeptionsästhetischen Theorie jedoch sozusagen „das zweite Bein" liefern, das sie in die Lage versetzen könnte, den Weg aus den noch vorhandenen Aporien herauszugehen. 2. Darstellung Nach Jauss ist die Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung, wie sie i m 19. Jahrhundert als Schilderung der Genese nationaler Individualität i m M e d i u m der Literatur ihren Höhepunkt erlebt hat, mindestens dem gegenwärtigen gängigen Selbstverständnis der Literaturwissenschaftler nach eine abgeschlossene Geschichte. Literaturgeschichtsschreibung ist als unseriös in Verruf gekommen. Ihre Werke finden sich allenfalls noch in Bücherschränken des Bildungsbürgertums oder in veralteten Schullehrplänen der Kultusbürokratie. A l s wissenschaftlicher Forschungs- oder Lehrgegenstand hat sie weitgehend ihren Platz an problem-

2 H. R. Jauss, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/M. 1974, S. 144-207.

III. Gegen die Stillegung der Vernunft im Medium der A i s t h e s i s 1 0 7 geschichtliche oder systematische Fragestellungen verloren; ihre Ergebnisse werden aus dieser Sicht als antiquarisch disqualifiziert. Ihr Verfahren, das literarische Werk entweder vor dem Hintergrund seiner historischen und biographischen Entstehungsbedingungen („Leben und W e r k " ) oder aber aus seiner Stelle i m Folgeverhältnis der jeweiligen Gattungsentwicklung zu interpretieren und so Maßstäbe für Qualität und Rang zu gewinnen, w i r d als unangemessen beurteilt. Letzteres weise den einzelnen Autoren und ihre Werken einen eher zufälligen Platz i m chronologischen A b l a u f dieser Gattungsentwicklungstendenzen zu und sähe sich zudem mit der Schwierigkeit konfrontiert, aus einer zur Gegenwart hin ins immer Unüberschaubarere wachsenden Zahl von Autoren und Werken eine Auswahl treffen zu müssen. Erstere setzte die „großen Autoren" an die erste Stelle und vernachlässigte ebenso die „kleinen Autoren", wie sie zugleich die Gattungsgeschichte und den historischen Zusammenhang der Literatur überhaupt zerstückele. Nach Jauss ist diese K r i t i k i m Recht; „denn Qualität und Rang eines literarischen Werks ergeben sich weder aus seinen biographischen und historischen Entstehungsbedingungen noch allein aus seiner Stelle i m Folgeverhältnis der Gattungsentwicklung, sondern aus den schwer faßbaren Kriterien von W i r kung, Rezeption und Nachruhm" (S. 147). Dieser Diskredit nun, in den die Literaturgeschichte in unserer Zeit geriet, ist das Ergebnis ihrer in geradezu logischer Abfolge von Aporie zu Aporie fortschreitenden historischen Entwicklung. Schillers berühmte Jenenser Antrittsrede vom 26. 5. 1789 „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte" war zugleich repräsentativ für das Geschichtsverständnis des deutschen Idealismus. I n seinem Sinne kann Gervinus dann, ausgehend von W i l h e l m von Humboldts Schrift „Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers", dem Historiker die Aufgabe zuweisen, aus dem Faktenagglomerat der Vergangenheit eine Geschichte in der Weise zu machen, daß er „die eine Grundidee" findet, „die gerade diese Reihe von Begebenheiten, die er zum V o r w u r f nahm, durchdringt, in ihnen zur Erscheinung kommt, sie m i t den Weltereignissen in Zusammenhang b r i n g t " 3 . Während aber für Schiller diese „eine Grundidee", die Geschichte erst zu Geschichte macht, noch das allgemeine teleologische Prinzip ist, welches uns das weltgeschichtliche Fortschreiten der Menschheit begreifen läßt, w i r d sie bei W . von Humboldt und besonders dann bei Gervinus schon in den Dienst nationaler Individualitätswerdung gesetzt: „ A l l e i n die Deutschen", so heißt es bei Gervinus, seien „geschaffen" die Ideen der Griechen „ i n ihrer Reinheit zu verwirklichen". Die Entuniversalisierung des idealistischen Geschichtsverständnisses und seine nationale Partikularisierung gehen Hand in Hand mit der K r i t i k der „historischen Schule" an dem teleologischen

Konzept der Geschichtsphilosophie überhaupt.

3 Gervinus, Grundzüge der Historik, 1837.

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Es sei unhistorisch, die Geschichte von einem Ziel, einem idealen Höhepunkt her begreifen zu wollen. Diese Ablehnung eines transhistorischen Endziels der Geschichte, von dem her sie in ihrer Sinnhaftigkeit allererst zu begreifen sei, verweise die Geschichtsschreibung a) auf die Partikularisierung in Nationalgeschichten, die sie bis zur jeweiligen Nationwerdung (aber eben nur bis da!) als bis zu ihrem tatsächlichen historischen Endziel beschreiben kann und b) auf die chronologische Partikularisierung des historischen Gesamtzusammenhanges in Einzelepochen, deren jede eine ihr eigene partikulare Sinnentität darstelle. W i e Ranke 1854 in seiner Arbeit „Über die Epochen der neueren Geschichte" sagt: „ I c h aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst." So zerstört sie das von Schiller richtig als für Geschichtskonstituierung notwendig anerkannte Prinzip, „das Vergangene mit dem Gegenwärtigen zu verknüpfen" (Schiller, a. a. O.). M i t der Auflösung eines solchen Gesamtzusammenhangs i n unabhängige nationale oder epochale Sinnentitäten w i r d die Möglichkeit kritischer Stellungnahme, Bewertung und Auswahl problematisch. Dies ist die Geburtsstunde des Positivismus mit seiner Hinwendung zur naturwissenschaftlich orientierten Kausalerklärung und seiner hypertrophen Quellensammlung und Faktenforschung: die Genese und das Wirken des Kunstwerks werden zur Erklärung in ein Bündel beliebig vermehrbar kausaler „Einflüsse" aufgelöst. I m Gegenzug zu dieser positivistisch-naturwissenschaftlichen Auflösung spezifischer Literarizität und zugleich ihrer zusammenhängenden Geschichtlichkeit versucht die Geistesgeschichte

beides i m M e d i u m vermeintlich überzeitlicher

Ideen und M o t i v e wiederzugewinnen. E i n Gedanke, der auch der nach dem Zweiten Weltkrieg aufblühenden Traditionsforschung

i n ihrer Erhebung der Kon-

tinuität des antiken Erbes zur höchsten Idee einer spezifisch literarischen Geschichte zugrundeliegt. 4 Geistesgeschichte und Traditionsforschung dispensieren sich damit von der Mühe j e alternierenden historischen Verstehens und entheben die Literaturgeschichte in eine v o m allgemeinen, wechselbestimmten Geschichtsablauf getrennte Sphäre. Diese K l u f t zwischen Dichtung und Geschichte w i r d durch die bis i n unsere Gegenwart hineinreichende, aktuelle Diskussion zwischen der (literatursoziologischen) marxistischen

und der (werkimmanenten) formalistischen

Schule noch

vertieft. Trotz ihrer internen Gegensätzlichkeit ist ihnen die Abkehr von der blinden Empirie des Positivismus und der ästhetischen Ahistorizität der Geistesgeschichte gemeinsam. Die Kernthese der traditionellen marxistischen Literaturtheorie ist die, der Kunst ebenso wie den anderen Formen des „Überbaus" eine eigenständige Geschichte abzusprechen. Kunst kann nur in Zusammenhang m i t

4

E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948; vgl. z. B. S. 404.

III. Gegen die Stillegung der Vernunft im Medium der Aisthesis

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der materiellen Produktion und gesellschaftlichen Praxis, d. h. als T e i l des allgemeinen Prozesses der Geschichte begriffen werden. Einer Geschichte, in der der Mensch sich v o m Zustand der Natürlichkeit allererst zu sich selbst emporarbeitet. Diese Dialektik von Natur und Arbeit, materiellen Rahmenbedingungen und konkreter Praxis, wie sie mindestens i m Arbeits-Begriff des frühen M a r x enthalten ist — in Ansätzen formuliert etwa in der Deutschen Ideologie ( 1 8 4 5 / 4 6 ) — hätte noch einen Kunst-Begriff erlaubt, der auch deren gesellschaftsbildenden Charakter und den von ihr auf den Gesamtprozeß der Geschichte dialektisch zurückwirkenden Einfluß impliziert. Stattdessen legte sich die marxistische Literaturtheorie i m Gefolge der bürgerlichen Realismusdebatte des 19. Jahrhunderts, i n der sich heute vergessene Literaten wie Champfleury und Duranty gegen die Wirklichkeitsferne der Romantik wandten und dabei das antike Prinzip der imitatio naturae wiederhervorholten, einseitig auf die Idee einer Nachahmungs- und Widerspiegelungsfunktion der Kunst fest. „Gemessen an der ursprünglich antinaturalistischen Position der marxistischen Theorie kann (diese) ihre Verengung auf das Mimesisideal des bürgerlichen Realismus nur als Rückfall in einen substanzialistischen Materialismus bewertet werden" (S. 156). Ausgehend von einem solchen — in der stalinistischen Ära dann unter dem Titel „sozialistischer Realismus" zum offiziellen Dogma erhobenen — Nachahmungspostulat konnte die traditionelle marxistische Literaturkritik verständlicherweise keinen Zugang mehr zur modernen Kunst finden und muß sie als dekadent ablehnen. Kunst verliert ihren eigenständigen Charakter, sie w i r d zum Abklatsch von Geschichte; und die — hinreichend monotone — Aufgabe des Interpreten besteht dann darin, jedes Kunstprodukt einer Zeit als Ausdruck der einen, grundlegenden und bestimmenden, ökonomischen Bedingung darzustellen. Die subtile Vielschichtigkeit der Produktionen des „Überbaus" w i r d dabei ebenso marginalisiert, wie die Reihe der Meisterwerke als Ausdruck bewußter Einsichten in den gesellschaftlichen Prozeß oder als unfreiwilliger Ausdruck der dort eingetretenen Veränderungen in den Mittelpunkt gerückt wird. Demgegenüber hatte schon Marx, als er in der „Einleitung zur K r i t i k der politischen Ökonomie" v o m „unegalen Verhältnis der Entwicklung der materiellen Produktion . . . zur künstlerischen" sprach, eine Position jenseits von M i m e t i k und Homogenität des Gleichzeitigen bezogen. Die Marx'sehe Frage, warum uns ein Werk noch Kunstgenuß gewähren kann, das in einer längst untergegangenen gesellschaftlichen Wirklichkeit entstanden ist, bleibt denn auch etwa für Georg Lukâcs, den führenden Vertreter der Widerspiegelungstheorie, nur unter Rekurs auf einen als zeitlos-ideal und damit eben nicht historisch-dialektisch bestimmten Klassik-Begriff beantwortbar. 5 Sein Versuch, auch die „aktive Stellungnahme" des Überbaus „für oder wider die alte

5

G. Lukâcs, Einführung in die ästhetischen Schriften von Marx und Engels, 1945. — Literatur und Kunst als Überbau, 1951.

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oder neue Basis" zu thematisieren, muß solange in der L u f t hängenbleiben, wie er gleichzeitig an der sich am Ende doch m i t Notwendigkeit durchsetzenden Wirkkraft der Ökonomie festhält. U n d wenn nach Lucien Goldmann 6 die „expression cohérente" der Literatur die „signification objektive", die Nachbildung und das Wiedererkennenlassen der schon vor-gewußten sozialen Wirklichkeit zum Z i e l hat, dann bedeutet auch dies nur, alten W e i n in neue Schläuche zu gießen. So beraubte sich ausgerechnet die marxistische Literaturgeschichte der Möglichkeit, gerade auch den revolutionären Charakter der Kunst zu fassen. Erst bei Autoren wie Werner Krauss, Roger Garaudy und Karel Kosik zeichnet sich eine (Rück)-Wendung zur Anerkenntnis der Eigengeschichtlichkeit der Literatur und damit zur Wiederentdeckung ihrer spezifischen Rolle i m Gesamtgeschichtsprozeß ab. Karl Kosik ζ. B. schreibt: „Jedes künstlerische Werk hat in unteilbarer Einheit einen doppelten Charakter: es ist Ausdruck von Wirklichkeit; aber es bildet auch die Wirklichkeit, die nicht neben dem Werk und vor dem Werk, sondern gerade nur i m Werk existiert". 7 „Das Werk ist ein Werk und lebt als ein Werk deshalb, weil es eine Interpretation fordert und in vielen Bedeutungen wirkt".* Damit ist der Anschluß an einen Gedanken gewonnen, den Marx in der „Einleitung zur K r i t i k der politischen Ökonomie" formulierte: „ D e r Kunstgegenstand — ebenso jedes andere Produkt — schafft ein kunstsinniges und schönheitsgenußfähiges Publikum. Die Produktion produziert daher nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand". V o n hierher ist der Weg offen zu der Einsicht, daß Literaturgeschichte zu schreiben bedeuten muß, die Interaktion zwischen produzierendem und konsumierendem Subjekt (Werk-Leserreaktion-neues Werk) als einen dialogisch vonstattengehenden Prozeß zu beschreiben. Oie formalistische Schule nahm schon seit ihren Anfängen in der „Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache (Opojas)", 1916, eine der orthodox marxistischen Auflösung der literarischen Eigenständigkeit i m Gesamtzusammenhang einer ökonomisch determinierten Wirklichkeit entgegengesetzte Position ein, indem sie nun gerade das literarische Werk von allen historischen Bedingungen löste und als „Summe aller darin angewandten Kunstmittel" (so Slovskij, 1921) und später als „System", in dem jedes Kunstmittel eine bestimmte Funktion zu erfüllen hat, definierte. Kunst zu rezipieren kann nicht i m naiven Genuß des Schönen bestehen, sondern impliziert eine bewußte Analyse von Form und Verfahren. Es w i r d streng unterschieden zwischen „literarischer" und „nicht literarischer Reihe", zwischen „praktischer" und „poetischer" Sprache. Ja, die v o m Formalismus postulierte spezifisch „künstlerische Wahrnehmung" zerstört geradezu den Automatismus der alltäglichen Wahrnehmung. So sehr also der 6

L. Goldmann, Pour une sociologie du roman. Paris 1964, S. 44 ff. 7 Κ . Kosik, Die Dialektik des Konkreten, Frankfurt/M. 1967, S. 123. « Ebd., S. 138 f.

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Formalismus einerseits die Eigenständigkeit literarischer Produktion betont und damit einen Fehler der marxistischen Konzeption korrigiert, so sehr vereinseitigt er andererseits zugleich diese Eigenständigkeit hin zu einer autonomen, der sozialen Wirklichkeit entzogenen, totalen Independenz. Eine ähnliche Ambivalenz gilt auch für das Geschichtswerständnis des Formalismus. Ganz i m Sinne der Opposition von „nicht literarischer" und „literarischer Reihe" w i r d die Geschichte der Literatur nur „gegen den Hintergrund anderer Kunstwerke und durch Assoziation mit ihnen wahrgenommen". 9 In der unabhängigen Geschichte „literarischer Evolutionen" gibt es den Prozeß der „dialektischen Selbsterzeugung neuer Formen". Geschichte bietet sich demzufolge dann nicht unter dem marxistischen Vorzeichen vermeintlicher epochaler Homogenität und ihrer geradlinig kontinuierlichen Veränderung, sondern als ein Prozeß m i t Brüchen, Sprüngen, Diskontinuitäten und gleichzeitiger Heterogenität und Widersprüchlichkeit dar. Zugleich wurde der zunächst ahistorische Systembegriff in der Erkenntnis aufgelöst, daß „jedes System notwendigerweise als Evolution auftritt und andererseits die Evolution zwangsläufig Systemcharakter t r ä g t " . 1 0 Diese Wiederentdeckung der eigenen Geschichtlichkeit der Literatur genügt nun aber ganz offensichtlich dem Wunsch einer ausreichenden Erklärung ihres Zusammenhangs mit dem allgemeinen Prozeß der Geschichte nicht. Was nach marxistischer Vereinnahmung der Kunst durch Geschichte und formalistischer Vereinsamung der Kunst außerhalb der Geschichte als Desiderat bleibt, ist — Jauss faßt hier die aus der Aporiegeschichte sich ergebenden Resultate zusammen — das Konzept einer Literaturgeschichte zu entwerfen, die 1. den Begriff spezifischer Literarizität kennt, 2. die Eingebundenheit des literarischen Prozesses in den historischen Gesamtprozeß nicht leugnet, sondern gerade ihn ereignishaft zu beschreiben versucht, 3. den geschichtsphilosophischen Endzielgedanken der historischen Entwicklung nicht als Bewertungskriterium benötigt, 4. gleichwohl die idealistische Konzeption des Zusammenhangs zwischen Vergangenheit und Gegenwart bewahrt, was dann auch impliziert, daß 5. positivistische Faktenanhäufung vermieden wird; schließlich soll 6. Geschichte nicht durch ahistorische Idealitäten, etwa geistesgeschichtlicher Prägung, aufgelöst werden. A u f diese Herausforderung der Literaturwissenschaft versucht Jauss mit seinem rezeptionsästhetischen M o d e l l zu antworten. Entgegen den formalistischen und marxistischen Methoden, die „das literarische Faktum i m geschlossenen Kreis einer Produktions- und Darstellungsästhetik" (S. 168) zu interpretieren trachten und damit die Literatur um die „Dimension ihrer Rezeption und W i r k u n g bei Leser, Hörer oder Zuschauer" verkürzen, verweist Jauss darauf, daß „die Geschichtlichkeit der Literatur wie ihr kommunikativer Charakter ein dialogisches 9 Sklovskij, Der Zusammenhang der Mittel des Sujetbaus mit den allgemeinen Stilmitteln; Poetik, 1919. 10 R. Jakobson/ J. Tynjanow, Probleme der Literatur und Sprachforschung, 1966.

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und zugleich prozeßhaftes Verhältnis von Werk, Publikum und neuem Werk (voraus)setzen, das sowohl i n der Beziehung von Mitteilung und Empfänger wie auch in den Bezeichnungen von Frage und Antwort, Problem und Lösung erfaßt werden kann". Nur so kann die Folge literarischer Werke als literaturgeschichtlicher Zusammenhang begriffen werden. Dieser konstituiert sich gerade i m kontinuierlichen H i n und Her des Dialogs zwischen literarischem Werk, seiner spezifischen Rezeption seitens des Lesers und deren Einfluß auf das weitere literarische Schaffen. In eben diesem Moment nun ist zugleich auch die Vermittlung des historischen Aspekts mit dem der spezifischen Literarizität gewährleistet. Einer rezeptionsästhetischen Literaturgeschichtsschreibung geht es darum (S. 170), „die geschichtliche Folge der Werke so zu sehen und darzustellen, wie sie den für uns bedeutsamen Zusammenhang der Literatur als Vorgeschichte ihrer gegenwärtigen Erfahrung bedingt und erhellt". W i e i m Einzelnen nun eine rezeptionsästhetische Literaturgeschichte „methodisch begründet und neu geschrieben werden könnte", erläutert Jauss vor dem Hintergrund diese Grundsatzüberlegungen anhand von sieben Thesen, die ich hier vollständig wiedergebe. 1. „Eine Erneuerung der Literaturgeschichte erfordert, die Vorurteile des historischen Objektivismus abzubauen und die traditionelle Produktions- und Darstellungsästhetik in einer Rezeptions- und Wirkungsästhetik zu fundieren. Die Geschichtlichkeit der Literatur beruht nicht auf einem post festum erstellten Zusammenhang literarischer Fakten', sondern auf der vorgängigen Erfahrung des literarischen Werkes durch seine Leser. Dieses dialogische Verhältnis ist auch die primäre Gelegenheit für die Literaturgeschichte. Denn der Literaturhistoriker muß selbst immer erst wieder zum Leser werden, bevor er sein Werk verstehen und einordnen, anders gesagt: sein eigenes Urteil i m Bewußtsein seines gegenwärtigen Standorts in der historischen Reihe der Leser begründen kann" (S. 171). Diese These wendet sich i m Namen eines dialogbezogenen Literaturverständnisses insbesondere gegen die positivistische Auffassung von Geschichte als etwas zeitlos, „ o b j e k t i v " Existierendem. Der „Perceval" des Chrétien de Troyes ζ. B. hat nicht seine objektive geschichtliche Bedeutung für sich selbst; er ist erst dann mehr als ein bloßes historisches „Faktum", wenn er vor dem Hintergrund anderer, früherer Werke gelesen wird, in einen durch vorgängige „literarische Erfahrung" konstituierten „Erwartungshorizont" eintritt und so zugleich zur Schaffung eines Maßstabes, an dem künftige Literatur gemessen werden kann, beiträgt. Geschichte als Zusammenhang von vergangenem Werk und Gegenwart existiert nicht objektiv, sondern konstituiert sich allererst i m ständig wechselnden Prozeß von Rezeption und Dialog. Die Dialektik von Produktion und Rezeption schafft den historischen Zusammenhang. Was es dann herauszuarbeiten gilt, ist nicht das als independent unterstellte „Objekt Geschichte", sondern eben die Objektivation des Erwartungshorizonts, von dem her sich der Geschichtlichkeitscharakter — Jauss nennt dies auch den „Ereignis- oder Prozeßcharakter" — eines Werkes ergibt.

III. Gegen die Stillegung der Vernunft im Medium der A i s t h e s i s 1 1 3 2. „ D i e Analyse der literarischen Erfahrung des Lesers entgeht dann dem drohenden Psychologismus, wenn sie Aufnahme und Wirkung eines Werks in dem objektivierbaren Bezugssystem der Erwartungen beschreibt, das sich für jedes Werk i m historischen Augenblick seines Erscheinens aus dem Vorverständnis der Gattung, aus der Form und Thematik zuvor bekannter Werke und aus dem Gegensatz von poetischer und praktischer Sprache ergibt." Entgegen René Welleks Verdacht läuft rezeptionsästhetische Literaturinterpretation nicht bestenfalls auf eine Soziologie des Geschmacks hinaus. 1 1 Objektivitätsermöglichende Kriterien liegen a) in den in gewissem Umfang wahrnehmungssteuernden Techniken des Werkes selbst, b) in dem Bezug, in den es sich zu vorhergehenden, dem Publikum geläufigen literarischen Inhalten und Techniken setzt, und c) in dem Verhältnis, daß es zu der jeweils gegenwärtigen nichtliterarischen Sprachebene des Publikums hat und in dem es die von dorther entstehende Erwartung bestätigt, modifiziert oder enttäuscht. So evoziert, um ein Beispiel für den zweiten Fall zu geben, Cervantes in seinem „ D o n Quijote" den aus literarischer Erfahrung mit dem Genre des Ritterromans entstandenen Erwartungshorizont seines zeitgenössischen Publikums, um diesen dann i m M e d i u m der Schilderung der Abenteuer seines Helden zu parodieren. 3. „ D e r so rekonstruierbare Erwartungshorizont eines Werkes ermöglicht es, seinen Kunstcharakter an der Art und dem Grad seiner Wirkung auf ein vorausgesetztes Publikum zu bestimmen. Bezeichnet man den Abstand zwischen dem vorgegebenen Erwartungshorizont und der Erscheinung eines neuen Werkes, dessen Aufnahme durch Negierung vertrauter oder Bewußtmachung erstmalig ausgesprochener Erfahrungen einen ,Horizontwander zur Folge haben kann, als ästhetische Distanz, so läßt sich dieses am Spektrum der Reaktionen des Publikums und des Urteils der K r i t i k (spontaner Erfolg, Ablehnung oder Schockierung; vereinzelte Zustimmung, allmähliches oder verspätetes Verständnis) historisch vergegenständlichen." Aus dem Begriff der „ästhetischen Distanz" macht Jauss zugleich auch ein Bewertungskriterium für Kunst: „ D i e A r t und Weise, in der ein literarisches Werk i m historischen Augenblick seines Erscheinens die Erwartungen seines ersten Publikums einlöst, übertrifft, enttäuscht oder widerlegt, gibt offensichtlich ein Kriterium für die Bestimmung seines ästhetischen Wertes her" (S. 177 f.). Flauberts „Madame Bovary" zog eben gerade deshalb einen Prozeß wegen Verletzung der öffentlichen Moral nach sich, weil sein neues Prinzip „unpersönlichen Erzählens" („impassibilité") vor dem Hintergrund der traditionellen Stilerwartungen des Publikums des Jahres 1857 als Sanktionierung der Ehebrüche seiner Hauptperson erschien.

π René Wellek, The theory of literary history, 1936, S. 179. 8 Hesse

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Bloß kulinarische Unterhaltungskost erfordert keinen Horizontenwandel; und nach Aufnahme literarischer Werke in einen „klassischen Kanon" besteht hier dieselbe Gefahr der Kulinarisierung. Daß klassische Kunstwerke einen „ewigen Sinn" hätten, läßt sich nur dann behaupten, wenn man sie bereits nicht mehr i m M e d i u m ästhetischer Distanz als horizontwandelnde literarische Werke begreift. Es bedarf dann einer besonderen Anstrengung, sie „gegen den Strich der eingewöhnten Erfahrung" quasi in ästhetischer Distanz zu lesen. 4. „ D i e Rekonstruktion des Erwartungshorizontes, vor dem ein Werk in der Vergangenheit geschaffen und aufgenommen wurde, ermöglicht andererseits Fragen zu stellen, auf die der Text eine Antwort gab, und damit zu erschließen, wie der einstige Leser das Werk gesehen und verstanden haben kann. Dieser Zugang korrigiert die meist unerkannten Normen eines klassischen oder modernisierenden Kunstverständnisses und erspart den zirkelhaften Rekurs auf einen allgemeinen Geist der Epoche. Er bringt die hermeneutische Differenz zwischen dem einstigen und dem heutigen Verständnis eines Werkes vor Augen, macht die — beide Positionen vermittelnde — Geschichte seiner Rezeption bewußt und stellt damit die scheinbare Selbstverständlichkeit, daß i m literarischen Text Dichtung zeitlos gegenwärtig und ihr objektiver, ein für allemal geprägter Sinn dem Interpreten jederzeit unmittelbar zugänglich sei, als ein platonisierendes Dogma der philologischen Metaphysik in Frage." Als Beispiel für modernisierendes Mißverstehen führt Jauss die i m Zeichen der Grimmschen romantischen Vorstellungen von reiner Naturpoesie und naivem Tiermärchen stehende moderne Interpretation des mittelalterlichen „Reineke Fuchs" an, die die ursprünglichen satirischen Intentionen und damit den ironischlehrhaften Sinn der Analogie von tierischem Wesen und menschlicher Natur verkennt. So geht der Dichter der ältesten Branchen des „Roman de Renart" zum Beispiel davon aus, dies macht der Prolog deutlich, „daß seine Hörer Romane wie die Trojageschichte, den ,Tristan 4 , Heldenepen (Chansons de geste) und Versschwänke (fabliaux) kennen und darum auf den ,unerhörten Krieg der beiden Barone, Renart und Ysengrin 4 , gespannt sind, der alles Bekannte in den Schatten stellen soll. Die evozierten Werke und Gattungen werden hernach i m Verlauf der Erzählung allesamt ironisch gestreift. Aus diesem Horizontwandel erklärt sich wohl auch der weit über Frankreich hinausgehende Publikumserfolg dieses rasch berühmt gewordenen Werkes, das erstmalig die Gegenposition zu aller bislang herrschenden heroischen und höfischen Dichtung bezog". Offensichtlich schützt also der historische Objektivismus den philologisch-kritischen Interpreten nicht davor, sein Vorverständnis des Textes diesem überzustülpen und damit seine eigene Theorie vom „zeitlos wahren 44 Gehalt der Dichtung implicite zu widerlegen. Jauss zieht Gadamers „Wahrheit und Methode 44 als systematisierende Entfaltung dieses Gedankens heran. Gadamers Prinzip der Wirkungsgeschichte begreift Geschichte nach der Logik von Frage und Antwort. Die Wirklichkeit der Ge-

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schichte ist i m (Fragen stellenden) Verstehen selbst zu suchen. Das Verstehenwollen der Gegenwart bettet den historischen Horizont, auf den es sich richtet, immer schon in den der Gegenwart ein. Die letzten drei Thesen beziehen sich auf die produktive Funktion des Verstehens a) i m diachronischen Rezeptionszusammenhang der literarischen Werke, b) i m synchronischen Bezugssystem gleichzeitiger Literatur und c) i m Verhältnis Literaturgeschichte — Allgemeingeschichte. 5. „ D i e rezeptionsästhetische Theorie erlaubt nicht allein, Sinn und Form des literarischen Werks in der geschichtlichen Entfaltung seines Verständnisses zu begreifen. Sie erfordert auch, das einzelne Werk in seine literarische Reihe einzurücken, um seine geschichtliche Stelle und Bedeutung i m Erfahrungszusammenhang der Literatur zu erkennen. I m Schritt von einer Rezeptionsgeschichte der Werke zur ereignishaften Geschichte der Literatur zeigt sich diese als ein Prozeß, in dem sich die passive Rezeption des Lesers und Kritikers i n die aktive Rezeption und neue Produktion des Autors umsetzt oder in dem — anders gesehen — das nächste Werk formale und moralische Probleme, die das letzte Werk hinterließ, lösen und wieder neue Probleme aufgeben kann." Damit ist — durchaus i m Sinn der formalistischen Schule — ein geschichtlicher Zusammenhang zwischen den einzelnen historischen „Fakten" konstruiert, und dieser Zusammenhang muß nicht mehr — wie i n der geschichtsphilosophischen Theorie — als auf einen Zielpunkt hin gerichtet konstruiert werden, weil er nämlich „als dialektische Selbsterzeugung neuer Formen keiner Teleologie bedarf." Zugleich enthebt er den Literaturhistoriker des Problems der Auswahl, da es hier die neue Form innerhalb der literarischen Reihe ist, die zu Buche schlägt. Der ästhetische Charakter eines Kunstwerks ist so — qua Innovation — geradezu mit seinem geschichtlichen Charakter gleichbedeutend (S. 190). Dank der Möglichkeit des Verweises auf die dialog-konstituierende Rezeptionsleistung des jeweiligen Leserpublikums erscheinen nun von rezeptionsästhetischer Position aus einige kritische Fragen als beantwortbar, die traditionellerweise an den Formalismus gestellt werden, und die dieser als bloße Darstellungsästhetik resp. Produktionsästhetik nicht beantworten kann. Die Frage nach der Entwicklungsrichtung des dialektischen Selbsterzeugungsprozesses dadurch, daß nun das j e gegenwärtige Leserpublikum in seiner Verstehensleistung als Fluchtpunkt (nicht als literaturgeschichtsimmanentes Ziel) des historischen Prozesses begriffen werden kann. Die Frage nach dem wachstumserklärenden Moment, die beim bloß darstellungsimmanenten Betrachten offen bleiben muß, durch Hinweis auf die kritische Produktionsleistung des Publikums. Die Frage, ob Innovation als Kunstkriterium ausreiche, durch Verweis darauf, daß Innovation mehr umfaßt als die bloß literaturinterne Systemweiterentwicklung, nämlich eben auch den Aspekt des jeweiligen historischen Horizonts, der das Neue für das betreffende Leserpublikum überhaupt erst zum Neuen macht.

8*

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6. „ D i e Ergebnisse, die in der Sprachwissenschaft mit der Unterscheidung und methodischen Verbindung von diachronischer und synchronischer Analyse erzielt wurden, geben Anlaß, auch in der Literaturgeschichte die bisher allein übliche diachronische Betrachtung zu überwinden. Wenn schon die rezeptionsgeschichtliche Perspektive bei Veränderungen der ästhetischen Einstellung immer wieder auf funktionale Zusammenhänge zwischen dem Verständnis neuer und der Bedeutung älterer Werke stößt, so muß es auch möglich sein, durch einen Moment der Entwicklung einen synchronischen Schnitt zu legen, die heterogene Vielfalt der gleichzeitigen Werke in äquivalente, gegensätzliche und hierarchische Strukturen zu gliedern und so ein übergreifendes Bezugssystem i n der Literatur eines historischen Augenblicks aufzudecken. Daraus ließe sich das Darstellungsprinzip einer neuen Literaturgeschichte entwickeln, wenn weitere Schnitte i m Vorher und Nachher der Diachronie so angelegt werden, daß sie den literarischen Strukturwandel historisch in seinen epochebildenden Momenten artikulieren. Dieser Vorschlag, synchrone Querschnittsanalysen epochebildender Momente einander zuzuordnen, geht auf die Einsicht Siegfried Kracauers in die „Koexistenz des Gleichzeitigen und des Ungleichzeitigen' 4 zurück, d. h. auf die Einsicht, daß die heterogene Vielheit der Geschehnisse eines Augenblicks der allgemeinen Geschichte („general history 44 ) in Wirklichkeit auf ganz unterschiedlichen Zeitkurven j e eigener Geschichte („special history 44 ) zu lokalisieren sind. 1 2 Nur ein solches Eingehen auf die faktische „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen 44 w i r d dem Faktum gerecht, daß in einem gegebenen historischen Moment das späterhin dann wirkungsgeschichtlich bedeutsame Werk sich immer auch durchzusetzen hatte gegen andere Werke gleicher oder anderer Gattung, die sozusagen sich jeweils auf anderen Punkten ihrer spezifischen Zeitkurven befanden. E i n solcher synchronischer Schnitt impliziert zugleich den diachronischen Aspekt und verlangt damit nach weiteren Querschnitten i m Vorher und Nachher, weil das jeweils synchrone literarische „System 44 einer Zeit nicht als eigenständig, sondern eben nur als historisch vermittelt begreifbar ist. 7. „ D i e Aufgabe der Literaturwissenschaft ist erst dann vollendet, wenn die literarische Produktion nicht allein synchron und diachron i n der Abfolge ihrer Systeme dargestellt, sondern als besondere Geschichte auch in dem ihr eigenen Verhältnis zu der allgemeinen Geschichte gesehen wird. Dieses Verhältnis geht nicht darin auf, daß sich in der Literatur aller Zeiten ein typisiertes, idealisiertes, satirisches oder utopisches B i l d gesellschaftlichen Daseins auffinden läßt. Die gesellschaftliche Funktion der Literatur w i r d erst dort in ihrer genuinen Möglichkeit manifest, wo die literarische Erfahrung des Lesers in den Erwartungshorizont seiner Lebenspraxis eintritt, sein Weltverständnis präformiert und damit auch auf sein gesellschaftliches Verhalten zurückwirkt. 4 4

12 S. Kracauer, Time and History, in: Festschrift für Th. W. Adorno, Frankfurt/M. 1963.

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Diese gesellschaftsbildende Funktion der Kunst w i r d außer v o m Marxismus und Formalismus auch v o m literarischen „Strukturalismus" verfehlt; denn die strukturale Anthropologie von Claude Lévi-Straufi, auf die sich diese Literaturtheorie beruft, reduziert das geschichtliche Dasein des Menschen lediglich „auf Strukturen einer urtümlichen gesellschaftlichen Natur (und) die Dichtung auf deren mythischen oder symbolischen Ausdruck." Damit aber bleibt die eigenständige Leistung der Literatur sowohl innerhalb der „literarischen Reihe" wie auch i m gesellschaftlichen Bedeutungsfeld außer Betracht. Ansätze zu einer Verbindung zwischen rezeptionsästhetischer Literaturtheorie und allgemeiner Wissenschaftsheorie sieht Jauss i n der Rolle, die der Erwartungsbegriff etwa bei K . R. Popper spielt, indem Popper z. B. die „Enttäuschung von Erwartungen" als das bestimmende Moment für den Erkenntnisfortschritt der Wissenschaft bezeichnet 1 3 . Der spezifische Erwartungshorizont der Literatur bewahrt nicht nur gemachte Erfahrungen; er antizipiert auch unverwirklichte Möglichkeiten, indem er neue Ansprüche und Wünsche in den j e begrenzten Rahmen gesellschaftlicher Realität einbringt. Dies gilt ebenso hinsichtlich der Anreize zu veränderter oder neuer ästhetischer Wahrnehmung wie auch i m Sinne ästhetischen Appells zu moralisch veranwortlichem Reden und Handeln. W i e z. B. eine, den Leser zunächst schokkierende, Unsicherheit des moralischen Urteils und damit eine virtuelle Distanzierung von überkommenen Moralkategorien literarisch provoziert werden kann, bezeugt eindrucksvoll Flauberts Stilmittel der „erlebten Rede". Eine hierfür charakteristische Stelle sei zum Abschluß zitiert. Als in „Madame Bovary" Emma sich nach ihrem ersten „Fehltritt" i m Spiegel betrachtet, heißt es: „ E n s'apercevant dans la glace, elle s'étonnait de son visage. Jamais elle n'avait eu les yeux si grands, si noirs, ni d'une telle profondeur. Quelque chose de subtil épandu sur sa personne la transfigurait. Elle se répétait: J'ai un amant! un amant! se délectant à cette idée comme à celle d'une autre puberté qui lui serait survenue. Elle allait donc enfin posséder ces plaisirs de l'amour, cette fièvre de bonheur dont elle avait désespéré. Elle entrait dans quelque chose de merveilleux, ou tout serait passion, extase, délire . . ." Hier hat der Leser selbst zu entscheiden, ob er die ohne die Signale direkter oder indirekter Rede verwendeten Sätze als so gemeinte Aussagen des Autors oder als Meinung der Person verstehen soll. Der Staatsanwalt nahm sie für das erstere und erregte sich über sie als „glorification de l'adultère". Literatur auch als Tabukritik und Beitrag zur Lösung moralischer Lebensweltkasuistik zu sehen, heißt, ihre gesellschaftsbildende Funktion i n den B l i c k zu nehmen und so die Brücke zwischen der spezifischen Literaturgeschiche und der 13 K. R. Popper, Naturgesetz und theoretische Systeme, in: Theorie und Realität, Tübingen 1964, S. 87-102.

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Allgemeingeschichte zu schlagen. U n d eben dies ist dann das große Programm einer solchen Literaturgeschichte: aufzuzeigen, welche Rolle i m Verein mit anderen gesellschaftlichen Mächten der Literatur bei der Emanzipation der Menschheit aus den naturhaften, religiösen und sozialen Bedingtheiten zukam. 3. Stellungnahme Ziel meiner K r i t i k ist, klarzumachen, daß die rezeptionsästhetische Literaturgeschichtstheorie auf nur einem Bein steht, und wie es kommt, daß sie kein zweites hat. Das Bein, auf dem sie m. E. steht, ist das der Dialogtheorie. Daß sie kein zweites hat, liegt daran, daß sie sich bisher nicht der Notwendigkeit einer Normentheoriediskussion bewußt geworden ist. Ich sage nicht, daß ihr diese oder jene Normentheorie fehlt. Nur dies: Ihr fehlt die Erkenntnis, daß auch die beste Dialoghermeneutik in den entscheidenden Problemen (in den Problemen der Definition, Bewertung und Auswahl von Literatur) stumm bleiben muß, wenn sie sich gegenüber der Einsicht sperrt, daß schon die „rein empirische" Beschreibung von Dialogprozessen methodologisch nicht möglich ist, ohne sich dabei normentheoretischen Fragen konfrontiert zu sehen. Ich möchte ihr keine Antw o r t e n ) auf diese Frage anbieten. Nur sie auf den schlichten Zwang verweisen: entweder diese Fragen sind expressis verbis zu stellen oder aber auch in den eigenen (dialogtheoretischen) Grundsatzfragen stumm zu bleiben. Hand in Hand damit w i l l ich versuchen, die Rezeptionsästhetik in das Bezugsfeld von kritischtheoretischer resp. konstruktivistisch-transzendentalpragmatischer

Philosophie

auf der einen und hermeneutischer Philosophie auf der anderen Seite einzuordnen. Für die große Leistung der Rezeptionsästhetik halte ich die Dialogtheorie. I n der Tat läßt sich Literaturgeschichte als prozeßhafter Ereigniszusammenhang beschreiben, wenn man sie als einen nicht abreißenden, immer wieder auf sich zurückkommenden Dialog zwischen Autoren und Publikum begreift 1 4 . Z u Recht w i r d in diesem Zusammenhang auch und gerade die produktive Funktion des Lesers als quasi gleichberechtigter Gesprächspartner betont. Der Leser ist eben nicht nur Empfänger, nicht nur Rezipient. Er ist zugleich, indem er Antworten gibt oder Fragen stellt, auch ein Gebender und macht so den Autor zum Rezipienten. Bei Jauss bezieht sich der Ausdruck „Rezipient" allerdings vorwiegend auf den Leser. U m auch dessen aktive Rolle deutlich zu machen, wäre es adäquater gewesen, den Rezeptions- zugunsten des Dialogbegriffs zurückzustellen. Ich möchte mich i m folgenden auf die Rezeptionsästhetik als auf die „Dialogästhetik" beziehen. Die dialogisch begriffene Literaturgeschichtsschreibung läßt sich, wie die Thesen gezeigt haben, jenseits der Aporien vergangener Literaturgeschichte und i 4 H. R. Jauss, Literaturgeschichte als Provokation, S. 169 unten, S. 171 These, S. 172 Anm. 66, S. 188 unten.

III. Gegen die Stillegung der Vernunft im Medium der A i s t h e s i s 1 1 9 damit verstehender Wissenschaft überhaupt

konstruieren. Wenn sie Geschichte

als Dialog begreift, so liegt sie damit in einer bislang kaum diskutierten Weise parallel zu den Wahrheitstheorien von Konstruktivismus und Transzendentalpragmatik. Beiden philosophischen Schulen ist der Dialogbegriff und der aus ihm idealiter gewonnene Konsensbegriff wahrheitskonstitutiv. Ein Dialog aber wird nie nur auf der Messerschneide punktueller Gegenwärtigkeit geführt; in einen Dialog einzutreten, heißt, sich in eine Geschichte einzureihen. Argumente und Gegenargumente sind nicht i m jeweiligen Augenblick ausgearbeitet, sondern in meist langer Vorgeschichte. Die Aussage „Geschichte konstituiert sich i m Dialog" und die Aussage „Wahrheit konstituiert sich i m Dialog" sind zueinander nicht konträr oder gar kontradiktorisch, sondern komplementär. Allerdings sind sie auch nicht als jeweils vollständige Definition mißzuverstehen. Geschichte ist nicht gleich Wahrheit; was Wahrheit ist, erfährt man nicht schlicht durch Geschichte — wie etwa die Geschichtsphilosophie meinte. U n d Geschichte läßt sich nicht in die Coquille einer sich ahistorisch mißverstehenden systematischen Philosophie gießen — wie manche Vertreter der konstruktivistischen Theorie „rationaler Rekonstruktion" zu meinen scheinen. Die Folgerung heißt nur: Wenn w i r wissen wollen, was w i r als sichere Lebensorientierung (als Wahrheit) anerkennen können, müssen w i r miteinander reden; dieses Miteinanderreden hat seine lange Vorgeschichte; ja, dieses Miteinanderreden ist schon immer für die Menschen so wichtig gewesen, daß es recht eigentlich das bestimmende Kennzeichen unserer Geschichte überhaupt ist; mindestens aber: Das dialogische H i n und Her ist gerade das, was uns an der Vergangenheit so sehr interessiert, daß w i r es uns als „unsere Vorgeschichte" beschreibend zu eigen machen möchten. Geschichte von einem je gegenwärtigen eigenen Standpunkt aus in ihrer Eigenschaft als Vorgeschichte des den gegenwärtigen Standpunkt charakterisierenden Dialogs zu befragen, ist Kern „rezeptionsästhetischer" Literaturgeschichte ebenso wie einer konstruktivistisch oder transzendentalpragmatisch verfaßten Philosophiegeschichte. Und ebenso wie diese beiden läßt sich auch jene durch den Dialogbegriff und die darin implizierte Historisierung nicht zu einer relativistischen Aufgabe des Objektivitätsbegriffs verleiten: Objektivität ist nicht an sich gegeben; Interpretationen sind nicht ewig gültig, der Sinn literarischer Werke ist nicht ein für allemal geprägt (s. die Thesen 4 und 7). Das heißt aber mit anderen Worten nur: Objektivität ist nicht unabhängig v o m erkenntnisschaffenden Dialogprozeß, der sich — wie auch anders — i m M e d i u m der Zeit vollzieht, zu begreifen. Gerade am Objektivitätsbegriff zeigt sich, daß die Dialogästhetik auf der philosophischen Höhe der Zeit ist. Folgerichtig wenden sich ihre antiobjektivistischen Argumente nicht gegen „Objektivität überhaupt", sondern gegen den positivistischen Mythos des „historischen Objektivismus" als der Theorie, wonach der Zusammenhang der Geschichte an sich selbst schon positiv zu finden sei (These 1 und These 4). Die Dialogästhetik verwirft den Gedanken des objektiven Gegebenseins eines

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zeitlos feststehenden Zusammenhangs der Geschichte. „Objektiviert" werden — oder, wie es auch heißt, „vergegenständlicht" werden — kann aber das „Bezugssystem der Erwartungen" (s. These 2), auf das ein neues literarisches Werk bei seinen Lesern trifft und das sich i m Laufe der Zeit qua Dialogprozeß ändert. Die Beschreibung des Dialogprozesses ist objektiv möglich. So spricht Jauss ζ. B. in seiner These 3 von der Möglichkeit, die ästhetische Distanz zum Kunstwerk „ a m Spektrum der Reaktionen des Publikums . . . historisch (zu) vergegenständlichen". „ O b j e k t i v " heißt jetzt soviel wie „wissenschaftlich", „zuverlässigerweise", „ i n intersubjektiv nachkontrollierbarer Weise" o. ä. und bezieht sich damit jedenfalls auf die Erkenntnismethoden und nicht mehr auf den Erkenntnisgegenstand, dem solche Objektivität bereits vorgängig zu eigen wäre. Den Anspruch auf Objektivität überhaupt aufzugeben aber hieße, den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit aufzugeben. Genau dieser Anspruch scheint m i r nun aber unter der Hand dann doch dort i m Stich gelassen zu sein, wo Jauss die entscheidende Wende des Gadamerschen Geschichtlichkeitsbegriffs mitmacht und Gadamer darin zustimmt, „daß die rekonstruierte Frage nicht mehr in ihrem ursprünglichen Horizont stehen kann, weil dieser historische Horizont immer schon v o m Horizont unserer Gegenwart umfaßt ist: (Zitat Gadamer) Verstehen (ist) immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte" (S. 185). Den Gedanken mitzumachen, daß eine historische Frage nicht als in ihrem historischen Kontext stehend rekonstruiert werden kann, bedeutet aber zugleich, den für die Dialogästhetik zentralen Gedanken einer objektiv möglichen, sukzessiven Rekonstruktion der diversen historischen Horizonte, d. h. der verschiedenen historischen Dialogsituationen, zu verabschieden. Wenn w i r fragen: Welches war das Verständnis des „Roman de Renart" i m Mittelalter?, so ist dies unsere gegenwärtige Frage. Die Leser des „Roman de Renart" fragten so nicht, weil sie nicht so fragen konnten: Für sie war der „Roman de Renart" Gegenwartsliteratur, und sie begriffen sich selbst nicht als Menschen irgendeines „Mittelalters". Gleichwohl hatten sie ein Verständnis des „Roman de Renart", und zwar, wie Jauss erläutert, ein ironisch-dialektisches. Dieses spezifische Verständnis und der Erfahrungs- und Erwartungshorizont, zu dem es gehörte, lassen sich sehr wohl in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit rekonstruieren. Jauss z. B. tut i m gleichen Kapitel, in dem er Gadamer theoretisch in der Unmöglichkeit solcher Rekonstruktion zustimmt, praktisch genau dies (s. eben seine Bemerkungen zum „Roman de Renart"). Geschichte ist uns nicht objektiv gegeben; sie erschließt sich uns erst i m hermeneutischen Bemühen. Aber sie erschließt sich uns nicht — hier nehme ich eine in anderem Zusammenhang von Jauss verwendeten Argumentation auf — als bloßes Wiedererkennen von Gegebenheiten, die aller historischen Hermeneutik qua Geschichtlichkeitsbestimmtheit je gegenwärtigen Verstehensbemühens immer schon inhärent sind. Dies wäre in der Tat eine bloße platonische Mimesis: Alles Erkennen ist immer schon historisch bestimmt; historisches Erkennen (Erkennen von Vergangenem) ist daher bloßes Wiedererkennen.

III. Gegen die Stillegung der Vernunft im Medium der A i s t h e s i s 1 2 1 A n anderer Stelle hat Jauss dies m. E. richtig durchschaut, dort nämlich, wo er sich gegen das von Gadamer propagierte heideggerianische „Einrücken (des Verstehens) in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln", wehrt, weil hierin „das produktive

Moment,

das i m Verstehen liegt", und das notwendig auch K r i t i k der Tradition und Vergessen einschließt, zu kurz k o m m t (S. 188 f.) V o n Jauss m. E. nicht durchschaut, wenn auch zu Recht von i h m kritisiert, ist die Gadamersche Klassik-Theorie. Nicht durchschaut daran ist vor allem ihr Zusammenhang m i t dem Begriff der Horizontverschmelzung. Durch ihn erst w i r d nämlich die Brücke gebaut, die die Distanz von Gegenwart und (klassischer) Vergangenheit überwindet und die klassische Vergangenheit als unmittelbar verfüglich erscheinen läßt, als „nicht erst der Überwindung des historischen Abstandes bedürftig" (S. 186 ff.) und so, wie Jauss kritisiert, als einer „produktiven" Interpretation ihrer „virtuellen Bedeutung(en)" (S. 188) enthoben. Das Faszinosum der Gadamerschen Theorie für die Dialogästhetik ist die „Anwendung der L o g i k von Frage und Antwort auf die geschichtliche Überlieferung" (S. 185). Dialog aber vollzieht sich immer nur zwischen partikulären Individualitäten, wie Jauss in seiner Argumentation gegen die traditionell-marxistische Vereinnahmung von Literatur und ihre formalistische Vereinsamung treffend belegt. Wenn die Rezeptionästhetik nun die universalhermeneutische Verschmelzung der Individualitäten von Gegenwart und Vergangenheit nur ansatzweise kritisiert, so zieht sie damit ein trojanisches Pferd zu sich herein. Horizontverschmelzung heißt tendenzielle Aufhebung dieser Individualitäten und damit tendenzielle Aufhebung der Basis Voraussetzung dialogbezogener Literaturgeschichtstheorie. W i l l sich Dialogästhetik i m Ernst auch theoretisch auf ein philosophisches Fundament berufen können, so gewiß nicht auf das universal-hermeneutische. Praktisch tut sie es, wie w i r sahen, ohnehin nicht. Und wenn es das Z i e l der Literaturgeschichte ist, „jene gesellschaftsbildende Funktion aufzudecken, die der mit anderen Künsten und gesellschaftlichen Mächten konkurrierenden Literatur in der Emanzipation des Menschen aus seinen naturhaften, religiösen und sozialen Bedingungen zukam", so könnte dieses Programm dann u m so eher u m die Beschreibung des Emanzipationsprozesses auch aus den historischen Bedingungen der Menschheit erweitert werden, wenn die Theorie der Literaturgeschichte selbst sich von der Verführung durch ihre (vermeintliche) Geborgenheit i m Geschichtlichkeitsbestimmtsein gegenwärtigen Fragens und Handelns emanzipierte und die (dialogverbundene) Eigenständigkeit von Gegenwart und Vergangenheit anerkennte. Eben dies vermeintliche Geborgensein in der Geschichtlichkeitsbestimmtheit unserer Existenz mag die Dialogästhetik verleiten, zu glauben, sie könne sich der Notwendigkeit entziehen, eine gerade nicht i m traditionellen Ungefähr verharrende Stellungnahme zu Fragen der Kunstdefinition, -bewertung und -auswahl wie zu den normativen Implikationen ihrer Basisunterscheidungen und Methoden

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zu formulieren. Was Kunst sei, was gute oder schlechte Literatur sei, welche literargeschichtlichen Fakten der Wissenschaftler auswählen solle, ist ebensowenig eine traditionellerweise schon längst ausgemachte Sache, wie eine Antwort auf die Frage nach den forschungsleitenden Interessen ohne weiteres verfügbar wäre. Wenn Jauss Literaturgeschichte als Beschreibung eines Emanzipationsprozesses versteht und Literatur (u. a.) als „Aufforderung zu moralischer Reflexion" (S. 203), so ist dies begreifbar als Ansatz zu einer praktisch-philosophischen Rechtfertigung einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Literatur. Darin liegt m. E. in der Tat „eine Antwort auf die Frage, zu welchem Ende und mit welchem Recht man heute noch — oder wieder — Literaturgeschichte studieren kann" (S. 207). Die Notwendigkeit, eine solche philosophisch-praktische Fundierung i m Detail auszuarbeiten, wird jedoch nicht thematisiert. Was denn nun eigentlich „Emanzipation" von „Bindungen" sei, i m Namen von was es sich zu emanzipieren lohnt, welcher A r t die „moralische Kasuistik" und die „moralische Reflexion" sei, bleibt undiskutiert. Erst in dem Maße, in dem eine solche Normentheoriediskussion vorankommt und die Einnahme eines methodisch abgesicherten praktisch-philosophischen Standpunktes erlaubt, kann eine dialogästhetische Literaturgeschichtsschreibung über das vermeintlich bloß empirische Registrieren eines dialogischen Zusammenhangs hinaus zu einer Bewertung der zusammenhangkonstituierenden Diskussion zwischen Autoren und Publikum vordringen. Die Frage: Was haben sie zur Emanzipation beigetragen? bleibt in dem Grade unbeantwortbar, in dem hinter dem Emanzipationsbegriff keine ausgeführte Emanzipationstheorie oder aber mindestens (und viel mehr ist vielleicht auch nicht möglich) eine Emanzipationsdiskussion steht. So muß es einstweilen offenbleiben, wie anders denn auf Zufälligkeiten und das Ungefähr tradierter Voraborientierungen gestützt, Kriterien bereitgestellt werden könnten, nach denen eine Beurteilung historischer Fakten auf den Wert und die Bedeutung ihres Beitrags zur Emanzipation hin und damit auf die Möglichkeit ihrer Charakterisierung als „dialogrelevant", d. h. „geschichtskonstitutiv" hin gelingen könnte. Wenn überhaupt, dann nur i m Gefolge einer Normendebatte kann die Theorie dialogästhetischer Literaturgeschichte mehr sein als nur „gut gemeint". So gut ζ. B. offensichtlich die Absicht gemeint ist, die „wirklichkeitsbildende" Funktion von Literatur in den Mittelpunkt zu rücken, so sehr muß uns diese Formel i m Stich lassen, wenn es um ihre interpretatorische Anwendung geht. Das nicht nur deshalb, weil, wie oben beschrieben, offenbleibt, worauf dieses Bilden letzten Endes gerichtet ist. Sondern auch deshalb, weil der Begriff der „wirklichkeitsbildenden Funktion" der Literatur i m dialogästhetischen Konzept selbst ambivalent formuliert ist. Einerseits ist damit unübersehbar (s. These 7) das geellschaftskritische Potential von Kunst gemeint. „Wirklichkeitsbildend" heißt dann soviel wie: die außerliterarische gesellschaftliche Wirklichkeit beeinflussend. Außerdem aber ist mit dem wirklichkeitsbildenden Aspekt der Literatur auch gemeint, daß sie als solche in ihrer Eigenart und spezifischen Geschichte

III. Gegen die Stillegung der Vernunft im Medium der A i s t h e s i s 1 2 3 (special history) bereits einen Teil dieser Wirklichkeit bildet, ein T e i l dieser Wirklichkeit ist. „Wirklichkeitsb//de>2